Vom guten Leben: Adelige Frauen im 19. Jahrhundert 9783050056388, 9783050050010

In diesem Buch geht es um die Selbstpräsentationen adeliger Frauen im Medium der Autobiographik um 1900. Die Autorin ver

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Vom guten Leben: Adelige Frauen im 19. Jahrhundert
 9783050056388, 9783050050010

Table of contents :
Kubrova_EW12_tit.pdf
00-2_Inhalt
01_Einleitung
02_Gebrauchsweisen
03_Moeglichkeiten
04_Grenzen
05_Stift
06_Schluss
07_Danksagung
08_Abb-Tab
09_Quellen

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Monika Kubrova Vom guten Leben Adelige Frauen im 19. Jahrhundert

ELITENWANDEL IN DER MODERNE Herausgegeben von Heinz Reif Band 12 Band 8 Rainer Pomp Bauern und Großgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich Der Brandenburgische Landbund 1919–1933 Band 9 Mathias Mesenhöller Ständische Modernisierung Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830 Band 10 Karsten Holste, Dietlind Hüchtker, Michael G. Müller (Hg.) Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse Band 11 Dirk H. Müller Adliges Eigentumsrecht und Landesverfassung Die Auseinandersetzungen um die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns

Monika Kubrova

VOM GUTEN LEBEN Adelige Frauen im 19. Jahrhundert

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Abbildung auf dem Einband: Courtball in the Redoutensaele, Imperial Palace,Vienna. Watercolour, 49,8 x 69,3 cm I.N.72.542 Wien Museum Karlsplatz, Vienna, Austria. Foto: akg-images / Erich Lessing

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-005001-0 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 www.akademie-verlag.de Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der Oldenbourg Gruppe. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Satz: Sabine Taube, Kieve Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Forschungsstand: Frauen im Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit: Adeligkeit, Familie, Geschlecht, Autobiographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Quellen, Untersuchungszeitraum und Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . .

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen . .

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2.1. Das Problem und eine Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Ich-zentrierte Autobiographik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Ich-Zentrierung vor religiösem Sinnhorizont und die Bedeutung der Schreibgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Ich-Zentrierung vor säkularem Sinnhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1. Die tragische Heldin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2. Die siegreiche Heldin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Die Affinität zur tradierten „klassischen“ Form und soziale Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Zur Zeittypik der Erzählungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Die Denkwürdigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Die Berufsautobiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4. Die subjektive Geschichtsschreibung und Geschlecht als Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5. Die Frauen aus regierenden Häusern – Autobiographik zwischen Distanz und Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 49 50 59 60 64 67 71 72 73 76 78 80 85 91

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Inhaltsverzeichnis

3. Von den Möglichkeiten der Familie: Normalbiographie und Selbstpräsentationen in adelskonformen Räumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Familie und Geschlecht: Fragestellungen, Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die „natürliche Bahn“: Strukturierende Aspekte einer weiblichen Normalbiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Geschlecht und Geschlechterkette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Familiäre Herkunft: Eheschließungen, Beziehungen und „Berufe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. „Charakter“ und „Geschlechtscharakter“: Verhaltensorientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser in der „natürlichen Bahn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Wegweiser: Soziale Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Wegweiser: Geschlechtsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Wegweiser: Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Warten auf die Ehe oder das Wählen einer Option? . . . . . . . . . . . 3.4. Selbstpräsentationen: Von Kommandeusen, Wohltäterinnen, Hofgängerinnen und anderen Ehefrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Ehe und Kernfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1. Harmonie in der Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2. Umgang mit der Häuslichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.3. Elitäre Mütterlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Auf dem Gut, in der Diplomatie, im Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1. Gutsherrinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2. Diplomatenfrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.3. Offiziersfrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Soziales Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.1. Humanitäre Hilfe und gesellschaftliche Verpflichtung . . . . . . . . . 3.4.3.2. Arbeiten für die Gesamtgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.3. Karitas und „Liebesarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 4.4. Exkurs: „bei Hof“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.1. Hofgängerinnen (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.2. Hofgängerinnen (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.3. Hofgängerinnen (III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 96 101 101 105 108 115 116 118 119 121 128 129 130 137 142 148 149 154 161 170 172 179 189 196 197 204 210 212

4. Über die Grenzen der Familie: Biographische Konflikte als Kampf um nonkonforme Lebensweisen in der Gemengelage sozialer Anerkennungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.1. Biographische Konflikte: Problemstellung und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . 224 4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Inhaltsverzeichnis

4.2.1. Nicht Shakespeare, doch in Prosa erträglich – kein Familiendrama: Marie von Ebner-Eschenbach, geb. v. Dubsky (1830–1916) . . . . 4.2.2. Steter Tropfen höhlt den Stein – ein langer Weg zur Eigenständigkeit: Anna von Krane (1853–1937) . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. In keinem Weg mehr einen Weg sehen – ein Ausbruch: Lily Braun, geb. von Kretschmann, verw. von Gyžicki (1865–1916) . . . . . . . 4.2.4. Schlechte Aussichten vor Ort – Folgen eines Familienkonflikts: Edith Gräfin Salburg, verw. Krieg von Hochfelden (1868–1942) . 4.2.5. Die Rückkehr der verlorenen Tochter oder vom Scheitern eines Entwurfs: Helene von Dönniges, verw. von Racowitza, verh. von Schewitsch (1843–1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 234 248 262 284

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen . . 335 5.1. Gegenstand und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Klöster, Stifte, Frauen – die Gründung des Jena-Stiftes (1703) im historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Exkurs (I): Das Schweigen der Ferdinande von Brackel . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution vom ‚Brautdepot‘ zum Altersheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Die immerwährende Einrichtung: Grundzüge einer inneren Verfassung des Jena-Stiftes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Das Jena-Stift als ‚Brautdepot‘ (1703–1836) . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. „1836“ – Zur Genese eines Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4. Leben in der ‚Warteschleife‘ (1837–1880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5. ‚Urnengang‘ (1881–1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Exkurs (II): Die Hauptaufgabe der Ferdinande von Brackel . . . . . . . . . . . 5.6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Abbildungen und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

1.2. Forschungsstand

1.

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Einleitung

1.1. Thema Was ein sinnvolles, gelungenes Leben ausmacht, die Frage nach dem guten Leben ist eine der uralten menschlichen Fragen. Zu ihrer Beantwortung wird seit dem Beginn der Neuzeit die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ wirkungsmächtig, „ein tätig-produktives Leben im Dienst der Familie“.1 Auch noch im ausgehenden 19. Jahrhundert ist es neben der Arbeit die Familie, welche den Lebenssinn begründet, dem einzelnen das Gefühl und die Gewißheit geben soll, daß sein Handeln für diese Gruppe der eigenen Existenz Sinn verleiht.2 Die adelige Familie war ein prominenter Fixstern am Firmament, an dem sich eine traditionelle Elite orientierte, um den Herausforderungen der Moderne zu begegnen. Sie bildete zugleich den zentralen Ort, an welchem die Spielregeln einer sozialen Gruppe, die bis weit ins 20. Jahrhundert den Glauben an ihren Führungsanspruch aufrecht erhielt, eingeübt und praktiziert wurden. Dieser allgemeine Befund der jüngeren Adelshistoriographie soll am konkreten Gegenstand geprüft werden. Vorliegende Arbeit befragt die Autobiographik adeliger Frauen hinsichtlich der individuellen Bedeutungen von Familie als Wert und sozialem Raum. Insofern zwischen Wert und Praxis, zwischen normativer Orientierung und individueller Aneignung Spannungen existieren, ist zu untersuchen, wie Frauen ihre Bindung an die Familie wahrgenommen und gedeutet haben, welche Handlungsoptionen, Gebote und Verbote diese grundlegende Beziehung für die (Un) Möglichkeit eines gelungenen Lebens bereitgestellt hat. Ziel ist die annähernde

1

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Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996, S. 33. Taylor verwendet den Ausdruck „gewöhnliches Leben“ als Terminus technicus, um diejenigen Aspekte menschlichen Lebens zu bezeichnen, die mit Produktion und Reproduktion zu tun haben. Arbeit, Ehe und Familie erfuhren – so Taylor – im Zuge der Reformation eine positive Bewertung. Die Frage nach einem erfüllten Leben konnte seitdem im Rahmen der mit Reproduktion und Produktion verbundenen Tätigkeiten beantwortet werden. Vgl. ebd., S. 373–386. Vgl. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 3. Aufl., München 1993, S. 191.

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1. Einleitung

Klärung der Frage, auf welche Weise adelige Frauen aus ihrer praktischen und ideellen Familienbindung Handlungsorientierungen bezogen, um ihr Leben in einer sich funktional differenzierenden Gesellschaft als sinnvoll erfahren zu können.

1.2. Forschungsstand: Frauen im Adel Wer nach adeligen Frauen als handelnde und deutende Akteurinnen im 19. Jahrhundert fragt, sieht sich mit einer Historiographie konfrontiert, die darauf kaum eine Antwort zu geben vermag. Der Grund für dieses Desiderat ist einfach. Es liegt zwischen zwei Forschungsperspektiven und Gegenstandsbereichen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Zentrales Interesse einer seit Mitte der 1990er Jahre merklich aktivierten Adelsforschung gilt dem Elitenwandel, der Eliten(neu)bildung. Zwischen den Polen Selbsterhaltung oder Niedergang wird gefragt, in welchen gesellschaftlichen Funktionsbereichen es welchen Teilgruppen des ehemaligen Herrschaftsstandes gelang, Führungspositionen gegenüber aufstrebenden, vornehmlich bürgerlichen Teilgruppen beizubehalten bzw. wird das Mitund Gegeneinander in Militär und Verwaltung, Regierungen und Parteien thematisiert.3 Es sind dies Bereiche, von denen adelige Frauen, wie alle anderen auch, formell ausgeschlossen waren. In der Adelsforschung wird dasjenige thematisiert, wogegen sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte seit den 1970er Jahren zunächst formierte – das Primat der Politik. Auch wenn die debattierfreudige „Teildisziplin“ in ihren methodischinhaltlichen Positionen kaum noch zu überschauen ist, war ihr von Anbeginn ein Themen und Interessen prägender emanzipatorischer Anspruch eigen. Die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtigen Themenkomplexe wie Frauenerwerbsarbeit, Bildungswesen, Frauenbewegung gehen mit den Begriffen Gleichberechtigung, Partizipation, Emanzipation einher.4 In dieser Perspektive ließen sich Frauen im Adel allenfalls als gesellschaft3

4

Innerhalb der Sozialgeschichte ist der Adel im Vergleich zu Arbeiterschaft und Bürgertum eine späte Entdeckung, so daß der Forschungsüberblick von Heinz Reif aus dem Jahr 1987 noch immer Orientierung und Anregungen für mögliche Untersuchungen bietet: Reif, Heinz, Der Adel in der modernen Sozialgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hgg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 4, Göttingen 1987, S. 34–60. Einen Überblick über Grundprobleme und Forschungstendenzen bietet: Ders., Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. Mit Elitenwandel und Elitenbildung ist ein Forschungsprogramm umrissen, das nach dem Spektrum von Beziehungen zwischen Adel und Bürgertum fragt und der Einsicht zugrunde liegt, daß die bisherige Adelsforschung zu einseitig auf Konkurrenz und Konflikt insistierte, so daß sich allenfalls ein Mehr oder Weniger am adeligen Niedergang feststellen ließ. Vgl. dazu Reif, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 7–27. Mit diesem Tagungsband beginnt die von Heinz Reif herausgegebene Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ im Akademie Verlag. Einen profunden Überblick über Entwicklungen, Ansätze, Fragestellungen und Methoden in der Frauen- und Geschlechtergeschichte bieten: Opitz, Claudia, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005; Conrad, Anne, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, hrsg. v. Michael Maurer, Bd. 7: Neue Themen

1.2. Forschungsstand

11

lich privilegierte Personen einer sozialen Minderheit, die keiner weiteren Aufmerksamkeit bedürfen, denken. Zugespitzt formuliert: Emanzipation und Elite sind konzeptionell gegenläufig. Gegenwärtig gibt es keinen Brückenschlag zwischen einer am Elitenwandel interessierten Adelsgeschichte und Frauen- und Geschlechtergeschichte. Aber er wird möglich sein, um an dieser Stelle einmal einen Forschungsausblick voranzustellen: Seit mehreren Jahren wird verstärkt die Politikgeschichte auf ihre „Eingeschlechtlichkeit“ hin kritisiert. Vor diesem größeren Zusammenhang wird auch nach einer „weiblichen Elite“ im Kaiserreich und der Weimarer Republik gefragt. Hierbei rücken u. a. vordergründig unpolitische und konservative bis rechte Frauenorganisationen in den Blick. Andrea Süchting-Hänger etwa zeigt, daß der „Vaterländische Frauenverein“, 1866 als karitative Organisation von der preußischen Königin und späteren Kaiserin Augusta gegründet, eine wichtige Funktion für die Politisierung konservativer Frauen besaß, indem er Loyalität zur Monarchie erzeugte bzw. vorantrieb. Dieser Verein war mit einer halben Million Mitglieder die größte Frauenorganisation. Deren aus Frauen und Männern zusammengesetzter Vorstand kam überwiegend aus dem Adel.5 Dieser Befund zeigt die Möglichkeit an, künftig Frauen als politisch Handelnde in die zentrale Frage der Adelsgeschichte nach Elitenbildungsprozessen einzubeziehen. Für die Frühe Neuzeit liegen inzwischen gute Arbeiten zum Adel in geschlechtergeschichtlicher Perspektive vor, welche die Handlungsspielräume von höfischen Amtsträgerinnen, vornehmlich hochadeligen Ehefrauen, Ledigen und Witwen, von vormundschaftlichen Regentinnen und Mätressen als femme politique untersucht haben.6 Diese

5

6

und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 230–293; die Aufsätze in Gehmacher, Johanna / Mesner, Maria (Hgg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Positionen / Perspektiven, Innsbruck u. a. 2003; pointiert präsentiert die Geschichte der „Teildisziplin“ Daniel, Ute, Kompendium der Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 313–330. Wie verschieden Ansätze und Perspektiven aussehen können, wenn die Kategorie „Geschlecht“ in Beziehung zur Historischen Anthropologie bzw. Sozialgeschichte diskutiert wird, zeigen z. B.: Habermas, Rebekka, Geschlechtergeschichte und „anthropology of gender“. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 485–509; Budde, Gunilla Friederike, Das Geschlecht der Geschichte, in: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, hrsg. v. Thomas Mergel u. Thomas Welskopp, München 1997, S. 125–150. Vgl. u. a. Kühne, Thomas, Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik: Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, hrsg. v. Hans Medick und Anne-Charlott Trepp, Göttingen 1998, S. 171–231; Schulz, Günther (Hg.), Frauen auf dem Weg zur Elite, München 2000; Planert, Ute (Hg.), Nationalismus, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. / New York 2000; Süchting-Hänger, Andrea, Das „Gewissen der Nation“. Nationale Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900–1937, Düsseldorf 2002. Einen ausführlichen Überblick zu „rechten Frauen“ bei: Streubel, Christiane, Literaturbericht: Frauen der politischen Rechten (10. 06. 03, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ 2003-2-141), die überarbeitete Form in: Historical Social Research 28 (2003), S. 103–166. Noch zu Beginn der 1990er Jahre stellten Rebekka Habermas und Heide Wunder ein geringes Forschungsinteresse fest, so daß „die traditionellen biographischen Darstellungen noch weitgehend das Feld“ bestimmten. Dies., Nachwort, in: Duby, Georges, Perrot, Michelle (Hgg.), Geschichte der

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1. Einleitung

Arbeiten belegen in vieler Hinsicht die richtungweisende These Heide Wunders, daß „in der ständischen Gesellschaft die Kategorie ‚Geschlecht‘ nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß“7. So legt z. B. Pauline Puppel in ihrer beeindruckenden Studie „Die Regentin“ dar, daß die vormundschaftliche Regentschaft eine von Frauen ausgeübte regelmäßige, legitime und institutionalisierte Herrschaftsform gewesen ist. Entgegen einer bis in die Gegenwart reichenden Forschungstradition, die auf der Frauen aus der Öffentlichkeit ausschließenden Geschlechterkonstruktion des 19. Jahrhunderts beruht, weist sie überzeugend nach, daß weibliche Regentschaften konstitutiv für die Herrschaftssicherung regierender Dynastien gewesen sind. Mit dieser neuen Sicht leistet diese Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur politischen Geschichte des „Alten Reiches“.8 Im Unterschied zu den Darstellungen zur Frühen Neuzeit, die thematisch und in ihren Fragestellungen m. E. insofern aufeinander bezogen sind, als daß sie die Kategorie „Geschlecht“ relational zu Familie und Stand betrachten, ist für das 19. Jahrhundert nicht einmal der basale Ansatz hinreichend ausgeführt, adelige Frauen als Akteurinnen von Geschichte sichtbar zu machen. Das frauen- und geschlechtergeschichtliche Desinteresse qua Wissenschaftstradition wurde bereits erwähnt. Für die jüngere Adelsgeschichte, deren ambitionierte Richtung sich als „kulturhistorisch sensible politische Sozialgeschichte“9 versteht, ist festzustellen, daß die geschlechtergeschichtliche Dimension in der Programmatik enthalten ist, nur sind noch keine Arbeiten mit empirisch abgesichertem Kenntnisstand erschienen.10

7 8

9

10

Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hrsg. v. Arlette Farge, Natalie Zemon Davis, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 546. Inzwischen ist das Interesse größer geworden: Keller, Katrin, Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts, Wien 2005; Hufschmidt, Anke, Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570 und 1700: Status, Rollen, Lebenspraxis, Münster 2001; OßwaldBargende, Sybille, Die Mätresse, der Fürst und die Macht. Christina Wilhelmina von Grävenitz und die höfische Gesellschaft, Frankfurt a. M. / New York 2000; Bastl, Beatrix, Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien u. a. 2000; Meier, Marietta, Standesbewußte Stiftsdamen. Stand, Familie und Geschlecht im adligen Damenstift Olsberg 1780–1810, Köln u. a. 1999; Wunder, Heide (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002; Schattkowsky, Martina (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Leipzig 2003. Wunder, Heide, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 264. Puppel, Pauline, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700, Frankfurt a. M. / New York 2004. Diese Arbeit spezifiziert die konzeptionellen Überlegungen zum Selbstverständnis regierender Dynastien, welche Heide Wunder dargelegt hat. Vgl. dies., Einleitung: Dynastie und Herrschaftssicherung. Geschlechter und Geschlecht, in: Dies. (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung, Berlin 2002, S. 9–27. Wienfort, Monika / Conze, Eckart, Einleitung: Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hgg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2004, S. 1–16, hier: S. 15. An dieser Stelle wird kein umfassender Forschungsüberblick präsentiert. Neben den in den Fußnoten 3 und 9 genannten Arbeiten bietet Monika Wienfort eine problemorientierte Einführung mit

1.2. Forschungsstand

13

Das gegenwärtige Ödland ist exemplarisch an einer Arbeit zum 20. Jahrhundert vorzustellen. Wenn dies etwas ausführlicher geschieht, dann in der Absicht, aufzuzeigen, daß auch eine um das „Kulturelle“ erweiterte Sozialgeschichte Frauen aus der Geschichte auszublenden droht. Es handelt sich bei dieser Arbeit um die Habilitationsschrift Eckart Conzes „Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert“ (2000). Im ausgehenden Kaiserreich beginnend, untersucht Conze über drei Generationen hinweg eine großgrundbesitzende Adelsfamilie, um das Anpassungs- und Beharrungsvermögen des Adels in den gesellschaftlichen Dimensionen Herrschaft (Politik), Wirtschaft und Kultur vor allem nach dem Ende der Monarchie aufzuzeigen. Um dies zu realisieren, wirft er einen „biographische[n] Blick auf die Familie als Grundeinheit der Gesellschaft“.11 Die Familie fungiert über weite Strecken der Darstellung als Kollektivsubjekt.12 Die von Conze in wechselseitiger Abhängigkeit zu Familie und Gesellschaft dargestellten Akteure sind, wie der Titel sagt, die Grafen Bernstorff, die immer auch die Repräsentanten der Familie sind. Ansatz und Quellen bestimmen maßgeblich das Ergebnis historischer Arbeit. Doch Conze reflektiert kaum die Konsequenzen der männlichen bzw. geschlechtslosen Omnipräsenz in den Quellen für sein Vorhaben. Dieses soll den Anspruch einlösen, wie es zusammenfassend heißt, „Adelsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“13 zu beschreiben. Allerdings ist Conzes Darstellung nicht gänzlich frei von einer Geschlechterperspektive. Auf ca. vierzig Seiten werden häusliche und schulische Erziehung und Ausbildung der jungen Gräfinnen und Grafen thematisiert, um in dieser Hinsicht nach den Auswirkungen des soziopolitischen Niedergangs zu fragen.14 In Hinblick auf die jungen Gräfinnen geht Conze, und darauf wird später zurückzukommen sein, von Folgendem aus: Aus der Übernahme bürgerlicher Ideale sei im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein emotionaler Binnenraum in der adeligen Familie entstanden, damit habe die Einteilung in öffentliche und private Lebensbereiche korrespondiert, die wiederum die Geschlechterrollen hierarchisiert hätte. Folglich schlüge sich „die prinzipielle Differenzierung der Geschlechtscharaktere“ in der häuslichen Erziehung wie im außerhäuslichen Unterricht nieder. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, so die Quintessenz, sollte der Schulbesuch „weder auf ein Universitätsstudium vorbereiten noch berufliche Perspektiven öffnen. Nach wie vor ging es um die vertiefte Einübung einer geschlech-

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ausführlichen Literaturhinweisen. Vgl. Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006. Spezifisch zum Stand der quantitativen Ergebnisse von Gruppen- und Positionsanalysen in der Adelsforschung vgl.: Neumann, Jens, Der Adel im 19. Jahrhundert in Deutschland und England im Vergleich, in: GG 30 (2004), S. 155–182. Conze, Eckart, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart / München 2000, S. 16. Die Familie als Kollektivsubjekt betrachten ebenfalls: Dornheim, Andreas, Adel in der bürgerlichindustrialisierten Gesellschaft: eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt a. M. 1993; Stekl, Hannes / Wakounig Maija, Windisch-Graetz. Ein Fürstenhaus im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1992. Conze, Von deutschem Adel, S. 397. Vgl. ders., Von deutschem Adel, S. 287–328.

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1. Einleitung

terspezifischen Rolle im Adel und den konkreten Lebensweg als Gutsherrin, Hausfrau und Mutter.“15 Das Studium fungiert bei Conze als Indikator gesellschaftlichen Wandels, wogegen zunächst nichts einzuwenden ist, und so bewertet er dessen Fehlen als „erfolgreiches Bemühen“16 der Familie, alte Verhaltensmuster zu konservieren. In der Betrachtungsweise „Familie als Kollektivsubjekt“ ist aber für die Perspektiven der weiblichen Individuen kein Platz. Da Conze den Bernstorffer Gräfinnen überdies die „private Sphäre“ zuweist, welche nicht zu seinen Erkenntnisinteressen gehört, definiert er sie aus seiner Geschichte heraus. Daß sich dies nicht aus der Logik der Sache ergibt, sondern aus der Wahrnehmung eines Historikers speist, dessen „öffentliches“ Auge allein geöffnet ist, zeigt das einzige Beispiel in der Darstellung, in dem einer Frau ein gewisser Akteursstatus zuerkannt wird. Conze schildert und interpretiert auf vier Seiten Ausbildungsstationen, Aktivitäten und Aufgabenbereiche der 1870 geborenen, nicht heiratenden Clara von Bernstorff-Gartow. Der Lebenslauf der Gräfin wird unter der Fragestellung „Eine ‚brave‘ Küchenfee?“ verhandelt.17 Bis zum Tod der Eltern 1900 / 1901 führte Bernstorff-Gartow den großen Landhaushalt des väterlichen Gutes, im Anschluß den brüderlichen Haushalt. Sie reiste, hörte 1909 / 10 drei Semester Volks- und Agrarwissenschaften, belegte Buchführungskurse, leitete zeitweise eine Landfrauenschule, erwarb nach dem Weltkrieg mit familiärer Unterstützung ein Gut und war in den 1920er Jahren vor allem als Wanderschullehrerin tätig, die Töchtern bäuerlicher Familien Kurse in Kochen, Nähen, Kinder-, Säuglings- und Krankenpflege gab. Da Conze seine Quelle nicht ausbreitet, sind seine Deutungen nicht nachvollziehbar. Er schreibt: „Clara von Bernstorffs Ausbruch, den sie selbst wohl nie als solchen begriff, blieb alles in allem den Mustern des größten Teils der bürgerlichen Frauenbewegung verhaftet.“18 Anstatt eines auktorialen, allwissenden und belehrenden Erzählers wäre eine Äußerung der Gräfin über Zwänge im Adel hilfreicher gewesen. Der Richterspruch des „unbegriffenen Ausbruchs“ aber infantilisiert oder psychiatrisiert die gräfliche Handlungsfähigkeit, und es erfolgt eine Zwangseinweisung der „Ausbrecherin“ in frauenbewegte „Muster“. Offenbar kann Conze den Aktionsradius der Gräfin nicht mit seinem Bild der „privaten Frau“ vereinbaren. Anstelle das Bild zu korrigieren, verfestigt er es: „Dennoch war Clara von Bernstorff in ihrer Familie eine Ausnahme. So sehr sie ihrem familiären und adeligen Herkommen Zeit ihres Lebens verhaftet blieb, so ungewöhnlich ist doch der ausgeprägte Individualismus, mit dem sie sich Aufgaben schuf …“19 Ist philosophisches Denken notwendige Voraussetzung, um Buchführung zu erlernen oder Kochkurse zu geben? In dieser Deutung erfährt die Handlungsfähigkeit eine Elevation: kein „unbegriffener Ausbruch“, sondern zielgerichtetes Handeln auf der Grundlage einer vernünftigen Anschauung. Beide Deutungen treffen sich in der Bewertung „Ausnahme“, welche die Regel bestimmen soll. Die Möglichkeit, 15 16 17 18 19

Vgl. ebd., S. 290–300, zit.: S. 290, 298. Ebd. S. 300. Ebd., S. 320–324, zit.: S. 320. Ebd., S. 323. Ebd., S. 324.

1.2. Forschungsstand

15

Bernstorffs Tätigkeiten als „normalen Ausnahmefall“ (Hans Medick)20 zu betrachten, der Licht auf die „normalen“ Frauen der Familie wirft, ist somit ausgeschlossen. Wenn aber schon die Beschwörung von Individualismus nötig ist, um Frauen Kinder unterrichten zu lassen, dann impliziert diese Erhöhung, daß „normale“ Gutsherrinnen, Mütter und Ehefrauen keine handelnden Personen sein können.21 Über die formulierte Kritik ist nicht zu vergessen, daß der Autor keine Geschlechtergeschichte vorgelegt hat. Deutlich sollte jedoch werden, daß ein Ansatz, der Familie als „Kollektivsubjekt“ konzipiert, kaum geeignet ist, „die Aktivitäten, Interessen, Politiken von Frauen gleichberechtigt zu analysieren und historisch zu bewerten.“22 Wenn Conze davon spricht, daß im Adel neue geschlechterspezifisch begründete Sphärentrennungen entstanden seien, die analog zum Bürgertum Frauen in die „privaten“ Lebensbereiche verwies, die zwar durch öffentlich-repräsentative Aufgaben durchbrochen wurden, aber an der prinzipiellen Differenzierung nicht rüttelten, glaubt man, Geschlechterdifferenzen und Geschlechterbeziehungen im Adel des 19. Jahrhunderts seien ein gut erforschtes Feld.23 Das ist nicht der Fall. Conze kann sich nur auf zwei Arbeiten beziehen. In seiner mittlerweile klassischen sozialhistorischen Studie „Westfälischer Adel 1770–1860“ (1979) untersucht Heinz Reif auch adelige Familienstrukturen im Wandel und bettet diese in den langfristigen Prozeß der Auflösung des „Ganzen Hauses“ und der Herausbildung einer privatisierten Kernfamilie ein.24 Gewissermaßen als Antwort auf gesellschaftliche, politische und rechtliche Umbrüche um 1800 zogen sich die Angehörigen des westfälischen Adels auf ihre Kernfamilien zurück. Vor dem Hintergrund von Krisenerfahrungen konzentrierte man sich auf die eigene Häuslichkeit, die den Sinn für bürgerliche Verhaltens- und Einstellungsweisen wie Innerlichkeit, Freundschaft, emotionale Personenbeziehungen nicht öffnete, sondern schärfte. Mit dem Rückzug auf die Familie geriet die Ehefrau und Mutter ins Zentrum eines emotional bestimmten Binnenraumes.25 Dieser Auffassung schließt sich Christa Diemel an und versucht zu zeigen, daß das bürgerlich konnotierte Mutterideal neben dem Ideal der Gutsfrau und Weltdame

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Medick, Hans, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Matthes, Joachim (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992, S. 167–178. Handlungsperspektiven und Handlungsspielräume thematisiert hingegen: Wienfort, Monika, Gesellschaftsdamen, Gutsfrauen und Rebellinnen. Adelige Frauen in Deutschland 1890–1939, in: Wienfort / Conze (Hgg.), Adel und Moderne, S. 181–203. Der Aufsatz unterstreicht die nicht vorhandenen Forschungen zum 20. Jahrhundert. Hausen, Karin, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, S. 15–55, zit.: S. 52. Conze, Von deutschem Adel, S. 290. Vgl. Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, S. 30f. Vgl. ebd., S. 280–304.

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1. Einleitung

im Selbstbild adeliger Frauen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts koexistierte.26 Das ist aber nicht die Stärke der bisher einzigen Arbeit, die sich mit Frauen im Adel, konkret mit Frauen in Hofgesellschaften beschäftigt. Diemel präsentiert Frauen in Hofämtern, Stifts- und Salondamen im Kontext verschiedener Höfe und Hofgesellschaften, die sie als soziale Räume adeliger Repräsentation und Kommunikation untersucht. Hierüber wird zumindest im Ansatz deutlich, daß das bürgerliche Geschlechterprogramm mit seiner schematischen Zuordnung weiblicher Tätigkeitsfelder ins „Private“ verfehlt ist.27 Mit erziehenden Müttern und höfischen Frauen ist der Forschungsstand fast vollständig umrissen.28 Wenn sich Conze zu guter Letzt auf Karin Hausens bahnbrechenden Aufsatz über „Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere“29 bezieht, um die neuen geschlechterspezifisch getrennten Sphären im Adel zu belegen, so werden die Ausmaße des Nichtuntersuchten besonders deutlich. Hausen hat vor über 30 Jahren gezeigt, wie sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Geschlechterdiskurs vom ständisch-partikularen zum natürlich-universellen verschob. Entlang der Trennlinie „männlich“ und „weiblich“ wurden unveränderliche Wesensmerkmale konstruiert und polar gegenübergestellt: Aktivität und Rationalität auf der männlichen Seite, Emotionalität und Passivität auf der weiblichen Seite. Dieses polare Grundmuster moderner Geschlechterordnung konstituierte zugleich die Gesellschaft als Ganzes, insofern das „Öffentliche“ als männliche Sphäre, das „Private“ als weibliche Sphäre gedeutet wurde. Das Modell der Geschlechterdifferenz, zunächst komplementär gedacht, aber insbesondere von Männern als Über- und Unterordnungsverhältnis formuliert, war klassen- und nationenübergreifend, blieb kein Phänomen im deutschen Bürgertum.30 Insofern wird man nicht davon ausgehen können, daß Adelige im 19. Jahrhundert nichts vom Differenzmodell wußten. Dennoch: Ob, wann, wie und warum das ideologische Konstrukt im Adel sozial und kulturell realitätsmächtig

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Vgl. Diemel, Christa, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt a. M. 1998, S. 15–25. Vgl. ebd., S. 213ff. Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch der Aufsatz von Sylvia Paletschek, der die Vermischung von adeligen und bürgerlichen Frauenbildern thematisiert. Paletschek, Sylvia, Adelige und bürgerliche Frauen (1770–1870), in: Fehrenbach, Elisabeth (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770– 1848, München 1994, S. 159–185. In volkskundlicher Perspektive fragt ein Aufsatz nach biographischen Perspektiven von Schriftstellerinnen, darunter Bettina von Arnim, geb. Brentano. Vgl. Metz-Becker, Marita, Adelige und bürgerliche Frauen vor 1871. Auf dem Weg zur Elite?, in: Schulz (Hg.), Frauen auf dem Weg zur Elite, S. 41–59. Mit Frauen aus regierenden Häusern beschäftigt sich folgender Sammelband: Schulte, Regina (Hg.), Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500, Frankfurt a. M. / New York 2002. Hausen, Karin, Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393. Vgl. Bock, Gisela, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 121–141. Insbesondere weist Bock darauf hin, daß das Modell keinesfalls eine sichere Hegemonie besaß, sondern durch das 19. Jahrhundert hindurch auf der Ebene der Diskurse und vom sozialen Wandel selbst immer wieder in Frage gestellt wurde.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

17

geworden ist, sind bisher unbeantwortete Fragen. Eckart Conzes formulierte Geschlechterperspektive in seiner Geschichte der Grafen Bernstorff trägt deshalb den Modus des verbindlich Allgemeinen, der die Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis überspielt. Wenn man die frauen- und geschlechtergeschichtliche Auffassung teilt, daß es wichtig ist zu wissen, welche Geschlechterbeziehungen einer Gesellschaft zugrunde liegen, wie Frauen und Männer diese gestalteten, ob die Geschlechtskategorie eine zentrale oder variable Bedeutung für Menschen einer bestimmten sozialen Gruppe besaß, dann haben wir es, bezogen auf den Adel im 19. Jahrhundert, noch immer mit einem großen Forschungsdefizit zu tun.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit: Adeligkeit, Familie, Geschlecht, Autobiographik Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen Menschen weiblichen Geschlechts, wie sie innerhalb autobiographischer Texte handelnd und deutend Gestalt angenommen haben. Die Arbeit orientiert sich damit an einer kulturgeschichtlichen Grundprämisse, wonach sich kein „Objekt“ der Vergangenheit begreifen läßt, „ohne die Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der zeitgenössischen Menschen in das Verstehen, Beschreiben oder Erklären einzubeziehen“31. Im folgenden wird der Allgemeinplatz über die Auseinandersetzung mit den für diese Arbeit wichtigen Forschungsansätzen konkretisiert. Das „gute Leben“ stellt keine systematische oder analytische Kategorie dar. Es fungiert über weite Strecken der Darstellung als abstraktes Hintergrundbild und besitzt, sprachlich genutzt, eine assoziative Qualität. Gemeint ist eine „besonders grundlegende[n] Bestrebung der Menschen: dem Bedürfnis nach Verbindung oder Berührung mit dem, was ihrer Ansicht nach gut, von maßgeblicher Bedeutung oder von grundlegendem Wert ist.“32 Anders formuliert, es ist die Orientierung am Guten im moralischen Raum, die Menschen in die Lage versetzt, bedeutungsvoll zu handeln und reflexiv das eigene Handeln im

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Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 17. Daniels „Kompendium“ beendet m. W. die Grundsatzdebatten um eine „kulturalistische Wende“, die in den 1990er Jahren in Frontstellung gegen eine Sozialgeschichte, die strukturtheoretische Erklärungen privilegierte, geführt wurde bzw. mit einer Sozialgeschichte, die Ansätze der neuen Kulturgeschichte integrierte, diskutiert wurde. Folgende Sammelbände zeichnen Debatte und ihre Ergebnisse nach: Conrad, Christoph / Kessel, Martina, Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994; Schulze, Winfried (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994; Lehmann, Hartmut (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995; Hardtwig, Wolfgang / Wehler, Hans-Ulrich (Hgg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996; Mergel, Thomas / Welskopp, Thomas (Hgg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; Conrad, Christoph / Kessel, Martina, Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998; Wehler, Hans-Ulrich, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2001. Taylor, Quellen des Selbst, S. 85.

18

1. Einleitung

Horizont des Guten qualitativ zu gewichten.33 Autobiographien sind Sinnkonstruktionen, in denen das Streben nach, die Einstellung zu einem guten Leben thematisiert werden. A) Adeligkeit: Mit dem Konzept „Adeligkeit“ wird in der neueren Adelsforschung analog zur kulturhistorisch arbeitenden Bürgertumsforschung versucht, die heterogene, binnendifferenzierte Sozialformation „Adel“ auf den gemeinsamen Nenner eines Ensembles geteilter Haltungen, Werte und Vorstellungen zu bringen, welche das soziale und politische Handeln Adeliger im 19. und 20. Jahrhundert prägten und hierüber den Zusammenhalt der Gruppe konstituierten. Ob sich dieses Konzept bewähren wird, um die Entwicklung des Adels in der Moderne präziser zu beschreiben, mögen künftige Arbeiten zeigen. Gegenwärtig wird m. E. mehr darüber gesprochen als geschrieben. „Adeligkeit“ erscheint als ungedeckter Scheck, dessen Existenz auf der konsensuellen Ablehnung linearer Entwicklungsmodelle und einseitig quantifizierender Verfahren ruht, die eben nicht erklären können, wie und warum Selbstbehauptung und Beharrungskraft einer alten Elite trotz Verlust der Herrschaftsrechte seit 1800 möglich werden konnte.34 Obwohl kaum bestritten wird, daß das heterogene Gebilde Adel durch ein System von Werten, Praktiken und Verhaltensmustern zu bestimmen ist, scheint das Unbehagen an diesem kulturhistorischen Zugriff bis hin zur Ablehnung groß.35 Meine Kritik besteht in einem forschungspraktischen Einwand. Mit „Adeligkeit“ hat Heinz Reif eine Perspektive künftiger Forschung benannt. Um erklären zu können, was adelige Mentalität wie Habitus nach dem Umbruch um 1800 33 34

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Ebd., S. 86f. Vgl. Funck, Marcus / Malinowski, Stephan, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236–270, bes. S. 236–247; Reif, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, S. 11–17.; Malinowski, Stephan, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2004, S. 40f. und S. 47ff. (Originaltitel: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.) Silke Marburg und Joseph Matzerath insistieren mit guten Gründen, daß sich die Adelsgesellschaften bis zum Ende des Kaiserreichs regional definierten und nicht in einem Gesamtadel aufgingen. Vgl. dies., Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Dies. (Hgg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln u. a. 2001, S. 5–15. Diese Kritik übernehmend und die Regionalität betonend, auch: Lesemann, Silke / Stieglitz, Annette von (Hgg.), Stand und Repräsentation. Kultur- und Sozialgeschichte des hannoverschen Adels vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 2004. Daß mit „Adeligkeit“ in der Forschung höchst divergierende Vorstellungen verbunden sind, zeigen die Beiträge von Monika Wienfort, Marcus Funck und Joseph Matzerath im Sammelband „Adel und Moderne“, T. 3 „Aspekte von Adeligkeit“, in: Wienfort / Conze (Hgg.), Adel und Moderne. „Adeligkeit“ wird stärker als Strategie der Selbststilisierung vorgestellt von: Wienfort, Der Adel in der Moderne, S. 154ff. Generell zur Diskussion: Tacke, Charlotte, „Es kommt darauf an, den Kurzschluß von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden“. ‚Adel‘ und ‚Adeligkeit‘ in der modernen Gesellschaft, in: NPL 52 (2007), S. 91–123.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

19

noch gewesen sei, bedürfe es eines Wissens „über das vormoderne Substrat von Adel, das dieser in den Wandel des 19. Jahrhunderts einbrachte“36. Wenn man „Adeligkeit“ nur unter Rückgriff auf ein „vormodernes Substrat“, dessen Existenz ungewiß und zu bezweifeln ist, untersuchen kann, dann dürfte noch einige Zeit ins Land gehen, bis Ergebnisse erzielt werden. Es ist ein großes forschungspraktisches Problem, das gegenwärtig eher nivelliert wird. Stephan Malinowski, der Reifs Substratgedanken teilt, die Chiffre hierfür ist „Wiedererfindung“, hat sich in veröffentlichter Form zuerst der Herausforderung gestellt, Grundzüge von „Adeligkeit“ im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert nachzuzeichnen.37 Er beschreibt, daß sich der Adel auch nach 1918 zur Herrschaft berufen fühlte, am Überlegenheitsgefühl dieser Gruppe kam kein Selbstzweifel auf. Neben Familie, Landbindung, Charakter und Kargheitskultur diagnostiziert Malinowski Herrschaft und Führertum als Zentrum des adeligen Habitus. Deutlich wird hingegen nicht, ob die als zeitlos dargestellte Qualität des Herrschens zum „Substrat“ eines jahrhundertealten Habitus gehört. Die Rede ist vom „Versuch, uralte Herrschaftskonzepte zeitgemäß zu modifizieren“ – welche?, vom „Erhalt vormoderner Leitbilder“ – welcher? – trotz Neudefinitionen, auch sei eine „Neukomposition einzelner Elemente aus dem adligen Wertekanon“ – welcher? – versucht worden. Malinowski spricht suggestiv von der „historischen Tiefe des ‚Obenbleibens‘“, zeigt diese aber nicht jenseits der zeitgenössischen Selbstbeschreibungen.38 Sicher, hier wird ein Modell skizziert, aber schon auf dieser Ebene wird deutlich, daß der Nachweis eines kontinuierlichen, kohärenten Herrschaftshabitus kaum zu erbringen ist. Welche Erklärungskraft diesem Modell im Hinblick auf konkrete Praktiken und Verhaltensanforderungen zukommt, ist somit fragwürdig.39 Vorliegende Arbeit versucht nicht, die Grundzüge von „Adeligkeit“ zu spezifizieren oder den Elementen eines adeligen Habitus weitere hinzuzufügen. Wenn ich mich des öfteren auf „Adeligkeit“ beziehe, dann im Sinne einer kollektiven Selbstbeschreibung, die aktuelle Handlungs- und Wertorientierungen bereitstellte, die den Adel in einer zunehmend entsicherten Adelsgesellschaft auf diffuse Art zusammenhielt.40 Mein Interesse richtet sich nicht auf kollektive Handlungseinheiten, sondern auf das Individuum in seiner Beziehung zur Welt. Damit orientiere ich mich an einer Bürgertums-

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Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 119. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 47–117. Ebd., S. 104–117, hier: S. 117, S. 114, S. 115, S. 109. Michael Müller zeigt am Beispiel des polnischen Adels, daß, wenn man von einem vormodernen „Substrat“ oder Kernelement ausgeht, die Anpassungsprozesse im 19. Jahrhundert hohe Kosten des „Obenbleibens“ verursachten. Sie gehen bis an die Schwelle der Preisgabe von „Adeligkeit“. Zugespitzt formuliert: Elitenzugehörigkeit wird mit einem kollektiven Identitätsverlust bezahlt, der Adel paßt sich zu Tode an. Vgl. Müller, Michael G., „Landbürger“. Elitenkonzepte des polnischen Adels im 19. Jahrhundert, in : Conze / Wienfort (Hgg.), Adel und Moderne, S. 87–105. Da in der Forschung Statik und Homogenität des Adelshabitus betont wird, sei zumindest daran erinnert, daß der Habitus-Begriff von Bourdieu durchaus mit dem Unscharfen und Verschwommenen in Verbindung gebracht wird. Vgl. Bourdieu, Pierre, Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 1992, S. 101.

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1. Einleitung

forschung, die „Bürgerlichkeit“ in Anlehnung an Alltagsgeschichte und Kulturanthropologie zunehmend als aktiven Aneignungsprozeß von Werten, Normen und Idealen durch die historischen Akteure begreift.41 Mit dem Kulturbegriff der historischen Anthropologie rückt das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“42 der Menschen in den Mittelpunkt. Der Akzent liegt hier auf der individuellen Aneignung der Dinge der sozialen Welt, ohne gesellschaftsenthoben zu sein. Damit werden überindividuelle Kategorien oder kollektive Einheiten wie Familie, Status, soziale Herkunft nicht obsolet, sie verlieren nur ihre Erklärungskraft sui generis und besitzen ihre Wirkungsmacht genau in dem Maße, wie sie von den Individuen praktisch und geistig angeeignet werden. Im Prozeß der individuellen Herstellung von Bedeutung können beliebige Kategorien zu „Werten“ aufsteigen bzw., insofern „Werte“ gegeben sind, verändert oder bestätigt werden und handlungsorientierend wirken. Ist in der Bürgertumsforschung von Aneignungsweisen und -formen die Rede, dann wird versucht, die Sphären von sozialer Praxis und Kultur gleichrangig und in ihren Wechselwirkungen zu erfassen, um Aufschluß darüber zu erhalten, wie und welche Werte für jeweilige bürgerliche Alltagsgestaltungen überhaupt von Bedeutung waren. Das wechselseitige In-Beziehung-Setzen, wozu verschiedene Quellengruppen unterschiedlichen Realitätsgehaltes nötig sind, wird in dieser Arbeit nicht geleistet. Autobiographien spielen in einer Realitätsliga, der Gegenüberstellungen von Alltag und Normen, Fakten und Fiktionen, Wahrheit und Lüge fremd sind. Diese ‚Liga‘ gründet in der Existenz von Sinn, verstanden als „Ensemble der obersten Kriterien, nach denen im menschlichen Lebensvollzug die kulturelle Orientierung von Handeln und Leiden geleistet wird.“43 Jörn Rüsen bindet Kultur und Sinn in einer Formulierung zusammen, die ich zugrunde lege, um der autobiographischen Dimension von Bedeutungsherstellung und Aneignung gerecht zu werden: „Kultur ist Inbegriff der subjektiven Deutungsleistung des Menschen im Umgang mit sich selbst und seiner Welt. Sie ist geradezu identisch mit einem mentalen Sinngebungs- oder Sinnbildungsprozeß, ohne den die menschliche Lebensführung unmöglich wäre. Man muß die Welt immer schon kulturell interpretiert haben, wenn man ihrer handelnd mächtig werden will. Sinn ist genau das, was Kultur im Lebensprozeß des Menschen leistet: Sie stattet die Welt und den Menschen mit einer Sub-

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Vgl. Hettling, Manfred / Hoffmann Stefan-Ludwig, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: GG 23 (1997), S. 333–360; Dies. (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), hrsg. v. Peter Lundgreen, Göttingen 2000, S. 319–339; Habermas, Rebekka, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1994, S. 9. Rüsen, Jörn, Was heißt: Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn), in: Müller, Klaus E. / Rüsen, Jörn (Hgg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 17–47, hier: S. 27.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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jektqualität aus, ohne die die menschlichen Subjekte mit sich selbst und ihrer Welt nicht handelnd und leidend umgehen können.“44 Was Menschen nach Auffassung Rüsens immer tun, die permanente subjektive Hervorbringung von Welt durch Deutung und reflexive Selbstvergewisserung, tun AutobiographInnen in besonderem Maße, insofern dieser Prozeß in Form einer individuellen Lebensgeschichte erzählt wird. Aneignung vollzieht sich hier auf fundamentale Weise. Es geht nicht um Aneignungsformen von Höflichkeit, Pflicht und anderen Tugenden, sondern das Subjekt eignet sich vergangenes Leben zu seiner eigenen Geschichte an. B) Familie: Die adelige Familie genießt in der neueren Adelsforschung einen hohen Stellenwert; doch arbeitet sie nicht ausdrücklich familienhistorisch. Auch die vorliegende Arbeit versteht sich explizit nicht als Beitrag zur historischen Familienforschung, die ihrerseits die Adelsfamilie als eigenständigen neuzeitlichen Typ nur marginal erwähnt.45 In der frühneuzeitlichen Gesellschaft stellte die adelige Familie einen Typ für sich dar, welcher sich von anderen darin unterschied, daß er von Produktionsfunktionen weitgehend entlastet war, und die auf Grundbesitz ruhende Ausübung und Sicherung von Herrschaft zu seiner eigentlichen Aufgabe gehörte.46 Unterhalb des Typs war der enge Zusammenhang von Herrschaft und Familie trotz Standeszugehörigkeit nicht ein für allemal gegeben. Familien konnten verarmen, absinken, aussterben. Familiale Strategien, deren zentrales Ziel im Namens- und Besitzerhalt in materieller, generationeller, sozialer und symbolischer Hinsicht lag, waren nötig, um Herrschaftspositionen zu sichern oder zu verbessern. Die in das 19. Jahrhundert geretteten Strategien des Familienzusammenhalts konnten für Familien von Vorteil sein, um sich in der adeligen Binnendifferenzierung nach Recht und Status, dann zunehmend nach Funktion und Reichtum zu behaupten. Darüber hinaus gelten stabile oder stabilisierte Familien in der Forschung als eine Voraussetzung zur Aufrechterhaltung von politischen und gesellschaftlichen Herrschafts-

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Ebd., S. 25. Grundlegend: Reif, Westfälischer Adel; Conze, Von deutschem Adel. – Die historische Familienforschung ist ein weites Feld. Zumindest fällt auf, daß die sozialhistorisch orientierte Forschung kaum interessiert ist. Wenn sich etwa Andreas Gestrich in seiner problemorientierten Überblicksdarstellung zur neuzeitlichen Familie auch auf Adelshaushalte und Erziehung im Adel bezieht, so rekurriert er vornehmlich auf die von Heinz Reif gewonnenen Ergebnisse zur Adelsforschung. Vgl. Gestrich, Andreas / Krause, Jens-Uwe / Mitterauer, Michael, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 455ff.; S. 585ff. – Zu den großen Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert noch immer (und unter weitgehendem Ausschluß der Adelsfamilie): Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1982; Sieder, Reinhard, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. Rosenbaum, Formen der Familie, S. 20f.

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1. Einleitung

ansprüchen und als Garant des gesellschaftlichen „Obenbleibens“ im 20. Jahrhundert.47 Das Interesse an der Familie ist demnach eingebettet in den übergreifenden Fragehorizont nach Elitentransformation bzw. Statuserhalt unter modernen Bedingungen. Mentalitätsgeschichtlich wird die These vertreten, daß die Familie ein Element adeliger „Kernidentität“ darstellte. „Familie haben“ war demnach ein hervorragendes Attribut von „Adelig-Sein“.48 Das adelige Familienmodell und -verständnis ging über die konkrete Erscheinungsform der Kernfamilie oder zeitweilig erweiterten Kernfamilie hinaus. Verstanden als agnatisch begrenzter Blutsverband gehörten der Familie alle toten, lebenden und künftigen Generationen an. Auch bezog sich das Familienverständnis in horizontaler Ausdehnung auf alle Träger des Namens und deren Verwandte. Immer den Familien- und Besitzerhalt zum Ziel habend, regelten Familienordnungen und -verträge rechtliche und finanzielle Belange der einzelnen Mitglieder ebenso, wie sie soziale Normen und Konventionen im Sinne der Familienräson verbindlich formulierten.49 Die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte Gründung von Familienverbänden zielte mit der Pflege der eigenen Geschichte, dem Abhalten von Familientagen und der Unterstützung bedürftiger Angehöriger darauf ab, Gemeinsinn und inneren Zusammenhang der Namensträger zu stärken.50 Innerhalb dieses Modells, und darüber herrscht Forschungskonsens, dominierten die Familienziele das Leben aller Familienangehörigen. Die Familie bestimmte die Stellung des einzelnen: „Sie legitimierte seine Stellung durch die Ehre der Vorfahren, Tradition und Standeszugehörigkeit, sie sorgte für Ausbildung, Ausstattung 47

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Vgl. grundlegend Reif, Westfälischer Adel, S. 240–315; ders., „Erhaltung adligen Stamms und Namens“. Adelsfamilie und Statussicherung im Münsterland 1770-1914, in: Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von N. Bulst u. a., Göttingen 1991, S. 275-309; programmatisch bei Braun, Rudolf, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Europäischer Adel 1750–1950, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1990, S. 88f.; Matzerath, Josef, „dem gantzen Geschlechte zum besten“. Die Familienverträge des sächsischen Adels vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Geschichte des sächsischen Adels, hrsg. v. J. Matzerath u. a., Köln u. a. 1997, S. 291–319. Für das 20. Jahrhundert: Conze, Von deutschem Adel; ders., Adeliges Familienbewußtsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bernstorffschen Fideikommisses Gartow nach 1919, in: GG 25 (1999), S. 455–479. Vgl. Oexle, Otto Gerhard, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, S. 19–56; Dilcher, Gerhard, Der alteuropäische Adel – ein verfassungsgeschichtlicher Typus?, in: Ebd., S. 57–86; Reif, „Adeligkeit“ – historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800, [Manuskript, 12. 6. 1997], unpaginiert; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 46ff. Vgl. Funck / Malinowski, „Charakter ist alles!“. Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, Bd. 6, Bad Heilbrunn 2000, S. 71–91; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 46–59; Conze, Von deutschem Adel, S. 342ff. – Zu Inhalten und Leistungen von Familienordnungen und -verträgen vgl.: Reif, Westfälischer Adel, S. 78–122; Matzerath, „dem gantzen Geschlechte zum besten“, S. 291–319. Vgl. auch Brunner, Rainer, Landadeliger Alltag und primäre Sozialisation in Ostelbien am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991), S. 995–1011.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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und gesellschaftliche Stellung des Individuums. Im Gegenzug forderte sie vom Einzelnen, er solle zur Ehre der Familie durch standesgemäßes Verhalten und durch Sicherung des Besitzstandes beitragen. Bei Fehlverhalten standen der Familie Sanktionsmöglichkeiten zu. Indem nun der Einzelne die Erwartung der Familie erfüllte, blieb die Stellung der Familie stabil. Der Kreis schließt sich.“51 Diese in der ständischen Gesellschaft entstandene soziale Verfaßtheit der Statussicherung war langfristig bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich. Das reziprok gedachte Geben und Nehmen zwischen Familie und dem Einzelnen wird, wenn es spezifiziert wird, vornehmlich strukturell bzw. strukturfunktionalistisch betrachtet. Für diese Perspektive stehen insbesondere die Arbeiten von Heinz Reif. Er hat verschiedentlich gezeigt, wie stark adelige Familienordnungen über Erbschaften, Anrechte, Ämterbesetzungen und Heiratskreise die Lebenschancen der jeweiligen Mitglieder reglementierten, wie der Familienzyklus in einzelne Lebensläufe und Biographien eingreifen konnte, welche Konsequenzen das Majoratsprinzip zur Besitzsicherung für alle Familienmitglieder zeitigte.52 Die Stärke dieser Betrachtungsweise liegt fraglos darin, die Dauerhaftigkeit vormodern geprägter Strategien trotz beschleunigten sozio-politischen Wandels zeigen zu können. Doch in dieser Perspektive sind Individuen Epiphänomene von Struktur- und Funktionszusammenhängen, wie sie sich aus Familienordnungen mit ihrem hohen normativen Quellengehalt rekonstruieren lassen. Die Ordnung erscheint als kollektiver Akteur, die Mitglieder als funktionierende Agenten ohne „Eigensinn“53, denen allenfalls eine Einbahnstraße des Leidens offeriert wird. Wenn Reif von den Kosten erfolgreicher Statussicherung im münsterländischen Adel spricht, dann meint er insbesondere den „Verzicht auf Selbstverwirklichung“54, der den Töchtern und nachgeborenen Söhnen in Ehe und Beruf abverlangt wurde. Enge Heiratskreise und die Konzentration auf wenige Berufsfelder als kollektive Strategien sozialer Schließung und Distinktion konnten und haben konfliktreich in individuelle Lebensvorstellungen und Lebensgestaltungen eingegriffen.55 Doch der „Verzicht auf Selbstverwirklichung“ ist eine viel zu allgemeine Metapher, um Probleme einzelner im komplizierten Geflecht von 51 52

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Matzerath, „dem gantzen Geschlechte zum besten“, S. 291. Über die mehrfach genannten Arbeiten hinaus: Reif, Adelsfamilie und soziale Plazierung im Münsterland 1770–1914, in: Kocka, Jürgen u. a. (Hgg.), Familie und soziale Plazierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980, S. 67–125; ders., Zum Zusammenhang von Sozialstruktur, Familien- und Lebenszyklus im westfälischen Adel in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Mitterauer, Michael / Sieder Reinhard (Hgg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a. M. 1982, S. 123–135. Zum in der Alltagsgeschichte gebräuchlichen Begriff des Eigensinns vgl.: Lüdtke, Alf, Die Ordnung der Fabrik. „Sozialdisziplinierung“ und Eigen-Sinn bei Fabrikarbeitern im späten 19. Jahrhundert, in: Vierhaus, Rudolf u. a. (Hgg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, S. 206–231. Reif, „Erhaltung adligen Stamms und Namens“, S. 283. Ders., Väterliche Gewalt und „kindliche Narrheit“. Familienkonflikte im katholischen Adel Westfalens vor der Französichen Revolution, in: Ders. (Hg.), Die Familie in der Geschichte, Göttingen 1982, S. 82–113.

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1. Einleitung

Familienbeziehungen zu erfassen. Die Metapher funktioniert allerdings auf abstrakter makrohistorischer Ebene: Die bürgerliche oder moderne Gesellschaft mit ihren vom männlichen Individuum hergedachten Ordnungsprinzipien von Rechtsgleichheit, Chancengleichheit und Entfaltungsfreiheit einerseits und eine kollektive Familienordnung andererseits, die sich diesen Prinzipien widersetzt. Kulturgeschichtlich erweiterte sozialhistorische Arbeiten betonen die Familie stärker als Element von „Adeligkeit“, als kollektiv geteilten Wert am „adeligen Wertehimmel“, als gruppenverbindlichen und -verbindenden Handlungs- und Sinnzusammenhang, im Kern die Erhaltung des splendor familiae, des Familienglanzes bedeutend.56 Zwar wird so eine Wechselbeziehung zwischen Familie und Individuum angedeutet, dennoch dominiert auch hier eine Betrachtung, die den Zwangscharakter der Familie betont. In Hinblick auf Erziehung und Sozialisation erscheint der Binnenraum adeliger Kernfamilien als Repressionszentrum, das verkörperte Familienordnungen hervorbringt, nicht aber als Ort, in dem Menschen künftiger Handlungsfähigkeit wegen erzogen werden. Familienverbände werden als sozial kontrollierende Institutionen präsentiert, aber es sind kontrollierende Gewalten: nicht wenig, aber auch nicht mehr.57 Dennoch ist diese Perspektive plausibel. Eine soziale Gruppe, die ihren Führungsanspruch und ihre Sonderstellung aus Abstammung und Geburt herleitet und somit fundamental an die Existenz „natürlicher“58 Familien gebunden ist, unternimmt vor dem Hintergrund sich auffächernder Lebensstile, verschärfter Elitenkonkurrenz und dem politischen Aus nach 1918 alle kollektiven Anstrengungen, um die innere Erosion zu vermeiden, immaterielle Homogenität zu stiften. Auch zeigen die „von oben“ durchgeführten Stabilisierungsbemühungen an, daß der Wert „Familie“ um 1900 zur sozialen Praxis in Spannung stand, für einzelne nicht zwingend verbindlicher Fixpunkt am adeligen Firmament war. Zwar ist es wichtig zu wissen, wie die Institution „Familie“ mit Außendruck versucht hat, eine Inkorporierung von Werten und Normen zum Zweck der Gruppenkohäsion hervorzubringen. Vernachlässigt wird in dieser dem einzelnen hierarchisch und restriktiv zugewandten Perspektive hingegen, daß Werte eine Fülle von Möglichkeiten und Anforderungen individuellen Handelns konstituierten, daß Werte im ‚Innen‘ einer Person einer kognitiven und emotionalen Gestimmtheit bedurften, um handlungsorientierend wirksam zu sein. Charles Taylor spricht hier nicht von Werten, sondern vom „Guten als Gegenstand unserer Liebe und Loyalität“.59 Wenn Familienstabilität oder der Familien56 57 58

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Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 47–59. Zur „Erhaltung des splendor familiae“ vgl. ausführlich: Conze, Von deutschem Adel, S. 329–361. Vgl. z. B. Funck / Malinowski, „Charakter ist alles!“, S. 71–91. Daß die auf Blutsbanden und Verwandtschaft basierende Familie kein singuläres Adelsmerkmal darstellte, sondern auch zum Erfindungsreichtum der bürgerlichen Meisterdenker gehörte, zeigen grundlegend: Davidoff, Leonore / Doolittle, Megan / Fink, Janet / Holden, Katherine, The Family Story. Blood, Contract and Intimacy 1830–1960, Amsterdam 1998. Vgl. Hettling / Hoffmann, Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung, in: Dies. (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 13; Dies., Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: GG 23 (1997), S. 339f.; Taylor, Quellen des Selbst, S. 152.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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zusammenhalt eine Möglichkeit im Kampf um adeligen Statuserhalt darstellte, so ist es nicht damit getan, eine dem Individuum vorgeordnet gedachte Einheit (sei es die Familie in ihrer Struktur, als Institution oder als Kollektiv-Wert) zu untersuchen. In dieser Perspektive, die die Gefahr des „Strukturrealismus“60 in sich birgt, droht unterzugehen, daß es immer auch die einzelnen Familienangehörigen waren, die mit ihren Handlungen und Deutungen familiäre Bindungskräfte stärkten und hierüber den Zusammenhalt bewirkten. Die vorliegende Arbeit setzt hier an und untersucht den subjektiven Sinn von „Familie haben“. Das in der Adelsforschung dichotomisch anmutende Verhältnis von Familie und Individuum wird von letzterem her betrachtet und als Beziehungsgefüge verstanden. Es geht demnach nicht darum, den Kollektiv-Wert „Familie“ oder Familienstrukturen zu ignorieren, das waren sicherlich wichtige, die einzelne Person strukturierende Elemente, sondern diese an das weibliche Individuum in seinen lebensweltlichen Bezügen zurückzubinden und sie innerhalb der Autobiographik in konkrete Deutungszusammenhänge aufzulösen. Dieser ‚Auflösung‘ liegt keine Dezentrierungsabsicht zugrunde, sondern folgt der Einsicht, daß der Zweck der herangezogenen Lebenserinnerungen nicht darin liegt, über die Familie als Struktur oder Kollektiv-Wert zu reflektieren. Die Lebenserinnerungen werden auf die präsentierten Selbstbilder und Lebensentwürfe, die Handlungsund Gestaltungsmöglichkeiten und die Beziehungen zu anderen hin untersucht. Zentral fragt diese Arbeit nach den Möglichkeiten und Grenzen der Familienzugehörigkeit, nach integrierenden und desintegrierenden Faktoren, um sich positiv auf sich selbst zu beziehen und sich hierüber im ,Raum des Adels‘ verorten zu können. Der Fragestellung liegt die schlichte außerautobiographische Annahme zugrunde, daß Frauen stärker als Männer in ihre jeweiligen Kernfamilien eingebettet waren, daß ihr Familienstand über die einzunehmende gesellschaftliche Position entschied, daß der Familienstatus in stärkerem Maße als bei männlichen Angehörigen darüber entschied, welche sozial-kulturellen Räume sich ihnen (nicht) eröffneten. Beim gegenwärtigen Forschungsstand zielt das nach Bedeutungen fragende Interesse zunächst darauf ab, adelige Frauen „als handelnde, erfahrene und deutende Akteurinnen“61 hervorzuheben. Des weiteren führt eine Untersuchung von Möglichkeiten und Grenzen der Familienzugehörigkeit zu einer Auffächerung dessen, was in der Forschung nurmehr in Abgrenzung zum bürgerlichen Bildungsideal betont wird: „Bedürfnisse einzelner“ seien „soweit wie möglich eingeengt bzw. nur im engen Rahmen der über die Adelsgesellschaft definierten Konventionen zugelassen“ worden.62 Aber erst Kenntnisse individueller Bedürfnislagen tragen dazu bei, die Familie vom einzelnen her, in Zustimmung oder Ablehnung, einschätzen zu können. Zu guter Letzt versucht diese Arbeit den in der Adelsforschung vorherrschenden Zwangscharakter der Familie zu relativieren. Diese Sicht mag durchaus mit den hierarchischen Familienstrukturen zu begründen sein. Doch 60 61 62

Kritisch dazu: Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1994, S. 39. Habermas, Geschlechtergeschichte und „anthropology of gender“, S. 499. Funck / Malinowski, „Charakter ist alles!“, S. 72.

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1. Einleitung

sieht man von den Deutungen der Beteiligten ab, wird adeligen Personen pauschal ein Opferstatus zugewiesen, der sie ihrer Gestaltungschancen beraubt. Auf welche Weise soll nun das Beziehungsgefüge von Familie und Individuum und der damit verbundenen Leitfrage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Familie, sich positiv auf sich selbst im ‚Raum des Adels‘ zu beziehen, untersucht werden? Zunächst einmal: In den genutzten Autobiographien werden weder Familienordnungen noch Familienverbände thematisiert. In starker Vereinfachung: Es gibt Texte, die Familie nicht thematisieren und andere, in denen Familie das zentrale Thema der Darstellung ist. Zwischen diesen Polen etabliert sich die Kernfamilie, manchmal und zeitlich begrenzt um Verwandte erweitert, als Gegenstand der Kindheits- und Jugenderinnerungen. Im Fortgang der Erzählung kann „Familie haben“ entfallen bzw. stellen engere und weitere Familienangehörige Staffagefiguren dar. Diese können aber auch als Gegenstand der Bindung oder Abgrenzung zentral in die Erzählung einrücken. Hierbei stellen die Selbstbezüge allemal Wertungen dar. Doch diese kommen zumeist ohne Rückgriff auf den Kollektiv-Wert „Familie“ aus, sondern stellen Sinnqualitäten im Horizont der eigenen Geschichte dar. Auf keinen Fall sind erinnerte Lebensgeschichte und Kernfamilie identisch, was nur dann überrascht, wenn man von einer normativen In-Eins-Setzung von Frauen und Familie ausgeht. Familie, in der Regel personell konkretisiert, ist mehr und minder stark in die autobiographische Darstellung integriert und oft mit anderen Erzählgegenständen (der Krieg, das Dorf, Feste und Reisen …) verwoben. Das heißt, in der herangezogenen Autobiographik erfolgte das Thematisieren von Familie weder gleichgewichtig noch gleichwertig. Trotz der Heterogenität des Themas „Familie“ waren die den meisten Autobiographien zugrunde liegenden Lebensläufe gleichartig Von der Eheanbahnung über die Eheschließung, Mutterschaft und Witwenschaft war die zeitliche Abfolge von Lebensläufen familienbezogen strukturiert. Der Befund der Gleichartigkeit ist Anlaß, um in dieser Arbeit modellhaft Aspekte einer weiblichen Normalbiographie zu rekonstruieren. Dieses Modell basiert auf der grundlegenden Einsicht der Biographieforschung, wonach sich Subjekte ‚fraglos‘ an Wahrscheinlichkeiten und Normalitätserwartungen orientieren.63 Anhand von drei Aspekten, welche autobiographische ‚Textdaten‘ mit den Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses verknüpfen (Geschlechterkette, familiäre Herkunft, Verhaltensorientierungen) untersucht das Modell die Möglichkeiten der Familie, welche in der Summe das normalbiographisch Erwartbare im Leben adeliger Frauen konstituierten. Es soll gezeigt werden, daß die Normalbiographie im Adel auf dem Primat fußte, eine durch die Familie vermittelte Position in der Adelsgesellschaft einzunehmen, die mit dem Leitbild der „Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame“ korrespondierte. Die Frage nach den Möglichkeiten der Familie wird demnach über die Skizzierung des Modells beantwortet und zugleich als konstitutiver Rahmen begriffen, innerhalb dessen

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Vgl. Dausien, Bettina, Biographie und Geschlecht. Zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten, Bremen 1996, S. 13ff.; S. 44ff.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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sich adelige Frauen bedeutsam in ein Selbst-Welt-Verhältnis setzen konnten, um hierüber der eigenen Existenz Sinn zu geben. Es dürfte einerseits einleuchtend sein, daß die Familie als konstitutiver Rahmen ein breites Spektrum individueller Handlungs- und Bedeutungszusammenhänge eröffnete. Andererseits ist vorstellbar, daß das normalbiographisch Erwartbare aufgrund familiärer Verhältnisse und Verhinderungen nicht für alle Frauen wahrscheinlich wurde oder aufgrund anderer Vorstellungen von einem guten Leben bei Frauen auf Ablehnung stieß. Damit rückt die Frage nach den Grenzen der Familie, die sich aber nicht über das Modell erschließen, sondern erst in der vergleichenden Betrachtung der verschiedenen Selbstpräsentationen kenntlich werden, in die Untersuchung ein. ‚Selbstpräsentation‘ ist in dieser Arbeit ein wichtiger Begriff, um das Gefüge von Familie und Individuum zu untersuchen. Hierbei greife ich auf einen von Heiner Keupp und KollegInnen herausgearbeiteten Aspekt personaler Identität zurück. Um langwierigen Diskussionen vorzubeugen: Identitätskonstruktionen versetzen Menschen in die Lage, sich sinnhaft in ihrer Welt zu verorten und zugleich handlungsfähig zu sein. „Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: sie soll das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen.“64 Autobiographien stellen eine und auch seltene Form von möglichen Selbstreflexionen dar. Nicht immer ist die klassische Identitätsfrage „Wer bin ich?“ das Thema, sondern häufiger deren ‚kleinere Schwester‘ – die Selbstthematisierung in der Aussage „Das bin ich“.65 Doch beide bedienen das „Scharnier“: Das Nachdenken über das eigene Ich in Vergangenheit und Gegenwart zum Zweck der Selbstvergewisserung und der Klärung seiner Beziehungen und Identifikationen zu relevanten Anderen (Herkunft, soziale Gruppen, Personen …).66 Keupp und KollegInnen geht es in ihrer theoretisch fundierten empirischen Arbeit nicht um Autobiographien, sondern u. a. um Selbsterzählungen, die sie als einen „Identitätsbaustein“ neben anderen betrachten. Gesprochen wird von biographischen Kernnarrationen, worunter die „Selbstideologie einer Person“ verstanden wird. „Ideologie“ meint die bewußte, sprachlich verfaßte Arbeit an der eigenen Identität in Abgrenzung zum teilweise unbewußten und unartikulierten Identitätsgefühl einer Person. Kernnarrationen bieten „Lesarten des eigenen Selbst“. Sie dienen

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Keupp, Heiner u. a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 28. Hahn, Alois, Identität und Selbstthematisierung, in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hrsg. v. Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt a. M. 1987, S. 9–24. Zum Zusammenhang von Identität und Autobiographie vgl. u. a.: Depkat, Volker, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: GG 29 (2003), S. 441–476, bes. S. 466–468; Engelhardt, Michael von, Biographie und Identität. Die Rekonstruktion und Präsentation von Identität im mündlichen autobiographischen Erzählen, in: Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, S. 197–247; die Beiträge von Manfred Fuhrmann, Odo Marquard, Manfred Sommer, Wolfhart Pannenberg, Hans Ulrich Gumprecht und Hans Robert Jauss in: Identität, hrsg. v. Odo Marquard und Karheinz Stierle, München 1979, Kapitel 3 „Identität und Autobiographie“.

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1. Einleitung

sowohl der Verständigung mit anderen als auch der aktuellen Selbstvergewisserung einer Person.67 In Hinblick auf Autobiographien ließe sich auch von „zentralen Lebensthemen“ oder „zentralen Lebenslinien“ sprechen. Gemeint ist die formale und inhaltliche Gestaltung des gelebten Lebens zu einer oder mehreren biographischen Kernerzählungen.68 In dieser Arbeit führen Selbstpräsentationen oder wahlweise Kernnarrationen als Sonde durch das autobiographische Material. Sie sind der Maßstab, um die Kontexte, d. h. die Erfahrungs- und Handlungsräume, in denen „Familie haben“ erinnert wurde, aufzuschließen und Instrument, um zu untersuchen, welche Bedeutungen Autobiographinnen dem Familiären zuwiesen. Mit diesem skizzierten Vorgehen sollte es möglich sein, einerseits das Spektrum subjektiver Konkretionen im Rahmen der weiblichen Normalbiographie resp. der Möglichkeiten der Familie herauszuarbeiten. Andererseits lassen sich anhand der Selbstpräsentationen solche Konstellationen untersuchen, die eine Verortung im familiär Möglichen erschwerten bzw. unmöglich machten. Die bereits angerissene Frage nach den Grenzen der Familie wird im nächsten Abschnitt präzisiert. C) Geschlecht: In Hinblick auf Forschungsstand und genutzte Quellen einerseits und unter der Voraussetzung, daß andererseits Geschlechterdifferenzen, Geschlechterordnungen sozial-kulturell variabel und historisch wandelbar sind, ist es schwierig, eine empirisch sichere Ausgangsposition zu finden. Beschäftigt man sich mit adeligen Frauen im 19. Jahrhundert, so wird man gewahr, daß Begrifflichkeiten wie „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ bürgerlich konnotierte Bereiche der Frauen- und Geschlechtergeschichte sind. Auch wenn die Forschung inzwischen deutlich gemacht hat, daß zwischen den Normen und Praktiken der bürgerlichen Geschlechtergesellschaft Diskrepanzen herrschten, leitete das Begriffspaar „öffentlich / privat“ dennoch die zeitgenössischen geschlechterordnenden Deutungen und Praktiken an.69 Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die polaren Zuordnungen von Frauen 67 68

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Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, S. 217, S. 229–235, zit.: S. 242 u. S. 232. So Heinritz, Charlotte, Auf ungebahnten Wegen. Frauenautobiographien um 1900, Königstein / Taunus 2000, S. 434ff.; Engelhardt, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens im 20. Jahrhundert, in: Heuser, Magdalene (Hg.), Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen 1996, S. 368–392, bes. S. 371ff. Als Konzepte zur Beschreibung von Lebensrealitäten bürgerlicher Frauen scheinen diese Begrifflichkeiten überholt: Davidoff, Leonore, „Alte Hüte“. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’ Homme 4 (1993), S. 7–36. Daß die Geschlechterpolarität im Bürgertum bis zur Jahrhundertmitte eher Norm denn Praxis gewesen war, zeigen etwa die Studien: Trepp, Anne-Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. – Dennoch gehörten die Begrifflichkeiten öffentlich / privat zur zentralen gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktion. Vgl. Hausen / Wunder (Hgg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 81–128 („Öffentlichkeit und Privatheit“); Frevert, Ute, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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zu Ehe, Familie und Reproduktion und von Männern zu Beruf, Politik und Produktion verfestigt. „Geschlecht“ hatte sich als Kategorie der Differenz zu einer Ordnungskategorie ersten Ranges entwickelt, welche die Gesellschaft als polares Ganzes konstituierte.70 Die Annahme, daß das diskursiv hergestellte und sich ideologisch verfestigende Konstrukt „polarer Geschlechtscharaktere“ im Adel unbemerkt blieb, wäre naiv. Doch zu fragen wäre, inwiefern z. B. „das Private“ und welche „Privatheit“ zum Selbstverständnis adeliger Familien gehörte. So war grundbesitzenden Familien zumindest bis zur Jahrhundertmitte ein über an den Besitz gebundene Herrschaftsrechte konstitutiver Öffentlichkeitsbezug eigen.71 Auch wäre zu fragen, warum sich der Adel, dessen „Adeligkeit“ bzw. kollektive Selbstbeschreibung deutlich antibürgerliche Züge trug72, eine doch vornehmlich bürgerliche Geschlechterideologie zu eigen machen sollte. Das sind offene Fragen, und sie werden es auch am Ende der Arbeit sein. Doch versucht diese Arbeit einige Antworten darauf zu geben, ob und wie das polare Ordnungsmodell in den autobiographischen Erzählungen wirksam wurde. Was sich im vorangegangenen Abschnitt zur Familie ankündigte, tritt nun deutlich hervor. Die vorliegende Arbeit ist keine Geschlechtergeschichte, die entweder Frauen und Männer zu gleichen Teilen und in ihren Beziehungen zueinander untersucht oder nach der Wirkungsmacht von (diskursiven) Geschlechterordnungen für die Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit fragt.73 Diese Untersuchung ist vom Gegenstand her eine traditionelle Frauengeschichte, die sich im klaren darüber ist, daß Menschen gleichzeitig unterschiedlichen kulturellen Ordnungskategorien zugerechnet werden. Methodisch nimmt sie geschlechtergeschichtliche Neuerungen auf, so daß eine Frauengeschichte vorliegt, die davon ausgeht, daß

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So die zentrale These von: Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Einen Versuch, die Ergebnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Bürgertum zu bilanzieren, unternimmt: Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, in: Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, S. 249–271. Zu den Besitzrechten im Adel nach Einführung des Allgemeinen Landrechts grundlegend: Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989 (zuerst 1967). Malinowski, Vom König zum Führer, S. 47ff., S. 594f. Einführend zum Stand der Geschlechtergeschichte etwa: Studer, Brigitte, Von der Legitimationszur Relevanzproblematik. Zum Stand der Geschlechtergeschichte, in: Aegerter, Veronika / Graf, Nicole / Imboden, Natalie / Rytz, Thea / Stöckli, Rita (Hgg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, Zürich 1999, S. 19–30. Zu Frauen und Männern in ihrer Bezogenheit vgl. u. a.: Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“; Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums; Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Zu Geschlecht und Konstruktion von Wirklichkeit vgl. z. B. Hüchtker, Dietlind, „Elende Mütter“ und „liederliche Weibspersonen“. Geschlechterverhältnisse und Armenpolitik in Berlin (1770–1850), Münster 1998; Gleixner, Ulrike, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760), Frankfurt a. M. / New York 1994. Als mittlerweile klassische Studie für die Verbindung von Geschlechterordnung und gesellschaftlicher Konstruktion gilt: Walkowitz, Judith R., City of Dreadful Delight: Narrative of Sexual Danger in Victorian London, London 1992.

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1. Einleitung

sich „die Vorabfeststellung der zentralen Bedeutung der Geschlechtskategorie … nicht halten [läßt]“74. Was soll unter einer so verstandenen Frauengeschichte gefaßt werden? Es geht tatsächlich um ein „Sichtbarmachen“. Nur nicht aus einer emphatischen Gegenstandsgewißheit heraus, die viele Historikerinnen der 1970er Jahre motivierte, sich mit der Geschichte des unterlegenen, vergessenen, anderen Geschlechts zu befassen.75 „Sichbarmachen“ folgt hier der pragmatischen Einsicht, daß sich neue Gegenstandsbereiche – die neuere Adelsforschung gehört dazu – über „große“, „allgemeine“ Fragen, wie jene nach Anpassungsleistungen einer immer wieder auch totgesagten herrschenden Gruppe, konstituieren, und die Kategorie „Geschlecht“ nicht zur Relevanzhierarchie des zu Untersuchenden gehört. Wenn Geschlechtergeschichte und sog. Allgemeine Geschichte ein gemeinsames Haus bauen wollen, dann gehören zum Fundament, wie auch immer gemischt, Kenntnisse einer Frauengeschichte.76 „Sichtbarmachen“ meint ebenfalls das Festhalten an einem (weiblichen) Subjekt als Zentrum von Wahrnehmung, Deutung und Handlung, das man befragen kann, welche Relevanz den Zuschreibungen „männlich“ und „weiblich“ zugewiesen wurde. Das heißt, vor dem Hintergrund der Diskussion, inwiefern die Geschlechterdifferenz ein Effekt von Geschichte oder Diskursen ist, gehe ich von deren Geschichtlichkeit aus und schließe mich dem Konsens an, daß sich Diskurse nicht von selbst machen und es wichtig ist, zu wissen, wer spricht.77

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Wierling, Dorothee, Keine Frauengeschichte nach dem Jahr 2000!, in: Geschichtswissenschaft vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg Iggers, hrsg. v. Konrad Jarausch u. a., Hagen 1994, S. 440–457, zit.: S. 454. Vgl. Hauch, Gabriella, „Wir, die viele Geschichten haben …“. Zur Genese der historischen Frauenforschung im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext, in: Gehmacher / Mesner (Hgg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte, S. 21–35. Daß die Anfänge der Frauengeschichtsschreibung nicht undifferenziert („die Frau“) betrieben wurde, wie hin und wieder angemerkt wird, zeigen etwa: Lerner, Gerda, Frauen finden ihre Vergangenheit: Grundlagen der Frauengeschichte, Frankfurt a. M. / New York 1995 (zuerst 1979 unter dem Titel „The Majority Finds Its Past“); Bridenthal, Renate / Koonz, Claudia (Hgg.), Becoming Visible. Women in European History, Boston u. a. 1977; Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Bürgertum im Bielefelder Sonderforschungsbereich wurde z. B. ab der dritten von vier Laufphasen institutionell unterstützt. Vgl. Lundgreen (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, S. 13ff. – Zum „Haus“ vgl. Medick / Trepp (Hgg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Die seit den 1990er Jahren geführte Diskussion speist sich aus der Auseinandersetzung mit dekonstruktivistischen Positionen, für die insbesondere die Arbeiten von Judith Butler und Joan W. Scott stehen. Vgl. einführend: Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 322–335. Den Auftakt der deutschsprachigen Debatte bildete: Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (Orig.Ausg. 1990) Einschlägig für die Diskussion die Beiträge in: Feministische Studien 11 (1993). Vgl. auch: Geschlechterverhältnisse und Politik, hrsg. v. Institut für Sozialforschung Frankfurt, Frankfurt a. M. 1994, insbesondere Kap. 2 „Zur Diskussion der Kategorie Geschlecht“, u. a. mit Beiträgen von Judith Butler und Hilge Landweer. Einen Überblick über die US-amerikanische Diskussion bietet: Hey, Barbara: Women’s History und Poststrukturalismus. Zum Wandel der Frauen-

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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Eine tradierte Frauen- und Geschlechtergeschichte teilt mit der Sozialgeschichte das Interesse an der Analyse von sozialer Ungleichheit, Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnissen, geht von einer jahrhundertelang gewachsenen männlichen Herrschaft aus und nutzt die hierarchische Geschlechterdifferenz als zentrale analytische Perspektive.78 Eine Frauengeschichte ohne männliches Gegenüber läuft zumindest Gefahr, Frauen zu heroisieren oder zu viktimisieren. Heldinnen bietet diese Arbeit nicht an. Von der flächendeckenden Diskriminierung von Menschen weiblichen Geschlechts aufgrund biologischer Kriterien und dem expliziten Ausschluß aus der Staatsbürger- und Bildungsgesellschaft waren adelige Frauen nicht ausgenommen. Der Adel war sexistisch – bis in die Gegenwart verlieren Frauen und deren Kinder das Adelsprädikat, wenn sie nicht-adelig heiraten. Eine Mutter ohne Sohn stand unter erheblichem familiär-gesellschaftlichen Druck. Gleichzeitig kann man davon ausgehen, daß die Geschlechterhierarchie in eine Vielzahl hierarchischer Beziehungen eingelassen war. In den patriarchalen Familienstrukturen – dafür sensibilisiert eine strukturfunktionalistische Sicht – unterdrückte nicht einfach alles Männliche das Weibliche. Männlich zu sein war keine zureichende Bedingung, um die Position einer ersten Autorität in der Familie einzunehmen. Dazu bedurfte es des Erstgeborenen-Status, legitimer Ehe, Söhne und Töchter. Das Gesetz des Familienerhaltes bevorrechtigte wenige und benachteiligte viele. Läßt man sich vom modernen Gleichheitsdenken leiten, so weist die adelige Familie tendenziell auf eine Geschlechtergleichheit in der Benachteiligung hin. Zieht man andere zentrale Lebenswelten von Männern und Frauen hinzu, wie den Hof, das diplomatische Corps, Regimenter und Garnisonen, den Gutsbezirk, so scheint es im Adel keinen hierarchiefreien Raum gegeben zu haben, zu dem Geschlecht nicht in Beziehung zu setzen wäre. Auch ist zu bedenken, daß der Adel ein jahrhundertealter Herrschaftsträger war und den Herrschaftsanspruch auch nach 1918 nicht preisgab. Frauen dieser Gruppe waren immer auch Beherrschte und Herrschende, Bevorrechtigte und Benachteiligte zugleich. Die Überlegung, daß adelige Frauen in mehrschichtige Hierarchien eingebunden waren und einer tatsächlichen oder beanspruchten Elite angehörten, hat methodische Konsequenzen. Die Arbeit setzt weder die Omnipotenz männlicher Herrschaft noch die moderner Geschlechterdifferenzen voraus. Sie untersucht Geschlecht nicht als polaren Gegensatz, sondern nimmt sich des methodischen Postulats der Relationalität, das einen der fließenden Übergänge

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und Geschlechtergeschichte in den USA, Pfaffenweiler 1995. – Zur Diskussion um Diskurs und Erfahrung vgl.: Bos, Marguérite / Vincenz, Bettina / Wirz, Tanja (Hgg.), Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffes in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung 2002, Zürich 2004. Vgl. Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a. M. / New York 1993, bes. die Beiträge von Hanna Schissler, Joan W. Scott und Gerda Lerner; das Heft „Klasse und Geschlecht“ der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 18 (1992).

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1. Einleitung

von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte markiert, an.79 Die Prämisse dieser Arbeit lautet: „Geschlecht ist als ein relationaler Begriff zu verstehen, der nur innerhalb eines Kontextes einen Sinn erhält.“80 Anhand und entlang der autobiographischen Selbstpräsentationen fragt die Arbeit, analog zum „Familie haben“ und in Beziehung zu diesem zu untersuchen, nach Handlungs- und Erfahrungsräumen, in denen Frauen Geschlecht bedeutungsvoll erinnerten. Die Analyse konkreter Kontexte ermöglicht dann Aussagen darüber, welche Relevanz das polare Geschlechtermodell besaß. Die bisher formulierten Fragestellungen zur Bedeutung von Geschlecht und Familie und die skizzierten Wege zur Beantwortung sind bisher unterschiedslos an „die“ adeligen Frauen, welche Erinnerungen verfaßt haben, gestellt worden. Die so implizierte Homogenität hat es nicht gegeben. Vorliegende Frauengeschichte differenziert nach dem Grad der Zugehörigkeit zur Familie und Adelsgesellschaft, wie er anhand der Selbstpräsentationen kenntlich wird. Hiernach werden drei Gruppen unterschieden, die in der Darstellung in verschiedenen Teilen thematisiert werden. Eine Minderheit adeliger Frauen präsentiert sich als Außenseiterinnen. Deren Lebensentwürfe gehen über das normalbiographisch Erwartbare hinaus und weichen vom damit verbundenen Leitbild ab. Die Spannung zwischen familiären Anforderungen und individuellen Entwürfen wird als biographischer Konflikt ausgetragen, der im engen Zusammenhang damit steht, daß eigene Wünsche, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von der Herkunftsfamilie und Adelsgesellschaft nicht anerkannt werden. Der Konflikt besitzt für diese Frauen desintegrierende Wirkung. Mehrheitlich präsentieren sich Autobiographinnen als integrierte Mitglieder, die ihre Zugehörigkeit bereits über Selbstbezeichnungen wie Gutsherrin, Diplomatenfrau oder Offiziersfrau zum Ausdruck bringen. Sie nehmen im Rahmen der weiblichen Normalbiographie erwartbare Positionen ein und gestalten sie jeweils aus. Voraussetzung der Gestaltungsmöglichkeiten ist der Status als Ehefrau und Mutter. Zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit stehen Selbstpräsentationen lediger Frauen. Deren mögliche Wünsche und Erwartungen sind im normalbiographischen Leit79

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Vgl. einführend: Griesebner, Andrea, Geschlecht als soziale und als analytische Kategorie. Debatten der letzten drei Jahrzehnte, in: Gehmacher / Mesner (Hgg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte, S. 37–52. Zu den wichtigen Beiträgen gehörten u. a.: Davis, Natalie Zemon, Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue Frauengeschichte (1976), in: Dies., Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1989, S. 117–132; Bock, Historische Frauenforschung. Fragestellungen und Perspektiven, in: Frauen suchen ihre Geschichte, hrsg. v. Karin Hausen, München 1993, S. 22–60; Scott, Joan W., Gender: A Useful Category of Historica Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075; Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: GG 14 (1988), S. 364–391; des Weiteren die Sammelbände: Fieseler, Beate / Schulze, Birgit (Hgg.), Frauengeschichte: Gesucht – Gefunden? Auskünfte zum Stand der historischen Frauenforschung, Köln u. a. 1991; Hausen / Wunder (Hgg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 1992. Hüchtker, Dietlind, Konstruktion und Agency. Vorschläge zu einer Umsetzung feministischer theoretischer Konzepte in historischer Forschung am Beispiel der Berliner Armenpolitik 1770–1850, in: Aegerter u. a. (Hgg.), Geschlecht hat Methode, S. 160.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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bild nicht aufgehoben. In der Familie nehmen sie eine sozial erwünschte Randposition ein. In ihren eigenen Bestrebungen, etwa als Schriftstellerin tätig zu sein, geraten sie an den Rand des sozial Akzeptablen in der Adelsgesellschaft. Ledige gehören dazu, doch ihr Zugehörigkeitsgefühl ist ambivalent und prekär. Die Frage nach der Bedeutung von Familie und Geschlecht ist selbstverständlich auch an die Gruppe der Außenseiterinnen und Ledigen zu richten. Doch darüber hinaus eröffnen insbesondere die Texte der Außenseiterinnen Fragen nach den familiären Grenzen positiver Selbstbezüge. Biographische Konflikte entzündeten sich an Lebensentwürfen, die den Anforderungen der Herkunftsfamilie widersprachen. Außenseiterinnen orientierten sich in ihren Entwürfen an den überindividuellen Kategorien „Arbeit“, „Bildung“, „Liebe“. Diese gehörten stärker dem bürgerlichen, weniger dem adeligen „Wertehimmel“ an. Und tatsächlich entfernten sich Außenseiterinnen nicht zwingend aus „dem“ Adel, wohl aber aus den Lebenswelten der konkreten Herkunftsfamilie und der sie umgebenden Adelsgesellschaft. Auf den ersten Blick lassen sich die Grenzen der Familie eindeutig bestimmen. Außenseiterinnen nehmen die Familie als Zwang wahr, die sie an der Realisierung individueller Bestrebungen hindert. Folglich streben sie nach Unabhängigkeit vom Zwang. Auf den zweiten Blick kann man von erzwungener Selbständigkeit sprechen. Die Grenze des positiven Selbstbezugs verläuft nicht zwischen familiären und individuellen Interessen, sondern zwischen Familie und Gesellschaft. Die materielle und soziale Lage der Familie gestattet es nicht, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen. Das Abweichen von der Normalbiographie ist folglich Effekt familiären Versagens. Beide Blickrichtungen sind nicht von der Hand zu weisen, doch folgen sie zu stark der weiter oben kritisierten adelshistoriographischen Logik, Familie und Individuum als Gegensatz, nicht aber als Beziehungsgefüge zu betrachten. Wenn man sich darin einig ist, daß Außenseitertum normalerweise keine von Subjekten angestrebte Position ist, dann lohnt sich ein erweiterter dritter Blick auf die Grenzen der Familie. Außenseiterinnen artikulieren nicht zuerst ihr Unbehagen an weiblicher Benachteiligung, sondern deutlich ihr Leiden an fehlender oder mangelnder Anerkennung durch signifikante Andere. Folgt man Heiner Keupp und KollegInnen, dann ist Anerkennung ein historisch und kulturell variables menschliches Grundbedürfnis. Sie stellt ein wichtiges Kriterium gelingender Identität, die dem Subjekt Handlungsfähigkeit ermöglicht, dar.81 Zentrale Anerkennungsformen, die dem einzelnen Selbstvertrauen und Selbstschätzung vermitteln, stellen Primärbeziehungen und eine Wertgemeinschaft dar. In ersterer geht es um affektive Zuwendungen zwischen Individuen, in letzterer um die soziale Wertschätzung individueller Leistungen durch die Gruppe.82 Das heißt, Anerkennung entsteht durch soziale Zugehörigkeit, weshalb personale Identität immer eine Kompromißbildung zwischen „Eigensinn“ und Anpassung an das sozial Konforme darstellt.83 Zwar sind Anerkennungsverhältnisse machtbestimmt konstituiert, doch Nichtanerken81 82 83

Vgl. Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, S. 252–270, S. 273ff. Vgl. ebd., S. 252–261. Vgl. ebd., S. 28, 99, 252–261, 273f.

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1. Einleitung

nung durch relevante Andere führt zu Leiden und Unterdrückungsformen, die einzelne und Gruppen in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken.84 Bezogen auf das vorliegende Thema heißt das, biographische Konflikte in Relation zur Gemengelage sozialer Anerkennungsverhältnisse (Individuum und Herkunftsfamilie, Individuum und Adelsgesellschaft, Herkunftsfamilie und Adelsgesellschaft) zu untersuchen. Hierüber zeigt sich, daß man von eindeutigen Grenzen kaum sprechen kann. Sie variieren je nach Konstellation und verdeutlichen, daß alle Konfliktbeteiligten gleichermaßen um das sozial Akzeptable innerhalb der Gruppe rangen. Anders formuliert: In der nachständischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurde das ‚Standesgemäße‘ allmählich zu einer Verhandlungssache. Im Ergebnis gab es Außenseiterinnen, doch sie standen nicht von vornherein fest. Ledige Frauen teilten mit Außenseiterinnen die Anerkennungsproblematik und mit Frauen im Rahmen der weiblichen Normalbiographie die Zugehörigkeit zur Familie. Um Besonderheiten Lediger aufzuzeigen, wechselt diese Arbeit die Untersuchungsperspektive. Ausgehend von und bezugnehmend auf Selbstpräsentationen lediger Frauen wird nach dem Wandel von Lebens(ver)läufen im 19. Jahrhundert gefragt. Diese Frage wird anhand prosopographisch auswertbarer Quellen eines freiweltlichen Damenstifts untersucht. Stifte waren im 19. Jahrhundert durchaus noch Orte lediger Lebensführung, doch Autobiographinnen frequentierten diese nicht. Warum dem so war, mochte an dem zu untersuchenden Wandel gelegen haben. Um diesen zu verdeutlichen, wechselt das dominierende kulturhistorische Vorgehen und Betrachten, zumeist als kleine und konkrete Gefüge dargestellt, zur sozialhistorischen Perspektive. Eine Entwicklung ist aufzuzeigen: Um 1900 erhielt das normalbiographisch Erwartbare für ledige Frauen eine neue Perspektive. Es wird ein Übergang sichtbar, der ledige Frauen aus der tradierten Familienbindung heraus- und in die neue Bindung des Berufs einführte. Die Erklärung und Deutung des Wandels erfolgt in Anlehnung an die soziologische und sozialhistorische Lebens(ver)laufs- und Biographieforschung.85 D) Autobiographik: In den bisherigen Ausführungen wurde die Hauptquelle der Arbeit – autobiographische Texte – mit Begriffen wie Autobiographik, Sinnkonstruktion und Kernnarration bzw. Selbstpräsentation in Verbindung gebracht. Das zugrunde liegende Verständnis von Autobiographie und das mit diesem verbundene Vorgehen soll an dieser Stelle expliziert werden.

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Vgl. ebd., S. 98ff., S. 268. – Daß das individuelle Bedürfnis nach Anerkennung immer wieder darauf hinaus läuft, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren, weil Anerkennung nur denjenigen gewährt wird, die sich konform zu den „mächtigen Gewalten“ verhalten, hat etwa auch Bourdieu dargelegt. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005. Dazu genauer unter 5.1. dieser Arbeit.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

35

In den letzten Jahren wurde von Kultur- und SozialhistorikerInnen ein neuer Umgang mit autobiographischen Texten als Quelle angemahnt und der bisherige historiographische Gebrauch kritisiert.86 Liest man die Kritik und die Arbeiten der Kritisierten, entsteht der Eindruck, als ob sich im Umgang mit der modernen „Selbstbiographie“ (Wilhelm Dilthey) seit den richtungweisenden quellenkritischen Anmerkungen von Hans Glagau (1903) nicht viel geändert hätte. Gingen die heutigen KritikerInnen mit Glagau darin konform, daß viele HistorikerInnen ihre Hauptquellen nicht gründlich genug prüften oder „mit einigen flüchtigen Bemerkungen darüber hinweg“87 sähen, so gibt es zwischen dem beginnenden 20. und 21. Jahrhundert einen gewichtigen Unterschied. Glagau sah die eigentliche Aufgabe des Historikers darin, die „romanhaften Bestandteile“ auszusondern, um den „Wert oder Unwert“ der Selbstbiographie abschätzen zu können.88 Heute wird betont – und in diesem Punkt läßt sich die Kritik bündeln – daß es gerade die „romanhaften Bestandteile“ seien, die ein gewichtiges Spezifikum der historischen Quellengruppe vor anderen ausmache und als solches nicht ausgesondert, sondern anerkannt werden muß, um den Quellenwert auszuschöpfen. Gemeint ist die Textualität und Literarizität der Autobiographie vor dem Hintergrund postmodernen Denkens der Unhintergehbarkeit von Sprache. Die „Unmittelbarkeit“ autobiographischer Äußerungen eines Subjekts als außertextuelles Wahrheitskriterium ist gründlich obsolet geworden. Über (Selbst)Referenzialität mag gestritten werden, allerdings fällt der Umstand auf, daß sich der postulierte neue Umgang mit einer altbekannten Quelle selbst grundlegend erklären muß. In seinen konzeptionellen Überlegungen zu Autobiographien als Quelle einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte läßt Volker Depkat kaum einen theoretischen Gedanken aus, der nicht geeignet wäre, die Autobiographie als Quelle der Erkenntnis zu präsentieren. Der Kürze halber zugespitzt: Zum instrumentellen Einsatz gelangen Namen, die jeder kennt und Begriffe bzw. Konzepte, die jeder versteht: Berger und Luckmann, Dilthey, Derrida, Luhmann; Erinnerung und Gedächtnis, Identität und Erfahrung; Narrativität, Temporalität, Hypolepse, die Autobiographie als Akt der Ich-Synthese, der sozialen Kommunikation, der sozialen Schreibhandlung.89 Depkats

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Vgl. etwa Günther, Dagmar, Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs, Tübingen 2004, S. 1–19; Dies., And now for something completely different. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: HZ 272 (2001), S. 25–61; Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit; Müller, Günter, „Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir …“ Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Wien, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 302–318. Glagau, Hans, Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Eine Untersuchung, Marburg 1903. Hier zitiert aus dem mittlerweile klassischen Sammelband zur Autobiographie in der literaturwissenschaftlichen Diskussion: Glagau, Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers, in: Niggl, Günter (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 55–71, zit. S. 56. Ebd., S. 71. Vgl. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit.

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1. Einleitung

Aufsatz zeigt an, daß die Herausforderung der Sozialgeschichte im Nachweis theoriegeleiteten Vorgehens besteht. Er verweist in dem Maße, wie er den Quellengebrauch basal zu fundieren und zu legitimieren sucht, zugleich darauf, daß der Autobiographie bisher innerhalb der Sozialgeschichte kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde.90 Es scheint, daß jeder weiß, was mit einer Autobiographie gemeint ist, wenn er sie nicht analysieren muß. Und es scheint auch, daß es für diese Texte kein gemeinsames Vokabular gibt, um Autobiographien zumindest auf einen „Begriff kürzerer Reichweite“ zu bringen.91 Die Überlegungen Depkats zeigen aber noch etwas anderes an. Autobiographien bieten für viele Fragestellungen viele Verifikationsmöglichkeiten an, die es zu begrenzen gilt, soll aus dieser Quelle Gewinn gezogen werden. Wollte man „Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit“ als ein Konzept umsetzen, zielte man auf Totalitätserfassung, die sich wohl spätestens in der empirischen Umsetzung als Illusion herausstellen würde. Vor dem Hintergrund der Kritik an einer (vermeintlich) naiven Lektüre von Autobiographien und dem Plädoyer für einen theoriegeleiteten Neubeginn (womöglich) überdeterminierenden Charakters bezieht vorliegende Arbeit nicht mit einem elaborierten Konzept Stellung. Ich beschränke mich darauf, meine Lesart im Umgang mit Autobiographien für diese Arbeit zu verdeutlichen. Die hierdurch gezogenen Grenzen sind methodisch-thematischer Art. Autobiographien und Lebenswelt: Die autobiographischen Texte werden hier eher „kulturalistisch“ denn „textualistisch“ gelesen. Was mit letzterem ausgeschlossen wird, ist eine Vormeinung gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Diskussion zur Autobiographie, wonach Realität eine Fiktion ist und das Fiktive unsere Wirklichkeit.92 Als Quellen der Geschichtswissenschaft werden Autobiographien unter dem Oberbegriff

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Zu den Gründen und die Quelle Autobiographie im Kontext der Biographieforschung diskutierend, schon 1988: Gestrich, Andreas, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biographie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, hrsg. v. Andreas Gestrich u. a., Göttingen 1988, S. 5–27. Die mangelnde Begrifflichkeit weit unterhalb der Theorie erschwert denn auch die Binnenkommunikation. So verwendet – dies ist ein willkürliches Beispiel – Martina Kessel in einem Aufsatz die Begriffe Autobiographie, Erinnerungen und immer wieder Lebenslauf mal synonym und dann wieder nicht, welches die Lesbarkeit nicht gerade erleichtert. Vgl. Kessel, Ein Lebenslauf in absteigender Linie? Sebastian Hensel – Bildungsbürger, Landwirt, Hoteldirektor, in: Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, hrsg. von Stefan Zahlmann und Sylka Scholz, Gießen 2005, S. 71–87. Eine ausgezeichnete Einführung zum systematischen Ort der Autobiographie in der Literaturwissenschaft, zur älteren und aktuellen theoretischen Diskussion und zur Geschichte der Gattung bietet: Wagner-Egelhaaf, Martina, Autobiographie, Stuttgart / Weimar 2000; aus traditionellem Gattungsverständnis heraus zur postmodern geführten Diskussion Stellung nehmend, vgl. Niggl, Günter, Nachwort, in: Ders. (Hg.), Die Autobiographie, 2. Aufl., Darmstadt 1998, S. 593–602; Almut Finck unternimmt den Versuch, die Dichotomie Realität / Fiktion zumindest theoretisch aufzuheben. Vgl. Finck, Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin 1999.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

37

„Ego-Dokumente“ geführt.93 Sie gehören damit einer Quellengruppe an, die geeignet ist, Aspekte von Lebenswelten zu untersuchen. Ein kulturgeschichtlicher Lebensweltbegriff lautet: „Lebenswelt ist gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte symbolisch gedeutete Wirklichkeit.“94 Lebenswelt erscheint als komplexe Wechselwirkung von Handeln und Bedeuten, mit der sich Subjekte und Kollektive auf soziale Realitäten beziehen und diese durch ihre Tätigkeiten wiederum produzieren. Mir scheint der Begriff Lebenswelt deshalb hilfreich, weil mit diesem die tradierte Rezeptionshaltung – Autobiographien werden als Grenzgängerinnen zwischen historischem Zeugnis und literarischem Kunstwerk gelesen – aufgehoben werden kann.95 Und zwar zugunsten einer Perspektive, welche Autobiographien als Bestandteil und Medium einer individuellen wie kollektiven Wirklichkeitskonstruktion zu begreifen sucht. Demnach sind Autobiographien weder einer Lektüre der Unmittelbarkeit, der direkten Umsetzung von Leben in Literatur, zugänglich, noch einer Lektüre des unendlichen Signifikantenspiels, welches ein sinnvolles Meinen und Bedeuten verunmöglicht und somit Referenzialität ad absurdum führt. Der partielle Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Text ist schlicht derjenige, daß die eine ohne den anderen und umgekehrt nicht zu haben ist. Autobiographien stellen Sinnzusammenhänge einer „immer schon“ gedeuteten Realität her und produzieren Bedeutungen, die sich ihrerseits auf die Wahrnehmung und Gestaltung von Lebenswelt auswirken können. Autobiographien spiegeln nicht wider, sondern nehmen Bedeutungszuschreibungen vor. Dieses Wechselspiel zwischen Text und Kontext, so ließe sich begründet einwenden, ist mit dem Begriff der Textualität viel präziser zu fassen.96 Zwar hebt „Lebenswelt“ auf Alltag und stärker auf Gruppen denn Individuen ab, entscheidend ist aber, daß dieser Begriff den historischen Menschen in seiner Subjektqualität beläßt, der – wie prekär die Qualität sein mag97 – in der Lage ist, seine Erfahrungen zu interpretieren und sein Handeln zu lenken. Autobiographisch gewendet heißt das: Bei aller Eigendynamik von Sprache, die Verfasserin einer Geschichte, die sich selbst und ihr Leben thematisiert, ist Quelle und Richterin über den Sinn ihres Textes. „Textualität“ hingegen bedarf keiner empirischen Menschen, sondern neigt zu deren „Diskursivierung“. 93

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„Ego-Dokumente“ werden als Texte definiert, die über „die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren.“ Schulze, Winfried, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, in: Lundt, Bea / Reimöller, Helma (Hgg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, Köln 1992, S. 435. Vgl. auch: Ders. (Hg.), Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. Vierhaus, Rudolf, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Ders., Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker u. a., Göttingen 2003, S. 98–109, hier S. 102. Zur tradierten Lesart und ihrem Wandel vgl. Finck, Autobiographisches Schreiben, S. 23–35. Allerdings „nur“ auf der Höhe theoretischer Reflexion, vgl. ebd., S. 37–56. Vgl. etwa die thesenhaften Ausführungen zum historischen Subjekt im titelgebenden Aufsatz des Bandes von: Sieder, Reinhard, Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften, Wien 2004, S. 15–59.

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1. Einleitung

Nicht zuletzt klammert der Begriff „Lebenswelt“ den oben thematisierten Perspektivenwechsel von der kulturhistorischen zur sozialhistorischen Betrachtungsweise in Hinblick auf Fragestellungen zu ledigen Frauen. Autobiographik und Text: An der Wende zum 20. Jahrhundert, in der auch die herangezogenen Lebenserinnerungen geschrieben wurden, scheint es zu einer Konjunktur des (Auto)Biographischen in Deutschland gekommen zu sein, an der auch bisher seltener in Erscheinung tretende Personengruppen wie Frauen und Adelige teilhatten.98 Nicht genuin Autobiographieforschung betreibende WissenschaftlerInnen haben angemerkt, daß übliche Definitionsbemühungen der Literaturwissenschaft an dem Vorgefundenen der konkreten Texte häufig vorbeigingen.99 Allerdings war es in der Literaturwissenschaft immer auch strittig, wie „die Autobiographie“ als kohärentes Gebilde, als Textgattung, die sich von anderen Darstellungsformen unterscheidet, begrifflich gefaßt werden kann.100 So etwas wie ein Minimalkonsens scheint „die autobiographische Grundstruktur“ zu sein, „die in der Rede einer über sich selbst und das eigene Leben sprechenden Figur gegeben ist“101. Für die vorliegenden Texte kann man sich an Philippe Lejeunes Definition der „Gattung“ (gebräuchlich ist der Unterbegriff Genre geworden) orientieren: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“102 Die damit gesetzten Markierungen sind: – retrospektive Erzählperspektive; – die behauptete Identität von Erzähler und Hauptfigur, von erzählendem und erzähltem Ich (hieran knüpft sich das Wirklichkeitsbegehren des „autobiographischen Pakts“); – die Autobiographie ist eine Prosaerzählung; – sie behandelt eine individuelle Lebensgeschichte. Mit diesen Markierungen grenzt Lejeune die Autobiographie von den „Nachbargattungen“ Memoiren, Biographie, personaler Roman, autobiographisches Gedicht, Tagebuch oder Selbstporträt ab. Für die vorliegenden Texte gilt: Lejeunes Definition trifft mehr oder weniger zu. Im Grunde lassen sich überall Genreverschränkungen feststellen. Autobiographien können in Memoiren übergehen, die Integration der Biographie anderer ist nicht selten anzutreffen, die Lebensgeschichte kann maßgeblich durch Tagebuch98

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Vgl. allg. Doerry, Martin, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim / München 1986; zu Frauen s. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 13ff.; S. 28ff., zum Adel: Funck / Malinowski, Masters of Memory. The Strategic Use of Memory in Autobiographies of the German Nobility, in: Confino, Alon / Fritzsche, Peter (Hgg.), Memory Work in Germany, Urbana / Chicago 2002, S. 86–103. – Im 19. Jahrhundert dominierten (Bildungs)Bürger das zeitgenössische autobiographische Schrifttum. Das Verfassen von Autobiographien gilt in der Bürgertumsforschung als zentraler Bestandteil bürgerlicher kultureller Praxis. Vgl. Günther, Das nationale Ich?, S. 8f. Vgl. z. B.: Günther, Das nationale Ich?, S. 14; Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 33; Funck / Malinowski, Geschichte von oben, S. 241. Zu Geschichte und Richtungen in der Autobiographieforschung vgl. etwa: Sill, Oliver, Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens, Berlin / New York 1991. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 100. Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994, S. 14. (zuerst 1975)

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

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eintragungen oder Briefe unterbrochen werden. Versteht man unter Geschichte zunächst Erzählung, so kann die individuelle Lebensgeschichte in verschiedenen, sich überlappenden „Mustern“ erzählt werden: Als innere und äußere Entwicklungsgeschichte, als eine stärker auf die chronologische Abfolge des den meisten Texten zugrunde liegenden Lebenslaufes abhebende äußere „Ereignisgeschichte“, als Art „Selbstporträt“, welches die Retrospektive vernachlässigt. Aufgrund der Genreverschränkungen wird in der Literaturwissenschaft weniger von „Autobiographie“, sondern mehr vom „Autobiographischen“ bzw. als Sammelbegriff von „Autobiographik“ gesprochen. Diese Rede soll auf die Relativität und den heuristischen Charakter von Gattungsbestimmungen hinweisen und bedeutet eine gewisse Abkehr von den immer auch normativen Definitionsbemühungen.103 Mit den in dieser Arbeit verwendeten Ausdrücken Autobiographien und (Lebens)Erinnerungen ist eine am Begriff Lejeunes orientierte „Autobiographik“ gemeint. In der neueren Adelsforschung spielen Autobiographien eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Sie werden als Quellen zur Erforschung von „Adeligkeit“ im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert herangezogen und somit als kulturelle Manifestation einer sozialen Gruppe betrachtet, welche insbesondere nach 1918 der kollektiven Selbstvergewisserung nach innen und außen diente.104 Diese Betrachtungsweise von Autobiographie steht in der Tradition sozialgeschichtlicher Beschreibungsmodelle, die auf Werner Mahrholz zurückgeht, für den über den „Individualismus“ der Zusammenhang zwischen bürgerlicher Lebensform und Autobiographie recht eindeutig war.105 Wenn Marcus Funck und Stephan Malinowski für adelige Selbstzeugnisse feststellen, daß es den meisten an „Individualität“ und „Innerlichkeit“ mangele, dann zieht ein Gegenentwurf zum modernen bürgerlichen Individuum herauf. Es leuchtet durchaus ein, zwischen differenten und differenzierenden Lebenswelten und der Form und Struktur autobiographischer Selbstdarstellungen Korrelationen zu vermuten. Von dieser Annahme ausgehend, sind etwa Arbeiten entstanden, die nach der Relevanz von Geschlechts- und Kulturzugehörigkeit fragen.106 Nur wird 103

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Vgl. Holdenried, Michaela, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, S. 9–20; Wagner-Egelhaaf, Martina, Autobiographie, S. 5–10; zum Sinn und Unsinn der Normativität von Gattungsbegriffen vgl.: Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 379ff. Funck / Malinowski, Masters of Memory; dies., Geschichte von oben, bes. S. 236–247. Vgl. Mahrholz, Werner, Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919. Den Konnex von Individualität und Bürgertum fortsetzend: Neumann, Bernd, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970. Diesen Zusammenhang infrage stellend und auf gesamte historische Klassenkonstellationen erweiternd: Sloterdijk, Peter, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München 1978. – Daß Individualität und Ich-Vorstellungen keinesfalls auf das bürgerliche Moment zu reduzieren sind, zeigt der Band: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v. Richard van Dülmen, Köln u. a. 2001. Einen guten Überblick bieten: Heuser, Magdalene (Hg.), Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen 1996; Smith, Sidonie / Watson, Julia (Hgg.), Women, autobiography, theory: a reader, Madison u. a. 1998; Olney, James (Hg.), Autobiography. Essays Theoretical an Critical, Princeton 1980.

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1. Einleitung

im Fall der Adelsforschung der mögliche Gegenentwurf nicht ausgeführt, sondern als vergleichsweise starke Setzung eingebracht: „Es scheint somit angemessen, den hier betrachteten Textkorpus als eine Sondergruppe innerhalb des Genres zu beschreiben.“107 Die recht forsche Nobilitierungspraxis macht aus einer möglichen „Andersheit“ ein fragwürdiges Spezifikum. Unabhängig davon, daß mit dieser Vorgabe einige Autobiographinnen „entadelt“ würden, scheint mir das „Spezifische“ eher den Stand der Gattungsgeschichte um 1900 zu spiegeln. Deshalb werden in dieser Arbeit die Gebrauchsweisen des Autobiographischen untersucht. Insofern keine adelige Frau die Gattung erfunden hat, wird danach gefragt, was Autorinnen selbst über Schreibweisen aussagten und welche Lesart sie einem anonymen Publikum nahelegten.108 Sinnkonstruktion und Selbstpräsentation: Die Untersuchung konzentriert sich auf die textinterne Ebene des Autobiographischen. Zweifellos waren veröffentlichte Autobiographien Bestandteil sozialer Kommunikation und Selbstverständigung, und viele Autobiographinnen haben sich zum Teil direkt an ihr imaginiertes Publikum gewendet. Die hierüber gegebene Möglichkeit der konkreten Anbindung an textexterne Faktoren (im wesentlichen im Literaturmarkt zu suchen) unterbleibt.109 Es muß vorerst die hohe Wahrscheinlichkeit genügen, daß die präsentierten Selbstdarstellungen durch den kommunikativen Öffentlichkeitsbezug auf besondere Weise geformt waren. Ich betrachte die vorliegenden Quellen als autobiographische Sinnkonstruktionen, mit denen sich die Verfasserinnen gegenüber einem anonymen Lesepublikum in einem aktuellen Selbst- und Weltverhältnis präsentieren, dessen Grundlage die eigenen oder kollektiv geteilten Erlebnisse und Erfahrungen der Vergangenheit bilden und durch die Erzählung hervorgebracht werden. In Hinblick auf narrative Interviews als Quellen der Oral History hat etwa Ulrike Jureit festgestellt, daß uns im Interview eine „Erfahrungssynthese begegnet, die einer Momentaufnahme im Prozeß der individuellen Sinn- und Bedeutungskonstruktion gleicht.“110 Lebensgeschichtliche Interviews teilen mit Autobiographien die konstitutive Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der Erzähl- bzw. Schreibgegenwart und dem erzählten Zeitraum. Ob dieser Gemeinsamkeit verdeutlicht der Rekurs auf die „Momentaufnahme“ eine weitere Grenze der hier vorliegenden Lesart. Das Erkenntnisinteresse Jureits bzw. der Oral History an biographischen Sinnkonstruktionen ist, „sie als konstruierte Erfahrungssynthesen aufzudecken“ und „ihren authentischen Kern offenzulegen“.111 107 108 109 110

111

Funck / Malinowski, Geschichte von oben, S. 242. Vgl. ausführlich Kap. 2.1. dieser Arbeit. Wie textexterne und textinterne Ebenen konkret verschränkt werden können, zeigt: Günther, Das nationale Ich?, S. 21–44. Jureit, Ulrike, Authentische und konstruierte Erinnerung – Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, in: WERKSTATT Geschichte 6 (1997) 18, S. 91. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Methodik der Oral History bietet: Dies., Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, Hamburg 1999. Dies., Konstruktion und Sinn. Methodische Überlegungen zu biographischen Selbstbeschreibungen, in: Aegerter u. a. (Hgg.), Geschlecht hat Methode, S. 54 und S. 56.

1.3. Methodisch-inhaltliche Konzeption der Arbeit

41

An einem in der Tat idealen Beispiel kann sie zeigen, daß Erinnerungen an biographisch entscheidende Erlebnisse als Umdeutungsprozesse zu verstehen sind. Im Prozeß der Erfahrungsaufschichtung beeinflussen neue Erfahrungen ältere, die individuelle Umschreibung des einstmals Erlebten geschieht im Lichte aktueller Diskurse. Eben diese „Dechiffrierung“ unternimmt diese Arbeit nicht, sondern setzt voraus, daß die an das Subjekt gebundene erzählte Sinnkonstruktion an den Schnittstellen von Erfahrungen und Diskursen mitkonstituiert wird. Somit konzentriert sie sich auf die spezifischen Sinnverhältnisse des autobiographischen Textes, die Wilhelm Dilthey mit den Kategorien Wert, Zweck und Bedeutung hervorgehoben hat. Insonderheit ist es die vergangenheitsgebundene Kategorie der Bedeutung, welche den autobiographischen Strukturzusammenhang herstellt, indem sie vergangene Erlebnisse mit dem sich erinnernden Subjekt der Schreibgegenwart auswählend verbindet.112 Daß die Sinngehalte eines Textes durch Inhalt und Form, durch das „was und wie“ bestimmt sind, gehört zur Binsenweisheit literaturwissenschaftlichen Arbeitens. Die Untersuchung wird formale und kompositorische Gestaltungsmittel durchaus beachten, konzentriert sich aber stärker auf die semantische Ebene des Textes. Hierbei kann es sich nicht darum handeln, die Gesamtheit potentiell unermeßlicher Sinnzusammenhänge aufzuschlüsseln. Mit dem Begriff der Selbstpräsentation resp. Kernnarration wurde bereits deutlich gemacht, auf welche Art und Weise der Fragestellung nach der Bedeutung von Familie und Geschlecht nachgegangen wird. Auf der Folie „Sinnkonstruktion“ heißt das, daß die kernnarrativen Äußerungen das ‚Unermeßliche‘ perspektivieren und solche Sinnzusammenhänge erschließen, die von besonderer Bedeutung für die Selbstvergewisserung adeliger Frauen waren. Ludwig Wittgenstein hat die Mannigfaltigkeit der Sprache mit einer alten Stadt verglichen: „Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten …“113 Läßt man die Metapher für autobiographische Sinnkonstruktionen gelten, dann mag vorliegende Lesart dem Befahren der Hauptachse der Pillnitzer Schloß- und Gartenanlage gleichen.

112 113

Vgl. Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, mit einer Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1993, S. 235–251. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen (postum 1953), in: Ders., Werkausgabe: Bd. 1, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1995, § 18, S. 245.

42

1. Einleitung

1.4. Quellen, Untersuchungszeitraum und Gliederung der Arbeit Die Grundlage der Untersuchung bilden 36, zwischen 100 bis 500 Seiten starke Lebenserinnerungen, die in veröffentlichter Form vorliegen und zumeist zur Veröffentlichung gedacht waren.114 Für die Auswahl der Autobiographien, deren Gebrauch als Quelle bereits thematisiert wurde, waren zwei Kriterien entscheidend: Sie sollten möglichst den Zeitraum der zweiten Jahrhunderthälfte erfassen, um in zeitlicher Hinsicht an die Arbeit von Christa Diemel, die den Schwerpunkt auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt, anzuknüpfen, und sie sollten von Frauen adeliger Geburt verfaßt worden sein, um ein Mindestmaß an sozialer Einheitlichkeit zu gewährleisten.115 Die zeitliche Referenz „zweite Jahrhunderthälfte“ ist als Schwerpunkt des erzählten und erinnerten Zeitraumes hinsichtlich des gesamten Korpus zu verstehen. Die Autobiographinnen beziehen sich unterschiedlich auf den Schwerpunkt je nach dem Jahr ihrer Geburt und dem erreichten Alter beim Verfassen der Erinnerungen. In Hinblick auf die zeitliche Referenz der Arbeit bilden das Geburtsjahr 1805 und 1886 die äußersten Grenzen. Viele Autorinnen schrieben ihre Erinnerungen im siebenten und achten Lebensjahrzehnt, die älteste Frau war 99 Jahre. Doch einige Frauen schrieben auch im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Nicht das wahrscheinlich zu erwartende Lebensende war ihnen Anlaß des Erinnerns, sondern persönliche Zäsuren, die mit aktuellen Zeitereignissen in Verbindung stehen konnten. Geburtsjahr und Alter beim Schreiben regulierten auch den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Neunzehn Autobiographien wurden um 1900 verfaßt und veröffentlicht.116 Siebzehn Texte entstanden nach 1918 und wurden vornehmlich in den 1920er und 1930er Jahren publiziert. Da das zu Erinnernde immer auch im Licht der Gegenwart geformt, gedeutet, hervorgebracht wird, und das Ende des Kaiserreichs gerade auch für den Adel eine einschneidende Zäsur war, hätte es ratsam sein können, systematisch zwischen vor und nach 1918 geschriebenen Texten zu unterscheiden. Doch im Zusammenhang mit den hier formulierten Fragestellungen erwies sich eine systematische Unterscheidung nicht als Erkenntniszugewinn. Allerdings wird die Schreibgegenwart nach 1918 nicht ignoriert. Sie wird immer dort berücksichtigt, wo sie für konkrete

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115

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Grundlage des Quellenkorpus bilden die Bibliographien von Jens Jessen und Eda Sagarra. Hinzu kommen einige Zufallsfunde. Vgl. Jessen, Bibliographie der Autobiographien, 3 Bde., München u. a. 1987–1989; Sagarra, Quellenbibliographie autobiographischer Schriften von Frauen im deutschen Kulturraum 1730–1918, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Tübingen 1986, S. 175–231. Diemel hat die Jahrzehnte von 1800 bis 1870 im Blick. Vgl.: Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. – Adelige Geburt trifft nicht auf Malwida von Meysenbug und Alberta von Puttkamer, geb. Weise, zu. Meysenbugs im Staatsdienst stehender Vater wurde in ihrer frühen Kindheit in den Adel erhoben, sie wuchs in höfisch-adeligen Kreisen auf, so daß sie dem ‚Geburtsadel‘ zugerechnet wird. Puttkamers Mutter heiratete bürgerlich, doch blieb die adelige Verwandtschaft für die Heranwachsende bestimmend, so daß sie ebenfalls hinzugerechnet wird. Die um 1900 geschriebenen Erinnerungen von Maximiliane von Oriola, Paula von Bülow und Hermione von Preuschen wurden allerdings erst nach dem Tod in den 1920er Jahren veröffentlicht.

1.4. Quellen, Untersuchungszeitraum und Gliederung der Arbeit

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Fragen dieser Arbeit von Bedeutung war. Das heißt, die Untersuchung konzentriert sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, greift manchmal in die Zeit der 1920er und 1930er Jahre vor und zum Teil auf die erste Jahrhunderthälfte zurück, wenn es die Retrospektive auf ein langes Leben erforderlich macht. Das Kriterium der adeligen Geburt zieht in dieser Arbeit keine adelsinternen Differenzierungen der heterogenen Sozialformation nach sich.117 Sie unterscheidet, wie bereits formuliert, nach dem Grad der Zugehörigkeit zur Familie. Die folgenden Bemerkungen stellen deshalb informierende Angaben zur sozialen Verortung der Autobiographinnen dar. Die adeligen Frauen gehörten überwiegend dem niederen Adel an. Zehn Frauen waren hochadeliger Geburt, von denen vier aus regierenden Häusern stammten und in solche einheirateten. Die meisten Frauen kamen aus dem alten Adel, d. h. aus Familien, die vor 1800 nobilitiert wurden. Aus neugeadelten Familien kamen neun Frauen, deren Väter oder Großväter sich im 19. Jahrhundert Verdienste vorwiegend in Militär und Politik erworben hatten. In konfessioneller Hinsicht überwogen mit 26 Zählern Herkunftsfamilien evangelischen Glaubens, die anderen waren katholisch. Die Hälfte der Frauen wurde in grundbesitzende Familien hineingeboren. Die anderen waren Töchter von Offizieren und Männern im Staatsdienst. Legt man die politische Topographie von 1871 zugrunde, dann waren die meisten Herkunftsfamilien im Königreich Preußen ansässig, andere im Königreich Württemberg und sehr wenige im Königreich Bayern und in den Großherzogtümern Hessen und Mecklenburg-Schwerin. Einige Autorinnen kamen aus der Habsburger Monarchie und entstammten Familien, die in den Kronländern Österreich-Ungarns lebten. Mit und in ihren Lebenserinnerungen traten Frauen als Fürstinnen, Kronprinzessinnen, Hofdamen, als Ehefrauen von Staatsbeamten und Offizieren, als Schriftstellerinnen, Leiterinnen karitativer Organisationen, als politische Aktivistinnen und als in öffentliche Skandale verwickelte Personen hervor. Da die Gesamtheit der Selbstzeugnisse von adeligen Frauen im Untersuchungszeitraum als offen zu betrachten ist, überrascht es nicht, wenn mit 36 Texten und ihren Verfasserinnen keine statistische Repräsentativität beansprucht wird. Die Studie gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil wird die nominelle Gruppe „autobiographieschreibende adelige Frauen“ nach dominierenden Präsentationsformen aufgefächert. Im Vordergrund steht hier die Frage nach dem Gebrauch, den die Akteurinnen von der Autobiographie als retrospektive Selbstnarration gemacht haben. Hierüber wird versucht, das vorfindliche Spektrum in den zeitgenössischen Kontext des Schreibens um 1900 einzuordnen. Zur Debatte steht, ob von einem adeligen Subgenre, wie in der Adelsforschung behauptet, gesprochen werden kann. Zwar werden einzelne Befunde dieses Teils in den nachfolgenden Großkapiteln aufgegriffen, dennoch besitzt er insgesamt den Stellenwert eines auf die zentralen Fragestellungen hinführenden Entrees. Der zweite Teil untersucht die Möglichkeiten der Familie, um sich positiv auf sich selbst zu beziehen. Zunächst werden modellhaft Aspekte einer weiblichen Normalbiographie rekonstruiert. 117

Eine knappe Darstellung des komplexen Sachverhaltes bei: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 34–36.

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1. Einleitung

Es wird darzustellen sein, daß die Normalbiographie auf dem Primat fußte, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, zu deren wichtiger Voraussetzung Eheschließung und Mutterschaft gehörten. Folglich rücken Autobiographien von geheiratet habenden und Mutter gewordenen Frauen in das Zentrum der Analyse. Anhand der Selbstpräsentationen und den damit verbundenen Gestaltungsräumen erforscht dieser Teil die subjektive Bedeutung von Geschlecht und „Familie haben“ in konkreten Konstellationen. Um konkrete Konstellationen geht es auch im dritten Teil, der nach den familiären Grenzen positiver Selbstbezüge fragt. Biographische Konflikte von Außenseiterinnen werden im engen Zusammenhang mit sozialen Anerkennungsverhältnissen untersucht. Es wird zu zeigen sein, daß Konflikte den Rahmen des normalbiographisch Erwartbaren aufsprengten und Frauen aus familiär vermittelten Lebenswelten hinausführten. Welche Konsequenzen biographische Konflikte in bezug auf die Wahrnehmung und Deutung von Familien- und Geschlechtszugehörigkeit besaßen, ist Teil der Untersuchung. Der vierte und letzte Teil geht von Selbstpräsentationen eheloser Autobiographinnen aus und bezieht sie in einen nichtautobiographischen Untersuchungsgegenstand ein. Am Beispiel eines Damenstiftes, traditioneller Ort adelig-lediger Lebensweise, wird nach dem Wandel von Lebens(ver)läufen gefragt und nach Erklärungen gesucht. Nahmen Ledige in Hinblick auf ihre Herkunftsfamilie eine randständige Position ein, ist für die Wende zum 20. Jahrhundert eine Veränderung anzuzeigen. Ausbildung und Beruf rückten als Alternative in das normalbiographisch Erwartbare ein und perspektivierten den Lebenslauf Lediger neu. Es ist Zeit, endlich zur Sache zu kommen.

2.

Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

„Haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum unsere erkennbar geistabsenten und der menschlichen Artikulation nur mehr rudimentär fähigen Groß- und Fernsehjournalisten den Drang verspüren, ein Buch nach dem anderen abzusondern? Was treibt sie an? Ein pathologisch verqueres Mitteilungsbedürfnis, der Drang, zu schnattern bis der Arzt kommt? … Glaubt er [gemeint ist der „durchschnittliche Fernsehmacherschädel“, M. K.], Anfang Vierzig Bilanz ziehen zu müssen, gelangt er zu gewagten Erkenntnissen. Die RTL-Mamsell Birgit Schrowange beschließt ihre sage und schreibe 300 Seiten starken Memoiren So viel Lust zu leben: ,Jeder Mensch kann in Sekunden ungeheuer viel denken.‘ Nämlich unter anderem: ,Natürlich geht’s mir glänzend. Aber Fragen stelle ich mir dennoch immer wieder. Zum Beispiel die Frage, ob ich wirklich gut daran getan habe, das Abenteuer RTL eingegangen zu sein. Die Antwort war bislang eine Million Mal: Ja – es war ungeheuer richtig.‘ … Weshalb besteigt sie, ,die Reporterin, die nicht nur berichtet, sondern auch fühlt‘, den Nanga Parbat der Peinlichkeit? … Woraus, wiederholt gefragt, entsteht der Wahn der Wichtigkeit? Aus schlichter Verblendung? Spaß an der Leserverarschung? Purer Weltverachtung? … ,Bei vielen Menschen‘, entschied Theodor W. Adorno, ,ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.‘ Den spätmodernen Medienkretin schert’s einen feuchten Kehricht, seine Geschäftsgrundlage ist die zur Impertinenz gesteigerte Frechheit.“1

2.1. Das Problem und eine Möglichkeit Der bissige Kommentar Jürgen Roths im Satiremagazin „Eulenspiegel“ zu einer Facette gegenwärtigen autobiographischen Schreibens weist zum einen auf den Leser Jürgen Roth, der eine erfahrungs- und diskursgesättigte Vorstellung davon zu haben scheint, daß intelligente, sprachmächtige, das Wesentliche anstelle das Triviale erfassende Menschen eher legitimiert sind, ihr „Ich“ in autobiographischer Form der Öffentlichkeit mitzutei-

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Roth, Jürgen, Das gespreizte Ich, in: Eulenspiegel 7 / 1999, S. 30f.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

len. Zum anderen ist unschwer zu erkennen, daß die von Roth ins Visier genommene Berufsgruppe wenig Energien darauf verwendet hat, solchen normativen Kriterien in ästhetisch-moralischer Hinsicht, welche der Satiriker wohl vor Augen gehabt haben muß, zu folgen bzw. überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Das Problem stellt sich dar als Diskrepanz zwischen der Vorstellung, wie eine Autobiographie beschaffen sein sollte und der Realität autobiographischer Texte, die mit der Vorstellung eben nicht übereinstimmt. Die Aufhebung der Diskrepanz zwischen – anders formuliert – Diskurs und sozialer Tatsache erfolgt hier nicht in dialektischer Form, sondern über den Ausschluß der sozialen Tatsache. Dieses Verfahren trägt fraglos zur Stärkung des Satirischen bei Roth und des autobiographischen Diskurses überhaupt bei: Es sind Texte wie jene von Birgit Schrowange und ihren Kollegen, die dazu beitragen, das Dreiergestirn Augustinus – Rousseau – Goethe im Glanz erscheinen zu lassen oder in Sartre jemanden zu sehen, der „Die Wörter“ Wort um Wort reflektiert, sie dem gefährdeten „Ich“ zuerkennt und wieder entreißt, um ein buchstäblich existentielles Verhältnis zur „Welt“ aufzubauen. Zu meinen, man würde wissen, wie und von wem eine ,richtige‘ Autobiographie geschrieben sein müsse, könnte man getrost journalistischen Grabenkämpfen überlassen, wenn sich Vorannahmen nicht im wissenschaftlichen Feld wiederholen würden und hier unter Umständen die Wiederholung zur Thesen-Potenz gerieren kann. Diskreter als Thesen, aber nicht folgenloser, sind jene Setzungen, die jeder Fragwürdigkeit enthoben scheinen und somit als unhintergehbare Prämisse in die eigene Forschungsarbeit eingehen. So begründet Gunilla Budde ihre Quellenwahl als erstes damit, daß die Autobiographie eine genuin bürgerliche Gattung sei.2 Das ist eine starke Setzung, die den ahnungslosen Leser zu der Überzeugung verleitet, jede autobiographieschreibende Person sei ein Bürger, weshalb Augustinus entweder ein Bürger im neuzeitlichen Sinn gewesen sein muß oder keine Autobiographie geschrieben haben kann. Gunilla Budde sichert ihre Setzung mit Verweis auf den sozialpsychologisch und sozialhistorisch argumentierenden Literaturwissenschaftler Bernd Neumann. Dieser stellt sich in die Tradition von Georg Misch und Werner Mahrholz, das heißt, Neumann betrachtet die Autobiographie als Quelle menschlichen Selbstbewußtseins und Ausdruck einer bürgerlichen Individualität.3 Doch im Gegensatz zur Historikerin behält der Literaturwissenschaftler die zeitliche Dimension im Auge: Neumann arbeitet mit einem auf Freud gründenden Identitätsbegriff und der auf David Riesman zurückgehenden Charakter-Typologie von Traditions-, Innen- und Außenlenkung. Die Autobiographie als Entwicklungsgeschichte einer Individualität bleibt für Neumann an die Geschichte des Bürgertums in vorindustrieller Zeit gebunden und endet dort.4 Für den autobiographischen Quellenkorpus Buddes, der hauptsächlich zwischen 1900 und 1940 geschrieben und veröffentlicht wurde, käme 2 3 4

Vgl. Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben: Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 21. Vgl. Neumann, Bernd, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970. Vgl. ebd., S. 183ff. und 188f.

2.1. Das Problem und eine Möglichkeit

47

mit Neumann resp. Riesmans Charaktertypologie nur der außengelenkte Typ in Frage; der Mensch der Masse, der nicht durch Individualität, sondern durch soziales Rollenspiel besticht, ohne zu persönlicher Identität gelangen zu können. Auch Neumanns Positionen müssen nicht unwidersprochen hingenommen werden, sie weisen aber zumindest darauf hin, daß es nicht selbstverständlich, sondern fragwürdig ist, die Autobiographie als bürgerliche Gattung schlechthin zu setzen. Diese geläufige wissenschaftliche Vorstellung unterstellt eine Kohärenz zwischen sozialer Gruppe und Gattung, die durch den „Wert der Individualität“5 überzeitlich gegeben zu sein scheint. – Der Bürger schreibt die Autobiographie des Bürgers. Dieser Zirkel wird nicht etwa durch das Wissen durchbrochen, daß sich andere soziale Gruppen wie Handwerker, Arbeiter oder Adelige ebenfalls der Gattung bemächtigten, sondern zieht weitere Kreise: Markus Funk und Stephan Malinowski sehen in den um und nach 1918 veröffentlichten Autobiographien von Adeligen Individualität als autobiographische Konstituente nicht gegeben und behaupten folglich eine spezifisch adelige Sondergruppe der Gattung.6 Die Zurücknahme der Eigenheiten der einzelnen Person zugunsten der Ich-Thematisierung in sozialen Zusammenhängen ließe sich aber ebenso als Kennzeichen autobiographischer Texte von Frauen sehen. Und zwar mit der Begründung, daß ihnen die sozial-kulturellen Voraussetzungen fehlten, um der am männlich-bürgerlichen Lebenslauf orientierten Entwicklung einer Persönlichkeit als Vorraussetzung individueller Entfaltung gerecht zu werden.7 Schreiben adelige Männer nun „weibliche“ und adelige Frauen „adelsspezifische“ Autobiographien? Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Autobiographisch vorgängiges Wissen um soziale Gruppen prägt den Vorstellungshorizont der die Texte interpretierenden Forschenden, begründet Fragestellungen und fließt ebenso in die Ergebnisse ein. Insofern haben Überlegungen, inwieweit die phänomenologische Verschiedenheit von Autobiographien etwas mit der Gruppenzugehörigkeit der VerfasserInnen zu tun haben könnte, alle Berechtigung. Das Problem ist der Umkehrschluß: Aus der Gruppenzugehörigkeit läßt sich die Verschiedenheit womöglich postulieren, doch gewinnt die Adelige dadurch nicht an „Adeligkeit“. Der Umkehrung Plausibilität zuzugestehen, bedeutet wohl, dem nicht nur auf das autobiographische Erzählen zu beziehenden Zwang zur „Gestaltschließung“ nachzugeben. Eine kultur- und sozialhistorische Autobiographieforschung könnte perspektivisch eine methodologisch und somit empirisch gehaltvolle Rekonstruktion eines „autobiographischen Feldes“ bedeuten. Das heißt, mit einem Bourdieuschen Begriffsinstrumentarium zu versuchen, jene Spielregeln zu erfassen, die es erlauben wür-

5 6 7

Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 21. Vgl. Funck / Malinowski, Geschichte von oben, S. 241f. Vgl. etwa Wedel, Gudrun, Rekonstruktion des eigenen Lebens. Autobiographien von Frauen im 19. Jahrhundert, in: Brinkler-Gabler, Gisela (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, 2. Bd., München 1988, S. 154–165; Vogt, Marianne, Autobiographik bürgerlicher Frauen. Zur Geschichte weiblicher Selbstbewußtwerdung, Würzburg 1981.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

den, Kriterien wie soziale Herkunft relational und differenziert an die autobiographieschreibenden Akteurinnen und Akteure heranzutragen.8 Um vorschnelle Reduktionen zu vermeiden, ist es sinnvoll, sich auf einer konkreten Ebene den Gebrauchsweisen des Autobiographischen zuzuwenden. Die Bedeutung des Autobiographischen – so läßt sich in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein sagen – ergibt sich aus dem Gebrauch, den die historischen Akteure von der Gattung machten. Der war heterogen, und diese Heterogenität gilt es nun mit Blick auf die Gebrauchsweisen und deren Präsentationsformen näher zu bestimmen. Welche Schreibhandlungsmotive gaben adelige Frauen an, wie legitimierten sie die Tatsache des sich überhaupt autobiographisch äußern zu wollen, womit begründeten sie das gewählte thematische Spektrum, welche Darstellungsformen bevorzugten sie? Diese Fragen reflektieren die Verfasserinnen selbst und beantworten sie zumeist innerhalb von Vorreden bzw. Vorworten oder Einleitungen. Diese Art von Reflexionen kann aber, wenn auch seltener, an den Anfang, in die Mitte oder an das Ende des Textes gestellt sein. Die Funktion solcher autobiographischen „Metatexte“ besteht im wesentlichen darin, eine Verständigung mit dem potentiellen Lesepublikum herzustellen, so daß sie recht eindeutig dialogisch strukturiert sind.9 In den „Metatexten“ werden jene Maßstäbe gesetzt, an denen sich die jeweilige Autobiographie mindestens messen lassen muß. Hier ist der Ort, an dem die Verfasserinnen signalisieren, worauf sie Bezug nehmen, was sie aus ihrem Leben, von ihrem Selbst preisgeben wollen und von anderen in nur dieser Hinsicht wünschen, verstanden zu werden. Die „Metatexte“ sind reflektierende, die Autobiographie konzeptionell vorwegnehmende und zugleich absichtsvolle, strategische Äußerungen der Leserlenkung. Als gattungsimmanente Norm werden die „Metatexte“ in der Literaturwissenschaft nicht diskutiert, sondern sind besser als Konventionen zu betrachten, die um 1800 ebenso eingehalten werden konnten, wie das auch in der Gegenwart der Fall sein kann. Die in den „Metatexten“ formulierten Absichten ernstzunehmen heißt, die Gebrauchsweisen des Autobiographischen von den Akteurinnen her zu bestimmen. Zwar kann niemand, der im 19. und 20. Jahrhundert eine Autobiographie schreibt, für sich in Anspruch nehmen, diese Textsorte erfunden zu haben, sondern ist allenfalls vor der eigenen Niederschrift Leserin und Leser von Autobiographien gewesen. Dieses Rezipieren muß jedoch keineswegs das Befolgen einer „goldenen Regel“ zum Ergebnis haben. Die Heterogenität 8

9

Ansätze zum literarischen, nicht autobiographischen Feld finden sich in der Literatursoziologie. So z. B.: Jurt, Joseph, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995; Pinto, Louis / Schultheis, Franz (Hgg.), Streifzüge durch das literarische Feld, Konstanz 1997. Im oben genannten Sinn geht der Begriff „Metatext“ auf Volker Hoffmann zurück. Vgl. ders., Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890–1923, in: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (1989), S. 484f. – Zu den verschiedenen Kommunikationsebenen in der Autobiographie vgl. ausführlich: Salzmann, Madeleine, Die Kommunikationsstruktur der Autobiographie. Mit kommunikationsorientierten Analysen der Autobiographien von Max Frisch, Helga M. Nowak und Elias Canetti, Bern u. a. 1988.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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der Texte gibt Anlaß zu der Vermutung, daß die Gebrauchsweisen des Autobiographischen vielfältiger sind, als es normativ ausgerichtete literaturwissenschaftliche Modelle suggerieren und sich keinesfalls ein Kausalnexus zur sozialen Gruppe herstellen läßt, wie es verschiedentlich in der Historie postuliert wird. Das methodische Vorgehen des Vergleichs setzt die Wahl eines sinnvollen Bezugs voraus. Dieser Bezug, mithin das gemeinsame Merkmal, das zugleich Beziehungs- und Unterscheidungsgrund ist, kann mit Blick auf die Quelle eben nicht die qua Titel gegebene Zugehörigkeit der Verfasserinnen zu einer sozialen Gruppe sein, sondern ist die Quelle selbst. Das gemeinsame Merkmal, das die adeligen Frauen zuallererst miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß sie die Gattung Autobiographie nutzten. Sie stellt den Bezug dar, wonach sich die absichtsvollen Äußerungen der Verfasserinnen differenzieren lassen. Eine Beschreibung und Interpretation des ähnlichen und verschiedenen Gebrauchs der Autobiographik verfolgt zum einen das Ziel, die subjektiven und intersubjektiven Bedeutungsmodi herauszuarbeiten und in ihren Präsentationsformen zu fixieren. Zum anderen ist zu fragen, inwieweit Geschlechts- und Adelszugehörigkeit Einfluß auf die jeweiligen Praktiken genommen haben konnten, ohne jedoch einer substantialistischen und dichotomisierenden Argumentation Vorschub zu leisten. Denn jede Autobiographie enthält potentiell alle vor ihr geschriebenen Texte, realisiert das Zeitmögliche und wird von Personen verfaßt, die sich auf vielfältigste Weise von anderen unterscheiden.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik Trotz der Heterogenität der Texte lassen sich Gemeinsamkeiten finden, die es erlauben, nach Gruppen zu klassifizieren. Der klassische, engere Autobiographiebegriff erfordert im Zentrum der Darstellung ein Ich, das seine Persönlichkeitsentwicklung in Auseinandersetzung mit der erlebten und erfahrenen Umwelt schildert. Mit dem weiter gefaßten Begriff Autobiographik lassen sich hingegen auch solche Texte als Selbstdarstellung lesen, deren dominierende Erzählgegenstände eher die Geschichten von Gruppen oder anderer Personen sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Quellenkorpus nach „IchGeschichten“, „Wir-Geschichten“ und den „Geschichten anderer“ zu unterteilen.10 Zur ersten Gruppe gehören 12 Autobiographien, zur zweiten 16 und zur dritten 8 Lebenserinnerungen. Charakteristisch für die Textgruppe der ich-zentrierten Autobiographik ist die Thematisierung des Selbst auf eine Weise, die verdeutlicht, daß die Autorinnen nach einer Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ suchen bzw. eine solche Antwort geben. Um diese

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Die Unterteilung erfolgt in Anlehnung an Michael von Engelhardt, der mit dieser dominierende Selbstdarstellungsformen im mündlichen autobiographischen Erzählen unterscheidet. Vgl. Engelhardt, Michael von, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens, S. 368–392, hier: S. 380.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

„Identitätsfrage“ zu beantworten, steht das „Ich“ im Zentrum der Darstellung. Die Erinnerungsperspektiven richten sich deshalb auf solche Begebenheiten und Personen, die als wesentlich in Bezug auf das Selbst, welches sich im Erinnerungsprozeß als ein autobiographisches Selbst konstituiert, angesehen werden. Die Ich-Zentrierung unterscheidet diese Textgruppe grundlegend von den beiden anderen. Zugleich entsprechen sie in etwa unserem quasinatürlichen, tatsächlich aber durch die Literaturwissenschaft vermittelten Alltagswissen, in Autobiographien den öffentlichen Ausdruck persönlicher Lebensgeschichte zu sehen. Fragt man nach dem Sinnhorizont, in dessen Kontext die Verfasserinnen ihr Selbst stellen und vor dem sich der jeweilige basale Bedeutungszusammenhang des erzählten Lebens abhebt und worauf er sich bezieht, dann sind diese Texte nochmals in solche mit religiösem Sinnhorizont und jene mit historisch-gesellschaftlichem Sinnhorizont zu unterscheiden.

2.2.1. Ich-Zentrierung vor religiösem Sinnhorizont und die Bedeutung der Schreibgegenwart Gräfin Ida Hahn-Hahn, geb. Gräfin Hahn, Freifrau von Ebner-Eschenbach, geb. Gräfin Dubsky und Freifrau Anna von Krane veröffentlichten ihre jeweiligen Autobiographien in den Jahren 1851, 1906 und 1917. „Von Babylon nach Jerusalem“, „Meine Kinderjahre“ und „Wie ich mein Leben empfand“ lauten die Titel der Texte. In unterschiedlicher Gewichtung beschrieben diese drei Schriftstellerinnen, aus mecklenburgischen, böhmischen und westfälischen Adelsgeschlechtern stammend, ihr Selbst vor einem religiös-göttlichen Sinnhorizont. Diese drei Texte stellen die Minderheit der Untersuchungsgruppe dar, alle anderen Ich-Geschichten wurden vor dem Sinnhorizont von Geschichte und Gesellschaft erzählt. Legt man an letztere keine literar-ästhetischen Maßstäbe an, so gehört diese auf Rousseaus „Bekenntnisse“ (1781) und Goethes „Dichtung und Wahrheit“ (1811 / 1833) zurückgehende Möglichkeit der Selbstdarstellung sicher zu der bis heute weitverbreitetsten Autobiographik des westlichen Kulturkreises. Während sich Hahn-Hahn in die augustinische Tradition begab und die Geschichte einer Bekehrung erzählte, stellte der religiöse Sinnhorizont für Krane und Ebner-Eschenbach die Möglichkeit dar, sich auf eine sehr subjektive, eher die Psyche, denn die äußeren Umstände erkunden wollende Weise, dem eigenen Ich anzunähern. Mit Hilfe dieser Texte soll zugleich veranschaulicht werden, daß Form und Inhalt eines jeden autobiographischen Textes generell an die Schreibgegenwart gebunden sind. In der Sprache der Schriftstellerin Ebner-Eschenbach klingt das Wissen um die Wirkung der Gegenwart auf das zu Erinnernde poetischer: „Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. … Die Phantasie übt ihr unbezwingliches Herrscherrecht und erhellt oder verdüstert, was sie mit ihrem Flügel streift. Sie läßt manches Wort an mein Ohr klingen, das vielleicht nicht genau so gesprochen wurde, wie ich es jetzt vernehme, läßt mich Menschen und Begebenheiten in einem Lichte sehen, das ihnen eine an sich vielleicht zu große, vielleicht zu geringe Bedeutung verleiht. Ihrer

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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über das Kindergemüt … ausgeübten Macht wird dadurch nichts genommen.“11 In der Sprache der phänomenologisch-strukturalistisch argumentierenden Soziologin Gabriele Rosenthal klingt, knapp einhundert Jahre später, das Wissen um die Wirkung der Gegenwart auf das zu Erinnernde wissenschaftlicher. „Die biographische Gesamtsicht in der Gegenwart des Erzählens determiniert, welche Erlebnisse dem Biographen aus dem Gedächtnis vorstellig werden, unter welcher Perspektive sie sich ihm darbieten und wie er die einzelnen Erfahrungen thematisch und temporal miteinander verknüpft.“12 Schriftstellerin und Soziologin haben gegenüber der Historikerin den Vorteil, daß die eine sich selbst in der von ihr wahrgenommenen Gegenwart am besten kennt, während die andere die Gegenwartsbezogenheit der lebensgeschichtlichen Erzählung u. a. deshalb so stark machen kann, weil ihr als Gegenwartswissenschaftlerin die Methoden der teilnehmenden Beobachtung und des narrativen Interviews zur Verfügung stehen. In den Ohren der Historikerin klingt denn die methodische Konsequenz der qualitativen Sozialforscherin sehr kategorisch: Um interpretative Fehlschlüsse zu vermeiden, „muß die gegenwärtige Erzählsituation rekonstruiert werden, die heutige Perspektive der BiographInnen und damit die Mechanismen, die die Auswahl der erzählten Geschichten und die Darbietung der vorstellig werdenden Erinnerungen steuern.“13 Eine historische Rekonstruktion der Gegenwartsperspektive einer Autobiographin ist – gemessen an den Möglichkeiten der Gegenwartswissenschaften – unmöglich. Dennoch sind Annäherungen möglich, die immer auch das historische Bewußtsein wachhalten, daß „Gehalt und Gestalt“ (Roy Pascal) einer Autobiographie, so sehr sie uns auch als Tatsache entgegentritt, weshalb man geneigt sein kann, deren Referenzbereiche als unveränderlich anzusehen, immer anders ausfallen, wenn die Umstände, unter denen man sich der eigenen Vergangenheit nähert, andere sind. Das heißt nicht, daß wir die gelebte Vergangenheit beliebig bzw. überhaupt erfinden, sondern meint, daß wir je nach Zeit- und Gesichtspunkt das Vormalige modifizieren, variieren oder reinterpretieren. Konversionsgeschichten sind illustre Beispiele für eine durch die Gegenwart reglementierte Sicht auf das vergangene, eigene Leben. Der autobiographische Text Gräfin Hahn-Hahns zeigt das besonders deutlich, da er unmittelbar nach der Konversion zum Katholizismus (1850) entstanden ist.14 Zu diesem Zeitpunkt war Hahn-Hahn 45 Jahre

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Ebner-Eschenbach, Marie von, Meine Kinderjahre. Biographische Skizzen, in: Dies., Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 545–723, Berlin 1920, S. 547. Anmerkung zur Zitierweise der autobiographischen Quellen in den Fußnoten: Nachfolgend werden die Erinnerungen mit dem Familiennamen, dem Erscheinungsjahr und den Seitenzahlen zitiert. Liegen zwischen dem Schreib- und Erscheinungsjahr oder zwischen Erstveröffentlichung und der hier genutzten Ausgabe größere zeitliche Abstände, werden beide Jahre benannt. D. h.: Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 547. Rosenthal, Gabriele, Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 125–138, zit.: S. 132. Dies., S. 134. Hahn-Hahn (1851).

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

und konnte autobiographisch noch nicht verarbeiten, daß sie die nächsten dreißig Jahre als engagierte katholische Schriftstellerin verbringen würde. Insofern ist dieser Text ganz von dem aktuellen, noch nicht durch Erfahrungsrevisionen gestalteten Bewußtsein durchdrungen, zu glauben. „Ich glaube“15 ist das Motto des Textes, war der Standpunkt, den die Verfasserin einnahm, um von dort den Bezug zur eigenen Geschichte herzustellen. „Ich will“, so Gräfin Hahn-Hahn über ihre Absicht, „den Gang meiner Seele aufzeichnen, die Wege, die sie wandelte, die Irrthümer, in die sie verfiel, die Mißgriffe, die sie that, das Streben, das sie nie aufgab – bevor sie zu einer festen Basis durch Gottes Gnade und seine erbarmende Führung gelangte.“16 Um diese Absicht zu realisieren, orientiert sich Hahn-Hahn nicht am chronologisch geordneten Leitfaden eines von Ereignissen und Erlebnissen geprägten Lebensverlaufes. Der 247seitige, in fünf Teile gegliederte Text, der ohne Vorwort und Kapitelüberschriften auskommt, ist vielmehr räumlich strukturiert. Seine Grundlage sind die Zielorte der zahlreichen Auslandsreisen und -aufenthalte, welche die Autorin von 1835 bis 1848 durch diverse europäische Länder, Nordafrika und den Vorderen Orient unternahm. Die verschiedenen Orte sind sowohl Erzählanlaß als auch Bedeutungsträger und kreisen konzentrisch um das immer gleiche Thema, warum das Bekenntnis zum Katholizismus erfolgte. Diese Frage erörtert Hahn-Hahn mit Hilfe zweier aufeinander bezugnehmender Darstellungsschemata. Zum einen sucht sie den Nachweis zu erbringen, daß die katholische Kirche den rechten Glauben verkörpere, wozu sie sich einer historisch-politischen und kulturanthropologischen Argumentationsweise bedient, die in der Quintessenz besagen soll, daß die politischen Unruhen der 1840er Jahre bis zu den Revolutionen Resultat der Reformation und des protestantischen Geistes seien. Zum anderen stellt sie ihr ungläubiges Selbst in die Nähe zum platonischen Höhlengleichnis und nichtet ihren Unglauben aus der Höhe des gefundenen wahren Glaubens. Vor der Konvertierung lebte sie wie „in einer unterirdischen Höhle“, in der sie „nach besten Kräften, mit großer Anstrengung, mit aufrichtiger Liebe“ ihren Idealen anhing: „Liebe, Wahrheit, Ruhm – diese drei Genien, welche je nachdem sie in der erlösten oder der unerlösten Seele ihre Gezelte aufschlagen, zum Abgrund oder in die Glorie führen.“17 Die „erlöste Seele“ zieht am Textende folgendes Fazit: „Und ich bin zurückgekehrt – aus Babylon nach Jerusalem, …, aus der Verlassenheit zur Gemeinschaft, …, aus der Unruhe zum Frieden, aus der Lüge zur Wahrheit, aus der Welt zu Gott.“18 Die in diesem Zitat anklingende polarisierende Sprache und die Sprache des Absoluten kennzeichnen den Stil des gesamten Textes. Die Sprache des Absoluten wurde auch von einigen Frauen gebraucht, die sich in unmittelbarer Reaktion auf die Ergebnisse des 1. Weltkrieges autobiographisch

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Dies., S. 1. Der Ausruf „Ich glaube!“ bildet den Auftakt der Autobiographie. Dies., S. 41f. Dies., S. 4 u. 5. Dies., S. 244.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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äußerten und weist darauf hin, daß ein solcher Stil von Personen verwendet wurde, deren Status verunsichert oder im Wandel begriffen war.19 Hahn-Hahn schrieb ihren Text zu einem Zeitpunkt, der sich als Lebenszäsur insofern verstehen läßt, als daß sie ihr vergangenes Leben als ein von falschen Vorstellungen getragenes zurückweist, wozu die 1848er Revolution, die sie haßte, der Tod ihres Lebenspartners (1849), den sie liebte, zäsurbildende Anlässe gewesen sein mögen, ohne das Zukünftige für den Augenblick anders als in abstrakten Begriffen wie „Wahrheit“ und „Gott“, die Beschwörungsformeln gleichen, antizipieren zu können. Die Sprache des Absoluten ist durchaus als Kompensation notwendigen Erfahrungsdefizits zu betrachten. Zugleich wurde diese Sprache von einer Frau bemüht, die nicht nur sich selbst, sondern vor allem andere auf diese Weise davon überzeugen wollte, daß sie von nun an als rechtgläubige Katholikin zu gelten habe. Gräfin Hahn-Hahn war der lesenden Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Verfasserin von Reiseberichten und Romanen, in denen sie das Leben aristokratischer Kreise darstellte und als Frau mit einem nonkonformen Lebensstil bekannt. „Die Gräfin verstand es zu leben. Sie muß für ihr provinzielles Lesepublikum eine Art deutsche Lady Hester Stanhope gewesen sein, so selbstsicher im Auftreten und so frei wie jene exzentrische englische Mylady.“20 Den Zeitgenossen dürfte Hahn-Hahns Eintritt in die hierarchische Ordnung der katholischen Kirche reichlich unplausibel vorgekommen sein, da nichts aus dem öffentlich bekannten Leben der Gräfin auf einen solchen Schritt hindeuten konnte. Die Glaubwürdigkeit ihrer Person stand auf dem Spiel, so daß die Sprache des Absoluten im Namen „ewiger Wahrheit“21, der sich kein geneigter Leser verschließen kann und den sie deshalb immer wieder in den Text einbezieht22, dem erhöhten Legitimationsdruck entsprach, den HahnHahn zu bewältigen hatte. Die Schreibgegenwart der Autorin erschöpfte sich selbstredend nicht in der Konversion. Dennoch dürfte deutlich sein, daß dieses Bekenntnis nicht hätte früher geschrieben werden können und zu späteren Zeiten sehr wahrscheinlich eine andere Form und eine andere Sprache angenommen hätte. Die Autobiographien von Krane und Ebner-Eschenbach teilen mit jener Hahn-Hahns den religiösen Sinnhorizont und im Vergleich zu den anderen Ich-Geschichten den Verzicht auf eine dem Lebensverlauf entlehnte Erzählstruktur. Im Vorwort Ebner-Eschenbachs heißt es: „Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hinter19 20

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Z. B. Puttkamer (1919). Sagarra, Eda, Gegen den Zeit- und Revolutionsgeist. Ida Gräfin Hahn-Hahn und die christliche Tendenzliteratur im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Brinkler-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, S. 105–119, zit.: S. 113. „… gefunden zu haben die ewige Wahrheit, aber – wie spät!“, formuliert Hahn-Hahn bereits auf S. 1 pathetisch. Hahn-Hahn (1851), S. 1. Hahn-Hahn bezieht die Leserinnen und Leser regelmäßig durch direkte Anrede ein. Am Ende des Textes beispielsweise sollen sie sowohl die Glaubwürdigkeit des Textes als auch ihren eigenen (Un) Glauben prüfen: „Nun sage mir, o Du unbekannte Seele, … was denkst Du?“ Hahn-Hahn (1851), S. 244.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

grund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben.“23 So wenig wie Hahn-Hahn ihre ‚ganze‘ Geschichte erzählt und nur jenen relevanten, den religiösen Konflikt thematisierenden Teil auswählt, strebt auch Ebner-Eschenbach keine ‚vollständige‘ Lebenserzählung an. Die erzählte Zeit umfaßt die ersten 14 Jahre und ist gemäß jener „einzelnen Bilder“ thematisch und Motiv wiederholend miteinander verknüpft. In dieser Differenz zu den anderen Autobiographien erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten. Hahn-Hahn erläutert, erklärt, argumentiert, leitet die Krise ihres Ichs aus den Zeitverhältnissen und diese aus dem historischen Aufstieg des Protestantismus her. Damit gibt sie ihrer Konversion als Konfliktlösung Gründe der Vernunft in die Hand, die überpersönliche Bedeutung beanspruchen und überzeugen sollen. Innerhalb des rationalen Erklärungsmodells, das persönliche Empfindungen und Erfahrungen keinesfalls ausspart, aber nicht für sich selbst sprechen läßt, erscheint der religiöse Identitätskonflikt Hahn-Hahns plausibel, aber er wird nicht verstehbar. Demgegenüber und gegenüber allen anderen Darstellungen sind die Autobiographien von Krane und Ebner-Eschenbach psychologische Ich-Erkundungen, die das innere Geschehen und subjektiv empfundene Grunderfahrungen zur Sprache zu bringen suchen: „Das Schwergewicht [der äußeren Begebenheiten und Menschen, M. K.] liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens [d. h. des Kindes, M. K.], das ihn empfing.“24 Anna von Krane beginnt ihr zweiseitiges Vorwort folgendermaßen: „Wie ich mein Leben empfand… So möchte ich diese schlichten Blätter nennen, in denen von meinen Schicksalen die Rede ist und wie diese auf mich eingewirkt haben. Vor meinem Tode möchte ich hier einmal von mir selber reden dürfen, … Früher hätte ich das freilich nicht vermocht, … Da würde mich die Erinnerung an vergangenes Weh überwältigt haben. Jetzt aber, wo ich dem Ziel meiner Erdenwanderung mich nähere, können meine vom Alter geklärten Augen den Pfad besser unterscheiden, auf dem mich die göttliche Barmherzigkeit geleitet hat und darum kann ich es wagen, hier die Andeutungen zu geben, wie ich mein Leben empfand.“25 In diesem Auszug gibt Krane hinreichende Andeutungen über das Hauptthema ihrer Erinnerungen und die Art und Weise der Darstellung an. Zunächst begründet sie ihre Autobiographie, wie auch Ebner-Eschenbach, mit ihrem erreichten Alter und bedient damit eine recht allgemeine Vorstellung, daß erst ein gewisses, nämlich den Tod antizipierendes Alter, welches mit einem hohen biologischen Alter gleichgesetzt oder verwechselt wird, ein gehaltvolles Maß an Einsicht und Distanz zur eigenen Person und dem gelebten Leben garantiere. Zum Alter als Schreibbegründung gesellt sich ein anderes Motiv. Gott hat dieses Leben geleitet und diese Leitung hat ihrem Leben Richtung und Sinn gegeben. Womöglich hätte Krane nicht erzählt, wäre es ihr ausschließlich um die „Erinnerung an vergangenes Weh“ gegangen. Dieses Erlittene zu be-greifen, der Vergangenheit Gestalt 23 24 25

Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 547. Ebd. Krane (1917), S. 7.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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zu geben, wird durch den Gottesglauben ermöglicht. Dieser Glauben, der dem Leiden auf Erden Sinn gibt, strukturiert die Autobiographie Kranes. Sie stellt das „vergangene Weh“ als christliche Leidensgeschichte dar bzw. den basalen Bedeutungszusammenhang ihres zu erinnernden Lebens her. Entsprechend dem „Metatext“ wird das Ich eher als ein passives im Verhältnis zur Welt vorgestellt. Wie die Schicksale auf sie eingewirkt haben, davon soll die Rede sein. Nicht davon, um die klassische Formulierung Goethes zu bemühen, „wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“26 Die Andeutung einer ‚Liebe zum Schicksal‘ könnte man aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive als inkorporierte weibliche Disposition interpretieren, der die männliche Disposition einer ‚Liebe zur Tat‘ gegenübergestellt würde.27 Aber Krane erzählt zum einen aus einer Position der Heilsgewißheit heraus28, weshalb das passiv vorgestellte Ich eher ein Desinteresse gegenüber irdischen Gütern bedeuten mag. Zum anderen interessiert sich Krane wie Ebner-Eschenbach für innere Vorgänge. „Mein Büchlein“, so schreibt sie, ist für jene, die „einmal hineinsehen wollen in das Reich einer fremden Seele, um zu erfahren, wie es darinnen aussieht.“29 Um dieses „darinnen“ zu gestalten, konzentriert Krane ihre Sinnenwelt auf Empfindungen und findet für diese einen Darstellungsmodus, der in diesem Korpus einmalig ist. Kranes Leidensgeschichte besteht aus einem systematisch durchgeführten Textsortenwechsel von reflektierter Erzählung und Lyrik, wodurch die ohnehin sehr subjektive Ich-Erkundung an Eindringlichkeit gewinnt.30 Verglichen mit den anderen autobiographischen Texten und dem, was aus gattungsgeschichtlicher Sicht der Literaturwissenschaft zu sagen ist, nehmen beide Autobiographien eine scheinbar unzeitgemäße Sonderstellung ein. Religiös inspirierte Innenschau, Subjektivität und Innerlichkeit waren Selbstdarstellungsmodi, wie sie insbesondere männliche, bürgerliche Schriftsteller, Gelehrte und Künstler des 18. Jahrhunderts nutzten.31 Für beide Texte läßt sich demnach keine eindeutige gattungsgeschichtliche Zuordnung vornehmen. Sucht man nach einem überindividuellen Zusammenhang für beide Ich-Erkundungen, 26 27

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Goethe, Johann Wolfgang, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Erster Theil, Tübingen 1811, S. XI. Kay Goodman zeigt am Beispiel von Fanny Lewald, die sich mit ihrer Autobiographie stark an „Dichtung und Wahrheit“ orientierte, daß dieser Aspekt der Einflußnahme des Individuums auf die Geschichte von Frauen vernachlässigt wurde. Vgl. Goodman, Kay, Dis / Closures. Women’s Autobiography in Germany between 1790 and 1914, New York / Bern / Frankfurt a. M. 1986, S. 150. Krane (1917), S. 9: „Wer die Geduld hat, mir zu folgen, wird nun sehen, ob ich durch die unverdiente Gnade Gottes nicht doch an ein herrliches Ziel gekommen bin und mich hoffentlich noch schöneren Gestaden nähere.“ Dies., S. 8f. Der Text gliedert sich in vier Teile, wovon jeder nochmals in eine erste und zweite „Abteilung“ (Krane) untergliedert ist. Die erste Abteilung besteht aus Prosa, die zweite aus Lyrik. – Zur Funktion von verschiedenen Textsorten in der Autobiographie vgl.: Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 43–55. Vgl. Niggl, Günther, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

die sich in ihrer Textstruktur so eigenwillig präsentieren, dann ist zunächst zu vergegenwärtigen, daß die ich-zentrierte Autobiographik um das Erfassen des Wesentlichen einer Person bemüht ist. Wesentlich für Krane und Ebner-Eschenbach war die erfahrene elterliche bzw. verwandtschaftliche Nichtakzeptanz des kindlich-jugendlichen Wunsches zu schreiben. Dieser Konflikt wurde von beiden insofern ‚gelöst‘, als daß sie ihre Begabung transzendierten und als Gabe Gottes darstellten. Sie legitimierten ihr Schreiben durch eine höhere Autorität als die des tatsächlichen bzw. symbolischen Vaters. „Mit der Zeit wandte sich das Blatt, jedoch nicht zum Besseren. Woraus mir ein Vorwurf gemacht wurde, das war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt. Die Leiden, die ich dadurch erduldete, … erschienen mir nicht wie gewöhnliche, sondern wie besonders schöne und erhabene, …, und aus diesem Bewußtsein schöpfte ich eine große Widerstandskraft; …“32 Auf diese Weise erschufen sich beide die Möglichkeit einer positiven Selbstidentifikation, die immer im Gegensatz zur ablehnenden Haltung der Familie stand. Im Spannungsbogen von irdischer und göttlicher Autorität, von wahrgenommener Ablehnung eines Talents und geglaubten Zuspruch für eben dieses, wurde hier Selbstbehauptung durch Leid realisiert. Beide Frauen hatten am Unverständnis der anderen gelitten; dieses Leiden auszuhalten, dazu bedurfte es der Beziehung zu Gott. Wenn Krane ihr Leben als Leidensweg erinnert und Ebner-Eschenbach ihre Kindheitserinnerungen mit dem Satz „Ich hatte gedacht und gelitten – ich war kein Kind mehr“ enden läßt, dann handelt es sich um ein Darstellungsmuster bzw. um eine Schlußformel, in denen verdichtete Leiderfahrungen zum Ausdruck gebracht wurden. Die Auslotung eines inneren Erfahrungs- und Empfindungsbereiches beider Autorinnen, welche nicht so recht zur historischen Zeit und der sozialen Herkunft passen will, gründet zum Teil auf der Thematisierung eigenen Leids, das sich eben nur individuell erfahren läßt und gerade auch durch die Sprachmächtigkeit einer Schriftstellerin wie Ebner-Eschenbach einen besonders starken Ausdruck findet. Das Besondere findet sich in einem Allgemeinen durch die Gotteslegitimation: Dieses Muster der Selbstbehauptung gehörte zum autobiographischen Repertoire von Frauen der Frühneuzeit, um ihr Abweichen von weiblichen Verhaltensnormen zu begründen und über diese Begründung daran festhalten zu können.33 Nicht, daß in den hier genutzten Quellen religiöse Bezüge keine Rolle spielen würden, doch Gott als Fokus des Selbstbezugs tritt kaum hervor. An der Wende zum 20. Jahrhundert mochte Gott für viele Menschen fragwürdiger geworden sein als der Glaube an die Nation. Zu diesem Traditionszusammenhang, der den Verfasserinnen bekannt gewesen sein mag, gesellt sich m. E. ein Gegenwartszusammenhang, der sich aus der schriftstellerischen Praxis beider Frauen ergibt. Anna von Krane schrieb als Schriftstellerin für ein dezidiert katholisches Publikum. Man kann sie aus heutiger Sicht einer christlichkatholischen Tendenzliteratur zuordnen, welche sich um 1848 herauszubilden begann, 32 33

Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 634. Vgl. dazu die Beiträge von Florence Koorn und Eva Kormann in: Heuser (Hg.), Autobiographien von Frauen.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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im „Kulturkampf“ literarisch besonders exponiert auftrat und durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert hindurch wider den säkularen Zeitgeist opponierte. Als bedeutendste Vertreterin dieser Literaturströmung gilt heute Gräfin Hahn-Hahn mit ihrem Spätwerk.34 Krane war dem Publikum vor allem als Verfasserin historischer Romane und Erzählungen bekannt, welche die Anfänge des Christentums und dessen zentrale Figur Jesus thematisierten. Insofern steht es, denke ich, einer katholischen Schriftstellerin wohl an, das „Ich“ vor einem religiösen Sinnhorizont zu präsentieren, ohne darin einen zwingenden Grund zu sehen35 bzw. umgekehrt, die erinnerten Leiderfahrungen in den fiktionalen Bereich zu verbannen. Schriftstellerische Praxis eröffnet die ob der besonderen Affinität zur Sprache gegebene Möglichkeit, dem erinnerten Ich eine vergleichsweise adäquate Darstellungsform zu geben. Das ist analog für Ebner-Eschenbach zu behaupten: Vornehmlich als Prosaschriftstellerin des sozial-kritischen Realismus bekannt, beschäftigte sie sich – darauf hat Kay Goodman nachdrücklich hingewiesen – im zeitlichen Umfeld der Niederschrift ihrer „Kinderjahre“ mit neuen Schreibweisen, die eher einem „inneren Realismus“, d. h. der Wirklichkeit einer Psyche bzw. Seele entsprechen sollten. Die Ich-Erkundung EbnerEschenbachs korrelierte womöglich auch mit dem Versuch der Dichterin, sich poetologisch neu zu orientieren, wozu der aufkommende psychologische Diskurs einen Anstoß gegeben haben mag.36 Die schriftstellerische Praxis, die maßgeblich an der Identität der Texte mit sich selbst beteiligt ist, rückt Krane und Ebner-Eschenbach in den Kontext der sozialen Gruppe der Schriftsteller. Die genuin von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verfaßte Autobiographik scheint sich um 1900 nach einer Phase der versuchten Übernahme des künstlerischen Darstellungsmodells „Dichtung und Wahrheit“ in einer Situation befunden zu haben, in der sich von diesem abgegrenzt und nach anderen Ausdrucksformen für die Erfassung und Durchdringung des Selbst gesucht wurde. Es kam tendenziell zu einer Partikularisierung von Form und Inhalt innerhalb der Gattung, wie das z. B. nicht nur an den vorliegenden Texten, sondern auch an den „Kinderjahren“ von Fontane zu erkennen ist. Eine andere Tendenz zeichnete sich durch die Hinwendung zum Tagebuch – an Franz Kafka wäre hier zu denken – als künstlerische Form der Ich-Erkundung ab.37 Es scheint, daß eine ältere Schriftsteller-Generation innerhalb der Gattung nach neuen Wegen suchte, während die jüngere Generation die Ich-Problematik in angrenzende Selbstdarstellungsformen, wie das Tagebuch oder den Roman, verlagerte. Nachhaltig für die deutschsprachige Schriftsteller-Autobiographik, die sich seit den 1960er Jahren eher in der Form des „autobiographischen“ oder „subjektiven Romans“ präsentiert, war Rainer Maria Rilkes 1910 veröffentlichter Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte

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Vgl. Sagarra, Gegen den Zeit- und Revolutionsgeist, S. 105–119. Die katholische Schriftstellerin Ferdinande von Brackel etwa schreibt ihre Autobiographie nicht vor religiösem, sondern säkularen Sinnhorizont. Vgl. Brackel (1905). Vgl. Goodman, Dis / Closures, S. 173–177. Vgl. Hoffmann, Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890–1923, S. 489–495.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

Laurids Brigge“, der aus heutiger Sicht als erstes modernes Prosawerk in Abgrenzung zum realistischen Roman des 19. Jahrhundert betrachtet werden kann.38 Die Verschiebung des autobiographischen Ichs in andere Formen bzw. dessen Partikularisierung innerhalb der Gattung zeigt die Texte von Krane und Ebner-Eschenbach in einer Gemengelage, die sie ihrer ‚Unzeitgemäßheit‘ enthebt und als Teil einer von Literaten getragenen Neubestimmung des Autobiographischen sichtbar macht. Läßt man die „Krise des modernen Ich“ einmal beiseite, dann scheinen die Literatinnen und Literaten, vom sozialhistorischen Standpunkt aus betrachtet, auf eine „Demokratisierung“ und „Popularisierung“ der Gattung reagiert zu haben. Haftentlassene und Dienstboten, Arbeiterinnen und Arbeiter, Hausfrauen und ‚gefallene‘ Aristokratinnen wie Luise von Toskana nutzten die Gattung, in der Regel ohne literarischen Anspruch und dem eigentlichen autobiographischen Motiv der Ich-Suche. Martin Doerry nennt das Phänomen des massenhaften Anstiegs autobiographischer Texte um 1900 wilhelminische „Erinnerungswut“. Die Gattung öffnete sich einer breiten Öffentlichkeit, der expandierende Buchmarkt konnte ganz unterschiedliche soziale Spektren bedienen und absorbieren.39 Die interdisziplinär argumentierende Literaturwissenschaftlerin Neva Šlibar stellt für die Gegenwart die „Durchdringung des Alltags mit Lebensgeschichtlichem“40 fest – um 1900 beginnt nach meiner Auffassung die Durchdringung der Gattung Autobiographie mit ‚Alltäglichem‘. Der massenhafte Zulauf Unberechtigter mußte einen strukturierten und strukturierenden Schriftsteller-Habitus, zu dessen wesentlichen Merkmalen Singularität und Originalität gehören, zur Verteidigung seiner sozialen Position herausgefordert haben. Ein Individuum in einem Raum zu sein – so faßt Bourdieu seinen zentralen Gedanken für die „Feinen Unterschiede“ zusammen, heißt, sich unterscheiden und unterschiedlich zu sein.41 Dieses generelle Generierungsprinzip von Praktiken, sofern ein Individuum als ein habituell geprägtes betrachtet wird, scheint mir mit Blick auf die Autobiographik unmittelbar einsichtig. Somit lese ich Ebner-Eschenbachs „Kinderjahre“ als subjektive Ich-Erkundung und poetologische Neuorientierung und ebenso als Antwort einer professionellen Schriftstellerin auf a-literarische Autobiographinnen und -biographen. Auch die Empfindungen Anna von Kranes lassen sich als Antworten und nicht, wie man meinen könnte, als Merkmal des weiblichen „Geschlechtscharakters“ lesen. Um ihren Wahrhaftigkeitsanspruch zu verdeutlichen, spielt Krane im Vorwort mit Hilfe eines Aphorismus’ Ebner-Eschenbachs das Empfinden gegen das Erlebnis als Tatsache aus, um 38

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Zur Verlagerung des autobiographischen Ich in den modernen Roman seit der Wende zum 20. Jahrhundert vgl.: Paulsen, Wolfgang, Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1991; Holdenried, Michaela, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg 1991. Doerry, Martin, Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreiches, Weinheim und München 1986, S. 68f. Šlibar, Neva, Biographie, Autobiographie. Annäherungen, Abgrenzungen, in: Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben, S. 390–401, hier:S. 397. Vgl. Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, S. 22.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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dann gegen faktengetreue Andere und eine positivistische Literaturkritik Position zu beziehen: „Für mich, wie für einen Jeden gilt ja das Wort der seelenkundigen Marie EbnerEschenbach: ‚Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.‘ … Wie wir empfinden, was wir erleben – darin liegt alles! Und dies persönliche Empfinden macht unsern Pilgergang für den Wanderer selbst so ganz anders, als für den Zuschauer. … Die Meisten glauben besser über den Erzähler urteilen zu können, als er selber. … Sie meinen alles viel besser zu wissen. Das klassische Beispiel dafür liefert ja Düntzer, der bei dem Wort Goethes, von allen Frauen, die in sein Leben traten, habe er die Lilli am meisten geliebt, in einer Fußnote bemerkt: ,Darin irrte Goethe.‘ “42 Vor dem gemeinsam geteilten religiösen Sinnhorizont hoben die Verfasserinnen auf verschiedene basale Bedeutungszusammenhänge des eigenen Lebens ab, die sich in jeweiligen Kernnarrationen textuell präsentierten und innerhalb derer die Identitätsfrage ihre Bezüge fand. Die ‚erklärte‘ und in der Sprache des Absoluten gehaltene Ich-Negierung in der karthatischen Erzählung, die reflektierend-lyrische Ich-Erkundung in der Passionsgeschichte und die nicht so leicht in ein Narrationsmuster zu überführenden „Kinderjahre“ Ebner-Eschenbachs wurden von Personen adeliger Herkunft und weiblichen Geschlechts geschrieben, die als Schriftstellerinnen einem lesenden Publikum bekannt waren und deren autobiographische Gesamtsicht zum einen durch die Gegenwart der Konversion bzw. der schriftstellerischen Praxis gefiltert wurde, zum anderen durch die mitgedachten anderen (das Lesepublikum, andere VerfasserInnen von Kindheitserinnerungen, die Literaturkritik) eine interaktive Gestaltung erfuhr.

2.2.2. Ich-Zentrierung vor säkularem Sinnhorizont In den anderen ich-zentrierten Autobiographien dominiert die explizite und implizite Vorstellung, daß die einzelne sich durch eine und zu einer historisch-gesellschaftlichen Realität verhält. Das Selbst vor dem Horizont von Geschichte und Gesellschaft zu gestalten, ist mentalitätsgeschichtlich ein neuzeitliches und säkulares Phänomen der Ich-Erfassung in der Welt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem religiösen und säkularen Sinnhorizont besteht darin, daß „Welt“ im letzteren Fall nicht als eine von Gott gegebene und somit unveränderliche Realität existiert, sondern durch und in Geschichte gestaltbar sei. „Welt“ erhält durch das Zusammenwirken menschlicher Objektivationen, d. h. die von Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhinderungen, zeitliche Tiefe, mithin Bewegung und Veränderung. Goethe – so lautet die übereinstimmende Forschungsmeinung – käme es zu, diesen Horizont, der Individuum und „Welt“ als wechselseitiges Verhältnis begründet, am künstlerisch gehaltvollsten in „Dichtung und Wahrheit“ dargestellt zu haben. Diese ,historistische‘ Anschauung führte Wilhelm Dilthey, der die wissenschaftliche Beschäftigung mit Autobiographien einleitete und in

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Krane (1917), S. 7f.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

seinem Denken stark von „Dichtung und Wahrheit“ beeinflußt war43, zur vergleichsweise emphatischen Äußerung: „Und nun Goethe. In Dichtung und Wahrheit verhält sich ein Mensch universalhistorisch zu seiner eigenen Existenz. Er sieht sich durchaus im Zusammenhang mit der literarischen Bewegung seiner Epoche. Er hat das ruhige, stolze Gefühl seiner Stellung in derselben.“44 Vorliegende Autobiographien teilen mit „Dichtung und Wahrheit“ die mit dem Sinnhorizont korrelierende Erzählstruktur, das heißt, die Verfasserinnen erzählen ihr Leben als Entwicklungsgeschichte und versuchen auf diese Weise, ihrer persönlichen Existenz Bedeutung zu verleihen. Während Krane und Ebner-Eschenbach äußere Begebenheiten und Personen eher als Anlaß introspektiven Ich-Erzählens nutzten, sind nun die äußeren Lebensumstände Anlaß für Auseinandersetzungen mit selbigen und sich selbst. Das Zusammenspiel von Innen und Außen, Ich und Welt orientiert sich in zeitlicher Hinsicht am jeweiligen Lebensverlauf und ist in seiner grundlegenden Erzählstruktur chronologisch-linear ausgerichtet. Da Kontrastierungen dazu geeignet sind, die Spannbreite eines Spektrums zu verdeutlichen, sollen an zwei Beispielen die Gebrauchsweisen des Autobiographischen als Darstellung einer Ich-Entwicklung hervorhoben werden, wobei im ersten Fall die ausführliche interpretierende Beschreibung dazu dient, das Verfahren, welches der Auswertung der „Metatexte“ zugrunde liegt, vorzustellen. 2.2.2.1. Die tragische Heldin „Diese Blätter sollen vielleicht erst erscheinen, wenn ich tot bin. Wie seltsam das klingt! … Und nun dämmert mir langsam die Erkenntnis auf, daß Leben und Tod eigentlich ganz dasselbe sind wie Wachen und Schlafen, …, und daß es letzten Endes kaum lohnt, darüber viele Worte zu verlieren. Sind wir doch eins mit dem Unendlichen – so oder so.“ Im Anfang einer Autobiographie ist immer auch das Ende enthalten. Der Beginn dieses Vorwortes ist ob des resignativen, ins Mystische gleitenden Grundtones insofern ungewöhnlich, als eine Funktion von Vorworten darin besteht, zum Lesen zu animieren. Dieser Auftakt, der das Resultat so resolut vorwegnimmt, stimmt nicht unbedingt neugierig. Andererseits wird hier eine Einsicht mitgeteilt, die auf die aktuellen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verstehensmuster in der Schreibgegenwart der Verfasserin verweist. Der Anfang des zweiseitigen, in fünf Absätze untergliederten Vorwortes signalisiert die geistige Verfassung der Autorin, der das Moment der Zukunftsoffenheit abhanden gekommen zu sein scheint und zugleich die Gesamtstruktur der Folgeerzählung – um eine Erfolgsgeschichte handelt es sich nicht.

43 44

Vgl. dazu: Jaeger, Michael, Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Stuttgart / Weimar 1995. Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 245.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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„Wie lange ist es her, daß ich noch immer in törichtem Kinderwahn glaubte, die Welt zu mir, zu meinen Füßen zwingen zu können. Vor meinem ‚Genie‘ sollte sie sich beugen, es bewundern –, davon fortgerissen werden. Ach, der Wahn ist verrauscht, …“ Der Auftakt des zweiten Absatzes verstärkt den resignativen Grundton, indem dieser konkret begründet wird. Die Autorin nimmt für sich, wenn auch in Anführungszeichen, Originalität und Schöpferkraft in Anspruch, Eigenschaften, die zumal im 19. Jahrhundert männlich konnotiert waren und gesteht ein, daß sich dieser enorm hohe Anspruch nicht realisieren ließ. Ein Genie zu sein oder nicht, entscheidet sich nicht an der Frage der Selbsteinschätzung, sondern an der öffentlichen Anerkennung. Die „Welt“ zollte ihr diese Anerkennung nicht. Die gescheiterte Utopie, die der Autorin früher als eine zu realisierende schien, bildet denn auch das Rahmenthema der Autobiographie. Daran schließt sich folgende Passage an: „Nun will ich den Menschen etwas Köstliches schenken, all denen, die nach mir kommen und lieben und leiden …, wie einstmals ich. Ich will ihnen ein ehrliches Künstlerherz zeigen, rücksichtslos wahr, fern aller Verlogenheit falscher Konventionen. Ich will allen Künstlerseelen in ihrer ewigen Verworrenheit … helfen, …“ Über die Einbeziehung des potentiellen Lesepublikums, das sie sich als schicksalsverwandtes imaginiert, enthüllt und verschleiert sie ihr autobiographisches Motiv. Sich selbst als exemplarisch für eine bestimmte Gruppe begreifend, begründet oftmals das Schreiben einer Autobiographie, so auch in diesem Fall. Hinter der Begründung verbirgt sich das Motiv: Die Autorin versucht mit Hilfe der Autobiographie ihren persönlichen Nachruhm zu initiieren. Eine Autobiographie schreibt, wem „Ruhm“, d. h. die öffentliche Anerkennung einer besonderen Leistung, vorauseilt. Dieser Autorin scheint es an solcher Anerkennung gemangelt zu haben. Das Defizit mochte mit Hilfe der Autobiographie kompensiert werden und womöglich den eindeutig bekennenden Charakter des Textes begründen. Das Bekenntnis, in der säkularen Form auf Rousseau zurückgehend, kündet ein autobiographisches Selbst an, das gegen die Gesellschaft um Ich-Behauptung bemüht ist. Im vorliegenden Fall signalisiert der Bekenntnischarakter, daß der Verlust der Utopie nicht kampflos hingenommen wurde – zum resignativen Grundton des ersten Absatzes gesellt sich ein kämpferischer hinzu. Im dritten Absatz begründet die Verfasserin das Mißlingen ihres Genie-Anspruches: „Und Weichheit hat sich noch immer an Härte zerrieben, – biegsame Güte und Liebessehnsucht liegen ewig mit allen Grausamkeiten des Lebens im Zwiespalt … Wie viele Schmerzen hätte mir das Leben erspart, wenn ich mir früher hierüber klar geworden wäre.“ Der Satz vom Zwiespalt des Lebens scheint deshalb als ewige und allgemeine Wahrheit behauptet zu werden, um die Erfahrung des eigenen Ichs in eine zu begreifende Ordnung einbetten zu können. Auch kündigt sich mit dieser Äußerung der zentrale Topos der Autobiographie an – der Zwiespalt von Weichheit und Härte wird auf die Person bezogen metonymisch als Dissoziation von „Osterlamm“ und „Raubritter“ konkretisiert: „Und das gibt wohl das unselige Gemisch meiner Seele: ein Zwitterding von Raubritter und Osterlamm – stets am unrechten Fleck allzu ungestüm, verwegen oder allzu weich und schwach. Raubritter und Osterlamm! Es war die Signatur meiner Seele, der Fluch meines Lebens.“ Dieses Begriffspaar, das als Lebensfluch bedeutet wird, bezeichnet recht

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

eindeutig die Gegensätzlichkeit von Tatkraft, Aktivität einerseits und Ohnmacht, Passivität andererseits. Mit Blick auf die Geschlechtersprache des 19. Jahrhunderts ist hierbei an eine Konnotation von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ zu denken. Über die retrospektive Wahrnehmung sowohl des Lebens als auch der eigenen Person als „Zwiespalt“, d. h. als Widerspruch, der nicht gelöst werden kann, gelangt die Autorin am Ende des dritten Absatzes wieder zu dem schicksalsergebenen Duktus vorangegangenen Textes. „Jetzt weiß ich’s: Menschenseelen sind wie Falter, die ewig im Dunkel aneinander vorbeiflattern … Sie finden nichts, weder draußen noch drinnen – weder bei sich, noch bei anderen.“ Der vierte und vorletzte Absatz behauptet aus der Erkenntnis des ewigen Nichts die Sinnlosigkeit des Lebens der meisten Menschen überhaupt. „Da geben dann so viele das Suchen und Ringen auf und alle Entwicklungsmöglichkeit – und mästen nur noch ihren Leib – und im alltäglichen Kampf ums Brot begraben sie ihre Ideale. Das sind in Wahrheit ‚Gestorbene‘ im Leben, und der größte Friedhof ist der der noch Lebendigen.“ Die Autorin endet mit einer Kampfansage: „Aber wehe ihnen, ‚wenn wir Toten erwachen‘.“ Der Konflikt zwischen „ehrlichem Künstlerherz“ und „falschen Konventionen“, wie er im zweiten Absatz signalisiert wurde, wandelt sich nun in einen grundsätzlichen Gegensatz. Indem die Verfasserin die von ihr als „Leibmästung“ verurteilte Lebensweise benennt, erscheint die eigene, auf ideelle Werte bezogene als wahrhaftige. Sie beansprucht für sich und jene Verbündeten im Geiste, in deren Namen zu sprechen sie sich berechtigt fühlt, die höhere Weihe sinnerfüllten Lebens. Dieser Anspruch, als „Tote“ zugleich wahrhaftig zu sein, begründet und rechtfertigt das autobiographische Schreiben als extreme Form der Selbstbehauptung. Der letzte Absatz wendet sich an das Lesepublikum und fordert dieses auf besondere Weise heraus: „Ich will euch allen, auch euch, den lebend Toten, meine nackte Seele zeigen … Sub specie aeternitatis sollt ihr in meinem Leben alles betrachten und beurteilen können. Dabei schwinden Menschenmaße und Menschenbedenken. Und nur das Echte bleibt, …“ Die Verfasserin bietet eine „nackte Seele“ an, deren Einzigartigkeit jedoch nur von einem nicht-menschlichen Standpunkt aus erkannt werden kann. Die Autorin schließt einen höchst ambivalenten „autobiographischen Pakt“. Der aggressive und anmaßende Tonfall, mit dem sie dem potentiellen Publikum gegenübertritt, der sich im vierten Absatz angekündigt hat und den bisherigen resignativen Duktus ablöste, entzieht den Leserinnen und Lesern die Kompetenz des Urteilens und verpflichtet sie gleichzeitig dazu, dieses Leben zu betrachten und zu beurteilen. Wer von den „lebend Toten“ kann außerhalb von Konventionen urteilen, wer von den anderen meint, ein „Auserwählter“ zu sein, der sich jenseits menschlicher Urteilskraft positionieren kann? Dieses Vorwort gehört zu der nach 1915 verfaßten und 1926 veröffentlichten Autobiographie45 Hermione von Preuschens (1854–1918), einer heute vergessenen Malerin, die sich selbst als Außenseiterin ihrer Zunft darstellt. Preuschen stammte aus einer hes-

45

Preuschen (nach 1915 / 1926). Die zitierten Passagen aus dem Vorwort finden sich ebd., S. 11f, 12f.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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sischen, mütterlicherseits althessischen Adelsfamilie. Sie heiratete einen bürgerlichen Arzt, ließ sich von diesem scheiden und mußte deshalb ihre Kinder in der väterlichen Familie zurücklassen. Sie unternahm zahlreiche Weltreisen, um den Tod ihres zweiten Ehemannes zu verarbeiten und kehrte erst durch Ausbruch und Verlauf des 1. Weltkrieges an ihren Wohnort bei Berlin zurück, ohne den Verlust überwunden zu haben. Diese Autobiographie wurde nicht von einem abgeklärten Standpunkt aus geschrieben, der einigermaßen dazu berechtigt, das eigene Selbst auf harmonische Weise zu historisieren. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Vergangenheit für die Autorin derart gegenwärtig war, daß das eigene Leben als etwas Fragmentarisches und Gegensätzliches aufgefaßt wurde. Dem Vorwort ist die Nicht-Einheitlichkeit deutlich zu entnehmen: Das Leben fällt in Wirkungsprinzipien von „Härte“ und „Weichheit“ auseinander, das Selbst erscheint als Dissoziation vom „Raubritter“ und „Osterlamm“. Als nicht(an)erkanntes Genie changiert Hermione von Preuschen zwischen Selbstaufgabe und Selbstüberschätzung, was recht gut am Wechsel vom resignativen zum aggressiven Sprachduktus zu erkennen ist. Aus der Nicht(an)erkennung ergibt sich die ambivalente Haltung gegenüber dem möglichen Lesepublikum, das ihr Leben beurteilen soll und nicht beurteilen darf. Für die Gruppe von Ich-Geschichten wurde eingangs geltend gemacht, daß die Verfasserinnen nach einer Antwort auf die Identitätsfrage suchen bzw. eine solche Antwort geben. Bezogen auf den Korpus derjenigen Autobiographien, in denen das Ich sich zu einem historisch-gesellschaftlichen Sinnhorizont verhält, habe ich einschränkend darauf hingewiesen, daß die Bedeutung des eigenen Lebens hier über die Darstellung einer Ich-Entwicklung gesucht wird. Diese eine mögliche Gebrauchsweise des Autobiographischen zeigt sich in der Autobiographie Preuschens eher in ihrer Widersprüchlichkeit denn Eindeutigkeit. Zum Zeitpunkt der Niederschrift ist Preuschen offenbar mit nichts zu Ende gekommen. Die Kluft zwischen Utopie („Genie“) und erfahrener Realität scheint zu tief gewesen zu sein, als daß das Selbst zu einem versöhnlichen Schluß hätte gelangen können. Statt dessen laufen bis zum Ende der Autobiographie zwei Ich-Erzählungen neben- und miteinander: Die eine handelt von der Malerin, die auszog, um Ruhm und Ehre zu erringen („Raubritter“); die andere von einer Frau, deren Sehnsüchte um die wahre Liebe kreisten („Opferlamm“). Darüber lagert die Kernnarration einer Person, die den Parnaß erklimmen wollte und sich im Tal wiederfand (Genie). Utopie und „Zwiespalt“ (Preuschen) des Ichs bilden die basalen Bedeutungszusammenhänge der Autobiographie, die in ihren Relationen zueinander von der Verfasserin als nicht lösbare Konflikte wahrgenommen wurden. Es hat den Anschein, daß die Zwei- bzw. Dreistimmigkeit des Ichs weder als eine ,Einheit‘ begriffen werden konnte noch in ihrer ,Vielfalt‘ zu ertragen gewesen ist. Man könnte sagen, daß Preuschen die Autobiographik nicht zur Selbstfindung, sondern zur unabschließbaren Selbstsuche nutzte, die sich am Ende des autobiographischen Textes auch daran zeigt, daß sie die Antwort auf die Frage „Wer bin ich“ an die Leserinnen und Leser weiterleitet. „Und wenn ich bis zum Ende auch die Welt nicht zu mir zwang, wenn auch der Raubritter in mir mein Leben lang in wilden Schmerzen schrie, so möchte sein Januskopf, das Osterlamm, doch bei all denen ein mildes Verstehen und Erkennen finden, die sich die Mühe geben, mein Leben auf seine Wahrheit hin

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

zu prüfen. Dann strahlt mein Bild vielleicht dennoch eine kleine Weile in die Zukunft hinein, nicht weil es groß, sondern weil es echt war.“46 Das Motiv der Autobiographie, die Initiierung persönlichen Nachruhmes, taucht am Ende nochmals als strategische Leserlenkung auf. Das Publikum soll urteilen, aber nicht verurteilen, denn die Autorin gibt bereits den Interpretationsrahmen vor. Sowenig dieses Ich womöglich über sich im klaren ist, die Außengrenze scheint klar: Die Kernnarration handelt vom Bestreben ein Genie zu werden und keines geworden zu sein – das ist der Stoff aus dem seit der Antike Tragödien gestaltet werden. Dieses Selbst deutet sich narrativ als ein tragisches. Die Tragik zu verstehen, darum bittet am Ende das „Osterlamm“ – unschuldig, geduldig, ein Opfer der Umstände, dem Fatum ausgeliefert. 2.2.2.2. Die siegreiche Heldin Lily Braun (1865–1916), Sozialistin, führend und umstritten in der proletarischen Frauenbewegung, Schriftstellerin, Publizistin, Herausgeberin von Zeitschriften, Biographin ihrer Goethe nahestehenden Großmutter Baronin Jenny von Gustedt, der unehelichen Tochter Diana von Pappenheims und des einstigen Königs von Westfalen, Jérôme Napoleon, Verfasserin einer bis heute lesenswerten wirtschaftsgeschichtlichen Studie zur „Frauenfrage“, Rebellin gegen Preußen, Kriegsbefürworterin, Tochter eines Generals, Ehefrau des Philosophen Georg von Gizycki, Witwe des selbigen, Ehefrau des sozialdemokratischen Sozialpolitikers Heinrich Braun, Mutter eines Sohnes … – stammte aus der 1801 in den Adelsstand erhobenen preußischen Familie Kretschmann. Ihre zweiteilige Autobiographie veröffentlichte sie erstmals 1909 und 1911 unter dem Titel „Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre“ bzw. „Kampfjahre“. Der Untertitel lautete Roman. Der Titel des ersten Teils erinnert an Malwida von Meysenbugs „Memoiren einer Idealistin“ (1869 / 1876) und an Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795 / 96). Der Untertitel Roman deutet nicht, das ist auch bei Preuschens „Roman meines Lebens“ der Fall, auf eine poetische Dichtung hin, sondern signalisiert eine Wirklichkeitsmodellierung profanerer Art. Braun schafft sich dadurch eine Sphäre der Zurückgezogenheit, die es ihr erlaubt, aus der Beziehung Autobiographin – Lesepublikum, auf die Preuschen angewiesen ist, herauszutreten, und ihre Erinnerungen einzig an ihren Sohn zu adressieren. Die sprachliche Verfremdung tatsächlicher Orte und Personennamen dürfte den Zweck gehabt haben, sich vor möglichen Anfeindungen zu schützen. Malvida von Meysenbug plante deshalb, keine Namen zu nennen und hielt „das Ganze so, daß man es auch für eine Erzählung nehmen kann.“47 Der lebensgeschichtliche Kontext, in welchem Braun an ihren „Memoiren“ arbeitete, ist analog zu Hahn-Hahn als Zäsur zu begreifen. Parteiinterne Flügelkämpfe um das Wesen „echter Sozialdemokratie“ hatten sie aufgerieben und

46 47

Dies., S. 294. Meysenbug (1879 / 1922), S. VI.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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als „Revisionistin“ an den Rand der Partei getrieben.48 In dieser unfreiwilligen Situation schrieb Braun nicht nur ihre Autobiographie, sondern auch ihre Erinnerungen an ihre bekannte Großmutter – Schreiben als kontemplative und kompensatorische Handlung. Das Motiv bewegt sich entlang der Wurzel des Autobiographischen, der Rechtfertigung und gestaltet sich inhaltlich über die Identitätsfrage aus. Sie schreibt: „Die Menschen zürnen mir, und alle nennen mich fahnenflüchtig, die irgendwann auf der Lebensreise ein Stück Weges mit mir gingen; mir aber erscheinen sie als die Ungetreuen. Wer hat recht von uns: sie oder ich? Um die Antwort zu finden, will ich den letzten Wurzeln meines Daseins nachspüren, wie seinen äußersten Verästelungen; und an dich, mein Sohn, will ich denken dabei, auf daß du, zum Manne gereift, deine Mutter verstehen mögest.“49 Braun sucht nach dem Urgrund, dem Eigentlichen, der Substanz ihres Seins und findet die „letzten Wurzeln“ in der Kontinuität und Kohärenz ihres Ichs durch die Zeit. „[I] nwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, obschon dazu „kaum Erreichbares gefordert“50 wird, so umschrieb Goethe jene Teilaufgabe der Autobiographie, die aus heutiger Sicht Identitätsarbeit genannt werden würde. Der Schriftsteller Goethe war Braun bekannt, nicht aber die heutige Skepsis gegenüber eines einheitlichen, vorgebildeten, nurmehr zu entdeckenden Selbst. Braun ‚erfindet‘ sich nicht, sondern ‚entdeckt‘ sich. Dazu nutzte sie als Quellengrundlage ihre seit Kindertagen geführten Tagebücher. „Am Schlusse jeden Jahres habe ich an seiner Hand den verflossenen Lebensabschnitt überlegt und sein Fazit gezogen. Seine lakonischen Bemerkungen – ein bloßes trockenes Tatsachenmaterial – bildeten den festen Rahmen, den die Erinnerung mit den bunten Bildern des Lebens füllte, und unverzerrt … blickte mein Ich mir daraus entgegen.“51 Diesmal, fährt Braun fort, „nahm ich die zweiunddreißig Jahreshefte meines Tagebuches mit mir. Generalabrechnung muß ich halten.“52 Braun evoziert ein Ich, das sich selbst qua regelmäßiger Reflexion bewußt ist und nur noch nach einer endgültigen Fassung verlangt. „Generalabrechnung“ und „Fazit“ sind sprachliche Ausdrücke, die für ein Objekt „Buchhaltung“ sicher angemessener wären als für ein sich selbst objektivierendes Subjekt, signalisieren aber einen bestimmten Gebrauch des Autobiographischen bei Braun. Wer bin ich, ist keine Frage, auf die annähernde Antworten gesucht werden (wie z. B. bei Krane) und auch keine, die einen eher in die Verzweiflung treibt (wie etwa bei Preuschen der Fall). Brauns „Generalabrechnung“ ist ergebnisorientiert und zielt auf eine klare, eindeutige Antwort: „Auf steilem Felsenpfad bin ich bis hierher gestiegen, meinem wegkundigen Blick, meiner Kraft vertrauend, weit entfernt von den Lebenssphären, die Tradition und Sitte mit Wegweisern versah, damit auch der Gedankenlose nicht irre gehe. … Wohin

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Vgl. Vogelstein, Julie, Lily Braun. Ein Lebensbild, in: Braun, Lily, Gesammelte Werke, hrsg. v. Julie Vogelstein, Bd. 1, Berlin 1922, S. LXXII. Braun (1909 / 1922), S. 5. Goethe, Johann Wolfgang, Aus meinem Leben, S. XI. Braun (1909 / 1922), S. 4. Ebd.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

nun? Hinab zu Tal, zu den Wegweisern? Oder weiter auf selbstgewähltem Steige?“53 Aktuelle Selbsteinschätzung und Infragestellung des Selbst gehen in dieser Passage Hand in Hand und beschreiben in Kürze Inhalt und Form der Autobiographie. Braun erzählt bis etwa zu ihrem 30. Lebensjahr die Geschichte einer Tochter aus adeligem Hause, die über religiöse Fragen, der Konfrontation mit sozialer Not anderer in Konflikte zu den Vorstellungen der Familie gerät und diese Konflikte durch eine sukzessive Ablösung von der Familie, die mit der Durchsetzung eigener Vorstellungen und Interessen einhergeht, löst. Der Zusammenhang des eigenen Lebens wird von Braun als Emanzipation gedeutet und in Form einer Fortschrittsgeschichte erzählt. Der „steile Felsenpfad“ als Metapher für ihr Leben besitzt am Ende des Textes weiterhin Gültigkeit, das „Tal“ hat keine Antworten mehr zu bieten: „Hoch oben … sehe ich noch einmal hinab: auf dem Wege zu Tal steht eine graue Gestalt, vom Dunst der Tiefe halb verwischt: meine Jugend. Und der steile Steg, den ich gehen will, wohin führt er?“54 Die Einschreibung in die Gattung als tragische Heldin einerseits und als siegreiche Heldin andererseits, vorgestellt als Pole des Spektrums ich-zentrierter Autobiographik, gehört qua Identitätsfrage vor säkularem Sinnhorizont und der narrativen Darstellung von Entwicklung, die Kontinuität und Kohärenz – auch in ihren Brüchen – des eigenen Lebens stiftet, zu solchen Texten, aus denen Bernd Neumann idealtypisch die „eigentliche Autobiographie“55 abgeleitet hat: „Wenn die Memoiren das Ergehen eines Individuums als Träger einer sozialen Rolle schildern, so beschreibt die Autobiographie das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft. … Dies gilt zumindest für die deutsche hochbürgerliche, für unser heutiges Verständnis typische, ‚klassische‘ Autobiographie.“56 Neumann läßt die Geschichte der „klassischen“ Autobiographie um die Mitte des 19. Jahrhunderts enden, so daß, folgt man dieser Blüte und Verfall implizierenden Gattungsgeschichtsschreibung, auch hier, wie bei den Texten vor religiösem Sinnhorizont, eine Ungleichzeitigkeit festzustellen ist. Die Feststellung der Ungleichzeitigkeit entspricht Ergebnissen von Literaturwissenschaftlerinnen, wonach sich Frauen in eine Vielzahl von autobiographischen Formen einschrieben, aber in der „Königsform“ im Zeitraum ihrer Herausbildung nicht präsent waren.57 Erst nach der Mitte des 19. Jahr-

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Ebd. Ebd., S. 544. Neumann setzt in seiner Typologie u. a. die eigentliche Autobiographie gegen die eigentlichen Memoiren, verweist aber darauf, daß in der Realität eine Vielzahl von Mischformen existierte. Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 96. Ebd., S. 25. Zuerst wurde diese Absenz von Kay Goodman Ende der 1970er Jahre festgestellt. An neuerer Forschungsliteratur ist die Arbeit von Elke Ramm zu nennen. Vgl. Goodman, Kay, Die große Kunst, nach innen zu weinen. Autobiographien deutscher Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Paulsen, Wolfgang (Hg.), Die Frau als Heldin und Autorin: Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur, Bern 1979, S. 125–135; Ramm, Elke, Autobiographische Schriften deutschsprachiger Autorinnen um 1800, Hildesheim / Zürich / New York 1998.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

67

hunderts schrieben und veröffentlichten Frauen solche Texte, wie sie von männlichen Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hervorgebracht wurden.

2.2.3. Die Affinität zur tradierten „klassischen“ Form und soziale Positionierung Die säkulare Autobiographie im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert beruhte im Grunde auf der Vorstellung, daß das Selbst mehr sein muß als die Summe seiner diversen Standeszugehörigkeiten und den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Selbstthematisierung in der Autobiographie stand im Zeichen von Individualität als eigenständigem Wert, der neben kollektiven Wertvorstellungen etwa von Familie und Religion Legitimität beanspruchte.58 Der Einbruch von Individualität in die Gattung ging einher mit einer vergleichsweise neuen Darstellungsform. Um die Gesamtausprägung der eigentümlichen Eigenschaften einer Person zu vermitteln, bedurfte es anderes als nur die religiöse, nur die abenteuerliche, nur die Berufsautobiographie, sondern einer gelungenen Mischung: Innenschau und Welterleben, gebündelt im eigenen Beruf als Objektivation der Korrespondenz von Innen und Außen. Die neuen Mittel der Umsetzung lieferten der empfindsame und der Bildungsroman.59 Mit Hilfe dieser Erzählungsformen bestand für den Autobiographen die Möglichkeit und der Zwang, sich als eine Person zu vergegenwärtigen, die fähig ist, sich gleichsam am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Auf einer vom konkreten Individuum abstrahierenden Ebene entstand in dieser Zeit das sog. autonome Subjekt im Autobiographischen, welches in gegenwärtigen theoretischen Überlegungen zur Autobiographie, gestärkt durch postmoderne Diskurse, vehement kritisiert wird. Exemplarisch mag hier die Wertung Neva Šlibars stehen: „Die traditionelle (Auto-) Biographik gaukelt dem Leser ein überschaubares, beherrschbares Weltganzes vor, mit einem in sich konsistenten Subjekt im Zentrum, dessen Lebensgeschichte sinnvoll verläuft.“60 Die Ultima ratio für eine postmoderne Ich-Behauptung scheint in der Verleumdung zu liegen. Anstatt die Historizität von Subjekt-Vorstellungen zu akzeptieren, wird eine traditionelle Auffassung kurzerhand als Subjekt-Vortäuschung deklariert. Zugleich wird die autobiographische Praxis negiert. Texte des ausgehenden

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59

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Vgl. Steussy, Frederic S., Eighteenth-century German autobiography: the emergence of individuality, New York u. a. 1996. – Allgemein und mit einführendem Charakter in die Problematik des langfristigen Individualisierungsprozesses vgl.: Dülmen, Richard van, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997. In interdisziplinärer Perspektive und mit verschiedenen Ansätzen zur Erforschung der Geschichte der Individualisierung vgl.: Ders. (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001. Grundlegend für die Herausbildung der Darstellungsform der „klassischen“ Autobiographie ist: Müller, Klaus-Detlef, Autobiographie und Roman: Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976. Šlibar, Biographie, Autobiographie, S. 399.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

18. Jahrhunderts, in denen die Verfasser nach dem „Wer bin ich?“ fragen, entwerfen kein Bild vom unabhängigen, selbständigen Subjekt, das souverän die eigene Geschichte beherrscht. Vielmehr transportieren sie Bilder vom Bedrängtsein in ständischen Zumutungen und der Unmöglichkeit ein „Ich“ jenseits dieser Grenzen zu sein.61 Die dennoch Einheit suggerierende Darstellung beruht sowohl auf den Erzählungsformen als auch womöglich darauf, daß sich die säkulare und neuzeitliche Identitätsfrage im Autobiographischen nur in Heldengeschichten verbalisieren läßt. Die Autobiographik um 1800, nach Identität entlang der eigenen Entwicklung fragend, war fraglos eine Angelegenheit bürgerlicher, seltener nichtbürgerlicher Männer. Schreibende Frauen um 1800 waren für gewöhnlich adeliger und bürgerlicher Herkunft. Ihr Schreiben bewegte sich im Spannungsfeld von patriarchalischer Vormundschaft der Familie einerseits, da es mit weiblichen Ehrverhalten als nicht zu vereinbaren galt62, andererseits konkurrierten schreibende Frauen seit der Herausbildung eines literarischen Marktes ab den 1770er Jahren mit Männern, die – neuartig der Wandel vom ständischen Dichter zum marktabhängigen Schriftsteller – diesen Markt für sich beanspruchten. So blieb es nicht aus, daß selbst so scheinbar interesselose, rein ästhetische Diskurse um das „autonome Kunstwerk“ und das Wesen der Kunst dezidiert geschlechtsspezifisch ausgetragen wurden. Goethe schrieb vom „Dilettantism der Weiber“, Schiller stellte verwundert fest, daß einige Texte von Frauen sich beinahe der Dichtkunst näherten – die Parnaßsässigen waren überzeugt, daß echte Kunst eine Angelegenheit von Männern sei und verwiesen Frauen in den marginal gedachten Raum der moralischen Schriftstellerei.63 Um sich den Zuschreibungen von „ehrlosen Frauenzimmern“ oder „Dilettantinnen“ zu entziehen, schrieben Frauen vielfach unter Pseudonym oder gänzlich in der Anonymität.64 Schreiben in der Anonymität war jedoch keine hinreichende öffentlichkeitswirksame Tätigkeit, die das Veröffentlichen einer Autobiographie gerechtfertigt hätte. Wie denn jemand Schriftsteller geworden ist, war für das Lesepublikum nur dann interessant, wenn diesem Thema ein unter gleichem Namen veröffentlichtes Werk vorausgegangen war.65 Insofern besaßen schreibende Frauen keine vergleichbaren Zugangsvoraussetzungen zur 61 62 63

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Vgl. die Fallstudien in: Steussy, Eighteenth-century German autobiography. Vgl. Hufton, Olwen, Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500–1800, Frankfurt a. M. 1998, Kap.11, S. 573ff. Vgl. Bürger, Christa, Literarischer Markt und Öffentlichkeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, hrsg. v. Christa Bürger et al., Frankfurt a. M. 1980, S. 162–212; dies., Leben – schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart 1990, bes. Kap. 2 zum „Dilettantism der Weiber“, S. 19–31; Becker-Cantario, Barbara, Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000, S. 19–69. Becker-Cantario, Schriftstellerinnen der Romantik, S. 61f. Die Anonymität des Schreibens schließt den „autobiographischen Pakt“ aus. Die Identität des autobiographischen Ich mit dem Autor kann durch das Publikum nicht anerkannt werden. Der nicht abgeschlossene „Pakt“ ist für Elke Ramm der Grund, warum Frauen in der autobiographischen „Königsform“ um 1800 nicht präsent waren. Vgl. Ramm, Autobiographische Schriften, S. 48–59; dies., Warum existieren keine „klassischen“ Autobiographien von Frauen, in: Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben, S. 130–141.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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Autobiographie wie schreibende Männer um 1800, um innovativ an der Entwicklung der Gattung teilnehmen zu können. Weitere nicht gegebene Zugangsvoraussetzungen wie etwa jene, retrospektiv auf die Ausbildung eines Gelehrtenseins zu reflektieren, verdeutlichen, daß die Entwicklung der entwicklungsgeschichtlichen Autobiographie weder eine Leistung adeliger Frauen und Männer, noch bürgerlicher Frauen gewesen sein konnte und unterstreicht den bürgerlich-männlichen Charakter dieser entstehenden autobiographischen Form um 1800. Spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen Frauen vermehrt an der Gattung Autobiographie zu partizipieren. Jenen adeligen Frauen, die sich identitätsfragend äußerten, stand nun ein tradiertes Muster zur Verfügung, auf welches sie zurückgreifen konnten. In diesem Muster, das nicht als starre Form zu denken ist, präsentierten sich adelige Frauen als Akteurinnen, wobei auf der einen Seite ein souverän anmutendes Subjekt vorgestellt wurde, während andererseits ein sich um Souveränität mühendes Subjekt zur Darstellung gelangte. Das verbindende Element in diesem Textkorpus liegt in dem Deutungsmuster der eigenen Person in dem ihr zugänglichen sozialen Raum. Diese Autobiographinnen betrachteten sich als abweichend von solchen Erwartungen ihres sozialen Umfeldes, die an sie als Mädchen und als Frau gestellt wurden. Das Abweichen von geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen und das Unterlaufen von gesellschaftlichen Geschlechternormen wurden seltener in den Vorworten thematisiert, sondern bildeten Probleme in der autobiographischen Erzählung, die sich zu biographischen Konflikten verdichten konnten. Pointiert formulierte Jahre später die Literatin und Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem zweiten Erinnerungsband „In den besten Jahren“ (1960) den lebensgeschichtlichen Grundkonflikt solcher Frauen, die innerhalb der patriarchalischen Ordnung die gleichen Möglichkeiten wie Männer in Anspruch nehmen wollten. „Mir schien es wie ein Wunder, daß ich mich von meiner Vergangenheit losgerissen hatte, daß ich mir selbst genügte, über mich selbst entschied. Ich hatte ein für allemal meine Selbständigkeit erobert; nichts würde sie mir nehmen. Sartre dagegen trat nur in ein neues Stadium seiner Existenz ein, das er seit langem mit Widerwillen vorausgesehen hatte. Die erste Jugend, die keine Verantwortung kennt, lag hinter ihm; er trat in die abscheuliche Welt der Erwachsenen ein.“66 Man kann von einer Affinität zur tradierten Form sprechen, etwa analog zur Schriftstellerin, die eine „unerhörte Begebenheit“ literarisch gestalten will und deshalb mit untrüglichem Sinn die Form der Novelle, nicht aber des Romans wählen wird. Malvida von Meysenbug, die sich – zumindest vom Anspruch her – am Goetheschen Vorsatz, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, orientierte, klagte etwa in ihren Erinnerungen topoiartig „weibliche Individualität“ ein. Mithin scheint es nicht nur eine Affinität zur Form, sondern auch ein Wissen um die Beschaffenheit selbiger gegeben zu haben. Die Identitätsfrage vor säkularem Sinnhorizont scheint seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von jenen gestellt worden zu sein, denen entweder an der Darstellung

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Beauvoir, Simone de, In den besten Jahren, Reinbek b. Hamburg 1989, S. 22.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

von sozialem Aufstieg oder an der Darstellung von Selbstbehauptung gegen die Gesellschaft, womit zumindest partielle gesellschaftliche Marginalisierung verbunden war, gelegen gewesen ist, wobei adelige Frauen eher zu letzterem tendierten. In beiden Fällen ist davon auszugehen, daß es sich bei diesen AutobiographInnen um Personen handelte, denen sowohl die Einzigartigkeit des Individuums als auch die Eigenständigkeit des Subjekts von Bedeutung gewesen ist. Das postmodern diskreditierte autonome Subjekt, das feministisch infrage gestellte männliche Subjekt, das diskurstheoretisch und strukturalistisch nicht interessierende Subjekt war nicht nur gedanklicher Fluchtpunkt, eine Utopie akademisch gebildeter, idealistischer Philosophen, sondern gehörte gleichfalls zur Vorstellungswelt von Teilen der gebildeten Schichten der Bevölkerung. Dabei wurde die identitätsfragende, entwicklungsgeschichtlich erzählende Autobiographik sicher weniger von Frauen als Männern, weniger von Adeligen als von Bürgerlichen hervorgebracht. Sofern von einem Zusammenhang von Form und Stofflichkeit der Erzählung und der sie verfassenden konkreten Person ausgegangen wird, scheint mir eine deskriptive begriffliche Orientierung an „sozialer Positionierung“ geeigneter zu sein als das normative Beharren auf einem Zusammenhang von Ich – sozialer Herkunft – Text. Nach meinem Verständnis nimmt soziale Positionierung ihren Ausgang in der gesellschaftlichen Stellung der Autobiographin in der Schreibgegenwart. Diese Stellung umfaßt alle objektiven Merkmale einer Person wie Alter, Geschlecht, Stand und Beruf, welche durch kulturell hervorgebrachte Traditionen und Konventionen nicht eigentlich objektiv, sondern immer schon gewichtet, hierarchisiert sind und zugleich je nach sozialen Räumen und Diskursen verschieden in Wert gesetzt sind. Dieser Ausgangspunkt kann gleichsam nur als Gerüst Geltung beanspruchen, relevanter ist, was die einzelnen Akteurinnen aus diesem Reservoir an Fakten und Deutungen machen. Soziale Positionierung meint den subjektiven Umgang mit diesem Reservoir, der im Moment des autobiographischen Schreibens ein Bezug nehmen, eben ein sich positionieren, nicht zu allen, sondern zu relevanten objektiven Merkmalen bedeutet.67 Diese begriffliche Orientierung verbleibt wie die normative Vorstellung einer eindeutigen Zuordnung beim Referenzcharakter des Autobiographischen. Während letztere vor das Entscheidungsproblem gestellt ist, ob vorliegende Texte im Sinn von „Verbürgerlichung“ resp. „Vermännlichung“ zu deuten bzw. als untypisch für Adelige und Frauen zu betrachten seien, steht mein Verständnis von Positionierung vor dem Problem, die unterstellte Möglichkeit eines sich vielfältig positionierenden Subjekts empirisch einlösen zu können.

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Meine begriffliche Orientierung „soziale Positionierung“ lehnt sich z. T. an die Argumentation Almut Fincks an, die sich auf dezidiert theoretischer Ebene mit bisherigen Ansätzen zu einer „weiblichen Autobiographik“ auseinandersetzt und zu einem Begriff von „Positionalität“ gelangt, der vor allem versucht, die alte, sich in der Forschung fortschreibende Fundamentaldifferenz von männlich / weiblich aufzulösen. Vgl. Finck, Autobiographisches Schreiben, S. 109–138.

2.2. Ich-zentrierte Autobiographik

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2.2.4. Zwischenresümee Die Nutzung der Gattung Autobiographie um 1900 durch adelige Frauen zeichnet sich mit Blick auf die Gebrauchsweisen und Präsentationsformen durch folgende Merkmale aus. Die Texte sind ich-zentriert und thematisch an der Identitätsfrage ausgerichtet. Diese Gemeinsamkeit ist nach der Zentrierung des Ichs vor religiösem und säkularem Sinnhorizont zu unterscheiden. Die Ausrichtung auf Gott scheint den Autorinnen Krane und Ebner-Eschenbach die Möglichkeit zu geben, sich auf sehr subjektive Weise den äußeren Umständen anzunähern und insbesondere die eigene Seelenlandschaft zu erkunden, während Hahn-Hahn durch diese Beziehung eher einen subjektunhabhängigen Wahrheitsanspruch postuliert, der dem konvertierten Ich gleichsam als Rückgrat dient. Selbsterkundung und Selbstgewißheit changieren in der Darstellungsform, die den Rahmen der Kernnarrationen bildet, zwischen tradierter, dem Passionsweg Christus entlehnter Leidensgeschichte und der Konversionserzählung, die in ihrer Dramaturgie, d. h. der Darstellung, wie man zum rechten Glauben gefunden hat, auf Augustinus zurückgeht. Dabei ist der Text Ebner-Eschenbachs, ihre Qualität als Literatin unterstreichend, keiner Form zuzuordnen, obschon das Leiden eine thematische Verbindung zum Text von Anna von Krane herstellt. Die Autorinnen der säkularen Autobiographik suchten ihre Sicht auf sich selbst vor dem Hintergrund von Geschichte und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, was bedeutet, daß sie sich im Vergleich zur religiösen Autobiographik zum einen stärker an der Chronologie des eigenen Lebensverlaufes orientierten, um eine ‚ganze‘ Geschichte erzählen zu können, zum anderen ist das Wechselspiel zwischen Innen und Außen, Subjekt und Umwelt sehr viel stärker ausgeprägt. Sie schrieben sich in die zu diesem Zeitpunkt bereits tradierte, heute sog. klassische Autobiographie ein, wie sie vornehmlich von bürgerlichen Männern um 1800 hervorgebracht wurde. Die Kernnarrationen, hier an den Polen der Autobiographie von Preuschen und Braun dargestellt, lassen sich als tragische und siegreiche Heldinnengeschichten begreifen. Diese Gebrauchsweisen des Autobiographischen verweisen auf adelige Frauen, die ihr Selbst als problematisch zur sozialen Umwelt wahrgenommen haben. Wie dieses Problem und was von diesem Problem zur Sprache gebracht wurde, geht sicher nicht in „sozialer Positionierung“ auf. Mit dieser begrifflichen Orientierung ist aber zu verdeutlichen, daß autobiographisches Schreiben eine multifaktorielle Angelegenheit ist, die sich nicht in vertraute sozialhistorische Denkweisen einpassen läßt. Ein Text, wie etwa jener der Anna von Krane gründet auf einer Positionierung zum Alter und zwar dergestalt, den nahenden Tod zu akzeptieren und daraus Klarheit für den Lebensrückblick abzuleiten, das heißt, diesen wahrhaftig darstellen zu wollen. Er gründet auf einer Positionierung zur schriftstellerischen Praxis und zwar insofern, als hier einem christlich-katholisch intendierten Schreiben der Vorrang gegeben wird, das zugleich die Kenntnis religiöser Erzähltraditionen und die Erwartung eines bestimmten Lesepublikums einschließt und formal auf die Autobiographie einwirkt. Des weiteren positioniert sich die Person Krane als Katholikin, was bedeutet, ein Wertesystem zu akzeptieren, das

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

verschieden von anderen Religionsgemeinschaften bzw. atheistischer Anschauung ist. Zugleich fordert sie für ihre Lebensdarstellung Subjektivität und Innerlichkeit ein und positioniert sich damit gegen eine von ihr als positivistisch wahrgenommene literaturgeschichtliche Beurteilung von Lebensdarstellungen. All diese Positionierungen konstituieren einen Text, dessen Kernnarration das Leiden ist. Diese multifaktorielle Generierung trifft sicher auf alle Autobiographien zu. In der säkularen identitätsfragenden Autobiographik ist eine Positionierung deutlich erkennbar: Die selbständige Persönlichkeit gegen starke gesellschaftliche Konventionen und Normen, welche vorschreiben, wie Frauen sein sollten. Hier kann man von einer Ähnlichkeit der strukturellen Lage von bürgerlichen Männern um 1800 und adeligen Frauen um 1900 sprechen. Die Affinität jener Frauen zur tradierten autobiographischen Form scheint eine Entsprechung der Auflehnung gegen ständische Zumutungen gewesen zu sein, der zusätzlich die Geschlechterdimension eingewoben war.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer „Gängige literaturwissenschaftliche Definitionen des Genres unterstreichen den selbstbezogenen, selbstanalytischen Charakter der Autobiographie, die sich als Vehikel kontemplativer Fahrten ins eigene Innere betrachten lassen. Michael Maurer und Gunilla Budde, deren unterschiedlich angelegte Studien über deutsche (und englische) Bürgerleben sich maßgeblich auf bürgerliche Autobiographien stützen, haben den von bürgerlichen Autoren schriftlich zelebrierten Wert der Individualität eindrucksvoll herausgearbeitet. Eben dieser Aspekt fehlt einem Großteil adeliger Selbstzeugnisse. Es scheint somit angemessen, den hier betrachteten Textkorpus als eine Sondergruppe innerhalb des Genres zu beschreiben. In ihrer großen Mehrheit handelt es sich um retrospektive Selbstdarstellungen, in denen die erzählende Person die Einbindung des eigenen Lebens in bestimmte Werte, Traditionen, Familienbindungen und politisch-gesellschaftliche Entwicklungen berichtet, ohne zu Fahrten in das eigene Innere aufzubrechen. Ihre Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Geschlecht, dessen Geschichte und Traditionen schildern viele Autoren eindringlicher als ihre persönlichen Wünsche, Träume oder gar Gefühle.“68 Funck und Malinowski stellen zurecht die Diskrepanz zwischen Definitionen und den von ihnen untersuchten Autobiographien von adeligen Frauen und Männern, geschrieben um und nach 1900, fest. Ihre Beobachtung der mangelnden In-Wert-Setzung von Individualität trifft fraglos auf die „Wir-Geschichten“ und „Geschichten anderer“ zu, die an dieser Stelle als eine Textgruppe betrachtet werden, da die Überlappungen der Gruppen größer als die Differenzen sind.

68

Funck / Malinowski, Geschichte von oben, S. 241f.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

73

2.3.1. Zur Zeittypik der Erzählungsformen Im Vergleich zur ich-zentrierten Autobiographik läßt sich das Charakteristische der Wir-Geschichten und Geschichten anderer mit dem Titel der Autobiographie von Gräfin Hedwig Rittberg veranschaulichen: „Erinnerungen aus drei Jahrzehnten meines Berufslebens, nebst Selbstbiographie“ (1896). Das autobiographische Ich steht in diesen Texten vordergründig im Hintergrund. Dieses Ich befragt sich nicht nach seinem Woher und Wohin, sondern ist oftmals – in einer Formulierung Gräfin Salburgs – „erzählende Stimme“69, welche durch Zeitgenossenschaft legitimiert eigene und fremde Ansichten, Erlebnisse und Erfahrungen kommentiert, berichtet, erzählt. Der Lebensverlauf bleibt hier Grundlage des zu Erzählenden, hat aber nicht den Stellenwert einer Entwicklungsgeschichte wie bei der säkularen ich-zentrierten Autobiographik, sondern fungiert als Folie, vor der Porträts anderer skizziert, Sittengemälde oder Kulturgeschichtliches entworfen oder Standpunkte jeder Art formuliert werden. Die Rezipientin dieser Texte ist nicht stiller Teilhaber am Aushandelungsprozeß einer Ich-Identität, sondern rezipiert Autobiographien, deren Ich-Erzählerinnen Identifikationen zu etwas präsentieren. „Nebst Selbstbiographie“ bedeutet bei Gräfin Rittberg, die Frage „Wer bin ich?“ steht nicht zur Disposition. Was hingegen in Wert gesetzt wird, ist jene Identifikation mit der anderen Instanz „Beruf“, so daß von „meinem Berufsleben“ die Rede sein kann. Das autobiographische Ich steht somit mittelbar über die Darstellung der als wertvoll verstandenen Personen und Instanzen im Vordergrund. Die Wir-Geschichten und Geschichten anderer unterscheiden sich durch den Grad des Zugangs zu dem, womit sich identifiziert wurde. Geschichten anderer sind jene, die nicht zu den Erlebnissen und Erfahrungen der eigenen Person gehörten, aber dennoch für diese von Bedeutung waren. Hier entstehen Porträts von Personen, die man selbst nicht sein konnte, wird von politischen Entscheidungen berichtet, die man teilt, aber nicht entschieden hat, oder es wird von militärischen Siegen erzählt, welche qua Geschlecht nicht selbst errungen werden konnten, über die sich autobiographisch aber Verbundenheit herstellen ließ. Die Wir-Geschichten umreißen dagegen eher die Erlebnis- und Erfahrungsräume der Personen und erzählen vom Verwobensein des Ichs in die Familie, in religiös-karitative Institutionen, in eine Landschaft, mit der man sich verbunden fühlte oder in eine als untergegangen betrachteten „alten Welt“. Das autobiographische Ich dieser adeligen Frauen besticht nicht durch Innerlichkeit oder dem permanenten Wechsel von Innen und Außen, sondern durch ein vorausgesetztes Ich, das über die Erzählung Bindungen, Beziehungen hervorbringt. Stützt dieser Befund einerseits jenen von Funck und Malinowski, ist andererseits zu fragen, ob deren methodische Konsequenz, den Textkorpus „als eine Sondergruppe inner-

69

Salburg (1927), S. 6.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

halb des Genres“ zu betrachten, tragfähig ist. Zum einen weist die ich-zentrierte Autobiographik auf die Möglichkeit hin, daß Adelige sehr wohl in der Lage waren, zu „Fahrten in das eigene Innere aufzubrechen“. Zum anderen zeigen die zahlreichen empirischen Befunde von Charlotte Heinritz aus der Perspektive der Frauenforschung, daß Autobiographien von Frauen um 1900 mehrheitlich nicht auf das tradierte Muster der „eigentlichen Autobiographie“ rekurrierten: „Vom Umfang her reichen sie vom autobiographischen Kurzporträt bis zum mehrbändigen Werk; die Autorin kann vollständig im Zentrum der Erzählung stehen oder eher am Rande als Erzählerin eine Geschichte erzählen, in der die Heldin nur hin und wieder ins Rampenlicht gerückt wird; in den Schilderungen können Erlebnisse und Ereignisse im Vordergrund stehen oder aber Reflexionen über den eigenen Werdegang.“70 Die Zurücknahme des Selbst kennzeichnet sowohl einen Teil der Autobiographien adeliger Männer und Frauen, als auch einen Teil der Texte bürgerlicher und adeliger Frauen. Mithin kann dieses Kennzeichen den für den Adel eingeforderten Status einer Sondergruppe nicht begründen. Funck und Malinowski scheinen mit der Hintergrundannahme eines traditionellen Individuums zu operieren, das sich in bewußten Beziehungen und Bindungen zu Gruppen darstellt.71 Vor der Folie von Tradition und Moderne stellt der Soziologe Michael Engelhardt allgemein fest: „Bei Erzählungen von Personen, deren Lebensgeschichte in eher traditionale Lebenszusammenhänge eingebunden ist, stehen die Wir-Geschichten und die Geschichten anderer im Vordergrund. Demgegenüber wird von Personen, deren Biographien von Modernisierungsprozessen geprägt sind, eine Ich-Geschichte wesentlich prägnanter herausgearbeitet.“72 Das lebensgeschichtliche Erzählen von Frauen sei – so Engelhardt, dem es um die Geschlechtsspezifik des Erzählten geht – familienund herkunftsorientierter, d. h. eingebunden in ein „Netz von Lebensgeschichten anderer Personen“73, weil sie anders als Männer stärker in traditionelle Lebenszusammenhänge eingebunden waren. Engelhardts geschlechtsspezifische Erzählung scheint identisch mit der adelstypischen Erzählung von Funck und Malinowski. Die Paradoxie verdeutlicht, daß der Hintergrund Tradition und Moderne zu allgemein ist, um der Besonderheit der Schreibweise einer konkreten Akteurin bzw. Akteurs auf die Spur zu kommen. Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive betrachtet der Literaturwissenschaftler Günter Oesterle die Autobiographik des Kaiserreiches als „autobiographiefeindliche[n]

70 71

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Heinritz, Charlotte, Auf ungebahnten Wegen, S. 82. Vgl. etwa das kleine Kapitel „Bindung und Freiheit“ über die Grenzen des frühneuzeitlichen Selbst bei Natalie Zemon Davis, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Frankfurt a. M. 1989, S. 7–18. Engelhardt, Michael von, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens, S. 381. Ebd., S. 382.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

75

Epoche“74 und beklagt die Trivialisierung der Gattung75. Ihr Kennzeichen sei nicht der Hang zur Selbstanalyse, die Verschränkung von Selbst- und Fremdbeobachtung, wie sie gelungene Autobiographien besäßen, sondern sei gekennzeichnet durch die Verselbständigung des Außenblicks ohne Korrektiv des Innenblicks. Oesterle moniert auf der Grundlage einer normativen Gattungspoetik gewissermaßen die Memoirisierung der Gattung. Mit der Verselbständigung des Außenblicks ging seit den 1860er Jahren eine stärker berichtende Erzählweise einher, welche die Autobiographie eher zu einem „Informationsträger für eine historiographisch interessierte Öffentlichkeit“76 machte. Zugleich wurde von vielen AutobiographInnen der bereits im Titel „Dichtung und Wahrheit“ verdichtete Gestaltungsanspruch zurückgewiesen und dagegen gleichsam das Faktische gesetzt.77 „Mehr Wahrheit als Dichtung“ heißen bezeichnend die Erinnerungen Alberta von Puttkamers.78 Zu den die Gattung dominierenden Tendenzen der Historiographisierung und Memoirisierung trat nach dem Ende des Kaiserreiches jene der Ideologisierung hinzu, d. h. ein innerhalb der Gattung ausgefochtener Kampf um die wahre Weltdeutung.79 Der Literaturwissenschaftler Klaus-Detlef Müller spricht pointiert über „die Veränderung des Individuellen vom Gegenstand zum Medium der Darstellung“80 und beschreibt damit einen Verschiebungsprozeß vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum beginnenden 20. Jahrhundert. Die Durchdringung der Gattung mit Alltäglichem, wovon weiter oben die Rede war, umschreibt im Grunde den Auszug der Identitätsfrage, die ja auf das Individuelle als Gegenstand angewiesen ist, aus der Autobiographie. Was Funck und Malinowski als Charakteristikum adeliger Sondergruppe mutmaßen, die mangelnden „Fahrten in das eigene Innere“, kennzeichnet die Haupttendenz der Autobiographik um 1900. So bedeutungsvoll Familie und Herkunft von Adeligen erfahren werden konnten, was hier nicht in Abrede gestellt wird, sie sind naheliegende Bezugsgrößen für jedermann, der sich seines Lebens, und was darin für ihn wichtig gewesen ist, erinnert, ohne mit der Erinnerung an das eigene Leben den Anspruch auf Selbsterkundung zu verbinden.

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Oesterle, Günter, Die Grablegung des Selbst im Anderen und die Rettung des Selbst im Anonymen. Zum Wechselverhältnis von Biographie und Autobiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Friedrich Theodor Vischers „Auch Einer“, in: Grimm, Rudolph / Hermand, Jost (Hgg.), Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie, Königstein / Ts. 1982, S. 45–70, hier S. 49. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. Lehmann, Jürgen, Bekennen, erzählen, berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, S. 10. Vgl. Hoffmann, Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890–1923, S. 489. Puttkamer (1919). Vgl. Schütz, Erhard, Autobiographien und Reiseliteratur, in: Literatur der Weimarer Republik 1918– 1933, hrsg. v. Bernhard Weyergraf, München / Wien 1995, S. 548–600. Müller, Klaus-Detlef, Die Autobiographie der Goethezeit. Historischer Sinn und gattungsgeschichtliche Perspektiven, in: Niggl (Hg.), Die Autobiographie (1989), S. 477.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

2.3.2. Die Denkwürdigkeiten Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen in der Textgruppe von Wir-Geschichten und Geschichten anderer können nach ‚Denkwürdigkeiten‘, ‚Berufsautobiographien‘ und ‚subjektiver Geschichtsschreibung‘ unterschieden werden. Den Autorinnen der ‚Denkwürdigkeiten‘ fehlt jene Eindringlichkeit, wie sie den Verfasserinnen von ich-zentrierten Texten eigen ist, um sich und andere vom erzählten Ich zu überzeugen, auch sind sie thematisch nicht eindeutig eingegrenzt wie die ‚Berufsautobiographinnen‘ und besitzen keinen Sinn für explizite Parteinahmen, mit denen sich die Vertreterinnen der ‚subjektiven Geschichtsschreibung‘ exponieren. Die Schreibpraxis der Verfasserinnen von ‚Denkwürdigkeiten‘ zeichnet sich eher durch die Reihung von persönlichen Erinnerungen aus, wie man sie aus vertrauten Gesprächen, die um das Thema „Weißt Du noch damals“ kreisen, kennt. Maximiliane von Arnim (1818–1894) schrieb ihre Erinnerungen Anfang der 1890er Jahre im Alter von über 70, Paula von Bülow (1833–1920) war 82 Jahre, als sie ihre Lebenserinnerungen um 1915 zu schreiben begann. Beide Texte wurden nach dem Tod der Verfasserinnen herausgegeben. Die mögliche Erwartung, ein Schreiben ohne vorgestelltes Publikum ergäbe intime Texte, wird enttäuscht. Bülow wendet sich ausdrücklich an den Leser als Adressaten, womit der imaginierte Leser eines öffentlichen Lesepublikums gemeint ist. Arnim schrieb für ihre Kinder, wodurch ihre Sprache einen vertrauten, privaten Klang erhält: „Da sitzt nun das einst so übermütige Maxelchen als alte Exzellenz-Witwe in dem schönen Schlosse ihres Erstgeborenen und versucht, die Erinnerungen ihres reichen Lebens für euch, liebe Kinder, aufzuzeichnen, bevor auch die beiden letzten noch dienstwilligen Finger der Schreibhand versagen.“81 Bei der Beschreibung dessen, wie sie sich erinnern wollen, grenzten sich beide Frauen auf vergleichbare Weise gegen die Historiographisierungstendenzen zeitgenössischer Autobiographik ab. Arnim führt aus: „So steht auch mein Leben in großen Konturen mir deutlich vor Augen samt vielen noch frischen Einzelbildern, aber wie diese aufeinander gefolgt sind und zusammenhängen, die Grenzen des einzelnen haben sich in meiner Erinnerung vielfach verwischt. Vieles ließe sich ja noch genau feststellen und wohl auch ergänzen aus dem Berg von Memorabilien, die ich aufbewahrt habe … – aber ich bin zu alt und schwach, um das alles noch durchzusehen, und ich will ja hier auch gar nicht eine genaue Beschreibung, sondern nur ein Bild meines Lebens geben.“82 Bülow schreibt: „Nach langem Widerstreben beginne ich jetzt damit, meine Erinnerungen niederzuschreiben – in meinem zweiundachtzigsten Lebensjahre und ohne irgendwelche Aufzeichnungen aus früheren Jahren zu besitzen; … Der Leser darf also keinen zusammenhängenden, fortlaufenden Bericht erwarten; ich schreibe nur lose, unzusammenhängend, wie die Begebenheiten und die Menschen, Erlebtes und Erlauschtes in mein Erinnern treten“83 81 82 83

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 11. Ebd., S. 11. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 7.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

77

Sowohl Arnim als auch Bülow entschuldigen sich für die Nichtverwendung von Dokumenten, welche eine zusammenhängende Geschichte ausschließt und eine Geschichte aus „Einzelbildern“ begründet. Die mangelnde formale Stringenz wird hin und wieder als authentisch für die durch Brüche gekennzeichneten Lebenserfahrungen von Frauen betrachtet.84 Folgt man den Äußerungen Arnims und Bülows, spielt dieser Zusammenhang von Leben und Textform keine Rolle, sondern ist Effekt einer nichtintendierten „historischen“ Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. Die Vorwortsequenz Arnims ähnelt dabei jener von Ebner-Eschenbach. In beiden ist die Rede von Einzelbildern anstelle von „großen Konturen“ bzw. einem „kräftig ausgeführten Gemälde“, die zur Darstellung gelangen sollen. Während sich Ebner-Eschenbach dadurch von der Idee des erinnerten Lebens als Gesamtkunstwerk verabschiedet und die Verknüpfung von Bildern zum Gestaltungsprinzip ihrer Suche nach dem Ich der Kindheit erhebt, negiert Arnim eine ihr bekannte Darstellungsform der „genauen Beschreibung“, mit der sie so etwas wie Wahrheit oder Wirklichkeit verbindet. Dieser auf verschiedenen Vorstellungen vom Autobiographischen ruhende Unterschied trotz ähnlichen Sprachgebrauchs wird bei Bülow noch deutlicher und hebt die Eigenart der Denkwürdigkeiten hervor: „Am wenigsten darf der Leser politische Memoiren erwarten. Ich habe zwar als Tochter eines Gesandten, als Frau eines Diplomaten, als Oberhofmeisterin am Schweriner Hof viel Gelegenheit gehabt, über Politik und Staatsangelegenheiten aus erster Quelle zu hören. … Ebenso wenig habe ich die Absicht, mein inneres Erleben, meine seelische und geistige Entwicklung hier vor aller Welt darzulegen. Was ich geben will, sind Bilder von Erlebnissen und Eindrücke aus Zeiten, die nun schon versunken und verklungen sind, und die darum vielleicht einen besonderen Reiz und auch ein gewisses Interesse besitzen.“85 Paula von Bülow grenzt sich mit großer Selbstverständlichkeit von politischen Memoiren und dem Thema der „eigentlichen“ Autobiographie ab und plaziert ihre Lebenserinnerungen als – nach meinem Verständnis – Denkwürdigkeiten. Denkwürdigkeiten – jene Übertragung der aus der französischen Sprache kommenden Memoiren ins Deutsche – bezeichnet ein semantisches Feld, zu dem Worte wie Gedanken, Gedächtnis, Gedenken, (An-)denken, hervorheben, bedeuten, ehren und auszeichnen gehören. Autobiographik in diesem Sinne meint allgemein die Bewahrung der Vergangenheit durch Aufhebung in schriftlich fixierte Erinnerungen, in Geschichten. Die Erinnerungen an „verklungene Zeiten“ treten verstärkt bei den Texten von Fugger und Nostiz nach 1918 als Schreibmotivation in Erscheinung. Im Vorwort zur ersten Auflage schrieb Helene von Nostiz 1924: „Waren nicht viele der Gestalten, die ich vor mir sah, Träger einer vielleicht schon fast romantischen Zeit, eines anderen Jahrhunderts? … Aus diesem Gefühl heraus erwuchs wie ein Befehl, das niederzuschreiben von diesen 84

85

So etwa bei Niethammer, Ortrun „Wir sind von der Natur und durch die bürgerliche Gesellschaft bestimmt, uns mit dem Kleinlichen zu beschäftigen […]“. Formen und Inhalte von Autobiographien bürgerlicher Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Heuser (Hg.), Autobiographien von Frauen, S. 265–284. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 2.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

erlebten Menschen und ihrer Umgebung, was noch in mir weiterglühte, … Angesichts der schroffen Übergänge und der bunten Gegensätze unserer merkwürdigen, zerrissenen und doch in neuer Wiedergeburt bebenden Zeit entsprang mir die Notwendigkeit einer Bestätigung und des Wachhaltens eines schon vergangenen Denkens und Stiles in seinen für mich belangvollsten Äußerungen.“86 Das Schreiben der Fürstin Nora Fugger wurde ebenso durch eine veränderte Zeitwahrnehmung motiviert: „Immer schneller laufen die Maschinen: Film und Radio, Auto und Flugzeug haben eine neue Welt geschaffen – eine Welt des Hastens und der Unrast. Im Foxtrott läuft das Leben dahin.“87 Was Fugger „vor der Welt wieder erstehen lassen“88 will, ist jene von ihr miterlebte Zeit, die ihr „durch den Weltkrieg getrennt, in weltenweiter Ferne“89 erscheint. Fugger und Nostiz drückten die von ihnen empfundene unwiederbringlich versunkene Zeit als Gegensätze von „romantischer Zeit“ bzw. „weltenweite Ferne“ und „neuer Wiedergeburt“ bzw. „Foxtrott“ aus. Sich als Angehörige eines historischen Wendepunktes wahrzunehmen und zu deuten gehörte zum autobiographischen Spektrum seit den 1920er Jahren.

2.3.3. Die Berufsautobiographien Thekla von Gumpert, Gräfin Rittberg, Eva von Thiele-Winkler und Gräfin Keller veröffentlichten ihre Texte in den Jahren 1891, 1896, 1929 und 1935. Diese Texte stehen im Kontext einer Autobiographik von Frauen, die sich seit Ausgang des 19. Jahrhunderts erstmals vermehrt mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu Wort meldeten, was in sozialhistorischer Sicht den Frauen in Berufen Rechnung trägt und gattungsgeschichtlich in eine Kontinuität zur von bürgerlichen Männern dominierten Gelehrtenautobiographie seit der Renaissance gestellt werden kann.90 Obschon das Wort ‚Berufsautobiographie‘ einen modernen Sinn suggeriert, haben vorliegende Texte wenig damit zu tun. Weder erzählen sie von einer berufsvorbereitenden Schulbildung, noch von einem geregelten Ausbildungsgang, geschweige denn von einer professionellen Karriereleiter, die sich summa summarum unter soziologischem Gesichtspunkt als moderne Erwerbsbiographie begreifen ließe. Das verbindende inhaltliche Moment der Texte liegt in der Fokussierung auf den Tätigkeitsbereich, der als Erwachsene ausgeübt wurde. Gräfin Keller agiert als Hofdame der letzten deutschen Kaiserin, Thiele-Winkler spricht von sich als Initiatorin und Akteurin des „Friedenhortes“, einer von ihr begründeten evangelischen Mission für sozial Schwächere, Gräfin Rittberg erzählt von sich als Krankenpflegerin und Gumpert setzt sich fast ausschließlich als Jugendschriftstellerin in Szene. 86 87 88 89 90

Nostitz (1924 / 1978), S. 14. Fugger (1932 / 1980), S. 5. Ebd., S. 6. Ebd. Vgl. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 221–228.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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Der Rückblick auf das eigene Leben und die Zeit, in der man jenes führte, kann von der Fragestellung „Wer bin ich?“ ausgehen, die im 19. Jahrhundert eher entwicklungsgeschichtlich beantwortet wurde. Doch ebenso steht es einer Retrospektive frei, eine Antwort auf die Frage zu geben, welche meiner in der Vergangenheit erfolgten Handlungen mir besonders wichtig gewesen sind und deshalb auch eine gewisse Relevanz für andere bedeuten könnten. Die Verfasserinnen von Berufsautobiographien reflektieren kaum ihr Selbst, sondern erzählen, berichten und dokumentieren sich als in der Tat Handelnde – sich selbst mit diesem Handlungsbereich identifizierend und andere zu dieser Identifikation auffordernd. Gräfin Rittbergs Text verdeutlicht den Gebrauch als Berufsautobiographie am präzisesten. Die 1839 als elfte von zwölf Kindern geborene Gräfin stammte aus armer, preußischer Adelsfamilie. 1896 veröffentlichte sie ihre nur 74 Seiten umfassende Autobiographie, die sie aus Krankheitsgründen nicht geschrieben, sondern diktiert hat. Ihre „Drei Jahrzehnte aus meinem Berufsleben nebst Selbstbiographie“ 91 besteht aus zwei Teilen. „Kindheit und Jugend“ umfaßt 14 Seiten, „Erinnerungen aus meinem Berufsleben“ füllen den Rest des Textes. Dieser zweite Teil wurde von Rittberg zuerst verfaßt. Auf Drängen anderer fügte sie ihre Selbstbiographie später hinzu. Durch ihre Mutter von früher Kindheit an – so stellt Rittberg es dar – zur sinnvollen Tätigkeit animiert, was bei dieser Familiengröße nicht verwundert und durch das Erleben, daß z. B. ihre älteren Schwestern als Gesellschafterinnen gearbeitet hatten, festigte sich bei ihr die Maxime, ihr Leben nicht „mit ‚Nichtsthun‘ auf Kosten ‚Anderer‘… hinzubringen“.92 Der eigentliche, nämlich zweite Teil der Erinnerungen erzählt vom beruflichen Sein ab dem Jahre 1864, als Rittberg eine Stelle als Gesellschafterin annahm, geht über zur Krankenpflege in Lazaretten des 1866er Krieges, setzt fort mit ihrer Verantwortung als Oberin eines Berliner Krankenhauses und mündet in der Darstellung des von Rittberg begründeten Hilfsschwestern-Vereins, einer privaten Krankenpflegeinstitution. Die Diktion der Darstellung folgt dabei dem Schema Konflikt durch äußere Umstände und Lösung des Konflikts durch die eigene Person. Mit ihrer Berufsautobiographie wendete sich Rittberg zuallererst an die Frauen des von ihr gegründeten Vereins, dem sie als Oberin vorstand.93 Ein Vorwort schrieb sie nicht, sondern ließ dieses als Art Geleitwort von einem Freund schreiben. Dieser, wohl Pfarrer gewesene, Hermann Weser wurde gebeten, dem „Büchlein einen Segenswunsch auf seinem Lebensweg mitzugeben“.94 Er weitete das Spektrum auf andere Frauen aus. „Es wird manchem jungen Mädchen, die unbeschäftigt oder mit keinen ernsten Pflichten am Markte des Lebens stehen, den Weg weisen, wie man zu einer befriedigenden Thätigkeit gelangen kann. Es wird mancher Frau, welcher das eigene Dasein unbedeutend und unwichtig erscheint, den Beweis liefern, von welch mächtigem Einflusse auf unseres Volkslebens 91 92 93 94

Rittberg (1896). Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., o. S. (Vorwort).

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

Heil und Gedeihen des Weibes stilles, sanftes, schmerzlinderndes Wirken ist.“95 Wesers Segenswünsche sind voller Geschlechterstereotypen. Der Rückgriff auf „natürliche“ Eigenschaften von Frauen, die sich im Dienste des Gemeinwohls engagieren könnten, zeigt Weser als Befürworter der zeitgenössisch diskutierten Frage um die Erwerbstätigkeit von Frauen, so der Beruf mit der „weiblichen“ Berufung in Einklang stünde. Die Krankenpflege empfiehlt er jüngeren, nicht verheirateten Frauen als Lebensinhalt und sich unausgefüllt fühlenden Ehefrauen und Witwen nicht als Profession, sondern als karitatives Engagement. Während Weser durch Verwendung von Geschlechterstereotypen vor allem professionelle Arbeit von Frauen legitimiert, sagt der vorletzte Abschnitt im Rittbergschen Text etwas über die persönliche Bedeutung ihres Berufslebens aus. „Statt dessen habe ich die schmerzensfreien Stunden dazu benutzt, meine Erinnerungen zu diktieren, hoffend daß dadurch für meinen Schwesternverein neues Interesse und neue Hilfe erwachse. Wie glücklich würde ich sein, wenn ich noch einigen meiner Schwestern die Alters-Versorgungs-Zusicherung überweisen könnte, indem erst 6 eine solche besitzen. In unserm Schwesternheim zu Neu-Babelsberg, welches im Jahre 1886 erbaut wurde und nun unser schuldenfreies Eigenthum ist, können 12 Schwestern wohnen.“96 Mit dieser Passage gibt Rittberg ihren Leserinnen eine andere Orientierung als Weser: ein schuldenfreies Haus, zwölf ‚Angestellte‘, sechs davon sogar im Alter versorgt. Hier spricht eine, die stolz auf ihre eigene und die gemeinsame Leistung gewesen ist.

2.3.4. Die subjektive Geschichtsschreibung und Geschlecht als Strategie Kennzeichen der ‚subjektiven Geschichtsschreibung‘ ist der retrospektive Blick auf die Vergangenheit, der das eigene, das gemeinsam mit anderen oder anderes Leben in enger Verbindung mit zeitgeschichtlich gewordenen politischen Ereignissen vergegenwärtigt. Eingefügte Briefe und Tagebucheintragungen – obschon auch in anderen Texten, so nicht ausdrücklich das Gegenteil vermerkt wird, durchaus vorhanden – unterstreichen den Charakter der Außenbezogenheit und Authentizität des Miterlebten oder zumindest des Dabeigewesenseins. Analoges Pendant ist hier die religiöse Autobiographie Anna von Kranes, deren Wechsel von Erzählung zu Lyrik Innerlichkeit und Authentizität des Gefühlten darstellt. Die Intention der Autorinnen ruht auf der Zeitgenossenschaft an für die deutsche Geschichte folgenreichen Ereignissen. Damit sind jene sowohl aus heutiger politikgeschichtlicher als auch damaliger zeithistorischer Sicht zum Nationalstaat führenden Ereignisse wie der Schleswig-Holstein-Konflikt 1848 und die „Einigungskriege“ von 1864, 1866 und 1870 / 71 bezeichnet. Die Verfasserinnen waren weder Politiker noch Historiker, jene durch ihre Stellung bevorrechteten Zeitkommentatoren, noch standen sie als Soldaten auf den Kampffeldern, um aus dieser Perspektive des Dabeigewesenseins erzählen zu können. Dennoch hatten und nahmen sie Anteil an den Geschehnissen, sei es 95 96

Ebd. Ebd., S. 74.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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als in umkämpften Gebieten Lebende, sei es als Familienangehörige von Soldaten oder sei es, daß sie die den Kriegen folgende Reichsgründung als bedeutsam erachteten. Sich als Zeitgenossin in einen Abschnitt deutscher Geschichte in die Autobiographik einzubringen, veranlaßte einige Frauen zum Rekurs auf Geschlechterdifferenzen. Die 1817 geborene Gräfin Baudissin, einem weitverzweigten oberlausitzischen Geschlecht entstammend und bürgerlich heiratend, schrieb 1897: „Ich liefere kein geschichtliches Bild, das geben nur Männer mit Geist und umfassenden Wissen. Ich schildere die Erlebnisse, die sich im engeren Kreis abspielten, zeige, wie der Einzelne und wie ganze Familien durch die politischen Verhältnisse gelitten haben. … Ich liefere keine folgerichtige Entwicklung; … Die Frauen sind nicht logisch, behaupten die Herren der Welt. Sie denken und handeln, wie die Laune oder ein Eindruck es verlangen. Ja, so ist es. … Es tritt eine Begebenheit vor mein inneres Auge, diese beschreibe ich, und aus dieser entwickelt sich wieder ein neues Bild. … So möge also der Leser über die Mängel dieser Blätter hinweg sehen, und sein Blick für das Gute, das darin enthalten ist, sich schärfen.“97 Baudissin stützt und begründet ihr autobiographisches Vorhaben durch Geschlechterzuschreibungen. Geschichte wird von Männern geschrieben, die Kraft ihres Intellekts einen Zusammenhang herzustellen in der Lage sind. Ihr als Frau fehlt diese Eigenschaft. Sie schreibt aus der Unmittelbarkeit der Erinnerung heraus, frei von Reflexion und Abstraktion. Aus heutiger Sicht mögen diese dichotomisch zugespitzten „Geschlechtscharaktere“ einerseits an eine Konterkarierung von Normen denken lassen. Doch Baudissin war keine sarkastische oder ironische, sondern ernste Erzählerin. Andererseits operiert Baudissin mit Topoi, die das Spektrum eines anderen, „weiblichen“ Schreibens aus der Sicht feministischer Autobiographieforschung kennzeichnen. Die These der Andersartigkeit dieser Autobiographik beruht auf der Prämisse, daß die Geschichte der Geschlechter in der symbolischen Ordnung durch die Hegemonie von „Männlichkeit“ gekennzeichnet ist, in der sozialen Ordnung ungleiche Lebensverhältnisse und Lebenschancen von Männern und Frauen existieren und durch diese sozial-kulturelle Bedingtheit Verhaltensweisen ausgeprägt werden, die in „weibliche“ und „männliche“ unterscheidbar sind. Formal würden Frauen im Gegensatz zu Männern ihre Lebensgeschichte eher „kaleidoskopisch“, assoziativ, disparat, statt teleologisch-linear und einheitlich erzählen. Inhaltlich stünde bei Frauen nicht die eigene Person im Vordergrund, sondern das Memoirisieren anderer, wobei der Erzählungsraum insbesondere das „Private“ thematisiere. Diverse Bescheidenheitstopoi unterstrichen dabei die Anspruchslosigkeit und Uneigentlichkeit des von Frauen erzählten.98 Für den vorliegenden Textkorpus kann nicht von einem grundsätzlich anderen, „weiblichen“ Schreiben ausgegangen werden. Der Vorsatz Paula von Bülows etwa, lose und unzusammenhängend schreiben zu wollen99, scheint vordergründig spezi97 98 99

Heiberg (1897), o. S. (Vorwort). Vgl dazu als Überblick den Sammelband von: Smith, Sidonie / Watson, Julia (Hgg.), Women, autobiography, theory: a reader, Madison u. a. 1998. Vgl. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 7.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

fisch „weiblich“, ist aber Resultat einer Abgrenzung gegen andere Formverstellungen des Autobiographischen. Selbst im 19. Jahrhundert, das wohl wie kein anderes „Geschlecht“, dabei das weibliche meinend, naturalisierte, biologisierte und als exakte wissenschaftliche Erkenntnis postulierte, entzieht sich das Subjekt Frau der Identifizierung mit „Geschlecht“. Das Insistieren Gräfin Baudissins auf Geschlechterdifferenzen verwundert deshalb, weil das explizite Thematisieren von Geschlecht in den Vorworten der Autobiographinnen sehr selten ist. Dieser Seltenheitswert macht wiederum die Frage interessant, in welchem Bereich Geschlecht ausdrücklich thematisiert wurde. Keine Rolle spielt es in den Vorworten der ich-zentrierten religiösen Autobiographik und in den Denkwürdigkeiten. Anders, doch selten der Fall, in der ich-zentrierten säkularen Autobiographie – hier schreibt Helene von Dönniges emphatisch: Sie möchte in eine Zukunft schauen, „in der das Weib der edle, gute und verständnisvolle Kamerad des Mannes sein wird. Nicht mehr angesehen als seine Haussklavin, oder sein Lust- und Vergnügungsinstrument – oder im noch schlimmeren Falle – seine Feindin.“100 An dieser Stelle fordert Dönniges eine freie, d. h. nicht vom anderen Geschlecht abhängige, den Männern gleiche Lebensführung für Frauen ein. In der Berufsautobiographie Gräfin Rittbergs ist es der Verfasser des Vorwortes, welcher „weibliche“ Eigenschaften bemüht, mithin die Differenz betonend, um Frauenerwerbstätigkeit zu legitimieren. Das Understatement im Vorwort Baudissins erhält durch eine Fußnote aus dem Jahr 1923 seine Berechtigung. In der Bibliographie „Die besten deutschen Memoiren“ schrieb Margit Westphal, die Autobiographien Meysenbugs und Brauns kritisierend: Sie „sind typische Frauenerinnerungen nicht ohne unbewußte Koketterie mit Um- und Nachwelt. Sie wollen Zeitgeschichte geben und erzählen doch nur von ihren berühmten Zeitgenossen, mit denen sie Berührung hatten und auf alle Weise zusammenzukommen suchten. Sie (die echten Frauentypen) haben ‚Geschichte‘ und ermöglichen sie in einer sehr indirekten Weise, aber sie sind – wenn man so sagen darf – nicht Geschichte, viel zu sehr vegetativ instinktiv dazu, und haben darum auch keinen Sinn für Geschichtsschreibung großen Stils.“101 Auch wenn das Thematisieren von Geschlecht in den Vorworten eher unüblich ist, scheint es dennoch kein Zufall zu sein, dieses in den Bereichen ich-zentrierter säkularer Autobiographik, den Berufsautobiographien und der subjektiven Geschichtsschreibung zu finden. Der gesellschaftliche Hintergrund dieser Autobiographik, die Idee des autonomen Subjekts, der Beruf als Konkretion von Selbständigkeit und Intellekt und die Geschichte, die von Großen gemacht wird, war hoheitlich in Theorie und Praxis eine Ange-

100 101

Dönniges (1909), o. S. (Vorwort). Die besten deutschen Memoiren. Lebenserinnerungen und Selbstbiographien aus sieben Jahrhunderten, hrsg. v. Margit Westphal, München / Berlin 1971, S. 58. [Unveränderter ND der Ausgabe von 1923, Leipzig] – Bemerkenswert an dieser Fußnote ist die Tatsache, daß sich Westphahl ansonsten bibliographisch und herausgeberisch betätigt und nur in diesem Fall zu einer langen Bemerkung ansetzt.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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legenheit von Männern. Baudissins Vorwort deutet darauf hin, daß die Verfasserin ihre Autobiographie als Grenzüberschreitung wahrnahm bzw. antizipierte, daß andere diese hätten als solche wahrnehmen können. Gleichermaßen war ihr an der Grenzüberschreitung gelegen. Sie grenzt ihren Text gegen die Geschichtsschreibung ab, aber nicht, um den eigenen als fiktionalen Text hervorzuheben, sondern um ein anderes Realitätsmodell zu entwerfen. Da Baudissin weder unlogisch noch ziel- und planlos erzählt, scheint ihr Rekurs auf „Geschlechtscharaktere“ einer Strategie zu folgen: Sie lobt „die Herren von Welt“ in ihrem Denken und ihren Taten und bestätigt deren Bild vom geistigen Unvermögen der Frauen, um sodann keine Siegergeschichte, sondern eine Art „Geschichte von unten“, die das Leiden von Personen und Familien an großen zeitgeschichtlichen Ereignissen thematisiert, der lesenden Öffentlichkeit präsentieren zu können. Adda von Liliencron (geb. 1844, geb. von Wrangel), aus preußischer Familie stammend, deren Männer traditionell im Militär dienten, veröffentlichte ihre „Erinnerungen einer Offiziersfrau“ 1912. Einleitend bemerkt sie, daß ihr die eigene Person „zu unbedeutend dünkt“, um darüber zu erzählen. Vielmehr soll ihr Leben „gewissermaßen den Rahmen bilden“, um die „Kriegs- und Siegerjahre“ zu erinnern und jene ihr Nahestehenden, die zugleich „ihrem Könige und Vaterlande zu solchen Zeiten treue Dienste geleistet haben.“102 Des weiteren will sie „Bilder aus dem Arbeitsfelde entrollen“ denn: „Wir Frauen haben wohl ein volles Verständnis für das Wort ‚Im Glücklichmachen liegt das Glücklichsein‘, … Wenn es [das Buch, M. K.] nun hinauszieht in die Welt, so gebe ich ihm dabei den innigsten Wunsch mit, daß es Herzen erwärmen möchte für das Wirken der deutschen Männer, die ich ihnen nahebringen will, und für die Liebesarbeit, die uns Frauen glück- und segenverheißend ihr weites Arbeitsfeld öffnet.“103 Nicht nur das Vorwort, sondern der gesamte Text präsentiert vornehmlich männliche Familienangehörige, zu denen sich die Verfasserin als weibliche Person in Beziehung setzt. Liliencron positioniert sich als Tochter eines Offiziers, Großnichte eines Offiziers, Ehefrau und Witwe eines Offiziers, Schwiegermutter eines Offiziers, deren Leben in verschiedenen, durch die Armee verordneten Garnisonsstädten Preußens verlief, bis ihr Mann den Dienst quittierte und ein Gut in der Oberlausitz kaufte. Liliencrons Absicht, von den König und Vaterland treuen deutschen Männern zu erzählen, meint konkret die Erzählung von Offizieren ihrer Familie, die ihren Beitrag zu den „Siegerjahre[n]“ geleistet haben. Anekdoten und Episoden, Charakterbilder und der Einschluß von Briefen und Tagebuchauszügen sind die von Liliencron verwendeten Mittel, die zugleich den Text strukturieren. Auf diese Weise erinnert die Verfasserin beispielsweise wenig aus ihren frühen Kindheitsjahren, sondern nutzt die Erzählzeit der ersten vier Kapitel (40 Seiten) dazu, dem Generalfeldmarschall von Wrangel, ihrem Großonkel, ein Denkmal zu setzen. Indem sich Liliencron dergestalt in den Zusammenhang von Helden begibt, – gerade der preußische Adel erfuhr aufgrund seiner militärischen Leistungen in den „Einigungs-

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Liliencron (1912), S. 3. Ebd., S. 4.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

kriegen“ einen Aufschwung an gesellschaftlichem Ansehen104 – partizipiert sie einerseits als Familienangehörige und Trägerin eines bestimmten Namens an deren Glanz. Andererseits trägt sie als Verfasserin des Textes dazu bei, diesen Glanz zu mehren. Mit der Geschichte ihrer männlichen Verwandten ist die „Liebesarbeit der Frauen“ verbunden. Während Liliencron bei den Männern bemüht ist, „ein Bild der Persönlichkeiten wiederzugeben, deren Namen der Geschichte angehörten“105, möchte sie von sich „Bilder aus dem Arbeitsfelde entrollen“. Analog zu den Berufsautobiographien steht nicht das Selbst, sondern das Handeln der Person in einem bestimmten Bereich im Vordergrund. Liliencrons „Liebesarbeit“ scheint dem Urteil, mit dem Westphal die Autobiographien Meysenbugs und Brauns nichtete, daß Frauen Geschichte nur sehr indirekt ermöglichen würden, aber keine schreiben, mithin machen könnten, zu entsprechen. Negiert Westphal die Aktivitäten von Frauen als tendenziell nicht autobiographiefähig, ist es Liliencron, die – bei aller Einhaltung der Konventionen – diese in ihrer Autobiographie hereinholt. Auch andere Frauen erzählen von ihrer geleisteten Arbeit. Bei Liliencron ist aber der gewählte explizite Zusammenhang besonders sinnfällig. Die von ihr als Offiziersfrau geleistete Arbeit für den Vater, den Ehemann und das Gemeinwohl steht im Kontext der „großen“ Geschichte, d. h. jenen „Siegerjahren“, zu denen die männlichen Familienmitglieder beitrugen. Nicht jede, aber die Liebesarbeit, somit Geschlechterdifferenzen bekräftigend, erfährt darüber eine Aufwertung.106 Es ist festzustellen, daß Geschlecht und Familie dominierende Faktoren des autobiographischen Gebrauchs sein können, sofern von der Verfasserin ein spezifischer Erzählkontext ins Auge gefaßt wird, der ohne den Rückgriff auf diese womöglich nicht zu realisieren wäre. Der Text Adda von Liliencrons steht exemplarisch für diese Möglichkeit. Um die Kriege von 1864, 1866 und 1870 / 71 als „Siegerjahre“ zu bezeichnen, bedurfte es eines Einverständnisses mit dem Resultat. Um den Eigenanteil an diesem Ergebnis erzählerisch zu vermitteln, war es zeitgenössisch und lebensgeschichtlich sinnvoll, sich als preußische Offiziersfrau zu präsentieren. Liliencron fokussiert Zugehörigkeit zu zwei Gruppen (Geschlecht und Familie), weil die Aktualität der „Siegerjahre“ sich in ihren Augen plausibel mit dem Wirken ihrer männlichen Familienangehörigen und ihrer Vorstellung vom ‚Frau-Sein‘ verbinden ließ. Für die Verfasserinnen der subjektiven Geschichtsschreibung wurde die Autobiographik zu einem Raum, ihr Dabeigewesensein, ihr Miterleben und ihre Erfahrungen an und mit den „großen Ereignissen“ zu artikulieren. Das Thematisieren von Geschlecht diente dabei einer an den Verhältnissen leidenden Familiengeschichte bzw. – Liliencrons Liebesarbeit kündet davon – verwies auf den Anspruch, daß Frauen in ihrem „weiblichen“ Aktionsradius an der Gestaltung von Verhältnissen teilhatten. Von der damaligen profes104 105 106

Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 805f. und 1277. Liliencron (1912), S. 18. Zu Geschlechterdifferenzen im 19. Jahrhundert vgl. grundlegend: Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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sionellen Zeitgeschichte unberücksichtigt, fanden diese, heute nahezu klassischen Themen historischer Forschung Eingang in die Autobiographik.

2.3.5. Die Frauen aus regierenden Häusern – Autobiographik zwischen Distanz und Entdeckung Insofern die individuellen Gebrauchsweisen des Autobiographischen das bisherige Vorgehen bestimmten, scheint es wenig sinnvoll, die im Textkorpus versammelten Erinnerungen von Frauen aus regierenden bzw. aus regierungsfähigen Häusern gesondert zu betrachten. Es dennoch zu tun, trägt dem Umstand Rechnung, daß die Veröffentlichung autobiographischer Schriften traditionell nicht zur üblichen Praxis von Frauen aus regierenden bzw. aus regierungsfähigen Häusern gehörte. Nicht, daß sie nicht geschrieben hätten, aber zu ihren Lebzeiten haben sie nicht veröffentlicht. Für den deutschsprachigen Raum ist derzeit zu vermuten, daß Frauen aus regierenden Häusern vor 1900 kaum Lebenserinnerungen veröffentlicht haben.107 Zu einem Zeitpunkt, als die Autobiographik populär geworden war und sich auch deshalb jene eigentlich an der Gattung bevorrechtigt partizipierenden SchriftstellerInnen dem autobiographischen Roman zuwandten, betraten Frauen das „Feld“, die qua Geburt einem regierenden bzw. regierungsfähigen Haus angehörten, welches Vorrang und Exklusivität beanspruchte. Was veranlaßte gekrönte Häupter zum Eintritt in eine durch Masse profan und populär gewordene Gattung? Im Grunde heben sich die Texte solcher Frauen nicht vom bisher fokussierten autobiographischen Spektrum ab, das heißt, sie bilden keine eigene Gruppe, in der Inhalt und Form des Geschriebenen nahtlos an den hohen Stand der Verfasserinnen anknüpfen könnte. Allenfalls kann man feststellen, daß bestimmte Kennzeichen der Autobiographik aufgrund des hohen Standes in besonderem Maße zur Geltung kommen. Als die Erzherzogin von Österreich und Gattin des sächsischen Thronfolgers Friedrich August, Luise von Toscana (geb. 1870), 1902 vom Dresdner Hof flüchtete, um der befürchteten Einweisung in eine Anstalt zu entgehen, sorgte sie für einen der größten Skandale um die Jahrhundertwende.108 Mit der Herausgabe ihres Buches „Mein Lebensweg“ neun Jahre später versuchte sie, sich gegen Verleumdungen und Anschuldigungen zur Wehr zu setzen. 1881 heiratete Prinzessin Stephanie von Belgien (geb.1864) den österreichischen Kronprinzen

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Die Vermutung stützt sich auf die Durchsicht der für diese Arbeit genutzten „Quellenautobiographie autobiographischer Schriften von Frauen“ von Eda Sagarra. Zwar sind hier Schriften von Frauen aus regierenden Häusern verzeichnet. Doch diese bezogen sich zumeist auf das 18. Jahrhundert und wurden erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, dem Trend eines Interesses an „großen Frauen“ der Vergangenheit folgend, durch Herausgeberschaft einem breiteren Publikum zugänglich. Vgl. das Nachwort von Lorenz Mikoletzky und Anhang mit zeitgenössischen Zeitungskommentaren in: Toscana, Luise von, Mein Lebensweg (1911), Dresden 1997, S. 227–251 und allg.: Leitner, Thea, Skandal bei Hof: Frauenschicksale an europäischen Königshöfen, München / Zürich 1995.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

Rudolf. Der gewaltsame Tod Rudolfs und seiner Geliebten Maria Vetsera in Mayerling 1889 erschütterte die Habsburger-Monarchie. Enthüllungen und Verhüllungen führten zügig zur Legendenbildung. Als sich die letzte Kronprinzessin Mitte der 1930er Jahre entschloß, ihre Erinnerungen herauszugeben, um ihre Sicht auf die Ereignisse anklingen zu lassen, war sie die einzige noch lebende Nächstbeteiligte. Autobiographien leben in gewisser Weise vom Bekanntheitsgrad ihrer Verfasserinnen. Luise von Toscana sollte Königin, Stephanie von Belgien sollte Kaiserin werden, und beide wurden aufgrund dramatischer Umstände weder die eine noch die andere. Solchen „Schicksalen“ mit ungewöhnlicher Fallhöhe mangelt es nicht an Publikumsinteresse. Beide Frauen erzählen vergleichbar vom Glanz und Elend eines Prinzessinnenlebens bei Hofe, das in allem darauf ausgerichtet war, „eine fortwährende Vorbereitung auf ihr[e] künftige Stellung“109 zu sein. Diesem gemeinsamen Ausgangspunkt folgen zwei verschiede Erzählungen. Im Vorwort schreibt Luise von Toscana: „Es ist mir jedoch nahegelegt worden, daß, da meine Söhne demnächst das Alter erreichen, in dem ihnen möglicherweise jene lügenhaften Beschuldigungen mitgeteilt werden könnten, es meine Pflicht ist, die Gründe zu veröffentlichen, die mich veranlaßten, Dresden zu verlassen, und die zu meiner Verbannung aus Sachsen führten. Dieses ist der Hauptgrund, daß ich meine Darstellung der Tatsachen bekannt mache.“110 Die betont sachliche Sprache, welche Wahrheit und Verantwortung suggeriert, täuscht nicht darüber hinweg, daß hier in erster Linie eine Rechtfertigung vorliegt. Selbstverständlich hätte sie niemals eine Affäre mit dem Hauslehrer ihrer Kinder gehabt, diese Behauptung sei Ergebnis eines Komplotts einiger Angehöriger des sächsischen Hofes und der Königsfamilie, die sich nicht damit abfinden wollten, daß sie, Luise von Toscana, bald Königin der Sachsen sein würde. Grund der Intrige seien ihre Unabhängigkeit und Individualität, die sich nicht in die geforderten Zwänge und Formen pressen ließen, weshalb die künftige Königin die Monarchie gefährdete. Um ihre unerhörte Handlung zu erklären, beruht Toscanas Erzählung auf der permanenten Polarität von sozialer Stellung und damit verbundenen Anforderungen und Erwartungen einerseits und andererseits einem Ich, dessen Ansprüche beständig mit der sozialen Stellung kollidieren. Dieser klassische Grundkonflikt, wie er sich in der ich-zentrierten Autobiographik als Identitätsfrage gestaltet, wird von Toscana erzählerisch nicht ausgefüllt. Sie würde ihre Flucht gern mit einem Recht auf Individualität oder zumindest einem Eigenleben jenseits höfischer Zwänge begründen und bleibt dennoch in der Behauptung stecken: „Mein innerstes Ich versuchte stets die Oberhand über Äußerlichkeiten und Zeremoniell zu erreichen, …“111 Diese oberflächliche Äußerung steht exemplarisch für einen ich-zentrierten Text, in dem die Identitätsfrage nicht zum Tragen kommt, und somit die Autobiographie in der Apologie gefriert.

109 110 111

Toscana (1911 / 1997), S. 23. Ebd., o. S. Ebd., S. 24.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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Während Luise von Toscana dem Glanz und Elend bei Hofe entfloh, nahm Stephanie von Belgien die Herausforderung an und stellte sich der Aufgabe, eine künftige Kaiserin zu sein. Ihre Einwilligung in das Ehe-Arrangement der Häuser Sachsen-Coburg-Gotha und Habsburg stellt sie als Gespräch zwischen Eltern und Tochter und gewährter Bedenkzeit dar, an deren Ende die damals 15jährige zu dem Ergebnis gelangte: „Ich fühlte, daß es meine Bestimmung war, mich eines Tages den Pflichten einer Fürstin zu weihen. Der Gedanke an die hohe Sendung … erfüllte mich mit heißer Sehnsucht.“112 Die Autobiographie Stephanie von Belgiens ist durchaus als Berufsautobiographie zu lesen. Sie konzentriert sich zeitlich auf die Jahre des Kronprinzen-Paares 1882 bis 1889, thematisch stehen die Aufgabenbereiche des Paares im Vordergrund. Dazu gehörten ausgedehnte Reisen, um Land und Leute kennenzulernen, die Einübung in Repräsentationspflichten und die Übernahme kleinerer politischer Aufträge ebenso wie das nichtrealisierte Unterfangen, die Dynastie durch die Geburt eines Sohnes zu sichern. Die Verfasserin präsentiert sich dabei als eine von Kaiserin und Kaiser akzeptierte und von der Bevölkerung geliebte Kronprinzessin und verfügte somit nicht über die schlechtesten Voraussetzungen für ihre zukünftige Stellung. Diese Vita wurde durch den Selbstmord des Kronprinzen willkürlich unterbrochen. Im Rückblick der Gattin erscheint diese Tat als Folge „rastloser Lebensweise“ und der „Haltlosigkeit seines Wesens“113. Der Text ist vom stillen bis lauten Vorwurf durchzogen, um eine angestrebte Lebensstellung gebracht worden zu sein: Die Kondolenzschreiben „bildete[n] den deutlichen Beweis, welche Stellung der Kronprinz und ich in den Herzen der Bevölkerung eingenommen hatten. Ganz Österreich-Ungarn wollte von seinem zukünftigen Kaiser, aber auch von seiner zukünftigen Kaiserin Abschied nehmen.“114 Am Textende heißt es dann: „Als ich von Miramare nach Wien zurückkehrte, …, war ich eben fünfundzwanzig Jahre geworden. … Am Wiener Hof begann man meine Existenz für überflüssig zu finden. Man versuchte, mir den letzten Platz bei Hof anzuweisen.“115 Stephanie von Belgien nannte ihre Erinnerungen „Ich sollte Kaiserin werden“, sie hätte ebenso vom Wollen sprechen können. Die Apologie folgt dem Erzählmuster „feindliches Umfeld vs. unschuldig Beschuldigte“, die Berufsautobiographie ist eine Erfolgsgeschichte bzw. handelt von der unschuldig um den Erfolg gebrachten Person. Von Prinzessinnen genutzt, mochten die Muster „geadelt“ worden sein, veränderten sich aber nicht. Beide Frauen nahmen für ihre Erinnerungen fremde Hilfe in Anspruch. Luise von Toscana stand eine englische Schriftstellerin namens Maud Mara Chester ffoulkes zur Seite.116 Graf und Gräfin Gatterburg halfen der habsburgischen Kronprinzessin beim Ver-

112 113 114 115 116

Belgien (1935), S. 62. Ebd., S. 172, S. 214. Ebd., S. 209. Ebd., S. 223f. Vgl. Toscana (1911 / 1997), o. S. (Vorwort) u. S. 228.

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

fertigen der Erinnerungen, indem sie monatelang Material sichteten, dieses zu einem Buch verdichteten und die Verhandlungen mit den Verlagen führten.117 Der Aspekt der Zuhilfenahme zeigt die Distanz dieser Adeligen zur Gattung. Nicht nur die „großen Herren“, sondern auch die ‚großen Damen‘ übten sich in einer persönliche Souveränität signalisierenden Praxis, die Peter Stadler etwas lakonisch kommentiert: „Grosse Herren schrieben nicht, sie diktierten oder erzählten in loser Gesprächsform; Sache eines Schreibers oder auch mehrere war es dann, das Gesagte aufs Papier zu bringen.“118 Daß man als Person eines regierenden bzw. ehemals regierenden Hauses generell Distanz zur Gattung wahren sollte, bekam Stephanie von Belgien zu spüren. Ihre ‚Koautorin‘ Gräfin Gatterburg erinnerte sich: „Die Arbeit ging schneckenhaft langsam voran, … Sie verteidigte jeden Satz. … Tage wurde um eine Fassung gekämpft.“119 Als legitimistische Kreise Wiens von der geplanten Veröffentlichung erfuhren, versuchten sie, die Prinzessin abzuhalten. „Von den Monarchisten angegriffen, …, verlor die Prinzessin den Mut. Im letzten Augenblick kürzte sie ihr Buch um wesentliche Teile.“120 Die traditionelle Gattungs-Absenz mochte in einem Selbstverständnis gegründet gewesen sein, daß es die Untertanen nicht zu interessieren habe, was in den Köpfen Regierender vorgeht. Entstehung und Veröffentlichung des Textes Stephanie von Belgiens verdeutlichen, daß man gelernt hatte, die Gattung als ein öffentliches Forum zu betrachten, in dem Meinungen gebildet und Deutungskämpfe ausgefochten wurden. Reagierten die österreichische und die sächsische Kronprinzessin mit ihren Texten auf vorangegangene Skandale, stehen die Autobiographien von Fürstin Marie zu ErbachSchönberg, geb. Prinzessin von Battenberg, und der deutschen Kronprinzessin Cecilie aus dem Hause Mecklenburg-Schwerin im Zeichen des untergegangenen Kaiserreiches. Gattungsgeschichtlich kristallisierte sich die Autobiographik der Weimarer Republik zu einer „Weltanschauungs- und Weltordnungs-‚Dichtung‘ “121 heraus, in der Schreibende und Lesende vor der Folie der Ergebnisse des 1. Weltkrieges nach Lebensorientierungen und kulturellen Leitbildern suchten und Gesellschaftsdiagnosen formulierten. In diesen Zusammenhang schrieben sich die Fürstin und die Kronprinzessin ein, die faktisch zur Gruppe der unmittelbar Entmachteten gehörten. Die für den Adel als Gruppe einschneidende Zäsur von 1918 / 19 zeigt sich im vorliegenden Textkorpus insbesondere bei den Denkwürdigkeiten und der subjektiven Geschichtsschreibung, die beide aufgrund ihrer Hinwendung zu äußeren Geschehnissen prädestiniert sind, die geschichtliche Welt zu interpretieren. Dem eher nostalgischen Rückgriff auf die Zeit vor 1918 bei den Denkwür-

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Vgl. Stockhausen, Juliana von, Im Schatten der Hofburg. Gestalten, Puppen und Gespenster. Aus meinen Gesprächen mit Prinzessin Stephanie von Belgien, Heidelberg 1952, S. 11, 25, 29. Stadler, Peter, Memoiren der Neuzeit. Betrachtungen zur erinnerten Geschichte, Zürich 1995, S. 17. Stockhausen, Im Schatten der Hofburg, S. 35. Ebd., S. 13. Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur, S. 551.

2.3. Wir-Geschichten und Geschichten anderer

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digkeiten steht in der subjektiven Geschichtsschreibung ein Rückblick gegenüber, der stärker durch eine kämpferische Haltung gegenüber der Republik gekennzeichnet ist.122 Für Fürstin zu Erbach-Schönberg und Kronprinzessin Cecilie bedeutete der Wendepunkt deutscher und adeliger Geschichte eine Zeit „der erschütternden Tragik“123 Noch aus der Perspektive von 1930 schreibt die Kronprinzessin: „So kam das Furchtbarste, was Deutsche in zweitausendjähriger Geschichte erlebt haben. Es kam die Revolution. Es kam der Waffenstillstand. Es kam schließlich das Diktat von Versailles. Diese Ereignisse sind so tragisch, daß es mir noch heute nicht möglich ist, darüber zu sprechen.“124 Insofern lassen sich beide Texte als Anschreiben gegen eine auf den Verlust aller bisherigen Lebensgewißheiten und -gewohnheiten gründenden Sprachlosigkeit verstehen. Als Fluchtpunkt zur Überwindung dieser Sprachlosigkeit projiziert Erbach-Schönberg eine im Vergleich zur Gegenwart überschaubare Zeit der Kindheit und Jugend, während die Kronprinzessin am Beispiel ihrer Autobiographie das Leitbild und die Lebensorientierung an einer patriarchalischen Ordnung entwirft. Im Falle Erbach-Schönbergs läßt sich die Entdeckung des Lesepublikums aufzeigen. „Die dunklen Riesenflügel der Gegenwart und Zukunft beschatten die Heimathöhe meiner Seele. Reines Licht aber erstrahlt mir aus der Kinder- und Jugendzeit. Ihr gelte das, was ich in diesen Zeilen niederlege, und denen, die damit verwoben waren. Vor allem aber den vielen, die mir in die Ewigkeit vorangingen.“125 In dem 1920 erstmals erschienenen ersten Band ihrer Lebenserinnerungen hat die Fürstin ihr aus der Vergangenheit persönlich bekannte Adressaten vor Augen. Den 1923 erschienenen zweiten Band leitete sie mit folgenden Worten ein: „Oft schon seit der Herausgabe meines Kindheitsbuches ‚Entscheidende Jahre‘ habe ich mir die Frage gestellt: soll ich, wie viele es wünschen und mir aussprachen, weiter schreiben an meiner Lebensgeschichte? Ich kann wohl sagen, daß mir noch nie im Leben so viel spontane warme Liebe entgegengebracht wurde, auch von ganz Fernstehenden und Unbekannten, als seit dem Erscheinen dieses kleinen Buches. – Es war mir, als strömten weiche, sehnsuchtsvolle Melodien wie ein Echo daher, und als erklängen in vielen Herzen wie auf Harfensaiten Erinnerungen an das Beste und Reinste im Erdendasein: unser Kinderland. … Wie die Edelsteine soll aber die Liebe leuchten, die ich meinen lesenden Weggenossen bieten möchte.“126 In der Darstellung der Fürstin findet eine über das Lesepublikum hervorgerufene Verschiebung des Adressatenkreises statt. Aus einem gerichteten Schreiben für sich und wenige andere wird ein Schreiben für viele andere, konkret gefaßt als „meine lesenden Weggenossen“. Diese Vergemeinschaf122

123 124 125 126

So etwa bei Alberta von Puttkamer (1919), o. S. (Vorwort): „All das Herrliche, das man erlebte, …, ist ins Leere zurückgefallen, als wenn es nie gewesen wäre. Die Lebensarbeit bedeutender Männer vernichtet, ausgestrichen aus dem Lebensbuch! Ausgestrichen? Nein! Diese furchtbare Tragik wird nur eine zeitlich begrenzte sein …“ – Zum Wandel von Aggressivität und Nostalgie in Lebenserinnerungen Adeliger vgl.: Funck / Malinowski, Masters of Memory, S. 86–103. Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 2. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 217. Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 2. Erbach-Schönberg, Aus stiller und bewegter Zeit (1923), o. S. (Vorwort).

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

tung vom Ich zum Wir, initiiert durch die anderen, gründet in der von Erbach-Schönberg gedachten, Differenzen negierenden Gemeinsamkeit „unser Kinderland“. Der Rekurs auf die teilnehmenden Leserinnen und Leser ist einerseits strategisch zu werten, da darüber die Fortsetzung der Lebenserinnerungen legitimiert wird. Andererseits schreibt hier eine Angehörige des entmachteten Adels in einer Zeit unsicherer gesellschaftlicher und ungesicherter politischer Verhältnisse. Die Entdeckung eines Publikums kommt hier der Entdeckung der Gattung und ihren Möglichkeiten gleich. Die Autobiographie ist der Fürstin nicht nur Medium der Selbstvergewisserung, sondern ein Medium, mit dem sich Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen bisher „Fernstehenden und Unbekannten“ herstellen lassen. Über die Beschwörung des „Kinderlandes“ soll der Text als einigendes Band zwischen ehemals Regierenden und Regierten fungieren. Während Erbach-Schönberg unter dem Eindruck radikal veränderter Verhältnisse die Nähe zum ‚Volk‘ über die Kindheit als Gemeinsamkeit stiftendes Element sucht, steht die Autobiographie der Kronprinzessin im Zeichen der Wertorientierung in „Zeiten der Stürme und allgemeine[n] Schwankungen“.127 Der Mensch dürfe „gewisse Grundsätze […] nicht ableugnen, sonst gerät er selbst ins Schwanken und verliert in der Wirrnis der Meinungen und Auffassungen den inneren Halt, bis sie ihn schließlich verschlingen. Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich die Geschehnisse meines Lebens sich vor mir abrollen.“128 Als oberstes Leitbild und Orientierung für den „inneren Halt“ bietet Cecilie sich und dem Lesepublikum ein patriarchalisches Ordnungsmodell an, das sich als roter Faden durch die Lebenserinnerungen zieht. Die geordnete Ungleichheit wird von ihr sowohl auf die gesellschaftlichen und familiären Beziehungen als auch auf die Beziehungen von Individuen untereinander bezogen. Der Mecklenburger Verhältnisse gedenkend, schreibt sie: „Dieser freie Verkehr zwischen dem Landesherren und seinem Volke hat in Mecklenburg zu dem schönsten patriarchalischen Verhältnis geführt, das man sich denken kann.“129 Die engere Familie des russischen Großvaters, Großfürst Michael Nikolajewitsch, charakterisiert sie: „Es war ein natürliches und vertrauensvolles, echt patriarchalisches Verhältnis zwischen Vater und Kindern und zwischen den Kindern untereinander.“130 Dieses Verhältnis nimmt Cecilie auch für sich und ihren Bruder in Anspruch: „Nach den Hausgesetzen wurde er auch mein Vormund, und dieser Umstand hat wohl auch mein Verhältnis zu ihm, das seit jeher besonders vertrauensvoll war, noch inniger gestaltet.“131 Adelsherrschaft beruhte jahrhundertelang, wie die Macht der Institution Kirche, auf einer patriarchalisch verfaßten Gesellschaft. Diese auf Recht, Sitten und Gebräuchen basierende Ordnung, in welcher dem in der Regel männlichen Familienoberhaupt im engeren und weiteren Sinn Herrschaftsrechte und Fürsorgepflichten zustanden, ist für Kronprinzessin Cecilie der Fokus ihrer Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1930. Schrieb 127 128 129 130 131

Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 221. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 130. Ebd., S. 71.

2.4. Zusammenfassung

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das männlich-bürgerliche Ich in der sog. eigentlichen Autobiographie um 1800 gegen solcherart Bevormundung an, nahmen bürgerliche und adelige Frauen diesen Faden seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder auf, präsentiert sich Cecilie vor dem Hintergrund von Umbruchserfahrungen und Machtverlust als Person, der das Eingebettetsein in eine quasinatürliche Gemeinschaft, welche adeligen Vorrang und ständische Vorrechte beinhaltete, von großer Bedeutung gewesen ist. Der Text der Kronprinzessin ist neben jenem Adda von Liliencrons einer, der wesentlich durch die Identifikation der Verfasserin zu ihrer familiären Herkunft geprägt ist. Die „Internationale“ der Aristokratinnen und Aristokraten kannte sich untereinander, bildete gewissermaßen ein geschlossenes Netzwerk, dessen Funktionieren durch permanent eingegangene Familienverbindungen gewährleistet wurde. Diese Gruppe bedurfte der Autobiographie nicht zur kollektiven Verständigung, sondern man traf sich zu Hauptund Staatsaktionen und Festen in den europäischen Hauptstädten oder in den jeweiligen Sommerresidenzen. Die Entstehung der Autobiographie der österreichischen Kronprinzessin Stephanie zeigt die Distanz zur Gattung. Daß Frauen aus regierenden Häusern diese dennoch nutzten, ist nicht von der Popularität der Gattung zu trennen. Luise von Toscana suchte als verstoßene Aristokratin die Chance, ihre Handlung vor einer lesenden Öffentlichkeit zu rechtfertigen und sich durch diese zu rehabilitieren. Im Gegensatz zu dieser Praxis haben sich Erbach-Schönberg und Kronprinzessin Cecilie stärker als Standesvertreterinnen eingeschrieben. Als solchen waren ihnen nach 1918 die Untertanen abhanden gekommen. Diese zumindest auf der Ebene des Verstehens ‚zurückzuerobern‘, scheint ein wesentliches Motiv gewesen zu sein. Dabei suchte Erbach-Schönberg über die Gemeinsamkeit „Kindheit“ eine Vergemeinschaftung mit dem Lesepublikum, während Cecilie diesem eine Gemeinschaft anbot. Der Untergang der Monarchie trug hier zur Entdeckung eines öffentlichen Erinnerungs- und Kommunikationsraumes bei, in welchem Frauen aus ehemals regierenden bzw. regierungsfähigen Häusern mit anderen um die ‚richtige‘ Weltdeutung konkurrierten.

2.4. Zusammenfassung Ausgangspunkt der Darstellung war die Kritik an der historischen Adelsforschung, welche in der Absicht, dem bürgerlichen ein adeliges Kulturmodell entgegenzusetzen, Autobiographien Adeliger als „Sondergruppe“ der Gattung behauptet hat. In der bürgerlichen Autobiographie gelangten Individualität und Innerlichkeit zur Darstellung, demgegenüber zeichne sich die adelige Autobiographie durch die Einbettung des Ichs in einen äußeren Rahmen von Werten, Traditionen und Bindungen aus. Funck und Malinowski haben damit eher normativ auf Ergebnisse der Bürgertumsforschung geantwortet, die ihrerseits normativ verfährt. Beide Zugänge zur Autobiographie als historische Quelle lassen dabei die gattungsgeschichtliche Entwicklung außer Acht. Diese beschreibt vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert einen Wandel der Darstellung: Der Versuch der Selbster-

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

kundung transformierte zur Welterkundung, womit eine Pluralisierung von Darstellungsformen und -mitteln einherging. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts partizipierten Menschen aus relevanten Sozialgruppen an der Autobiographie. Der exklusive Zugriff von vornehmlich bürgerlichen Künstlern, Gelehrten und Dichtern hatte sich aufgebraucht. Charakteristisch für die Autobiographik um 1900 war nicht der Aufbruch zu „Fahrten ins eigene Ich“ durch wenige, sondern die Aneignung und Deutung von Welt durch viele. Was vorgeblich eine Adelsautobiographik kennzeichnen soll, kennzeichnet den Stand der Gattungsgeschichte einer bestimmten Zeit. Erst auf diesem Hintergrund kann die Frage nach möglichen Eigenheiten adeligen autobiographischen Schreibens produktiv gestellt werden. Anstelle eines normativen Zugangs zur Quelle Autobiographie, welcher die schreibende Akteurin an ihre soziale Herkunftsgruppe dergestalt bindet, daß die erwartbaren Verhaltensweisen einer Gruppe umgehend an die Akteure rückgekoppelt werden, wurde hier eine hermeneutische Herangehensweise gewählt, welche die konkreten Gebrauchsweisen des Autobiographischen in den Vordergrund rückte. Darüber wurde deutlich, daß sich adelige Verfasserinnen eindeutigen Zuordnungen entziehen, weshalb zur begrifflichen Orientierung „soziale Positionierung“ erarbeitet und vorgeschlagen wurde. Dieser Begriff setzt an der Schreibgegenwart der Verfasserin an und trägt damit dem Umstand Rechnung, daß Personen sich situativ und aktuell in jeweils relevanten Zusammenhängen verorten, wodurch die Erinnerungen an das eigene Leben ihre Prägungen erhalten. Das bedeutet, adelige Frauen konnten, wie andere Verfasserinnen auch, ihr Leben in enger Bindung an ihre soziale Herkunft darstellen, mußten es aber keineswegs. Die Präsentationsformen der Gebrauchsweisen des Autobiographischen fallen entsprechen vielfältig aus. Vor dem Hintergrund und im Zusammenhang mit dem gattungsgeschichtlichen Stand um 1900 läßt sich der Quellenkorpus nach ich-zentrierten Texten vor religiösem und säkularem Sinnhorizont ordnen und nach Wir-Geschichten bzw. Geschichten anderer, die in Denkwürdigkeiten, Berufsautobiographien und subjektive Geschichtsschreibung unterteilt wurden. Da eine ausführliche Zusammenfassung der ich-zentrierten Texte bereits erfolgte, soll folgendes genügen: Diese Textgruppe ist am weitesten entfernt von jener „Sondergruppe“, die Funck und Malinowski für den Adel beanspruchen und entspricht weniger dem Mainstream der Gattungsgeschichte um 1900, sondern ähnelt der von männlichen Bürgern getragenen „klassischen“ oder „eigentlichen“ Autobiographie um 1800. Der Rückgriff auf eine bereits tradierte Form entsprach der Gleichartigkeit des Themas, nämlich eine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu suchen. Adeligen Frauen, die sich mit der Identitätsfrage auseinandersetzten, war gemeinsam, daß sie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, seinen Ansprüchen und ihren Anforderungen als problematisch und konfliktreich zur Darstellung brachten. Geschlechterspezifisch ist hier festzustellen, daß adelige Frauen (wie bürgerliche Frauen) die Möglichkeit autobiographischer Darstellung erst nach der Jahrhunderthälfte, das heißt ‚verspätet‘, nutzten. Bei einigen Frauen kann von einem Sonderbewußtsein gesprochen werden, ihre Probleme mit der Gesellschaft wurden als Probleme einer weiblichen Individualität artikuliert.

2.4. Zusammenfassung

93

Auf die Wir-Geschichten bzw. Geschichten anderer und deren Unterteilungen könnten historische Adels- und Frauenforschung und die Literaturgeschichte gleichermaßen ihren Anspruch geltend machen, daß es sich jeweils um etwas Typisches handelt. Und zwar über die Feststellung, daß das Ich in der Autobiographie sich selbst nicht Gegenstand ist. Diese Autobiographik wäre adelstypisch, weil das Ich, positiv gegen das bürgerliche Ich konnotiert, ein in Gemeinschaft seiendes ist, sie wäre frauenspezifisch, weil die Dominanz männlicher Subjektvorstellungen dem „Weiblichen“ nur mehr den Status des NichtIch zuerkennt, und sie wäre typisch für die Autobiographie um 1900, weil die entzauberte Welt die Unverwechselbarkeit des Individuellen als Illusion entlarvt hat. In vielen Fällen zeigen die Vorworte, daß sich die Verfasserinnen für Möglichkeiten autobiographischen Schreibens entschieden. Das stärker dezentral wie zentral situierte autobiographische Ich zeugte zuerst von einem Gattungsbewußtsein. War dem nicht so, wie für Kronprinzessin Stephanie festzustellen, sorgten andere für eine angemessene Form, die jedoch der Zustimmung der Prinzessin bedurfte. Denkwürdigkeiten wurden von Frauen verfaßt, die im Vergleich zu anderen ihrem Ich gleichsam interesselos begegneten. Statt dessen waren Erinnerungen als solche interessant, hervorgerufen durch den Eindruck, in einer Zeit gelebt zu haben, die in der Schreibgegenwart – besonders deutlich nach 1918 – ganz zur Vergangenheit gehörte. Die Aufhebung der Vergangenheit in Geschichten für ein gegenwärtiges und zukünftiges Publikum und für die Schreibende selbst ist charakteristisches Merkmal dieser Texte. Die Berufsautobiographinnen präsentierten sich in ihrem Tätigkeitsfeld und ihrer Tätigkeit. Gräfin Rittbergs Erinnerungen verdeutlichen dabei die Zweistimmigkeit und Zweischneidigkeit einer Identifikation mit dem Beruf durch eine Frau. Die Autorin ließ das Vorwort von einem Freund schreiben, der von den Umständen erzählt, wann eine Frau dann doch einen Beruf ausüben kann, während Rittbergs Haupttext den Stolz über die geleistete Arbeit zum Ausdruck bringt. Nahm er Rekurs auf den gesellschaftlichen Diskurs um Frauenerwerbstätigkeit, sprach sie von den persönlichen Erfahrungen mit ihrem Beruf. Im Vordergrund der subjektiven Geschichtsschreibung standen Bezugnahmen zu relevanten Ereignissen der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert. Sich selbst und andere mit der „großen Geschichte“ zu erzählen führte in einigen Fällen zu einem autobiographischen Gebrauch, für den die Verankerung der Person in die Zusammenhänge von Geschlecht und Familie relevant gewesen ist. Adda von Liliencron fokussierte vornehmlich die Reichseinigungskriege, die sie aus der Sicht einer preußischen Offiziersfrau als Siegerjahre erinnerte. Sie präsentierte ihre männlichen Familienmitglieder als selbstlos kämpfende Offiziere für König und Vaterland und sich als selbstlose Dienerin, die in der „Liebesarbeit“ für das Gemeinwohl aufgeht. Geschlecht fungiert hier als Mittler zwischen „großer“ und „kleiner“ Geschichte und verdeutlicht auf diese Weise Liliencrons Absicht. Nicht nur die Männer, auch die Frauen ihrer Familie machten sich um das Gemeinwesen verdient. Tendiert die ich-zentrierte säkulare Autobiographik dazu, das Ich als autonomen Teil eines Ganzen zu präsentieren, wohnt der subjektiven Geschichtsschreibung inne, daß das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem auf der Ebene eines überindividuellen sozialen

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2. Die Gebrauchsweisen des Autobiographischen und ihre Präsentationsformen

Zusammenhanges wie Geschlecht und Familie hergestellt wird. Äußerungen, daß das eigene Leben zu unbedeutend sei, um erzählt zu werden, weisen bei allem Understatement darauf hin, daß die Bezugnahme zu den „großen“ Ereignissen nicht über das „kleine“ Ich sinnvoll vergegenwärtigt werden konnte, sondern über dessen Einbettung in die nächsthöhere Instanz sozialer Gruppen erfolgte. Frauen aus regierenden bzw. regierungsfähigen Häusern nutzten, wie man aufgrund der exponierten Stellung denken könnte, die Gattung sowenig einheitlich wie andere Adelige. Das Besondere liegt nicht im Gebrauch und der Präsentation, sondern im Moment des Eintritts in die Gattung um 1900. Zwischen Distanz und Entdeckung nahmen diese Frauen erstmalig zu Lebzeiten das öffentlichkeitswirksame Medium „Autobiographie“ wahr.

3.

Von den Möglichkeiten der Familie: Normalbiographie und Selbstpräsentationen in adelskonformen Räumen

Erinnerung einer Offiziersfrau aus dem Jahr 1912 an eine Szene im Sommer 1873, Generalstabsgebäude in Potsdam, ein Feldmarschall und seine Gattin: „Ich entsinne mich einer kleinen Episode, eines wunderhübschen Bildes, auf das der Graf mit einem gewissen freudigen Stolz herabblickte. Die Reitpferde des gräflichen Paares hatten sich losgerissen, waren dem Stall entschlüpft und tobten im Hofe umher. Kutscher und Reitknecht versuchten vergebens, sich den Tieren zu nähern, um sie einzufangen. Sie stiegen oder feuerten aus und wußten sich vor Übermut nicht zu lassen. Besonders machte der Hengst, der auch zeitweilig böse sein konnte, jede Annäherung unmöglich. Da erschien die Gräfin im Hofe, rief die Pferde beim Namen und ging ihnen furchtlos entgegen. Gehorsam, wie ein paar treue Hunde, kamen beide an, fraßen den Zucker aus ihrer Hand, beschnubberten sie und rieben die Köpfe an ihrer Schulter. Sie sprach mit den schönen Tieren, streichelte und klopfte sie dabei, und mit ihnen vorwärtsschreitend, lockte sie beide in den Stall zurück. Strahlend sah sie dabei hinauf nach dem Fenster, an dem der Graf stand, und nickte ihm zu. Der sagte kein Wort, aber auf seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, wie er sich an der kleinen Szene freute.“1 Bearbeitet man das Erinnerungsbild mit dem Instrument des zeitgenössischen Konstrukts fundamentaler Geschlechterdifferenz, verkehren sich die Polaritäten. Zwei Männer mit Fachkompetenz versagen in einer gefährlichen Situation. Die Frau tritt in die Situation ein, handelt selbständig, zielgerichtet, tapfer und bändigt die Gefahr mit Verstand und Wissen. Zur Rettung des Konstrukts kann man auf die andere Handlungsebene verweisen. Der männliche Betrachter beherrscht die Situation. Seine Position am oberen Fenster symbolisiert das eigentliche Machtgefälle, die passive Haltung ist Ergebnis rationalen Urteils: Das Hofgeschehen stellt keine wirkliche Gefahr dar. Sie schaut noch im Handlungsverlauf zu ihm hinauf, mithin ihre Selbständigkeit usw. ist eine scheinbare, tatsächlich unterstreicht sie ihre Abhängigkeit von der männlichen Autorität. Hier wiederum ist einzuwenden, daß die Frau ohne Beobachtung kaum anders gehandelt hätte als sie gehandelt hat. Zeit, die Kategorie Geschlecht mit jener der sozialen Gruppe in

1

Liliencron (1912), S. 192.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Beziehung zu setzen. Im Erinnerungsbild ist nicht von Männern und einer Frau die Rede, sondern von Kutscher und Reitknecht, Graf und Gräfin. Anordnung und Inhalt des Bildes symbolisieren die hierarchische Ordnung der Sozialbeziehung zwischen Herrschaft und Leuten. Die erhöhte Stellung des Grafen garantiert diese Ordnung, die Gräfin praktiziert sichtbar adelige Führung und Überlegenheit. Zieht man die „polaren Geschlechtscharaktere“ zur Beurteilung dieser Szene heran (und läßt zur Vereinfachung außer acht, daß die „Leute“ in ihrer Handlungsunfähigkeit weiblich konnotiert sind), dann handelt die Gräfin ihrem weiblichen Geschlecht zuwider, eine Paradoxie, die man zuspitzen kann, insofern der Graf ihr ausdrücklich für den männlichen Charakter ihrer Handlung Anerkennung zollt. Die Paradoxie gründet nicht im Erinnerungsbild, sondern entsteht durch eine Forschungsperspektive, die Geschlecht als polares Deutungs- und Realitätsmuster voraussetzt, ohne nach der historischen Relevanz desselben für die jeweiligen Akteure zu fragen. Wenn sich zum Ende des 19. Jahrhunderts Geschlecht zu einer Ordnungskategorie ersten Ranges entwickelt hat, dann ist damit zunächst das gesellschaftliche Feld markiert.2 Doch die Handlung im oben zitierten Erinnerungsbild kopiert diese Markierung nicht. Der Befund der Nichtübereinstimmung führt nun zum nachfolgenden Thema, das – zunächst allgemein formuliert – danach fragt, welche Bedeutung der Familie und dem „Familie haben“ in den erzählten Selbstpräsentationen zukam.

3.1. Familie und Geschlecht: Fragestellungen, Vorgehen Das Modell polarer Geschlechtscharaktere dominierte das öffentliche Nachdenken über die Geschlechterbeziehungen im 19. Jahrhundert. Daß die in den Diskursen formulierten Ideale und Normen die komplexen Realitäten des Verhältnisses nur bedingt wiedergaben, ist in der Geschlechtergeschichte inzwischen unstrittig.3 Arbeiten zur Geschichte des Bürgertums haben gezeigt, daß zumindest bis zur Jahrhundertmitte – eine Zeit, in der nicht wenige adelige Autobiographinnen geboren wurden – die Geschlechterrollen weniger entgegengesetzt waren. In derselben Phase, in der die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, dem Erwerbs- und Familienleben normativ festgeschrieben wurde, war diese in den Köpfen und Handlungen von Frauen und Männern keinesfalls vollzogen.4 Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts scheint sich bei Bürgerinnen und Bür2 3

4

Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Vgl. Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, Kap. III, S. 119–176; zur Forschungsentwicklung der Geschlechtergeschichte generell: Opitz, Claudia, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005. Vgl. Habermas, Frauen und Männer im Bürgertum; Trepp, Sanfte Männlichkeit; Lipp, Carola, Das Private im Öffentlichen. Geschlechterbeziehungen im symbolischen Diskurs der Revolution 1848 / 49, in: Hausen / Wunder (Hgg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, S. 99–116; Dies. (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848 / 49, Bühl / Moos 1986.

3.1. Familie und Geschlecht: Fragestellungen, Vorgehen

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gern das Konstrukt der Polarität als Handlungs- und Wertorientierung durchgesetzt zu haben. Und nicht nur der organisierte Antifeminismus, sondern auch Protagonistinnen der europaweiten Frauenbewegungen betrachteten die Geschlechterdifferenz als invariante Größe, sahen die Hauptaufgabe von Frauen in ihrer Bestimmung zur Mutterschaft.5 Den geschlechtergeschichtlichen Untersuchungen zum Bürgertum korrespondieren keine analog angelegten Arbeiten zum Adel im 19. Jahrhundert. Die in der neueren Adelsforschung vorgenommene starke Setzung der partiellen Übernahme des polaren Modells vom Bürgertum täuscht nicht darüber hinweg, daß über die soziale und kulturelle Praxis von adeligen Akteuren in Hinblick auf die moderne Geschlechterordnung wenig bekannt ist.6 Auch für den folgenden Teil der Arbeit gilt die Untersuchungsprämisse: „Geschlecht ist als ein relationaler Begriff zu verstehen, der nur innerhalb eines Kontextes Sinn erhält.“7 Das vorangegangene Kapitel hat die vielfältigen Gebrauchsweisen des Autobiographischen um 1900 aufgezeigt. Im Ergebnis ist deutlich geworden, daß „Familie haben“ nicht der, sondern ein zentraler Sinnbezug erzählter und erinnerter Selbstpräsentation sein konnte. Dieser Befund wird für das folgende Kapitel aufgegriffen, welches versucht, Bedeutungen von Familienzugehörigkeit hinsichtlich Biographie und erzählten Handlungs- und Erfahrungsräumen zu differenzieren und zu konkretisieren. Adelsgeschichtliche Arbeiten, die die Familie in sozialer wie kultureller Perspektive untersucht bzw. thematisiert haben, betonen übereinstimmend, daß das Familienziel des Namens- und Besitzerhaltes die Lebenswege aller Mitglieder bestimmte. „Die Mittel ändern, das Ziel bleibt“ heißt der Grundsatz solcher Arbeiten, welche Familie als Akteur bzw. Kollektivsubjekt konzipiert haben. Geschlechtergeschichtlich gewendet bedeutet diese funktionale Perspektive, daß sich Geschlechterdifferenzen vom überindividuellen Familienziel herleiteten8, für das ein polares Geschlechtermodell von geringer Relevanz gewesen sein mochte. Auf jeden Fall lenkt das Familienziel die Aufmerksamkeit darauf, daß es für Frauen und Männer die gemeinsame Handlungsaufforderung enthielt, individuelle Bedürfnisse und persönliches Fortkommen zurückzustellen, sofern solche Präferenzen die kollektive Einheit „Familie“ gefährdeten.9 Auf diesem Hintergrund einer funktional geprägten und mental prägenden Familienbindung werden in einem ersten Schritt modellhaft strukturierende Aspekte einer

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6 7 8 9

Vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, bes. das Kapitel: Kulturfrauen und Geschäftsmänner; Planert, Ute, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; Frevert, Ute, Die Zukunft der Geschlechterordnung. Diagnosen und Erwartungen an der Jahrhundertwende, in: Dies. (Hg.) Das neue Jahrhundert: Europäische Diagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 146–184. Zur starken Setzung an der Wende zum 20. Jahrhundert vgl. Conze, Von deutschem Adel, S. 290–300. Hüchtker, Konstruktion und Agency, S. 160. Eckart Conze konzediert dies sehr wohl, gibt aber den geschlechterspezifisch begründeten Sphärentrennungen den Vorzug. Vgl. ders., Von deutschem Adel, S. 290f. Die Steuerung der Individuen durch die Familie war allgemein in allen Bevölkerungsschichten des 19. Jahrhunderts präsent. Vgl. Hareven, Tamara K., Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt a. M. / New York 1999, bes. Kap. 1: Familiengeschichte und sozialer Wandel.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

weiblichen Normalbiographie im Adel der zweiten Jahrhunderthälfte herausgearbeitet. Festzustellen ist, daß vielen Erinnerungen Lebensläufe zugrunde liegen, deren zeitliche Abfolge familienbezogen strukturiert ist. Eheschließung, Geburt der Kinder, räumliche und zeitliche Mobilität der Kernfamilie aufgrund männlicher Berufslaufbahnen (insbesondere für nicht bzw. noch nicht grundbesitzende Familien), Ausheiratung der Kinder, Tod des Ehemannes, Witwenschaft: Auf dieser Ebene zeitlicher Sequentierung dürften sich adelige und bürgerliche Lebenswege von Frauen kaum unterschieden haben. Doch das Kapitel rekonstruiert keine Ablaufmuster, sondern nimmt sich einer grundlegenden Einsicht in der Biographieforschung an, wonach sich Subjekte fraglos an Wahrscheinlichkeiten und Normalitätserwartungen orientieren. Die Normalbiographie wird deshalb als familiär strukturierte Rahmenbedingung subjektiver Entwürfe, Handlungen und Entscheidungen verstanden.10 Das zu skizzierende Modell wäre überflüssig, setzte man das bürgerliche Familienmodell, das um 1900 eine ideologische Verallgemeinerung erfuhr, als Realität voraus.11 Verknüpft man hingegen autobiographische ‚Textdaten‘ mit den Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses, so wird auch der besondere Sinngehalt einer weiblichen Normalbiographie deutlich. Hier ist zu zeigen, daß es eine eher diffuse, aber vom bürgerlichen Leitbild der „Gattin, Hausfrau und Mutter“ abweichende Leitvorstellung der „Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame“ gab. Diese fußte nicht auf dem Primat, den kernfamiliären Binnenraum auszufüllen, sondern eine durch die Familie vermittelte Position in der adeligen Gesellschaft einzunehmen. Die ‚subjektive‘ Aneignung der ‚objektiven‘ Rahmung wird durch ein zentrales biographisches Ereignis kenntlich gemacht: Der erste Ball junger Frauen wird als ein Ereignis interpretiert, das wie kein anderes die Integration in die Adelsgesellschaft symbolisierte. Wenn von den „Möglichkeiten der Familie“ die Rede ist, so ist dieses Modell gemeint, und zwar als konstitutiver Rahmen innerhalb dessen sich adelige Frauen bedeutsam in ein Selbst- und Weltverhältnis setzen und in Handlungs- und Erfahrungsräumen verorten konnten, um hierüber der eigenen Existenz Sinn zu geben. Mögliche Konkretionen werden im zweiten Schritt untersucht, in dem es explizit um die jeweiligen autobiographischen Selbstpräsentationen geht. Im Zentrum der Darstellung steht die Autobiographik geheiratet habender Frauen, deren erzählte Zeit über die Eheschließung hinausgeht, so daß diese Texte Einblicke in Deutungs- und Tätigkeitsfelder von erinnerten Ehefrauen und Müttern gewähren. Texte von verheirateten Autobiographinnen, die nur auf Kindheit und Jugend fokussieren fallen ebenso heraus wie Lebenserinnerungen von Frauen, die bürgerlich geheiratet haben. Im Zentrum der 10 11

Vgl. Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 13ff. und S. 44ff. Diese Arbeit enthält eine ausführliche Diskussion sozialwissenschaftlicher Konzepte weiblicher Biographien. Die historisch-soziologische Familienforschung geht von einer ideologischen Verallgemeinerung der „modernen Familie“ um 1900 aus. Das Modell ist gekennzeichnet durch Konzentration auf die Paarbeziehung und die Kinder, durch eine deutliche geschlechterpolarisierte familiale Ordnung, durch privatistische Abgrenzung von der Außenwelt, durch zunehmende Unterwerfung unter sozialpolitische Steuerung. Vgl.: De Singly, François, Die Familie der Moderne. Eine soziologische Einführung, Konstanz 1995.

3.1. Familie und Geschlecht: Fragestellungen, Vorgehen

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Darstellung stehen auch keine Texte von Außenseiterinnen und Ledigen, die in eigenständigen Kapiteln thematisiert werden. So bleiben zwanzig Texte übrig. Hinsichtlich der Präsentationsformen des Autobiographischen gehören diese tendenziell zur Gruppe der Wir-Geschichten und Geschichten anderer, d. h. das erinnerte Ich wird im Vergleich zur ich-zentrierten Autobiographik stärker als „Bindungs-Ich“ erzählt. Auf den kleinsten gemeinsamen erzählten Nenner hin befragt, eröffnen die Texte vier Erzählungsräume. Diese sind: – der Raum von Ehe und Kernfamilie; – der Raum männlich-weiblicher Tätigkeiten; – der Raum des sozialen Engagements; – der Raum der Hof- und guten Gesellschaften. Diese Räume werden als adelskonforme bezeichnet: Die Ehe garantierte ‚immer schon‘ legitime Nachkommen und sorgte auf generativer Ebene für die Existenz des Adels. Mit den männlich-weiblichen Tätigkeiten ist neben den grund- bzw. gutsherrschaftlichen Aufgaben der militärische und diplomatische Dienst erfaßt, d. h. tradierte männliche Berufsfelder, die der Adel auch im 19. Jahrhundert kaum verließ. Das soziale Engagement gehörte zum tradierten Bestand von Adelskultur und Adelsherrschaft. Insbesondere die Höfe blieben bis 1918 Domäne des Adels. Da es keine zwanzig gleichgewichtigen Erzählungen pro Raum gibt, konzentriert sich die Analyse auf solche Texte bzw. Textpassagen, die für den jeweiligen Raum mit expliziten Kernnarrationen aufwarten. Diese wiederum bestimmen darüber, was thematisiert und dann untersucht werden wird. Die Reduktion auf Kernnarrationen von Ehefrauen und Müttern zielt zunächst darauf ab, Kenntnisse zu sammeln, Befunde anzuheben, die Auskunft darüber geben, wie es um Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen einer Personengruppe bestellt war, die unabhängig ihrer sozialen Gruppenzugehörigkeit normativ auf den primären Ort der Häuslichkeit und Familie verwiesen wurde. Kernarrationen stellen „Lesarten des eigenen Selbst“ dar, die der aktuellen Selbstvergewisserung einer Person dienen und zur Verständigung mit anderen beitragen.12 Hieraus ergeben sich folgende, die adelskonformen Räume übergreifenden Fragestellungen: Welche Selbstpräsentationen wurden angeboten? Mit welchen Handlungsorientierungen und praktischen Idealen korrelierten sie? In welchen Bindungsverhältnissen deuteten sich die Autobiographinnen? Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben sie wahrgenommen? Und schließlich: Wie wurde in jedem dieser Räume mit Geschlechterdifferenzen umgegangen und welche Bedeutungen kamen dem „Familie haben“ zu? Mit der Beantwortung dieser Fragen soll ein anderer Akzent als bisher in Teilen der Adelsforschung üblich gesetzt werden. Arbeiten, welche die Familie als Handlungseinheit betrachten, weisen den zumeist abstrakt bleibenden einzelnen Familienmitgliedern insbesondere in den Umbruchsphasen zum 19. und zum 20. Jahrhundert die Funktion des ‚inneren Feindes‘ zu. Auf dem Hintergrund eines langfristigen Individualisierungsprozesses

12

Vgl. Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, S. 232.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

gerät das einzelne Individuum unter den Bedingungen des sozio-politischen Wandels in den Verdacht der Illoyalität, das seine angestammte Bindung ‚kappt‘ und hierüber die Familienordnung und den inneren Familienzusammenhalt bedroht. Die Überwindung der Krise, die (Wieder)Herstellung von Stabilität wird dann als Leistung der Familie und der Familienordnung präsentiert.13 In diesem hierarchischen Schema wird eine Auffassung ersichtlich, wonach Angehörige einer Familie diese grundsätzlich nur repressiv erfahren konnten. Diese Sicht, die die Familie als Institution von Unterordnung und Ungleichheit betrachtet, wird von den meisten Lebenserinnerungen kaum getragen und nicht in dem Maße geteilt, daß Ehefrauen und Mütter als ‚innere Feinde‘ erkennbar wären. Handelt es sich hierbei um einen Effekt harmonisierender Lebenserinnerungen? Oder um den Effekt männlicher Herrschaft im Sinne Bourdieus? Auch wenn Unterordnung unter das männliche Gebot im Rahmen „Normalbiographie“ eine soziale Anforderung bedeutete, heißt das nicht, daß diese männlich-weibliche Beziehung die einzige war, in der Frauen ihre Erfahrungen des In-der-Welt-Seins artikulierten. Der normalbiographische Rahmen und die genannten adelskonformen Räume deuten an, was in diesem Kapitel vertreten werden soll. Da adelige Ehefrauen und Mütter nicht auf „Häuslichkeit“ festgelegt waren, konnten sie sich als teilhabende und gestaltende Personen der Adelsgesellschaft wahrnehmen und deuten. Die Familienbindung ging nicht mit einer im Kollektivsingular formulierten Ausschlußerfahrung einher, sondern mit verschiedenen Weisen der Teilhabe am ‚Ganzen‘. Nicht Repression, sondern Partizipation durch Familienzugehörigkeit kennzeichnet das Erzählungsspektrum der Autobiographinnen. Dieser Befund stellt nicht infrage, daß es den in der Forschung betonten Konformitätsdruck und Unterordnungszwang als familiäre Anforderung und Zumutung ‚von oben‘ an einzelne nicht gegeben hat, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf die Akteursebene ‚von unten‘. Die Möglichkeit der Teilhabe erzeugte Bindungen und Loyalitäten, die in Wechselbeziehungen zwischen Akteur, Familie und Adelsgesellschaft Familien auch deshalb stabil halten konnten, weil sie dem einzelnen das Gefühl vermittelten, integriertes Mitglied der Gruppe zu sein.14

13

14

Vgl. für die Umbrüche um 1800: Reif, Westfälischer Adel, S. 259ff., bes. S. 265ff.; für die Zeit nach dem politischen Aus von 1918 vgl. Conze,Von deutschem Adel, S. 289ff. – Wie real die innere Erosion durch einzelne gewesen ist, ist womöglich noch genauer zu untersuchen. Für das ausgehende 19. Jahrhundert drängt sich der Eindruck auf, daß der ,innere Feind‘ Befürchtungen der mächtigen ‚Chefs‘ von Häusern oder Familienverbänden spiegelt, die ihren einfachen Namensträgern mit Mißtrauen begegnen. So bei: Funck / Malinowski, „Charakter ist alles“, S. 74f. Zum sozialwissenschaftlichen Integrationsverständnis auf Akteursebene vgl. z. B.: Anhut, Reimund, Die Konflikttheorie der Desintegrationstheorie, in: Bonacker, Thorsten (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, Opladen 2002, S. 381–407.

3.2. Die „natürliche Bahn“: strukturierende Aspekte einer weiblichen Normalbiographie

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3.2. Die „natürliche Bahn“: strukturierende Aspekte einer weiblichen Normalbiographie „[M]ich sozusagen aus meiner natürlichen Bahn werfend, wohinein mich Geburt und Erziehung gestellt hatten“15 – man beachte die passivische Satzaussage. Hier besaß jemand ein gutes Gespür für einen Lebenslauf, der sowohl Normales, Unvermeidliches signalisiert, als auch eine Bewegung, die sich gewissermaßen hinter dem Rücken einzelner vollzieht. Mit der Metapher der „natürlichen Bahn“ sollen im folgenden modellhaft strukturierende Aspekte einer Normalbiographie von Frauen skizziert werden. Besteht Forschungskonsens darüber, daß die adelige Familie Lebenswege ihrer Mitglieder maßgeblich prägte, so sind die vornehmlich von Stephan Malinowski formulierten sozial-kulturellen Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses entweder geschlechterneutral oder männlich formuliert, so daß hier eine Differenzierung versucht wird. Ziel ist die Herausarbeitung eines Rahmens, der Frauen in Bezogenheit auf und Einbeziehung durch die „Adelsgesellschaft“ faßt, ohne die immanenten Geschlechterhierarchien zu vernachlässigen.

3.2.1. Geschlecht und Geschlechterkette Im adeligen Selbstverständnis umfaßte die Familie alle Mitglieder der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. In dieser retro- und prospektiven Sicht war jeder einzelne immer schon Teil eines Ganzen oder „Glied“ einer „Kette“, so das im Adel häufig verwendete Bild.16 Das Bild der Geschlechterkette ist androzentristisch. Die Kette reißt in dem Moment, in dem eine Familie in männlicher Linie ausstirbt. Unterstrichen wird diese Zentrierung dadurch, daß Frauen im herkömmlichen Verständnis durch eine Eheschließung aus ihrer Herkunftsfamilie austraten und in der neuen Familie ihren Status aus dem des Ehemannes bezogen. Wie läßlich Frauen für diese adelige Familienbesonderheit als ‚ganze‘ Menschen und wie unerläßlich sie als ‚Geschlechtswesen‘ waren, zeigt sich an dem Faktum, daß Männer im Familieninteresse Ehen mit bürgerlichen Frauen eingehen konnten, während die Eheschließung von Frauen mit Bürgern über ihren Stand entschied.17 Sie verloren ihren Rechtstitel, auf den ihre Kinder ebenfalls 15 16 17

Dönniges (1909), S. 148. Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 49–52. Von den Autobiographinnen gingen drei Frauen in erster Ehe eine bürgerliche Verbindung ein. Gräfin Baudissin, verheiratete Heiberg, resümierte: „Als ich mich verheiratete [1836, M. K.], war mir voll bewußt, daß ich die bisherige Stellung aufgäbe und eine andere einnehmen müsse.“ Mit ihren adeligen Verwandten verkehrten die Heibergs nicht privat, weil sie die Auffassung vertrat, daß sie „jetzt eine Bürgerliche sei und in den Kreis von Heibergs Bekannten gehöre.“ Heiberg (1897), S. 60f. Die klare Trennung mag nicht in jedem Fall so scharf gezogen worden sein, wovon man hingegen ausgehen kann, ist, daß durch das 19. Jh. hindurch der Verlust des adeligen Namens damit korrespondierte, keine Anrechte an die Herkunftsfamilie stellen zu können. So lehnte der Geschlechtsverband

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

keinen Anspruch mehr besaßen.18 Legitime Nachkommenschaft war demzufolge ausschließliches Vorrecht von Männern, die generationenübergreifende Geschlechterkette ein Symbol potenzierter Männlichkeit.19 Es verwundert deshalb nicht, daß die Adelige als Gattin und Mutter das größte Ansehen genoß. Dieses Ansehen war an das Gebot gekoppelt, den Erben zu gebären. Es bestimmte den Wert eines Frauenlebens für die Familie und ordnete die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen, allerdings ohne darin aufzugehen, um die Kategorie „Mutterschaft“. Das nachfolgende Zitat, in welchem die Aussage der Absicht der Verfasserin zuwiderläuft, soll das Ungewußte dieser Ordnung unterstreichen. Fürstin zu Wied will das Lesepublikum davon überzeugen, daß das Leben ihrer ledigen, gemeinsam wohnenden Schwägerinnen nicht so entbehrungsreich gewesen war, wie es scheinen mochte, bedenkt man, daß die eine seit dreißig Jahren an den Rollstuhl gebunden war und die andere sich seitdem als Pflegende um sie kümmerte. „Eines werden Sie nicht vermuten in dem Hause, das ist der unerschöpfliche Humor, …; auch neben Tragik blieb das Auge empfänglich für Komik! Als wir vier Schwägerinnen mal zusammensaßen, wir waren zwischen 20 und 25 Jahren [d. i. ca.1900, M. K.], kam die Rede auf die Nützlichkeit des einzelnen Menschen im Leben. Meine Schwägerin und ich als Frauen und Mütter glaubten ohne weiteres, den Wert eines Lebens für uns in Anspruch nehmen zu dürfen. Luise [die Pflegende] gab dies teils zu, andererseits war sie damals auch von der Nützlichkeit, welche ihr Leben haben könnte, überzeugt. Elisabeth hingegen verteidigte unter vollster Überzeugung, schon im Rollstuhl sitzend, den Nutzen ihres Daseins, da es anderen Gelegenheit gebe, einen Zweck im Leben zu erfüllen. Wir waren etwas ungläubig und an dies Gespräch schloß sich manche Neckerei.“20 Die subjektive Intention, eine Anekdote komischen Inhalts zu erzählen, um die häuslichen Freuden zu demonstrieren, gerät zur unfreiwilligen Demonstration eines Habitus, der Frauen aus der Perspektive des Utilitätsprinzips hierarchisiert. Fraglos der Wert lebensspendender Mutterschaft, schon rechtfertigender der Wert einer Ledigen, die, weder Frau noch Mutter, lebenserhaltende Pflege leistet, zuletzt der behauptete Wert einer Kranken als moralischer Appell an andere. Die biologistisch grundierten Ränge folgen dem Gesetz des Namener-

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der sächsischen Familie von Bünau 1867 die Bitte um finanzielle Unterstützung eines geborenen weiblichen Familienmitglieds nicht mit der Begründung ab, daß sie verheiratet sei, sondern sich bürgerlich verheiratet habe. Vgl. Gadow, Friederike von, „daß kein Vetter seine Söhne nicht anders als Heinrich, Günther und Rudolph taufen lasse“. Persistenz und Wandel auf dem Weg in die Moderne: Geschlechtstage der Familie v. Bünau im 19. Jahrhundert, in: Marburg / Matzerath (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, S. 169-199. Hermione von Preuschen, eine andere bürgerlich heiratende, konnte ihren Titel als persönlichen Namen weiterführen, da sie unter diesem bereits in der Öffentlichkeit als Künstlerin bekannt war. Zum Forschungsstand um konkretes Heiratsverhalten und Reproduktionsstrategien von Familien mit und ohne Grundbesitz, zum Heiratsverzicht von Töchtern und nachgeborenen Söhnen vgl. einschließlich seiner eigenen Ergebnisse: Schiller, René, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 349–402. Wied (1958), S. 197.

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halts, das die Geschlechterhierarchie produziert und deren Struktur innerhalb des weiblichen Geschlechts reproduziert wird. Daß die Bedeutung von Frauen für die Existenz der Geschlechterkette einzig in ihrer Gebärfähigkeit lag, davon erzählt Luise von Toskana, auf ihre Zeit als sächsische Kronprinzessin zurückblickend. „Sie müssen begreifen,“ läßt sie die Oberhofmeisterin sprechen, „daß es für eine Königin unmöglich ist, ,Gefühle‘ zu haben, sie ist auserlesen, um ihres Gemahls Dynastie weiterzupflanzen, und was soll sie mehr erwarten?“ Ihrem Schwiegervater, dem König, legt sie, nachdem er beschlossen hatte, sie vom sächsischen Hof zu entfernen, folgende Worte in den Mund: „Du hast deine Bestimmung erfüllt, du hast Söhnen das Leben geschenkt, um unsere Dynastie fortzupflanzen.“21 An der Sicherstellung von Familienkontinuität waren Frauen als biologische Wesen mit den Kulturattributen der Geschlechtsehre und des guten väterlichen Namens notwendig, als Akteurinnen des Namenerhalts waren sie im Extremfall entbehrlich. Mutet die Reduktion auf das Gebären misogyn an, so eröffnet diese Freiheitsgrade einer individuellen Lebensgestaltung in der „natürlichen Bahn“: „Sie … nützte die freien Jahre, wo sie nicht durch das Erscheinen der rasch aufeinander sich folgenden Kinder zu Hause gefesselt war, durch Reisen und Vergnügungen aus.“22 Daß Schwangerschaften oft genug lebensgefährlich waren, steht außer Frage, doch wurde diese Hürde genommen, war der Erbe überlebensfähig, dann folgte der Mutterschaft nicht zwangsläufig die „Mütterlichkeit“, verstanden als biographische Richtschnur des lebenslangen „Daseins für andere“ im kernfamiliären Binnenraum.23 Bis in die Gegenwart hat sich die von beiden Geschlechtern getragene Vorstellung im Adel erhalten, daß die Geschlechterkette reißt, wenn die Familie im Mannesstamm ausstirbt, daß das Überleben der Familie von den Männern und ihrer Bedeutung abhängt. Sie sind es, die den Namen, den Ruf und die Ehre der Familie fortbestehen lassen.24 Eine Erklärung für die zuerkannte höhere Wertschätzung des Mannes ist in einer weiteren Besonderheit des adeligen Familienverständnisses zu finden, die ohne das Bild der Ge21 22 23

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Toskana (1911 / 1997), S. 122, 147. Ebd., S. 18. Das Konstrukt „Mütterlichkeit“ verstärkte die Fokussierung bürgerlicher Frauen auf den häuslichen Binnenraum, insofern die Verantwortung der Kindererziehung die Verantwortung zur mütterlichen Emotionalität und erzieherischen Professionalität einschloß. Hier entsteht „Mütterlichkeit“ als unbezahlter Beruf, der analog zu den Professionen bürgerlicher Männer mit hohem Engagement ausgeübt werden sollte. Vgl. einführend: Badinter, Elisabeth, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1984. Für bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert siehe: Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 166–192; Schütze, Yvonne, Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts, in: Frevert, Ute (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 118–133. Einen schnellen Einstieg zu Forschungen über „Mütterlichkeit“ als politische Strategie der Frauenbewegung bietet in Text und Fußnoten: Kühne, Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik, S. 200f. Zum „Dasein für andere“ als soziologisches Konzept weiblicher Biographien vgl. Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 60–68. Vgl. Saint Martin, Monique, Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003, S. 223.

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schlechterkette so nicht gegeben wäre. Es ist dies der Anspruch, Großtaten einzelner, lebender oder verstorbener Mitglieder als Beleg für die Leistung der Familie, und darüber hinaus als Beleg für die Leistungsfähigkeit „des“ Adels auszugeben, um auf diese Weise die eigene Hochwertigkeit glaubhaft versichern zu können. Sorgsam als Sinn für Familiengeschichte inszeniert, wurden Spitzenleistungen der „großen Männer“ herausgehoben und Versager und Abweichler verschwiegen. Es entstand eine kreierte Kontinuität, als ob die Familie aus einer Reihung von Helden bestanden hätte. Der Glanz des einzelnen bringt die Familie zum Glänzen und erhöht das Prestige des Adels. Das ist das Konstruktionsprinzip.25 Georg Simmel hat dieses Prinzip als Eigentümlichkeit der sozialen Gruppe beschrieben, deren „Gesamtniveau“ sich eben nicht nach den „Tiefstehenden“ bemißt, sondern umgekehrt: „Jede Persönlichkeit einer Adelsgruppe … hat in ihrem Werte teil an dem Glanze, den gerade die hervorragendsten Mitglieder dieser Gruppe erworben haben“. Simmel läßt keinen Zweifel an der Exklusivität und integrierenden Wirkung dieser Verhältnisverkehrung: „Dies ist das Präjudiz, das die anderen Stände dem Adel zugute kommen lassen, das er unter sich hegt, das endlich für jedes einzelne Mitglied sozusagen die Voraussetzung seines Selbstbewußtseins ist und für dieses einen ebenso starken individuellen Halt bildet, wie einen sozialen für die Gesamtheit des Standes.“26 Das Herauspräparieren weniger ‚Leuchttürme‘ aus der Kette der Vorfahren als Konstruktionsprinzip der beanspruchten Sonderstellung besaß geschlechterdifferenzierte Effekte. In ihren Erinnerungen zitiert Ada von Liliencron aus dem Kriegstagebuch (1866) ihres Vaters, des Generals von Wrangel, „ ,daß es mir vergönnt gewesen [war], durch diesen glücklichen Feldzug unserem Familiennamen neue Lorbeerblätter zuzuführen.‘ “27 Autobiographische Selbstäußerungen von Ehefrauen und Müttern, die eine unmittelbare, selbstverständliche Beziehung zwischen persönlicher Leistung und Mehrung der Familienehre herstellen, wird man vergeblich suchen. Männer konnten ihr Handeln an den Familienhelden der Vergangenheit ausrichten und das eigene Tun zumindest als Anwartschaft auf zukünftig zu erinnerndes Heldentum begreifen. Frauen mangelte es schlicht an Virilität, um in diese Dimension von „Familie haben“ eintreten zu können. Dieser Ausschluß trägt m. E. erheblich dazu bei, den Männern der Familie eine höhere Wertschätzung zum Familienerhalt zuzugestehen als dem eigenen Geschlecht. Die den ‚Leuchtturm‘ privilegierende adelige Erinnerungsarbeit zeigt sich in den Autobiographien dergestalt, daß sie reich an männlichen, arm an weiblichen Heldenanekdoten sind. Frauen teilen demzufolge die Vorstellung, daß Familienglanz und männliche Leistung in enger Beziehung stehen. Zugleich sind die Väter, Brüder, Ehemänner über die adelstypischen Berufe ‚immer schon‘ potentielle Helden einer möglichen Familiengeschichte. Die Präsenz verstorbener

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Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 56ff. und für die Gegenwart Saint Martin, Der Adel, S. 115ff. Simmel, Georg, Exkurs über den Adel (1908), in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, S. 824. [Bd. 11 der Gesamtausgabe, hrsg. v. O. Rammstedt] Liliencron (1912), S.100.

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Einzelgrößen im kollektiven Gedächtnis und gegenwärtige Männer, die ihr Handeln jederzeit an den Vorbildern messen konnten, haben sicherlich den Glauben an männliche Dominanz permanent verstetigt. In diesem Geschlechtergefüge stellen Männer per se „die hervorragendsten Mitglieder“ (G. Simmel) dar, an deren Glanz Frauen in ihrem Wert teilhaben. Männer nicht als „Wertvollste“ zu akzeptieren, hieße – immer in der Logik des Konstruktionsprinzips, eine einzelne Leistung als Spitzenleistung „des“ Adels geltend zu machen –, auf den Glauben oder die Gewißheit zu verzichten, einer überlegenen Gruppe anzugehören. Eine dritte Besonderheit des adeligen Familienverständnisses liegt in der Größe. „Familie haben“ meint immer auch die Gesamtheit verwandtschaftlicher Beziehungen, deren Kenntnis den Familienzusammenhalt stärkt.28 Heiratende Frauen stellten das Bindeglied zwischen Familien dar. Als ein solches zeigten sie die horizontalen Verbindungen zwischen Herkunftsfamilie, Freundschaften und Verwandtschaften an. „Das Mecklenburgische Großherzogliche Haus, aus dem ich hervorgegangen bin, war durch verwandtschaftliche Beziehungen eng mit zwei anderen Herrscherhäusern verbunden: mit dem Preußischen und dem Russischen“29, beginnt Cecilie, letzte deutsche Kronprinzessin, ihre Erinnerungen. Obwohl die Mecklenburger beanspruchten, ein tausendjähriges Geschlecht zu sein, rekurriert sie keinesfalls auf diese „Kette“, sondern stellt sich von Anbeginn in ein Netz verwandtschaftlicher Beziehungen, deren Anfänge auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurückgehen und für deren neuerliche enge preußisch-mecklenburgische Bindung sie als Kronprinzessin steht. „Meine Herkunft“, so die Überschrift des 15seitigen ersten Kapitels, geht in der historischen Tiefe nicht über vier Generationen hinaus, stellt aber für diese Zeit die Verbindung zwischen drei Familien her. Die namentliche Nennung von „nur“ 47 durch Verwandtschaft verbundenen engeren Familienmitgliedern verweist im Ausschnitt auf ein Beziehungsgeflecht, in dem sich Frauen (wie Männer) verorten konnten. Kam adeligen Männern die Aufgabe zu, den Glanz der Familie zu mehren, so scheinen insbesondere heiratende Frauen prädestiniert gewesen zu sein, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu pflegen, um auf diese Weise einen Beitrag zum faktischen und symbolischen Familienzusammenhalt zu leisten.

3.2.2. Familiäre Herkunft: Eheschließungen, Beziehungen und „Berufe“ Enthielt die Geschlechtszugehörigkeit die zukünftige Verpflichtung zur Mutterschaft und die Akzeptanz männlicher Dominanz, entschied die familiäre Herkunft darüber, wo und ob sich diese Anforderungen realisierten. „Gleichgestellte sind entweder Majoratsherrn oder sie haben nichts. Die nehmen uns nicht. Nicht Gleichgestellte kann man nicht heiraten.“30 Gräfin Salburg, auf ihre Heiratschancen und jene ihrer jüngeren Schwester als 28 29 30

Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 53ff. und Conze, Von deutschem Adel, S. 342ff. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 9. Salburg (1927), S. 148.

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Töchter eines verschuldeten Majoratsherren bezugnehmend, konstatierte ein Dilemma differierter ideeller und materieller Interessen. Nach welchen anderen Kriterien (Name, Anciennität, Titulatur, Hoffähigkeit) Salburg Gleichstellung bemaß, ist nicht ersichtlich. Die Grenzen der sozialen Abschließung waren nach Region, Tradition, Konfession usw. verschieden, das Prinzip des „Unter sich Seins“ galt adelsweit. Das Kriterium Besitz garantierte das Prinzip und bedrohte es wie im vorliegenden Fall bei Unvermögen. Der Salburgische Besitz blieb erhalten, ging, fideikommissarisch gebunden, an den erbberechtigten Bruder über, während die Gräfin einen rangniedrigeren, nicht grundbesitzenden Freiherren Krieg von Hochfelden ehelichte. Dem Primat des Besitzerhalts, in der Regel in männlicher Hand, waren Heiratsstrategien untergeordnet, wobei insbesondere die Strategie des Verzichts den Töchtern, aber ebenso den nachgeborenen Söhnen, auferlegt wurde. Bei Verehelichung galt die allgemeine Norm, innerhalb des Standes zu heiraten und als geschlechtsspezifische Norm die Heirat adeliger Männer mit reichen, bürgerlichen Frauen. Daß der Adel bei all seiner Heterogenität im 19. Jahrhundert eine vergleichsweise geschlossene soziale Gruppe blieb, ruhte auf seinen, die ständische Qualität bezeichnenden engen Heirats- und Verkehrskreisen und den Ämter- und Berufspräferenzen der Männer auf Staatsdienst, Militär, Regierung, Diplomatie und Verwaltung.31 Autobiographische ‚Textdaten‘ haben diesen ‚meßbaren‘ Tatsachen nichts hinzuzufügen und können es auch nicht, weisen aber auch keine exaltierten Abweichungen auf. Die Väter der Erzählerinnen waren adeliger Geburt und zeigen, so nicht als Erbe vollständig ans Land gebunden, das konventionelle Berufsprofil an. Nichtadelige Mütter entstammten Kaufmannsfamilien. Drei adelige Autorinnen heirateten mit elterlichem Einverständnis in erster Ehe jeweils einen bürgerlichen Advokaten, Arzt und Verleger. Frauen des hohen, regierenden Adels verließen ihre Rangklasse nicht, deren Ersteheschließungspraxis ist noch im Wortsinn als Heiratspolitik zu fassen. Zwischen den Polen der standesverlassenden und politisch inspirierten Ehe finden sich in den Quellen ‚Verkehrskreisehen‘, denen sowohl verwandtschaftliche Bindungen zugrunde lagen, als auch solche, die über die soziale und berufliche Position der Väter hergestellt wurden. Die Tochter eines Offiziers heiratete einen Offizier, die eines Gutsbesitzers einen Gutsbesitzer, die eines Gesandten einen Gesandten. Vom Heiratsverzicht als familialer Strategie der Statussicherung erzählen ledige Autobiographinnen nichts. Jenseits persönlicher Begründungen fällt auf, daß manchesmal die schiere Größe der Kernfamilie, gemessen an der Kinderzahl, eine standesadäquate Verbindung unmöglich machte. Die nicht zuletzt über die soziale Abschottung „des“ Adels hervorgebrachte Größe der Familie in ihrer verwandtschaftlichen Dimension bildete die Voraussetzung haltbarer adeliger Netzwerke, die insbesondere berufliche Karrieren von Männern beförderten. 31

Zu spezifischen Angaben konkreter Regionen, Familien, Männern und Frauen im 19. und beginnendem 20. Jh. vgl. etwa Schiller, René, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz, S. 349–402 u. S. 402–428.; Treskow, Rüdiger v., Adel in Preußen: Anpassung und Kontinuität einer Familie 1800– 1918, in: GG 17 (1991), S. 345–369; Conze, Von deutschem Adel, S. 329ff.; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 47f.: bes. die in den Fußnoten verzeichnete weiterführende Literatur.

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Nachfolgende Beispiele legen nahe, daß Frauen zumindest von den nützlichen Beziehungen ihrer Familie profitierten.32 Die Möglichkeiten einer ehrenwerten, selbständigen Stellung, d. h. den Lebensunterhalt über ein eigenes Einkommen bestreiten zu können oder zu müssen, blieben für Frauen im 19. Jahrhundert ebenso begrenzt wie für Männer, waren jedoch spärlicher. Im weltlichen Bereich kamen hierfür die „Berufe“ Hofdame oder Erzieherin infrage. Beide erlangte man nicht durch eine professionelle Ausbildung, sondern vornehmlich über Beziehungen. Zur Hofdame bzw. zur Oberhofmeisterin als Herrin über den die Hofdamen einschließenden weiblichen Hofstaat wurde man ernannt.33 Solche Gunstbezeugungen beruhten oftmals auf einem persönlichen Dienst- und Treueverhältnis zwischen den ‚hohen Herrschaften‘ und einem ihnen dienenden Mitglied einer Familie. Dieses Verhältnis wurde als ein übertragbares gedacht, einmal tradiert, besaßen alle Familienangehörigen die Chance, Nutzen daraus zu ziehen. „Die Freundschaft mit diesem Hause stammte aus zwei Geschlechtern schon. Meine Großmutter war Hofdame und Freundin der Mutter des Prinzen Alexander gewesen, nachher hatten meine Mutter und ihre Brüder mit dem kleinen Prinzen gespielt, und so wuchs ich naturgemäß in die Freundschaft mit seiner Tochter hinein …“34 Bereits nach zwei Generationen konnte die Enkelin die ursprünglich geleistete Beziehungsarbeit als gegebenes „soziales Kapital“ ihrer Familie hinnehmen. Ihr ist „naturgemäß“, d. h. selbstverständlich, was so ‚natürlich‘ zwischen Personen aus niederem und hohem Adel nicht unmittelbar gegeben war – eine freundschaftliche Bindung. Die gräfliche Familie Keller lebte im engen nachbarschaftlichen Verkehr mit der herzoglichen des Hauses Schleswig-Holstein-S.-Augustenburg. Als Gräfin Keller 1881 ihre Berufung zur Hofdame der künftigen deutschen Kaiserin Auguste Victoria erhielt, konnte sie auf eine Jugendfreundschaft zurückschauen und stellte sich zugleich in die Tradition ihrer Familie, aus der bereits einige mit Hofämtern am preußischen Königshaus hervorgegangen waren.35 Paula von Bülow verwitwete mit 31 Jahren. Bernhard Vollrath von Bülow war in hohen mecklenburgischen Staatsämtern tätig, Freund und Studiengefährte des künftigen Großherzogs Friedrich Franz II. Als Bülow starb, erhielt seine Witwe 1868 den Ruf zur Obersthofmeisterin der Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin.36 Thekla von Gumpert wuchs mit den Töchtern des Hauses Radziwill auf, da ihr Vater ‚Leibarzt‘ der fürstlichen Familie war. Aufgrund dieser Beziehung konnte sie in den 1840er

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Weder gibt es Untersuchungen zur Netzwerkarbeit von adeligen Frauen für die Familie noch zur familiären Netzwerkarbeit für adelige Frauen im 19. Jahrhundert. Briefe wären hier eine hilfreiche Quelle. Autobiographien werfen allenfalls Schlaglichter. Für das 20. Jh. haben Conze und Malinowski auf den Stellenwert der adeligen Netzwerkbildung für männliche Karrieren und den Familienzusammenhalt hingewiesen. Vgl.: Conze, Von deutschem Adel, S. 355ff.; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 48f., S. 53ff. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 111ff. Krane (1917), S.33. Vgl. Keller (1935), S. 11ff. und S. 380. Vgl. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 65.

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Jahren Erzieherin in einem Fürstenhaus werden.37 Ein neuer Karriereweg nach altem Beziehungsmuster eröffnete sich am Ende des 19. Jahrhunderts. Maria von Linden erhielt 1892 als erste Frau einen Studienplatz an der Universität Tübingen. Jahre bevor ihren Geschlechtsgenossinnen offiziell das Recht auf ein Universitätsstudium zuerkannt wurde38, profitierte die Gräfin von verwandtschaftlichen Bindungen. Ihr Onkel, Joseph von Linden, war bis 1867 württembergischer Innenminister. Autorität und Ansehen des ehemaligen Staatsministers veranlaßten die Universität zu dieser Ausnahme.39 Die adelige Studierende wird dann ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Bei nötiger oder gewollter Ehelosigkeit, aber auch bei früher Witwenschaft, zeigt sich im schmalen „Berufssektor“, daß familiäre Beziehungen nützlich für Hofkarrieren waren. Der Stellung der Herkunftsfamilie entsprechend lief die „natürliche Bahn“ auf eine Ehe im ähnlichen sozial-kulturellen Milieu zu. Dieser Zuschnitt ist keineswegs mit einer Einbahnstraße „Häuslichkeit“ zu verwechseln, sondern gleicht eher, eine Erinnerung Fürstin Fuggers an ihren Wiener Wohnort der 1870er Jahre bemühend, „der Praterstraße, die zu jener Zeit – wie später das ‚Botschafterviertel‘ – zu den vornehmsten Stadtteilen zählte.“40 Quellennaher als die bemühte Zuspitzung ist nachfolgendes Zitat: „ ,Eine Position in der Gesellschaft‘ war uns gesichert, ja wir besaßen sie, dank unserer Familienbeziehungen, schon jetzt.“41 Diese Äußerung beschreibt am besten den Strukturplan für die „natürliche Bahn“, der Frauen ausdrücklich in eine exklusive, nach unten distinkte Gesellschaft einbezieht. Eine gesicherte Position stellte die Leistungsfähigkeit der Herkunftsfamilie unter Beweis und konnte als familiäre Mitgift eine Quelle von Handlungssicherheit sein.

3.2.3. „Charakter“ und „Geschlechtscharakter“: Verhaltensorientierungen Prädestinierten die sozialen Ressourcen der Herkunftsfamilie zum Verbleib im adeligen Binnenraum, sorgten die vornehmlich in der (erweiterten) Kernfamilie weitergegebenen Verhaltensorientierungen dafür, eine Position in der „natürlichen Bahn“ adäquat ausfüllen zu können. Da die soziale Gruppe bis ins 20. Jahrhundert eine zu Herrschaft berufene Schicht zu sein beanspruchte und diesen Anspruch zur Grundlage ihrer Erziehung machte, waren Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit Beherrschte, aufgrund ihrer Adelszugehörigkeit Herrschende.42 Erziehung und Sozialisation adeliger Mädchen mußten somit nach einem Prinzip erfolgen, das der Doppelstruktur von Unterordnung

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Vgl. Gumpert (1891), S. 159. Zuerst Baden ab 1899 / 1900, zuletzt Preußen 1908 / 09. Linden (1929 / 1991), S. 11ff. (Vorw. d. Hg.). Fugger (1932 / 1980), S. 28f. Braun (1909 / 1922), S. 55f. Vgl. Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft, in: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, hrsg. v. Irene Dölling u. Beate Krais, Frankfurt a. M. 1997, S.153–217.

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und Überlegenheit Rechnung trug. Nachfolgend sollen einige Verhaltensorientierungen vorgestellt werden, die das allgemeine Strukturmerkmal auf idealtypische Weise verdeutlichen sollen, wobei der Akzent bewußt auf Überlegenheit gesetzt ist. Diese Akzentuierung scheint mir ob der ungenügenden Forschungslage gerechtfertigt. Vor dem historiographischen Hintergrund eines als Bildung eines „neuen Adels“ verstandenen Elitentransformationsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert stellt die Forschung jene ansonsten vernachlässigte Sozialisationsarbeit in den Vordergrund. Wird für die Wende zum 19. Jahrhundert eine Annäherung an bürgerliche Verhaltensideale diagnostiziert, steht jene zum 20. Jahrhundert im Zeichen von Selbstreferenz und Abgrenzung.43 Conze spricht für die Zeit nach 1918 von der Stärkung und Neufundierung der vertikalen wie horizontalen Dimension des Familienbewußtseins als „Rang einer höchsten Maxime unter den adeligen Familienzielen.“44 Eine solche Dringlichkeit läßt sich auch für die in der Weimarer Republik geschriebenen Autobiographien nicht feststellen. Die Erinnerungen an Kindheit und Jugend mochten eine dichte Erfahrungsschicht hervorgebracht haben, die relativ unberührt von aktuellen Kurskorrekturen blieb. Funck und Malinowski führen „Charaktererziehung“ als Vision adeliger Ganzheit gegen das bürgerliche Bildungsideal ins Feld. Im Versuch, die Moderne abzuwehren, stilisiere sich der Adelige als Generalist und habe für den bürgerlichen Experten Geringschätzung übrig.45 Diese Deutung ruht vornehmlich auf der Wahrnehmung von Männern, die in Ausbildungsinstitutionen und auf Karrierestationen mit Bürgerlichen um Einfluß konkurrierten. Bekanntlich bestand eine solche schulische und berufliche Konkurrenzsituation weder für adelige noch bürgerliche Frauen, so daß die idealtypische Distinktion „Charakter vs. Bildung“ die Bedrohung der sozialen Gruppe aus männlicher Sicht spiegelt. Wenn es um die Erziehung zu adeligen Frauen im 19. Jahrhundert geht, scheint es sich aus der autobiographischen Perspektive um eine Art von ‚Seins-Optimierung‘ zu handeln, die Töchter auf ihr zukünftiges Leben in einem kongenialen Raum vorbereitet. Erziehung und Unterricht dienten nicht dazu, sich künftig eine Position in der Gesellschaft erarbeiten zu müssen, sondern eine vorgesehene Stellung einnehmen zu können.46 Vor der Folie strikter gesellschaftlicher Geschlechtertrennung kritisierte Wilhelm Heinrich Riehl die seiner Auffassung nach „daraus hervorwachsende Ueberweiblichkeit“. Diese brächte einen „Typus ächter moderner Frauenart“ hervor, der sich bar jeder Vernunft und jeden Tuns in geputzter Kraftlosigkeit gefalle.47 Vor selbiger Folie, doch mit anderem Akzent, hat Gunilla Budde ein dreifaches Bürgerfrauenideal herausgearbei-

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Zur Annäherung an bürgerliche Verhaltensideale in der Sozialisationsarbeit um 1800 vgl.: Reif, Westfälischer Adel, S. 313f., S. 324–336; zur Abgrenzung um 1900 vgl.: Funck / Malinowski, „Charakter ist alles“; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 73–89. Conze, Von deutschem Adel, S. 289. Funck / Malinowski, „Charakter ist alles“, S. 80ff. Zum Unterricht adeliger Töchter und den Ähnlichkeiten zur Ausbildung bürgerlicher Töchter vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 31–36; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 333–352. Riehl, Wilhelm Heinrich, Die Familie, 5. Aufl., Stuttgart / Augsburg 1858, S. 42 u. S. 40.

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tet: „Aufopfernde Mütter und Ehefrauen, Meisterhausfrauen und schöne, schöngeistige Gesellschaftsdamen.“48 Die Potenzierung des „Weiblichen“ wird hier mit der Herausbildung einer dualistischen Geschlechterkonstruktion begründet. Das Konstrukt greift aber nicht, wenn ein konkreter Raum andere Herrschaftsstrukturen aufweist: „[Ich] war im steten Umgang mit den Dorfkindern, mit denen mich Gefühle vollster Zusammengehörigkeit verbanden, Herrin geworden, noch ehe ich wußte, was herrschen heißt.“49 ‚SeinsOptimierung‘ meint nicht die Steigerung der „weiblichen Bestimmung“, sondern sozialisatorisch vermittelte Passungsarbeit zwischen Person und Lebenswelt. Ideal und Praxis der Gutsherrin, kultivierten Dame und Offiziersfrau waren grundsätzlich auf öffentliches Wirken ausgerichtet. Um in der Gesellschaft ‚natürlich‘, d. h. dem ‚Stand‘ verpflichtet, agieren zu können, mußten „Charakter“ und „Geschlechtscharakter“ ausgebildet werden. Das ideale Ziel herrschaftlicher Mädchenerziehung war ein „fügsamer, gerader Charakter“50. Die inkorporierten Tugenden fügsam und gerade spiegeln symbolisch familien- und adelserhaltende Verhaltensanforderungen an die einzelne. Ein „fügsamer Charakter“ beugt sich den Autoritäten und ist einsichtig gegenüber den Konventionen von Sittlichkeit und Anstand. Ein „gerader Charakter“ kennt keine Zweifel, bezieht daraus seine Verhaltenssicherheit gegenüber Gleichgestellten und richtet seine Überlegenheit auf andere: ‚krumm‘ sind immer die Untergebenen. Das Erziehungsziel „fügsam und gerade“ ist vor der Folie Geschlechterordnung schematisch „weiblich“ und „männlich“ konnotiert. Die Einübung von Fügsamkeit oder auch Gehorsam und Unterordnung war für die künftigen Frauen und Männer unterschiedlich normiert. „Er hatte von Kind auf Subordination geleistet, hatte sie von seinem Jünglingsalter an pflichtgemäß zu fordern gehabt. Gehorsam!“51 Kindliche Fügsamkeit ging über in erwachsene Herrschaftsausübung, aus dem Jungen wurde eine Autorität. Aus dem fügsamen Mädchen sollte eine dem Manne gehorsame Gattin werden. Eine gehorsame Gattin war hingegen keine Herrin, keine Autorität den Untergebenen gegenüber. Einen „geraden Charakter“ muß man sich leisten können. Mut, Entschlossenheit, (Auf)Richtigkeit, Ehrlichkeit implizierend, beschreibt er eine Herrschaftstugend, die ebenso zum Verhaltensrepertoire der weiblichen Adeligen gehörte. Ein „gerader Charakter“ handelt, er räsoniert nicht. Wieder veräußerlicht als „aufrechte Haltung“ zwingt die adelige Erscheinung die Umstände, nicht diese sie. (In Schillers „Kabale und Liebe“ heißt der durch seine untergebene soziale Stellung geprägte Haussekretär aus gutem Grund Wurm.) Die Erziehung zur „Geradheit“ vollzog sich wie jene zur „Fügsamkeit“ maßgeblich in einem durch die Familie bestimmten homogenen Milieu, d. h. an Orten – sei es auf dem Land oder in der Stadt – , zu denen Nichtadelige allenfalls als Dienstpersonal, angestellte Hauslehrer und Gouvernanten oder als Pfarrer Zugang hatten. Kinder waren immer schon Herrschaftskinder, blieb ihnen diese Tatsache hin und wieder verborgen, 48 49 50 51

Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 173. Linden (1929 / 1991), S. 42. Belgien (1935), S. 60. Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 572.

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so wurde einschließlich des Personals auf den Unterschied hingewiesen: Die 1835 geborene Ferdinande von Brackel wollte ihr Kindermädchen, Tochter des Gärtners, von der Gleichheit der Menschen überzeugen, um einen Spaziergang zu ertrotzen; schließlich seien die Dorfkinder auch an der frischen Luft. Ihrem Argument, Menschen sind „alle von Erde“ antwortet das Kindermädchen: „ ,Ja, aus Erde, aber ihr seid von gesiebter Gartenerde.‘ “52 Im wesentlichen erfolgte die Erziehung zu handlungskompetenten und urteilsfähigen Personen nach autoritärem Stil, womit jenseits eines zu bestimmenden Härtegrades die nicht-diskursive Art und Weise des Prozesses gemeint ist.53 Die „unbedingte Unterordnung unter den Willen der Mutter“ war Gesetz, das die Verhaltensrichtlinie vorgab: „ ,Man kann alles, was nötig ist – nimm Dich zusammen!‘ “, und „ ,tu, was du sollst, und damit Punktum!‘ “54 waren widerspruchslos hinzunehmende Anordnungen. Dieses alltagspraktische Training bezog sich sowohl auf die haushalterische Mithilfe und die Fürsorgepflichten gegenüber anvertrauten Personen, als auch auf das Erlernen der Verkehrsformen unter Seinesgleichen. Zugleich diente es der Bewältigung des Unterrichtsprogrammes und beförderte unmerklich die Selbstsicherheit im Umgang mit den Gepflogenheiten. Die Eintönigkeit von Unterordnung, Tagesablauf und Räumlichkeit als „programmäßig sorgsam gehütete Vorgänge des Alltags“55 schuf die Voraussetzung für jene im Adel sorgsam gepflegte und in den Texten als Topos wiederkehrende Tugend der Selbstbeherrschung oder Selbstdisziplin. Diese schütze vor „seelischer Verweichlichung“, befähige zur „machtvollen, erfolgreichen Führung“ und stärke die „innere Festigkeit“.56 Das disziplinierte Selbst gehorcht der als überlegen gedachten Ordnung, der es entstammt. Um diese Bindung zu halten, wurden solche Gewißheiten, Fähigkeiten und Kenntnisse weitergegeben, die selbige verstärkten, nicht aber infrage stellten. Probates Mittel stellte u. a. eine anschauliche Erziehung dar, die eher entspannt die Aneignung von Natur und Kultur befördern sollte und in der Regel in den Händen der Eltern bzw. eines Elternteils lag. Selbstdisziplin als Affekt- und Körperbeherrschung war nicht nur eine erzwungene Forderung („ ,Ein gut erzogenes Mädchen zeigt seine Gefühle nicht “.57), sondern stärkte im spielerischen Erlernen Furchtlosigkeit, die anerkannt wurde und sich somit positiv auf das Selbstbewußtsein auswirkte. Der frühe Umgang mit Pferden und Jagdhunden, der Reitunterricht durch Väter, seltener Mütter, gehört zum Erinnerungsrepertoire derjenigen Frauen, die auf dem Land aufwuchsen bzw. deren Väter im Militär dienten. Dem Vater war die Tochter durchaus ein „kleiner Rekrut“, welche wie 52 53

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Brackel (1905), S. 31f. Die Erziehungsreflexionen in einigen nach 1900 veröffentlichten Autobiographien lassen vermuten, daß ein Reden zwischen Eltern und Kindern über das richtige Handeln erst ab dieser Zeit erfolgte. Der ‚vernünftige Diskurs‘ als Erziehungsmethode markiert vermutlich eine Differenz zwischen Adel und Bürgertum. Zu letzterem vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 124. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 20, Hadeln (1935), S. 44, Brackel (1905), S. 34. Wied (1958), S. 26. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 20; Hadeln (1935), S. 77; Wied (1958), S. 19; auch Brackel (1905), S. 34. Braun (1909 / 1922), S. 32.

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die Söhne „beizeiten schneidige, furchtlose Soldatennaturen“ erhalten sollte.58 Das Pferd zu beherrschen gehörte dazu. Die Tochter bewunderte die Mutter als „passionierte Reiterin“, als diejenige, die „Felder und Wälder durchquerend, unerschrocken jedes Hindernis nehmend, die Kaltblütigkeit und den Mut, die sie auszeichneten“ unter Beweis stellte.59 Eine Kutsche vierspännig unter erschwerten Bedingungen zu fahren erbrachte väterliche Anerkennung. „Es machte ihm manchmal Spaß, die vier Braunen scheu zu machen. Bekam ich sie wieder schnell und gut an die Zügel, so fühlte ich, wie sein Blick mich von der Seite streifte. Es ist wohl schwer zu sagen, wer dann stolzer war, er oder ich.“60 „Schneid haben“, die Unterdrückung von Furcht, ließ sich auch ohne Pferde trainieren. „Wir wurden häufig am Abend nach dem Boden, dem Keller oder in ein Nebengebäude geschickt, um einen Gegenstand zu holen, der für diesen Zweck hingelegt wurde. Ein Gewitter erlebten wir häufig im Freien, und den Sturm liebte mein Vater. Wir haben uns oft fest aneinander gehalten, um ihm auf dem Spaziergange nicht zu unterliegen.“61 Neben der eher spielerischen Vermittlung psychischer und physischer Charakterfestigkeit waren kulturelle Vergnügungen, wie der Besuch von Theatern, Konzerten, Museen und prominenten Schloßanlagen eine der Grundlagen künftiger Geschmacks- und Stilsicherheit.62 Einer Ballettaufführung mit einer herausragenden Solotänzerin wohnte die Tochter nicht zuletzt wegen des mütterlichen Rates bei, daß „ich mir recht einpräge, was Hoheit und wahre Grazie bedeuten“63. Auf die Farbenpracht und Prunkentfaltung eines Wiener Hofballs durch einen Künstler angesprochen, bestätigte die höfisch versierte Gräfin dessen Auffassung: „ ,Jeder wahre Jünger unserer Zunft muß schon aus rein ästhetischen Gründen Monarchist sein!‘ “64 Ohne den ‚guten Geschmack‘ ausführen zu können, scheint dieser ein von den Eltern lancierter konventionell-konservativer gewesen zu sein.65 Auch

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Liliencron (1912), S. 47; Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 234. Fugger (1932 / 1980), S. 189, Belgien (1935), S. 11. Hadeln (1935), S. 20, auch S. 36. Ähnlich bei Fugger (S. 45), der auf einer kleinen Pirsch die Jagdhunde durchgehen: „Ich ließ mich über den Boden schleifen – aber ich gab nicht nach. … Großvater gefiel es.“ Heiberg (1897), S. 31. Vgl. etwa Fugger (1932 / 1980), S. 41ff.; Bunsen (1929), S. 30–39; Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 661; Bülow (ca. 1915 / 1924), S.10; Belgien (1935), S. 49. Metternich-Sandor (1890er / 1920), S. 14. Erdödy (1929), S. 126. Selbst in der neugeadelten Familie Marie von Bunsens, deren Vater Georg Liberaler in der Bismarckzeit und neuen politische Ideen gegenüber aufgeschlossen war, herrschte kulturelle Konvention: Gebaut wurde neugotisch und gelesen wurde klassisch, d. h. von Shakespeare bis Schiller. Mit moderner Literatur kam Bunsen heimlich in Berührung. Vgl. Bunsen (1929), S. 34f. Gertrud von Le Fort beispielsweise lernte erst nach dem Tod des Vaters 1902, der den familiären Literaturgeschmack als klassisch und historisch bestimmte, zeitgenössische Literatur kennen. „ ,Anna Karenina‘ “ von Tolstoi – in Gedanken daran, daß mir mein Vater dieses Buch einst aus der Hand genommen hatte, habe ich es bis zum heutigen Tage nicht gelesen.“ Le Fort (1965), S. 77. – Einführend zur Beziehung von Hochkultur und alten Eliten im 19. Jahrhundert: Mayer, Arno J., Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1984, S. 186–270.

3.2. Die „natürliche Bahn“: strukturierende Aspekte einer weiblichen Normalbiographie

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Spaziergänge mit den Eltern wurden nicht ausschließlich um der Bewegung willen unternommen, sondern boten Anlässe, um Kinder in Vertrautes hineinwachsen zu lassen. Die eigene Familiengeschichte prägte sich auf solchen Wegen ebenso ein wie Naturgeschichte und Pflanzenkunde. Auf städtischen Promenaden wurden Haltung und Manieren geprobt (vom langsamen Schreiten bis zum rangadäquaten Grüßen), und eine spätere Einkehr in befreundete Häuser übte die Form des „Besuche machens“.66 Neben der anschaulichen, nebenher erscheinenden Vermittlung von Gewißheiten und Kenntnissen war der nach wie vor dominierende Hausunterricht, dessen Wissensvermittlung durch die Eltern reglementiert wurde, ein weiteres probates Mittel der Erziehung zum „geraden Charakter“. Exemplarisch erinnert Lily Braun, geb. von Kretschmann, eine zum Dialog gestaltete Unterrichtsstunde Ende der 1870er Jahre: „ ‚Herr Doktor,‘ rief sie [die Mutter, M. K.], ‚vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben. Wir sind Preußen!‘ –‚Verzeihen Sie, gnädige Frau,‘ entgegnete er, während das Blut ihm in Wangen und Schläfen schoß, ‚die objektive Geschichtsforschung …‘ – ‚Was geht mich die objektive Geschichtsforschung an,‘ warf sie heftig dazwischen, ‚wir haben unser angestammtes Fürstenhaus zu lieben und unsere Kinder im Respekt vor ihm zu erziehen. Lehren sie Alix einfache Tatsachen, keine zersetzende Kritik.‘ “67 Die mütterliche Aversion gegen kritisches Denken zeugt weniger von der Furcht, daß selbigem das Potential zur „Adelsdämmerung“ innewohnt, aber aus ihr spricht sehr wohl das Unbehagen der Traditionalistin an Neuem. Kritikfähigkeit unterhöhlt das Ideal des „geraden Charakters“. Seine Festigkeit speist sich aus dem Glauben an unveränderlich gedachte Prinzipien, wie die Treue zum Königshaus und eine gottgewollte Ordnung. Aus dieser traditionellen Bindung und Gebundenheit nebst Familienzugehörigkeit rührten Pflichtorientierung am Gemeinwohl und die Pflege praktischer Nächstenliebe. In der Verbindung der Vermittlung von „einfache[n] Tatsachen“ mit Gehorsam, Selbstdisziplin und Pflichterfüllung gewinnt der Erziehungsgrundsatz „unbedingte Wahrheitsliebe und Mut im Bekennen eines Fehlers oder eines Vergehens“68 einen weniger abstrakten Sinn. Das Gebot der „Wahrhaftigkeit“ durchzieht wie „Pflichterfüllung“ die Erinnerungen an geleistete Erziehungsarbeit. Heinz Reif argumentiert, daß die Erziehung wider die Lüge insbesondere ein Mittel der sozialen Kontrolle gewesen sei, um in kindliche Gedanken- und Gefühlswelten korrigierend eingreifen zu können. Somit war „Wahrheitsliebe“ der Familienräson untertan.69 „Das berüchtigte ‚In den Salon müssen‘ “70, um Rechenschaft abzulegen, unterstreicht die Kontrollfunktion. Die Liebe zur Wahrheit sollte nicht zu einer intellektuellen Such-

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Vgl. Le Fort (1965), S. 31f.; Linden (1929 / 1991), S. 31; Bunsen (1929), S. 14; Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 10; andere lehrende Spaziergänge z. B. bei Belgien (1935), S. 31 u. 50; Braun (1909 / 1922), S 30f. Braun (1909 / 1922), S. 76. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 94. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 328ff. Salburg (1927), S. 65.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

bewegung nach „Wahrheit“ führen71, sondern bedeutete die Einübung in die Spielregeln dessen, was als richtig und falsch und was sich gehört anerkannt wurde. Betrachtet man soziale Kontrolle nicht auf die darin angelegten Konflikte, sondern neutral als Bestandteil planvoller Erziehung, so verhalf das Insistieren auf „Wahrheitsliebe“, Gehorsam etc., kombiniert mit den schulisch vermittelten „einfachen Tatsachen“ zum einen zur SeinsGewißheit, in der besten aller Welten zu leben, zum anderen zu Handlungssicherheit. „Die Société (mit diesem Worte bezeichnete er den Kreis, in dem er geboren war und in dem er sich bewegte) war ihm die einzige Menschenklasse, deren Leben und Schicksale ihn interessierten.“72 Im geschlossenen Verkehrskreis, einer Glasglocke gleichend, gerieren vermittelte Konventionen und Traditionen zu unumstößlichen Tatsachen, welche allemal selbstsicheres Auftreten und entschlossenes Handeln ermöglichen und zugleich die Vorstellung verstärken, aus uneigennütziger Überzeugung zu agieren. Diese Vorstellung wurde durch Religiosität unterstützt („ ,Wenn du etwas für richtig anerkennst und verleugnest das, dann tust du diese Sünde [wider den Heiligen Geist, M. K.].‘ “73) und ruhte – den meisten Adeligen wohl kaum gegenwärtig – auf vergleichsweise materieller Sicherheit. Im ‚Bildungsstreit‘ zwischen Mutter und Hauslehrer trug die Adelige den Sieg über den Bürgerlichen davon: „[D]er große, starke Mann schien in sich zusammen zu fallen, er senkte die Augen, und sein Gesicht färbte sich noch dunkler. […] Ein Mann, der sich so herunterputzen ließ! Der seine Überzeugung nicht zu vertreten vermochte! Daß Mutter und Schwester daheim mit jedem Groschen rechnen mußten, den er verdiente, – das freilich wußte ich damals nicht.“74 Die „unbedingte Wahrheitsliebe“ ist Tugend einer überlegenen Gruppe. „Mut im Bekennen eines Fehlers“ gleicht dem Eingeständnis eines siegreichen Reiters, der noch deutlicher hätte gewinnen können, wäre sein bestes Pferd nicht krank geworden. Unter der ‚Glasglocke‘ ist die Liebe zur Wahrheit die Liebe zum Adel. Der „fügsame und gerade Charakter“, dessen „Geradheit“ betont wurde, zielte auf eine Persönlichkeit ab, die mit Selbst- und Pflichtbewußtsein alle Situationen meisterte und sich in der Gesellschaft zu bewegen wußte. Dysfunktional erscheint der „gerade Charakter“ dann, wenn das mit ihm verbundene Überlegenheitsgefühl durch Konkurrenz gefährdet ist. Als gutes Beispiel für einen dysfunktionalen adeligen „Charakter“ mit eskapistischer Neigung kann man den von Funck und Malinowski zitierten Grafen HülsenHäseler betrachten. Dieser ließ sich als Mitglied einer England-Delegation (1907) durch einen bürgerlichen Beamten des Auswärtigen Amtes, der sieben Sprachen beherrschte, scheinbar nicht beeindrucken: „Ick weß nich, […] ick finde es um so schlimmer, det der

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Die „Freude am Denkenlernen und die Verantwortung des Denkens“ als mögliche Wahrheitsfindung erfuhr etwa Gertrud von Le Fort nicht über die Familie, sondern an der Universität, die sie ab 1908 als Gasthörerin besuchte. Le Fort (1965), S. 85. Suttner (1909), S. 19. Hadeln (1935), S. 32. Braun (1909 / 1922), S. 76.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

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Unsinn von dem ooch noch in allen sieben Sprachen in die Welt hinausjeht“.75 So pointierte Beispiele finden sich für adelige Frauen nicht, da sie zum einen dem Konkurrenzdruck um Einfluß und Macht nicht direkt ausgesetzt waren. Zum anderen sorgte die nicht zu vergessene „Fügsamkeit“ wohl zu einem neue Tatsachen eher akzeptierenden Verhalten, während der adelige Mann aufgrund seines Geschlechts und der beanspruchten Herrschaftsposition potenzierte „Geradheit“ ohne „Charakter“-Korrektiv symbolisieren mochte.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser in der „natürlichen Bahn“ Die durch die Familie indizierte Strukturierung von Gesellschaftsfähigkeit, Ehe, Anerkennung männlicher Dominanz und Mutterschaft bündelt sich in der subjektiven Perspektive in einem biographischen Ereignis, dessen Bedeutungen für den Rückblick auf ein gelungenes Leben im Kontext der „natürlichen Bahn“ nicht zu unterschätzen ist. Der „Eintritt in die Welt“, bescheidener in „die Gesellschaft“ und besser das „in die Welt geführt werden“ benannte in der Jugendphase ein zäsurbildendes Ereignis, das den rite de passage vom jungen Mädchen zur jungen Frau eröffnete. Alljährlich traten ausgewachsene „Backfische“ unter vornehmlich mütterlicher Führung in den wintersaisonalen Reigen adeliger Vergnügungen als Debütantinnen ein. Mit 16 Jahren etwas zu jung, mit zwanzig beinahe zu alt, war man im Schnitt 18 Jahre, wenn die Präsentation vor adeligem Publikum erfolgte und man von nun an als erwachsen, d. h. als vollgültiges Mitglied der Gesellschaft, galt. Lokal verschieden, formal ähnlich wurde in der Regel ein großer Ball gewählt, um Töchter über ein kurzes Gespräch (Sei dabei bescheiden, aber nicht verlegen!) und selbstverständlich über den Tanz (Zeige Grazie, und diese natürlich!) den Mitgliedern wichtiger Familien offiziell als junge Frau vorzustellen.76 Obwohl die Erinnerungen an dieses Ereignis unterschiedlich gewichtet sind, symbolisiert es übergreifend nicht nur Familienzugehörigkeit, sondern insbesondere die Integration einer weiblichen Person in die jeweilige Adelsgesellschaft. In biographischer Sicht hat der „Eintritt in die Welt“ im wesentlichen die drei richtungweisenden Bedeutungen von sozialer Verortung, Geschlechtsidentität und Eheschließung.

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Funck / Malinowski, „Charakter ist alles!“, S. 83. Zum Ball als rite de passage für junge Mädchen im Adel siehe auch: Diemel, Adelige Frauen, S. 43–47, knapp bei Conze, Von deutschem Adel, S. 334f. und ausführlich im Kontext mit religiösen Übergängen wie Konfirmation und im Vergleich bürgerlicher und adeliger Erfahrungen bei: Hardach-Pinke, Irene, Bleichsucht und Blütenträume. Junge Mädchen 1750–1850, Frankfurt / New York 2000 S. 33–58.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

3.3.1. Wegweiser: soziale Verortung Am eindringlichsten schildern diejenigen Frauen ihr Entree und ihre daran anschließende erstmals erlebte Saison, welche in den großen Residenzen Wien, Berlin und München und dort am Hof oder mindestens in den ‚glänzendsten‘ Häusern debütierten.77 Für ein junges Mädchen, das bis dahin allenfalls an kleinen Geselligkeiten in der Familie teilnehmen durfte, war die Entfaltung von Pracht und Stil sicher ein einprägsameres Erlebnis als etwa ein Debüt auf dem Ball der Lausitzer Landgesellschaft in Cottbus, das vergleichsweise kurz erinnert wird.78 Zugleich besaßen die wenigsten Menschen und auch nicht alle Adeligen das Vorrecht, den ‚hohen Herrschaften‘ vorgestellt zu werden, so daß die Erinnerung hieran den Glanz der eigenen Person und des getragenen Familiennamens erhöht. Im Winter 1849 debütierte die 18jährige Helene von Oberndorff, zugehörig der gleichnamigen Familie aus oberpfälzischem alten Adel, die 1790 in den Reichsgrafenund bayrischen Grafenstand erhoben wurde, am Münchener Hof: „Zur Audienz bei den Majestäten sollte ich ebenfalls von meinen Eltern geführt werden, doch gerade das imponierte mir gar nicht besonders, da ich ja schon mit 5 bis 6 Jahren in Marienbad täglich die Königin Therese gesehen, …, und überhaupt an diese hohen Herrschaften durch ihre Besuche in Regendorf und Hauzenstein gewöhnt war.“79 Nicht Ehrfurcht bekundet diese selbstsichere Äußerung, sondern geläufige Vertrautheit seit Kindertagen, nicht nur am Kurort, sondern auf familiärem Grund und Boden. Das Debüt weist als Ereignis über sich hinaus. Es ist distinktes und distinktives Zeichen – der Name Oberndorff steht für lässige Nähe zum Thron. Der Name Kinsky, uradelig, verzweigt, mit vielen Familien verwandt und verschwägert, hätte allemal dazu berechtigt, in der höchsten österreichischen Aristokratie zu verkehren. Doch der verwitweten Gräfin haftete als Tochter einer bürgerlichen Frau und eines verdienstadeligen Mannes der Makel einfacher Geburt an. Die junge Komteß Kinsky von Chinic und Tettau wußte, daß ihr Debüt im Jahre 1862 mangels Hoffähigkeit nicht in der ersten Gesellschaft Wiens stattfinden würde.80 Daß der formale Ausschluß sich auch auf weniger exklusive Bälle, an denen Hochadelige und Adelige gleichermaßen teilnahmen, als ein sozialer beziehen würde, darauf war die 19jährige nicht vorbereitet: „Voll freudiger Erwartung betrat ich den Saal. Voll gekränkter Enttäuschung habe ich ihn verlassen. Nur wenige Tänzer habe ich gefunden. Beim Kotillon wäre ich bald sitzen geblieben, hätte sich nicht schließlich ein häßlicher Infanterieoffizier, der sich zahlreiche Körbe geholt 77 78 79 80

Vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 71ff.; Erdödy (1929), S. 53ff.; Bunsen (1929), S. 49ff.; Fugger (1932 / 1980), S. 82ff.; Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 20ff. Vgl. Hadeln (1935), S. 68f. Erdödy (1929), S. 53. Zur Wiener Hoffähigkeit und ihren Bedingungen in der 2. H. d. 19. Jh. vgl. Hamann, Brigitte, Der Wiener Hof und die Hofgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, hrsg. von Karl Möckl, Boppard a. Rhein 1990, S. 61–78. Einen knappen länderübergreifenden Überblick mit weiterführender Literatur zu Rangordnungen und Hoffähigkeit bei Diemel, Christa, Adelige Frauen, S. 69–84.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

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hatte, meiner erbarmt. Die hochadeligen Mütter saßen beisammen, meine Mutter saß einsam; …; beim Souper bildeten sich lustige kleine Gesellschaften, ich war verlassen.“81 Der Ausschluß ist vollständig. Den Makel von der Mutter auf die Tochter übertragend, wendet sich die anwesende Gesellschaft generations- und geschlechtsübergreifend ab. Dieser Ausschluß hätte nicht passieren dürfen, denn Bälle wurden von der Anzahl der Gäste bis zur Anzahl der Tänze vorbereitet, man wußte, welche junge Dame debütierte und was man der Debütantin schuldig war. Keinesfalls einen zu Kopf steigenden ersten Balltriumph, aber doch ein Person und Familie würdigendes Entree, ausgedrückt in einer Tanzkarte, auf der hinreichend Tänzer verzeichnet waren, um nicht ‚sitzenzubleiben‘.82 Wenn Suttner ihr Entree als mißlungen erinnert, mochte sie auf eine unbarmherzige Härte insistieren, die nur von jenen ausgeübt werden konnte, die um den Wert eines Namens wußten. Der Kotillon bildete den Höhepunkt eines jeden Balles und wurde am Ende getanzt. Als eigentlicher Gesellschaftstanz führte er die Tanzenden über viele Touren zu immer neuen Paaren zusammen. Auf diese Weise wurde zum Abschluß eines Balles Gemeinsamkeit zelebriert. Komteß Kinsky blieb diese letzte Schmach um den Preis einer anderen Schmach erspart. Die adelige Damenwelt goutierte Kavaliere der Kavallerie.83 Ein Infanterist, militärischer Fußgänger und häßlich obendrein, fordert sie um die Rettung seiner Uniform auf und rettet sie kraft des männlichen Vorrechts, zum Tanz zu bitten. Zwei „Mauerblümchen“ ertanzen Zugehörigkeit. Das Debüt ist ein Debakel. Der im Mannesstamm beschädigte Name Kinsky von Chinic und Tettau steht für soziale Exklusion. Das gesellschaftliche Debüt einer jungen Frau zeigt, welcher Wert einem Familiennamen und seinen Trägerinnen, gemessen am Prinzip Exklusivität, zuerkannt wurde. Ob der „Eintritt in die Welt“ persönlich als Lustgewinn oder Frustration erlebt und erfahren wurde, hing entscheidend von der ‚Kreditwürdigkeit‘ der Herkunftsfamilie ab.84 Allgemeiner formuliert, das Entree signalisierte den Grad und die Graduierungen sozialer Wertschätzung einer Familie durch andere Adelige, an der die einzelne ihre Chancen auf künftige gesellschaftliche Integration messen konnte. 81 82 83

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Suttner (1909), S. 63. Vgl. Hardach-Pinke, Bleichsucht, S. 51. Vgl. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 25 für Wien. Im Hause Bunsen in Berlin galt demgegenüber durchaus der Gardeinfanterist, aber schon nicht mehr der Artillerist und kennzeichnet die Bunsens als Neuadelige. In Hofkreisen tanzte die Tochter sehr gern mit den dort bevorzugten „allerbegehrtesten Gardekavalleristen“. Vgl. Bunsen (1929), S. 53 u. 95. Zur Faszination „Uniform“ vornehmlich im Bürgertum vgl: Brändli, Sabina, Von „schneidigen Offizieren“ und „Militärcrinolinen“: Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen des 19. Jahrhunderts, in: Frevert, Ute (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 201–228. Komteß Kinsky erlebte kurz nach ihrem Debüt-Debakel einen „glänzende[n] Ball“: „Jetzt bin ich umringt und die glänzendsten jungen Kavallerieoffiziere machen mir den Hof“. Dieser Ballerfolg fand in der ‚Haute Finance‘ statt. Einer der reichsten Männer Wiens – kein Aristokrat – hatte sich um ihre Hand beworben. Sein Brautgeschenk war Reichtum und ihre Mitgift der Name Kinsky. Vgl. Suttner (1909), S. 62, 63f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

3.3.2. Wegweiser: Geschlechtsidentität Stellte sich der Name nicht als Hindernis auf dem Weg in die Welt der Erwachsenen dar, so trieb die jungen Frauen dennoch jene Befürchtung um, die bei Komteß Kinsky eintrat – das „Sitzenbleiben“: „Der erste Ballabend: Ich stehe neben meinen Wiener Freundinnen in sehr gedrückter Stimmung … Die Tanzmusik begann, sie lockte … An der Tür des Tanzsaales angekommen, drückte ich mich gegen den Türpfosten und erwartete beängstigt die große Demütigung des ‚Sitzenbleibens‘ auf meinem ersten Ball. Doch siehe, es kam anders. … Dieser erste Walzer auf der Bühne der großen Welt brachte mir Glück: ich war nie Mauerblümchen und habe nur ein einziges Mal im Leben einen unbesetzten Tanz zu verzeichnen gehabt.“85 Bei guter Debüt-Planung war eine solche Angst faktisch unbegründet. Menschen ähnlicher Sozialisation und Lebensumstände trafen aufeinander, die das Kennenlernen erleichterten, sofern man sich nicht ohnehin schon kannte. Doch die ähnlichen Menschen differierten nach Geschlechtern. Das Debüt der jungen Männer fand auf dem Parkett von Fecht- und Hörsaal statt. Betraten sie den Ballsaal, waren sie bereits ‚Manns genug‘, während die jungen Frauen erst jetzt die Beweislast des sozialen Geschlechts zu erbringen hatten, die sich, formal betrachtet und darin geschlechtsspezifisch, auf dem Parkett vorgegebener geselliger Zweigeschlechtlichkeit vollzog. Aussehen und Attraktivität gewannen hier an Bedeutung. Das erste Ballkleid wurde sorgfältig ausgewählt und angefertigt. Manche Frauen erinnern diesen an der Kleidung sichtbaren Übergang zur jungen Frau mit Unbehagen. Man mißfiel sich „in der mir unsympathischen Balltoilette“, kam sich „wie ein Affe vor in dem kostbaren, dekolletierten Schleppkleide“ oder zumindest „drollig“ und „wie zu einem Kostümfest“ gekleidet.86 Das Unbehagen verflog schnell. Das Kleid bildete die Voraussetzung eines Ballbesuchs, ein schönes Kleid beförderte Chancen auf der Tanzfläche und diese ein positives Selbstbild: „Ich bildete mir ein, sehr häßlich zu sein, … Dieser Anblick meiner selbst war mir damals unbefriedigend. Bald aber kam ich zu anderer Meinung durch meine kleinen Erfolge im Ballsaal.“87 Trat zur Anmut der Erscheinung ein anmutiger Geist, der die Unterhaltung zwischen den Tänzen und Geschlechtern zu beleben verstand, war ein gelungenes Entree sicher, während ein gelehrter Geist nicht zu überzeugen vermochte oder nicht überzeugen wollte: „Als erwachsenes Mädchen führte sie nur gelehrte Gespräche auf Hofbällen. ‚Finden Sie nicht, diese Hitze erinnert an die Bleidächer Venedigs?‘ Die Leutnants fürchteten sich vor ihrer Gelehrsamkeit.“88 Um beim Entree als Frau zu genügen, bedurfte es einer auf das andere Geschlecht bezogenen Inszenierung und Vergewisserung von Weiblichkeit. Die „Mauerblümchen“-Furcht, die vor dem Ball emotionale Unwägbarkeiten signalisierte,

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Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 24, ähnlich bei Fugger (1932 / 1980), S. 84f. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 24; Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 162; Erdödy (1929), S. 55. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 24. Preuschen (1917 / 1926), S. 26. Zur Verbindung von Anmut in Erscheinung und Geist als wahrgenommener Erfolgsgarant am Berliner Hof im Jahre 1840 vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 79–81.

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wie man auf ein männliches Gegenüber wirkt, verflog, wenn dieses Weiblichkeit bestätigte: „Vom Ballfieber war keine Spur mehr; es war einem Tanzfieber gewichen. Ich amüsierte mich köstlich, … ich war immer von Herren umringt, die alle mit mir tanzen wollten. Er war einfach himmlisch, dieser erste Ball bei Schönburg.“89

3.3.3. Wegweiser: Eheschließung Als Debütantin demonstrierte die Tochter, daß ihre Familie sie für heiratsfähig hielt. Von nun an durfte den jungen Frauen „offiziell der Hof gemacht“90 werden. Ihre Teilnahme an adeligen Veranstaltungen (Theaterbesuche, Theateraufführungen, Konzerte, die unterschiedlich graduierten Hofbälle, Empfänge und Bälle führender Häuser, Hochzeitsfeiern und andere Feste) bot Gelegenheiten zur Partnerfindung, die von den Eltern unterstützt und insbesondere durch Mütter oder weibliche Verwandte, welche die Töchter begleiteten, kontrolliert wurden. Daß der gesellige Reigen nicht nur um des zugestandenen jugendlichen Amüsements betrieben wurde, sondern ehestiftende Funktion besaß, ist in den Erinnerungen durchweg präsent.91 Gräfin Erdödy, selbst Gastgeberin von Bällen, betont – den Bogen von den 1850er bis zum Ende der 1880er Jahre spannend – die Kontinuität dieser Funktion und damit eine Konstante für Frauen in der „natürlichen Bahn“: „All dies habe ich die ersten Jahre über als selbst tanzende junge Frau und dann späterhin als Mutter tanzender Töchter mitgemacht, und all dies ist sich in der langen Reihe von Jahren … gleich geblieben, wenn auch Gastgeber und Gäste des öfteren wechselten und früher gastfreie Häuser nach Ausheiratung ihrer Töchter sich schlossen und sich dafür wieder andere öffneten“92. Ab sofort tanzten Adelige im Vorhof der Ehe um eine gute Partie bzw. konkurrierten auf reguliertem Heiratsmarkt um selbiges Ziel. ‚Hohe Töchter‘ aus regierenden Häusern mußten hier so wenig konkurrieren, wie ‚höhere Töchter‘ aus finanziell schwachen Familien den Markt betreten konnten.93 Das heißt, das Entree selektierte nicht nur gute Familiennamen, sondern als Heiratsmarkt ordnete es die Tanzenden, vielmehr Nichttanzenden, außerdem nach dem Prinzip der Ebenbürtigkeit und dem Prinzip der Liquidität. Koste es, was es wolle und stich aus, welche du kannst, scheint das Komtessen-Motto um 1880 aus Anlaß eines Wiener Hofballs gewesen zu sein. „Alle Liebe und Zuneigung 89 90 91 92 93

Fugger (1932 / 1980), S. 86. Dönniges (1909), S. 20. Vgl. etwa Arnim (ca. 1891 / 1937); S. 46, Bunsen (1910), S. 161; Bunsen (1929), S. 95; Fugger (1932 / 1980), S. 93f.; Suttner (1909), S. 68. Erdödy (1929), S. 123. Für Töchter regierender Häuser stellte der erste Ball eher eine Jugendepisode dar, kein zäsurbildendes biographisches Ereignis. Die Praxis des Ehearrangements läßt die Bedeutung als Heiratsmarkt nicht aufkommen. Vgl. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 111 u. 136; Toscana (1911 / 1997), S. 39 u. 42. War der finanzielle Aufwand für ein Entree zu groß, verdichtete sich selbiges ebenfalls nicht zu einem biographischen Ereignis und blieb Episode. Vgl. Rittberg (1896), S. 11.

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erstarb im Ehrgeiz, die Freundinnen zu übertrumpfen. Der Kostenpunkt spielte natürlich auch seine Rolle. [Eine Hoftoilette war teuer und kostete zwischen 300 und 500 Gulden, M. K.] Um jeden Preis wollte man schön sein, Effekt machen und nicht im Schatten stehen.“94 Das ‚Ausstechen‘ von Konkurrentinnen war womöglich ein weiterverbreitetes Phänomen als die an der Wand sitzenden „Mauerblümchen“. Als die Geschwister Arnim 1840 mit großem Erfolg (die besten Tänzer forderten sie auf und schon zählten sie zur „Creme der Gesellschaft“) am Berliner Hof debütierten, betonte die sie begleitende Tante in einem Brief: „Was die beiden selbst unter den jungen Damen beliebt macht, ist, daß man sie bei ihrem lebhaften Wesen so ganz frei von aller Koketterie findet.“95 „[S]elbst unter den jungen Damen“ wird hier hervorgehoben, mithin keine übliche Beliebtheit. Dieser Wettkampf wurde nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern war Teil eines ‚Komtessen-Turniers‘, dessen Siegerin Gunst und Aufmerksamkeit des Herrn beanspruchen konnte. Je exklusiver ein Fest war, desto enger schlossen sich die Kreise um einen potentiellen Heiratskandidaten. Nora Fugger erzählt von den Müttern der Wiener „ersten Gesellschaft“, daß diese Anfang der 1880er Jahre ihren Töchtern nur die ältesten Söhne von Majoratsherren anempfahlen. Manche der Mütter führten Notizbücher über Namen und Einkünfte solcher „hochragenden Wipfel der Jungherrenwelt“, an denen sie sich orientierten. Von einer Gastgeberin und Mutter von Töchtern sagt sie, „daß sie sich genau nach ihrem Notizbuch richtete; denn zu den Festen, die sie gab, ladete sie grundsätzlich nur künftige Majoratserben ein.“96 Dieses Beispiel verdeutlicht, welche Aufgaben Frauen zum Zweck des Namenerhalts wahrnahmen. Wies die Logik der „Geschlechterkette“ den Männern die Aufgabe zu, den Ruhm der Familie zu mehren, so hatten Frauen teil an der Pflege und Verwaltung des Glanzes. Sie mußten die Adelsgesellschaft kennen, um die guten von den schlechten Familien zu unterscheiden, sie filterten die vielversprechenden Erben heraus, um exklusive Feste, die den Glanz der Familie manifestierten, zu veranstalten, damit den Töchtern den Weg zum Wechsel in eine gleichartige Familie bahnend. Fand sich eine auserlesene Geselligkeit zusammen, war das Risiko einer künftigen mißlichen Ehe gering. Anekdoten über reihenweise einschlafende Mütter, die somit ihre Ball-Aufsichtspflicht vernachlässigten, zeugen von der Möglichkeit, sich als Tochter der sozialen Kontrolle in frühen Morgenstunden zu entziehen, doch ebenso von einer gewissen mütterlichen Sorglosigkeit, da sich die ‚richtige Jugend‘ zusammenfand.97 Im wachen Zustand beobachteten Mütter sehr genau, welche mit wem und wie oft tanzte. Ernste Eheabsichten waren daran abzulesen. In Wien galt die Etikette-Regel, nicht zweimal in einer Saison mit demselben Tanzpartner den Kotillon zu beginnen. Fand sich dennoch

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Fugger (1932 / 1980), S. 95. Am Berliner Hof der Saison 1841 bildeten sich unter den jungen Damen „zwei Koterien, die sich fast so feindlich gegenüberstanden wie die Montecchi und Capuletti“. Sie konkurrierten um ‚wahre Schönheit‘: natürlich oder elegant. Arnim (ca. 1991 / 1937), S. 91. Arnim (ca. 1991 / 1937), S. 81. Fugger (1932 / 1980), S. 207. Vgl. Bunsen (1929), S. 51f.; Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 25 u. 27.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

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ein solches Paar, galt dieses als künftig verlobt. Im Berlin galt selbiges, wenn sich ein Paar zu den wichtigen Tänzen – erster Walzer, der Tanz nach dem Souper, der Kotillon – zusammenfand.98 Zum Kotillon gehörte am Ende der Austausch kleiner Geschenke unter den Tanzenden. Die Damen erhielten vornehmlich Blumenbuketts. Als Ritual mit dem Tanz verbunden, bekamen diese ihre sublime sexuelle Bedeutung durch die Anzahl der Sträuße, die eine Frau erhielt, woraus sie auf ihre Attraktivität schließen konnte bzw. durch ein besonders schönes Bukett, das eine stärkere Neigung signalisierte. Der Gesellschaftstanz, der formal Paare zusammenführte, konnte dies auch emotional: Die habsburgischen Erzherzoginnen durften deshalb den letzten Tanz nur mit verheirateten Herren tanzen.99 Endete die Saison, zogen sich die Familien idealerweise auf ihren Landsitz zurück. Es wurde Frühling, die jungen Frauen fühlten sich nicht gut. Die erste Saison hatte neuartige Erlebnisse mit sich gebracht, die ihr Gemüt verunsichert, beeindruckt hatten. Aus Wien, München und Berlin, aus Cottbus in der Lausitz kamen die gerade zu jungen Erwachsenen gekürten Mädchen mit Liebesleid zurück.100 Die „natürliche Bahn“ ging ihren Weg, mit ihr Jungfrauen, die Schritte beschleunigend – der nächsten Saison entgegen. „Blütenträume“ gingen in die Prosa des Heiratsmarktes ein. Die soziale Konformität beider Geschlechter sorgte dafür, daß sich die Liebe – spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert auch im Adel Vorbedingung der Eheschließung – auf einen adäquaten potentiellen Partner bezog.101

3.3.4. Warten auf die Ehe oder das Wählen einer Option? In der Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Bürgertum wird die These vertreten, daß die Jugend für junge Frauen im 19. Jahrhundert ein Warten auf die Ehe gewesen sei.102 Diesen Defizit-Ansatz stark relativierend, hat Irene Hardach-Pinke gezeigt, daß sich im Jahrhundert bis 1850 bei Mädchen des Adels und der bürgerlichen Oberschichten eine in 98 99 100

101

102

Vgl. Fugger (1932 / 1980), S. 250; Bunsen (1929), S. 51. Vgl. Fugger (1932 / 1980), S. 240. Eine nüchterne Prosafassung der Saisonfolgen: „War der Winter vorüber, so hatte ich stets nach irgendwelchen innerlichen Erlebnissen, mit einer gewissen Mühe, wieder Ordnung in meinem Herzen herzustellen.“ (Hadeln, 1935, S. 68.) Eine romantische Prosafassung: „Alles war hier wie sonst – nur eins war anders: der Aufruhr in meinem Herzen. Mit dem Gedanken an Adalbert erwachte ich, und ihm galten meine Träume in tränenreichen Nächten. Tagtäglich wandelte ich auf dem Eichwall auf und ab und ergoß mein jubelndes Herz in schwärmerische Gedichte, … Aber von Woche zu Woche wurde mein Herz schwerer.“ (Arnim, ca. 1891 / 1937, S. 88.) Silke Lesemann hat in der Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur zu Adel und Liebe um 1800 für den protestantischen Adel Brandenburg-Preußens nachweisen können, daß Emotionalität bereits um 1700 eine wichtige Rolle in den Ehevorstellungen spielte. Vgl.: Lesemann, Silke, Liebe und Strategie. Adlige Ehen im 18. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 189–207. Vgl. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 39; Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 240ff.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

normativer und erfahrungsgeschichtlicher Hinsicht eigenständige Jugendphase herausgebildet hatte.103 Dennoch ist es nach wie vor nützlich, vom „Warten auf den Zukünftigen“ (Ute Frevert) zu sprechen, wenn man das Bild nicht als Tatsache „Lebensphase“ betrachtet, sondern als Verdichtung eines Problems. Dieses Bild fokussiert einen zentralen Widerspruch in der bürgerlichen Gesellschaft. Einerseits war Bildung das Ideal, die Wirklichkeitsorientierung im Bürgertum, das Söhnen und Töchtern gleichermaßen sozialisatorisch vermittelt wurde. Andererseits blieben den Töchtern alle praktischen Ableitungen aus diesem Ideal verschlossen: der Zugang zu Bildungsstätten und Bildungspatente für bürgerliche Berufe, die damit verbundene ökonomische Selbständigkeit, die Chance auf eine berufliche wie gesellschaftliche Karriere. Die in Autobiographien formulierten geschlechtsspezifischen Ausschlußerfahrungen junger bürgerlicher Frauen umkreisten deshalb Bildungs- und Berufsbereiche.104 Die formalen Ausschlüsse galten ebenso für weibliche Adelige, nur erinnern sie diese im Kontext der „natürlichen Bahn“ nicht. Adelige Söhne absolvierten zunehmend Gymnasien und Hochschulen, konzentrierten sich dabei auf wenige Fächer, paßten sich an die formalen Bildungsqualifikationen an. Schwestern scheinen nicht willens gewesen zu sein, ihren Brüdern diesen Universitätsgang zu neiden. Diese „Leerstelle“ in den Erinnerungen korrespondiert mit jenen nicht vorhandenen Stilisierungen des Bildungsideals bei adeligen Autoren, die Malinowski dazu nutzt, um sein Argument zu stärken: „Adlige Distanz zur bürgerlichen Macht des Wissens erscheint hier als Versuch, das Ideal vom unzersplitterten Sein zu bewahren gegen jene professionelle Deformation der Persönlichkeit, die in Form des Spezialistentums den bürgerlichen ‚Fortschritt‘ des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglicht und kennzeichnet.“105 Dieses Gruppenspezifikum der Geringschätzung nicht von Bildung und Beruf im allgemeinen, sondern der Geringschätzung von Fachwissen und Spezialistentum im besonderen, besitzt eine geschlechtsspezifische Komponente. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die ästhetisch-literarische Erziehung und Bildung, wie sie adeligen und bürgerlichen Töchtern neben der Vermittlung haushalterischer Kenntnisse und Fertigkeiten zuteil wurde, abgewertet. Die Beschäftigung mit Musik, Literatur und Sprachen als Bestandteil weiblicher Jugend galt nunmehr als billiges Dilettieren, nicht mehr als Ausbildung personaler Fähigkeiten. Die „höhere Tochter“ von der traurigen Gestalt wurde kreiert, die Jugendphase zur erzwungenen Passivität degradiert. Dies vor allem in Lebenserinnerungen von (frauen)politischen Aktivistinnen oder Schriftstellerinnen mit individuellem Emanzipationsgang. Als Argumente für Hochschulbildung und qualifizierte Berufstätigkeit von Frauen, als Deutung einer wahrgenommenen Ausdifferenzierung männlicher Berufsfelder in zunehmender Distanz zur Familie.106 Die hier betrachteten adeligen Frauen vor normalbiographischem Hinter103 104 105 106

Hardach-Pinke, Bleichsucht. Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 240–252; Hardach-Pinke, Bleichsucht, S. 198ff. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 89. Hardach-Pinke, Bleichsucht, S. 202–205.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

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grund hatten an diesem Diskurswechsel keinen Anteil. Die „Leerstelle“ in den Erinnerungen verweist auf eine Passung von schöngeistiger allgemeiner Mädchenbildung und sozialisatorisch vermittelter Distanz zum Spezialistentum, die den Eindruck vermittelt, daß formale Bildungsqualifikationen kein Kriterium der Benachteiligung des weiblichen Geschlechts in der zweiten Jahrhunderthälfte darstellten. Wenn aber adelige Frauen Bildung bzw. deren praktische Ableitungen nicht als Ausschluß artikulierten, dann konnten die Geschlechter im Adel in dieser Hinsicht nicht in dem Maße differiert sein, wie im bürgerlichen Geschlechterprogramm offeriert. Das Bild vom „Warten auf den Zukünftigen“ trifft im genannten Sinn nicht auf die Jugenderinnerungen adeliger Frauen zu. Hier ist das Bild vom „Eintritt in die Welt“, das gesellschaftliche Debüt darstellend, aufschlußreicher. Es fokussiert kein Problem, sondern die Integration in die Adelsgesellschaft. Sich mit dem imaginierten Vorwurf auseinandersetzend, daß die intensiven Erinnerungen an Bälle und Ballerfolge adelige Frauen als oberflächlich und einfältig charakterisieren, reflektiert Bertha von Suttner, die weibliche Jugend der 1860er Jahre meinend, die lebensgeschichtliche Bedeutung des Entrees wie folgt: „Ich frage übrigens einen alten, noch so gediegenen General, ob er sich nicht an das Klirren des Säbels erinnert, den er zum ersten Mal nach seiner Ausmusterung nachschleifen ließ, und frage den gelehrtesten Professor der Staatswissenschaften, ob er nicht noch die Farbe des Bandes vor sich sieht, das er auf seiner Studentenmütze trug? In diesen Dingen – Ballbukett, Leutnantssäbel, Coleurband – liegt aber noch ganz etwas anderes, als was sie sind – es duftet und klirrt und leuchtet darin das Symbol; Einlaßkarten sind es in das große angekündigte Festleben – … Zukunft. […] Der höheren Tochter ist … der Ball die höchste Freude und die einzige Gelegenheit, ihren Beruf – eine glückliche Eroberung – zu erfüllen.“107 Suttner antizipiert ein männliches Wahrnehmungsschema. Indem sie den Vergleich über den Beruf betont, stellt sie die Gleichwertigkeit des Ereignisses bei geschlechterdifferierenden Biographien her. Entree wie Coleurband geben nicht nur die künftige Richtung der „natürlichen Bahn“ an, was immer auf dieser unerreicht bleiben wird, zunächst ist Hoffnung auf ein individuell gelingendes Leben. Auch wenn das Tanzen bis zum Ehestand eine vergleichsweise kurze ‚Berufskarriere‘ darstellt, ist sie nicht weniger bedeutsam als jene des Generals. Stellten familiäre Ressourcen die Bedingungen bereit, um eine „Position in der Gesellschaft“ einzunehmen, bedeutete das Entree als beginnende Übergangsphase wie kein anderes biographisches Ereignis sich seiner selbst sozial zu vergewissern. Suttners Analogie über den Beruf unterstreicht, daß die „natürliche Bahn“ zwar strukturiert, aber nicht schicksalhaft vorgegeben war. So wie dem alten General wohl die Offizierslaufbahn in die Wiege gelegt wurde, nicht aber der hohe Rang am Karriereende, hing die Arbeit an der „glückliche[n] Eroberung“ vom individuellen Engagement ab. Mit dem „Eintritt in die Welt“ begann für adelige Frauen die individuelle Gestaltung der eigenen Biographie in der „natürlichen Bahn“.

107

Suttner (1909), S. 68f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Vom Standpunkt einer mit dem Zerrbild der „höheren Tochter“ ausgestatteten bürgerlichen Feministin mochte die Berufsanalogie von falschem Bewußtsein oder unaufhebbarer Unterdrückung künden, vom Standpunkt eines ehrgeizigen, leistungshörigen, im Aufstieg begriffenen bürgerlichen Unternehmers wäre sie unverständlich bis lächerlich gewesen. Über Suttners Rechtfertigung der „höheren Töchter“ hinaus scheint mir die Verknüpfung des Berufes mit dem Tanz als Geselligkeitsform, die Verknüpfung von männlich und weiblich auf einen von Norbert Elias hergestellten Zusammenhang zu verweisen, wonach der höfisch-aristokratische Mensch auf besondere Weise in gesellschaftliche Veranstaltungen eingebunden war: „Das Netz der direkten Beziehungen ist bei ihm engmaschiger, die geselligen Kontakte zahlreicher, die unmittelbare Gesellschaftsgebundenheit größer als beim berufsbürgerlichen Menschen, bei dem die durch den Beruf, durch Geld oder Waren vermittelten Kontakte weitaus den Vorrang haben.“108 Die gesellschaftlichen Veranstaltungen spielten auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle für das adelige Selbstverständnis. Tanz, Konversation, Tischsitten und Umgangsformen wurden Mädchen und Jungen anerzogen, um sich künftig auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen zu können. Zu einer Gesellschaft zu gehören, egal ob höfisch, aristokratisch-mondän oder im lokal-regionalen Zusammenhang, hieß immer, in einem Netz sozialer Beziehungen zu agieren, familiäre Verbindungen zu pflegen und weiterzuentwickeln, die allemal den Zusammenhalt im Adel festigten. Daß Männer dem Gesellschaftlichen hohe Priorität zuerkannten, hat bereits Heinz Gollwitzer, allerdings nicht mit der Intention einer zum Zeitpunkt noch nicht existierenden Männergeschichte, in seiner „Typologie der Standesherren“ aufgezeigt. Für die Gruppe der standesherrlichen Grandseigneurs spricht er ausdrücklich davon, daß Politik und Gesellschaft zwei gleichwertige Bereiche für den einzelnen darstellten.109 Natürlich, Standesherren gehörten zur Spitze der Adelspyramide, und es steht zu vermuten, daß im unteren Segment im ausgehenden 19. Jahrhundert Männer ihrem Beruf einseitig Aufmerksamkeit zollen mußten. Dennoch, wer dazu gehören wollte, mußte sich in der Gesellschaft zeigen. Wenn Suttner (die Autobiographie erschien 1908) an das „Coleurband“ erinnert, das den männlichen Berufsweg symbolisiert und an das gesellschaftliche Entree, welches den weiblichen Weg zu Ehe und Familie symbolisiert und beide in ein analoges Verhältnis setzt, dann rechtfertigt sie zunächst die Existenz der „höheren Töchter“. Sie muß demnach einen Diskurs- oder Realitätswandel im Blick gehabt haben, wonach der Beruf, der Berufsmensch alles, alles andere nichts ist. Wie ausgeführt, formulierten Frauen im Kontext der „natürlichen Bahn“ keine Ausschlüsse vor der Folie „Beruf“. Sowohl „Leerstelle“ als auch Rechtfertigung verweisen auf eine gemeinsame lebensweltliche Vorstellung, die das Berufliche, das Ge108 109

Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1994, S. 92. (zuerst 1969) Gollwitzer, Heinz, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815–1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1964, S. 291ff. und 318ff.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

125

sellschaftliche und Familiäre als gleichwertig betrachtet. Trat eine Frau in die Gesellschaft ein, dann verschwand sie aus dieser nicht, wenn sie heiratete. Mithin, das gesellige Leben, von Männern und Frauen praktiziert, bildete eine Schnittmenge zwischen Beruf und Familie, trennte nicht die Geschlechter, sondern führte sie als adelige Gesellschaftswesen zusammen. Die enge Verzahnung von Familie, Gesellschaft und Beruf mochte sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts auflösen. Bis dahin aber das Ideal: Sowenig sich adelige Männer zuallererst und ausschließlich über ihren Beruf definierten, sowenig definierten sich adelige Frauen ausschließlich über die „weibliche Bestimmung“. Diese Offenheit bestimmt das Bild vom „In die Welt gehen“, darin dem Bild vom „Warten auf die Ehe“ verschieden. Spricht Suttner von der Gruppe der „höheren Töchter“, die es unter Rechtfertigungsdruck über eine Kategorie „Beruf“ gleichsam zu homogenisieren gilt, soll das nachfolgende Zitat die oben behaupteten, mit dem Entree verbundenen subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Biographie belegen. 1858 heiratete die 25jährige Paula von Linden den 13 Jahre älteren Bernhard V. von Bülow. Auf einer Seite schildert Bülow, die ihre Erinnerungen um 1915 verfaßte, ihre der Heirat vorausgegangenen haustöchterlichen Empfindungen „Bei all dem Schönen und Reichen, bei all dem von Anderen so heiß begehrten Glück und Glanz, …, mochte es wohl scheinen, als gäbe es für mich des Fröhlichseins kein Ende. Da geschah es, daß das Ende aus meinem eigenen Inneren heraus erfolgte. Die ernste Veranlagung, die von jeher in meinem Wesen mit der frischen Heiterkeit verbunden war, gewann jetzt die Oberhand. Das Leben und Treiben der großen Welt erschien mir immer mehr schal, … Um diesem drückenden Seelenzustand ein Ende zu machen, faßte ich den Gedanken, Diakonissin zu werden … Aber ich mußte mit dem Widerstand meiner Eltern rechnen. Sprach ich den Wunsch nach mehr Zeit und Ruhe für meine ernsteren Interessen aus, so erhob mein Vater Widerspruch; er wollte mich in seiner Nähe sehen und hielt es nun einmal für unerläßlich zum guten Ton im gesellschaftlichen Leben gehörend, daß man sich in den Salons der vornehmen Welt zu zeigen und das zu tun habe, was alle tun. […] An Gelegenheiten, mich gut zu verheiraten, hatte es nicht gefehlt. … Ich konnte mich aber weder damals noch später für einen derselben entschließen. So fehlte meinem Leben der eigentliche Inhalt, denn mein künstlerisches Streben vermochte es wohl zu erhellen, aber nicht auszufüllen. […] Da, in all meine innere Zerrissenheit trat ein Ereignis, das meinem Leben einen Inhalt gab, der es ausfüllte und beglückte – ich verlobte mich.“110 In dieser Sinnkrise, die man als solche betrachten kann, wenn von „innere[r] Zerrissenheit“ und dem Fehlen eines Lebensinhaltes die Rede ist, verschränken sich lebensweltliche Schwerpunktverschiebung und biographische Entscheidung. Zunächst verschiebt sich aus einem inneren Impuls heraus das Lebensgefühl vom heiteren zum ernsten, welches mit einer Interessenverlagerung vom „Treiben der großen Welt“ hin zum „künstlerische[n] Streben“ einhergeht. Der äußere Impuls für eine Veränderung liegt im erreichten Lebensalter. „Ich stand nun schon in

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Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 53.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

meinem fünfundzwanzigsten Jahre“ – Bülow antizipiert eine mögliche Ehelosigkeit, die als Lebensform pejorativ besetzt war und mit Zerrbildern der „alten Jungfer“ korrespondierte. Zwischen Geselligkeit und Ehelosigkeit findet Bülow ihr Lebensglück in der Ehe. In strukturfunktionalistischer und normativer Sicht ginge Bülows Lebensglück, die Ehe, in einer Kategorie und Gruppe „Frauen“ unter, von der dann immer schon klar ist, daß Personen weiblichen Geschlechts ab einem bestimmten Alter mit Ehefrauen und Müttern gleichzusetzen sind. Wenn man aber Bülow als Strukturgehorcherin und Normerfüllerin betrachtet, dann überliest man, daß in der Erinnerungssequenz Optionen auf ein individuell gelingendes Leben vorgestellt werden, von denen Bülow eine wählt. Das Feld des „Gesellschaftlichen“, dessen genannte Bedeutung für das adelige Selbstverständnis hier durch die väterliche Autorität bestätigt wird, stellte die Möglichkeit dar, sich selbst in ein Netz adeligen Kennens und Wiedererkennens einzubringen, nützliche Beziehungen zu pflegen und weiterzuentwickeln. Bülows Vater hätte der soziologischen Deutung sicherlich zugestimmt: Die „gesellschaftlichen Veranstaltungen und Ereignisse sind nicht nur, wie man gemeinhin glaubt, beispielhafte Demonstrationen des müßigen Lebens …, sondern stellen eher eine besondere Form gesellschaftlicher Arbeit dar, welche die Aufwendung von Zeit, Geld und Energie sowie eine besondere, auf die Reproduktion des sozialen Kapitals abzielende Kompetenz voraussetzt.“111 Das Feld des „Religiösen“, hier in der zeitgenössischen institutionalisierten Gestalt der Diakonie innerhalb der evangelischen Kirche, bot insbesondere unverheirateten Frauen die Perspektive, das eigene Leben durch praktisches Tätigsein für andere als ein sinnvolles zu erfahren und zugleich das im Adel tradierte karitative Engagement fortzuführen. Das „Künstlerische“, bei Bülow Malen und Zeichnen, gehörte zum Ausbildungskanon adeliger Frauen. Die Begabtesten nahmen zusätzlichen Privatunterricht. Für die eine oder andere konnte das Malen zur Profession werden, für Bülow und darin sicherlich nicht einzigartig, stellte die Malerei ein ernsthaftes Interesse dar, dem Zeit gewidmet wurde, individuell sinnstiftend war und ein produktives Verhältnis zu sich selbst beförderte. Paula von Bülow wählt die Ehe als ihren „eigentliche[n] Lebensinhalt“ und zeigt über Gesellschaftsdame, fromme Frau und Künstlerin mögliche Optionen, wählbar für andere, an. Bülows Entscheidung stellt alles andere als einen Bruch mit herrschenden Normen dar, sie orientiert sich an einem vorgegebenen normativen Standard sozialer Identität und akzeptiert. Dennoch besteht zwischen Norm oder starker Konvention und Selbstdefinition keine einfache Deckungsgleichheit, sondern diese ist Resultat einer Auseinandersetzung bzw. wird, um der Autobiographik gerecht zu werden, retrospektiv und reflexiv angeeignet. Zweifellos traf Paula von Bülow eine individuelle Entscheidung über ihr zukünftiges Leben, als sie sich verlobte. Aber verfolgte sie hierbei einen „eigenständigen Lebensentwurf“? Seit den Anfängen der Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Bürgertum

111

St. Martin, Der Adel, S. 45.

3.3. Das gesellschaftliche Entree als biographisches Ereignis und Wegweiser

127

im 19. Jahrhundert steht mit dieser Frage immer auch die Legitimität des „bürgerlichen Projektes“ zur Debatte. Eigenständigkeit hätten bürgerliche Frauen nicht erlangt, weil sie im Verlauf des Jahrhunderts immer mehr auf den Bereich der Familie beschränkt wurden, so Karin Hausen 1976; Eigenständigkeit hätten sie kaum erkennen können, so Barbara Dudens Interpretation der „Geschlechtscharaktere“, weil die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft „eine bis in die Psyche hineinreichende Unterdrückung der Frau mit sich gebracht“ habe.112 Eigenständigkeit resp. Selbständigkeit bezeichnete im 19. Jahrhundert einen bürgerlichen Grundwert. Auch wenn er darauf nicht reduziert wurde, blieb der Wert als persönliche Qualität an den Besitz von Eigentum gebunden. Sich selbst eine materielle Lebensgrundlage zu schaffen wurde um so bedeutsamer, je mehr der einzelne aus ständischen Bindungen freigesetzt wurde. Ökonomische Selbständigkeit bedeutete materielle Unabhängigkeit von anderen, war in der bürgerlichen Vorstellungswelt Bedingung, sich unabhängig vom Urteil anderer eine eigene Meinung bilden zu können, die als Voraussetzung politischer Partizipation galt. Die ökonomisch fundierte Selbständigkeit entschied maßgeblich darüber, wer (Staats)Bürger war, wer nicht. (Ehe)Frauen unterstanden dem privaten Rechtsraum „Familie“, die Berufswelt blieb ihnen verschlossen – sie waren Personen, aber keine Bürgerinnen.113 Folgerichtig standen die kollektiven wie individuellen Aufbrüche von Frauen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Beziehung zur Berufstätigkeit, werden in der Forschung Wünsche nach profunder Ausbildung, Studium und Beruf als „eigenständige Lebensentwürfe“ gefaßt, stellt Eigenständigkeit die Voraussetzung dar, Bürgerin zu werden.114 Hiernach läßt sich der Emanzipationsgrad von Frauen bemessen und das Egalitätsversprechen des „bürgerlichen Projektes“ prüfen. Paula von Bülow verfolgte demnach mit ihrem Ehebegehren als „Lebensinhalt“ resp. Lebenssinn keinen eigenständigen Entwurf. Allerdings mußte sie auch keine Adelige werden, das war sie von Geburt an. Die adelige Familie stellte auch im 19. Jahrhundert eine vorgegebene Ordnung dar, war zugleich Bindung wie Absicherung, die den einzelnen eine standesgemäße Lebensführung ermöglichte. Wozu dann der Rekurs auf bürgerliche Selbständigkeit, wenn er mit dem Adel nichts zu tun hat? Es geht um eine Standortbestimmung, um die Bewertung des Bülowschen „Lebensinhalts“: Eckart Conze beobachtet Sozialisation und Ausbildung der Töchter der landsässigen Familie von Bernstorff u. a. über zwei Generationen von ca. 1870 bis 1917 hinweg. Er bewertet, daß es „alles in allem noch keine Vorbereitung auf ein Studium oder berufliche Perspektive“ gab. „[N]ach wie vor“ galt die Ausbildung „der Einübung einer geschlechterspezifischen 112

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Hausen, Die Polarisierung, S. 387; Duden, Barbara, Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, in: Kursbuch 47 / 1977, S. 125. Zur Differenzierung und dem Bedeutungswandel zum Jahrhundertende bei: Hettling, Manfred, Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung, in: Hettling / Hoffmann (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 57–78. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 245–253; dies., Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, S. 265–271.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Rolle im Adel und dem konkreten Lebensweg als Gutsherrin, Hausfrau und Mutter“. Im Vergleich zu männlichen Ausbildungswegen schlußfolgert er: „Im Adel jedoch half die sozialisatorisch vermittelte Familienordnung und Familiendisziplin den Töchtern, diese deutliche Zurücksetzung, ja Benachteiligung zu akzeptieren.“115 Die Schlußfolgerung der „Zurücksetzung“ geht aber nicht aus seinem präsentierten Material hervor. Auch entspricht sie nicht meiner Beobachtung und Bewertung, wonach Frauen im Rahmen „Normalbiographie“ über Bildung keine Ausschlüsse artikulierten, weil Bildung nicht den Stellenwert im Adel besaß wie im Bürgertum, wohl aber die Zugehörigkeit zum gesellschaftlichen Leben von großer Bedeutung war. Conzes generalisierende Schlußfolgerung bewegt sich im Fahrwasser bürgerlich-feministischer Emanzipationsbestrebungen von Frauen, deren Strom bis in die Gegenwart in der (qualifizierten) Berufstätigkeit mündet. Die „deutliche Zurücksetzung“ weist den Bernstorffer Töchtern ein protofeministisches Bewußtsein zu, im „noch nicht“ und „nach wie vor“ ist die Richtung enthalten. Die unbegründete Gleichsetzung von bürgerlichem Feminismus einerseits und adeligen Frauen andererseits raubt jenen Frauen die eigene Handlungs-, Entscheidungs- und Deutungsfähigkeit, die sich diesem Muster nicht fügen.116 Selbstverständlich verfolgte Paula von Bülow einen „eigenständigen“ Lebensentwurf. Aber nicht in einem reduzierten Verständnis von Berufstätigkeit, wofür sie keinen Sinn besaß, woraus nun aber nicht zu folgern ist, daß eine Familienordnung oder sonstige Autorität ihr das „Eigentliche“ vorenthalten habe, sondern in jenem allgemeinen, über die bürgerliche Gruppierung hinausgehenden Sinn, „sich jeweils selbst um die Ausgestaltung der eigenen Stellung … zu kümmern, und nicht nur Vorgegebenes zu übernehmen.“117 Die Ehe war nicht immer notwendige Voraussetzung, gehörte aber zu den wichtigsten Bedingungen, um sich als adelige Frau einen – wie es in den Autobiographien heißt – „Wirkungskreis“ zu schaffen.

3.4. Selbstpräsentationen: Von Kommandeusen, Wohltäterinnen, Hofgängerinnen und anderen Ehefrauen Im vorangegangenen ersten Schritt der Untersuchung wurde herausgearbeitet, daß adelige Frauen keineswegs auf eine häusliche Bestimmung im Sinne des bürgerlichen Familienmodells festgelegt waren. Entlang der Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses, aber auch der adeligen Familienstruktur wurde modellhaft eine weibliche Normalbiographie aufgezeigt. In diesem Rahmen stellte die Einnahme einer durch die Familie vermittelten Position in der Gesellschaft sowohl die Möglichkeiten der Familie 115 116

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Conze, Von deutschem Adel, S. 300 u. 297. Auf theoretisch-methodologischer Höhe zu Gleichsetzungsverfahren in der Historiographie am Beispiel der Begriffe Erfahrung und Identität vgl.: Scott, Joan W., Phantasie und Erfahrung, in: Feministische Studien 2 (2001), S. 74–87. Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 59.

3.4. Selbstpräsentationen

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für die einzelne, als auch die primäre Anforderung an die einzelne dar, sich in ein SelbstWelt-Verhältnis zu und in der Adelsgesellschaft zu setzen. Das die Position überwölbende und Handlungsorientierung gebende Leitbild war das der Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Im folgenden zweiten Schritt geht es um subjektive Konkretionen der Ausgestaltung der jeweiligen Position in der Gesellschaft. Gefragt wird nach Selbstpräsentationen in den als adelskonform verstandenen Erzählungsräumen, die man sich als überlappend und einander durchdringend, nicht aber als gegeneinander abgeschottete vorzustellen hat. Das Aufzeigen von Gestaltungsmöglichkeiten, Handlungsorientierungen, Bindungsverhältnissen und Idealen soll belegen, daß die durch Mutterschaft und Eheweiblichkeit gegebene Familienbindung im Adel nicht daran hinderte, am ‚Ganzen‘ teilzuhaben. Im Selbstverständnis der Akteure stellten Kernfamilie und Adelsgesellschaft keinen Frauen exkludierenden Gegensatz dar, sondern blieben aufeinander bezogen.

3.4.1. Ehe und Kernfamilie Während Ehe und Kernfamilie im 19. Jahrhundert immer auch Gegenstand philosophischer, juristischer und sozialkultureller Erörterungen und literarischer Verarbeitungen waren und etwa Bürgerinnen und Bürger ihre Privatsphäre praktisch zu gestalten wußten118, fällt das Reden über die eheliche Paarbeziehung, Kindererziehung und das häusliche Leben in den Lebenserinnerungen eher sparsam aus. Die Lesarten des Selbst werden nicht von Präsentationen der Ehefrau und Mutter im Binnenraum „Kernfamilie“ dominiert. Dieser Befund hängt mit den Zugangsvoraussetzungen zur veröffentlichten Autobiographik um 1900 zusammen. Der Zugang war in der Regel an einen über den Beruf vermittelten Öffentlichkeitsbezug gebunden bzw. an den Nachweis, daß die Individualgeschichte exponierte Züge zur Zeit- und Kulturgeschichte aufwies. Die privilegierte Darstellung des Privaten gegenüber anderen lebensweltlichen Themen blieb deshalb marginal.119 Einblicke in Ehebeziehung und Kernfamilie geben vier Autobiographinnen. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, daß sie den „Bund für das Leben“ nur wenige Jahre ob eines frühen Gattentodes bzw. einer Scheidung erlebten. Die österreichische Kronprinzessin Stephanie und die sächsische Kronprinzessin Luise präsentieren sich stark rechtfertigend. Erstere erwehrt sich eines (imaginierten) Vorwurfs der kaiserlichen Familie, wonach sie als ‚ungenügende Ehefrau‘ mitschuldig am Selbstmord des Thronfolgers Kronprinz Rudolf (1889) gewesen sei. Letztere setzt sich als vorbildliche Ehefrau und Mutter in Szene, um der königlichen Familie ihres Gatten Friedrich August die Schuld an ihrer Scheidung (1903) zuzuweisen. Die Erinnerungen von Maximiliane von Oriola und Paula von Bülow vermitteln demgegenüber stärker idealisierte Eheerfahrungen. Im 118 119

Vgl. Habermas, Rebekka, Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat, in: Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich, S. 287–309. Vgl. Günther, Das nationale Ich?, S. 21ff. und S. 457f.; Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 427f. u. 431f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

hohen Alter geschrieben, werden die wenigen Ehejahre zu den glücklichsten des Lebens hervorgehoben.120 3.4.1.1. Harmonie in der Hierarchie Konzipiert von Aufklärung, Empfindsamkeit und Romantik gingen die Liebe und die Ehe einen Lebensbund ein, der ein diesseitiges Glücksversprechen enthielt und zugleich dazu aufforderte, dieses Glück individuell zu gestalten. Das Konzept der Liebesehe sah das Fundament der Ehebeziehungen nicht mehr in sozialen und ökonomischen Interessen gegründet, sondern in einem reziproken Gefühl der Liebe. Plötzlich gesellschaftsfähig, avancierte die Liebe seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu einem Wert, einem Leitbild, an dem sich vornehmlich bürgerliche Frauen und Männer orientierten, wenn eine Eheschließung als Zukunftsprojekt anvisiert wurde.121 In dieser auch kulturellen Umbruchszeit fand die Liebesehe als Ideal und Lebensentwurf ebenfalls im Adel Verbreitung.122 Allerdings ist anzumerken, daß die Ehe im Familienverständnis einer generationenübergreifenden Geschlechterkette nie Selbstzweck sein sollte, sondern primär der Fortpflanzung des Familiengeschlechts zu dienen hatte. Für Angehörige dynastischer Familien stellte ein gegenseitiges Liebesempfinden keine Ehevoraussetzung dar. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden nach dem Geschlechterarrangement123 zwischen Ehegatten gefragt, wobei davon auszugehen ist, daß Akteure Konzepte nicht applizierten, sondern hybride, weil erfahrungsabhängige Bildungen erzählerisch hervorbrachten. Die bereits erwähnte Maximiliane von Oriola wurde 1818 als zweitälteste Tochter von Achim und Bettina von Arnim geboren. 1853 heiratete sie den Grafen Eduard von Oriola (1809–1862), zu diesem Zeitpunkt Regimentskommandeur in der preußischen Ar120

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Kronprinzessin Stephanie war in erster Ehe von 1881 bis 1889 verheiratet. Sie verwitwete mit 25 Jahren. Die Scheidung der 1870 geborenen Kronprinzessin Luisa erfolgte 1903 nach zwölf Ehejahren. Maximiliane von Oriola verwitwete 1862 mit 44 Jahren nach neunjähriger Ehezeit. Paula von Bülow war nach sechsjähriger Ehe von 1858 bis 1864 Witwe. Vgl. Trepp, Anne-Charlott, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls: Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Hettling / Hoffmann (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 23–55. Ausführlicher zu Realität und Ideal der Liebesehe im Bürgertum vgl: Dies., Sanfte Männlichkeit. In dieser Arbeit widerlegt Trepp solche starken Vorannahmen der älteren Frauen- und Geschlechtergeschichte, wonach die Ehe für Frauen ein Zwangskorsett bedeutete, in dem Persönlichkeitsentwicklung nicht möglich schien. Vgl. z. B. Frie, Ewald, Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777–1837). Biographien eines Preußen, Paderborn 2001, S. 43–71. Im Sinne Erving Goffmans, der im „Arrangement der Geschlechter“ Geschlechterdifferenzen als interaktive Erzeugungen zwischen männlichen und weiblichen Personen in sozialen Situationen betrachtet, ohne den Einfluß von Institutionen, Sozialstrukturen zur Herstellung der Differenzen zu ignorieren. Vgl. Goffman, Erving, Interaktion und Geschlecht, hrsg. u. eingeleitet v. Hubert A. Knoblauch, mit einem Nachwort v. Helga Kotthoff, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2001, S. 105–158: „Das Arrangement der Geschlechter“.

3.4. Selbstpräsentationen

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mee. Gräfin Oriola († 1894) verfaßte ihre Lebenserinnerungen in den Jahren 1890 / 91. Darin erinnert sie sich an ihre erste Ehezeit folgendermaßen: „Auf unserer Reise durchs Berner Oberland schon und nun im alltäglichen Leben erkannte ich immer mehr Oriolas edlen und großzügigen Charakter und fühlte mit Wonne, wie hoch er über mir stand. Ich wunderte mich selbst darüber, wie leicht, ja selbstverständlich es mir, die ich das Gehorchen ja eigentlich nie gelernt hatte, fiel, mein Wollen und Wünschen einem überlegenen starken Willen unterzuordnen, der mir freilich nie hart und schroff, sondern immer zart und liebevoll gegenübertrat. Nie habe ich es anders erfahren, als daß Oriolas eisern fester Wille sich mit leichter Liebenswürdigkeit Geltung verschaffte. Ich hatte die romantische Schwärmerei für Prinz Adalbert erlebt, die irdische Liebe für Lichnowsky, die Freundschaftsliebe für Georg, die himmlische, heilige Liebe für Waldemar – jetzt erkannte ich, daß die wahre Liebe allein auf die tiefe Achtung und das unbedingte Vertrauen zu einer charaktervollen, starken und edlen Persönlichkeit sich gründet. Das ist die Liebe, für die es keine Enttäuschungen gibt, …“124 Das Thema dieser Passage ist die freiwillige Unterordnung einer Frau unter die anerkannte männliche Suprematie in der Ehe. Die subjektiven Sinnes- und Verstandesakte muten zunächst wie eine exakt widergespiegelte Sozialstruktur an. Zweifellos stellte die Ehe eine Institution dar, welche qua Recht, Tradition und Diskurs die Geschlechterhierarchie deutlich fixierte und die in ihr Lebenden in ihren Handlungen, Deutungen prägte. Dennoch enthält die Passage genügend Hinweise darauf, daß nicht die Struktur allein zum Verständnis der Selbstunterwerfung beiträgt. Oriolas Selbstpräsentation als hingebungsvoll Liebende in der Hierarchie (sie spricht von der gefühlten „Wonne“ an ehemännlicher Überlegenheit) erzählt vor allem von vorgängig erlebten Liebesarten, die sie in Erkenntnis der „wahre[n] Liebe“, für die es „keine Enttäuschungen“ gibt, zurückweist. Auch wenn irritiert, wie widerspruchsfrei Oriola Liebe und Unterordnung in der Ehe verbindet, wie konform ihre Anschauung anscheinend mit Betrachtungen einiger Meisterdenker einhergeht125, so wird Oriolas Selbstpräsentation verständlich, wenn man sie als Ergebnis ihrer individuellen Vorgeschichte resp. ihrer erfahrenen Liebesgeschichten begreift. Während die Beziehungen zum Prinzen Felix Lichnowsky und zum Grafen Georg Groeben beiderseitig eine Ehe begründen sollten, war das Liebesempfinden der jungen Arnim für die Hohenzollern-Prinzen vordergründig nicht darauf ausgerichtet. Der gesellschaftliche Kreis, in dem diese Beziehungen von ca. 1840 bis 1852 entstanden, bestand aus jungen Menschen (hoch)adeliger Herkunft, die sich am Berliner Hof oder im

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Arnim (ca. 1891 / 1934), S. 207. Zur Ambivalenz von Liebe in den Geschlechterbeziehungen des bürgerlich-romantischen Modells vgl.: Bauer, Ingrid / Hämmerle, Christa / Hauch, Gabriella (Hgg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien 2005. Zumindest erinnert Oriolas Äußerung an Fichtes gern zitierten Ausführungen in der „Grundlage des Naturrechts“ (1796). Vgl. Frevert, Ute, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S. 17–48, bes. S. 23f.

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offenen Haus Bettina von Arnims zusammenfanden, in dem zugleich bürgerliche wie adelige Künstler, Gelehrte und Staatsbeamte verkehrten. Oriola beschreibt eine freundschaftlich-gesellige Atmosphäre, in der die Jugend für sich in Anspruch nimmt, aus Liebe heiraten zu wollen. Auch wenn man um die Barrieren wußte, das Liebesideal trat in den Vordergrund und drängte die „Ahnenprobe“ zurück. Wenn Oriolas ‚Lieben‘ jeweils am Ebenbürtigkeitsprinzip scheiterten, so wurde zwar letztlich eine Standesnorm realitätsmächtig. Sie stellte aber nicht die große „Enttäuschung“ dar, sondern ist vielmehr in ‚enttäuschender Männlichkeit‘ zu suchen.126 1842 tritt Lichnowsky in den geselligen Kreis der 24jährigen.127 Er bezaubert alle. Schön, liebenswürdig, weltmännisch, geistvoll und reich verliebt sie sich widerstandslos in ihn. Zum Jahresende bittet er leidenschaftlich um ihr Ja-Wort. Das gibt sie ihm, und auch die Mutter willigt ein. Der Plan ist gefaßt, zu Ostern soll die Hochzeit sein. Lediglich das Einverständnis seines Hauses fehlt. „Sehnsüchtig wartete ich auf ein Lebenszeichen von ihm. Vergebens.“128 Dann ein Brief – an die Mutter: Er habe erst jetzt erfahren, daß das Familienstatut eine ebenbürtige Ehe vorschreibt, wenn er die Standesherrschaft antreten wolle. Würde er auf sein Erbrecht verzichten, dann könne er der Tochter allerdings nicht das versprochene Leben bieten. … Lichnowsky läßt nie wieder von sich hören. Sie fühlt sich „enttäuscht, verraten, verlassen“ und kommentiert aus dem Abstand von Jahrzehnten: „Verzeihen habe ich ihm seine Schwäche nie können.“129 Groeben, langjähriger intimer Freund, auch weil beide um das Hausgesetz der sechzehn Ahnen wußten, hält 1848 um Arnims Hand an. Sie willigt ein, obwohl das Gesetz existiert.130 „Jetzt durfte ich ihn von ganzem Herzen lieben“131, glaubt die nunmehr Verlobte. Nach vier Jahren war der Glauben aufgezehrt, hatte sich die mit der Verlobung verbundene Zukunftsgerichtetheit längst in einem Zustand ewiger Brautzeit festgefroren, da Groebens Eltern die Verbindung nicht wünschten. Von diesen schriftlich aufgefordert, dem Sohn zu entsagen, kommt es zur Aussprache zwischen den Verlobten. Inzwischen 32jährig fordert sie „eine klare Entscheidung von ihm“: „Als er auch daraufhin mich nur flehentlich um weitere Geduld bat, brach ich mit ihm. […] Seelisch und auch in meiner Gesundheit schwer erschüttert, entfloh ich nach Wiepersdorf …“132 ‚Enttäuschende Männlichkeit‘ meint folgendes: Es scheint, als ob das Ideal der Liebesehe Männer in besonderer Weise auf ihren „Geschlechtscharakter“ verwies. Familienpflichten vergessend, nur sich selbst zum Maßstab nehmend, folgten Männer ihrer individuellen Neigung, Frauen ihrer Wahl heiraten zu wollen, die einwilligen. Warum? 126

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Das führte zeitweilig zu einer Abneigung gegen die Ehe überhaupt: „Zu jener Zeit aber konnte ich Lichnowsky und meine Erfahrungen mit den Männern noch nicht vergessen und dachte überhaupt nicht an Heiraten, …“ Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 129. Zur Erzählung dieser Liebesgeschichte vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 95–101. Ebd., S. 101. Ebd., S. 101. Zur Erzählung dieser Liebe vgl. ebd., S. 174–198. Ebd., S. 174. Ebd., S. 198.

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Vereinfacht formuliert, ist es der Glaube an ein Entsprechungsverhältnis zwischen dem männlichen „Geschlechtscharakter“ und einem konkreten Mann, der in dem Moment entsteht, in welchem die im Adel geforderte Verzichtsbereitschaft an Handlungsorientierung deutlich verliert. Im Ideal der Liebesehe war verankert, daß es sich hierbei um die Angelegenheit zwischen einer männlichen und weiblichen Person handelt. Damit trat das Verhaltensregulativ „Familienordnung“ hinter das Regulativ von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ zurück. Die junge Arnim sieht in Lichnowsky nicht den Prinzen, auf dessen Heiratsantrag sie mit der Gegenfrage nach dem Familienstatut hätte antworten können. Ihr Ja-Wort gilt einem Mann, von dem nun erwartet werden kann, daß er sich als ein solcher verhält und entsprechend Taten folgen läßt.133 Oriolas Vorwurf an Lichnowsky lautete eben nicht, daß er ihr ein aussichtsloses Eheversprechen abgenommen hat. Seine „Schwäche“ bestand vielmehr darin, daß er sich um der Liebe willen auf keinen Kampf mit der Familienklausel eingelassen hat, daß er sich feige aus ihrem Leben schlich. Der implizit bleibende Vorwurf an Groeben lautete ebenfalls, daß er die Realisierung ihres Eheprojektes nicht hartnäckig gegenüber den Eltern vorantrieb. In der Wahrnehmung und Deutung Oriolas erweisen sich Lichnowsky und Groeben als „unmännlich“, weil sie der tradierten Familienräson folgten, während sie, um ihre Zukunftsperspektiven gebracht, im Zustand seelischer Erschütterung zurückblieb. Graf Oriolas „Männlichkeit“ wird von der Verfasserin anders konnotiert. Zum Bekanntenkreis gehörend, hatte er ihr schon einmal einen von ihr abgelehnten Heiratsantrag gemacht: „Männlich fest“ nimmt er die Absage an, versichert ihr seine treue Freundschaft, wann immer sie dieser bedarf.134 Nach dem Bruch mit Groeben 1852 findet er sich zu einem Kurzbesuch ein und bittet sie um einen Briefwechsel: „Ich fühlte, daß ein freundschaftlicher Gedankenaustausch mit diesem festen Charakter mit wohltun würde …“ Er hofiert zurückhaltend, „und doch blitzte eine so schöne männliche Sicherheit aus seinen Augen, …, als wollte er sagen: ‚Die Zukunft ist mein!‘ “135 Im Jahr darauf fand die Hochzeit statt. Um auf die eingangs zitierte Erinnerungspassage der ersten Ehezeit zurückzukommen: Die mit Sinn und Verstand gegebene Unterordnung unter den ehemännlichen Willen reproduzierte nicht einfach Ehestrukturen, sondern resultierte aus vorehelichen Erfahrungen mit verschiedenen „Männlichkeiten“. Oriola verkörperte Charakterfestigkeit, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Verläßlichkeit. Gegenüber der ‚enttäuschenden Männlichkeit‘ erschien Oriola souverän. Die weibliche Unterordnung ist deshalb auch zu lesen als Erhöhung einer Person zu ‚souveräner Männlichkeit‘. Das Ideal der Liebesehe mochte die Chance zur Annäherung zwischen den Geschlechtern gewesen sein136, scheint aber auch die weiblichen Erwartungen und Anforderungen an das „Mann-Sein“ erhöht

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Der „Glaube“ konnte wohl auch einen instrumentellen Einsatz zum Zwecke sozialen Aufstiegs bedeutet haben. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 159. Ebd., S. 201. So die Grundthese von Ann-Charlott Trepp gegenüber älteren Überlegungen in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Vgl. dies., Sanfte Männlichkeit, S. 39.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

zu haben. Deren Differenzierung in „männlich“ und „unmännlich“ trug dazu bei, die Geschlechterhierarchie im Ordnungsmuster „Polarität“ zu verfestigen. Für das Geschlechterarrangement bedeutete die anerkannte Hierarchie ein ausgewogenes Verhältnis der Beziehung in der Ehe. Denn die eingangs zitierte Passage verdeutlicht ebenfalls, daß Oriolas Unterordnung nicht bedingungslos erfolgte. Diese gründete im Vertrauen auf eine „starke[n] und edle[n] Persönlichkeit“ und einem Erfahrungskontinuum sanfter Herrschaft durch das Familienhaupt. Gemeinsam bilden sie die Eckpfeiler einer vorgestellten harmonischen Ehebeziehung. Konfrontiert man Oriolas Vorstellungen von einer guten Ehe mit den Eheerzählungen der sächsischen und österreichischen Kronprinzessinnen, so wird deutlich, daß die Harmonie in der Hierarchie ein die subjektive Deutung übergreifendes Ideal beschreibt, für das die Liebe entbehrlich ist, aber wesentlich mit einem Verhaltensregulativ ‚verantwortungsvoller Männlichkeit‘ in Wechselbeziehung steht und dieses zur Voraussetzung hat. Die Texte der Kronprinzessinnen stehen unter dem Vorzeichen der Rechtfertigung. Dieses tritt umso deutlicher hervor, weil zu den Folgen der Geschehnisse unweigerlich der Verlust der künftigen Stellung gehörte. Da Rechtfertigungen dazu dienen, sich selbst zu entlasten, kann man in diesen Schilderungen das lesen, was ansonsten nicht thematisiert wird. War Oriolas Enttäuschung auf junge, romantische Helden gerichtet, unternehmen die Kronprinzessinnen eine Demontage von (Ehe)Männlichkeit, die stärker an einem Männlichkeitsideal der zweiten Jahrhunderthälfte orientiert ist. Mit der Begrifflichkeit des „modernen Rittertums“ hat Marcus Funck ein hegemoniales aristokratisches Männlichkeitsideal beschrieben, das erst in den Schützengräben des ersten Weltkrieges zerbrach. Dieses Ideal zeichnete sich durch ein gelungenes Zusammenspiel kriegerischer und chevalesker Facetten aus und konnte von Männern an verschiedenen sozialen Orten, unterschiedlich gewichtet, gelebt werden. Im ritterlichen Mann, ein mehrpoliger Entwurf in Differenz zur Einpoligkeit des professionellen Experten, sollte und konnte die Überlegenheit gegenüber Frauen und konkurrierenden Männlichkeiten sichtbar werden.137 In den vorliegenden Lebenserinnerungen taucht der „moderne Ritter“ explizit als Vermißter auf. Die von den Häusern Habsburg und Wettin gestiftete Ehe zwischen Luise von Toscana und Friedrich August von Sachsen im Jahr 1891 beruhte auf gegenseitiger Neigung, der gemeinsamen Freude an den in schneller Folge geborenen sechs Kindern und einem ehelich-kernfamilären Zusammensein, insbesondere während der ländlich verbrachten Sommermonate. Das von der Kronprinzessin gezeichnete Idyll der Kindererziehung, des Tennisspiels, der Ausritte und der persönlich zubereiteten Mahlzeiten ist sowohl Gegenbild zur höfischen Welt als auch Inszenierung vor lesendem Publikum.138 Diesem versucht sie einige Jahre nach dem von ihr ausgelösten Skandal zu verdeutlichen, daß sie nicht Gat137

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Vgl. Funck, Marcus, Vom Höfling zum soldatischen Mann. Varianten und Umwandlungen adeliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Conze / Wienfort (Hgg.), Adel und Moderne, S. 205–235. Vgl. Toscana (1911 / 1997), S. 98–106.

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ten und Kinder verlassen hat, um eine Liebe zum Hauslehrer zu leben, sondern daß sie „ein zu Tode gehetztes, verfolgtes Weib“139 war, das fliehen mußte, um nicht von König Georg, ihrem sie hassenden Schwiegervater, in eine Nervenheilanstalt eingewiesen zu werden. Toscana präsentiert sich als Opfer einer ihr feindlich gesonnenen Familie und einer höfischen Intrige. Zugleich stellt sie sich als tragische Heldin dar, die im Kampf um kulturelle, höfische und religionspolitsche Neuerungen ihren Gegenspielern unterliegt.140 Die Eheerzählung bleibt davon nicht unbeeinflußt. Die von ihr als real empfundene Bedrohung wird von ihrem Gatten, der sich loyal zum Königsvater verhält, nicht anerkannt. Eher implizit bleibend, rechtfertigt sie ihre Flucht auch damit, daß Friedrich August seine ehemännliche Schutzfunktion nicht erfüllte.141 „Ich werde niemals meinen Gemahl für die unfreiwillige Rolle, die er in der Tragödie meines Lebens spielte, tadeln.“142 Allerdings durchzieht der Tadel unterschwellig die gesamte Erzählung. Der Vorwurf zielt auf mangelnde Ritterlichkeit, auf Handlungsunfähigkeit ab. In der Männlichkeit des „modernen Ritters“ galt der Mann als Verehrer und Beschützer der Frau zugleich143: „Seine Ritterlichkeit war ohne Tadel.“ „In seinen Augen war eine Frau und Mutter etwas so Heiliges, daß er gar nicht begreifen konnte, daß irgendjemand sie zu verleumden wagte.“144 In der gleichbleibenden Erzählfigur des Lobens und Tadelns entzieht sie ihm die Fähigkeit, ritterlich schützend zu handeln. Mit den wiederkehrenden Attributen „herzlich“, „gut“, „treu“, „edeldenkend“, „gerade“ stattet sie ihren Gatten einerseits mit allerhand positiven Eigenschaften aus. Andererseits ist er für sie in der ihr aussichtslos erscheinenden Lage „keine Stütze“, hat er „nicht genug festen Willen“ und „zu wenig Entschlossenheit“, um ihr zu helfen.145 Sie wird von „einer Art Abneigung“ und „ärgerliche[r] Empörung über Friedrich Augusts Schwäche“ erfaßt.146 Letztlich urteilt sie: „Friedrich August kann gut für sich selbst und andere in gewöhnlichen, unwesentlichen Dingen des Lebens handeln: wenn er sich jedoch einer Lage gegenüber befindet, die ihn erregt oder bestürzt, verliert er seine Sicherheit und stützt sich auf die Meinung stärkerer Ratgeber.“147 In einer adeligen Vorstellungswelt von Männlichkeit, in der Willenskraft, Stärke und Überlegenheit Schlüsselbegriffe darstellten, war ein solches Urteil diskreditierend. Etwas anders verfuhr Stephanie von Belgien, letzte Kronprinzessin Österreich-Ungarns, in ihren Eheerinnerungen, in denen sie sich auch des Vorwurfs der Kaiserin und Schwiegermutter erwehrt, sie sei am Tod des Kronprinzen Rudolfs (1889) schuldig. Da dieser mit seiner Geliebten aufgefunden wurde, mochte ihre ‚Schuld‘ darin bestanden

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Ebd., S. 149. Vgl. ebd., S. 132–151. Vgl. ebd., S. 140–150. Ebd., S. 119. Vgl. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 219. Toscana (1911 / 1997), S. 56, S. 144. Ebd., S. 119, S. 118, S. 119. Ebd., S. 160. Ebd., S. 119.

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haben, ihn nicht genügend an sich und das Eheleben zu binden.148 „Es war meine Pflicht, auszuharren, zu dulden und zu schweigen“, beschreibt sie sich selbst in Hinblick auf ihre 1881 geschlossenen Ehe, die sie nach wenigen Jahren als „innerlich schon zerbrochen[es] Zusammenleben“ charakterisiert.149 Die weiblich konnotierte Passivität steht in engstem Zusammenhang mit einer hochadeligen Verhaltensaufforderung, wonach es die Pflicht gegenüber der Gesellschaft sei, über zerrüttete Ehen zu schweigen, um Ansehen und Ehre des Hauses aufrechtzuerhalten.150 Mit der ‚Schweigepflicht‘ vergegenwärtigt sich Stephanie von Belgien als Opfer eines familienunwilligen Gatten, an dem ihre Bemühungen, die gestiftete Ehe auf der Grundlage von Gefährtenschaft, Achtung und Vertrauen zu gestalten, scheiterten.151 Sie habe, so reflektiert sie zum Textende hin ihre ‚Beziehungsarbeit‘, immer versucht, sich für seine Pläne, Tätigkeiten und Liebhabereien zu interessieren, um einen „wärmeren Ton in unser Zusammenleben zu bringen“, jedoch fehlte ihm „jeder Sinn für Familienleben“.152 Statt der Familie fesselten ihn die Jagd und die Großstadt. Zwar wird die männliche Familienferne von ihr als allgemeines Phänomen des sich neigenden Jahrhunderts wahrgenommen153, dennoch nimmt sie ihren Gatten in die persönliche Kritik: Semantisch steht dessen Familienferne in Zusammenhang mit seinem „Hang zu unbeschränkter Selbständigkeit“, seinem Mangel an „sittliche[m] Pflichtbewußtsein und Verantwortungsgefühl“ und der „Haltlosigkeit seines Wesens“.154 Sie deutet ihn als bindungs- und haltloses Individuum ohne moralische Qualitäten, das im deutlichen Widerspruch zu adeligen Verhaltensgeboten von Familienbindung, Pflichterfüllung und Selbstbeherrschung steht. Stellt die kronprinzliche Familienferne implizit das Haupt der Ehe und Familie zur Disposition, deutet seine „Haltlosigkeit“ auf seine ‚Entmannung‘ hin. Zur adeligen Männlichkeit (aber auch Weiblichkeit) gehörte der Begriff der „Haltung“, ein Zusammenwirken physischer und psychischer Dispositionen, unter anderem zum Zwecke der Affektkontrolle. Die natürlich gedachte Überlegenheit des Mannes resultierte aus folgendem Zusammenspiel: „[I]n der äußeren Gestalt drückt sich die innere Haltung aus“.155 Stephanie von Belgien macht das Scheitern ihrer Ehe am Verhalten des Gatten („mein ganzes Wesen empörte sich dagegen“156) fest. Neben der Familienferne sind es seine Alkoholexzesse, seine Unhöflichkeit ihr gegenüber, seine

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Vgl. Belgien (1935), S. 204. Ebd., S. 170, S. 172. Elias, Höfische Gesellschaft, S. 80f. Vgl. Belgien (1935), S. 110, S. 170. Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 117. In der Forschung wird die männliche Familienferne nach der hohen Zeit der Häuslichkeit als Flucht in die Homosoziabilität (Clubs, Sportvereine) vor der ‚verweichlichten‘ Familie gedeutet. Vgl. z. B. für England: Tosh, John, A Man’s Place. Masculinity and the Middle Class Home in Victorian England, New Haven 1999. Belgien (1935), S. 107, S. 212, S. 214. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 224, S. 216. Belgien (1935), S. 170.

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jähzornigen Ausbrüche, die zunehmend „zu unerträglichen und unwürdigen Szenen“157 führten. Männliche Suprematie? „Es war, als ob ihm mit dem inneren Halt auch die gute Form abhanden gekommen sei.“158 Die Demontage von Männlichkeit im Geiste der Rechtfertigung stellt keineswegs das eheliche Über- und Unterordnungsverhältnis infrage; auch mangelt es an alternativen Montagen. Die formulierte Gattenkritik bleibt systemimmanent und bestätigt das Bestehende. Sie ist zu lesen als Verhaltensaufforderung, sich der ehemännlichen Herrschaft qua Ritterlichkeit und Selbstbeherrschung verantwortungsvoll zu bedienen. Somit beschreibt das Ideal der Harmonie in der Hierarchie ein Arrangement wechselseitigen Gebens und Nehmens. Für die gegebene Unterordnung konnte die Gattin zumindest erwarten, daß er sich vor allem in Situationen der Not und Bedrängnis ritterlich verhielt. Wichtiger erscheint, daß der „Ritter“ und die von ihm nicht zu trennende „Haltung“ auch in der Ehe verhaltensregulativ wirkte. Trotz aller Rechtfertigung zeigen die Erinnerungen Stephanie von Belgiens an, daß ein Gatte ohne „Haltung“ zum eheweiblichen Leidwesen werden konnte. Von einem ritterlichen Gatten ließ sich erwarten, gerade auch dann, wenn die Liebe nicht vorhanden oder schon gegangen war, daß er die häufig den Frauen zugewiesene „Zivilisierung des männlichen Ichs“ an sich selbst vollzog und respektbezeugende Höflichkeit als Umgangsform und Verhaltensweise walten ließ. Im Ideal beschreibt die Harmonie in der Hierarchie ein weiblich-männliches Übereinkommen einer ausgewogenen Wechselbeziehung von Unterordnung und (Selbst)Verantwortung, die Freiräume erschloß und ermöglichte. Das Gehorsamsbegehren der eingangs zitierten Gräfin Oriola mutet womöglich weniger befremdlich an, wenn man sich dieses Ideal bewußt macht und zuläßt, daß Ideale auch von einzelnen erlebt und erfahren werden konnten. 3.4.1.2. Umgang mit der Häuslichkeit Die zweiundachtzigjährige Paula von Bülow beginnt 1915 ihre Autobiographie zu schreiben. An ihre durch den frühen Tod ihres Gatten kurze Ehezeit (1858–1864) erinnert sie sich unter anderem so: „Und ich erfuhr es an mir, daß jede Frau erst in der eigenen Häuslichkeit ihre Vollendung findet.“159 Die kollektivierende Selbstbeschreibung greift auf das sozial-kulturelle Leitbild schlechthin zurück. Da Bülow die „Vollendung“ kaum ausgestaltet, greift zunächst die übliche Vorstellung der rein häuslich-weiblichen Bestimmung, der aufopferungsvollen Hausfrau, Gattin und Mutter, die im „Dasein für andere“ ihre Erfüllung findet. Bülow ist die einzige Autobiographin, die ihr weibliches Selbstverständnis so knapp und nahe an der Norm formuliert. Lenkt man die Aufmerksamkeit hingegen auf Fremdzuschreibungen anderer Autobiographinnen, fällt vor allem auf, daß häusliche Mütter nicht jene allgegenwärtige Präsenz besaßen, wie das in den Erinnerungen von Bürge157 158 159

Ebd., S. 197. Ebd. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 55.

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rinnen und Bürgern der Fall war.160 Ist doch einmal vom „Frauenleben, beschlossen in Haus, Mann und Kindern“161 oder von einer Mutter die Rede, die „voll Hingebung für ihre Familie“162 lebte, dann handelt es sich um Äußerungen der ‚Generation Postwilhelminer‘, das heißt um Zuschreibungen von Frauen, die von den neuen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten des ausgehenden Kaiserreiches und der Weimarer Republik Gebrauch machen konnten und sich über Klischee und Stereotyp abgrenzten. Wird eine Mutter als Hausfrau vorgestellt, die ihren Haushalt und das Personal „fest und sicher führt[e]“163 und über die Tugenden von Tüchtigkeit und Sparsamkeit verfügte, dann handelt es sich um ein Armutsphänomen, das eine Bülowsche „Vollendung“ nicht aufkommen ließ.164 Die Wahrnehmung häuslicher Ehefrauen und Mütter besaß demnach Gründe jenseits der natürlichen Bestimmung und das Leitbild, welches sich Bülow vergemeinschaftend zueignet, ist entsprechend interpretationsoffen. Daß eine Vergemeinschaftung unter dem Stereotyp nicht stattfinden mußte, zeigen Äußerungen aus dem hohen wie niederen Adel. „ Da [die] Erzherzogin … schüchtern und energielos war, konnte sie ihre eigene Meinung nie geltend machen. Sie war eine selten gute und gefügige Frau, eine ideale Mutter, die ganz ihrer Familie lebte.“165 Hier sind es individuelle psychische Eigenschaften, welche die Person nicht zur Erzherzogin, aber noch hinreichend zur Mutter qualifizieren. Fürstin Fugger, ebenfalls Ehefrau und Mutter, nimmt sich selbst aus dieser Zuschreibung heraus. Marie von Bunsen beschreibt eine Professoren-Gattin: „Sie lebte gänzlich zurückgezogen, verließ sozusagen niemals das Haus, der Professor machte alle Einkäufe, besorgte auch die Kleider der Tochter.“ Bunsen, der Häuslichkeit fremd war, macht hier eine soziale Differenz mit einiger Verwunderung auf: „Trotz dieser Abgeschlossenheit war sie keineswegs menschenscheu; …“166 Wenn das Leitbild „häuslicher Bestimmung“ recht verschieden gedeutet werden konnte, was verstand deshalb Frau von Bülow unter „Vollendung“? Bei aller Zurückhaltung, die Bülows Eheerzählung kennzeichnet, wird doch deutlich, daß sie auf eine innige Ehebeziehung abzielt, zu der eine geistig-intellektuelle Übereinstimmung namentlich in religiösen Fragen und eine gemeinsam geteilte Lebensauffassung des inneren, reflexiven Welterlebens gehörten. Das Paar bewohnte in Frankfurt (der Gatte war seit 1858 Bundestagsgesandter für Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz) eine Villa, deren Haushalt sie mit Hilfe eines Dieners und einer Köchin organisierte. Hier wurden ihre drei Kinder geboren, deren Erziehung sie mit emotionaler Zuwendung leitete. Zugleich ging sie ihren eigenen Interessen, hier die Malerei, nach. „Wir führten im großen ganzen ein mir sympathisches Stilleben“167, faßt Bülow ihre Lebensauffassung 160 161 162 163 164 165 166 167

Vgl. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 166ff. Strauß und Torney (1943), S. 34. Linden (1929 / 1991), S. 25. Brackel (1905), S. 70. Vgl. Heiberg (1897), S. 9, 30, 54 und Rittberg (1896). Fugger (1932 / 1980), S. 364. Bunsen (1929), S. 56. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 57.

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und ihre ehelich-häusliche Lebensweise zusammen. Vollendung? Stilleben, Stille, Ruhe – dieser Topos durchzieht die gesamte Erzählung als etwas Verlorenes, das es wiederzufinden gilt. Als Tochter eines Gesandten war Bülow fest in der höfischen Welt verankert. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte sie in diese als Obersthofmeisterin am Schweriner Hof zurück. Trotzdem mit diesem Amt die hohe Würde einer Exzellenz verbunden war, scheinen die Nachteile zu überwiegen.168 An „stilles Leben gewöhnt … fiel es mir schwer, mich in das unruhige Leben hineinzufinden. Ich war nicht Herr meiner Tageseinteilung und schwankte stets zwischen den lieben gewohnten Beschäftigungen und den Anforderungen meiner neuen Stellung.“ „Ich strebte nach Vertiefung, bedurfte der Stille und der Freiheit, um nach eigener Intention zu leben; das ist aber im Hof- und gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.“169 Das Hofleben zieht für Bülow offenkundig den Verlust von Selbständigkeit und individueller Lebensgestaltung nach sich. Vor diesem Hintergrund zeigt sich Bülows an der Norm orientiertes Selbstverständnis als Gegenbild zu einer als abhängig erfahrenen Lebensweise. Doch die als „Vollendung“ gedachte „eigene Häuslichkeit“ war nicht nur Gegenbild. Die mehrfach konnotierte „Stille“ und ihr Verlust zeigen an, daß der häusliche Erfahrungsraum zu einem guten Leben dazugehörte. Man kann die „Vollendung“ auch anders, nämlich als Vorwegnahme des Künftigen lesen. Im Adel kamen für Frauen ohne „eigene Häuslichkeit“ im Grunde nur verarmte Ledige und Witwen infrage, die dann entweder in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen oder bei Familienangehörigen in nachgeordneter Stellung lebten. Nach elf Jahren legte Bülow ihr Amt als Obersthofmeisterin nieder. Mit erst 46 Jahren zog sie sich nach Venedig zurück und führte „ein stilles, beschauliches Dasein“170 – ohne ihre mittlerweile erwachsenen Kinder und ihren längst verstorbenen Ehemann. Einen anderen Umgang mit der Häuslichkeit zeigen die Erinnerungen Gräfin Oriolas an die Ehejahre von 1853–1862, in denen bis 1860 ihre fünf Kinder geboren wurden und ihr Gatte zum Divisionskommandeur avancierte. „Oriola fand auch keinen Geschmack mehr an der großen Geselligkeit, und wo er unbedingt hingehen mußte, sagte ich wenigstens ab. Um so schöner war die Geselligkeit im kleinen Kreise, die wir in unserem Hause pflegten.“171 Mit der zweiunddreißigseitigen Eheschilderung ist in den Grundzügen nahtlos an die These Anne-Charlott Trepps der Vereinbarkeit von Familiarität und Soziabilität anzuknüpfen, die sie überzeugend für das Hamburger Bürgertum, der städtischen Elite, bis zum Jahr 1840 dargelegt hat.172 Die charakteristische Offenheit der Bürgerhäuser für Bekannte, Freunde und Verwandte als Voraussetzung der Vereinbarkeit galt in weiten Teilen des Adels wohl ‚immer schon‘ und auch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Zu differenzieren wäre hier nach städtischer und / oder ländlicher Lebensweise, nach Jahreszeiten und nach dem Reichtumsgefälle. Ob die Offenheit, das heißt die familienbezogene 168 169 170 171 172

Vgl. ebd., S. 66, 69, 70, 103f. Ebd., S. 69, S. 70. Ebd., S. 171. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 218. Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 173–183 und S. 370ff.

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Geselligkeit sich im Adel analog zum Bürgertum zum Herzstück adeliger Geselligkeit entwickelte oder ob die Attraktion der Höfe einer ‚mehrpoligen Vergesellschaftung‘ Vorschub leistete, wäre ebenfalls zu untersuchen. Gräfin Oriola jedenfalls verstand unter ihrer Häuslichkeit (neben der Hauswirtschaft) eine emotionale Ehe- und Eltern-Kindbeziehung und eine familienbezogene Geselligkeit. An dieser Stelle soll nur ein Aspekt hervorgehoben werden: Symbolisiert der erste Ball, das „in die Welt gehen“, die Integration in die Adelsgesellschaft, ist es das offene Haus, welches die Zugehörigkeit verstetigt, über soziale und persönliche Beziehungen konkret verankert und hierüber wieder die Gesellschaft als ‚Ganzes‘ zusammenhält. Bedingt durch die berufliche Stellung des Mannes lebt Familie Oriola in mehreren Städten, hält sich aber auch regelmäßig auf den ländlichen Familiensitzen auf. In Bonn entsteht über die häusliche Geselligkeit eine „dauernde nahe Freundschaft“ zu einer Professoren-Familie: „fünfzehn Jahre später habe ich ihr Töchterlein in Berlin in die Gesellschaft eingeführt“.173 Ein dem ‚Kommandeurs-Paar‘ nahestehender Offizier, der sich nach Oriolas Tod „mir als treuer Freund“174 bewährt, verkehrt regelmäßig im Haus. Fürst Pückler weilt oft zu Gast, der dann in Berlin zu den Freunden des Hauses gehört.175 Der Sohn von Bekannten wird Student und lebt „wie ein Sohn in unserem Haus“176 und bereichert die Häuslichkeit um borussische Corpsangehörige. Eine Tochter der weitverzweigten Arnim-Familie, die Oriola später „in der Berliner Gesellschaft und auch in meinem Hause“177 wiedertrifft, ist ebenfalls willkommen. Zur Berliner „Geselligkeit im kleineren Kreise“ gehören die alten Freunde des Ehemannes ebenso wie die Freundinnen und Freunde der Ehefrau. Berlin ist auch der Ort, wo die städtischen Beziehungen zur Arnimschen Familie und deren Freunden intensiviert werden. Geht der Gatte zu seinem ‚Männer‘-, das heißt Ľ Hombre-Abend, weilt sie in „anregendste[r] Gesellschaft“ bei der altbefreundeten Familie Olfers, die ihr Haus regelmäßig für Gelehrte, Künstler und Dichter öffnet.178 In Breslau entstehen Kontakte und Freundschaften zu schlesischen Adelsfamilien bzw. deren Angehörigen: Zu „Gräfin [Henckel] trat ich bald in ein so enges Vertrauensverhältnis, daß ihr Tod im März 1866 wesentlich zu meinem Entschluß, Breslau zu verlassen, beigetragen hat.“179 Nach dem Tod ihres Mannes 1862 bleibt Oriola zunächst und aus einem einfachen Grund in Breslau: „Limburg-Stirums, Eichborns und so viele andere bewährten auf jede Weise ihre alte Freundschaft.“180 Die freundschaftlichen Beziehungen entstanden in der familienbezogenen Geselligkeit des Hauses und Oriola erwidert diese auf spezifische Weise. Sie veranstaltet in ihrem Haus Lese- und Musikabende, zu denen sie immer ungefähr zwanzig Personen als Gäste einlädt: „Grundsätzlich 173 174 175 176 177 178 179 180

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 210. Ebd., S. 212. Ebd., S. 212. Ebd., S. 216. Ebd., S. 212. Ebd., S. 218f. Ebd., S. 232. Ebd., S. 244.

3.4. Selbstpräsentationen

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waren die Mitwirkenden immer nur Mitglieder der Gesellschaft, Berufskünstler zog ich nie hinzu – das gab dem Ganzen den intimen Charakter. Es war für Breslau, wo man größere Geselligkeit nur in Gestalt von üppigen Gastmahlen kannte, etwas völlig Neues. Meine Mittwochabende wurden trotz der ganz einfachen Verpflegung bald berühmt und ich habe viel Dank dafür geerntet.“181 Oriola macht ihr Haus zu einem kulturellen Treffpunkt der Breslauer Gesellschaft. Das ist nicht nur neuartig, sondern erweitert zugleich den Stil nicht einer kleinen, sondern der bisher gültigen größeren Geselligkeit. Indem Oriola ausschließlich gesellschaftsfähige Dilettanten auftreten läßt, unterstreicht sie die Exklusivität der Breslauer Gesellschaft und selbstverständlich die Einzigartigkeit ihrer Veranstaltung. Trepp hat in ihrer Arbeit zur „Sanften Männlichkeit“ kritisiert, daß das Schema „öffentlich-privat“ als grundlegendes geschlechtergeschichtliches Interpretament zum 19. Jahrhundert der historischen Relevanz bürgerlichen Ehe- und Familienlebens kaum gerecht wird.182 In der Adelsforschung ist die Bedeutung dieser Dichotomie für die Akteure nicht untersucht. Hier ist zumindest zu zeigen, daß die Trennung von privatem und öffentlichem Leben für adelige Frauen in der Deutung ihrer Häuslichkeit irrelevant war. Gräfin Oriola, die Jahre zwischen 1856 und 1859 erinnernd: „Ich habe wohl nie so still und zurückgezogen gelebt wie in diesen Jahren als Generalin in Berlin. Meine Kinder und mein Mann bedeuteten mir mehr als das große Leben.“ Dieselbe in einem Brief an ihre Freundin: „Ich passe, wie ich jetzt geworden bin, besser für eine kleinere Stadt. Der Umgang mit der großen Welt hat für mich keinen Reiz mehr, und nun gar das Hofleben – …“ Bereits verwitwet dieselbe in einem Brief an ihre Schwester im Jahr 1866: „Bei Hof habe ich mich nirgends gemeldet – ich will gar nicht in die große Welt, sondern ganz still und zurückgezogen meinen Kindern leben und nur in kleine Kreise gehen.“183 Oriola setzt ihre Kinder- und Gattenzentrierung nicht in die Gegensatzpaare Frau / Familie / privat und Mann / Arbeit / öffentlich, sondern in Beziehung zur „großen Welt“. Diese Wechselbeziehung wird von ihr temporär bedingt und prozeßhaft begriffen und vor allem in ihre eigene Entscheidung gestellt. In die „große Welt“ wurde sie eingeführt und der darf sie sich auch in der Distanzierung zugehörig fühlen, weil diese für beide Geschlechter grundsätzlich offen war. Die „society“ oder „monde“ „bildet recht eigentlich die ‚Öffentlichkeit‘ des ancien régime“184, so Norbert Elias. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert haben für die „Welt“ keinen alternativen Gänsefüßchen-Begriff. Gemeint ist immer die Gesellschaft als ‚Ganzes‘, von der die Geselligkeit nicht zu trennen ist und die am besten durch den Hof repräsentiert wird. Oriolas Hofnähe ist unverkennbar. Die Wechselbeziehung von Häuslichkeit und „Welt“ wird auch von anderen Frauen getragen, die dem Hof verbunden waren. Es ist durchaus möglich, daß die Verknüpfung von Häus181 182 183 184

Ebd., S. 245. Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 175f.; zur Problematik und Infragestellung der Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit vgl. generell: Davidoff, Leonore, ‚Alte Hüte‘, S. 7–36. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 218, 222, 252. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 87.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

lichkeit und „Welt“ auf höfische oder hofnahe Kreise beschränkt blieb. Gräfin Erdödy, die in eine ungarische Magnatenfamilie eingeheiratet hatte und Palastdame am Wiener Hof war, schreibt: „Schon seit Melanies [ihre Tochter, M. K.] Verheiratung mit Alfred Khevenhüller hatte ich mich gänzlich aus der Welt zurückgezogen und nur dreimal sollte ich noch aus dieser Stille hervortreten, und zwar anläßlich des Karussells, [das] bei Hofe stattfand, ferner bei …185 Frau von Bülow erhielt 1886 einen Brief ihrer ehemaligen ‚Arbeitgeberin‘, Großherzogin Marie von Mecklenburg-Schwerin, in dem es heißt: „ ,Nach Elisabeths und Friedrich Wilhelms Confirmation wird mein Leben eine neue Wendung bekommen. Ich werde meine stille Häuslichkeit etwas mehr verlassen müssen … Vielleicht treffen wir uns dann einmal in der Welt wieder.‘ “186 Beide Äußerungen weisen große Ähnlichkeiten mit jenen Gräfin Oriolas auf. Allerdings tritt ein Aspekt deutlicher hervor. Die individuelle Entscheidung darüber, wie man sich zur „Welt“ verhält, zeigt hier eine gewisse Regelhaftigkeit. Als Oriola 1866 beschließt, die „Welt“ zu meiden, war das älteste Kind zwölf Jahre, das jüngste sechs Jahre alt. Die Großherzogin verläßt ihre „stille Häuslichkeit“ im Anschluß an die Konfirmation ihrer Kinder, die zum Zeitpunkt sechzehn Jahre alt gewesen sein müßten. Gräfin Erdödy zieht sich aus Anlaß der Verheiratung ihrer Tochter aus der Welt zurück. Diese war das jüngste Kind, heiratete 1888, und in dem Jahr war Erdödy 57 Jahre alt. Das heißt, die Präsenz in der „Welt“ korrespondiert mit lebensgeschichtlichen Übergängen der Kinder. Mit der Konfirmation galten Menschen im protestantisch-religiösen Sinn als erwachsen. Die Großherzogin führt ihre herangewachsenen Kinder an die „Welt“ heran und mit dieser Einführung beginnt auch ihr ‚weltliches‘ Leben. Erdödy ist bis zur Eheschließung ihres letzen Kindes in der „Welt“ und zieht sich dann in die „Stille“ zurück. Was sich hier abzeichnet ist, daß die Wechselbeziehung von Häuslichkeit und „Welt“ mit dem Ziel, Kindern eine Position in der Gesellschaft zu ermöglichen, die auch die Zukunft „der“ Familie sicherstellt, korreliert. Die von Ehefrauen und Müttern formulierte Wechselbeziehung gewinnt hierüber eine durch biographische Übergänge der Kinder geregelte zyklische Qualität und einen spezifischen Familiensinn. Daraus ist nicht zu folgern, daß Ehefrauen ohne Kinder oder mit minderjährigen Kindern die „Welt“ verschlossen war (Gräfin Oriola tritt umgehend nach ihrem Rückzug in diese ein). Doch anzunehmen ist, daß vom ältesten Kind, das in die Gesellschaft geführt wird, bis zu dem jüngsten, das eine Familie gründet, eine ‚hohe Zeit‘ des „Weltbezugs“ herrschte, in der adelige Mütter außerhäusige Familienarbeit leisteten. 3.4.1.3. Elitäre Mütterlichkeit Mit „elitärer Mütterlichkeit“ ist kein Konzept gemeint, das analog zur „geistigen Mütterlichkeit“ in der Frauenbewegung den Zugang zur modernen Gesellschaft einforderte. Mit elitärer Mütterlichkeit soll ein Phänomen beschrieben werden, das sich in den Texten von Kronprinzessinnen beobachten läßt. 185 186

Erdödy (1929), S. 182. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 112.

3.4. Selbstpräsentationen

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In ihrer Untersuchung zur historischen Wahrnehmung der Monarchie durch die Untertanen hat Monika Wienfort gezeigt, daß die Dynastie in bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts auf spezifische Weise ‚einverleibt‘ wurde. Sie schnurrte auf die Familie im bürgerlichen Sinn zusammen. Der Monarch wurde als Vater und Bürger gedacht, der ein Amt übernahm und weitergab. So wahrgenommen, avancierte die königliche Familie zum gesellschaftlichen Vorbild.187 Vor diesem Hintergrund hätte man vermuten können, daß sich Kronprinzessinnen im öffentlich-kommunikativen Medium „Autobiographie“ hauptsächlich als vorbildliche Mütter präsentieren würden, um – wenn auch ex post – ein Band zwischen ‚Thron und Volk‘ zu bestätigen.188 Das ist nicht der Fall. Die Texte transportieren vielmehr ein aus sozialpsychologischer Perspektive formuliertes Kennzeichen elitärer Minderheit in modernen Gesellschaften: „[S]ie muß sich sowohl deutlich erkennbar von der Mehrheit abheben, als auch andererseits genügend Ähnlichkeit zur Mehrheit aufweisen, um eine Identifikation und damit Akzeptanz zu ermöglichen.“189 Bürgerliche Frauen übernahmen im Verlauf des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Anteil an der Pflege der Säuglinge, der Erziehung der Kinder. Diese Arbeit erforderte viel Zeit, Sachkunde und Hingabe und führte zu einer beträchtlichen, gleichwohl ambivalenten Aufwertung der Mutterschaft als ‚wahre Bestimmung‘ der Frauen.190 Stephanie von Belgien formuliert in Hinblick auf ihre Mutter-Tochter-Beziehung im Kleinkindalter: „Ich mußte mich von meinem Kind losreißen und den Kronprinzen begleiten. Es war ein schweres Opfer, aber die Pflicht verlangte es.“ „Die Hauptstadt überbürdete uns mit Repräsentationspflichten. Hatte ich einen freien Augenblick, so eilte ich zu meinem Kinde und nahm es in meine Arme; es war köstlich, mit ihm zu spielen wie vor einigen Jahren mit meiner kleinen Schwester.“ „So hatte ich nur wenig Zeit, mich mit meiner Tochter zu beschäftigen; die Mutterpflichten mußten jenen der Gattin und Kronprinzessin untertan sein. Nur morgens und manchmal am Abend konnte ich in der Kinderstube sein, … Der Kronprinz sah sein Kind noch seltener.“191 Die Ähnlichkeit zur mütterlichen Mehrheit wird hier über eine Tonart des Bedauerns, nicht über genug Zeit zu verfügen, aufgebaut. Beinahe Mitleid heischend, werden die Forderungen und Zwänge der fürstlichen Stellung für die bedauerlich kaum gelebte Mutterschaft verantwortlich gemacht. Das Bedauern wird vom Text nicht getragen. Besonders an dessen Ende wird deutlich, daß Mütter-

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Wienfort, Monika, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640–1848, Göttingen 1993, S. 183ff. Zur Wahrnehmung Kaiser Wilhelm I. in Lebenserinnerungen von Bürgerinnen und Bürgern zwischen Charismatisierung und Volkstümlichkeit bzw. „Bürgerlichkeit“ vgl.: Günther, Das nationale Ich?, S. 248–252. Schmid, Jeanette, Die Wahrnehmung des Anderen. Sozialpsychologische Anmerkungen zu Ethnozentrismus und Marginalisierung, in: Fögen, Marie Theres (Hg.), Fremde in der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 147–167, hier: S. 161. Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 317ff. und S. 366–369; Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, S. 258ff. Belgien (1935), S. 112, S. 116, S. 155.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

lichkeit keine Wertorientierung bedeutete. Als Kronprinzessin aufgewachsen und zur Kronprinzessin bestimmt, wollte Stephanie von Belgien Kaiserin werden.192 Der Tod des Kronprinzen war nicht nur mit dem Verlust ihrer faktischen Stellung verbunden, sondern bedeutete ein umfassende Sinnentleerung ihres vergangenen und zukünftigen Lebens, das zugespitzt formuliert, von der Wiege an einzig auf den Thron zugeschnitten war: „Was blieb, war eine brennende Stelle in meinem Herzen; unbarmherzig strömten Hoffnungen und Lebensinhalt dahin. … Nichts konnte sie schließen und heilen, und ich fühlte erst Linderung, als ich es vermochte, mich in Demut unter Gottes Hand zu beugen.“193 Von Kindern, die den Verlust kompensieren helfen, in denen man trotzdem Sinn entdeckt, ist nicht die Rede.194 Elitäre Mütterlichkeit zeigt sich, wenn man das Bedauern über die Mutter-TochterBeziehung beiseite schiebt. Neben den genuin höfischen Repräsentationspflichten traten jene für das Land: Museen, Ausstellungen, Wohlfahrtsinstitute usw. mußten eröffnet und besucht werden. Zugleich gehörte zu den Aufgaben des kronprinzlichen Paares eine intensive Reisetätigkeit innerhalb der Habsburger Monarchie und der angrenzenden süd- und ostmitteleuropäischen Länder. Nach außen zielten die Reisen darauf ab, durch persönliche Präsenz die politische Lage zu sondieren, Nähe zwischen den Monarchien zu signalisieren und den künftigen Herrscher einzuführen.195 Nach innen sollte das Paar vor allem die Völker des Reiches kennenlernen und bei Nationalitätenkämpfen ausgleichend und vermittelnd wirken, um zu demonstrieren, „daß die Dynastie über den Parteien stand“.196 Im Auftrag des Kaisers war sie persönlich verantwortlich, in einer italienischen Krisenregion ein emotionales Verhältnis zwischen Bevölkerung und Monarchie herzustellen, um zur „Besserung der politischen und dynastischen Gesinnung“ der Untertanen beizutragen.197 Auf der einen Seite spricht sie von „unzähligen Berufspflichten“, auf der anderen Seite steht der Erfolg: „Ich war begeistert … über das Vertrauen des Kaisers … Ich war glücklich über meine Erfolge, hatte ich doch meine Aufgabe, so gut ich es konnte, gelöst.“198 Von Glück und Begeisterung ist in der Beziehung zur Tochter nichts zu lesen. Die österreichische Kronprinzessin zieht Anerkennung und Selbstwertgefühl aus ihrem Engagement für die Dynastie. Die Identifikation mit Mutterschaft ist diesem gegenüber ‚untertan‘. Elitäre Mutterschaft zeigt sich nebenbei als recht aktuelles Familienmodell: 192 193 194 195 196 197

198

Vgl. ebd., S. 114, 153ff. Vgl. ebd., S. 206. Vgl. z. B. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 239f. Vgl. Belgien (1935), S. 119ff. Generell: Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000. Belgien (1935), S. 88. Ebd. S. 153. Zur Wechselbeziehung von Nation und Monarchie am deutschen Beispiel vgl.: Hanisch, Manfred, Nationalisierung der Dynastien oder Monarchisierung der Nation? Zum Verhältnis von Monarchie und Nation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, hrsg. v. Adolf M. Birke u. Lothar Kettenacker, München u. a. 1989, S. 71–91. Belgien (1935), S. 153, 155.

3.4. Selbstpräsentationen

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Vollberufstätige Elternschaft und Ganztagsbetreuung der Kinder von der Krippe bis zu Gymnasium. Luise von Toscana konzentriert sich in der Erzählung auf den Nachweis, eine liebende Mutter gewesen zu sein. Die ‚Vergemeinschaftung‘ mit anderen Müttern erfolgt bei ihr über das Selbststillen, eine Nährpraxis, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das in den Oberschichten praktizierte und kritisierte Ammenwesen abzulösen begann.199 Über die Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung entscheidet auch hier das Zeitbudget einer Kronprinzessin, wird von Toscana aber nicht distinkt verwendet: „Alle freie Zeit, die ich nur irgendwie erübrigen konnte, verbrachte ich mit meinem Söhnchen …“200 Eine regelmäßige Beschäftigung mit den Kindern war wohl dem jährlichen Sommeraufenthalt auf dem Land vorbehalten. Hier heißt es, daß die Kinder „stets um mich“ waren. Sie badet sie, zieht sie an, spielt mit ihnen, bringt ihnen kleine Gebete bei und versucht sie in eine Richtung zu erziehen, in der sich „ihre Individualität … frei und ungezwungen entwickeln durfte“.201 Die Distinktion von der mütterlichen Mehrheit findet in einer anekdotischen Erzählung statt. Die sächsische Kronprinzessin war unter anderem Protektorin eines Kindergartens, in dem sie hin und wieder mitarbeitete: „Eines Tages trug ich ein hübsches Kind auf dem Arm …, als ich einen Arbeiter sah … […] Ich lächelte und sagte: ‚Guten Morgen‘, und als ich näher trat, konnte ich an dem stolzen, liebevollen Blick seiner Augen erkennen, daß er der Vater des Kindes sein mußte. ‚Sie müssen das süße Kleine lieben‘, sagte ich, … – ‚Wer sind sie?‘, fragte barsch der Mann. – ‚Ich bin Prinzessin Luisa‘, erwiderte ich. – ‚Sie, die Prinzessin?‘ – ‚Gewiß.‘ – ‚Na, wenn Sie die Prinzessin sind, ist es gut, daß Sie gleich wissen, daß dieses Kind einem verachteten Sozialisten gehört, der alle Prinzen und Fürsten haßt und sie zum Teufel wünscht‘, sagte der Mann laut und mißtrauisch. Ich blickte ihn ruhig an, worauf ich sagte: ‚Ob diese Kind einem Sozialisten gehört oder nicht, ist mir genau dasselbe, ich sehe nur das süße Geschöpfchen in ihm‘ – ‚Verzeihen mir Königliche Hoheit‘, stammelte der Arbeiter, ‚nun verstehe ich, warum man sie ‚Unsere Luisa‘ nennt.“202 Adelige erzählen gern Anekdoten, besonders solche, die schlagartig ein Licht auf die Unerschrockenheit und Herrschaftsfähigkeit des Helden gegenüber revoltierenden Einzelnen oder Massen werfen, welche ob des souveränen Adelsauftritts in ihre Schranken gewiesen werden.203 In dieser Anekdote wird eine konfliktträchtige Situation geschildert, aus der zwei gewandelte Protagonisten heraustreten. Eine Kindergärtnerin wird zur charismatischen Revolutionsverhinderin, ein klassenbewußter Arbeiter wandelt sich zum einfachen Mann aus dem Volke, der im Angesicht der Prinzessin das Königshaus zu verehren beginnt. Die „Königliche Hoheit“ trägt mit einfachen Mitteln den Sieg davon: 199 200 201 202 203

Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 328ff. Toscana (1911 / 1997), S. 98. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105f. Die Hervorhebungen sind von mir. Vgl. strukturell ähnliche Beispiele bei: Funck / Malinowski, Geschichte von oben, S. 260ff.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Gleichmäßige Ruhe und Höflichkeit, das Bekräftigen ihrer Stellung und ihrer Überzeugung trotz eines aufgebrachten und feindlich gesonnen Arbeiters. Die Überlegenheit der Mittel zeigt sich an der den Redefluß nicht mehr beherrschenden Entschuldigung des Mannes. Die Anekdote pointiert und symbolisiert elitäre Mütterlichkeit auf andere Weise als im Fall Stephanie von Belgiens. Sie befähigt sowohl zur Befriedung sozialer Spannungen, als auch zur adeligen Herrschaftsausübung, die durch die Nähe zum ‚Volk‘ („Unsere Luisa“) wirkungsvoll herausgestrichen wird.204 Während die bisher genannten Kronprinzessinnen eher willkürlich um ihre Stellung gebracht wurden, entschied hierüber bei der preußischen und deutschen Kronprinzessin das Ende des Kaiserreichs. Der „Untergang einer Welt“205 scheint auch die präsentierte Mütterlichkeit der Kronprinzessin – ihre Erinnerungen erscheinen 1930 – beeinflußt zu haben. Ihre Ehe wurde 1905 geschlossen, von den sechs Kindern wurden vier in der Vorkriegszeit geboren, die von der Kronprinzessin auch als Zeit der Mutterschaft erinnert wird. „Unser Familienleben füllte meine Zeit und meine Kräfte so gut wie völlig aus.“ „Welche Mutter kennt nicht das Auf und Ab von Glück und Sorge, das die frühesten Jahre ängstlich gehüteter Kinder begleitet.“ „Segnungen der Mutterschaft, die uns Frauen mit unseren Mitschwestern jeglichen Standes verbinden durch jene zarten Bande gemeinsamer, unaussprechlicher Empfindungen und Erfahrungen!“206 Die Kronprinzessin evoziert ein Mütterlichkeitsbild, das an eine intensive, persönlich geführte Kleinkinderbetreuung denken läßt. Mit diesem Bild nimmt sie eine explizite Wir-Konstruktion vor, die soziale Unterschiede nivelliert und über Mutterschaft eine natürliche Gruppe „Frauen“ schafft. Im Vergleich zu den anderen Kronprinzessinnen wird hier ein Höchstmaß an Angleichung aufgeboten, die zugleich erzählerisch im Unscharfen verbleibt. Dies mochte der Versuch gewesen sein, Zugang zum abtrünnigen ‚Volk‘ zu finden. Denn mit der Revolution von 1918 zerbrach das vermeintliche oder tatsächliche, von ihr mehrfach betonte „starke Zusammengehörigkeitsgefühl, das zwischen dem Volke und dem regierenden Hause bestand“207. Zwar gibt sie zu verstehen, das sie sich in keiner Weise von anderen Müttern unterscheidet, dennoch signalisiert sie Verschiedenheit, wenn sie von den Pflichten und Opfern ihrer Stellung spricht, mit denen man sich abfinden mußte und die so von anderen jungen Ehepaaren nicht erwartet wurden.208 Wie bei Stephanie von Belgien handelt es sich hierbei um eine Form verneinender Bejahung der besonderen Stellung. Ein hohes Maß an Differenz wird auf andere Weise dargestellt. In der Weimarer Republik lebte noch immer der Königin-Luise-Kult, der wie nach dem Zusammenbruch

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Zu Ideal, Realität und Typus von Adelsherrschaft vgl.: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104– 117. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 198. Unter dieser Kapitelüberschrift beschreibt der Verfasser die Verlusterfahrungen und Reaktionsmuster im Adel nach 1918. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 207, S. 206. Ebd., S. 207. Vgl. ebd., S. 205.

3.4. Selbstpräsentationen

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Preußens 1807 die Niederlage kompensieren half. Wurde Königin Luise (1776–1810) postum zur Retterin Preußens stilisiert und später zur Kaiserinmutter des 1871 gegründeten Kaiserreichs kreiert, konnte der Luisen-Kult nach 1918 zumindest jene befriedigen, die den Glauben an die Monarchie noch nicht verloren hatten.209 Kronprinzessin Luise leistet ihren Beitrag dazu, indem sie sich als legitime Nachfahrin Königin Luises und lebendiges Glied einer bis auf diese zurückgehende Kette preußischer Fürstinnen präsentiert. Schon auf der ersten Seite leitet sie ihre Abstammung von der ‚Legende‘ über beide Urgroßmütter her210, so daß sie bei ihrer Eheschließung nicht als Fremde, sondern als Verwandte in die Hohenzollern-Dynastie eintritt. „Die Reihe der preußischen Frauen von Königin Luise bis zu unserer Kaiserin“211 nimmt sie sich als Vorbild, symbolisch dadurch erhöht, daß auch der Kaiser zu den Hochzeitsfeierlichkeiten in einer Rede an „meine hohen Vorbilder“212 erinnert. Konkret orientiert sich die Kronprinzessin an Kaiserin Augusta, die sie zur ‚Übermutter‘ stilisiert: „Sie war für uns … mit einem Worte: die Mutter. Das sagt alles.“ Mit ihrer Güte, Frömmigkeit, Bescheidenheit und aufopferungsvollen Nächstenliebe ist sie nicht nur ihr ein Vorbild, sondern ein „Vorbild der deutschen Frau“ schlechthin.213 Diese Stilisierung dient erzählerisch der Vorbereitung. Während im Adel ab 1918 das Königsopfer, das heroische Opfer auf dem Schlachtfeld debattiert wurde, um wenigstens den ‚Ruhm‘ des Hauses zu retten214, läßt die Kronprinzessin die Kaiserin den weiblichen Heldentod, den ‚Luisen-Tod‘ sterben – ihr war „das Herz über dem Unglück ihres Vaterlandes gebrochen“.215 Mochte des Kaisers Fahnenflucht das Ansehen der Dynastie schwer geschädigt haben, so präsentiert Cecilie wenigstens eine Märtyrerin aus dem Hohenzollern-Haus. Wenn sie von sich selbst sagt, sie habe nie „die Rolle einer politischen Frau spielen“216 wollen, so tritt sie in das von ihr entworfene Bild der letzten Kaiserin ein und bedient die Legende „Luise“, deren Zeitgenossen in ihr schon den bürgerlichen Typ einer Ehefrau und Mutter verkörpert sehen wollten. Präsentiert sich die Kronprinzessin nun als Vorbild für ‚Frau Jedermann‘? Das Gegenteil scheint der Fall. Die Weimarer Republik brachte nicht nur Politikerinnen hervor, sondern auch bisherige kulturelle Rollenmuster ins Wanken. Hinter der „Neuen Frau“ oder der Abgeordneten standen andere Weiblichkeitsvorstellungen als die von der Kronprinzessin präsentierten. Die Kronprinzessin prä209 210 211 212

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Vgl. Wienfort, Monarchie, S. 172f.; Demandt, Philipp, Luisenkult: Die Unsterblichkeit der Königin von Preußen, Köln u. a. 2003. Vgl. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 9, auch S. 124. Ebd., S. 173. Ebd., S. 202. Zu preußischen Königinnen in biographischer Perspektive vgl: Schorn-Schütte, Luise, Königin Luise: Leben und Legende, München 2003; Feuerstein-Praßer, Karin, Die preußischen Königinnen, Regensburg 2000. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 179, S. 182. Zur Debatte um die Kaiserflucht im Adel vgl: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 209–246, zum Königsopfer bes. S. 235ff. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 220. Ebd., S. 208.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

sentiert sich distinkt, indem sie ein tradiertes Bild bemüht. Nach 1918 ging zunehmend auch im Adel der monarchische Gedanke verloren217, die Kronprinzessin hingegen hält diese Idee aufrecht, indem sie sich auf Königin Luise bezieht. Wenn sie sich in eine bis auf diese zurückgehende Kette von Fürstinnen stellt, dann bleibt die Hierarchie zumindest für jene, denen der Glaube an die Monarchie nicht abhanden gekommen war, deutlich erkennbar. In dieser Kette herrscht neben der Vaterlandsliebe ein Kontinuum – die Mutterliebe. Das Kontinuum erweckt den Anschein, als ob Mütterlichkeit von der Hohenzollern-Dynastie erfunden wurde. Wer an die Existenz des Adels glaubte, konnte auch glauben, daß Mütterlichkeit eine genuin aristokratische Qualität darstellte. Monarchietreue Mütter, die sich hingebungsvoll ihrem Nachwuchs widmeten, konnten sich bei der Lektüre dieser Erinnerungen gleichsam nobilitiert fühlen. Das Phänomen der elitären Mütterlichkeit beschreibt somit nicht nur die Möglichkeit, Mutterpflichten als nachgeordnet betrachten zu können und Herrschaft zu demonstrieren, sondern auch die Fähigkeit, in die Symbolproduktion von Zeichen eingreifen zu können. Wenn eine bürgerlich anmutende Mütterlichkeit nach der formalen Abschaffung des Adels im aristokratischen Hohenzollern-Kleid erscheint, dann ist das kaum ein „Verbürgerlichungs“-Indiz. Es scheint vielmehr ein Indiz dafür zu sein, daß in postmonarchischer Zeit Weiblichkeit im Adel verhandelt, (um)gedeutet, erfunden wurde und hierüber auch interpretiert wurde, was als adelig-aristokratisch gelten konnte.

3.4.2. Auf dem Gut, in der Diplomatie, im Militär Anhand autobiographischen Materials hat Ute Frevert soziale Identitäten von Ehefrauen und Ehemännern im Bürgertum untersucht und im Ergebnis „Kulturfrauen“ und „Geschäftsmänner“ vorgestellt, die im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Lebenszusammenhänge in separaten Welten fanden. Beruf, Arbeit und Leistung gehörten den Männern, Frauen die Familie, Kultur und Ästhetik. Die in einer rigiden Arbeitsteilung gründenden Geschlechteridentitäten haben dann zur Folge gehabt, daß sich Frauen weitaus weniger mit ihrer sozialen Gruppe identifizierten als Männer, die sich ihrer Bürgerlichkeit über Leistung und Verdienst gewiß sein konnten.218 Ein derart realisiertes Ordnungsprogramm „polarer Geschlechtscharaktere“ ist für adelige Ehefrauen nicht zu behaupten. Bereits das bis ins 20. Jahrhundert hinein gültige Ideal der Gutsfrau läßt die Relevanz getrennter Sphären fraglich erscheinen.219 Auch autobiographische Titel wie „Erinnerungen einer Offiziersfrau“ oder „Erinnerungen einer Diplomatenfrau“ weisen darauf hin, daß wahrgenommene Geschlechterdifferenzen im Adel keiner scharf konturierten Trennlinie in männliche Berufs- und weibliche Familienwelten folgten. Die Diplomatenfrau erinnert vielmehr an die „Amtsmännin“ der frühen 217 218 219

Malinowski, Vom König zum Führer, S. 247–259. Vgl. Frevert, „Mann und Weib“, S. 133–165. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 15 –18.

3.4. Selbstpräsentationen

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Neuzeit, die über ihren Status als Hausmutter Teil der „politischen“ Öffentlichkeit war. Dieser Status ging jedoch mit der Privatisierung von Ehe und Familie in den Reformgesetzgebungen verloren.220 Im 19. Jahrhundert gehörten Diplomaten- und Offiziersfrauen auf jeden Fall zur adeligen Selbstbeschreibung. Sie galten als anerkannte Mitglieder des diplomatischen bzw. Offizierskorps.221 Somit waren sie Teil solcher staatlichen Handlungsfelder, in denen der Adel seine Spitzenpositionen trotz aller Professionalisierungsdynamiken erfolgreich behaupten konnte.222 Die Teilhabe an den genuin männlich besetzten und konnotierten sozialen Räumen dürfte die Zugehörigkeit zum Adel erheblich gefestigt haben. Mit welchen Anforderungen und Aktivitäten, Sinn- und Selbstbezügen die ländliche wie korporative Bindung verbunden war, ist Thema dieses Abschnitts. 3.4.2.1. Gutsherrinnen Landbesitz stellte die traditionelle Grundlage adeliger Herrschaft dar. Sie bildete im 19. Jahrhundert und darüber hinaus die Voraussetzung ökonomischer Macht für die Mehrheit adeliger Großgrundbesitzer.223 Landbesitzende wie landlose Adelige bezogen sich gleichermaßen auf den Landbesitz, um sich ihrer sozialen und kulturellen Zugehörigkeit zu vergewissern. Das etwa am Beispiel der Jagd phantasmatisch anmutende Leitbild der Landbindung, akzentuiert gegen Großstadt und aufkommende Massengesellschaft224, konnte allerdings auch in den eigenen Reihen recht entzaubert wahrgenommen werden: „Als ich nachher oben am Fenster stand und auf den Hof blickte, wo sich grunzende Schweine und gackerndes Federvieh tummelten, überkam mich so heiße Sehnsucht nach Potsdam und unserem alten Leben, daß mir die Tränen in die Augen schossen.“225 Adda von Liliencron, deren Erinnerungen 1912 veröffentlicht wurden, erzählt mit Unbehagen eine persönlich wahrgenommene lebensgeschichtliche Zäsur im Jahr 1873. Zu diesem Zeitpunkt nahm ihr Mann, bedingt durch Kriegsverletzungen, seinen Abschied vom Militär und erwarb ein Gut in der Oberlausitz, um fortan auf dem Land tätig zu sein. Die damals knapp Dreißigjährige war lebensweltlich fest im Militär verankert. Das ländliche Leben blieb ihr bisher bis auf einige Verwandtenbesuche fremd. Die nächsten Jahrzehnte verbrachte sie mit ihrer Familie, die sich später um Schwiegermutter und Eltern erweiterte, auf dem erworbenen Landbesitz. Als ihr Mann 1901 verstarb, veräußerte sie das Gut und zog zu ihrer Tochter, deren Mann im aktiven militärischen Dienst stand. Die Erinnerungen Liliencrons sind neben jenen von Charlotte von Hadeln die einzigen,

220 221 222 223

224 225

Vgl. Wunder, „Er ist die Sonn’ “, S. 137f., S. 262ff. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 94f., S. 107f.; Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 223. Vgl. im Überblick: Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 15–29 und S. 74–89. Vgl. ebd., S. 96–99 als Forschungszusammenfassung. Eine genaue Untersuchung zum Großgrundbesitz bietet: Schiller, René, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz; für die Zeit nach 1918 vgl. auch Malinowski, Vom König zum Führer, S. 283ff. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 59–72. Liliencron (1912), S. 196.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

die ausführlichere Kernnarrationen zu Gutsherrinnen enthalten. Diese Seltenheit gründet in einer aus den Quellen hervortretenden Lebensweise, die im Adel kaum als unüblich betrachtet werden kann. War ein Sohn nicht von vornherein zum Erben bestimmt, erfolgte der Erwerb eines Gutes oder die Inbesitznahme eines Familiengutes im Anschluß an die männliche Berufslaufbahn, so daß Frauen landsässig aufwuchsen, dann die städtischen Karrieren ihrer Männer im Staatsdienst begleiteten und schließlich wieder auf das Land zurückkehrten. Die ‚immerwährende Landlosigkeit‘ stellte neben dem temporären Landbesitz im Lebensverlauf eine andere Möglichkeit dar. Die Bindung an die Welt des Landadels war in Gestalt von Besuchen, mehrmonatigen Aufenthalten oder als Alterssitz gegeben. Hier lebten Frauen als Gast, aber nicht als Gutsherrin. Als Gutsherrin, ein Wort, das zumindest ein bestimmtes Sozialgefüge zwischen Adel und Landbevölkerung signalisiert, beschreiben sich auch keine Frauen aus reichen, großgrundbesitzenden Familien. Diese mußten nicht Gutsherrin ‚sein‘, sondern ‚besaßen‘ Beamte, die im Familienauftrag die Besitzungen verwalteten, während sie selbst das saisonale Stadt- und Landleben im großen Stil führen konnten.226 Adda von Liliencron fand sich trotz Garnisonssehnsucht zügig in den neuen, ländlichen Verhältnissen zurecht. Von „daher wurde ich denn auch rasch in Feld und Wald sowie in den Ställen heimisch und fand meine Freude daran, als Gutsherrin auf dem Hof und in dem Dorfe tätig zu sein.“227 Die Aufgaben einer Gutsherrin oder Gutsfrau zeigen sich recht breit gestreut. Im engeren Haushalt leitete die Herrin das Personal in Küche und Haus an und organisierte und verteilte anstehende Arbeitsaufgaben. Die regelmäßige und morgendlich pünktliche Anleitung galt für einen reibungslosen Ablauf als Selbstverständlichkeit.228 Vom Haus führte der Weg in den Hof, den Garten, die Ställe, um sachkundig nach dem Rechten zu sehen oder notwendige Arbeiten selbst zu erledigen.229 Die Aufgaben im Dorf bezogen sich auf die Betreuung alter und kranker Menschen, wobei die Bereitstellung von Nahrung, Kleidung und Arzneimitteln im Vordergrund stand. Letztere bereiteten Gutsherrinnen bei entsprechenden Kenntnissen selbst zu.230 Die Stetigkeit der fürsorgenden Beziehung wurde als Grundlage einer guten Beziehung zwischen Dorfgemeinde und Familie betrachtet.231 Liliencron selbst hat sich vornehmlich um die männliche und weibliche Jugend im Dorf gekümmert. Mit ihr studierte sie Theaterstücke ein und führte diese in der Schenke zu wohltätigen Zwecken auf. Der Erlös kam dem Dorf zugute. Spinnabende und Sonntagsschule boten Unterhaltung und Lernstoff. Als der Lehrer für längere Zeit erkrankte, sprang Liliencron in den Fächern Geographie und Geschichte ein.232 226 227 228 229 230 231 232

Exemplarisch hierzu die Lebenserinnerungen (1929) von Helene Gräfin Erdödy, in denen beständig „die dortigen Güter in Besitz“ (S. 208) genommen werden, um dann anderswo zu residieren. Liliencron (1912), S. 197. Vgl. Hadeln (1935), S. 26. Vgl. Wienfort, Gesellschaftsdamen, S. 191–193; Diemel, Adelige Frauen, S. 15. Vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 65; Hadeln (1935), S. 43f. Vgl. Brackel (1905), S. 132; Erbach-Schönberg, Aus stiller (1923), S. 11. Vgl. Liliencron (1912), S. 197f., S. 240.

3.4. Selbstpräsentationen

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Daß Liliencron ihren Aufgabenbereich nicht als ‚Privatangelegenheit‘ und ‚weibliche Beschränkung‘ verstand, tritt deutlich hervor: „Wie beglückend war es für uns beide [sie und ihr Ehemann, M. K.], daß sich sehr bald ein patriarchalisches Verhältnis zwischen unseren Leuten und uns herausbildete, und ein festes Band zwischen Dorf und Schloß, wie sie in dortiger Gegend die Landhäuser nennen, geknüpft wurde. […] Es ist ja ein bestimmtes kleines Reich, das der Gutsherrschaft zugewiesen, in dem sie zum Wohl und zum Segen ihrer Untergebenen schalten soll; Freude ist es, wenn man in den einzelnen Familien heimisch wird, weil man mit ihnen Freud und Leid geteilt hat, … So wurden mit den Jahren die Fäden immer fester, die unser Leben mit dem unserer Leute verband.“233 Zweifellos sieht sich Liliencron an der Spitze des kleinen Reiches namens Gutsherrschaft, der paternalistischen Herrschafts- und Sozialordnung sui generis, die in Modell, ländlicher Realität und adeliger Selbstbeschreibung bis in das 20. Jahrhundert hinein dort funktionierte, wo zwischen Gutsherren-Familie und ländlicher Bevölkerung eine auf Ungleichheit basierende Beziehung gegenseitigen Angewiesenseins existierte.234 Indem Liliencron sich in ein „Wir“ gegenüber „unseren Leuten“ setzt, tritt ein Selbstverständnis hervor, das den Tätigkeitsbereich als Teil herrschaftlichen Handelns begreift. Zieht man in Betracht, daß die Landbevölkerung in der adeligen Weltsicht „geradezu verlangt, beherrscht zu werden“235, dann steht Liliencrons Äußerung unter einem anderen Vorzeichen. Sie beschreibt das patriarchalische Verhältnis nicht als gegebenes, selbstverständliches, sondern als Prozeß, in den das Paar eher defensiv eintritt. Natürlich, die Liliencrons waren neu auf dem Land, gehörten keiner altgesessenen Familie an, von deren symbolischem Kapital sich profitieren ließe. Doch mir scheint, in aller Vorsicht, daß Liliencrons ‚Prozeßschilderung‘ auf Entwicklungen verweist, die das (ostelbische) System zum Jahrhundertende zu schwächen begannen. Landarbeiter wie Gesinde strebten nach Freisetzung aus den patriarchalischen Bindungen, nach „Unabhängigkeit von dem persönlichen Herrschaftsverhältnis, welches jeder ländliche Arbeitsvertrag in sich birgt“236. Zum Individualisierungsschub gesellte sich über die Sozialgesetzgebung der staatliche Zugriff auf die Landarbeiter. Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung legten „in das

233 234

235 236

Ebd., S. 197. Vgl. zur frühen Neuzeit unter kulturhistorischer Fragestellung: Rösener, Werner, Adelsherrschaft als kulturhistorisches Phänomen. Paternalismus, Herrschaftssymbolik und Adelskritik, in: HZ 268 (1999), S. 1–33; zu Modell und Funktion vgl.: Peters, Jan (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995; Berdahl, Robert, Preußischer Adel: Paternalismus als Herrschaftssystem, in: Puhle, Hans-Jürgen /  Wehler, Hans-Ulrich (Hgg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 123–145; zur Selbstbeschreibung vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 108–117; zur Fortwirkung im 20. Jahrhundert vgl.: Conze, Von deutschem Adel, S. 281f. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 113. Weber, Max, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, in: Ders., Schriften zur Sozialgeschichte und Politik, hrsg. und einglt. von Michael Sukale, Stuttgart 1997, S. 128–157, hier S. 147. (zuerst 1892 erschienen; für genauere Angaben vgl. ebd: Editorische Notiz, S. 341.)

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

patriarchalische System klaffende Breschen“237, insofern ein gesetzlicher Anspruch auf Versorgung und Fürsorge unabhängig von Gutsherren geltend gemacht werden konnte. Der Staat trat somit in Konkurrenz zum landbesitzenden Adel, dessen herrschaftliche Fürsorge immer eine gewährte Gabe darstellte und vom eigenen Wohlwollen abhing. Akzeptiert man „Individualisierung“ und „Verstaatlichung“ als Bedrohung des gutsherrschaftlichen Einfluß- und Machtbereiches, die von Liliencron unbewußt wahrgenommen wurde238, dann trägt ihre Erzählung der sich verstetigenden Bindung Spuren von Auseinandersetzungen. Kulturelles Engagement und soziale Fürsorge erscheinen nicht als „ ,Ehrenpflicht‘ der Herrschenden“239, nicht als Idylle ländlichen Zusammenlebens, sondern als Arbeit aus der Defensive heraus, als persönlich realisierte ‚Investition in Land und Leute‘, deren Folgen nicht von vornherein feststehen. Wenn sich der „Paternalismus“ letztlich behauptet, dann nicht nach Gutsherrenart, die auf „Herrschaft über Land und Leute“ setzt, sondern weil Gutsherrschaft in der Sicht Liliencrons einem Auftrag an das „Herrscher-Paar“ gleicht, die Landbevölkerung für sich zu gewinnen. Liliencrons Ehemann war mehrere Jahre Kreisvertreter im preußischen Abgeordnetenhaus, weshalb er einige Monate des Jahres in Berlin verbrachte. Infolgedessen übertrug er seiner Frau für diese Zeit die Gesamtleitung des Gutes, einschließlich Geschäftsleitung und Kontrolle der wirtschaftlichen Nutzflächen bzw. der diese bearbeitenden Menschen. „Als die Novemberstürme kamen, fuhr ich als stellvertretende Herrin von Sproitz voroder nachmittags durch den Wald oder über die Felder, um nach der Arbeit zu sehen. Jetzt waren mir nicht nur die Zügel unserer jungen Pferde in die Hand gelegt, sondern mein Mann hatte seinem weiblichen Kameraden auch die Regierungszügel auf dem Gut für Monate übergeben. Mir hätte bang sein können, wenn ich nicht unsern erfahrenen Inspektor zur Seite gehabt und mit meinem Mann nicht bis dahin alle landwirtschaftlichen Interessen geteilt hätte. […] [Ich] hatte Freude an dem Schaffen. Mir blieb dabei noch Zeit genug für meine vielgeliebten schriftstellerischen Arbeiten und für das Dorf.“240 Die Passage spricht für sich. Die Differenz zwischen bürgerlichen Kulturfrauen und adeliger Gutsherrin könnte größer nicht sein. Was Liliencron zur Stellvertreterin des Herrn befähigte, waren eheweibliche Familienzugehörigkeit und geteilte, auf einen ähnlichen Kenntnisstand verweisende landwirtschaftliche Interessen des ‚Guts-Paares‘. Zwar ist bei diesem eine geschlechterdifferenzierte und hierarchisierte Arbeitsteilung zu 237 238

239 240

Ebd., S. 147. Äußerungen anderer Autobiographinnen legen nahe, daß „Verstaatlichung“ und „Individualisierung“ zumindest als Verlust des Einflußbereiches wahrgenommen wurden. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 66: „Damals brauchte man noch keine Versicherungskassen, denn es herrschte auf dem Lande noch ein ganz patriarchalisches Verhältnis: für jeden Notleidenden wurde mit der Selbstverständlichkeit und Liebe gesorgt, wie wenn er ein Glied der Familie wäre.“ Charlotte von Hadeln spricht von der Entfremdung zwischen Landarbeitern und Landadel, so daß „auf dem Lande der Klassenindividualismus Nährboden gefunden“ (1935, S. 267) habe. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 113. Das ist die übliche und auch im hier verwendeten Material vorkommende autobiographische Retrospektive Adeliger. Liliencron (1912), S. 239f.

3.4. Selbstpräsentationen

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erkennen. Er war die erste ‚Obrigkeit‘ und Chef des landwirtschaftlichen Betriebes, seine Beziehung zu den „Dorfleuten“ war über Kriegerverein und Partei politischer Natur. Ihre Beziehungen zum Dorf dagegen waren sozial-kultureller Art, ihr oblag die innere Gutsorganisation, -pflege und -leitung. Doch offensichtlich gestalteten sich die Aufgaben nicht so grundlegend verschieden, daß eine stellvertretende Gesamtleitung nicht möglich war. Der Inspektor ist in der Personenkonstellation der einzige professionelle Experte. Sein Expertentum prädestiniert ihn zum herrschaftlichen Dienst, der der Stellvertreterin wahrscheinlich die freie Zeit ermöglichte, nicht aber zur Leitung. In der Verantwortung für das Gut zeigt sich das Geschlechterverhältnis als gleichwertig und ermöglichte ein gemeinsames Tätigkeits- und Denkspektrum, das mit der scharfen bürgerlichen Trennung in Beruf und Familie nicht zu vergleichen ist. Überlegenswert ist natürlich, inwiefern ein im Professionalisierungszug potentieller Agrarspezialist dieses Beziehungsgefüge in einen Gegensatz umprägen könnte und aus der Gutsherrin eine Hausherrin werden würde. Für den vorliegenden Fall bleibt festzuhalten, daß das herrschaftliche Paar, so wie es von Liliencron präsentiert wird, im Kontext seines Gutes keines polaren Ordnungsprogrammes bedurfte. Der Aufgabenbereich der Gutsherrin Liliencron weist Ähnlichkeiten mit jenem der Pfarrfrau in der Literatur um 1800 auf. In der Geschlechtergeschichte wird letztere gern hervorgehoben, um den ambivalenten Charakter des bürgerlichen Familienideals zu betonen. Die Pfarrfrau sei die Inkarnation des weiblichen Geschlechtscharakters gewesen, die zugleich „stets aufs neue die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Weiblichem und Männlichem“ überschritt, weil sie auf vielfältige Weise in die außerhäusige Arbeitswelt eingebunden war.241 Das oft genutzte Grenzüberschreitungs-Interpretament dient dazu, die Ambivalenzen zwischen weiblicher Bestimmung einerseits und dem Handeln von Frauen im Bürgertum andererseits kenntlich zu machen. Übertrüge man dieses Interpretament auf Liliencrons Darstellung, dann wären die Ambivalenzen eher beim Inspektor anzusiedeln. Um dennoch im Bild zu bleiben: Adda von Liliencron überschritt keine Grenzen, sondern folgte ihrer ‚herrschaftlichen Bestimmung‘, wenn sie ihren Mann vertrat, vor allem aber, wenn sie ihre weiblich konnotierten Aktivitäten, die letztlich den Macht- und Einflußbereich der Gutsherrschaft mit absteckten, auf die „Dorfleute“ bezog. Daß dieser Aufgabenbereich einen Machtfaktor im gesellschaftlichen Führungsanspruch darstellte, unterstreicht Charlotte von Hadeln. Sie war Gutsbesitzertochter, verarmte in den 1920er Jahren und übernahm mit ihrem Mann die Verwaltung des brüderlichen Gutes. Hadeln erinnert eine von ihr gehaltene Rede im Jahr 1926, in der sie den Vertrauensverlust der ländlichen Bevölkerung in den Adel explizit auf das Fehlverhalten von Gutsbesitzerfrauen bezieht: Wo diese die persönliche Verantwortung für Gut und Dorf „aufgegeben hätten und selber verstädterten oder nur dem Sport lebten, wäre diese Aufgabe auf dem Land vergessen worden. Es sei dadurch nicht nur äußerlich, sondern auch vor allem innerlich die Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens

241

Habermas, Bürgerliche Kleinfamilie – Liebesheirat, S. 298.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

und Verbundenbleibens mit den eigenen Landarbeitern und mit den Dorfbewohnern verlorengegangen.“242 3.4.2.2. Diplomatenfrauen Von Frauen, die durch Eheschließung mit Männern im diplomatischen Dienst dem Korps angehörten, wurde allgemein erwartet, daß sie die Rolle der Dame der Gesellschaft übernehmen würden.243 Christa Diemel hat den Allgemeinplatz des Nichterforschten perspektiviert, indem sie am Beispiel von Diplomatengattinnen deren einflußreiche Teilhabe als „grande dame“ und „Saloniere“ am Erhalt der adelig-höfischen Kultur aufgezeigt hat.244 Zweifellos besaßen einige Frauen über die von ihnen organisierte Geselligkeit Macht und Einfluß inner- und außerhalb von Hofgesellschaften, doch Diemel generalisiert zu stark. Fragt man danach, wie Frauen ihre Bindung zum zivilen Staatsbeamtentum artikulierten, dann leiten die Selbstpräsentationen differenziertere und andere Aussagen an. Alberta von Puttkamer lebte von 1886 bis 1901 in Straßburg, Sitz des Statthalters von Elsaß-Lothringen und Sitz des mit dem Titel des Staatssekretärs versehenen leitenden Ministers Max von Puttkamer. In ihren Erinnerungen (1919) spricht sie davon, daß sie „als Gattin“ des Ministers „in einer einflußreichen Stellung“ war, die es ihr ermöglichte, mit den politischen, sozial-kulturellen Verhältnissen vertraut zu werden und umgekehrt auf diese Verhältnisse „bedeutenden Einfluß“ gehabt zu haben.245 Puttkamers Gestaltungsmittel der Einflußnahme war der von ihr geführte Salon, den sie als „Sammelpunkt der verschiedenen Gesellschaftskreise“ präsentiert.246 Der „Sammelpunkt“ gehört einer Lebenserinnerung an, die über weite Strecken als ‚Zeitzeugenschaft von oben‘ zu lesen ist. Der Autorin Thema ist das annektierte „Reichsland“, die Charakterisierung der verschiedenen Statthalterschaften, die Beschreibung von nationalen Konfliktlinien zwischen Alt- und Neuelsässern, die (nicht)gelingenden Bemühungen der neuen politischen Elite, Land und Bevölkerung in das Kaiserreich zu integrieren. In diese breit angelegte Thematik reiht sie ihren Salon als Kontaktzone unterschiedlicher Verkehrskreise (Notabeln des „alten“ Elsaß, Schriftsteller, Künstler und Gelehrte verschiedener nationaler wie sozialer Herkunft, adelige und hochadelige Militärs, zivile Staatsbeamte und Studenten) ein.247 Was Puttkamer an Einfluß für sich reklamiert, ist ihre vermittelnde Funktion im Beziehungsgeflecht der „Annäherung der neu- und altelsässischen Kreise“ vornehmlich 242 243

244 245 246 247

Hadeln (1935), S. 267. Vgl. Philippi, Hans, Das deutsche diplomatische Korps 1871–1914, in: Das diplomatische Korps 1871–1914. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, hrsg. v. Klaus Schwabe, Boppard a. Rhein 1985, S. 41–80, hier: S. 70. Diemel, Adelige Frauen, S. 169–179. Puttkamer (1919), S. 55. Ebd., S. 156. Der Salon wird erzählerisch realisiert, indem die Autorin ihre Bekanntschaft mit ihrer Meinung nach bedeutenden Persönlichkeiten benennt und diese dann in ihren beruflichen und persönlichen Qualitäten beschreibt. Vgl. ebd., z. B. S. 161ff., S. 181ff., S. 192ff., S. 202ff., S. 271ff.

3.4. Selbstpräsentationen

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in Kunst und Gesellschaft.248 Der Gestaltungs- und Geltungsanspruch, qua Salon unterschiedliche Gruppen zueinander in Beziehung zu setzen, wird von anderen Autorinnen nicht getragen. Fürstin Pauline Metternich, Ehefrau Richard Metternichs, der von 1859–1871 Botschafter der Habsburger Krone in Paris war, galt als führende „grande dame“ der französischen wie österreichischen Hauptstadt.249 Ihre Erinnerungen wurden 1929 veröffentlicht. Sie bestehen aus einem Kaleidoskop einzelner Erlebnisse und Personen, die zeitlich vor allem die 1850er und 1860er Jahre fokussieren, in denen sich das Diplomatenpaar in Dresden und Paris aufhielt. Womöglich fühlte sich Metternich im Angesicht von Niederlage und Zusammenbruch zu Heiterkeit und Gelassenheit verpflichtet. Während Puttkamer 1919 eine „deutsche Morgenröte“ als verpflichtende Haltung des einzelnen diktiert, intoniert Metternich eine Leichtigkeit des Seins in der Vergangenheit. In ihre Dresdner Zeit (1856–1859) fiel eine wettinisch-habsburgische Eheschließung, weshalb der österreichischen Gesandtschaft die Aufgabe zukam, einen Teil der Hochzeitsfeierlichkeiten auszurichten. Es „war das erste große Fest, welches ich in Szene zu setzen hatte.“250 Metternich präsentiert sich als Arrangeurin, Dekorateurin und Organisatorin eines politisch-kulturellen Ereignisses, zu dem 1200 Personen geladen waren. Es bildete für sie den Auftakt eines über die Jahrzehnte regelmäßig ausgeführten ‚Event-Managements‘, eine Aufgabe, von der sie schreibt, daß sie diese mit „Verantwortung“ und „Leichtigkeit“ übernommen habe.251 Das Pariser Ereignis war der „Tannhäuser“. Sie schätzte Wagners Musik, weniger seine Person. Gelegentlich eines Hofballes überzeugte sie den Kaiser davon, neuere Musik, namentlich Wagners, an seinem Theater aufzuführen. Der „Tannhäuser“ fiel vor französischem Publikum durch; das „Fiasko allerersten Ranges“, der „Mißerfolg“ wurden ihr als Förderin Wagners angerechnet.252 Nimmt Metternich „ohne Selbstüberhebung“253 für sich in Anspruch, ästhetisch gehaltvolle Feste zu inszenieren, profiliert sie sich hinsichtlich ihres Musikgeschmacks als Vorreiterin: Jahre später „bin ich von den meisten Franzosen in meiner Begeisterung übertrumpft“.254 Puttkamer glaubte, „bedeutenden Einfluß“ gehabt zu haben. Metternich verzichtet auf das prätentiös wirkende Vokabular. Zwar kann man ihre unmittelbare Nähe zum Thron als Machtinsignien betrachten, doch exponiert sie sich nicht als Freundin des HerrschaftsPaares. Das Unprätentiöse ihrer Erzählung mochte darin begründet sein, daß Metternich der Nimbus der „grande dame“ anhaftete, weshalb das Herausstreichen dieser Stellung zumindest unschicklich gewesen wäre. Womöglich aber besaß Metternich auch ein Gespür dafür, daß mit dem Zusammenbrechen der Höfe der vermeintliche oder tatsächliche

248

Ebd., S. 156, S. 268. Diemel, Adelige Frauen, S. 175f. Metternich-Sandor (1890er / 1920), S. 63. Ebd., S.63. Ebd., S. 99f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 93, ähnlich S. 103.

249 Vgl. 250 251 252 253 254

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Einfluß erster Gesellschaftsdamen im Sinken begriffen war. Die indifferente Stellung zwischen Macht und Ohnmacht läßt sich mit einer Erinnerungssequenz Helene von Nostiz’, die als Gattin des sächsischen Gesandten 1916 nach Wien kam, unterstreichen. In „Aus dem alten Europa“ (1924) schildert Nostiz ihren Besuch bei Fürstin Metternich als „Audienz“255, die dem Gesandtschaftspaar gewährt wurde. Während der Unterredung reicht Metternich Bildnisse vom österreichischen und deutschen Kaiser dar. Nostiz läßt sie in diesem Vollzug sagen und kommentiert selbst: „ ,Ich höre, Kaiser Wilhelm soll sich schlecht frisieren; ich werde es ihm sagen, wenn ich ihn sehe.‘ Sie hat immer ihre Meinung gesagt, und man hat ihr oft gehorcht.“256 Nostiz erinnert das Kriegsjahr 1916 und Metternich spricht vom kaiserlichen Haarschopf. Aus heutiger Sicht erscheint die Situation absurd, der man sich mit einem Witz über die ‚wahre Ursache‘ der Niederlage des deutschen Heeres entziehen möchte. Nostiz hingegen scheint das anders zu betrachten. Sie stattet Metternich mit Herrschaftsqualitäten („Audienz“, man „gehorcht“ ihr) aus, welche den Erörterungsgegenstand ‚Haarschopf‘ jeglicher Nähe zum Frisiersalon entheben. Was Nostiz m. E. formuliert, ist die bereits erwähnte Vorstellung im Adel, wonach die äußere Erscheinung die innere Haltung spiegelt und umgekehrt. Auf dem Zusammenspiel von Form und Inhalt basierte nicht nur das Ideal vom „modernen Rittertum“257, sondern auch die Wirkungsmacht der „grandes dames“. Die kaiserliche Frisur symbolisiert den Einfluß in Fragen von Form, Stil und Ästhetik. Doch hat Wilhelm II. seine Haare geordnet? Metternich hat „immer auf Formen gehalten“, so Nostiz258, die auf Teile des Adels als Gesamtkunstwerk, durchdrungen von einem ästhetisch-ästhetisierenden Lebensstil insistiert. Dennoch beendet sie die „Audienz“ bei Fürstin Metternich mit den Worten: „Wir sind wieder in freier Luft“.259 Die „grande dame“ scheint mit dem „Ritter“ im Weltkrieg untergegangen zu sein und Nostiz läßt sie als ‚Kultivierung des Dysfunktionalen‘ auferstehen. Mary Isabella von Bunsen war weder große Dame noch Gattin eines sehr hohen Staatsbeamten. Carl von Bunsen war Sekretär, dann Legationsrat an den preußischen Gesandtschaften in Turin, Florenz und Den Haag. Sie titelt ihre 1910 veröffentlichten Erinnerungen „An drei Gesandtschaften. Erinnerungen einer Diplomatenfrau“. Die erzählte Zeit umfaßt die Jahre zwischen 1857 und 1872, die Bunsen als Diplomatenfrau erlebt hat. Formal stellen die Erinnerungen eine Briefautobiographie dar. Die durch die jeweilige Gesandtschaft strukturierten Großkapitel werden mit einer Schilderung der damaligen politischen und persönlichen Verhältnisse eingeführt, an die sich Briefe an die Familie, die Bunsen als „Bericht unseres täglichen Lebens“260 versteht, anschließen. Die Familienkorrespondenz ließe sich als Quelle politischer Geschichtsschreibung nutzen, doch die

255 256 257 258 259 260

Nostitz (1924 / 1978), S. 140. Ebd., S. 141. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 216. Nostitz (1924 / 1978), S. 62. Ebd., S. 141. Bunsen (1910), S. VIII.

3.4. Selbstpräsentationen

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Wahrnehmung und Deutung der italienischen wie deutschen Reichseinigung interessiert an dieser Stelle nicht. Bunsens Briefe geben auch Aufschluß über die Regelhaftigkeit eines Diplomatinnen-Lebens, über Alltagspraxen und Erfahrungen in den lebensweltlichen Bezügen von Diplomatie, Hof und Ehe resp. Kernfamilie. Hier soll die enge Verflechtung vom diplomatischen und privaten Leben in sozialer, kultureller und zeitlicher Hinsicht aufgezeigt werden, die Bunsens Kernnarration „Diplomatenfrau“ ermöglicht. Die Kulturfrau: Der Haushalt der Bunsens, das sind das Ehepaar und die heranwachsende Tochter, scheint über die Zeit nicht sehr groß gewesen zu sein, aber doch von der Art beschaffen, daß Frau von Bunsen die eigentliche Hausarbeit dem Personal, zu dessen festem Bestand ein Koch, Dienst- und Kindermädchen zählten, überlassen konnte. Ging ihr Mann am Vormittag in die Gesandtschaft, besprach sich Bunsen mit dem Koch, sah Rechnungen durch und ordnete die zu erledigenden Einkäufe an. Handarbeiten und das Dekorieren der Innenräume wechselten im Anschluß einander ab. Mit Lektüre, Briefeschreiben, Zeichnen und Spaziergängen mit dem Kleinkind füllte Bunsen die Zeit bis zum Nachmittag. Zu den regelmäßigen Aktivitäten dieser Tageszeit gehörte das „Besuche machen“ und Besuch zu empfangen. Zugleich war der Nachmittag für die Zusammenkünfte des Wohltätigkeitsvereins reserviert. Mit dem Heranwachsen der Tochter trat die Beaufsichtigung der häuslichen und schulischen Aufgaben hinzu. Carl von Bunsen scheint seine Kerngeschäfte regelmäßig um 16.00 Uhr beendet zu haben. In der freien Zeit besuchte das Ehepaar Ausstellungen, Museen und Sehenswürdigkeiten oder unternahm gemeinsam mit Freunden Ausflüge in die nähere Umgebung. Die Abende waren dem Besuch von Empfängen, Theater- und Konzertaufführungen gewidmet, so man sie nicht häuslich zubrachte. Der Empfangstag Frau von Bunsens war der Freitagabend, zu dem sich regelmäßig Gäste einfanden. Die häusigen und außerhäusigen Aktivitäten im Alltag erinnern an die „Riten der Bürgerlichkeit“, mit denen vornehmlich Frauen das Privatleben der Familie gestalteten.261 Wie Bunsen diesen Aktionsradius gedeutet hat, geht aus einem Brief vom Juni 1859 hervor: „Ich weiß nicht, wie die Gräfin das alles schafft. Sie bekümmert sich eingehend um ihre Kinder, die jedenfalls sehr gut erzogen sind, sie besorgt ihren großen Haushalt, macht eine Menge notwendige Besuche, findet Zeit um zu lesen und etwas zu musizieren, ist immer gut angezogen und ist immer schön. Sie imponiert mir mit ihren Leistungen.“262 Unverkennbar ist hier von einer Leistung die Rede, von einem Vorbild, welches die Erwartungen an die Dame des Hauses spielend zu erfüllen vermag. Bunsens Bejahung von Kindererziehung, Haushaltsführung, sozialer Kommunikation, (Selbst)Bildung und Schönheit ähnelt durchaus solchen Anforderungen, mit denen sich „Kulturfrauen“ im Bürgertum identifizieren konnten.263 Doch geht Bunsen nicht in der Identifikation „Kul261

262 263

Vgl. Martin-Fugier, Anne, Riten der Bürgerlichkeit, in: Ariès, Philippe / Duby, Georges (Hgg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum großen Krieg, hrsg. v. Michelle Perrot, Augsburg 1999, bes. S. 206–222. Bunsen (1910), S. 114. Vgl. Frevert, „Mann und Weib“, S. 150ff.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

turfrau“ auf. In der bürgerlichen Logik war die „Dame des Hauses“ auf den berufszentrierten Gatten bezogen, dessen Lebensentwurf sie mit ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten kulturell einbettete und dessen beruflichen wie auch sozialen Aufstieg sie mitermöglichte. Bunsens Bejahung von Schönheit und Bildung korrespondierte keinesfalls mit der beruflichen Karriere ihres Mannes. Im Februar 1869 schreibt sie: „Ich liebe es auch durchaus nicht als ‚Legationsrätin‘ angeredet zu werden, denn es nimmt so ganz den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.“264 Zwar steht in der Familienkorrespondenz nicht die „eigene Persönlichkeit“ im Zentrum, doch deutlich ist, daß sie sich nicht über die berufliche Position ihres Mannes definiert. Die „Diplomatenfrau“ im Titel verweist darauf, daß sie nicht die Frau eines Diplomaten war – das ist die Zugangsvoraussetzung –, sondern eine Frau im diplomatischen Korps. Die Diplomatenfrau: Der Gemeinschaftssinn zeigt sich in dem wohl am häufigsten genutzten Personalpronomen „Wir“. Es schließt den Ehemann ein, alle Angehörigen der preußischen Gesandtschaft und die Vertreter aller nichtpreußischen Gesandtschaften. Bunsen spricht von „unsrer Gesandtschaft“, davon, daß „wir einen neuen Zuwachs im diplomatischen Korps“ haben, erzählt von „unseren neuen Kollegen“, von „unserem Chef“, von „unserer“ bzw. „meiner Chefeuse“ usw.265 Der Korpseffekt stellt sich nach innen her: „Es ist wirklich lästig, daß mit unseren Chefs immer etwas los ist …“ Nach außen stellt sich „ein komisch verwandtschaftliches Gefühl [ein], wenn man in anderen Häusern Mitglieder der Gesandtschaft trifft.“ Im Ergebnis, einschließlich der „Chefs“, heißt das: „Das diplomatische Korps hält überall sehr zusammen.“266 Das Wir-Bewußtsein resultierte wesentlich aus dem Umstand, daß das diplomatische Leben aus einer Vielzahl gesellschaftlicher Verpflichtungen und repräsentativer Aufgaben bestand, die von beiden Geschlechtern gemeinsam und getrennt erfüllt wurden. Offizielle Vorstellungen bei „Hohen Herrschaften“ am Hof wurden geschlechtergetrennt durchgeführt. Das Korps der Frauen wurde von den dem Rang der diplomatischen Stellung der Gatten entsprechenden „Chefeusen“ angeführt.267 Bei Antrittsbesuchen, die es umgehend zu erwidern galt, stellten sich die Neuankömmlinge ebenfalls geschlechtergetrennt den männlichen und weiblichen Angehörigen der Gesandtschaft vor.268 Veranstaltete der Gesandte einen größeren Empfang, waren beide Geschlechter zugegen, bei welchem entweder die Ehefrau oder in Ermangelung derselben eine andere weibliche Diplomatenfrau die Rolle der Gastgeberin übernahm.269 Wenn Bunsen schreibt, „[h]eute schwelgen wir in dem Genuß eines stillen Abends zu Hause, morgen ist leider wieder Empfang“270, dann wird deutlich, daß die gesellschaftlichen Verpflichtungen im Leben eines Diplomatenpaares viel Zeit in Anspruch nahmen. Diese Verpflich-

264 265 266 267 268 269 270

Bunsen (1910), S. 294. Vgl. ebd., S. 122, 133, 219, 194, 202, 234. Ebd., S. 196, S. 17, ebd.. Für einen solchen Ablauf vgl. z. B. ebd., S. 232–234; s. a. Diemel, Adelige Frauen, S. 94f. Für einen solchen Ablauf vgl. z. B. Bunsen (1910), S. 277ff.; s. a. Diemel, ebd. Für einen solchen Ablauf vgl. z. B. Bunsen (1910), S. 21–24. Ebd., S. 27.

3.4. Selbstpräsentationen

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tungen sind es aber auch, die es kaum ermöglichen, sinnvoll zwischen einer „Privatperson“ und einer „Diplomatenfrau“ zu unterscheiden. Ob beispielsweise eine Gräfin Stackelberg besucht wird, um preußisch-russische Gesandtschaftsbeziehungen oder eine private Bekanntschaft zu pflegen, stellt für Bunsen keinen Unterscheidungsgrund dar.271 Dennoch zeigen die Verpflichtungen an, daß das „Private“ in der diplomatischhöfischen Sphäre eine andere Bedeutung erhielt. Anläßlich des Besuches eines Hohenzollern-Prinzen in Turin veranstaltete die preußische Gesandtschaft einen Empfang. Bunsens Aufgabe bestand darin, als Dame des Hauses zu repräsentieren und in dieser Funktion dem Prinzen vorgestellt zu werden. Sie solle „um keinen Preis die ‚königliche Hoheit‘ vergessen, denn sonst wären wir alle geliefert“272, lautete die ehemännliche Instruktion. Bunsen agiert nicht als private Gastgeberin, sondern als Korps-Mitglied, dessen Verhalten auf die gesamte Gruppe zurückwirkt. Der Empfang eines hohen Gastes schloß somit immer die Verantwortung ein, so zu handeln, daß das Ansehen der Korporation ungeschmälert blieb. Auch ein Konzertbesuch diente nicht immer dem privaten Vergnügen, sondern korporativer Selbstvergewisserung, die dem einzelnen Anstrengungen abverlangte. Auf einem Hofkonzert 1869 in Berlin wurde Bunsen Graf Bismarck vorgestellt: „Alle meine Bekannten vom diplomatischen Korps, die nicht weit ab saßen, nickten und lächelten mir sehr freundschaftlich zu nach dieser Unterhaltung mit dem ‚allerhöchsten Chef‘, wie sie ihn hier nennen. […] Vom Konzert kann ich nicht viel sagen, weil ich Kopfweh hatte von der Anstrengung.“273 Solche Beispiele, in denen vermeintlich Privates eine öffentliche Handlung markiert, ließen sich beliebig fortsetzen. Auf ihnen basiert Bunsens Selbstverortung in einem bestimmten Bezugsrahmen: „[W]enn jemand seinen wahren gesellschaftlichen Wert erkennen will, rate ich ihm nach Berlin zu kommen. Ist man von den Kammerherren in das Zimmer gewiesen worden, wohin man gehört, hat man an dem ihm bestimmten Tisch zum Souper gesessen, während es andere Zimmer und andere Tische gibt, denen man sich um alles in der Welt nicht nahen darf, ist man allen Exzellenzen aus dem Wege gegangen, ebenso seinem ‚Vorgesetzten‘, vor allen Dingen aber den ‚höchsten Herrschaften‘ nicht zu nahe gekommen, so werden am Ende der Saison, die mancherlei Illusionen, die man vielleicht vorher über sich selbst gehabt hatte, gänzlich verschwunden sein.“274 In der bürgerlichen Logik des ausgehenden 19. Jahrhunderts war der gesellschaftliche Wert von Frauen an ihre Fähigkeiten gebunden, den ehemännlichen Reichtum zu repräsentieren.275 Bunsens Bemessungsgrundlage ist eine andere. Sie bezieht ihren Wert weder aus sich selbst noch aus der im Reichtum symbolisierten Leistung ihres Gatten, sondern auf den Hof, der von ihr als „offizielle[n] Welt“276 begriffen wird. Die hier maßgeblichen Kreise bestimmen den Wert der Person, weshalb Bunsen zur Rettung des

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Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 22. Ebd., S. 287. Ebd., S. 294. Vgl. Elias, Höfische Gesellschaft, S. 93f., bes. Anm. 44. Bunsen (1910), S. 294.

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Selbst dezentes Verhalten empfiehlt. Obwohl Bunsen merklich distanziert formuliert, war ihr Zugehörigkeitsgefühl zur „offiziellen Welt“ deutlich ausgeprägt. Es zeigt sich in der Langenweile des Diplomatenpaares, ein Gefühl, das sich aus dem Fehlen des Anerkennung schaffenden Fluidums „Welt“ ergab.277 Das Diplomatenpaar: Im April 1869 trat Carl von Bunsen seine Stellung als Legationsrat in Den Haag an. Nach den Stationen Turin, Florenz und Berlin umgäbe beide, so Frau von Bunsen, „Stille und Behaglichkeit“. „Es ist höchste Zeit Pläne zu machen“, heißt es dann im Januar 1870, „daß wir hier fortkommen, wir werden entsetzlich faul. Wir haben sehr wenig zu tun und das schon erscheint uns als eine Last. […] Dieses stagnierende Leben erscheint einem merkwürdig und sehr öde, nach dem, was man früher gewohnt war.“278 Vom stillen zum stagnierenden Leben wird Zeitlichkeit zu einem Problem, einem Phänomen der Langenweile, das nicht den vergangenen Erfahrungen entspricht und für beide Geschlechter eine Last darstellt, die mit einer neuen Zielorientierung überwunden werden soll. Verfolgt man die Stationen der Langenweile279, dann fällt auf, daß er in seiner beruflichen Kernarbeit ob Arbeitsmangel unterfordert ist, während sie auf das nachmittägliche „Besuche machen“ verzichten muß, weil es nicht zu den hiesigen Gepflogenheiten gehört. Dennoch bleibt beiden die gewohnte Tagesstruktur erhalten. Hingegen ist ebenfalls für beide Personen zu beobachten, daß den Antrittsbesuchen die Leere folgt und dem Tag der Abend fehlt. Das heißt, die Langeweile beschreibt wesentlich den Wegfall der zeitaufwendigen repräsentativ-gesellschaftlichen Aufgaben. Die „offizielle Welt“ ist ungesellig. Zum einen scheint in den Sommer- und Herbstmonaten an den Gesandtschaften Urlaubsbetrieb zu herrschen, zum anderen mochte den Bunsens der Haager Hof insgesamt zu provinziell gewesen sein, denn das „stagnierende Leben“ fällt in die beginnende Saison höfisch-offizieller Geselligkeitsformen. Zwar waren die Zeitvorstellungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geschlechtsspezifisch präfiguriert280, doch Bunsens Langeweile ist kaum als Effekt polar geordneter Weiblichkeit zu betrachten. Gerade die Beibehaltung des „Wir“ unterstreicht, daß Bunsen Selbstverständnis und Wohlbefinden aus ihrer aktiven Teilhabe an der Öffentlichkeit der höfisch-diplomatischen Sphäre bezog. Diplomatenfrauen mochten in ihren Aufgabenbereichen viel mit den „Kulturfrauen“ gemein haben, doch als Frauen im diplomatischen Korps – „Staatsbeamte, was wir doch sind“281 – scheinen sie diesen sozial und mental verschieden gewesen zu sein. 277

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Zum kulturhistorischen Zugriff auf die Langeweile in der Moderne vgl. grundlegend: Kessel, Martina, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2000. Bunsen (1910), S. 297, S. 315f. Vgl. ebd., S. 297–316. Vgl. Kessel, Martina, „Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu …“. Geduld und Ungeduld im 19. Jahrhundert, in: Hettling / Hoffmann (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 129–148. Die Selbstbezeichnung bezieht Bunsen nicht auf Diplomatenfrauen, sondern auf sich und ihren Mann in Abgrenzung zu Reichstagsabgeordneten. Vgl. Bunsen (1910), S. 356.

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3.4.2.3. Offiziersfrauen Offiziersfrauen galten als anerkannte Mitglieder des Offizierskorps, das sie jenseits der fachmilitärischen Sphäre repräsentieren sollten.282 Wie bei Diplomatenfrauen war die Eheschließung Voraussetzung, um Korpszugehörigkeit zu erlangen. Die Gebrauchsweisen des „Wir“ sind analog zu denen in der Diplomatie: Fürstin Fugger spricht vom Regimentsleben „wie in einer großen Familie“, berichtet von „meine[n] Regimentsdamen, die in viel höheren militärischen Range standen“. Gräfin Oriola bezeichnet sich als „Militärfrau“ und wird vom Offizierskorps als „neue Kommandeuse“ begrüßt. Freifrau von Liliencron führt die „Offiziersfrau“ im Titel ihrer Lebenserinnerungen, spricht Regimentszugehörigkeit formulierend von „unser[em] Kommandeur“ und „unsere[n] gelben Reiter[n].283 Natürlich war die „Kommandeuse“ Ehefrau des Kommandeurs. Die Eigenlogik dieser Bezeichnung lag ähnlich der „Chefeuse“ in der Diplomatie darin, daß die ranghöheren Damen die Verhaltensweisen von Offizieren und Offiziersfrauen im repräsentativ-geselligen Verkehr zu kontrollieren hatten.284 Da die Korpsmitgliedschaft Anpassungsvermögen an vorgängig geltende Normen und Konventionen erforderte, konnte die Zugehörigkeit als Nachteil und persönliche Einschränkung empfunden werden.285 Der Vorteil lag wahrscheinlich auf den Ebenen gesamtgesellschaftlicher Distinktion und Wertschätzung. Die Korpszugehörigkeit separierte Offiziersfrauen von der Masse der weiblichen Bevölkerung, für welche „die Armee eine terra incognita [darstellte], zu der sie keinen Zugang besaßen“286. Zumindest im deutschen Kaiserreich wurde dem Miliär als Akteur der äußeren Nationsbildung allgemeine Hochschätzung zuteil. Im Prozeß sozialer Militarisierung mochte die Bezeichnung „Offiziersfrau“ ein Prestige beanspruchen, das dem Reserveoffizier zuerkannt wurde.287 Nachfolgend werden die Kernnarrationen „Offiziersfrau“ daraufhin befragt, wie weibliche Adelige ihre Bindung zum Militärischen gedeutet haben und welche Handlungen sich aus dieser Bindung ergaben. Fürstin Nora Fugger, geb. Prinzessin Hohenlohe-Bartenstein, war qua Geburt und Eheschließung süddeutsche Standesherrin, gehörte zum alten und hohen Adel und stand in verwandtschaftlicher Beziehung zum Habsburger Haus. Ihr Mann, Carl Fugger, war von 1887 bis 1894 aktiver Offizier im neunten Husarenregiment der österreichisch-ungarischen Armee. Sie erinnert die Jahre des Garnisonsleben im damaligen Ödenburg mit

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Vgl. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 222f. Fugger (1932 / 1980), S. 261, S. 346; Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 245, S. 206; Liliencron (1912), S. 101. Vgl. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 223f. Knapp bei Diemel, Adelige Frauen, S. 72f. Frevert, Ute, Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Kühne, Thomas (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt / New York 1996, S. 69–87, zit.: S. 84. Zu Überblick und Grundtendenzen der Militärhistoriographie vgl. Pröve, Ralf, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006.

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dem Satz: „Es waren die glücklichsten Jahre meines Lebens.“288 Fugger entwirft kein vom Text getragenes Gegenbild, sondern bilanziert eine als eigenständig wahrgenommene Lebensphase im Alter von 23 bis 30 Jahren, deren Atmosphäre sie mit den Adjektiven „sorglos“, „froh“, „harmonisch“ und „kameradschaftlich“ beschreibt.289 Man kann Fuggers Einschätzung als Moratorium lesen. Carl Fugger strebte keine militärische Karriere an. Der Erstgeborene war der künftige Chef des Fürstenhauses, sein Militärdienst deshalb aristokratische Beschäftigung und Aufschub solcher Verbindlichkeiten, die mit dem Antritt einer verantwortungsvollen Position und einem großen Erbe verbunden waren. Nora Fugger brachte in den Garnisonsjahren Söhne zur Welt. Mit der generationellen Sicherung des Hauses ging Fugger gegenüber ihrem Mann gewissermaßen in Vorleistung, wofür ihr die ungeschriebene Fortführung der normativ mit der Ehe endenden Jugend zugestanden wurde. Ihre „glücklichste[n] Jahre“ scheinen eine handlungsentlastete Zeit gewesen zu sein – frei von der Anforderung, eine militärische Spitzenposition zu erreichen bzw. zu begleiten, noch frei von der familiären Anforderung, als Fürsten-Paar einem Haus vorzustehen. Obwohl Fugger für die Garnisonsjahre eine Eigenzeit beansprucht, weisen sie im Vergleich zu ihren sonstigen Erinnerungen keine Eigengesetzlichkeit auf. Das Regimentsleben stellt vielmehr die Miniaturausgabe einer aristokratischen Lebensweise dar, deren innere Ordnung gleichsam die Verpflichtung enthielt, das Leben möglichst angenehm zu gestalten.290 Die äußere Form des Angenehmen, die zugleich die Kontinuitätslinie des erzählten Selbst beschreibt, faßt Fugger bündig zusammen: „Mit meiner Freude am Tanz und schönen Festen hielt meine Leidenschaft für Reit- und Jagdsport seit meiner Kindheit und ersten Jugend gleichen Schritt.“291 Die generelle Selbstverortung wird vom Regimentsleben nicht beeinträchtigt, sondern bestätigt. „Wir hatten dieselben Interessen und dieselben Passionen“292, stellt Fugger Übereinstimmungen zwischen sich und den Offizieren fest. Regelmäßig wurden gemeinsam Theateraufführungen besucht, zu großen Bällen fuhr man mit dem Zug nach Wien hin und zurück, Tennisspiel und Ausritte waren übliche Vergnügungen. Wenn Fugger von sich sagt, sie sei „im Regimente beliebt“ gewesen, so führt sie das darauf zurück, daß sie „bei allem, ja oft auch bei militärischen Übungen dabei“ gewesen war.293 Die männliche Anerkennung wird hier einer Einstellung gezollt, die Gefallen an gemeinsamen, den Korpsgeist stützenden Aktivitäten bekundet und am Fachmilitärischen teilhat. Sie schildert ihre Teilnahme an einer Brigadekonzentrierung, bei der sie regelmä288 289 290

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Fugger (1932 / 1980), S. 265. Ebd., S. 265, S. 261. Prominente zeitgenössische Kritik an der aristokratischen Selbstbezogenheit in Österreich übte Kronprinz Rudolf in einer 1878 allerdings anonym erschienenen Broschüre „Der österreichische Adel und sein constitutioneller Beruf. Mahnruf an die aristokratische Jugend. Von einem Österreicher“. Vgl. Hamann, Brigitte (Hg.), Kronprinz Rudolf. „Majestät, ich warne Sie …“. Geheime und private Schriften, 2. Aufl., München 1987, S. 19–52. Fugger (1932 / 1980), S. 407. Ebd., S. 261. Ebd., S. 261f.

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ßig mit den Kavalleristen ausrückt und in der Nähe zum Regiment mit ihrem Pferd dieselben Übungen absolviert oder teilnehmend beobachtet, „als wäre ich zu militärischer Dienstleistung verpflichtet“294. Fuggers Schilderung wird man nicht als Überschreitung einer geschlechtertrennenden Schwelle zum Fachmilitärischen lesen können. Sie betont das Ungewöhnliche, doch von Verbotenem ist nicht die Rede. Es scheint vielmehr so zu sein, daß die im Adel von Männern goutierte Kavallerie und die auch Frauen zugestandene Passion für Pferde und Jagd einander durchdrangen, so daß die ‚Military‘-Reiterin eine ungewöhnlich normale, nicht aber eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein mochte.295 Fugger nimmt das Regimentsleben in seiner sportiv-geselligen Dimension wahr. Das Militärische geriert zu einer Verkleinerung ihrer ansonsten erinnerten Lebensweise. Diese führt in eine aristokratisch-grandseigneurale Welt, in der die Einladung zu einer exklusiven Jagdgesellschaft, die beobachtende Teilnahme an einem Kaiser-Manöver und der Besuch von glänzenden Festen die ‚eigentlichen‘ gesellschaftlichen Ereignisse darstellten. Von Gräfin Oriola ist in diesem Kapitel bereits die Rede gewesen. Ihre erinnerten Regimentsjahre von 1853 bis 1862 in Preußen waren wie jene Fuggers Friedensjahre. Im Unterschied zur Fürstin besaß sie kein Interesse am Militärischen der Kavallerie. Im Elternhaus Arnim lernten die Kinder Kultur und Bildung schätzen, spielten Pferde und Jagd trotz ländlicher Lebensweise kaum eine Rolle, so daß eine sozialisatorisch vermittelte Neugierde an der ‚edlen‘ Waffengattung nicht bestand. Vielmehr tritt sie als „Poetenkind“ in das von ihrem Mann geführte siebente Husarenregiment ein, und ihr furchtsamer Umgang mit Pferden veranlaßt sie zu der Äußerung, „noch keine so ganz richtige Soldatenfrau geworden“ zu sein.296 Wenn Oberst Oriola auf Dienstreisen oder im Manöver ist, dann besucht die Obristin ihre Familienangehörigen. Eduard Oriola war im Unterschied zu Carl Fugger Berufsoffizier, der 17jährig in die Armee eintrat und im Jahr seines Todes die hohe Position eines Divisionskommandeurs im Rang eines Generalleutnants einnahm. Gräfin Oriola trat ihre Stellung im Korps nicht als einfache Offiziersfrau an, sondern als Frau des Regimentskommandeurs. Das gesellige Leben hat hier von vornherein den Charakter gesellschaftlicher Verpflichtungen im großen Stil, die vom Ehepaar aufgrund der beruflichen Stellung des Mannes erfüllt werden müssen. Da die künftige Generalin diese sozialen Anforderungen mit einigem Vergnügen erfüllt und herkunftsbedingt kein genuin militärisches Interesse zeigt, tragen Oriolas Erinnerungen ein ausgesprochen ziviles Gepräge.297 Dieses ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sie sich auf den Normalzustand des Friedens beziehen kann.298 Vor

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Ebd., S. 263. Zu Jagdsport und anderen von adeligen Frauen ausgeübten Sportarten um 1900 vgl. Saint Martin, Der Adel, S. 147ff. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 206, S. 234. Vgl. dies., S. 206–238. Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in Friedenszeiten vgl. z. B.: Frevert, Ute (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997.

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diesem Hintergrund fällt weniger ins Gewicht, daß Oriola den normativen Erwartungen an eine Offiziersfrau entspricht, sondern daß hier am Beispiel eines hohen Offiziers eine militärische Männlichkeit mit zivilen Eigenschaften profiliert wird. In der Darstellung der Autorin aus den 1890er Jahren war Eduard Oriola an beruflicher Leistung orientiert, die er sich selbst, seinen Offizieren und Mannschaften abverlangte, auf die er seine Autorität gründete und mit der er ein „Musterregiment“299 formierte. Seine Mitgliedschaft in der Studienkommission der Kriegsakademie unterstreicht seine Fachbildung.300 Zugleich war Oriola nicht einseitig auf den Beruf fixiert, sondern besaß einen „weite[n] … geistige[n] Interessekreis“ und „tief[e] … Bildung“.301 Seine Weite im Geistigen zeigt sich auch im Sozialen: „[S]einer ganzen Einstellung entsprechend“, beschränkte der Kommandeur den gesellschaftlichen Verkehr nicht auf Militär und Spitzen der Behörden, sondern trat auch zu Universitätsangehörigen „in nähere persönliche Beziehung“. Auch gelang es ihm, „den sich sehr vornehm dünkenden katholischen Adel der Umgegend in die allgemeine Geselligkeit hineinzuziehen.“302 Indem im Kommandeurshaus Oriola bisher abgeschlossene Kreise aufeinander trafen, habe sich „das gesellschaftliche Leben in Bonn zu einer Blüte entfaltet, … die bald nach unserem Weggang auch wieder zerfallen ist.“ „An dem Abschiedsmahl … nahmen die weitesten Kreise teil.“303 Oriola entwirft in den 1890er Jahren ein Ideal des leistungsorientierten, gebildeten, kultivierten und sozial aufgeschlossenen Offiziers. Es entspricht nicht dem Bild einer Kriegerkaste und auch nicht dem im Militär und Adel um 1900 verstärkt propagierten Härteideal, das den kriegerischen Mann favorisierte und das Leitbild des „modernen Ritters“ wenn nicht negierte, so doch um seine kulturellen, weil weiblich gedachten Facetten bereinigt wissen wollte.304 Oriolas Ideal des zivilen Militärs ist trotzdem weder als Antwort effeminierter Männlichkeit auf das Härteideal zu verstehen, noch stellt es ein reflektiertes Gegenbild dar, das die Zivilisierung des Militärischen einfordert. Das Offiziersideal ist zunächst ein anderes Bild, das allerdings daran erinnern konnte, daß es im preußischen Militär des ersten Jahrhundertdrittels eine Wertschätzung des gebildeten Offiziers gab305, daß zur militärischen Männlichkeit gerade auch in Friedenszeiten ein ziviler Tugendkatalog gehören sollte. Dies scheint mir der Bezugsrahmen zu sein, innerhalb dessen das um 1900 unzeitgemäß anmutende Ideal des zivilen Offiziers seine Bedeutung erhält. Der Generalleutnant starb vor den sog. Reichseinigungskriegen, in deren Folge das preußische Militär zum Vorbild für andere Staaten avancierte und das Militär einen ungeheuren Prestigegewinn in der bürgerlichen Gesellschaft verzeichnen konnte. Es wurde

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Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 211. Ebd., S. 218. Ebd., S. 207. Ebd., S. 207f. Ebd., S. 208, S. 217. Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann, S. 227f. Knapp bei Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 17f.

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als „Schule der Nation“ gefeiert.306 Gräfin Oriola enthält sich pathetischer Kommentare zu Militär und Nation, doch war sie Zeitgenossin des militärischen und nicht zuletzt adeligen Aufschwungs. Den Krieg von 1866 kommentiert sie mit der Überlegung: „Wenn Oriola, dessen ganzes Leben seiner Vorbereitung auf einen großen Krieg gegolten hatte, das erlebt hätte!“307 Die Stilisierung des Krieges zum Lebenssinn heroisiert den Generalleutnant postum und bildet erzählerisch die Verknüpfung von Krieg und Frieden, von Erfolgen der preußischen Armee und seinem Dienst. Indem Oriola ihren Gatten zum Krieger erklärt, würdigt sie seine Leistungen in Friedensjahren auf besondere Weise. Noch bevor die Kriege Fakten schufen, die jeden Zweifel an der Heerestüchtigkeit der preußischen Armee beseitigten, formte er ein „Musterregiment“.308 In einer Zeit, in der das Sozialprestige des Militärs weder im Bürgertum noch im katholischen Adel hoch im Kurs stand, weil es als Rückgrat der politischen Reaktion bzw. religiös-politischer Bevormundung galt, bindet der Generalleutnant Universitätsangehörige und katholische Adelige in eine offen geführte Geselligkeit ein.309 Noch bevor Kriegserfolge das Militär populär machten, erringt Oriola zivile Erfolge, die die Gesellschaftsfähigkeit des Offiziers in den „weitesten Kreisen“ unter Beweis stellten. Mit dem Ideal des zivilen Offiziers unternimmt Gräfin Oriola den Versuch, ihren Mann an den Anfang der Erfolgsgeschichte der Wertschätzung des Militärs zu setzen. Im Anfang ist nicht der Krieg, sondern ein Offizier mit professioneller Einstellung zum Dienst und aufgeschlossener Haltung gegenüber zivilen Bevölkerungsgruppen. Er bewegt sich auf die zivile Gesellschaft zu, nicht um sie zu militarisieren, sondern um ins Gespräch zu kommen. Der zivile Offizier ist ein Ideal für den Normalzustand eines Friedens, in dem der Offizier seine gesamtgesellschaftliche Anerkennung noch mit zivilen Einsätzen erkämpfen konnte und mußte. Daran erinnert Oriola, ohne sich zum Klima, in dem ein „Hauptmann von Köpenick“ gedeihen konnte, zu positionieren. „Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau“ wurden 1912 veröffentlicht. Im Gegensatz zu Fugger und Oriola thematisiert Adda von Liliencron, hier bereits als Gutsherrin vorgestellt, Kriege zentral in ihren Erinnerungen. Allerdings werden diese vornehmlich in der Perspektive ihrer männlichen Familienangehörigen durch Einbeziehung von Briefen und Auszügen aus Kriegstagebüchern erzählt. Mit Oriola verbindet sie die preußische Herkunft und eine ähnliche Selbstpräsentation in bezug auf adelige Männlichkeit, die durch eine Zurücknahme des Selbst gekennzeichnet ist. Oriola

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Grundlegend: Craig, Gordon A., Die Geschichte der preußisch-deutschen Armee, München 1960. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 245. Vor der Reorganisation des Heeres 1859 / 60 schien das preußische Militär nicht einsatzbereit zu sein. Daß dem nicht so war, zeigt: Walter, Dierk, Preußische Heeresreformen 1807–1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“, Paderborn 2003. Zum geringen Sozialprestige knapp bei Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 78ff.

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entwirft den zivilen Offizier, der sogar auf dem weiblich konnotierten Feld der Geselligkeit brilliert, während sie ihrer Erfüllung der sozialen Anforderungen als „Kommandeuse“ kaum aufwertende Aufmerksamkeit schenkt. Liliencron will von den „Kriegsund Siegerjahre[n]“ erzählen, in denen insbesondere die Männer ihrer Familie im Militär „ihrem Könige und Vaterlande … treue Dienste“ geleistet haben, während ihr die eigene Person „zu unbedeutend“ dünkt, um vor diesem Hintergrund im Erzählungszentrum zu stehen.310 Es hat den Anschein, daß beide Autorinnen das Militär als frauenfreien Raum reproduzieren, was es im 19. Jahrhundert generell auch gewesen ist.311 Zweifellos täuscht die Regimentszugehörigkeit von Offiziersfrauen nicht darüber hinweg, daß die Wehrtüchtigkeit bei den männlichen Offizieren und Mannschaften lag und das Militär insgesamt ein Ort männlicher Vergemeinschaftung war. Doch die Zurücknahme des Selbst zugunsten „Geschichten anderer“ auf diesem Feld fungiert weniger geschlechterpolar als zunächst anzunehmen ist.312 Liliencron unternimmt wie Oriola den Versuch, ‚ihre‘ Männer an der Erfolgsgeschichte des preußischen Militärs teilhaben zu lassen. Als geborene Wrangel fällt ihr das umso leichter, da die Männer dieser Familie bereits tradiert im preußischen Militärdienst wirkten. Nach 1870 / 71 befanden sich im Familienbesitz vier hohe militärische Verdienstorden. Die Zurücknahme des Selbst dient Liliencron im Ganzen dazu, Kriegshelden zu profilieren, die todesmutig für König und Vaterland kämpften.313 Die Kriegshelden fungieren wie der zivile Offizier als Aufwertung adeliger Männlichkeit. Indem Oriola und Liliencron ihren Männern zu „Glanz“ verhalfen, produzierten sie jenen im Adel verbreiteten Anspruch mit, wonach nicht der Durchschnitt, sondern herausragende Vertreter die Leistungsfähigkeit des Adels insgesamt unter Beweis stellten.314 In der Logik des „Glanzes“ war autobiographisches Männerlob von Frauen zugleich Familien- und Adelslob, so daß die Zurücknahme des Selbst zugespitzt formuliert ein rigoros vergrößertes darstellte. Die Differenz zwischen Oriola und Liliencron ist jedoch in bezug auf das Militärische groß. Oriola präsentiert sich immer in den Facetten des Arnimschen „Poetenkindes“. Sie hat das zivile Projekt im Militär vor Augen. Liliencron ist von Erzählungsbeginn an ein Wrangelsches „Soldatenkind“315. Ob der Gefechtserzählungen ihres Großonkels,

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Liliencron (1912), S. III. Zur Konstituierung des Militärs als frauenfreien Raum im 19. Jahrhundert und die damit verbundene, sich verstärkende Dichotomisierung der Geschlechterordnung in ein wehrhaft-männliches und ein häuslich-weibliches Element vgl.: Hagemann, Karen / Pröve, Ralf (Hgg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1998. Daß die autobiographischen Selbstpräsentationen mittels „Geschichten anderer“ kein Spezifikum von Frauen-Autobiographien waren, ist hier im Teil „Gebrauchsweisen“ dargelegt worden und wird auch gezeigt von: Günther, Das nationale Ich?, S. 124, S. 457f. Zur Geschichte der Kriegshelden vgl.: Schilling, René, „Kriegshelden“. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813–1945, Paderborn 2002. Vgl. den Abschnitt 3.2. 1. dieser Arbeit und Malinowski, Vom König zum Führer, S. 56f. Liliencron (1912), S. 41, S. 51.

3.4. Selbstpräsentationen

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dem späteren Feldmarschall, aus napoleonischer Zeit war Liliencron früh mit „jugendlicher Begeisterung“ für „Heldensinn, Opfermut und Todestreue“ ausgestattet.316 Mehr als die Hälfte ihres Lebens verbrachte sie in Regimentern und Garnisonen, zuerst als Offizierstochter, dann als Offiziersfrau, ab 1900, inzwischen verwitwet, als Schwiegermutter des sukzessive zum kommandierenden General avancierenden Ehemannes ihrer Tochter. Die Begeisterung „für Heldentum“317 kennzeichnet das Selbst über die Zeit. Sie ist nicht zu verwechseln mit der vermeintlichen oder tatsächlichen Faszination von Frauen für schneidige Offiziere in bunten Uniformen auf Militärparaden.318 Liliencrons Begeisterung ist ein über Herkunft, Sozialisation und familiäre Kommunikation vermitteltes Verstehen des männlichen Erfahrungsbereiches genuiner Kampfhandlungen in einer von militärischen Werten dominierten Lebenswelt, mit der sie sich zustimmend identifiziert. Ihre Begeisterung für „Heldensinn“ zeitigt ein Engagement der direkten Unterstützung militärischer Aufgaben: Als Witwe entfaltete sie verstärkt ein Spektrum sozialer und kultureller Aktivitäten. Persönlich stand ihr die Arbeit im Militärlazarett der Schweriner Garnison von 1903–1907 am nächsten. Jenseits von Vereinssatzungen konnte sie hier das von ihr favorisierte „selbständige Wirken“ umsetzen.319 Was sie tat, kann man als ehrenamtliche Sozial- und Kulturarbeit zu einem bestimmten Zweck betrachten. Den schwerkranken Soldaten und Unteroffizieren liest sie Geschichten und sonntags aus der Bibel vor. Den leichteren Fällen gibt sie Nachhilfeunterricht und zweimal in der Woche Extrastunden: „Aus der vaterländischen Geschichte erzählte ich ihnen, aus den Befreiungskriegen und Heldenstückchen und Taten der Treue aus dem letzten Kriege. Ganz schlicht nur war der Vortrag, aber meine Zuhörer waren mit ganzer Seele dabei und ließen sich so prachtvoll für alles Große erwärmen.“320 Der Sonntagnachmittag ist für die gesunden, wieder im Dienst stehenden Soldaten und Unteroffiziere reserviert, denen sie vom „unerschrockene[n] Heldentum“321 der sog. Schutztruppe in Südwestafrika erzählt. Hieraus entwickelt sie die Idee, gemeinsam die „braven Reiter[n]“ mit „Liebesgaben“ zu unterstützen.322 Liliencron schreibt ein kleines Theaterstück nicht mit literarischem Anspruch, sondern um – so schätzt sie generell ihre Gelegenheitsdichtungen ein – „für große Taten der Vergangenheit zu begeistern“.323 Die Unteroffiziere proben mit ihr das Stück in der recht karg bemessenen Freizeit, und die Benefiz-Veranstaltung wird ein voller Erfolg

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Ebd., S. 5, S. 40. Ebd., S. 211. Zum Faszinosum „Uniform“ vgl.: Brändli, Sabina, Von „schneidigen Offizieren“ und „Militärcrinolinen“, in: Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 201–228; Vogel, Jakob, Stramme Gardisten, temperamentvolle Tirailleurs und anmutige Damen. Geschlechterbilder im deutschen und französischen Kult der „Nation in Waffen“, in: Ebd., S. 245–262. Vgl. Liliencron (1912), S. 260–301, zit.: S. 260. Ebd., S. 265. Ebd., S. 265. Ebd., S. 275. Ebd., S. 262.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

in der Schweriner Gesellschaft. Um die Gesamtstimmung der schauspielernden Unteroffiziere wiederzugeben, zitiert sie einen Teilnehmer: „ ,Es wird einem dabei zumut, als ob man das alles leibhaftig mit durchmachte; es ist doch so was Schönes um solche Treue, man möchte es gleich nachtun!‘“324 Theaterspiel und erzählerische Vermittlung von Heldentaten im Krieg waren Liliencrons Mittel, um junge Männer für den Kampf zu motivieren. Damit übernahm sie im Militär eine wesentliche Aufgabe des Militärs, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend auf „Charakterbildung“ setzte, um auf die Verinnerlichung soldatischer Handlungsorientierungen für Gott, König und Vaterland hinzuwirken.325 Den Erfolg ihrer Arbeit dokumentiert sie exemplarisch durch Einschub eines Briefes, dessen Verfasser – ein Soldat – freiwillig zur ‚Schutztruppe‘ nach Südwestafrika ging: „ ,Ich muß immer daran denken, was Sie uns sagten, als Sie bei uns die Bilder stellten und uns von den Heldentaten unseres Regiments erzählten; was damals in mir wachgerufen wurde, das kann ich nun in die Tat übersetzen.‘ “326 Bedenkt man die Aktionsweisen und Handlungsfelder bürgerlicher Frauen, welche eine am Zusammenhang von Militär, Nation und Geschlecht interessierte Geschlechtergeschichte herausgearbeitet hat327, so stellt Liliencrons individuelles Engagement wohl eine Novität dar und ist auch innerhalb vorliegender Quellen singulär. Liliencron war sich durchaus bewußt, daß sie mit ihrem Engagement in eine Männerdomäne eintrat: „Wohl fand ich bald Einlaß im Siechenhaus, Krankenverein und Kinderheim, aber wo ich so besonders gern hinein wollte, da schlossen sich für mich vorläufig die Türen.“328 Verschlossen sind ihr nicht die legitimen Handlungsräume von Frauen in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern das Lazarett als Einrichtung des Militärs. Als Türöffner und Handlungsgrund gibt Liliencron an, daß sie den Soldaten „ein Stück Mutti sein“329 möchte. Da „Mütterlichkeit“ der Topos schlechthin war, um sich über den Platz von Frauen zu verständigen, überrascht die Begründung nicht. Sie wird nicht weiter expliziert. Konkret speist sie sich wahrscheinlich daraus, daß das Regiment als erweiterte Familie gedacht wurde. Zumindest legt Liliencron darauf Wert, daß ihr Grund vom Militärarzt, vom Kommandeur anerkannt wurde. Insofern Liliencron „vaterländische Geschichte“ vermittelt, kann man ihren Rückgriff auf „Mütterlichkeit“ in das bereits in den anti-napoleonischen Kriegen entworfene

324 325 326 327

328 329

Ebd., S. 275. Vgl. Frevert, Ute, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 145–173, hier: S. 154–162. Liliencron (1912), S. 294. Eine ausführliche Zusammenschau von Fragestellungen und Ergebnissen bei: Planert, Ute, Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht, S. 15–65. Liliencron (1912), S. 262. Ebd., S. 263.

3.4. Selbstpräsentationen

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Muster patriotisch-nationalen Frauenhandelns einordnen.330 Allerdings macht es einen Unterschied, ob Frauen im Namen der Nation für Soldaten Socken strickten oder Charpie zupften oder ob sie in der „Schule der Nation“, die zunehmend als „Schule der Männlichkeit“ verstanden wurde331, eine geistige Mobilmachung betrieben, um Soldaten auf ihren möglichen Einsatz in den Kolonien vorzubereiten. Liliencron hat keine Veranlassung, ihr Handeln über die Nation zu legitimieren. Sie gehörte einer Adelsfamilie an, deren Männer mit militärischen Erfolgen an der Nationalstaatsbildung ‚von oben‘ teilhatten und hierüber das Prestige des Adels steigerten. Die Begründung ihres Engagements („die Aufgabe, die ich mir gewählt“332) erfolgt denn auch unter Zuhilfenahme ihrer verstorbenen ‚Adelskrieger‘: „[E]benso klar wurde ich mir auch darüber, daß meine geliebten Heimgegangenen just an dieser Arbeit besondere Freude gehabt hätten, und da kam etwas wie vertrauensvolle Siegesfreudigkeit über mich. … Auch für mich nahm ich jetzt das Losungswort: ‚Vorwärts mit Gott, frisch drauf und sieghaft durch.‘ “333 Das imaginierte Einverständnis der Verstorbenen unterstreicht, daß Liliencron ihr Handeln in einen familiären, männlich-militärischen Zusammenhang eingebettet wissen will. Im Text taucht das „Losungswort“ in verschiedenen Varianten auf. Es bezieht sich auf den späteren Feldmarschall Wrangel, der mit diesem Motto sich selbst und seine Soldaten in die Schlacht führte.334 Mit der Übernahme des Schlachtrufs rückt sich Liliencron in den Kernbereich des Militärischen, den Krieg, ein. Zwar probt sie keine Identität zwischen ihren Aktivitäten und der genuinen Kriegshandlung, doch Ähnlichkeiten evoziert sie durchaus. Die ideelle, erzählerisch und spielerisch vermittelte Vorbereitung auf einen möglichen Kriegseinsatz zeigt sich dem Gefecht selbst als gleichwertig. Die Offiziersfrau präsentiert sich als selbständig handelnde Akteurin, die ihre Aufgabe darin sieht, Soldaten nach einem Leitbild von Heldensinn, Opfermut und Todestreue zu formen. Indem sie den Schlachtruf auf sich bezieht, beansprucht sie eine gleichwertige Führungsposition, wie sie den Offizieren im Gefecht gegenüber der Mannschaft zukam. Vor dem Hintergrund, daß bei der Ausbildung von Soldaten großer Wert auf die ‚moralische‘ Erziehung gelegt wurde335, kann man die Ähnlichkeiten als Äquivalent zum ‚Eigentlichen‘ des Krieges betrachten. Mit Mütterlichkeit und Soldatentum, einem „Stück Mutti sein“ und einem „frisch drauf“, begründet Liliencron ein m. E. neuartiges Handlungsfeld für Offiziersfrauen. Oriola erfüllt die normativen Erwartungen. Fugger betreibt ein grandseigneurales Spiel 330

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Zur historischen Prägekraft der in den Befreiungskriegen erprobten Aktionen, Handlungsfelder und Legitimationen von Frauen bis in das 20. Jahrhundert hinein vgl.: Hagemann, Karen, Heldenmütter, Kriegerbräute und Amazonen. Entwürfe „patriotischer“ Weiblichkeit zur Zeit der Befreiungskriege, in: Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 174–200; Dies., „Deutsche Heldinnen“: Patriotischnationales Frauenhandeln in der Zeit der antinapoleonischen Kriege, in: Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht, S. 86–112. Vgl. Frevert, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“, S. 145–173. Liliencron (1912), S. 273. Ebd., S. 273. Vgl. ebd., z. B. S. 10, 19, 54. Vgl. Frevert, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“, S. 158–163.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

mit dem Fachmilitärischen. Bei Liliencron entsteht im Fachmilitärischen ein Feld freiwilligen Arbeitens im (imaginierten) Einklang mit professionellen Militärs. Die naheliegende Dichotomie von regulärer Ausbildung einerseits und fakultativem Theaterspiel andererseits wäre eine vorschnelle Konstruktion. Sie ließe außer acht, daß sich im Militär der Adel recht erfolgreich behauptete. Es ist gerade das freiwillige, anscheinend oder scheinbare uneigennützige Engagement einer Offiziersfrau, mit dem die im Adel beanspruchten Führungsqualitäten und Machtansprüche deutlich sichtbar bis in den Freizeitbereich der einfachen Soldaten hinein verlängert werden konnten.

3.4.3. Soziales Engagement Wenn Liliencron darum weiß, daß ihr die Siechenhäuser und Kinderheime offenstanden, dann hatte sie ein Handlungsfeld im Blick, daß traditionell von christlichen Frauen betreten wurde, wenn es darum ging, Armen, Kranken und Bedürftigen zu helfen. Ihr Engagement im Wohltätigkeitsverein lief nicht auf spontane Hilfeleistungen oder dem Verteilen von Almosen hinaus, sondern orientierte sich am modernen Konzept sozialer Arbeit, das auf persönlicher Beziehung zu den Hilfeempfängern ruhte und die „Hilfe zur Selbsthilfe“ zum Prinzip im Kampf gegen die Armut erhob.336 Die Zeit um 1900 gilt als Phase der Fundamentalpolitisierung im Kaiserreich, in der immer größere Bevölkerungskreise am politischen Geschehen mitwirkten.337 Zur selben Zeit wurden Frauenbewegungen in Europa zu Massenbewegungen, deren Organisationen, Verbände und Vereine sich zunehmend diversifizierten.338 Wenn sich Liliencron auf „ein Stück Mutti“ beruft, um in der Konsequenz ein ‚Agitprop-Theater‘ im Militär und für die zivilen Zeitgenossen zu initiieren, dann war dieses Engagement zumindest politisch konnotiert und gewann eine neue Qualität: Sie gründete 1907 den Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft und wurde dessen Vorsitzende. Als der konservativ-nationalistische Frauenbund 1911 dem Bund deutscher Frauenvereine beitrat, war sie Ehrenvorsitzende der DKG.339 Liliencrons soziales Engagement mit potentiell politischem Sinn bewegte

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In der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung ist das Konzept untrennbar mit der Person Alice Salomon verbunden. Vgl. Sachße, Christoph, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, 2., überarb. Aufl., Opladen 1994, S. 98–136. [zuerst 1986]; Schüler, Anja, Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog. 1889–1933, Stuttgart 2004. Vgl. Ullmann, Hans-Peter, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt a. M. 1995, S. 126–137. Vgl. Paletschek, Sylvia / Pietrow-Ennker, Bianca, Women’s Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century: Conclusions, in: Dies. (Hgg.), Womens Emancipation Movements in the Nineteenth Century, Stanford 2004, S. 301–333. Zur DKG und anderen konservativen Frauenvereinen vgl. Süchting-Hänger, Andrea, Das „Gewissen der Nation“. Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900 bis 1937, Düsseldorf 2002. Einen umfangreichen und instruktiven Forschungsbericht bietet die Sammelrezension von: Streubel, Christiane, Frauen der politischen Rechten in Kaiserreich

3.4. Selbstpräsentationen

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sich demnach auf der Höhe der Zeit. War sie ein ‚Blaustrumpf der späten Stunde‘, eine Frau mit ‚Deprivationssyndrom‘ oder eine ‚Kulturimperialistin mit subversiver Energie‘? – Es gibt keine Arbeit, die systematisch nach Affinitäten, Ambivalenzen und Differenzen zwischen Frauen im Adel und der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich gefragt hätte. Gehört das soziale Engagement insbesondere für Notleidende inzwischen zum Handbuchwissen über die Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. Jahrhundert340, so nimmt sich die Adelsforschung dieses Themas eher zögerlich an. Obwohl die christlich-sozialen Aktivitäten im 19. Jahrhundert von hoher Bedeutung für das Selbstbild einer sich im besonderen Maße dem Gemeinwohl verpflichtet wissenden Gruppe waren, ist das Interesse an den Wegen des Adels in die per se politischen Parteien und Verbände ausgeprägter als Fragen nach dem ehrenamtlichen Engagement außerhalb dieser Institutionen.341 Dennoch ist ein Interpretationsrahmen zu erkennen: Steht das weibliche Sozialengagement in der Frauen- und Geschlechtergeschichte zumeist im Deutungsmodell sich erweiternder Handlungsspielräume und Partizipation an der (politischen) Öffentlichkeit, so findet das adelige (männliche) Engagement unter dem Vorzeichen des Autoritäts- und Herrschaftserhalts in sozialer, ökonomischer und auch moralischer Hinsicht Eingang in die Forschung.342 Christa Diemel hat beide Interpretamente zu verbinden versucht. Sie betrachtet vom Hof ausgehende Wohltätigkeitsinitiativen der ersten Jahrhunderthälfte nicht als Vorstufe feministischer Bewußtseinsbildung und weniger als Vorgeschichte weiblicher Berufstätigkeit, sondern stärker als öffentlichen Ort adelig-bürgerlicher Annäherung, der die Möglichkeit bot, den adeligen Führungsanspruch zu wahren.343 Auch wenn die Verschränkung in der empirischen Analyse nicht überzeugt, wird hier eine Forschungsper-

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und Republik. Ein Überblick und Forschungsbericht, in: H-Soz-u-Kult, 10.06.2003, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-141. [letzter Zugriff: 03. 09. 2007] Vgl. Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, S. 156–163; Perrot, Michelle, Ausbrüche, in: Geschichte der Frauen, Bd. 4: Das 19. Jahrhundert, hrsg. v. Geneviève Fraisse u. Michelle Perrot, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 506–513. Zu Selbstbild und karitativen Engagement vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 449–456; Marburg, Silke, … sub estos signis militamus. Adlige Selbstsymbolisierung in der Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: Dies. / Matzerath, Josef (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, S. 17–44; sehr knapp und damit das Desiderat bestätigend dazu die überblickartige Einführung zum Adel von: Wienfort, Der Adel in der Moderne, S. 29 und S. 142–150. Zu den Wegen in die Parteien und Verbände im Forschungsüberblick: Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 108–112; speziell zum Weg Adeliger in die Verbände der Neuen Rechten im Kaiserreich vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 175–189. Zentral bei Heinz Reif, der das karitative Engagement, eingebettet in die verschiedenen Vereinsaktivitäten des westfälischen Adels um und nach 1800, als wirkungsvolles Mittel betrachtet, den Einfluß auf die katholische Bevölkerung gegen den preußischen Staat ( wieder) zu gewinnen. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 398–430, passim. Vgl. auch Henning, Hansjoachim, „Noblesse oblige?“ Fragen zum ehrenamtlichen Engagement des deutschen Adels 1870–1914, in: VSWG 79 (1992), S. 305–340. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 195–206.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

spektive eröffnet, um Frauen in den Fragehorizont von Elitenbildungsprozessen integrieren zu können. Nun, Liliencron war keine Hofgängerin, und ihr Engagement im Militär bedurfte keiner Assoziationsgründung. Das Zupfen von Charpie in Kriegszeiten mußte weder politischen Partizipationswillen symbolisieren noch als besonderer, dem ‚Stand‘ verpflichteten Dienst an der Allgemeinheit gedacht worden sein. Die von Diemel als verschränkt gedachten Deutungsmodelle adeliger Selbstbehauptung und weiblicher Handlungsspielräume sind offen genug und deshalb für diesen Abschnitt geeignet, die Interpretationen des in den Lebenserinnerungen präsentierten sozialen Engagements anzuleiten. Es geht hier um den Versuch, Modi des Gebrauchs sozialen Engagements herauszuarbeiten. Mit dem Erzählungsraum des sozialen Engagements verhält es sich personell wie mit den vorangegangenen und dem nachfolgenden. Alle Autobiographinnen, die geheiratet hatten, betreten ihn, doch nur wenige richten sich dauerhaft und selbstbezogen in ihm ein. Zentrale Texte zum Thema stammen zum einen von Adda von Liliencron und Maximiliane von Oriola. Beiden (nunmehr bekannten) Autorinnen ist gemein, daß das verstärkte Engagement durch den Tod des jeweiligen Gatten veranlaßt wird und zunächst dazu beiträgt, den persönlichen Schicksalsschlag zu überwinden, bevor es dann seine weitere sinn- und handlungsorientierte Wirkung entfaltet. Zum anderen ist der Text von Pauline Fürstin zu Wied zu nennen, der in den 1950er Jahren veröffentlicht wurde. Als Jahrgang 1877 noch deutlich im Kaiserreich verankert, präsentiert Wied ihr Sozialengagement systemübergreifend und nimmt die Weimarer Republik in diesem Zusammenhang als Herausforderung an. 3.4.3.1. Humanitäre Hilfe und gesellschaftliche Verpflichtung Gräfin Oriola, inzwischen 48jährige Offizierswitwe mit fünf unmündigen Kindern, verstärkte ihr soziales Engagement zu Beginn des preußisch-österreichischen Krieges 1866. Im Zuge allgemeiner Kriegvorbereitung in Breslau beschloß sie, ihr Haus als privates Lazarett einzurichten. Die dafür nötigen Mittel warb sie im Freundes- und Verwandtschaftskreis ein. Das Personal gewann sie aus der bürgerlich-männlichen Ärzteschaft, aus dem Kreis pflegekundiger adeliger Damen und ihrem älteren männlichen Dienstpersonal. Bei Kriegsausbruch standen über 35 Betten bereit. Als Leiterin ihres Lazaretts holte sie regelmäßig Verwundete vom Bahnhof, nach der Schlacht bei Königgrätz auch vom Kriegsschauplatz ab. Sie koordinierte die eingehenden Geldspenden und Liebesgaben (Zigarren, Wein, Wäsche), leitete die Haushaltung, übernahm Nachtwachen und war vor allem persönlich für die Sorgen der zu Betreuenden da. Im deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71, inzwischen in Berlin lebend, setzte Oriola ihre Verwundetenfürsorge in einem Militärlazarett fort.344

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Vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 245–251; S. 264f.

3.4. Selbstpräsentationen

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In der Frauen- und Geschlechtergeschichte wird das wohltätig-karitative Engagement von vornehmlich bürgerlichen Frauen und Frauenvereinen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unter dem Vorzeichen des Nationalen untersucht. Die Verwundetenfürsorge im Krieg, wie sie hier zum Beispiel von Oriola geleistet wurde, stellte im nationalen Rahmen seit den anti-napoleonischen Kriegen ein Handlungsfeld dar, in dem Häuslichkeit zugunsten legitimer Teilhabe am öffentlich-politischen Leben überwunden werden konnte.345 Dagmar Günther hat in diesem Zusammenhang gezeigt, daß sich bürgerliche Autobiographinnen über ihre karitativen Aktivitäten im deutsch-französichen Krieg als Teil der Nation profilierten und daß diese Form der Aneignung des öffentlichen Raumes wie selbstverständlich auf die Krisenzeit des Krieges begrenzt blieb.346 Im folgenden wird der Frage nachgegangen, in welchen Sinn- und Handlungszusammenhängen Gräfin Oriola Verwundetenfürsorge und andere wohltätige Aktivitäten betrachtete. Oriola stellt den Krieg zunächst in den biographischen Zusammenhang der Trauerbewältigung um ihren verstorbenen Gatten: „Ganz von dieser weltflüchtigen Stimmung befreit und voll dem Leben wiedergegeben hat mich erst die Tat – das opferfreudige Wirken in meinem Lazarett 1866. Aber schon in den beiden vorhergehenden Wintern begann das Eis, unter dem meine Seele erstarrt war, zu schmelzen, als ich es unternahm, anderen Freude zu bereiten und mich nicht nur von ihnen betreuen zu lassen.“347 Der Krieg fungiert als ‚Befreiung‘ zur Tat, der eine altruistisch-philanthropische Gestimmtheit zugrunde liegt, die auch die individuell organisierte Verwundetenfürsorge anleitet. Sie steht unter dem moralischen Vorzeichen, „Gutes zu wirken und anderen Freude zu bereiten“.348 Ihre Lazaretterzählung handelt denn auch vornehmlich von zur Genesung gelangenden Patienten – Preußen, Österreicher, Offiziere und Unteroffiziere. Ihr Engagement begründet sie: „Wenn er [General Oriola, M. K.] dem Vaterlande nicht mehr dienen kann, so tue du es, soweit deine schwache Kraft dazu reicht! Jetzt zeige, daß du eine gute Militärfrau bist!“349 Unverkennbar erfolgt hier eine Bezugnahme auf Vaterland und Geschlecht, die die humanitären Aktivitäten im Muster patriotischen Frauenhandelns erscheinen lassen. Doch Bezugnahme wie Gesamterzählung tragen wichtige Implikationen des Musters nicht mit: Weder legitimiert der vaterländische Bezug öffentliches Handeln, noch stellt er einen Redezusammenhang her, in dem sich Oriola als Teil des Vaterlandes, von dem sie ansonsten ausgeschlossen ist, profiliert. Mit der „guten Militärfrau“ greift sie vielmehr auf ihre Korps-Zugehörigkeit zurück, von der bereits deutlich geworden sein sollte, daß 345

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Vgl. Planert, Ute, Vater Staat und Mutter Germania, S. 15–65; Hagemann, Karen, Heldenmütter, in: Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 174–200; Dies., „Deutsche Heldinnen“, in: Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht, S. 86–112. Den Fokus auf die zahlreiche Vereinstätigkeit von Frauen um 1800 richtet: Reder, Dirk Alexander, Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813–1830), Köln 1998. Vgl. Günther, Das nationale Ich?, S. 196–203. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 244. Ebd., S. 249. Ebd., S. 245.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Frauen anerkannte Mitglieder in der adeligen Selbstbeschreibung waren. Oriolas Begründung enthält keine Überwindung vom Privaten zum Öffentlichen in der Kriegssituation, sondern formuliert einen Appell, sich als „Militärfrau“ resp. Offiziersfrau zu verhalten. Dieser Appell indiziert eine (berufs)ständisch-korporative Verpflichtung des Militärs resp. des (adeligen) Offizierskorps zur Vaterlandsverteidigung. Die geleistete Verwundetenfürsorge ist zwar patriotisch markiert, doch die Deutung „Korps“ scheint stärkere Prägekraft zu haben. Eine allgemeine patriotische Frauenpflicht wird zu einer besonderen Verantwortung von Offiziersfrauen.350 Oriolas nationale Unbestimmtheit ließe sich damit begründen, daß ‚1866‘ ein klassischer Kabinettskrieg war, weshalb die militärische Bindung eben diese ‚Realhistorie‘ spiegelte. Da der Krieg von 1870 / 71 von vornherein als nationaler Krieg geführt wurde, wäre zu vermuten, daß Oriola dem Rechnung trägt.351 Das ist nicht der Fall. Wie im Jahr 1866 gilt ihr die Verwundetenfürsorge als humanitäre Hilfe, die allenfalls vaterländisch konnotiert ist.352 Bürgerliche Autobiographinnen präsentieren sich im Blick zurück auf ‚1870 / 71‘ als Akteure der Nation. Sie reklamieren ihr karitatives Engagement als weiblichen Beitrag zur kriegerischen Nationsbildung, das zugleich den gewohnten häuslichen Rahmen ihrer bisherigen Lebensgeschichte sprengt. Der Krieg stellt eine Ausnahmezeit dar, die soziale Hierarchien einebnet und Geschlechtergrenzen verschiebt, in der man sich als Teil des ‚Volksganzen‘ empfinden kann, um hernach in den prosaischen Alltag des neuen Kaiserreiches zurückzusinken.353 Nichts von alledem ist bei Gräfin Oriola zu finden. Von der Reichsgründung kündet allein der Bezeichnungswandel vom König zum Kaiser.354 Das Nationale im ‚deutschen Adel‘ dieser Zeit ist sicher ein Forschungsthema für sich. Für Oriola zumindest stellte die Nation keine sinnstiftende Ordnungskategorie dar. Mochten sich für bürgerliche Autobiographinnen in der Opferbereitschaft für das Vaterland die Partizipations- und Integrationsverheißungen der Nation zumindest im Krieg verwirklichen und im Vergleich zum Normalzustand des Friedens höchste Lebensintensität vermitteln355, so steht Oriolas Engagement unter umgekehrten Vorzeichen. Ihre Lebenserinnerungen bebildern eine exklusive Gesellschaft unter Einschluß einiger bürgerlicher Künstler und Gelehrter, die vornehmlich (residenz)städtisch zusammentraf und sich am Berliner Hof orientierte. In dieser Gesellschaft gehörten wohltätige Aktivitäten zum guten Ton. Zu der von Männern und Frauen bewohnten ‚monde‘ gehörte Oriola nicht nur aufgrund von familiärer Herkunft und Eheschließung, sondern weil sie

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Zu patriotischen Frauenpflichten vgl.: Hagemann, Heldenmütter, in: Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft, S. 185ff. Vgl. allg. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866, München 1992, S. 780–784; Ders., Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 60. Vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 264f. Vgl. Günther Das nationale Ich?, S. 179ff., bes. S. 196–203 u. S. 262–267. Vgl. Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 270f., 278f. Vgl. Günther, Das nationale Ich, S. 196–203.

3.4. Selbstpräsentationen

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auf aktive Weise an ihr teilhatte. Noch als 68jährige kann sie von sich sagen, was sich beinahe als sprichwörtliche Formel zur Charakterisierung ihrer vita activa durch den Text zieht: „Ich stecke mal wieder mitten im Trubel.“356 In dieser Perspektive erscheint ihre Verwundetenfürsorge von 1866 nicht nur als Überwindung eines Schicksalsschlages und humanitäre Hilfe, sondern als Rückkehr in den „Trubel“ gesellschaftlichen Lebens. Für die Angehörige der ‚monde‘ stellte die Verwundetenfürsorge eine besondere Aktivität im Spektrum des wohltätigen Engagements dar, das in Friedenszeiten von Frauen und Männern der ‚guten Gesellschaft‘ ausgeübt wurde. Somit läßt sich nicht davon sprechen, daß der Krieg Handlungsspielräume erweiterte. In symbolischer Hinsicht kann man das nationale Desinteresse gerade auch im Krieg 1870 / 71 sogar als Effekt einer (situativen) Verengung von Handlungsmöglichkeiten deuten. Der national geführte Krieg orientierte sich an der polaren Geschlechterordnung.357 Das wohltätige Engagement wurde vom Häuslichen her gedacht und wies den Frauen hierüber die Rolle der opferfreudig Hilfsbereiten zu.358 Die wohltätigen Aktivitäten im Adel, in der ‚guten Gesellschaft‘ wurden unter dem Gesichtspunkt des „noblesse oblige“ betrachtet, diente das Engagement für Bedürftige dem Zweck, die soziale Eignung einer Elite unter Beweis zu stellen.359 Herausgerissen aus dem Zusammenhang der ‚monde‘ und in den Kontext eines nationalen Krieges gestellt, erscheint Wohltätigkeit als eine auf die „weibliche Sphäre“ reduzierte Frauenpflicht. Oriolas Selbstbezeichnung der „guten Militärfrau“ zeigt zumindest Distanz zur klar umrissenen Geschlechterordnung an. Konzentrierte sich Oriolas soziales Engagement im Krieg auf die Verwundetenfürsorge, mit der sie in ein unmittelbares, persönliches Verhältnis zu den Hilfsbedürftigen trat, wird das Engagement im Frieden vielfältiger, steht aber in keiner direkten Beziehung mehr zu jenen, denen die Hilfe zukommen soll. Denn den Rahmen bildet die höfisch orientierte Gesellschaft im Berlin der 1860 / 70er Jahre, in der Bedürftige, sofern sie nicht zur inneradeligen Karitas gehören, abstrakte Größen sind. Für einen Elitennachweis wäre Oriolas Text ein dürftiges Zeugnis. Mit ihm kann man zeigen, daß wohltätige Aktivitäten zugleich Teil der allgemeinen Geselligkeit waren. Diese Verknüpfung stellt sich als ein probates, von Oriola nicht eigens reflektiertes Mittel heraus, den im Adel so wichtigen, die einzelne Existenz stark beeinflussenden Familiennamen zu erhalten. Zwar stellte der Namenserhalt in der Logik der „Geschlechterkette“ eher eine Art Imperativ für männliche Familienangehörige dar.360 Doch unstrittig ist auch (abgesehen davon, daß Oriola Witwe ist und ihre Söhne noch minderjährig sind), daß das Familienansehen durch die permanente Pflege und den Unterhalt sozialer Beziehungen zumindest verwaltet wer356 357 358

359 360

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 289; ähnlich S. 253, 257, 280, 282, 291f. Planert, Vater Staat und Mutter Germania, S. 28f. Vgl. Quataert, Helen J., „Damen der besten und besseren Stände“. „Vaterländische Frauenarbeit“ in Krieg und Frieden 1864–1890, in: Hagemann / Pröve (Hgg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger, S. 247–275; Vogel, Jakob, Samariter und Schwestern. Geschlechterbilder und -beziehungen im „Deutschen Roten Kreuz“ vor dem Ersten Weltkrieg, in: Ebd., S. 322–344. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 445- 449; Henning, „Noblesse oblige?“, S. 305–340. Vgl. den Abschnitt 3.2.1. dieser Arbeit.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

den mußte und das Investieren in Wohltätigkeit (oder in eine andere Form gesellschaftlicher Arbeit) die Chance des Prestigegewinns beinhaltete. Diese Arbeit mochte weiblich konnotiert gewesen sein, war aber sicher nicht geschlechtsspezifisch. Graf und Gräfin Oriola waren anerkannte Mitglieder der Hofgesellschaft. Dieses mit dem Namen Oriola verbundene symbolische Kapital galt es für die heranwachsende Generation zu halten, womöglich zu steigern. Oriola erinnert sich an die Jahre vor und nach dem Krieg von 1870 / 71 als eine Zeit der „Hochflut der Wohltätigkeitsbasare“, welche die „Berliner Gesellschaft überschwemmte“.361 Auf Initiative und unter dem Protektorat der Frauen des Hohenzollern-Hauses folgte in kurzen Abständen Basar auf Basar. Die Erlöse kamen Militärwaisen, Überschwemmungsopfern, Kriegsinvaliden und Vereinen, die sich für Arme und Kranke engagierten, zugute. Die Reaktion auf die „Hochflut“ formuliert sie wie folgt: „Jedesmal, wenn ein neuer Basar angekündigt wurde, ging ein allgemeines Seufzen durch die Gesellschaft: die Damen seufzten, weil sie nun wieder neue Handarbeiten machen oder zum Verkauf geeignete Gegenstände selbst kaufen oder schenken mußten, am meisten seufzten die, die von hoher Stelle mit dem Arrangement des Ganzen betraut wurden, und die Herren seufzten wegen des Angriffs auf ihre Börse – aber entziehen konnte sich niemand dieser gesellschaftlichen Verpflichtung. Es kamen ja auf diese Weise auch große Summen für gute Zwecke zusammen, und schließlich amüsierte sich im Trubel dieser Feste doch ein jeder so gut es eben ging.“362 Der Stimmungsbericht ist hinsichtlich des sozialen Sinns von Wohltätigkeit aufschlußreich: Die tradierte Karitas war keine stetig praktizierte Tugend, wie man hätte glauben können, wenn man das Gebot „Adel verpflichtet“, das im 19. Jahrhundert als eine Antwort auf die Erfahrung, kein Herrschaftsstand mehr zu sein, in den kollektiven „Wertehimmel“ rückte , in Rechnung stellt.363 Es bedurfte vielmehr der Aufforderung durch jene, die in der Adelshierarchie ganz oben standen. Einmal als gesellschaftliche Verpflichtung akzeptiert, besaß Wohltätigkeit die Macht, Menschen der ‚guten Gesellschaft‘ in ihren Bestrebungen zusammenzuschweißen. Diese waren nicht zuerst darauf gerichtet, Notleidenden zu helfen, sondern (das „allgemeine Seufzen“ ist beredter Ausdruck) einer Forderung von höchster Stelle Folge zu leisten. Hierüber banden sich Gesellschaftsangehörige auf spezifisch höfische Weise. Wohltätige Aktivitäten gehörten zum gesellschaftlich-geselligen Verkehr und seinem „eigentümliche[n] Doppelgesicht“, das zugleich dem Vergnügen und der Selbstbehauptung diente.364 Das heißt, Wohltätigkeit wurde für die ‚gute Gesellschaft‘ erst dann zum Handlungsfeld, wenn sich die Mitglieder derselben durch Nichtteilnahme in die Gefahr brachten, ihre Stellung zum Königs- bzw. Kaiserhaus zu verlieren, oder die Teilnahme daran die Möglichkeit barg, ihre Position im Vergleich zu anderen zu verbessern. Einige Seiten später steigert Oriola die Verpflichtung: „Alles, was damals in der Gesellschaft unternommen wurde, geschah 361 362 363 364

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 253. Ebd., S. 253f. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 445–456, Conze, Von deutschem Adel, S. 388ff. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 84.

3.4. Selbstpräsentationen

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zu wohltätigen Zwecken oder wenigstens unter dieser Flagge …“365 Jede Unternehmung dient nun dem wohltätigen Zweck und die „Flagge“ deutet an, was der Fall wahrscheinlich war. Wohltätigkeit konnte sich zu einer Arena des inneradeligen Geschlechterkampfes entwickeln, in der die Angehörigen des „Experten der Sichtbarkeit“ (Heinz Reif) um größtmögliche Aufmerksamkeit kämpften. Allerdings präsentiert sich Oriola nicht in ‚Kampfstellung‘, sondern als unermüdlich Agierende im benannten „Trubel“ gesellschaftlich-karitativer Ereignisse. Sie tut, was alle tun, behält sich aber vor, nicht unter der „Flagge“ zu segeln und auf der moralischen Grundgestimmtheit ihrer Handlungen zu beharren.366 Die mittels karitativ-geselliger Aktivitäten gepflegten sozialen Beziehungen sollen an dieser Stelle nur einige Beispiele verdeutlichen. Oriola wird in den Vorstand des Friedrichsstifts gewählt, eine königliche Stiftung für Militärwaisen, die sich die Erziehung von Kindern zur Aufgabe gemacht hatte und für die sich bereits andere Familienmitglieder der Arnims resp. Oriolas engagierten.367 Mit Colmar von der Goltz gründet sie nach 1870 / 71 die Stiftung „Invalidendank“, die Kriegsinvaliden Unterstützung gewähren und Arbeit verschaffen sollte. Der künftige Generalfeldmarschall und Militärtheoretiker wurde seit seinem Aufenthalt in ihrem Lazarett ein lebenslanger Freund des Hauses. Beiden gelingt es, den Herzog von Ratibor, den sie in Breslau kennengelernt hatte, für die Präsidentschaft zu gewinnen und die Stiftung zu einer Organisation auszubauen, die jährlich beträchtliche Unterstützungsgelder an das Kriegsministerium abgeben kann.368 Im Zuge ihrer Wohltätigkeit für Angehörige im Militär lernt sie Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke kennen, den sie nicht als militärischen Strategen und kriegerischen Mitbegründer des Kaiserreiches vorstellt, sondern als in ihrem Haus verkehrenden Musikliebhaber. Sie wiederum ist Mitglied des Chorvereins, der in Moltkes Haus mit dem sich nur aus Offizieren zusammensetzenden Orchester probt, um Dilettantenkonzerte zu wohltätigen Zwecken in der Kriegsakademie, der zu Lebzeiten auch Graf Oriola angehörte, aufzuführen.369 – Später werden zwei ihrer Söhne in die Armee eintreten. Hierbei handelt es sich nicht um eine bewußte Strategie mütterlicher Zukunftsplanung. Doch die wohltätigen Aktivitäten im Kontext des Militärs dürften den Namen Oriola im aktuellen Gedächtnis der anderen Mitstreiter und womöglich die Erinnerung an den General Oriola bewahrt haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß mindestens einer von drei Söhnen aus einer nicht gutsbesitzenden Kernfamilie in Preußen Armeeangehöriger werden würde, war hoch. „Die Spezialität meines Hauses wurden Theateraufführungen zugunsten der Armen“370, benennt Oriola ihren weiteren Beitrag an den wohltätigen Unternehmungen. Die Aufführungen finden innerhalb der Saison, der intensivsten Zeit gesellig-gesellschaftlichen

365 366 367 368 369 370

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 259. Ebd., S. 259, passim. Vgl. ebd., S. 254. Vgl. ebd., S. 265f. Vgl. ebd., S. 269, S. 289. Ebd., S. 259.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Lebens, statt und werden mit der Zeit so „[b]erühmt“, der „Andrang so groß“, daß sie mehrfach wiederholt werden müssen.371 Oriola ist die Regisseurin, ihre Kinder und männliche wie weibliche Jugend agieren als Schauspieler. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die jungen Männer und Frauen als Kinder oder Angehörige ihres Bekannten- und Verwandtenkreises. Graf Karl Schwerin ist der Sohn der Jugendfreundin Ida von Schimmelmann. Die Prinzessinnen Carolath sind Enkeltöchter der Gräfin Henckel, mit der sie in Schlesien bekannt geworden war. Lothar von Eichhorn ist der Sohn des Breslauer Regierungspräsidenten, in dessen Haus das Ehepaar Oriola freundschaftlich verkehrte. Die beiden Arnim-Töchter vom Chef des Hauses Arnim-Boitzenburg gehören per se zur Familie, usw.372 Das ‚Karitas-Theater‘ fungierte als Heiratsmarkt373 und mochte dessen ungeachtet den jungen, am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehenden Männern und den Frauen, die im Begriff waren, „in die Welt“ einzutreten, einen Vorsprung an Bekanntheit ob des Erfolgs verschafft haben. Wenn Oriola konstatiert, „[m]ein Verkehrskreis hatte sich immer mehr erweitert“374, so ist dies auf jeden Fall im Zusammenhang mit ihrem wohltätig-geselligen Engagement zu sehen. Infolgedessen richtet sie einen festen Empfangsabend ein, zu ihren Gästen gehören „Diplomaten, Parlamentarier, Gelehrte, Künstler und Offiziere mit ihren Damen.“375 Noch um 1890, sie ist inzwischen über 70 Jahre alt, findet sie ihren Salon „merkwürdig gut besucht“. Merkwürdig deshalb, weil „ich zu niemand mehr gehe“.376 Die Verknüpfung von sozialen Beziehungen und wohltätigen Aktivitäten zeigt im Bereich der gesellig-dilettierenden Künste nicht nur den Erhalt des Namens Oriola an, sondern auch ein am erweiterten Verkehrskreis zu erkennenden Zugewinn an Ansehen. Des weiteren tragen die sozialen Aktivitäten dazu bei, die persönliche Beziehung zum Monarchen-Paar zu verstetigen. Die persönliche Bekanntschaft zum Prinzen, späteren König und Kaiser Wilhelm rührte von den zahlreichen offiziellen Empfängen und Festen her, an denen die junge Arnim seit ihrem Debüt regelmäßig teilnahm.377 Über die Ehe mit Oriola wurde auch der Kontakt zur späteren Kaiserin Augusta persönlicher. Der Graf war ihr ein „vertrauter Ratgeber“378 und häufig im Hause Oriolas zu Gast. In Berlin wurde das Paar regelmäßig zu den „intimen Teeabenden … befohlen“, die Oriola auch nach dem Tod ihres Gatten besuchte.379 Eine stärker agierende Stellung in der selbstverständlich formalisierten Beziehung zum Thron gewinnt die Gräfin, als der Kaiser das Protektorat über den „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen“ übernimmt, dessen Vorstandsmitglied sie war. Ihre Aufgabe ist es nun, den Kaiser durch Ausstellungen zu 371 372 373 374 375 376 377 378 379

Ebd., S. 259f. Vgl. ebd., S. 257–259. Vgl. ebd., S. 257. Ebd., S. 270. Ebd., S. 270. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., z. B. S. 79, 91, 131, 164f. Ebd., S. 215. Ebd., S. 219, S. 270, passim.

3.4. Selbstpräsentationen

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führen und bei seinen Ankäufen zu beraten, so daß sie dem Förderverein außerordentlich nützlich ist, ohne daß Oriola den Nutzen wortreich benennt.380 Für Oriolas persönliche Bekanntschaft zahlt sich hier die im Elternhaus vermittelte ästhetische Bildung aus, die auch Teil des Erfolgs ihrer karitativen Theateraufführungen war und nun in bezug auf das Monarchen-Paar wiederholt werden kann. Oriola ist regelmäßig bei den „Kaiserwochen“ im September in Baden-Baden anwesend, teils um ihre Schwester, preußische Gesandtin im Großherzogtum, repräsentativ zu unterstützen, teils auf Wunsch des Kaisers.381 Ihr obliegt „die Sorge für die kleinen Aufführungen, die der Kaiser jedesmal nach dem Diner von meinen und Armgarts Töchtern erwartete.“382 Das gesellschaftliche Debüt der Oriola-Töchter wird später ein glänzendes sein.383 Analog zum erweiterten Verkehrskreis erweisen sich die karitativen Aktivitäten als Investition, die sich in der unmittelbaren Nähe zum Thron manifestiert. Von einem direkten Zusammenhang zwischen den in der ‚guten Gesellschaft‘ ausgeübten Formen der Wohltätigkeit (Vereine, Amateurkunst, Basare) und dem Namenserhalt einer Familie kann nicht die Rede sein. Zumindest enthalten Oriolas Lebenserinnerungen keine Erzählung vom Abstieg einer Familie wegen nicht geübter Karitas. Wohltätige Aktivitäten, einmal als Gruppenverpflichtung anerkannt, stellten eine Möglichkeit dar, die Position einer Familie zu erhalten oder zu verbessern. Diese Chance zu nutzen, dürfte umso leichter gefallen sein, als daß die ‚gute Gesellschaft‘ nichts anderes von sich verlangte, als allgemeine Geselligkeitsformen partiell zu einem bestimmten Zweck auszuüben. Inwiefern ein wohltätiger Zweck den Namen Oriola nachhaltig beeinflußte, ist mit diesen Lebenserinnerungen nicht zu klären. Die Gräfin selbst hat den eindeutigeren Zusammenhang von Eheschließung und Namenserhalt im Blick, wenn sie ihrem Sohn schreibt: „ ,Denke auch daran, daß es, zumal Waldemar und Rodi keine Kinder haben, Deine Pflicht ist, dafür zu sorgen, daß das Haus Oriola weiterblüht!‘ “384 3.4.3.2. Arbeiten für die Gesamtgesellschaft Adda von Liliencron, die 1900 mit 56 Jahren verwitwete, betrachtet ihr soziales Engagement zunächst wie Oriola als Überwindung einer persönlichen Leiderfahrung. Zwar gibt es hinsichtlich wohltätiger Aktionsformen einige Ähnlichkeiten, doch betont sie stärker ihre Vereinsaktivitäten. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß Liliencron ihr Engagement in einen anderen sozialen Sinnzusammenhang stellt. Bereits im Vorwort ordnet sie ihre „Bilder aus dem Arbeitsfelde“ der „Liebesarbeit, die uns Frauen glückund segenverheißend ihr weites Arbeitsfeld öffnet“ zu.385 An entsprechender Stelle im

380 381 382 383 384 385

Vgl. ebd., S. 253, S. 270. Vgl. ebd., S. 278. Ebd., S. 279, auch S. 260. Vgl. ebd., S. 271f. Ebd., S. 290. Liliencron (1912), S. IV.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Text heißt es dann: „Ohne Zwang, in freudiger Liebe die Arbeit aufnehmen … […] Der Aufgaben sind viele und Arbeitskräfte dringend nötig. Je nach Begabung, Neigung und je nach Kräften können wir uns das Feld erwählen und werden das Glück schätzen lernen, das in einer gesegneten Tätigkeit liegt.“386 Oriolas Wohltätigkeitssinn bindet eine kleine, geschlechtergemischte Gruppe aneinander, die sich ihrer exklusiven Stellung versichert. Liliencrons Wir-Bezug zielt auf eine andere Gruppe. Gemeint sind Frauen, die freiwillig und frei vom Zwang zur Erwerbsarbeit ihre individuellen Fähigkeiten zum Nutzen der Gesamtgesellschaft einsetzen. Im Rahmen der polaren Geschlechterordnung, das ist die Voraussetzung für die Existenz des Wortes „Liebesarbeit“387, verspricht das soziale Engagement Lebenssinn. In einer Zeit (Liliencron veröffentlichte 1912), in der die Belange von Frauen in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wurden, die Kaiserin Protektorin des größten deutschen Frauenvereins, dem vaterländischen, war, in den Vorständen von konservativen Frauenvereinigungen adelige Damen saßen und politische Parteien sich der Mitarbeit von Frauen öffneten, traf Liliencrons Auffassung wohl kaum auf Widerstand.388 Hingegen mag ihr Insistieren auf die „Liebesarbeit“ als Widerspruch zu bisher in dieser Arbeit formuliertem, wonach im Adel das Private und Häusliche nicht die soziale Anforderung, normative Zumutung und Zentrum der Selbstbeschreibung gewesen ist, erscheinen. Liliencrons Erinnerungen enthalten zahlreiche Hinweise der Fürsorge für ihre Familienangehörigen, und die Koinzidenzen zum sozialen Engagement für andere liegen auf der Hand. Allerdings sorgte Oriola ebenfalls für ihre Familie, ohne ihre Hilfe für Bedürftige mit dem Etikett der „Liebesarbeit“, sondern mit dem der „gesellschaftlichen Verpflichtung“ zu versehen. Oriolas Akteure sind höfisch orientierte Adelige, Liliencrons Akteure sind erwerbsökonomisch handlungsentlastete Frauen, d. h. Frauen aus dem Adel und dem Bürgertum. Monika Wienfort nimmt an, und Liliencron ist ein Beispiel für diese Annahme, daß sich adelige Frauen um 1900 verstärkt jenseits adeliger Binnenräume, die in etwa mit den hier benannten adelskonformen Räumen übereinstimmen, orientierten, und das Gebiet der Wohltätigkeit zum wichtigsten Feld in der Gesamtöffentlichkeit avancierte.389 Liliencrons „Wir“ bezieht sich somit auf ein Handlungs- und Diskursfeld, das zum Teil, nicht zuletzt von Feministinnen initiiert, denen die soziale Arbeit als eigentliche Aufgabe der Frauenbewegung galt, weiblich und bürgerlich konnotiert war.390 In 386 387

388

389 390

Ebd., S. 259. Im zeitgenössischen Verständnis meinte die weibliche „Liebesarbeit“ unbezahlte und reproduktive Arbeit. Vgl. dazu den inzwischen klassischen Beitrag von: Bock, Gisela / Duden, Barbara, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen Juli 1976, Berlin 1977, S. 118–199. Wischermann, Ulla, Frauenbewegungen und Öffentlichkeit um 1900. Netzwerke – Gegenöffentlichkeiten – Protestinszenierungen, Königstein 2003; Süchting-Hänger, Andrea, Das „Gewissen der Nation“. Widerstand hätte aus den Reihen des Antifeminismus kommen können. Vgl. Planert, Ute, Antifeminismus im Kaiserreich. Vgl. Wienfort, Gesellschaftsdamen, S. 82f. Zum Zusammenhang von Frauenbewegung und sozialer Arbeit und der spezifischen Entwicklung zum Beruf der Sozialarbeiterin vgl.: Sachße, Mütterlichkeit als Beruf.

3.4. Selbstpräsentationen

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diesem Feld kommuniziert Liliencron, unabhängig ihrer eigenen Position, daß Frauen am Gesellschaftsganzen mitarbeiten können, wollen und sollen. Mit dem Code „Liebesarbeit“ formuliert sie eine konsensfähige Meinung. Welche Stellung beansprucht nun das erinnernde und erinnerte Ich in einer weiblich konnotierten, bürgerlich-adeligen Öffentlichkeit? Zunächst einmal: Liliencrons Gebrauch des Personalpronomens „Wir“ impliziert zwar ein Gruppenbewußtsein, geht aber kaum über die Benennung der weiblichen Teilhabe an gesamtgesellschaftlicher Arbeit hinaus. Ihre Erzählung ist keine explizite und exemplarisch an der eigenen Person präsentierte Emanzipationsgeschichte, die davon handelt, wie sich aus der Beschäftigung mit dem sozialen Elend ein Bewußtsein für die eigene, unterlegene Lage herausbildete, aus dem dann feministische Initiativen zur Überwindung derselben folgten, die zugleich beanspruchten, hierüber die Gesellschaft als Ganzes zumindest zu verbessern. Liliencron erzählt aber auch keine explizit anti-emanzipatorische Ich-Geschichte, die sich als personalisiertes Instrument konservativer Frauenvereine verstünde, um die Forderungen der Frauenbewegung nach gesellschaftlich-politischer Teilhabe zu unterlaufen.391 Liliencron erzählt eine andere Geschichte. Es ist eine dezente Herrschaftsgeschichte, die davon handelt, wie jemand gebeten wurde, die Leitung von Vereinen zu übernehmen und dieser Position durch persönliche Leistung gerecht wurde. Anders formuliert: Das soziale Engagement zeigt sich hier als ein gemeinwohlorientiertes Handlungsfeld, in dem die Selbstpräsentation von Gestaltungskraft und Einflußnahme als Element adeligen Führungsanspruchs interpretiert werden kann. Zwischen 1902 und 1912 war Liliencron in unterschiedlich ausgerichteten Vereinen tätig. In einem Verein der kirchlichen Armenpflege, dessen Vorsitz sie übernahm, machte sie sich um die Einrichtung einer Volksküche verdient. Genuine Mädchenarbeit leistete sie im Verein „Freundinnen junger Mädchen“ und in einem eigens von ihr gegründeten informellen Kreis, der sich um die Wiedereingliederung junger Prostituierter kümmerte. Seit 1907 in der Stadt Posen lebend, wurde sie dort Vorsitzende der städtisch und regional agierenden Vereine „Volkswohl“ und „Jugendhort“. Ersterer widmete sich der Aufgabe, innerhalb der dortigen deutsch-polnischen Bevölkerung das ‚Deutschtum‘ kulturell zu fördern. Letzterer bot Jungen und Mädchen aus ärmeren und berufstätigen Familien Freizeitbeschäftigungen an, um sie vor den Gefahren der Straße (Prostitution, Kriminalität) zu schützen.392 1909 legte Liliencron den Bundesvorsitz des reichsweit agierenden „Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft“ nieder und konzentrierte

391

392

Die These, daß insbesondere der vaterländische Frauenverein von seinen Spitzen dafür genutzt wurde, die Forderungen der Frauenbewegung seit den 1890er Jahren zu torpedieren und zu unterlaufen, vertritt: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 26–50. Vgl. Liliencron (1912), S. 258–310, passim. Daß die verstreut erzählten Vereinsaktivitäten ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft und Zusammenarbeit mit anderen Vereinen erforderten, geht aus Lokalstudien sehr viel deutlicher hervor. Vgl. z. B.: Meyer-Renschhausen, Elisabeth, Weibliche Kultur und soziale Arbeit. Eine Geschichte der Frauenbewegung am Beispiel Bremens 1810–1927, Köln / Wien 1989.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

sich in Posen (Stadt und Region) auf die Gründung und den Aufbau von Abteilungen des Frauenbundes, die sie dann zu einem Gauverband zusammenfaßte. Ihre Leitungsarbeit orientierte sich hierbei am allgemeinen Ziel des Bundes: die Förderung des ‚Deutschtums‘ durch Rekrutierung junger Frauen, die gewillt waren, als weibliche Hilfskräfte und (potentielle) Bräute in die neu erworbenen Kolonien zu gehen.393 Obwohl der Frauenbund ein nationalistischer Agitationsverein war, präsentiert sich Liliencron keinesfalls als Künderin eines imperialen Traumes, in dem weiße Frauen als Trägerinnen deutscher Kultur mäandern.394 Jeder ihrer Aufgabenbereiche war auch Anliegen und Aufgabe der nationalen Frauenbewegungen.395 Und wie diese zielte auch Liliencrons Engagement insbesondere in der Mädchen- und Jungenarbeit darauf ab, durch Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsgruppen soziale Spannungen zu befrieden und Klassengegensätze einzuebnen.396 Doch fehlt ihr der ‚weibliche Kulturauftrag‘, um das eigene Handeln zu begründen. Was der Frauenbewegung lieb war – der soziale Frieden – war dem Adel seit den Umbrüchen um 1800 teuer. So zielten viele sozialfürsorgerische Vereinsaktivitäten von westfälischen Adeligen darauf, den Kontakt zu mittleren und unteren Bevölkerungsgruppen wiederherzustellen und Konfliktpotentiale zu entschärfen, um im gewünschten Zustand des Sozialfriedens Ansehen und regionalen Elitestatus zu behaupten und zu verteidigen.397 Liliencrons Aktivitäten weisen in diese Richtung: In Schwerin will sie das Armenhaus besuchen, um mit dem „Hausvater“ ein Anliegen des Krankenvereins zu erörtern. „An den [Hausvater, M. K.] wandte ich mich … und nannte ihm meinen Namen. Kaum aber hatte ich den über meine Lippen gebracht, so sah ich, wie der Zorn in ihm aufstieg. Mit gerötetem Gesicht, erhobener Stimme und einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung erklärte er mir: ‚Hier kommt mir keine Adlige über die Schwelle!‘ “ Auf ihre Nachfrage nach dem Grund erhält sie die wütend erzählte Geschichte von einer Adeligen, die „viele Querelen und seine Pflegebefohlenen aufsässig gemacht hätte“. Ihre Gegenfrage lautet: „ ,Und nun nehmen Sie an, daß ich genau so bin wie jenes adlige Fräulein?‘ “398 Liliencrons „Hausvater“-Geschichte ist die einzige in der Darstellung, in der 393

394 395

396 397 398

Vgl. Liliencron (1912), S. 298f., S. 302. Zur Vereingeschichte des Bundes: Wildenthal, Lora, German Women for Empire. 1884–1945, Durham 2001. Zur Einordnung des Bundes im Spektrum konservativ-nationalistischer Frauenvereine vgl.: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 67–76. Zur Einordnung der Deutschen Kolonialgesellschaft in adelsgeschichtlicher Perspektive unter dem Gesichtspunkt politischer Radikalisierung vgl.: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 175–189. Walgenbach, Katharina, „Die weiße Frau als Träger deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Paletschek / Pietrow-Ennker, Women’s Emancipation Movements, S. 318ff.; Frevert, Die Zukunft der Geschlechterordnung, S. 146ff. Ob und wie Frauen für die Kolonien zu interessieren seien, war auch Anliegen im radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung. Knapp bei: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 71. Vgl. Liliencron (1912), S. 298, 304–306. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 446–449. Liliencron (1912), S. 266f.

3.4. Selbstpräsentationen

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sie explizit als Angehörige des Adels angesprochen wird. Das Handlungsfeld „Wohltätigkeit“ erweist sich als eines der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen sozialen Akteuren, in welcher der Adeligen die Kompetenz ‚richtigen‘ Handelns abgesprochen wird. Im Unterschied zur ‚guten Gesellschaft‘ Oriolas und zur weiter oben thematisierten Fürsorge Liliencrons im Bereich der Gutsherrschaft, in denen der Zuschnitt des sozialen Engagements weitgehend von den Spielregeln des Adels bestimmt ist, stellt das Armenhaus einen Ort dar, an dem adelige Aktivitäten ausdrücklich zurückgewiesen werden. Man wird davon ausgehen können, daß dieser in die Zuständigkeit der kommunalen Fürsorge gehörte und wie in anderen Städten auch vom Engagement des lokalen Bürgertums getragen wurde.399 In einem vom Text abstrahierenden Sinn symbolisiert das Armenhaus konkurrierende Gemeinwohl-Eliten.400 Im konkreten Sinn bzw. in meiner Lesart stellt Liliencrons „Liebesarbeit“ eine Antwort auf die bürgerliche Zurückweisung dar, indem sie sich als vorbildliche Adelige präsentiert und hierüber die Leistungsfähigkeit ‚des‘ Adels auf diesem Gebiet demonstriert. Laut ihrer eigenen Erzählung wird Liliencron mehrfach gebeten, einen Vereinsvorsitz zu übernehmen bzw. die Vereinsleitung nicht niederzulegen. Da die Vereinsleitung ehrenamtlich erfolgte, war das Gebetenwerden selbstverständliche Umgangsform. Dennoch ist es Liliencrons Begründung dafür, in die organisierte „Liebesarbeit“ einzusteigen und zu signalisieren, daß nicht persönlicher Ehrgeiz, sondern das Vertrauen anderer in ihre Person die Übernahme einer Leitungsposition motivierte. Zwei Begründungsebenen lassen sich unterscheiden, zum einen der ‚Auftrag von unten‘, zum anderen der ‚Herrschaftsauftrag von oben‘. Zu ersterem: Andere Personen sind hier anonym bleibende Vorstandsdamen. Erfahrungsgemäß benennen adelige Autorinnen ihre Standesgenossinnen namentlich, so daß die Damen wahrscheinlich bürgerlicher Herkunft waren. Als Liliencron 1911 von Posen nach Berlin-Charlottenburg umzieht, will sie ihre Ämter niederlegen: „Die Damen des Vorstandes von den Vereinen, die ich leitete, kamen zu mir und baten, daß ich unter allen Umständen den Vorsitz behalten möchte. Ich zögerte mit der Annahme …, auch erschien es mir richtiger, das Amt meinen Stellvertreterinnen zu überlassen. Diese aber weigerten sich auf das entschiedenste, den Vorsitz zu übernehmen, und wiesen auf die Gefahr hin, daß die Polen, die mir persönlich die Unterstützung für die Horte versprochen hätten, das zurückziehen könnten, wenn ich die Leitung niederlegte.“401 Von einer bürgerlichen Zurückweisung analog zum „Hausvater“ des Armenhauses kann hier nicht die Rede sein. In Liliencrons Sicht verlangen die Vereinsdamen nach ihrer Leitung und sehen ohne diese wichtige Vereinsaufgaben und -ziele in Gefahr. Was sie zur Leitung prädestiniert, doch

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Zu den Grundlagen kommunaler Armenfürsorge im Kaiserreich vgl: Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 19–35. Zur Eliten-Konkurrenz auf diesem Gebiet, konkret auf dem Gebiet der Gemeindepolitik der ersten Jahrhunderthälfte, vgl: Löffler, Bernhard, Adel und Gemeindeprotest in Bayern zwischen Restauration und Revolution (1815–1848), in: Reif (Hg.), Adel und Bürgertum I, S. 123–155. Liliencron (1912), S. 309.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

im Zitat nur aufscheint, ist nicht die Adelsbehauptung angeborener Führungsansprüche, sondern orientiert sich eher am bürgerlichen Ideal persönlicher Leistung.402 Zum ‚Herrschaftsauftrag von oben‘: Persönliche Leistung war es auch, welche dem Einverständnis vorausging, den Frauenbund der DKG zu gründen und zu leiten. Liliencrons ‚Agitprop-Theater‘ zugunsten der in Südwestafrika stationierten Truppen war nicht nur finanziell erfolgreich. Hieraus ergaben sich kontinuierliche Kontakte zum Kommando der sog. Schutztruppe und zu Herzog Johann Albrecht aus dem Haus Mecklenburg-Schwerin und Präsident der DKG. Sie wird von den Damen des Kommandos gebeten, einen kolonialen Frauenbund zu gründen und dieses Anliegen trägt sie Herzog Johann Albrecht vor: „Gegründet auf die vielen Beweise gütiger Unterstützung meiner kolonialen Interessen, legte ich dem Herzog, als dem Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft, das Schreiben aus Berlin vor, mit der Bitte, sich gnädigst über eine eventuelle Gründung dieses Frauenbundes zu äußern und im Falle des Einverständnisses eine Leiterin vorzuschlagen, die besser als ich es verstehen würde, eine so große Sache zu organisieren. Sr. Hoheit dem Herzoge wie der Frau Herzogin waren die Vorschläge ganz genehm, doch wünschten beide, daß ich Gründung und Leitung des Bundes übernähme. So ging ich denn an die Arbeit …“403 Was im Ton von Höflichkeit, Bescheidenheit und Bestätigung der Adelshierarchie unterzugehen droht, ist die symbolische Aussage, daß hier eine ‚Belehnung‘, eine ‚Amtseinsetzung‘ erfolgt. Liliencron erhält einen Auftrag und dieser entspricht sehr genau dem, was gegenwärtig unter einer Ausprägung – die andere umfaßt das Modell „Gutsherrschaft“ – von Adelsherrschaft als eigenständigem Typus verstanden wird. Es ist die Ausprägung „in Form der Herrschaft als Verpflichtung, als persönlich begründeter, verantwortungsvoller ‚Dienst‘ in einem vom Souverän verliehenen Amt.“404 In diesem Verständnis war Liliencron geradezu von hoher Autorität berufen worden, die Leitung des Frauenbundes der DKG zu übernehmen. 1909 ‚herrschte‘ Liliencron nach eigenen Angaben über 4000–5000 Mitglieder, die vornehmlich bildungsund wirtschaftsbürgerlichen Kreisen angehörten.405 War die Bitte der Vereinsdamen verpflichtend, so war der Wunsch des herzoglichen Paares zwingend. Eine Vereinsführung bei gleichzeitig verneintem Führungsanspruch kann kaum besser begründet werden. Die Verneinung beschwört eine Bejahung herauf, und so ist Liliencron als einfluß- und gestaltungsreiche Person zu erkennen, die mittels Leistung das in sie gesetzte Vertrauen von ‚oben‘ und ‚unten‘ rechtfertigt. In ihrem Aufgabenspektrum erweckt Liliencron den Anschein unermüdlichen Wirkens. Mehrfach betont sie, daß ihre Tätigkeit weder „etwas

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Zum angeborenen Führungsanspruch als Kern adeligen Herrschaftshabitus vgl.: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104–117. Daß der Führungsanspruch von Adeligen auch als sozialisiert betrachtet wurde, ist zu lesen bei: Möller, Frank, Zwischen Adelstradition und Liberalismus. Die Familie von Gagern, in: Reif (Hg.), Adel und Bürgertum I, S. 103–121. Liliencron (1912), S. 300. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 110. Vgl. Liliencron (1912), S. 302. Zur sozialen Zusammensetzung des Bundes, der 1910 ca. 7000 Mitglieder und 71 Zweigvereine umfaßte, vgl.: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 71f.

3.4. Selbstpräsentationen

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Schwieriges, etwas Besonderes“ gewesen sei, noch „als eine Last empfunden“ wurde. Vielmehr sei ihr alles Tun „unbeschreibliche[r] Freude“ gewesen.406 Der Sinnzusammenhang des freudbetonten Handelns ist im Familiären verankert. Sie fühlt sich mit ihren „teueren Vorangegangenen in unzerstörbarer Gemeinschaft“ und ist sich bei dem Gedanken sicher, „sie hätten Freude an meiner Arbeit“.407 Wie im genuin militärischen Kontext stellt sie sich in den Kreis ihrer männlichen Familienangehörigen und somit in den Kreis militärischer Leistungsträger. Zwischen angeborener Höherwertigkeit und bürgerlichem Ideal ordnet Liliencron ihre Leistung in eine Familientradition ein. Liliencrons konkrete Leistungs- und Leitungskompetenzen ergeben sich über Selbstund Fremdzuschreibungen, die sich auf ihren Arbeitsstil beziehen. „[W]enn ich dies oder das gern wollte oder die Arbeit auf meine eigene Art anfaßte, hieß es immer: ‚Es ist ja ganz schön, aber so eigenartig, so außergewöhnlich.‘ “408 Auf Originalität hebt sie nicht ab, wohl aber auf Selbständigkeit: „[D]as selbständige Wirken zog mich mehr an. Mir graute etwas vor dem Eingeengtsein durch Satzungen, vor dem gewissen Zwang, dem man sich fügen mußte, …“409 Aus diesem anfänglichen Zwiespalt entsteht dann ihre Prämisse: „Wenn man wirklich etwas schaffen will, kann es nicht nach Schablone gehen, … [E]in Stück seiner eigensten Persönlichkeit muß man [in die Sache] hineinlegen, dann geht es mit Gottes Hülfe vorwärts, …410 Zielgerichtetes (Leitungs)Handeln ist für Liliencron an die Persönlichkeit gebunden. In ihrem Fall verfügt diese insbesondere über die Qualitäten Selbständigkeit, um anvisierte Ziele umzusetzen, Selbstsicherheit im Handeln und Autorität, den eigenen Willen durchzusetzen. Konkrete jeweilige Vereinsziele unter der Leitung Liliencrons waren Gründung und Unterhalt eines Soldatenheimes in Danzig, eines Knabenhortes in Posen und einer Kleinkinderschule in Südwestafrika. Zur Realisierung der Projekte waren Liliencrons Persönlichkeitsqualitäten sicherlich gut geeignet und zeigten sich vor allem in der Fähigkeit, die Finanzierung zu sichern und soziale Kontakte zweckgebunden zu nutzen bzw. zu knüpfen. Autorität: Die zitierte Äußerung, wonach andere – das sind Liliencrons Vereinsdamen – ihre Arbeit als „eigenartig“, „außergewöhnlich“ betrachteten, wird fortgesetzt: „Das klang noch etwas bedenklich, gar nicht fröhlich zustimmend.“411 Daß „Eigenart“ Kritik, Widerspruch oder Ablehnung ihrer Leitungsarbeit sein könnte, fällt ihr nicht ein. Liliencron erwartet nichts anderes als Zustimmung. Dieser harmlose Satz zeigt ein wesentliches Ziel adeliger „Charakter“-Erziehung im Ergebnis an – die Vermittlung von Gehorsam, um künftig herrschen zu können und um von untergeordneten Personen Gehorsam einfordern zu können.412 Sollten die Vereinsdamen Kritik gemeint haben, so war

406 407 408 409 410 411 412

Liliencron (1912), S. 264, 294, 298. Ebd., S. 262. Ebd., S. 265. Ebd., S. 260. Ebd., S. 266. Ebd., S. 265. Vgl. dazu den Abschnitt 3.2.3. dieser Arbeit.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

sie einmalig. Liliencron sieht ihre Aufgabe im Fällen von Entscheidungen und die der anderen in harmonischer Präsenz. „[Ich] wählte für uns eine meiner Lieblingsaufgaben des Frauenbundes …“ „Dank den liebenswürdigen Vorstandsmitgliedern verlief stets alles harmonisch …“413 Selbständigkeit: Was Liliencron an „selbständige[m] Wirken“ in die Vereinsarbeit einbringt, sind die regelmäßig von ihr produzierten und organisierten Theateraufführungen.414 Diese waren bereits probates Mittel, um die Beziehung zwischen Gut und Dorf zu pflegen und Soldaten Heldensinn zu vermitteln. Nun erweist es sich als einträgliche Einnahmequelle für fürsorgerische Vereinsprojekte. Um die Finanzen zu mehren, kann die Offiziersfrau auf das Militärische in Form sozialen Kapitals zurückgreifen. Den Damen erscheint „sehr gewagt“, was ihr ein „zündender Gedanke“ ist – nämlich Wohltätigkeitsveranstaltungen vor zahlungskräftigen Angehörigen der Regimenter aufzuführen. Die Unternehmung gelingt.415 Selbstsicherheit: Liliencrons Erzählung vom Schweriner „Armenvater“ beginnt damit, daß im Verein beschlossen wurde, einer Frau im Armenhaus zu helfen. „Keiner wollte hingehen, es hieß, der Armenvater ließe doch niemand von uns herein, und man setze sich bei einem Versuch nur Unannehmlichkeiten, ja sogar Grobheiten aus. Das konnte ich mir nicht denken und erklärte, daß ich diesen ‚Kampf mit dem Drachen‘ auf mich nehmen wollte. Tags darauf erschien ich im Armenhause.“416 Während die Vereinsdamen als zögerlich, furchtsam, mit Vorurteilen beladen und handlungsunfähig beschrieben werden, schreitet Liliencron entschlossen, mutig und zielgerichtet zur Tat. Die Diskussion faßt sie als „lustiges Scharmützel“ auf, an dessen Ende sie ihr Anliegen durchsetzen kann. Das Muster von Tatenlosigkeit und Tatkraft wiederholt sich auch in Posen. Hier lautet ein deutsches Vorurteil, daß sich polnische Vereine niemals an der Finanzierung von Jugendhorten beteiligen würden. Liliencron widerlegt dieses, indem sie persönlich das Gespräch mit Geistlichkeit und Vereinsführung sucht. Im Ergebnis ist sie die Initiatorin einer deutsch-polnischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fürsorge.417 Das heißt, ihr selbstsicheres (Ver)Handeln mit einem vermeintlichen Gegner führt zur Einebnung von Gruppengegensätzen und zum gemeinsamen Handeln auf ein Ziel hin. Daß sie diese Fähigkeit als Leistung würdigt und die Herstellung sozialen Friedens von anderen anerkannt wird, tritt symbolisch hervor. Um sich aus Posen zu verabschieden, gibt Liliencron ein Abschiedsfest, „in dem sich alle Kreise und Stände vereinigten, mit denen mich meine Arbeit zusammengeführt hatte. Da traten alle Gegensätze der Nationalität, der Religion und des Standes zurück, und in vollster und ungetrübter Harmonie klang das Abschieds-

413 414 415 416 417

Liliencron (1912), S. 302, S. 306. Vgl. ebd., S. 260f., S. 304–306. Ebd., S. 304. Ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 304–306.

3.4. Selbstpräsentationen

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geläute aus.“418 Der Arbeit für die Gesamtgesellschaft wird hier, symbolisch über das Fest gefaßt, gesamtgesellschaftliche Wirkung zugeschrieben. Am Anfang der organisierten „Liebesarbeit“ stand die strikte bürgerliche Zurückweisung im städtisch verankerten fürsorgerischen Vereinswesen. Bis zum Ende erbringt die vorbildliche Adelige den Nachweis, daß ‚der‘ Adel in diesem Raum nicht nur agieren, sondern leiten kann. Liliencron führt ihre Leitungskompetenzen nicht auf einen angeborenen Führungsanspruch zurück, sondern leitet sie aus der selbständigen Persönlichkeit her, deren Qualitäten, auch wenn Autorität und Selbstsicherheit eher adelig, Selbständigkeit stärker bürgerlich gedacht wurden, im Grunde generalisierbar waren. Stärker adelig konnotiert dürften zwei Aspekte gewesen sein. Das soziale Engagement ist in den Sinnzusammenhang von „Familie haben“ eingebettet. Leistung ist kein abstrakter Wert, sondern konkret an die männlichen Angehörigen gebunden, so daß nicht Leistung, sondern Familienleistung zu einem Wert avancierte, an dem sich Liliencrons Handeln ausrichtete. Die Leitungsposition wird zum Teil über einen vom ‚Herrscher‘ verliehenen Auftrag begründet und konnte somit als herrschaftliches Handeln begriffen werden. Was hier heraufzieht, ist eine ungeschriebene Geschichte: Die gemeinsame Zielsetzung adeliger und bürgerlicher Frauen im Feld des sozialen Engagements dürfte in der Fürsorge für die Gesellschaft bestanden haben. Das Verständnis für selbige mochte die Differenz bezeichnet haben. Wenn für die Bürgerliche Alice Salomon Sozialarbeit und Frauenbewegung identisch waren419, so kann man für die Adelige Liliencron in bewußter Zuspitzung formulieren, daß ihr „Liebesarbeit“ und Führungsanspruch ein- und dasselbe waren. Damit wären im Feld des sozialen Engagements eine ‚bürgerlich-emanzipatorische‘ und eine ‚adelig-legitimatorische‘ Handlungslogik zugegen, die Ausgangspunkt einer geschlechtergeschichtlichen Beziehungsgeschichte zwischen Adel und Bürgertum sein könnte.420 Zwar waren die Persönlichkeitsqualitäten im Grunde generalisierbar, doch eine geschlechterpolarisierte Denkweise weiß um deren männliche Konnotation und darum, daß die bürgerlich-diskursive Geschlechterordnung weiblichen Personen solche Eigenschaften vorenthielt. Auch dachten bürgerliche Meisterdenker den Adel als „weiblich“, die eigene Gruppe hingegen als „männlich“.421 Man könnte Liliencron so lesen, als ob sie sich an diesem Zuschreibungsspiel um Gruppenidentitäten beteiligt hätte. Ihre Antwort auf die bürgerliche Zurückweisung wäre dann, sich selbst als männliche Adelige und die zögerlichen Vereinsdamen als handlungsunfähige Bürgerliche zu präsentieren. Doch Liliencron schlägt keinen Ball zurück und fährt auch keine Retourkutsche. Auch hieße dies, mehr Sinn in die Wirkung der Geschlechterpolarität hineinzulesen, als ihm bisher in dieser Untersuchung zugesprochen wurde.

418 419 420 421

Ebd., S. 310. Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 128. Zum beziehungsgeschichtlichen Ansatz in der Adelsforschung vgl. Reif, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Adel und Bürgertum I, S. 7–27. Knapp bei: Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 141f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

An dieser Stelle ist nicht zum ersten Mal von Liliencron und von adeligen Frauen die Rede. Nach meiner Auffassung sind Leitungs- und Leistungskompetenzen selbstverständliche Beigabe ‚guten Adelig-Seins‘, und zwar nicht im substantiellen, sondern im lebensweltlichen Sinn. Da ist die „Charakter“-Erziehung, die jungen Adeligen das Gefühl von Überlegenheit vermittelt. Da ist die Gutsherrschaft, in der die Herrin zum Wohle der ihr Anvertrauten agiert, und es gibt das Regiment, in dem Befehl und Gehorsam eine Einheit bilden. In jeder dieser Lebenswelten werden Qualitäten verlangt, erworben und eingesetzt, die zur Leitung von Menschen prädestinieren. In der symbiotischen Beziehung zwischen ‚Dorf und Schloß‘ kommt der ‚Herrinnen-Standpunkt‘ am sichtbarsten zum Ausdruck. Im Feld des stärker bürgerlich besetzten Sozialengagements treten die Leitungskompetenzen deshalb geltungsmächtig hervor, weil es sich um eine bürgerlichadelige Konkurrenzbeziehung handelt. Liliencron ist hier besonders herausgefordert und ringt mit ihrem Einsatz gewissermaßen um die Anerkennung ‚adeliger‘ Qualitäten durch andere zur Bestätigung des ‚guten Adelig-Seins‘.422 Die gewisse Herablassung, mit der Liliencron die Vereinsdamen beschreibt, ist keine geschlechtlich aufgeladene Zurückweisung ‚des‘ Bürgertums, sondern Effekt der Konkurrenz, aus der sie in diesem Fall als Siegerin hervorgeht. Dieser Sieg profiliert ‚Adelig-Sein‘. Liliencrons Führungsanspruch ist hier, wie auch im Bereich der Gutsherrschaft, nicht als Grenzüberschreitung einer Geschlechternorm zu interpretieren. Von erweiterten Handlungsspielräumen im Sinne einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive auf das Bürgertum kann auch nicht die Rede sein. Es findet keine Erweiterung des Privaten in den öffentlichen Raum statt, an deren vorläufigem Prozeßende „Frauen zu Vertreterinnen des Privaten in der Öffentlichkeit“423 werden. Allerdings kann man in einem anderen Sinn von Erweiterung sprechen. Das soziale Engagement war im 19. Jahrhundert immer ein adelskonformer Raum. In dem Moment, wo dieser mit dem Sozialengagement der bürgerlichen Öffentlichkeit eine Schnittmenge bildet, entsteht die Chance, ‚Adelig-Sein‘ in Relation zu „Bürgerlichkeit“ zu entwerfen, auszubilden. Wenn die Schnittmenge, wie im Falle Liliencrons deutlich geworden, als ein Konkurrenzfeld betrachtet wurde, dann konnte ein ‚Adel der Tat‘ bewiesen werden, und damit erhöht sich die Chance, in jene Sphäre des adeligen Familienverständnisses einzutreten, die in der Konstruktion Männern vorbehalten war. Dies ist der Anspruch „Spitzenleistungen einzelner (toter oder lebender) Familienmitglieder als Beleg für die Leistungsfähigkeit ‚des‘ Adels auszugeben.“424 Ob Liliencrons Engagement im Adel als „Spitzenleistung“ anerkannt wurde, erschließt sich 422

423

424

Die Anerkennung der ‚adeligen‘ Qualität gerade auch von nicht-adeligen Bevölkerungsgruppen ist in der Gegenwart wohl weniger mit dem Führungsanspruch verbunden, sondern stärker Distinktionszeichen, das gleichwohl ein Überlegenheitsgefühl signalisiert. Vgl. Saint Martin, Der Adel, S. 34–44. So Süchting-Hänger, die in ihrer Arbeit zu konservativen Frauenorganisationen (das ist der Bezug zu Liliencron) das Interpretament „Erweiterung“ m. E. besonders stringent verfolgt und Anfang der 1920er Jahre das oben zitierte, vorläufige Prozeßende erreicht sieht. Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 149. Malinowski,Vom König zum Führer, S. 56. Vgl. auch den Abschnitt 3.2.1. dieser Arbeit.

3.4. Selbstpräsentationen

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nicht. Es ist eine Chance, die Familienehre wie auf dem Schlachtfeld unmittelbar und direkt zu mehren und davon abhängig, wie wichtig die sozialen Fragen der Zeit von Familien und Teilgruppen im Adel eingeschätzt wurden, um Handlungskompetenz zu beweisen und beanspruchte Einflußbereiche abzusichern. 3.4.3.3. Karitas und „Liebesarbeit“ In der Literatur und den Lebenserinnerungen initiieren Landesfürstinnen vaterländische Frauenvereine, protegieren Kinder- und Altenheime und sind überhaupt wohltätiger Gesinnung. Insbesondere die Armenfürsorge gilt im Feld des sozialen Engagements um 1900 als Domäne der Frauen, karitativ tradiert und sozialreformerisch ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund hätte man erwarten können, daß sich Frauen aus regierenden oder standesherrlichen Häusern besonders profilieren würden. Gerade weil sie zumeist nach 1918, nach Revolution und formaler Abschaffung des Adels schrieben und veröffentlichten, hätte man vermuten können, daß sie zumindest ex post eigene Ideen zur Lösung der sozialen Frage auf monarchischer Grundlage behaupten würden. Das ist nicht der Fall. Fürstin Pauline zu Wied, geb. Prinzessin von Württemberg, ist überhaupt die einzige, welche ausführlich von ihrem ehrenamtlichen Engagement berichtet. Wied, geb. 1877, begann wie Adda von Liliencron ihre im Verein organisierten Aktivitäten ca. 1900, war aber wesentlich jünger und noch lange nicht verwitwet. Von 1903 an war sie Hauptvorstandmitglied des Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz. Trotz der den politischen Umbrüchen geschuldeten strukturellen und inhaltlichen Neuausrichtungen des Vereins in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus verblieb sie in Führungspositionen. Aus der Erinnerungsperspektive der 1950er Jahre präsentiert sie sich als einflußreiche, ehrenamtliche ‚Vollzeitfunktionärin‘.425 Obwohl sich Wieds Erzählungsschwerpunkt in der Spanne zwischen 1919 und 1945 bewegt, soll der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit dennoch nicht überschritten werden. Setzt man ihre Erzählung vor 1918 mit jenen anderer hochadeliger Frauen in Beziehung, kann man einen Grund erkennen, warum es im Feld des Sozialengagements nicht zur Profilierung eines ein- oder mehrstimmigen hochadeligen ‚Alleinstellungsmerkmals‘ kam. Wied ist die einzige, die von aktiver Vereinsarbeit erzählt. Hierüber gelingt es ihr, die (hoch)adelige Verantwortung, dem Allgemeinwohl zu dienen, zur Darstellung zu bringen und den damit verbundenen Führungsanspruch zu behaupten. Bei den anderen Autorinnen fällt auf, daß sie zumeist innerhalb der tradierten Vorstellung von Karitas agieren. Die damit verbundenen Handlungen erweisen sich als nicht geeignet, um eine ähnliche Stimmlage wie jene Fürstin zu Wieds zu artikulieren. Die Intonierungen klin425

Wied (1958), S. 9–90 (passim), bes. S. 91–129. Den Vaterländischen Frauenverein als Modell und Vorbild konservativer Frauenvereine im Kaiserreich untersucht: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 26–50 und S. 156ff. Zur Institutionengeschichte vgl.: Hagemann, Frauke / Seithe, Horst, Das Deutsche Rote Kreuz im Dritten Reich (1933–1939). Mit einem Abriß seiner Geschichte in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1993.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

gen nach Dysfunktionalität, verbunden mit der Aussage, ein Terrain verloren und eine Chance, sich an einem anderen Modell zu orientieren, verpaßt zu haben. Ende der 1880er Jahre teilt die rumänische Königin brieflich der österreichischen Kronprinzessin einige Erziehungsratschläge für ihre Tochter mit, neben anderen diesen: „ ,Immer helfen, helfen, dazu sind die Reichen auf der Welt und allein existenzberechtigt.‘ “ Sich an die eigene Erziehung erinnernd, schreibt die Kronprinzessin: „Seit meiner frühesten Jugend gewöhnte man mich, die Armen nicht zu meiden, den Unglücklichen beizustehen und die Freude kennenzulernen, die im Helfen, Schenken und Trösten liegt.“426 Fürstin zu Erbach-Schönberg, geb. Prinzessin von Battenberg, wächst in der „Tradition“ auf, „daß es das schönste Vorrecht der Prinzen und Prinzessinnen [sei], zu helfen.“427 In jeder dieser Äußerungen wird die Karitas nicht als weibliche Verhaltensanforderung begriffen, sondern bezieht sich auf Reichtum und Status. Die Tugend, freigiebig gegen Bedürftige zu sein, gehörte in der ständischen und nachständischen Gesellschaft zu den allgemeinen religiösen, aber auch besonders betonten adeligen Normen. Heinz Reif spricht vom „symbiotischen Verhältnis zwischen Armut und Reichtum“428. Es verpflichtete den Adeligen, seinen Reichtum zugunsten des eigenen Seelenheils zu nutzen, wozu die Linderung der Armut anderer ein probates Mittel darstellte. Der Arme hingegen hatte die Verpflichtung, seine Armut zu ertragen und besaß mit dem Leiden daran die Gewißheit, sein Seelenheil zu erlangen. In dieser Konstruktion waren Arme notwendiger Bestandteil der Gesellschaftsordnung, und im „Helfen, Schenken, Trösten“ sicherten sich Reiche ihre eigene Existenz. Der erinnerte Erziehungsaspekt zur Karitas zielte nicht darauf ab, soziale Probleme zu erkennen, sondern galt der Einübung praktischer Hilfeleistungen, welche die Empfänger zu Objekten milder Gaben machten und die Gebenden persönlichen Einsatz lehrten.429 Im Erziehungsergebnis kann man von hochadeligen Frauen lesen, die sich insbesondere in Kriegsjahren persönlich der Verwundetenpflege widmeten, an religiösen Feiertagen die zu ihren Besitztümern gehörenden Anstalten besuchten oder sich rührend um ‚ihre Leute‘ kümmerten.430 Schon vor 1918 gibt es eine Stimme, die die erzieherisch vermittelte Karitas für überholt erklärt. 1913 eröffnete Maria de la Paz, vom spanischen ins bayerische Königshaus geheiratet habend, in München ein von ihr gegründetes Pädagogium, in dem vornehmlich Söhne aus der spanischen Landbevölkerung erzogen und ausgebildet werden sollten. Zur Förderung eines spanisch-deutschen Kulturaustauschs gedacht, geht es ihr im engeren Sinn um die Prävention von Armut: „ Ich fühlte damals [in der Kindheit, M. K.], was ich jetzt weiß, daß die beste Art, den Notleidenden zu helfen, nicht das Almosen ist, nicht das tägliche Brot, das man ihm überreicht, sondern daß man ihm Gelegenheit gibt, alles 426 427 428 429 430

Belgien (1935), S. 220, S. 31. Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 45. Reif, Westfälischer Adel, S. 445. Vgl. z. B. Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 146, S. 211. Vgl. Belgien (1935), S. 41f., S. 30; Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (1923), S. 9.

3.4. Selbstpräsentationen

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dieses durch seiner Hände Arbeit selber zu verdienen.“431 Diese Erkenntnis nimmt Abstand von der Vorstellung, daß Not die Folge eines individuellen Schicksalsschlages ist und orientiert sich am Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die planerische Fürsorge indiziert, daß Armut als Effekt sozialer und ökonomischer Bedingungen verstanden wurde. Dieses Verständnis war nicht originell, sondern Ausgangspunkt jedweden im weiten Sinn sozialreformerischen Bestrebens. An der „Hilfe zur Selbsthilfe“ orientierten sich katholische Adelige in Westfalen, Frauen im Deutsch-Evangelischen Frauenbund, und sie war für Liliencron so selbstverständlich, daß sie weder in ihrer Gutsherrinnen- noch Vereinsarbeit darüber reflektieren mußte.432 Maria de la Paz’ individuell formulierte Erkenntnis scheint ein Indiz dafür zu sein, daß die Abkehr von der traditionellen Karitas kein herrschender Konsens im Hochadel war. Zwei weitere Beispiele zeigen, daß diese Abkehr zu spät kam, um sich zumindest symbolisch an die Spitze eines neuverstandenen Sozialengagements zu setzen. In der Veröffentlichungsgegenwart von 1923 erzählt Fürstin zu Erbach-Schönberg von ihren Bemühungen um präventive Armutsbekämpfung in Schloß und Dorf. Sie gründet und leitet ein Erholungsheim für unbemittelte Lehrerinnen, eine Kleinkinderschule unter Leitung einer Diakonissin, stellt eine Krankenschwester zur medizinischen Betreuung aller ein. Zur kulturellen Erbauung der Dorfbewohner finden von Experten dargebotene Vortrags- und Musikabende im Schloß statt.433 Erbach-Schönberg, im Bewußtsein aufgewachsen, daß Helfen das „schönste Vorrecht“ von Prinzessinnen und Prinzen sei, kommentiert ihre Aktivitäten mit resignativer Empörung: „Der heutige Staat nennt so etwas ‚soziale Fürsorge‘!“434 Die von der Republik neu wahrgenommene Fürsorgeverpflichtung gegenüber der Gesamtbevölkerung kommt Erbach-Schönberg einer ‚Deprivilegierung‘ des Hochadels gleich und impliziert, daß dieser ein maßgeblicher Akteur im Kaiserreich gewesen sei. Die Lösung von sozialen Problemen im sich herausbildenden Sozialstaat wurde aber vor allem vom Staat erwartet, des weiteren von Kommunen, freien Trägern (kirchliche und humanitäre Vereine) und Großbetrieben und eigenständig, wie auch die genannten Bereiche durchdringend, von der bürgerlichen Sozialreform vorangetrieben.435 Erbach-Schönbergs Text zeigt nicht an, daß die Fürstin mit diesen Gruppen vertraut war. Das „Vorrecht“ zu helfen bleibt vage und findet kaum eine Entsprechung. Bereits im Kaiserreich kein maßgeblicher Akteur, mangelt es der Hochadeligen in der Republik demzufolge an Ressourcen, um das Feld sozialen Engagements wirkungsvoll zu besetzen. Die deutsche Kronprinzessin trifft im letzten Kriegswinter auf einen anderen Akteur, der die traditionelle Karitas als ungeeignet aufzeigt, um für die Allgemeinheit zu wirken. Hedwig Heyl, im Ersten Weltkrieg eine Art Mittlerin zwischen Berliner Hof und dem

431 432 433 434 435

Paz (1917), S. 113. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 448; Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 56. Vgl. Erbach-Schönberg, Aus stiller (1923), S. 9, 10f., 25. Ebd., S. 25. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 367–373.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Nationalen Frauendienst, der die Kriegsarbeit von Frauen organisierte436, gibt der Kronprinzessin „Einblick in die brennenden sozialen Frauenaufgaben“ und veranstaltet eine Vortragsreihe für sie: „Namen wie Gertrud Bäumer, Elisabeth Lüders, Alice Salomon, Anna von Gierke sagen hinreichend, wie inhaltsvoll diese Vorträge waren …“ Aus diesen bezieht sie, die ihre Erinnerungen 1930 veröffentlicht, das Wissen, „daß zum Verständnis der großen sozialen Fragen mehr gehört als nur ein warm empfindendes Herz und guter Wille; gewisse fachmännische Kenntnisse sind unbedingt erforderlich.“437 Es sind führende Protagonistinnen der Frauenbewegung, welche die Kronprinzessin für soziale Probleme sensibilisieren, und es ist die Ausnahmesituation des Krieges, die den Brückenschlag zwischen sozialer Bewegung und der zu diesem Zeitpunkt noch künftigen Monarchin ermöglicht. Daß hier die Frauenbewegung der überlegene Akteur ist, zeigt sich allein daran, daß die Namensnennung hinreichende Symbolwirkung entfaltet. Zugleich verweist die Symbolik auf die Komplexität der Verbindungen zwischen Frauenbewegung und Sozialreform. An dieser Stelle ist wichtig: Mit „sozialer Arbeit“ besaß die bürgerliche Frauenbewegung ein Konzept gesellschaftlichen Handelns. Es stellte die bisher geübte Wohltätigkeit auf die Grundlage von Systematik, wissenschaftlichfachlicher Kompetenz und planmäßigen Handelns. Es zielte darauf ab, die Emanzipation bürgerlicher Frauen mit der in den sozialreformerischen Bestrebungen enthaltenen Verpflichtung des besitzenden Bürgertums, eine sittlich-moralische Verpflichtung gegenüber sozial Schwachen zu haben, zu verbinden. Hierüber ergab sich die Wechselbeziehung von „Frauenwohl“ und Beitrag zum „Gemeinwohl“, aus der sich das politisch-utopische Leitbild von Wohlfahrt und Wohlfahrtsstaat herauskristallisierte. Das heißt, die Frauenbewegung war aktiv an der Gestaltung des sich herausbildenden und in der Republik fortentwickelnden Sozialstaates beteiligt.438 Der Unterschied zwischen dem hier angerissenen Handlungskonzept, soziale Probleme zu lösen und dem „gute[n] Wille[n]“, soziale Fragen zu verstehen, könnte zwischen Akteuren, die jeweils beanspruchen, dem Allgemeinwohl zu dienen, kaum größer sein. Im Rückblick erkennt die Kronprinzessin die Wirkungslosigkeit traditioneller Karitas. Wohl nicht zuletzt, weil der monarchische Gedanke um 1930 im Adel ausgedient hatte439, unterläßt sie den erzählerischen Versuch, sich das Konzept der sozialen Arbeit dergestalt anzueignen, daß es mit dem Nimbus einer (hoch)adeligen Qualität präsentiert werden kann. Das Vertrautwerden mit den sozialen Problemen der Zeit sei, so die Kronprinzessin, „ein großer Gewinn für mein Leben geworden“440. Es ist ein persönlicher Gewinn, der sich nicht mehr in den sozialen Sinn (hoch)adeliger Verantwortung ummünzen läßt.

436 437 438

439 440

Vgl. Süchting-Hänger, S. 93ff. mit weiterführenden Literaturhinweisen. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 214f. Vgl. ausführlich: Schröder, Iris, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt a. M. / New York 2001; zu Alice Salomon vgl.: Schüler, Anja, Frauenbewegung und soziale Reform, S. 187–348. Vgl. Malinowski. Vom König zum Führer, S. 247–257. Cecilie, Kronprinzessin (1930), S. 215.

3.4. Selbstpräsentationen

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Daß und wie man das Feld des sozialen Engagements sehr wohl mit einem (hoch) adeligen Führungsanspruch, der sich als Dienst am Allgemeinwohl verstand, versehen konnte, zeigt der Text von Fürstin zu Wied aus den 1950er Jahren. Die Funktionseliten der jungen Bundesrepublik in den Blick nehmend, formuliert Wied ihr Selbstverständnis als Angehörige eines königlichen und fürstlichen Hauses: „Wir lebten unter Menschen als Menschen, die nicht besondere Rechte verlangten, wohl aber von besonderen Pflichten überzeugt waren.“ „Führen und leiten im wahren Sinn ist ein ständiger Opfergang um der anderen willen, ohne Lohn.“441 Das hier artikulierte Pflicht- und Dienstideal bestimmt Führung als exklusive Pflicht gegenüber Nicht(hoch)adeligen, die als opferbereiter, uneigennütziger Dienst zum Wohl der Mitmenschen formuliert ist. Diese Ausprägung des „noblesse oblige“ kristallisierte sich im Adel besonders mit der definitiven Beseitigung von Herrschaftsrechten nach 1918 heraus, die gleichwohl den Anspruch, nun „Herrschaftspflicht“ genannt und im moralischen Raum verankert, nicht erschüttern konnte.442 Fürstin zu Wied konkretisiert das Ideal, indem sie es auf ihre „freie[n] Liebesarbeit“443 bezieht. „Liebesarbeit“ ist hier nicht wie bei Adda von Liliencron weiblich konnotiert, sondern war eine Wortschöpfung, die sich auch auf beide Geschlechter bezog, sofern diese sich im Kaiserreich ehrenamtlich im Bereich der privaten Fürsorge gegenüber der öffentlichen, zunehmend beruflich ausgeübten Fürsorge engagierten.444 Die Wiedsche „Liebesarbeit“ markiert die von Erwerbsarbeit unabhängige Tätigkeit qua Herkunft und stellt ebenfalls keine explizite Verhaltensanforderung an Frauen dar. Das Schlüsselwort ihres Sozialengagements ist „Verantwortung“, das sie von ihren hochadeligen Standesgenossinnen unterscheidet und im Verbund mit dem Dienstideal eine (hoch)adelige Qualität behauptet. „Ein Ehrenvorsitz war so ein richtiger Drohnentitel, den ich bald in jeder Form ablehnte, denn ich wollte nur voll verantwortlich mitarbeiten“445, erinnert die Fürstin ihre sozial engagierten Anfangsjahre um 1900 in Berlin. Die Betonung verantwortungsvoller Mitarbeit speist sich sicherlich aus der Schreibgegenwart kollektiver Aufbauarbeit. Doch schon adelige Zeitgenossen haben, wenn auch der Kontext ein anderer war, danach gefragt, was denn zum Beispiel der Kaiser leiste, um seine hohe Stellung zu rechtfertigen.446 Wied wendet sich vor allem gegen die Praxis von Vereinen und Veranstaltungen, zugkräftige Namen zur Ertragssteigerung zu gewinnen und gegen den ‚Wohltätigkeitsrummel‘ überhaupt. Anders als Gräfin Oriola, der die Basare noch mehr und weniger Vergnügungen für den guten Zweck bereiteten, kritisiert Wied diese Form des Sozialengagements als unmoralisch, dilettantisch, als „dekadente[n] Vergnügungssucht“447 – darin der

441 442 443 444 445 446 447

Wied (1958), S. 176, S. 180. Vgl. Conze, Von deutschem Adel, S. 388ff. Wied (1958), S. 91. In der Weimarer Republik wurde dann zwischen freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege unterschieden. Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 204–212. Wied (1958), S. 98. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 170ff. Wied (1958), S. 97.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

zeitgenössischen sozialreformerischen Kritik an der privaten Fürsorge im Kaiserreich nicht unähnlich.448 Wieds Wille zur Verantwortung gründete nicht nur in der Ablehnung, sondern vor allem in Vorbildern innerhalb ihrer Familie. Mutter und Großmütter waren in ihrer Deutung Frauen, die die traditionelle Karitas nicht mehr praktizierten. Wied mußte die „Hilfe zur Selbsthilfe“ nicht in späteren Jahren individuell entdecken, sondern wuchs mit diesem Prinzip auf. Zugleich waren die weiblichen Familienangehörigen nicht nur Gründerinnen, sondern auch Leiterinnen ihrer Anstalten.449 In diesem Zusammenhang beansprucht Wied für ihre frühe Jugend nicht nur die „Menschen mit ihren Leiden und Wünschen“, sondern auch „ihre Führung und die Organisation der Betriebe“ verstehen zu lernen.450 Eine weitere Beigabe ihres künftigen Handelns ist die väterliche Auffassung seines Königtums, von der es heißt: Was ihn von anderen Menschen unterschied, „war nur die größere Verantwortung gegenüber jedem, der ihm begegnete, in erster Linie innerhalb seines Landes [Württemberg], seines Amtsbereiches.“451 In den Erinnerungen Fürstin zu Wieds ist das Dienst- und Pflichtideal als tätige Fürsorge ihrer Familie präsent und stellt das Rüstzeug dar, selbst Verantwortung zu übernehmen. 1903 wird sie in den Hauptvorstand des Vaterländischen Frauenvereins berufen, dem sie dann über drei Jahrzehnte aktiv als ‚Vollzeitfunktionärin‘ angehören wird. Der größte Frauenverein im Kaiserreich verzeichnete 1913 557.000 Mitglieder.452 Er war eine Massenorganisation, die in ihrem programmatischen Schwerpunkt der Kriegsfürsorge eng mit den staatlichen Behörden zusammenarbeitete und mit ihrem praktischen Schwerpunkt der zivilen Fürsorge zu jenen freien Trägern gehörte, die als Akteur an der gesamtgesellschaftlichen Lösung von sozialen Problemen arbeitete. Der Verein bezweckte, so heißt es unter anderem in der Satzung von 1900, sich an Unternehmungen zu beteiligen, „welche die Beseitigung und Verhütung wirtschaftlicher und sittlicher Not“453 anstrebten. Das heißt, Fürstin zu Wied engagierte sich in einem Verein, der in seiner zivilen Ausrichtung dem Gemeinwohl verpflichtet war. Ihre führende Position darin übt sie „voll verantwortlich“ aus. Analog zu Adda von Liliencron stellen Autorität, Selbstsicherheit und Selbständigkeit Leitungs- und Leistungskompetenzen dar. Aufgrund der Vereinsgröße ist das Wiedsche Arbeitsgebiet stärker als bei Liliencron das der Organisation, Planung und Koordinierung, welches nach 1918 voll und ganz im Schnittfeld von Politik und Verwaltung der Wohlfahrtspflege angesiedelt ist. Wied operiert nicht nur mit Erfahrungswissen, sondern eignet sich Fachkompetenz an. Vor 1918 absolviert sie ihre ‚Lehrjahre‘ („im Schatten dieser Köpfe arbeiten zu dürfen“454) in der „Deutschen Zentrale für Jugendfür-

448 449 450 451 452 453 454

Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 78. Vgl. Wied (1958), S. 176, S. 32, S. 95f. Ebd., S. 94. Ebd., S. 42. Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 35. Satzung des Vaterländischen Frauenvereins vom 7. 11. 1900, § 2, zit. nach: Ebd., S. 30, Anm. 50. Wied (1958), S. 105.

3.4. Selbstpräsentationen

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sorge“. Diese Organisation arbeitete ganz ähnlich wie frauenbewegte Vereine mit dem Konzept der sozialen Arbeit, war aber – hier wieder eine Überschneidung – sozialreformerisch ausgerichtet und zielte wie andere fürsorgerische Organisationen der Zeit darauf ab, private Wohltätigkeit zu professionalisieren.455 Wied lernt in dieser Organisation, daß Theorie und Praxis zusammengehören, um der „sozialen Sache den richtigen Kurs zu geben“. Sie eignet sich die Fähigkeit an, Probleme zu lösen: Menschen „in sozialer Not“ hilft man nicht mit Geld heraus, sondern vom „warmen Herzen … und von dem Kopf [her], der das richtige Verständnis hat, nach Wegen zu suchen, die zum Ziele führen.“456 Die ‚Problemlösungskompetenz‘ macht Fürstin zu Wied nicht zu einer bürgerlichen Sozialreformerin, sondern zeichnet sie vor ihren Standesgenossinnen aus, die zu dieser Zeit um den Sinn eines Almosens ringen. Das von Erbach-Schönberg formulierte „Vorrecht zu helfen“ bleibt in ihrem Text vage und wird im Vergleich zum Wiedschen Text Leerformel. In der Wiedschen Erzählung treten Handlung und Handlungssinn nicht auseinander. Jede fürsorgerische Aktivität bleibt auf die von ihr formulierte Überzeugung bezogen, wonach (Hoch)Adelige nur Menschen mit „besonderer Verantwortung“ und „besonderen Pflichten“ im Dienste des Allgemeinwohls seien. Der ‚Adelsbeweis‘ dieser Überzeugung wird über Leistungsbereitschaft und den Erwerb von Sachkompetenz erbracht, Qualitäten, die sie aus ihrer Familie herleitet und die sie von ihren Standesgenossinnen unterscheiden. Hinzu tritt, daß sie im Kaiserreich in verantwortungsvoller Position in einem Verein mit Massenbasis und Allgemeinwohlverpflichtung arbeitet. Damit verfügt sie über solche Ressourcen, die etwa die an der neuen Zeit resignierende Erbach-Schönberg nicht besaß, um die Republik als Herausforderung anzunehmen. „[E]s gelang mir, von [den führenden Beamten] das zu erreichen, was ich für den Aufstieg des Roten Kreuzes brauchte“457, beginnt Wied ihre Weimarer Erfolgsgeschichte, die an dieser Stelle abgebrochen wird. Es bleibt noch festzuhalten, daß Führung als „ständiger Opfergang um der anderen willen, ohne Lohn“ selbstverständlich Gewinn abwirft: „Das Vertrauen, das diese Scholle des Rheinlandes und die dort arbeitenden Menschen mit dem angestammten Fürstenhaus verbindet, möge allzeit gerechtfertigt sein durch einen vorbildlichen Charakter seiner Nachkommen.“458 Fürstin zu Wied bietet kein (hoch)adeliges Konzept zur Lösung sozialer Probleme an. Im Unterschied zu ihren Standesgenossinnen gelingt es ihr aber, die nach 1918 verstärkt im Adel artikulierte Formel „noblesse oblige“ mit konkretem Inhalt zu besetzen und auf diese Weise den Führungsanspruch im Feld des sozialen Engagements zu behaupten. Die Mittel für die Konkretisierung des Pflicht- und Dienstideals entstammen in einem weiten Sinn dem zeitgenössischen Repertoire derer, denen soziale Reformierung Anliegen und

455 456 457

458

Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 75–88. Wied (1958), S. 105, S. 106. Ebd., S. 12. Zur Reorganisation des DRK in der zivilen Fürsorge, auf die sich der Wiedsche „Aufstieg“ bezieht und seine Etablierung als Wohlfahrtsverband in der Weimarer Republik vgl: Hagemann / Seithe, Das Deutsche Rote Kreuz, S. 15–55. Wied (1958), S. 180, S. 89f.

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Handlungsorientierung war. Nicht traditionelle Karitas, sondern „Hilfe zur Selbsthilfe“, nicht formeller Ehrenvorsitz in einem Wohltätigkeitsverein, sondern tätige Fürsorge auf der Grundlage von Sachkompetenz. Mit diesen im engeren Sinn auch familiär hergeleiteten Mitteln ist Fürstin zu Wied, wie vor ihr Adda von Liliencron und vor dieser westfälische Adelige, aktiv an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, soziale Probleme nicht zu lindern, sondern diesen abzuhelfen, beteiligt. Die Mitarbeit an der „freien Liebesarbeit“, das heißt in Denk- und Handlungsweise auf der Höhe der Zeit zu sein, zeigt sich als Voraussetzung, um in der Akteursgruppe freier Träger Sozialengagement mit (hoch) adeligem Führungssinn zu versehen.

3.4.4. Exkurs: „bei Hof“ In diesem Teil der Arbeit wurden der Hof und die höfisch ausgerichtete gute Gesellschaft mehrfach thematisiert. Das gesellschaftliche Entree wurde als biographisches Ereignis interpretiert, das junge Frauen in die Adelsgesellschaft integrierte und besonders mittels der Vorstellung am Hof Adelszugehörigkeit symbolisierte. Im Erzählungsraum von Ehe und Kernfamilie wurde herausgearbeitet, daß das Private der Familie und das Öffentliche der guten Gesellschaft in einer selbstverständlichen Wechselbeziehung standen. In der adeligen Öffentlichkeit kam Müttern hierbei die Familienaufgabe zu, den Kindern eine Position in der Gesellschaft zu ermöglichen. Für Diplomatenfrauen gehörte die „Welt“ mit ihrem höfischen Zentrum quasi zum Berufsalltag. Der Hof verlangte den weiblichen wie männlichen Korpsangehörigen Kenntnisse von Zeremoniell und Etikette ab und vermittelte ihnen ihren gesellschaftlichen Wert. Im Erzählungsraum des sozialen Engagements konnten Wohltätigkeitsaktivitäten dazu dienen, die persönliche Nähe zum Herrscherpaar zu vertiefen und hierüber das Ansehen der Familie in einer sich exklusiv verstehenden Gesellschaft zu verstetigen. Zweifellos dürfte die integrierende Funktion des Hofes und seine ihm zugewiesene Bedeutung von Öffentlichkeit für Zugangsberechtigte erheblich dazu beigetragen haben, daß Frauen ihr Handeln unter dem Gesichtspunkt des Gruppenerhalts ausrichteten. Zumindest erscheint der Hof als Ort adeliger Selbstvergewisserung, der Akzentuierung von Prestige und Exklusivität. Die Nutzung des Hofes gehörte im 19. Jahrhundert zu den üblichen Gepflogenheiten von Angehörigen des Adels.459 Der folgende Abschnitt thematisiert den Hof und die höfische Gesellschaft aus der Perspektive von Hofgängerinnen. Mit Hofgängerinnen werden Frauen bezeichnet, die regelmäßig am Hof erschienen, nicht aber Frauen, die dauerhaft am Hof lebten, sei es als Angehörige der königlichen bzw. kaiserlichen Familie oder im Amt der Hofdame, das ohnehin von nichtverheirateten Frauen besetzt wurde.460 Anhand der Texte von Fürstin Fugger und Gräfin Erdödy, die beide zur sogenannten ersten Gesellschaft Wiens 459 460

Vgl. Möckl, Karl, Der deutsche Adel und die fürstlich-monarchischen Höfe 1750–1918, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel, S. 96–111. Zu Hofdamen vgl. ausführlich Diemel, Christa, Adelige Frauen, S. 69–140.

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gehörten, wird die höfische Lebenswelt in Form eines Exkurses dargestellt. Dieser ist keineswegs in Quellenlage und historischer Relevanz, d. h. in der Sache begründet. Fürstin Fuggers 440 Seiten umfassende Lebenserinnerungen erzählen fast ausschließlich vom Wiener Hof und seinen Menschen. In den Erinnerungen Erdödys von 250 Seiten kommt dem Hof ebenfalls zentrale Bedeutung zu.461 Und eine geschlechtergeschichtliche Untersuchung des Gegenstandes würde alles andere als ein polares Ordnungsmodell hervorbringen. Nein, der Exkurs ist an dieser Stelle durch den Arbeitsprozeß vorgegeben, in dem das Erzählte beider Texte ein an den Rand gedrängtes Problem darstellte. Weder schienen eigene Fragestellungen noch die der sozialhistorisch orientierten, den Hof thematisierenden Adelsforschung zum 19. Jahrhundert zu greifen.462 Bis zum Moment des Schreibens wurde kein passender Zugang gefunden, so daß das Folgende inhaltlich als Provisorium begriffen wird, das wiederholt die Bedeutung von Geschlecht und „Familie haben“ umkreist und nach dem ‚Höfischen‘ von Hofgängerinnen fragt. 3.4.4.1. Hofgängerinnen (I) Die Lebenserinnerungen von Erdödy (geb. 1831) und Fugger (geb. 1864) wurden 1929 bzw. 1932 veröffentlicht. Erdödy, als geborene Oberndorf aus einer altadeligen, oberpfälzischen, 1790 zu Reichsgrafen ernannten Familie stammend, heiratete in eine ungarische, hochadelige Familie. Ihr Gatte war u. a. Majoratsherr, erbliches Mitglied im ungarischen Oberhaus, k. u. k. Kammerherr. Sie selbst besaß am Hof die Ehrenwürde einer Palastdame. Fugger stammte aus dem alten, reichsunmittelbaren Fürstenhaus Hohenlohe-Bartensein. Sie ge-

461

462

Zum Wiener Hof und der häufig dort versammelten österreichischen Aristokratie vgl.: Stekl, Hannes, Der Wiener Hof in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Möckl (Hg.), Hof und Hofgesellschaft, S. 17–60; Hamann, Brigitte, Der Wiener Hof und die Hofgesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 61–78; Stekl, Hannes, Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel, S. 144–165. Die Leitfragen kreisen hier um das Verhältnis von Adel und Bürgertum im Medium des Hofes, um die Funktion des Hofes für Führungseliten bzw. zur Formierung moderner Eliten, und unter dem Stichwort „Königsmechanismus“ um Möglichkeiten und Grenzen einer Politik vom Hof aus. Vgl.: Werner, Karl F. (Hg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1985; Möckl, Karl (Hg.), Hof und Hofgesellschaft; Möckl, Karl, Der deutsche Adel und die fürstlich-monarchischen Höfe, S. 96–111; Röhl, John C. G., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4. verb. und erw. Aufl., München 1995, bes. Kap. 3 und 4 (darin auch eine ausführliche Kritik an der Sozialgeschichte, deren Sichtweise den Hof als politische Arena ignorierte); Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 82–85; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 134–143. – Einen kulturhistorischen Fragehorizont und Analyserahmen öffnete mit Blick auf die deutsche Hofgeschichtsschreibung der Neuzeit grundlegend: Daniel, Ute, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995. Jüngst unter Einbeziehung des sächsischen Hofes: Marburg, Silke, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008.

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hörte qua Herkunft und Eheschließung zu den mediatisierten Fürstenhäusern, die nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation der Krone Bayerns unterstellt wurden. Zweifellos hoffähig463, nehmen beide für sich in Anspruch, zur hofadeligen Gesellschaft zu gehören, indem sie eine feine Unterscheidung treffen: Die höfischen Feste der Wiener Saison begannen im Januar mit dem Hofball und schlossen am Faschingsdienstag mit dem Ball „bei Hof“. Ausgerichtet vom Oberhofmeisteramt war der Hofball ein offizielles Fest, an dem alle hoffähigen Personen teilzunehmen hatten. Fugger spricht hier von ca. 2.000 Menschen. Der Ball „bei Hof“ hingegen galt als „intimeres Fest“, für das ausgewählt geladen wurde. Laut Fugger gingen die Einladungen an alle Hofwürdenträger, hohe Militärs und die „eigentliche Hofgesellschaft“, die zusammen eine Gruppe von ca. 700 Personen bildete.464 Fugger und Erdödy nahmen regelmäßig am Ball „bei Hof“ teil, dessen Exklusivität von der Gräfin wie folgt formuliert wird: „Hier bewegte man sich wirklich wie zu Hause unter lauter Verwandten und Bekannten.“ Im Gegensatz zum Hofball und seinen offiziellen Gästen blieb hier „die Wiener Gesellschaft mit strengem Ausschluß alles Fremden und Exotischen“ unter sich.465 Kann man die Hofgängerinnen noch als höfische Menschen im Sinne von Norbert Elias betrachten, oder ist dies ein anachronistisches Unterfangen? Elias faßt den Habitus des höfischen Menschen unter dem Gesichtspunkt des Selbstzwecks und Selbstwertes. Diese Haltung zur Welt gründe in einer generellen Aufbaugesetzlichkeit elitärer Einheiten, wonach der soziale Druck von unten und auch von oben ein Verhalten erzeugt, das entscheidend die Aufrechterhaltung der Distanz hervorbringt. „Man fragt nicht über dieses Dasein hinaus nach einem weiteren innerweltlichen Sinn.“ Der höfische Mensch sei „von diesem Selbstwertcharakter des bloßen sozialen Daseins, diesem unreflektierten Existenzialismus“ bestimmt.466 Für den vorliegenden Zweck ist man gut beraten, sich nicht auf die philosophische Dimension der Begrifflichkeiten Dasein und Existenzialismus einzulassen467, sondern sich zum Verständnis des Gesagten eines adelskritischen Normalverstandes einer Autobiographin an der Jahrhundertwende zu bedienen. Bertha von Suttner, geb. Kinsky, beurteilt den Vormund ihrer Kindheit: „Grandseigneur: das war er ja tatsächlich, Mitglied des stolzesten österreichischen Hochadels, … eine der ersten Stellungen bei Hofe. Fehlte bei keinem großen Hoffest … […] Die Sociéte (mit diesem Wort bezeichnete er den Kreis, in dem er geboren war und in dem er sich bewegte) war ihm die einzige Menschenklasse, deren Leben und Schicksal ihn interessierten.“ Geheiratet habe er nicht, weil er „eine Herzensneigung zu einer Frau hegte“, die „von Geburt 463 464 465 466 467

Zu Zugangsvoraussetzungen an unterschiedlichen Höfen unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht vgl.: Diemel, Adelige Frauen, S. 69–90. Vgl. Fugger (1932 / 1980), S. 175–187, zit.: S. 186; Erdödy (1929), S. 123–129. Erdödy (1929), S. 128. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 156f. Zur (geschichts)wissenschaftlichen Einordnung der Arbeiten und Denkweisen von Elias vgl. mit weiterführender Literatur: Daniel, Ute, Kompendium Kulturgeschichte, S. 254–269; La Vopa, Antony, Der Höfling und der Bürger. Reflexionen über Norbert Elias, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 119–134.

3.4. Selbstpräsentationen

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aus nicht hoffähig war, also erschien ihm eine Heirat mit ihr einfach ausgeschlossen. … [A]lles, was außer dem Geleise … lag, das ging ihm wider den Strich.“468 Jenseits der Philosophie, doch in einer verhalten formulierten moralischen Wertung, belegt dieses Zitat anschaulich das höfisch orientierte „Dasein“. Es ist ein Für-sich-sein, das andere Existenzen und Realitäten ausblendet und ignorieren kann, weil es sich selbst genug ist. Mit Elias verlangt das Dasein zum Selbstzweck nach stetiger Distanzierung und dem Ergreifen von Prestigechancen, woraus auch eine spezifische Form der Menschenbeobachtung folgt. Am einzelnen Menschen interessiert weder Innerlichkeit noch Autonomie, sondern das Individuum „in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit, als Menschen in seiner Beziehung zu anderen.“469 Die Beobachtung dient der Selbst- und Fremddisziplinierung in der höfischen Gesellschaft und korrespondiert mit der höfischen Menschenschilderung: Nicht rechtfertigende Selbstdarstellung, wie sie der Autobiographie eigen ist, sondern Memoiren, welche die „gesellschaftliche Verflochtenheit“ besonders deutlich hervortreten lassen.470 Die Lebenserinnerungen Erdödys und Fuggers sind am weitesten von der ich-zentrierten Autobiographik entfernt. Auch innerhalb der in diesem Teil der Arbeit tendenziell dominierenden Gruppe der Wir-Geschichten und Geschichten anderer nehmen sie einen besonderen Platz ein. Innerlichkeit und Ich-Entwicklung sind nicht Gegenstände der Erzählung. Die Individualgeschichte ist kaum exponiert. In einem stärkeren Maß als ansonsten ersichtlich, ist das erzählte Ich eingebettet in ein „Wir“ von hochadeliger Familie, Verwandtschaft und Hofgesellschaft. Fürstin Fugger formuliert bündig: „Nun will ich Hof und Gesellschaft – in Umrißlinien – schildern, will das Milieu beschreiben, in dem sich mein Leben abspielte.“471 Hält man sich an eine literaturwissenschaftliche typologische Grobunterscheidung, wonach Autobiographien eher auf das psychische und persönliche Ergehen von Individuen bezogen sind, Memoiren hingegen dem äußeren Geschehen mehr Platz einräumen, kann man hier von Memoiren sprechen.472 Der Erzählungsinhalt ist in beiden Texten ähnlich strukturiert. Zunächst wird von den mehr und weniger zeremoniellen Festen am Hof erzählt, die miterlebt wurden. Ausführlich wird von den geselligen Unternehmungen des Hof- und Hochadels berichtet bzw. davon, welche Feste sie selbst als Angehörige desselben ausrichteten. Besonders wichtig ist die Benennung derjenigen Personen, die am Hof oder in der ersten Gesellschaft eine führende Stellung einnahmen. Diese werden recht ausführlich in ihren individuellen Eigenarten oder sonstigen Besonderheiten geschildert. Zentral in der Darstellung ist das Herausstellen der persönlichen Beziehungen zu den maßgeblichen Personen der Gesellschaft.

468 469 470 471 472

Suttner (1909), S. 19f. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 159. Ebd., S. 160f. Fugger (1932 / 1980), S. 100. Vgl. Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 9ff.

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Daß das „Leben und Treiben in der Hofgesellschaft“473 durchaus im Sinne von Elias als Selbstzweck verstanden werden kann, soll am Beispiel der Wohltätigkeit, auch weil sie im vorangegangenen Abschnitt thematisiert wurde, gezeigt werden. Der „innerweltliche Sinn“ (Elias) von Wohltätigkeit lag zweifellos in einem Mindestmaß an Gemeinwohlorientierung, ging also über das „bloße Dasein“(Elias) zum Selbstzweck hinaus. Es ist nicht aufschlußreich, daß beide Texte kein kernnarratives Thema „Wohltätigkeit“ beinhalten, sondern vielmehr, wie Wohltätigkeit in die Erzählung „Hofgesellschaft“ Eingang findet. „Im April 1895 veranstaltete meine Mutter, die, so wenig Freude sie seinerzeit gezeigt hatte, uns in die Welt zu führen, eine geradezu bewunderungswürdige Ausdauer bei Wohltätigkeitsveranstaltungen an den Tag legte und dabei die schönsten Erfolge erzielte, zur Gründung eines Tuberkulosenheims ein großes Karussell in der spanischen Hofreitschule.“474 M. E. ist in diesem Zitat der innere Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Entree der Töchter und praktizierter Wohltätigkeit der Mutter ohne Rückgriff auf den „Selbstzweck“ nicht unmittelbar gegeben. Zwar enthält der Satz die Behauptung, die Mutter hätte sich mehr für bedürftige Menschen als für die eigenen Töchter engagiert, doch der Beweis uneigennütziger Nächstenliebe wird nicht erbracht. Die „Erfolge“ beziehen sich nicht auf den wohltätigen Zweck. Ob die Heilanstalt gegründet werden konnte, wird nicht mitgeteilt. Wohl aber erfährt das Lesepublikum, daß am Karussell mehrere Erzherzöge teilgenommen hatten, unter ihnen Erzherzog Otto, der zeitweilig als präsumtiver Thronfolger galt.475 Das heißt, die „schönsten Erfolge“ beziehen sich auf Prestige und Prestigegewinn mittels gesellschaftlicher Veranstaltungen. Stellt solcherart Erfolg den inneren Zusammenhang zwischen Wohltätigkeit und gesellschaftlichem Entree her, dann verweist auch die mütterliche Freudlosigkeit, ihre Töchter in die Gesellschaft einzuführen, keinesfalls auf die behauptete wohltätige Gesinnung, sondern auf persönlichen Eigennutz. Wenn Mütter ihre Töchter in die Welt führten, dann traten für höfisch orientierte Frauen, die es gewohnt waren, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, Konkurrentinnen in die Gesellschaft ein, die kraft ihrer Jugend den allmählich verblassenden Glanz der älteren Person symbolisierten: „Schon viele Jahre vorher hatte ich eines der schwierigsten Lebensprobleme richtig gelöst … Noch als gefeierte Frau in verhältnismäßig jungen Jahren trat ich in den Hintergrund, habe Jüngeren, vor allen meinen eigenen Töchtern, Platz gemacht.“476 Wollte man die in den Texten zutage tretende „gesellschaftliche Verflochtenheit“ (Elias) der um Prestige konkurrierenden Gruppenmitglieder im Ganzen beschreiben, sprengte dies den Rahmen dieses Exkurses. Zwar ist inzwischen bekannt, daß Elias (und 473 474

475 476

So eine Hauptkapitelüberschrift bei Fugger (1932 / 1980), S. 206. Dies., S. 348. Unter einem Karussell kann man sich eine von Damen und Herren ausgeübte, sportlich-spielerische Veranstaltung zu Pferd vor hochadeligem Publikum vorstellen, die Elemente des mittelalterlichen Ritterturniers mit solchen Geschicklichkeitselementen verband, die heute noch im Dressurreitsport von Bedeutung sind. Gräfin Erdödy gibt in ihren Erinnerungen (1929) auf S. 147ff. eine anschauliche Schilderung. Vgl. Fugger (1932 / 1980), S. 348f. Dies., S. 425.

3.4. Selbstpräsentationen

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die ihm darin folgenden Arbeiten) die zeremonielle Strenge des Hoflebens überschätzt hat, doch sollte sie deshalb nicht unterschätzt werden.477 Allerdings läßt sich mit vorliegendem Material die verhaltensprägende Wirkung von Zeremoniell und Etikette kaum näher bestimmen als bekannt. Selbstverständlich kennt Fugger ihren Platz auf der Fürstinnenbank und Erdödy ist es eine hohe Ehre, als Palastdame der Kaiserin zu fungieren. Doch beide thematisieren die verschiedenen zeremoniellen Anlässe stark unter dem Gesichtspunkt höfischer Festkultur. Bei diesen kollektiven Inszenierungen wird zwar die formale Hierarchie deutlich. Doch mehr als daß diese akzeptiert wurde, läßt sich kaum sagen.478 Wie nahe Ansehensverlust und Prestigegewinn beieinander liegen konnten, hielt man sich nicht an die Etikette, wird in einer Anekdote deutlich, die Fugger von der grande dame der Wiener Gesellschaft, Fürstin Pauline Metternich, erzählt: „Einmal kam sie zu einem von Erzherzog Ludwig Viktor gegebenen Ballfest zu spät, das heißt erst nach der Ankunft des Kaisers. Das war ein unerhörter Verstoß gegen die heilige Etikette. Der Erzherzog empfing sie mit dem Vorwurf: ‚Aber Fürstin, so spät! Der Kaiser ist ja schon da!‘ Und vor allen Lakaien, die im Vorzimmer standen, entgegnete Fürstin Pauline: ‚Was liegt mir daran? Ich komme noch immer früh genug für das, was der Kaiser mir zu sagen hat.‘ Der Erzherzog war starr über diese Worte. Er entgegnete nichts; aber er strafte sie: vor dem Souper kam der Dienstkämmerer Graf Chołoniewski auf sie zu mit folgender Botschaft des Erzherzogs: da die Fürstin so geringen Wert auf die Unterhaltung des Kaisers lege, sei über den Platz, der ihr am Tische Seiner Majestät reserviert war, anders verfügt worden. Doch Kaiser Franz Joseph, dem die auffallende Änderung der Sitzordnung nicht unbemerkt blieb, legte sich sofort ins Mittel. Er soll sich diesen Abend besonders gut mit der Fürstin unterhalten haben, die alle Register ihres sprudelnden Geistes zog, um ihren Fehler wieder gutzumachen.“479 Nicht der Formverstoß als solcher zieht die zurechtweisende Deplazierung nach sich, sondern das mit diesem verbundene Verhalten der Fürstin gegenüber dem kaiserlichen Bruder. Vor niederem Publikum beleidigt sie ihn als Gastgeber, indem sie sich nicht entschuldigt. Zugleich setzt sie ihn in seinem hohen Rang herab, indem sie deutlich zu erkennen gibt, daß sie sich weder für ihn noch für das von ihm gegebene Fest interessiert. Des weiteren provoziert sie die Gleichrangigkeit mit dem Kaiser, insofern sie die der Etikette innewohnende Hierarchisierung ignoriert und selbstverständlich davon ausgeht, daß der Kaiser mit ihr eine Unterhaltung beginnen würde. Erst jetzt ahndet der Erzherzog den Formverstoß und setzt die Fürstin seinerseits mittels veränderter Sitzordnung, die die Distanz zum Kaiser sichtbar macht, vor hohem Publikum herab und stellt zugleich seine Macht als Erzherzog und Gastgeber wieder her. Der vom Standpunkt der höfischen Ordnung berechtigte Ansehensverlust kann ausschließlich durch kaiserliche Gunst aufgehoben werden. Metternich besaß die Gunst des 477 478 479

Vgl. Duindam, Jeroen, Norbert Elias und der frühneuzeitliche Hof. Versuch einer Kritik und Weiterführung, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 370–387. Vgl. Erdödy (1929), S. 122ff., S. 152ff.; Fugger (1932 / 1980), S. 149–205. Fugger (1932 / 1980), S. 66f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Kaisers, hätte sie aber in dieser Situation verlieren können und nutzt nun die vorgängige Gnade zur Rehabilitierung. Bedenkt man, daß die kaiserliche Gunst auch im ausgehenden 19. Jahrhundert einen hohen Kurswert für Menschen am Hof besaß480, ist die mißachtete Etikette ob kaiserlicher Gnade ein Prestigegewinn gewesen. Man kann die in der Anekdote hervortretende „gesellschaftliche Verflochtenheit“ mit Elias unter dem Gesichtspunkt der Selbst- und Fremddisziplinierung lesen und ihn etwas anders akzentuieren. Allein, daß die Anekdote von Fugger erzählt wird, zeigt an, daß die Angehörigen der ersten Gesellschaft um die mit der Etikette verbundenen Spielregeln wußten. Auch Fürstin Metternich respektierte, nachzulesen in ihren Lebenserinnerungen, Hierarchie und Form, ist die in der Anekdote erzählte Verspätung keinesfalls aus Unkenntnis geschehen. Wenn aber alle wußten, was man darf und was man nicht darf, dann konnte ein disziplinierter Verstoß gegen die Ordnung eine Prestigechance darstellen, die zu nutzen allerdings Ansehen voraussetzte. Das mochte zuweilen ein riskantes Spiel gewesen sein. Denn dazu bedurfte es einerseits eines guten Gespürs für die eigene Stellung und andererseits eben nicht Kenntnisse der Etikette als solche, sondern ein Wissen darum, wie sich wichtige und maßgebende Personen des Hofes zu dieser verhielten. Folgt man dem erinnerten geselligen Ambiente in den Stadtpalais, Parkanlagen und am Hof, stößt man immer wieder auf dieselben fürstlichen und gräflichen Familiennamen der Liechtenstein, Schwarzenberg, Auersperg, Pallaviccini, Fürstenberg, Esterhazy, Pálffy, Khevenhüller, Festetics usw. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Familiennamen, dann bestehen die Lebenserinnerungen nicht nur aus gesellschaftlichen Veranstaltungen, sondern ebenfalls aus labyrinthisch erscheinenden Verwandtschaftsbeziehungen der Mitglieder der ersten Gesellschaft zueinander. So muß z. B. Gräfin Erdödy das recht ferne Rom besuchen, um erst- und einmalig auf noch „unbekannte Verwandte“481 zu stoßen. Dominic Lieven hat die hauptstädtische Adelsgesellschaft mit der Metapher des Dorfes gefaßt, in dem jeder mit jedem irgendwie verwandt ist, sich vornehmlich für die Angelegenheiten des Nachbarn interessiert, die eigenen Belange für außerordentlich bedeutend hält und mit Vorliebe Klatschgeschichten erzählt.482 Die in der Tat in beiden Texten herrschende Tendenz, Hof- und Gesellschaftsklatsch mitzuteilen, erschwert es, sie als Quelle im vorliegenden Untersuchungsrahmen zu nutzen. Mir scheint, daß der Klatsch nicht nur boulevardeske Unterhaltung bot, sondern auch eine Mitteilungsform des „Dorfes“ darstellte, Status- und Prestigefragen anzureißen, welche eine Einzelperson und die mit ihr verbundene Familie zum Kaiserhaus positionierte. So erzählt Fürstin Fugger: „Erzherzogin Isabella hatte nur einen großen Fehler: ihren maßlosen Ehrgeiz, der oft zu Unstimmigkeiten in der Familie führte … Mehr als Kummer und Enttäuschung bereitete ihr die Verlobung des Erzherzogs Franz Ferdinand mit ihrer Hofdame Gräfin Chotek. Sie war in höchstem Maße entrüstet; hatte sie doch die eheliche Verbindung des Thronfolgers mit 480 481 482

Vgl. Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 126ff. Erdödy (1929), S. 161. Lieven, Dominic, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt a. M. 1995, S. 198f.

3.4. Selbstpräsentationen

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einer ihrer Töchter gewünscht …“483 Interessant ist, daß nicht die künftige morganatische Gattin des Thronfolgers des „Ehrgeizes“ bezichtigt wird, sondern die Erzherzogin. Das heißt, Fugger beschreibt nicht Rangordnungskämpfe, sondern Statusbemühungen innerhalb der kaiserlichen Familie. Daß sie solche Interna erzählen kann, hängt mit Verwandtschaftsbeziehungen zusammen, die Fugger zumindest an die Peripherie des Kaiserhauses stellen. Die Erzherzogin war eine geborene Croy und verkehrte regelmäßig im mütterlichen Haus. Nicht zuletzt deshalb, weil Fürstin Hohenlohe-Bartenstein in zweiter Ehe einen Prinzen Croy heiratete. Johannes von Hohenlohe-Bartenstein, Fuggers Bruder, heiratete eine habsburgische Erzherzogin aus der toskanischen Linie.484 Die verwandtschaftlichen Verbindungen zum Kaiserhaus gingen mit freundschaftlichen einher. Sie beziehen sich vor allem auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, und viele in den Text eingeschobene Briefe sollen diese Freundschaft bezeugen.485 Fugger war durchaus eine Vertreterin des Ebenbürtigkeitsprinzips. Wenn Gräfin Chotek kaum erwähnt wird, dann aus einer Haltung heraus, die hochadelige Nicht-Prinzessin einer strengen Normierung nicht für Wert zu befinden und dem Thronfolger gegenüber loyal zu sein. Man müßte solche ‚Dorfgeschichten‘, die hier angedeutet sind, systematisch untersuchen, um zu prüfen, inwiefern die Verknüpfungen eines Gruppenmitglieds mit anderen tatsächlich ein soziales Kapital darstellten, welches zum Spiel um Status und Prestige befähigte. An dieser Stelle kann man sich damit begnügen, daß die Nähe zum Thron die Präsentationen der Hofgängerinnen anleitete. „Einen vertraulichen Verkehr des Kaisers und seines Hauses mit anderen Sterblichen gab es nicht. Die wenigen Ausnahmen bestätigen nur die Regel“486, schreibt Fugger und zeigt sich seitenlang als Ausnahme. Neben dem Thronfolger ist es der Kaiser, dem ihre Aufmerksamkeit gilt. Seine Unnahbarkeit ist ihr Quelle ihres sozialen Ansehens, Grundlage der Distinktion und Distanzierung vom gemeinen Lesepublikum.487 Man kann die Texte Fuggers und Erdödys durchaus als Beleg für die Fortexistenz eines höfischen Habitus lesen. Allerdings trifft hier nicht mehr zu, was Elias als eine Bedingung höfischer Verhaltensweisen benannt hat, nämlich die dauerhafte Gebundenheit an den Hof bzw. die fehlenden räumlichen Ausweichmöglichkeiten, sofern man es nicht ertrug, ohne den Prestigegeber „Hof“ zu leben.488 Wenn auch in den Erzählungen nicht im Vordergrund stehend, so waren Fugger und Erdödy doch hofunabhängige Personen in ihren Familienbesitzungen und dortigen Verkehrskreisen, die bei allen Überschneidungen nicht identisch mit der ersten Gesellschaft Wiens waren. Für beide war der Hof wichtiger Orientierungspunkt und wie für viele Hochadelige in der Habsburger Monar-

483 484 485 486 487 488

Fugger (1932 / 1980), S. 134. Dies., S. 82, 132, 410. Dies., S. 298–335, passim. Dies., S. 100. Vgl. dies., S. 358–406; in vergleichbarer Logik: Erdödy (1929), S. 96–107, S. 177ff. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 151f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

chie im 19. Jahrhundert Teil ihrer sozialen Existenz.489 Liest man die Lebenserinnerungen Gräfin Oriolas, die regelmäßig am Berliner Hof verkehrte, dann findet sich Beleg um Beleg, daß Hofgängerinnen sehr wohl Innerlichkeit und Selbstreflexion in die Darstellung integrierten und der „innerweltliche[n] Sinn“ (Elias) nicht durch den Hof, sondern durch das Familiäre gestiftet wurde. Und der Text der jahrelang am (Schweriner) Hof bestallten Obersthofmeisterin Paula von Bülow zeigt, daß das höfische Dasein nicht Selbstwert war, sondern Gegenstand der Selbstreflexion, die den Verlust individueller Freiheit betonte.490 Diese Abweichungen vom höfischen Menschen Eliasscher Prägung sprechen nicht gegen dessen Fortexistenz, sondern für eine Lesart. Für eine empirische Beschreibung tatsächlicher Personen bzw. eines konkreten Habitus wird der höfische Mensch des Ancien Régime kaum mehr hilfreich sein, wohl aber als ein Ideal, das das Verhalten von höfisch orientierten Adeligen nach wie vor regulierte. Gerade bei solchen autobiographischen Texten, die die Individualgeschichte in den Hintergrund drängen, sind die Überlegungen von Elias nützlich, um die Geschichten von Bällen, Festen und Salons in einen anderen als den offenkundigen Verstehenszusammenhang zu rücken. 3.4.4.2. Hofgängerinnen (II) Doch im Fahrwasser von Elias zeigt sich zum einen das Problem, daß, wenn man Hofgängerinnen als soziale Einheit faßt, alle möglichen Aktivitäten am und bei Hof als Praktiken des Prestigegewinns resp. -verlustes erscheinen. Zum anderen entsteht eine gewisse Strukturlastigkeit: Memoiren erweisen sich als Effekt höfischen Drucks und Zwangs, nicht aber als eine akteursgenerierte, durchaus affine Entscheidung im Feld autobiographischer Gebrauchsweisen um und nach 1900. Die Befunde auf den vorangegangenen Seiten enthalten beide Probleme. Im folgenden wird eine akteursgeleitete Lesart skizziert, die nicht den höfischen Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, sondern zwei hochadelige Verfasserinnen, die ihre Lebenserinnerungen nach der (auch) adelsgeschichtlichen Zäsur von 1918 geschrieben haben. Der Referenzautor ist in diesem Fall Péter Esterházy, dessen im Jahr 2000 zuerst veröffentlichter (Familien)Roman „Harmonia Cælestis“ eine Fülle von Anregungen für eine kulturhistorisch interessierte Adelsforschung enthält. Das vierte Kapitel des zweiten Teils erzählt von einer politischen Laufbahn des ungarischen Magnaten Esterházy bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, die um 1900 begonnen hatte, als der noch junge Mann in den Staatsdienst der k. u. k.-Monarchie eintrat. Thematisch umspannt der Zeitraum vor allem den Untergang des Habsburger Reiches und die Folgeprobleme für Ungarn (seit 1920 formal eine Monarchie mit vakantem Thron) zwischen den Weltkriegen. In dieser 489

490

Stekl, Der Wiener Hof in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Möckl (Hg.), Hof und Hofgesellschaft, S. 56; Ders., Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel, S. 153f. Vgl. Bülow (ca. 1915 / 1924), S. 65–120. Zur subjektiven Erlebnis- und Erfahrungsdimension von Hofdamen vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 134–140.

3.4. Selbstpräsentationen

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Spanne erlebt sich der Protagonist zunehmend eher als Beobachter, denn als Agent des Geschehens.491 Das Kapitel beginnt: „Was soll man machen, wenn die Welt einstürzt, die Erde sich auftut, die Flüsse über die Ufer treten … […] Wenn er ehrlich ist und auch sehend, dann sieht er auch, daß diese Welt nicht mehr seine Welt ist, daß sie aber scheinbar dennoch durch ihn zusammengehalten wird. Scheinbar; wenn er also ehrlich ist und auch sehend, stellt er sich die Frage: wozu. Nein. Wer wozu sagt, ist ein Revolutionär oder depressiv. Und wenn es kein Wozu gibt, dann gibt es entweder Arbeit, man tut, was zu tun ist, als wäre gar nicht geschehen (aber es war! es war was geschehen!), oder aber es folgt das Amüsement, eingebettet in obligatorische Resignation.“492 Der Protagonist erlebt den Untergang seiner Welt in einem recht apokalyptischen Ausmaß. Und dieser Untergang beginnt weit vor 1914, weit vor dem Tod des Kaisers 1916. An anderer Stelle heißt es dazu: „Die Auflösung [der Monarchie, M. K.] setzte schon ein, bevor der Körper eine Leiche war.“493 Der Autor spielt mit vielen literarischen Traditionen und Vorbildern. Im vierten Kapitel dürfte er – die Untergangsmetapher und -erzählung sprechen dafür – auf den sog. habsburgischen Mythos Bezug nehmen. Mit diesem wird in der Literaturwissenschaft ein Spezifikum österreichischer Literatur zwischen den Weltkriegen bezeichnet. Das Verschwinden der realen Grundlage „Habsburg“ habe eine Literatur hervorgebracht, die sich der Gegenwart verweigert und den Vielvölkerstaat auf verschiedene Weise verklärt. Joseph Roth gilt als exemplarischer Vertreter des Mythos.494 Doch während Roth im „Radetzkymarsch“ (1932) das junge Geschlecht der Trotta mit der Monarchie untergehen läßt, weil es für einen Trotta sinnlos ist, ein Leben ohne Monarchen zu führen, überlebt der Protagonist Esterházy beim Autor Esterházy. Der Aristokrat verhält sich zu einer monarchenlosen Welt, die nicht mehr die seine ist. Diese Haltung kann man eskapistisch und fatalistisch nennen, aber nicht ohnmächtig oder sinnlos. Sie stellt ein aktives und reflektiertes Selbst-Welt-Verhältnis dar. In dieser Situation kann man nicht mehr von einem „unreflektierten Existenzialismus“ sprechen, den Elias als Aufbaugesetzlichkeit elitärer Einheiten betrachtet. Wozu, zu welchem Zweck soll der Protagonist Esterházy seine Augen für eine nicht mehr von ihm zusammengehaltene Welt öffnen? Im sukzessiven Niedergang begriffen, wird aus der Tatsachenaussage von Elias – „[m]an fragt nicht über dieses Dasein hinaus nach einem 491 492 493 494

Esterházy, Péter, Harmonia Cælestis, 3. Aufl., Berlin 2004, S. 649–685. Ebd., S. 650. Ebd., S. 667. Begriff und These des „habsburgischen Mythos“ gehen auf die Dissertation „Il mito absburgico nella letteratura Austriaca moderna“ (1963) von Claudio Magris zurück. Vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin, Abschied von Habsburg, in: Weyergraf, Bernhard (Hg.), Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, München 1995, S. 483–548. – Im „Radetzkymarsch“ (1932) von Joseph Roth ist es der Protagonist Graf Chojnicki, der den Untergang der Monarchie vorwegnimmt: „ ,Aber sie [die Monarchie] zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach durch das Wunder, daß er auf ihm noch sitzen kann. … [D] ie Zeit will uns nicht mehr!‘ “ Vgl. Roth, Joseph, Radetzkymarsch, 22. Aufl., München 2007, S. 195f.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

weiteren innerweltlichen Sinn“ – ein Fragehorizont. Der „Selbstwertcharakter des bloßen sozialen Daseins“ ist nicht mehr Effekt des sozialen Drucks von unten und oben495, sondern Antwort in einer und auf eine entsicherte Adelswelt. Der Protagonist Esterházy trifft eine Entscheidung (weder Revolutionär noch depressiv) und entwirft als Sinngebung seines Lebens ein bewußtes Für-sich-Sein. Vor der Folie von Autor und Protagonist Esterházy sind Fugger und Erdödy Subjekte ihrer erinnerten Lebensgeschichte und das Verhaltensregulativ „höfischer Mensch“ in diese hineingewoben. Allerdings schrieben beide Verfasserinnen ohne literarischen Anspruch. Sie nehmen den Untergang der Monarchie nicht vorausahnend vorweg, sondern dieser vollzieht sich mit den Ergebnissen des Weltkrieges und wird partiell der Sprachlosigkeit überverantwortet: „[D]as alles ist so erschütternd, daß ich es zu schildern außerstande bin.“496 Vor diesem Hintergrund leisten beide eine retrospektive Sinngebung, die wie beim Romanprotagonisten, der hingegen mit einer prospektiven Haltung zur Welt ausgestattet ist, in einer entsicherten Adelswelt der Gegenwart wurzelt. Für Erdödy stellen tschechoslowakische Bodenreform sowie ungarische Räterepublik bis in die Schreibgegenwart wirkende Erschütterungen ihres Weltverständnisses dar.497 Fuggers Gegenwartsdeutung ist eine generelle. Dem „Elend und all de[m] Jammer von heute“498 stellt die den „Glanz der Kaiserzeit“, so der Titel der Erinnerungen, gegenüber. Gemeinsam teilen die Verfasserinnen den Verlust der durch den Hof existierenden ersten Gesellschaft Wiens, der im von beiden erinnerten Festtag des ersten Maies zum Ausdruck kommt. Im Heute gehöre der 1. Mai „den Sozialdemokraten“, sei er ein „roter Feiertag und damit als Freudentag begraben“.499 Im Gestern gehörte der Tag „noch der großen Welt“, die mit sog. Praterauffahrten (festlich geschmückte Equipagen, elegante Toiletten der Damen und Herren) dem Frühling huldigten.500 Im Heute sei „all der Glanz“ fort, stünden die „schönen Paläste …, in denen einst fröhliches Leben herrschte […] leer und verlassen da“.501 Es ist dieses Verhältnis von glanzloser Gegenwart und glänzender Vergangenheit, in der die memoirenhafte Form Gestalt annimmt. Ihr habe, so Fugger, „die Sonne des wahren Glücks … nie geschienen“; damit wird eine andere, Innerlichkeit zum Gegenstand habende Autobiographik angedeutet, aber nicht geschrieben.502 Es sind nicht zuerst höfische Strukturen, welche die Erinnerungsform hervorbringen, sondern Gegenwartsdeutung und -wahrnehmung, in der die höfische Gesellschaft zu existieren aufgehört hatte. Angesichts dieses Verlustes profilieren Fugger und Erdödy ein Hof- und Hochadelig-Sein, das zwar von vergangenen Prestigefragen durchdrungen ist, dem aber ebenso zwei verschiedene

495 496 497 498 499 500 501 502

Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 156f. Fugger (1932 / 1980), S. 439; ähnlich bei: Erdödy (1929), S. 201. Vgl. Erdödy (1929), S. 246–249 (Bodenreform), S. 219–243 (Republik). Fugger (1932 / 1980), S. 17. Erdödy (1929), S. 131; Fugger (1932 / 1980), S. 39. Erdödy (1929), S. 131; vgl. eine ausführliche Beschreibung bei Fugger (1932 / 1980), S. 29–39. Fugger (1932 / 1980), S. 6f. Fugger (1932 / 1980), S. 83f.

3.4. Selbstpräsentationen

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Haltungen erschütterten Seins immanent sind. Die eine betont vor allem die Freude am Dasein, die Lust an jeder Bestätigung des Lebens. Die andere unterstreicht eine immerwährende Existenz hochadeliger Familien. Zur Betonung der Lebensfreude: Erdödy schildert die Rangordnung am Wiener Hof und kommentiert diese: „Solche Dinge mögen vielleicht einem Außenstehenden kindisch erscheinen, aber sie sind schließlich, vom Standpunkte der Ordnung aus betrachtet und um jeweilige Kränkungen ehrgeiziger Gemüter und Eifersüchteleien zu vermeiden, eben doch wieder notwendig. […] Man möge etwaige Irrtümer … verzeihen. Wer beherrscht aber auch das ganze verzwickte ‚spanische Hofzeremoniell‘? Höchstens der Oberzeremonienmeister!“503 Wenn man bedenkt, welche Wirkungsmacht Elias Rang und Zeremoniell einräumt, dann zeigt Erdödy sich selbst in einer desinteressierten Haltung. Nach wie vor ist der Hof eine nicht zu unterschätzende Ordnungsinstanz und Formgeber, doch nicht mehr Prestigegeber (beispielsweise finden in beiden Texten keine ernsthaften Positionskämpfe statt). Dies ist keineswegs ein Zeichen der Bedeutungslosigkeit, das widerspräche den Lebenserinnerungen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Für Fürstin Fugger war der österreichische Hof „in seiner Art und Pracht in der Welt einzig“.504 Und dieser Glanz lag nicht zuletzt an der exzeptionellen Stellung des Wiener Hoch- und Hofadels. In beiden Texten wird durchgängig ein Adel geschildert, der nicht nur über Geburt verfügte, sondern ebenso über materiellen Reichtum und daraus resultierender Lebensart. Damit verfügte dieser Adel über Qualitäten, die etwa im preußischen Kleinadel kaum mehr anzutreffen waren. Von einer Kultur und einem Kult der Kargheit, welche die letztgenannte Gruppe habituell in Realität und Ideologie kennzeichnen soll505, ist hier nicht zu sprechen. Am Wiener Hof verkehrten nur „die vornehmsten Geschlechter“ aus allen Teilen der Monarchie, die nicht nur dem Hof, sondern auch der Stadt Wien das „glänzende Gepräge“ gaben. Fugger schildert einen Hofadel mit Ausstrahlungskraft, dessen „Vornehmheit“ nicht nur vom niederen Adel und Bürgern anerkannt, sondern auch nachgeahmt wurde. Im Wien Fuggers war der hohe Adel noch Vorbild in „Haltung“, „Gebräuchen“ und „Lebensführung“.506 Das heißt, die erste Gesellschaft besaß Prestige. Erdödys desinteressierte Haltung gegenüber der Rangordnung ist ein Zeichen dafür, daß man Ansehen einfach hatte – und zwar in so hohem Maß, daß man sich um die Pflege und Stärkung desselben nicht bekümmern mußte, sondern seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen konnte, z. B. ein angenehmes und heiteres Leben führen. In beiden Texten zeigt sich ‚Hochadelig-Sein‘ als Betonung der Lebensfreude. Reichtum ist für eine solche Haltung sicher nicht die schlechteste Voraussetzung. Doch ist es der Wegfall des Hofes, an den die erste Gesellschaft in ihrem Selbstverständnis gebunden war, der diese Haltung in verstärktem Maße hervorbrachte. Bei Erdödy und Fugger changieren die gegenwartsbezogenen Untertöne 503 504 505 506

Erdödy (1929), S. 125f. Fugger (1932 / 1980), S. 100. Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 90–103. Fugger (1932 / 1980), S. 10–13.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

zwischen Spott und Resignation, der retrospektive Oberton aber ist entschieden amüsiert. Aufgeführt wird keine opera seria, sonder die opera buffa. Fuggers Großkapitelüberschrift „Leben und Treiben in der Hofgesellschaft“ ist zugleich Programm. Man findet Vergnügen an Bällen, Ställen und Pferden, an Ballett, Praterfahrten und Maskeraden; in den Palais erfreut man sich an drolligen Verwicklungen und pikanten Geschichten, gibt man sich harmlos-eitel, heiter-vergnüglich, spritzig und witzig und immer auch ein bißchen boshaft. Der Hof bzw. die höfischen Feste gaben dem „Leben und Treiben“ wieder Ordnung und Form. Die Gesellschaft stellte sich der Aufgabe, den Glanz des Hofes zu erhöhen. Das recht profane Vergnügen an einem Ball wurde veredelt, wenn der Einzug des Hofes die Festsaison eröffnete. Man hatte teil an Pracht, Schönheit und Erhabenheit.507 Der Hof blieb, wie gesagt, Ordnungsinstanz und Formgeber. Doch betrachtet man die Palais als seinen Vorhof, dann gewährte er seinen Zugehörigen die Freiheit, nach eigener Fasson zu leben. Die Hofgängerin Fugger teilt zum Textende zwei ihrer lebenslangen „Leidenschaft[en]“ mit – das ist „die Freude am Tanz und schönen Festen“ und jene für den „Reit- und Jagdsport“.508 Von diesen Leidenschaften, und nicht nur von Prestigefragen, ist dieser Text getragen. Unter Rückgriff auf Esterházy ist versucht worden, eine Haltung betonter Lebensfreude deutlich zu machen, die verstärkt auf eine aus den Fugen geratene Hochadelswelt entstand. Insbesondere bei Fugger scheint der „höfische Mensch“ von einem ‚hedonistischen Habitus‘ überlagert zu werden. Vor der Folie „Adeligkeit“ ließe sich nach ‚Kultur und Kult des Hedonismus‘ fragen. Es wäre dies ein Leitbild, getragen von einem Hof- und Hochadel, der seine höfische Verhaltensorientierung verlor, nicht aber seinen Reichtum und die damit verbundene Lebensart. Zur immerwährenden Existenz hochadeliger Familien: Der Autor Esterházy läßt seinen Protagonisten in der zumutenden Gegenwart tun, „was zu tun ist, als wäre gar nichts geschehen“.509 Er geht seiner politischen Tätigkeit nach und kümmert sich um die Angelegenheiten seiner weitverzweigten Familie. Wenn sich Erdödy nicht an Feste erinnert, dann an ihre Familie. Diese bildet stärker als bei Fugger einen zweiten Erzählungsstrang. Im Grunde belegt er (und ist so konzentriert in anderen Texten nicht zu finden) die bereits am Anfang des Kapitels vorgestellten Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses. Die historische Tiefe und Weite reicht bei den Oberndorffern und Erdödys ins beginnende 14. bzw. ausgehende 12. Jahrhundert. Auf die durch enge Heirats- und Verkehrskreise produzierte Größe der Familie verweisen kaum nachvollziehbare Verwandtschaftsbeziehungen. In Gestalt von Josef Erdödy, unter Kaiser Franz II. ungarischer Minister, Ritter vom Goldenen Vlies usw., zeigt sich der Glanz der Familie und der ‚Familie des Adels‘.510 Doch stellt Erdödy vornehmlich die horizontale Dimension von ‚Familie 507 508 509 510

Vgl. z. B. Erdödy (1929), S. 124ff., S. 152ff. Fugger (1932 / 1980), S. 407. Esterházy, Péter, Harmonia Cælestis, S. 650. Erdödy (1929), S. 250–256, S. 109, passim.

3.4. Selbstpräsentationen

209

haben‘ aus. Es ist dies ein weitere Hinweis darauf, daß im (Hoch)Adel die Produktion und Pflege von ‚Leuchttürmen‘ eine stärker männliche Angelegenheit war. An einem Beispiel soll verdeutlicht werden, wie Erdödy Weite und Größe, mithin die immerwährende Existenz hochadeliger Familien, erzählerisch hervorbringt. Kurz vor ihrer Verlobung mit Franz Erdödy im Jahr 1853 erinnert sie einen Besuch „bei den Verwandten Leoprechting“: „So fuhr ich denn eines Morgens … nach dem altehrwürdigen Schlosse Pöhring, wo mich Karl Leoprechting und dessen junge Gattin Fanny erwarteten und mir ihr allerliebstes zweijähriges Söhnchen Ernst als dreifachen Neffen vorstellten, denn zwei seiner Urgroßmütter waren Schwestern meines Großvaters Christian Oberndorff gewesen. Da ich schon längere Zeit Fanny nicht gesehen hatte, so gab es gar viel zu erzählen. Als erstes erfuhr ich, daß sie jetzt ihre Mutter (Ernestine Erdödy, geborene Freie von Lerchenfeld-Preunberg) und ihre jüngsten Schwestern Sophie (nachmalige Gräfin Seinsheim) und Nesty (spätere Gräfin Walderdorff) erwarte.“511 Wenn Erdödy Familie thematisiert, dann handelt es sich zumeist um Anlässe wie Besuche, Hochzeiten, Todesfälle und die Geburt von Kindern. Hierbei geht es kaum jemals darum, was die Familienmitglieder über Emotionen, gemeinsame Interessen oder sonstige Inhalte miteinander verbindet, sondern darum, daß sie auf bestimmte Weise miteinander verbunden sind. Im zitierten Beispiel scheint das sich stets wiederholende Muster auf. Die schlichte Nennung von Namen und Verwandtschaftsgrad weist der einzelnen Person eine Position im Familiengefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu. Doch schon allein die Rekonstituierung derjenigen Beziehungen, die aus dem Sohn einen dreifachen Neffen machen, ist derart komplex, daß ihre Darstellung, die ohnehin ermüden würde, an dieser Stelle unterbleibt.512 Auf jeden Fall waren die Familien Oberndorff und Erdödy bereits eng verwandt, bevor die Verfasserin heiratete. Im Erzählungsverlauf stellen sich durch die Schwestern ihres Mannes und die Eheschließungen ihrer Brüder, Söhne und Töchter Verbindungen zu mindestens folgenden gräflichen Familien her: Pallaviccini, Festetics, Arco-Zinneberg, Migazzy, Khevenhüller, Draskovich, Hardegg.513 Diese Verbindungen gründeten teils auf Verwandtschaft, teils auf Freundschaft und vor allem wurden Kinder geboren, die die Zukunft der Familie sicherten. (So ist die Seite 196 fast vollständig mit den Vornamen der Enkelkinder gefüllt.) Erdödy profiliert also ein ‚Hochadelig-Sein‘, das, beruhend auf der Wahrung von Heirats- und Verkehrskreisen und der generationellen Sicherstellung, angesichts einer prekären Gegenwart nicht Führung beansprucht, wohl aber die Unmöglichkeit des Untergangs der Gruppe behauptet. In diesem Zusammenhang kommt der herausgestellten Nähe zum Thron eine andere Bedeutung zu. Sie ist nicht ausschließlich Quelle sozialen Ansehens, sondern bezeichnet auch ein Treue- und Loyalitätsverhältnis zur Dynastie. Persönliche Beziehungen, die auf ihren Vater und ihre Schwiegermutter zurückgingen und in der 511 512 513

Ebd., S. 66f. Das komplexe Gefüge kann man sich auf den ersten 66 Seiten der Erinnerungen im Wortsinn erarbeiten, denn eine einmalige Lektüre genügt keinesfalls. Erdödy (1929), S. 136, 140, 170, 172, 186, 194.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

Adelslogik auf sie „vererbt“ wurden, verbanden Erdödy, die zweifelsfrei monarchischer Gesinnung war, mit Mitgliedern der Häuser Wittelsbach, Wettin und Habsburg.514 Ihr Ehemann war aufgrund der Freundschaft zwischen Ernestine Erdödy und Erzherzogin Sophie in seinen Kindertagen ein „Gespiele des nachmaligen Kaisers“. Der vormalige Kaiser Franz II. besuchte den Staatsmann Josef Erdödy und „getreuen Vasallen“ 1802 auf dem Familiensitz Galgócz. Knapp 90 Jahre später ist Schloß Galgócz anläßlich eines Hofmanövers Hoflager für Franz Joseph I. „Das waren unsere Kaisertage“, kommentiert Erdödy die Beziehung zwischen Gestern und Heute. Ihr mittlerweile erwachsener Sohn empfängt auf seinem Schloß Erzherzog Karl und veranstaltet ihm zu Ehren eine Jagd. Der künftige Kaiser und König soll den Erdödys „zeitlebens treue Zuneigung“ bewahrt haben.515 Die von der Verfasserin ausgestellte generationenübergreifende Dauerhaftigkeit der Beziehungen läßt die Lesart zu, daß zum ‚Hochadelig-Sein‘ ein Selbstverständnis gehörte, sich als eine bis auf Widerruf dezente Elite zu begreifen. Sollte es Gott oder einer anderen Instanz einfallen, die dynastischen Familien wieder in ihr Kaiser- bzw. Königtum einzusetzen, dann stünde ein sich durch Treue und Loyalität auszeichnendes Reservoir bereit, aus dem geschöpft werden könnte. 3.4.4.3. Hofgängerinnen (III) Im Vergleich zu den bisher thematisierten Erzählungsräumen ist die Bedeutung von Geschlecht am und bei Hof marginal, der Exkurs an dieser Stelle sachlich begründet. Daß Erdödy und Fugger nach der Zäsur von 1918 schreiben, ist m. E. nicht ausschlaggebend. Denn die ebenfalls als Hofgängerin zu bezeichnende Gräfin Oriola schrieb vor 1918 und eine Geschlechterpolarität, die das eigene Agieren behinderte oder bevorteilte, ist auch hier nicht zu erkennen. Das trifft ebenfalls auf die Verfasserinnen zu, die dem Hof in ihren Erinnerungen weniger Platz einräumen. Eine Erklärung liegt zweifellos darin, daß es die adelige Geburt war, die zum Eintritt in die höfische Öffentlichkeit berechtigte. Über das Kriterium des Verdienstes waren zwar auch bürgerliche Beamte und Offiziere hoffähig, doch im Ganzen blieb der Hof im 19. Jahrhundert eine Domäne des Adels.516 Frauen in Hofämtern (v. a. Hofdamen, Palastdamen) waren aus eigenem Recht hoffähig, doch generell ergab sich die Stellung von Frauen in der Hofrangfolge aus derjenigen des Gatten oder Vaters. Christa Diemel hat in ihrer Untersuchung verschiedener Hofrangordnungen und zeremonieller Feste gezeigt, daß Frauen gleichwertig neben den Männern an der repräsentativen Entfaltung monarchischen Glanzes partizipierten.517 Anders formuliert, der Hof als Ordnungsinstanz 514 515 516 517

Vgl. ebd., S. 17–19, S. 96–107. Ebd., S. 102, 109, 181, 190. Knapp: Wienfort, Der Adel in der Moderne, S. 135–139; Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 82–85. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 69ff., S. 90–102.

3.5. Zusammenfassung

211

und Formgeber klassifizierte und hierarchisierte die ihm zugehörigen Menschen zunächst nach ihrem Rang. Welche Wirkungsmacht dieses Ordnungsprinzip auf wahrgenommene Geschlechterdifferenzen in der höfischen Gesellschaft besaß, müßte untersucht werden. Auf jeden Fall strukturierte es das Selbstverständnis höfisch orientierter Frauen. – Gräfin Oriola erinnert eine mit ihren Söhnen unternommene Sommerreise im Jahr 1876 mit den Worten: „Aber was war das schön, mal nur Mensch zu sein, nicht Gräfin und Exzellenz!“518 Diese Äußerung ist ein prägnantes Beispiel dafür, daß der Hof einen sozialen Ort, eine Institution beschreibt, in dem Handelnde nicht fortwährend einen im zeitgenössischen Verständnis natürlichen Unterschied der Geschlechter konstruierten, sondern soziale Differenzen geltend machten. Ob Hof, Militär, Diplomatie oder Gutsherrschaft, in jedem dieser Räume konnten Frauen agieren, ohne auf ihre Geschlechtlichkeit reduziert zu werden. Das spricht nicht wider die im Adel vorhandene Geschlechterhierarchie, sondern dafür, daß statusadäquates Handeln in nach Rang und Titel oder nach Herrschende und Beherrschte hierarchisierten Räumen mehr Unabhängigkeit verlangte, als im bürgerlichen Konstrukt des Geschlechterverhältnisses vorgesehen war. Oriolas höfisches Selbstverständnis beruhte hierauf und unterstreicht nachdrücklich, was Erving Goffman wie folgt formuliert: „Die Person, die ein Mann braucht, um entsprechend seiner ‚Natur‘ handeln zu können, ist genau die Person, die ihn braucht, um entsprechend ihrer ‚Natur‘ handeln zu können. In dieser Weise sind Personen nur als geschlechtsbedingte Identitäten, nicht aber als solche aufeinander angewiesen.“519 Im Abschnitt zu Ehe und Kernfamilie wurde am Beispiel Oriolas geltend gemacht, daß die Orientierung am Leitbild der Liebesehe die Geschlechterpolarität verfestigen konnte. Oriola verlangte nicht den männlichen Prinzen, sondern den männlichen Mann und gab sich in ihrem Unterwerfungsbegehren als weibliche Frau. Am nach Rängen ordnenden Hof mit seinem Verhaltensregulativ „höfischer Mensch“ erscheint die Bipolarität aufgelöst. Das Nichtthematisieren von Geschlecht dürfte darin begründet sein, daß am Hof und im Vokabular Goffmans Menschen nicht als solche, sondern als herkunftsbedingte und rangbezogene Identitäten aufeinander angewiesen waren. Ab 1878 konstituierten 62 Rangstufen den Berliner Hof und seine höfische Gesellschaft.520 Eine Geschlechtergeschichte, die systematisch Ordnungen der Geschlechter im Adel untersuchen würde, könnte die byzantinische Rangordnung zum Ausgangspunkt nehmen. Womöglich war das Unikum der Hofgeschichte für Teilgruppen des Adels prägender als man sich gegenwärtig mit der gewohnten Schablone normenbefestigter Zweigeschlechtlichkeit vorstellen kann.

518 519 520

Arnim (ca. 1891 / 1937), S. 274. Goffman, Das Arrangement der Geschlechter, S. 129. Vgl. Röhl, Kaiser, Hof und Staat, S. 95ff.

212

3. Von den Möglichkeiten der Familie

3.5. Zusammenfassung Ausgangspunkt der Untersuchung in diesem Teil der Arbeit war die beobachtete Diskrepanz zwischen geschlechtergeschichtlichen und adelshistorischen Forschungspositionen einerseits und dem Quellenmaterial andererseits. Das Material sperrte sich gegen das Interpretament, wonach das Konstrukt polarer Geschlechtscharaktere im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer größere Wirkungsmacht entfaltete, die Gesellschaft als Ganzes ordnete und dem bürgerlichen Familienmodell, das etwa für Bürgerinnen und Bürger eine maßgebliche Handlungs- und Wertorientierung darstellte, zur ideologischen Verallgemeinerung verhalf. Auch war das Material wenig geeignet, dem Interpretament des ‚inneren Feindes‘ zu folgen, wonach das sich im Individualisierungsprozeß befindliche adelige Familienindividuum den Gruppenzusammenhalt bedrohte, indem es seine angestammten Bindungen verließ. Die beiden Interpretamenten eignende Dimension sozialer Repression kam in den Lebenserinnerungen selten zum Tragen. Die Ausblendung stand m. E. in engem Zusammenhang damit, daß adelige Frauen nicht einseitig auf ihre geschlechtliche Bestimmung festgelegt waren. Im Verlauf der Untersuchung sollte immer wieder deutlich werden, daß Ehefrauen im Adel nicht Ausgeschlossene vom, sondern Teilhabende am ‚Ganzen‘ waren. Das weitgefaßte „Familie haben“ bedeutete auf grundlegende Weise das Selbstverständnis der Akteure durchdringende Teilhaben in tradierten, von beiden Geschlechtern bewohnten adelskonformen Räumen. Diese Teilhabe gründete keineswegs einzig in den Selbstpräsentationen jeweiliger Lebenserinnerungen, sondern basal auf Familienverständnis und Familienstruktur, d. h. auf den Möglichkeiten der Familie im Adel. Vornehmlich anhand der Besonderheiten des adeligen Familienverständnisses wurde in einem ersten Schritt versucht, modellhaft strukturierende Aspekte einer weiblichen Normalbiographie herauszuarbeiten, welche die Rahmenbedingungen von Individualgeschichten und den Orientierungsrahmen für subjektive Perspektiven bildeten. Hierbei wurde die These vertreten, daß Frauen nicht auf den kernfamiliären Binnenraum festgelegt waren, sondern die soziale Anforderung zu meistern hatten, eine familiär vermittelte Position in der Adelsgesellschaft einzunehmen. Die adelige Familie als generationenübergreifende Geschlechterkette privilegierte ohne Zweifel die aktuellen Namensträger männlichen Geschlechts. Niemals die Herkunftsfamilie verlassend, sondern diese fortsetzend, oblag ihnen die Aufgabe, den aus der Vergangenheit überkommenen guten Namen in die Zukunft weiterzureichen. Die Logik des immerwährenden Namenerhalts korrespondierte im Adel mit einem sorgsam gepflegten Geschichtssinn, der Großtaten einzelner Männer hervorhob, um auf diese Weise die Leistungsfähigkeit sowohl der Familie als auch „des“ Adels unter Beweis zu stellen. Das Verständnis von Familie als Geschlechterkette besaß für Frauen drei grundlegende biographische Dimensionen. Erstens die von beiden Geschlechtern anerkannte höhere Wertschätzung der Männer für den Familienerhalt: Die weibliche Anerkennung ist ein Effekt des „Glanzes“ einzelner, der zwar mit Georg Simmel auf alle Mitglieder ausstrahlte, dessen Akkumulation aber den Männern vorbehalten war. Die Stilisierung männlicher Einzelleistungen zur Leistungsfähigkeit ‚des‘ Adels disponierte Frauen zur

3.5. Zusammenfassung

213

Akzeptanz männlicher Überordnung, weil mit der Stilisierung der Glaube an die kollektive Höherwertigkeit einherging und sie selbst nicht über die Mittel zur „Glanzsteigerung“ verfügten.521 Ein weibliches Aufbegehren gegen die Überordnung käme, negativ formuliert, der „Entzauberung“ der Adelswelt gleich. Das Prinzip Einzelleistung gleich Adelsleistung war nicht nur ein Instrument erfolgreicher Außen- und Selbstdarstellung, sondern hielt auch die interne Geschlechterhierarchie stabil. Zu dieser Stabilität trug nicht zuletzt eine Erziehungsarbeit bei, die nicht auf eine Steigerung der „weiblichen Bestimmung“ abzielte, sondern auf eine Passungsarbeit zwischen Individuum und Lebenswelt. Idealtypisch vereinigten adelige Frauen die gegensätzlichen Anforderungen weiblicher Unterlegenheit und herrschaftlicher Überlegenheit in sich, so daß männliche Dominanz nicht als maßlose Unterdrückung wahrgenommen werden mußte. Eine zweite biographische Dimension bestand in der Pflicht, als Ehefrau den Erben zu gebären. In der Logik der Geschlechterkette kam es nicht zuerst darauf an, als Ehefrau einen Binnenraum familiärer Emotionalität zu schaffen, sondern die Zukunft der männlichen Linie zu sichern. So der Erbe vorhanden war, konnten Gattinnen durchaus verstoßen werden. Die (Nicht)Anerkennung von Gattinnen und Müttern ruhte nicht auf weiblichen Sekundärtugenden, die Ehemännern das Leben verschönern sollten, sondern ganz basal auf der übernommenen Verantwortung, die Familie generativ fortbestehen zu lassen.522 Gewissermaßen als Ausgleich für die Reduktion auf das Gebären war die „natürliche Bahn“ für Gattinnen und Mütter offener strukturiert, als etwa im bürgerlichen Familienmodell verankert. Eine dritte biographische Dimension ergab sich aus dem adeligen Familienverständnis, hierunter die Gesamtheit verwandtschaftlicher Beziehungen zu fassen, die sich aufgrund vergleichsweise enger Heirats- und Verkehrskreise herausgebildet hatte. Heiratende Frauen stellten hier die Bindeglieder zwischen den Geschlechterketten her. Ihnen oblag hier, aber nicht exklusiv, die Pflege des faktischen wie symbolischen Familienzusammenhalts. Voraussetzung für diese Arbeit war eine „natürliche Bahn“, die nicht in Häuslichkeit mündete, sondern in der Teilhabe an einer exklusiven, nach unten distinkten Gesellschaft. Das gesellschaftliche Entree bezeichnete den Übergang vom Mädchen zur jungen Frau und symbolisiert wie kein anderes biographisches Ereignis die Integration von Frauen in die Adelsgesellschaft. In der subjektiven Erinnerungsperspektive stellte es das erste Ereignis dar, sich seines Selbst sozial zu vergewissern. Strukturierte die Familie Aspekte der „natürlichen Bahn“, so waren die Wegweiser soziale Verortung, Geschlechtsidentität und Eheanbahnung subjektive Bedeutungsträger, die eigene Biographie zu ge-

521 522

Zur Anerkennung symbolischer Herrschaftsbeziehungen vgl. Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft, S. 173ff. Die reduktionistische Sicht auf Frauen als Gebärerin kommt in den Erinnerungen hochadeliger Frauen stärker zum Tragen. „Zum Glück ist bei Prinzessinnen die Frage der äußerlichen Vorzüge nicht von unbedingter Wichtigkeit. Religion und festgegründete Gesundheit für künftige Mutterschaft sind die beiden Hauptfaktoren in der vorzuschlagenden Verbindung.“ Toscana (1911 / 1997), S. 40.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

stalten. Versagensangst, Neid, Glücksgefühle waren Emotionen, die vor allem den ersten Ball beherrschten. Sie leiteten die affektive Verzauberung, vollwertiges Mitglied der Adelsgesellschaft zu sein, ein. Diese Zugehörigkeit führte über kurz oder lang zu einer persönlichen Entscheidung darüber, auf welche Weise ein gutes, gelingendes Leben zu führen sei. Frauen, die in den Stand der Ehe traten, waren keine Strukturgehorcherinnen und Normerfüllerinnen, sondern Personen, die ihre Entscheidungen an Normalitätserwartungen orientierten. Diese Feststellung ist deshalb von Bedeutung, weil mir scheint, daß der „eigenständige Lebensentwurf“ bürgerlicher Provenienz, fokussiert auf den Dreiklang Berufstätigkeit, gesellschaftliche Partizipation, Emanzipation, den Blick darauf verstellt, daß der bürgerliche Geschlechterkonflikt zentral (und bis in die Gegenwart) um Erwerbsarbeit herum strukturiert ist, ein Problem, das – modellhaft – im Adel, in dem die Familie noch immer Verteilungsagentin für einen ‚standesgemäßen‘ Lebenstil war, nicht in der Ausprägung vorhanden war. Entgegen Conzes schlußfolgernder Auffassung, betrachteten sich Frauen im normalbiographischen Kontext nicht als zurückgesetzt, wenn sie weder studierten noch einen Beruf ausübten.523 Vereinfacht formuliert, traf der explizite Ausschluß von Bildung und ihren praktischen Ableitungen, der für Bürgerinnen eine fundamentale soziale Ungleichheitsdimension darstellte, Adelige nicht. An dieser zentralen Stelle blieb die „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ wirkungslos. Statt dessen sollte etwas anderes deutlich werden. Das gesellschaftliche Leben war für den Adel noch immer von hoher Bedeutung. Es war das Feld der Kontakte, Beziehungen und Selbstvergewisserungen und stellte den Raum dar, der die Geschlechter nicht trennte, sondern in dem sie interagierten. Ein mißlungenes Entree in der Gesellschaft, weil deren Mitglieder den adeligen Namen einer Person nicht anerkannten, stellte einen expliziten Ausschluß dar, der der Person aber nicht aufgrund ihres Geschlechts, sondern aufgrund ihres Namens widerfuhr. Im zweiten Schritt rückten Selbstpräsentationen in den als adelskonform verstandenen Erzählungsräumen in den Mittelpunkt der Darstellung. Im Kontext von Ehe und Kernfamilie besaß das „Familie haben“ die konkreten Dimensionen von Ehebeziehung, Häuslichkeit und Mütterlichkeit. Gerade im Vorfeld der Ehe wurde deutlich, daß das Ideal der Liebesehe in steter Spannung zu den Geboten adeliger Familienräson stand, aus der sich eine der großen Leiderfahrungen erinnerten Lebens speiste. Die Harmonie in der Hierarchie wurde als Ideal herausgearbeitet, mit dem Frauen ihre liebende und nichtliebende Ehebindung überwölbten und die ein Arrangement wechselseitigen Gebens und Nehmens sein sollte. Keine der Verfasserinnen stellte die weibliche Unterordnung in der Ehe infrage, doch ordneten sie sich nicht bedingungslos unter. Sie erwarteten von ihren Gatten ein Verhalten ‚verantwortungsvoller Männlichkeit‘. Dieses konnte zur Ausübung sanfter Herrschaft dienen, sollte aber ebenso dazu befähigen, daß sich Ehemänner in ihrer überlegenen Position selbst kontrollierten und disziplinierten. Daß das Eheideal praxisbezogen Freiräume erschloß und ermöglichte, wurde

523

Conze, Von deutschem Adel, S. 300 und S. 297.

3.5. Zusammenfassung

215

ex negativo an der Demontage von Männlichkeit deutlich. Mit den Zuschreibungen von Haltlosigkeit, mangelnder Willensstärke und fehlender Durchsetzungsfähigkeit nahmen Kronprinzessinnen eine semantische Entmannung an ihren verstorbenen bzw. geschiedenen Gatten vor, um zu unterstreichen, daß es deren verantwortungsloses Handeln gegenüber ihren Frauen war, welches zu Katastrophe und Skandal führte und ihre künftige Stellung als Kaiserin bzw. Königin verhinderte. Auf Häuslichkeit als maßgebliches Attribut von Weiblichkeit bezog sich eine Obersthofmeisterin, die mehr Jahre im höfischen Dienst als in der Ehe verbrachte. Häuslichkeit bedeutete hier idealisiertes Gegenbild: Das höchste weibliche Hofstaatsamt war für sie mit Abhängigkeit, Häuslichkeit hingegen mit Selbständigkeit und Unabhängigkeit verbunden. Jenseits des Gegenbildes stellte die eigene Häuslichkeit vor allem die Möglichkeit dar, die von beiden Geschlechtern praktizierte Geselligkeit zu pflegen. Die adelige Kernfamilie war sicherlich nie eine abgeschottete und bezog immer Freunde, Bekannte und Verwandte ein, vom gutsnachbarlichen Verkehr auf dem Land ganz zu schweigen. Wenn in der Familiensoziologie von einer ideologischen Verallgemeinerung des bürgerlichen Familienmodells um 1900 die Rede ist524, so betraf das wohl kaum adelige Kernfamilien. Vielmehr ließ sich, anknüpfend an die These von Trepp, die Vereinbarkeit von Familiarität und Soziabilität beobachten, die zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte auch die soziale und kulturelle Praxis im gehobenen Bürgertum bestimmte.525 Im Unterschied zu den meisten Bürgerlichen trat im Adel zur Soziabilität noch der Hof als institutionalisierte Form sozialen Umgangs hinzu. Der Hof wurde von adeligen Frauen als „Welt“, d. h. als eigentliche Adelsgesellschaft wahrgenommen. Häuslichkeit und „Welt“ wurden als Wechselbeziehung erfahren, in der sich häusliches Handeln am Hof orientieren konnte und höfisches Handeln auf Belange der Häuslichkeit verwies. Neben Häuslichkeit war Mütterlichkeit das sozio-kulturelle Leitbild schlechthin, mit dem nicht zuletzt die Frauenbewegung ihre Forderungen nach gesamtgesellschaftlicher Teilhabe legitimierte. Das an den Texten der Kronprinzessinnen beobachtete Phänomen elitärer Mütterlichkeit besaß eine andere Bedeutung. Die hochadeligen Verfasserinnen griffen auf das Leitbild zurück, um Nähe und Ähnlichkeit zur Großgruppe der Mütter herzustellen und sich zugleich von dieser zu distanzieren. Elitäre Mütterlichkeit war ein Distinktionsmerkmal, sich von der Masse der weiblichen Bevölkerung abzuheben. Frauen in herausgehobener dynastischer Stellung konnten hierüber ihren Anspruch bekräftigen, sich in Erfüllung repräsentativ-politischer Aufgaben ganz in den Dienst der Monarchie zu stellen. Auch konnten Herrschaftsfähigkeiten demonstriert werden, die zumindest symbolisch Klassengegensätze befriedeten und in ein emotionales Band zwischen Thron und Untertanen wandelten. Nach der Zäsur von 1918 mutete elitäre Mütterlichkeit bürgerlich an. Doch diese Anmutung zeigte sich unter Verwendung des Königin-Luisen-Kultes als

524 525

De Singly, Die Familie der Moderne. Vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 173–183 und S. 370ff.

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

genuin aristokratische Qualität, mit der versucht wurde, den monarchischen Gedanken in der weiblichen Bevölkerung aufrechtzuerhalten.526 Im Erzählungsraum männlich-weiblicher Tätigkeiten wurde vor allem herausgearbeitet, daß das Spektrum der Identifikationsmöglichkeiten für adelige Frauen in diesem Feld anders und größer war als für Ehefrauen im Bürgertum. Dabei ging es in erster Linie nicht um eine Klärung, warum dem so war, sondern zunächst einmal darum, zu zeigen, daß dem so war. Während sich bürgerliche Ehefrauen mit kernfamiliären und kulturellen Belangen identifizieren sollten und wollten527, präsentierten sich adelige Ehefrauen als Gutsherrinnen, Diplomatenfrauen und Offiziersfrauen. Mit den Selbstpräsentationen verorteten sie sich in tradierten adeligen Handlungsfeldern, die weit über den kernfamiliären Bereich hinausgingen. Diese wurden keineswegs als weibliche Grenzüberschreitung wahrgenommen, sondern bezeichneten ein Bindungsgefüge. Den Selbstbezeichnungen waren die sozialen Einheiten von Gutsherrschaft, Offizierskorps und diplomatischem Korps vorgängig. Im adeligen Selbstverständnis galten Ehefrauen von Offizieren und Diplomaten als sozial geforderte und anerkannte Korpsangehörige, und das Ideal der Gutsherrin wollte und sollte bis ins 20. Jahrhundert praktiziert werden. Dieses soziale Eingebundensein hatte zwar die Ehe zur Voraussetzung und Bedingung, bedeutete aber nicht zwingend, sich in Abhängigkeit vom oder im Gegensatz zum Ehemann zu definieren. Der Gebrauch des vergemeinschaftenden Personalpronomens „Wir“ markierte deutlich eine über die Ehe hinausgehende jeweilige Gruppenzugehörigkeit, in der Gutsherrinnen, „Chefeusen“ und „Kommandeusen“ eigenständige Verantwortungsbereiche wahrnahmen. Zwar folgten diese zumeist dem Denken der Geschlechterdifferenz, aber nicht dem Denken der Polarität. In Wahrnehmung und Deutung der Verfasserinnen stellten Gutsherrschaft und Korps überindividuelle Einheiten dar, für deren Erhalt und Bewahrung beide Geschlechter in unterschiedlicher Gewichtung, aber doch gemeinsam zuständig waren. In diesem relationalen Bindungsgefüge betrachteten Frauen, wenn auch nicht generell, so doch partiell, die Geschlechterbeziehungen als gleichwertig. Zugleich verliehen die gutsherrschaftlichen und korporativen Bindungen den Handlungs- und Wertorientierungen ihre anderen Bedeutungen. Das fürsorgerische, soziale und kulturelle Engagement der Gutsherrin zugunsten der Gutsangestellten und der Dorfbevölkerung ließe sich vor religiösem Hintergrund als altruistische, uneigennützige Handlung lesen. Doch die Gutsherrin begriff ihre Aktivitäten konsequent als herrschaftliches Handeln zu dem Zweck, eine patriarchalische Beziehung aufzubauen und zu stabilisieren. Ihre stellvertretende Gutsleitung in Abwesenheit des Gutsherrn machte überaus deutlich, daß von getrennten Sphären nicht die Rede sein konnte. Es waren gemeinsam geteilte landwirtschaftliche Interessen und ähnliche Fähigkeiten und Kenntnisse, die zur 526

527

Zur Stilisierung der Königin Luise nicht zur Mutter, sondern zur Politikerin durch konservative Frauenorganisationen in der Weimarer Republik vgl.: Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“, S. 286ff. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 156–165.

3.5. Zusammenfassung

217

Leitung befähigten. Diese Befähigung unterstreicht nachdrücklich, daß der im Adel gepflegte Glaube und das Vertrauen in seine Herrschaftsqualitäten nicht vor Frauen halt machten. Im diplomatischen Korps wurden die gesellschaftlichen Verpflichtungen und repräsentativen Aufgaben von Frauen und Männern getragen. Wenn die Diplomatenfrau ihrer repräsentativ-geselligen Aufgabe nachging, „ein Haus zu machen“, dann repräsentierte sie eben nicht in einer bürgerlichen Logik den beruflichen Erfolg ihres Ehemannes, sondern ging einer Facette ihres dem Korps verpflichteten Alltags nach: „Ein Haus zu machen“ repräsentierte das Ansehen der Gesandtschaft resp. des durch diese vertretenen Landes. Was für Diplomaten selbstverständlich war, galt auch für Diplomatenfrauen. Sie begriffen sich als öffentliche Person in der höfisch-diplomatischen Sphäre. Im Kontext dieses Erzählungsraumes hieß „Familie haben“ die aktive, verantwortungsvolle und eigenständige Teilhabe von Ehefrauen an Belangen der Gutsherrschaft und in den von männlichen Adeligen bevorzugten Berufsfeldern. Vor der Folie „Geschlechterpolarisierung“ stellt sich mit diesen Befunden die Frage, ob, wie, wann und wo im Adel des 19. Jahrhunderts eine „Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ (Karin Hausen) stattgefunden hat. Nicht zuletzt aufgrund des Agierens in männlich dominierten und konnotierten Handlungsfeldern zeigte sich „Familie haben“ auch in der Produktion von Heldengeschichten. Es waren Offiziersfrauen, die ihren im militärischen Dienst gestanden habenden Männern ein Denkmal setzten. In der Adelslogik des „Glanzes“ profilierten diese Frauen hierüber ihre Zugehörigkeit zu den Spitzenvertretern des Adels. Im Feld des Militärischen produzierten Frauen nicht nur Symbole und waren für repräsentative Aufgaben verantwortlich, sondern konnten auch am genuin Fachmilitärischen beteiligt sein. Als die Offiziersfrau begann, mittels Theaterspiel einfache Soldaten für den Kriegsfall geistig zu mobilisieren, war ihr nicht nur bewußt, daß sie als Frau Neuland betreten hatte, sondern auch, daß sie ihren Teil zur Schaffung des ‚neuen Soldaten‘ beitrug, der sich durch die Verinnerlichung militärischer Werte und Tugenden auszeichnen sollte. Mit der Agitation im Zentrum militärischer Männlichkeit kristallisierte sich m. W. ein neuartiges Handlungsfeld für Offiziersfrauen heraus, welches die Möglichkeit erschloß, Angehörige unterer Sozialschichten nach adeligen Vorstellungen zu disziplinieren. Auf jeden Fall stand das begründungsbedürftige Betreten von Neuland nur wenig unter geschlechterspezifischen Vorzeichen. Der Rückgriff auf Mütterlichkeit war partiell und entsprach m. E. eher einer gesellschaftlichen wie sprachlichen Konvention, die einzuhalten man angehalten war, um verstanden zu werden. Ausschlaggebender war die Legitimation mittels Familienzugehörigkeit. Das heißt, die Bezugnahme auf die Familie erwies sich als wirksamer als das Geschlecht, um den Handlungsspielraum der Offiziersfrau zu erweitern. Diese beanspruchte, daß sie im Einklang mit den militärischen Werten, Tugenden und Handlungsweisen ihrer männlichen Familienangehörigen stand, weil sie ihr in der Familie sozialisatorisch und erzählerisch vermittelt wurden, und sie selbst Zeit ihres Lebens fest in der militärischen Lebenswelt verankert war. Man kann die Identifikation mit männlich-militärischen Positionen als Artikulation weiblicher Machtphantasien

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3. Von den Möglichkeiten der Familie

verstehen528, doch das setzte die tatsächliche Ohnmacht von Frauen auf der Grundlage der polaren Geschlechterordnung voraus. In diesem Abschnitt wurde aber gezeigt, daß Ehefrauen (wie Ehemänner auch) in übergeordnete Einheiten eingebunden waren, die Teilhabe an männlich konnotierten Bereichen keine Grenzüberschreitungen darstellte, sondern zum Erhalt der jeweiligen Einheit beitrug. In diesem Gefüge prägten sich nicht nur Gefühle und Gewißheiten von Zugehörigkeit und Loyalität aus, sondern bewohnten Frauen und Männer auch einen Erfahrungsraum, dessen Schnittmenge in Hinblick auf Gemeinsamkeiten sicherlich weiter zu erkunden wäre. Nicht Phantasie, die jeden Erinnerungstext mitkonstituiert, sondern die Erfahrung von Einbindung und Teilhabe dürfte die Offiziersfrau dazu veranlaßt haben, ihr neuartiges Handeln unter Rückgriff auf ihre Familienzugehörigkeit zu legitimieren. Im Kontext des Militärischen war der artikulierte männlich-weibliche ‚Werteeinklang‘ sicherlich die passende und wirksame Begründung für eine Offiziersfrau, die nicht das soldatische Sein infrage stellte, sondern Soldaten zu militärischer Männlichkeit erziehen wollte. Nimmt man die Befunde dieses Abschnitts ernst, dann eröffnen sie ein weites Feld künftiger geschlechtergeschichtlich orientierter Adelsforschung. Landbesitz, Militär und Diplomatie waren alles andere als adelige Nebenschauplätze auf dem Weg in die und in der Moderne. Vielmehr stellten sie die zentralen Handlungsfelder dar, in denen sich die Geschicke des Adels auf lange Sicht entschieden.529 Die Teilhabe von Ehefrauen in diesen Bereichen paßt nur wenig zu den gängigen Vorstellungen moderner Geschlechterdifferenzen. Eine Vermutung, wonach die polare Ordnung eine besondere Wirksamkeit gerade bei adeligen Ehefrauen entfalten würde, fände sich wohl nur bedingt bestätigt. Zwar stellen die Befunde eher ein Nebeneinander von Momenten und Situationen, nicht aber Wandel und Entwicklung dar, doch weisen diese größere Ähnlichkeiten mit den von Heide Wunder herausgearbeiteten vormodernen Geschlechterbeziehungen auf, als die von Ute Frevert formulierte Trennung der Geschlechter in der Moderne.530 Das heißt, eine Arbeit, die geschlechtergeschichtliche Entwicklungslinien im Adel des 19. Jahrhunderts etwa im Fokus von Professionalisierungsdynamiken untersuchen würde, hätte ihren Ausgangspunkt in solchen Konstellationen zu suchen, die das frühneuzeitliche „Herrschafts- und Arbeitspaar“ hervorgebracht hatten. Die Befunde zum sozialen Engagement wurden bereits im entsprechenden Abschnitt differenziert im Kontext von Frauen- und Geschlechtergeschichte und Adelshistoriographie formuliert und eingeordnet. Im folgenden wird deshalb ein zentrales Ergebnis in starker Vereinfachung hervorgehoben. Es ist dies das Zusammenwirken von Adels-, Geschlechts- und Familienzugehörigkeit.

528 529 530

Diese psychoanalytische Deutung wird knapp von Ute Planert auf dem Hintergrund weiblicher Politisierung angerissen. Vgl.: Planert, Vater Staat und Mutter Germania, S. 23. Vgl. im Überblick: Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Wunder, Heide, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“, S. 262–268; Frevert, Ute, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, bes. das Kapitel „Kulturfrauen und Geschäftsmänner“, S. 133–165.

3.5. Zusammenfassung

219

Im Feld des Sozialengagements waren mehrere Akteure aktiv, doch genügt hier die Konzentration auf Adelige und Bürgerliche. War der vorangegangene Erzählungsraum wie auch der nachfolgende des Hofes frei von Bezugnahmen zu bürgerlichen Gruppen, was generalisierend den bleibenden Erfolg des Adels in diesen Feldern unterstreicht, zeichnet sich dieser Raum durch bürgerliche Herausforderungen aus, die ein Indiz dafür sind, daß auch im Handlungsfeld der Wohltätigkeit Adelige und Bürgerliche um Einfluß und Macht konkurrierten. Ließ sich die Geschichte adeliger Ehefrauen bisher als Geschichte teilhabender Akteure im Kontext von Kernfamilie und solchen Bindungsgefügen schreiben, in denen Adelige in der Wahrnehmung und Deutung der Autobiographinnen weitgehend unter sich blieben bzw. Angehörige anderer Sozialgruppen dominierten, läßt sich diese Frauengeschichte von hier aus als adelig-bürgerliche Beziehungsgeschichte schreiben. Das heißt, der Gegenstand „Wohltätigkeit“ perspektiviert geschlechtergeschichtlich orientierte Forschungen zum Thema Elitenbildung und Elitentransformation. Wirkten Ehefrauen bisher eher in adeligen Binnenräumen und auf diese ein, stellte das Sozialengagement, weil die sozialen Fragen gesamtgesellschaftlich relevant waren, eine Möglichkeit dar, in die Gesamtgesellschaft hineinzuwirken. In Ansätzen sollte deutlich geworden sein, daß Wohltätigkeit ein offeneres und dynamischeres Handlungsfeld darstellte, als die Bindungsgefüge von Ehe, Militär und Diplomatie. Bei allen Gestaltungsmöglichkeiten, die Letztere mitkonstituierten, so ruhten doch diese Gefüge auf vorgängigen sozialen Einheiten. Eine Ehe zu schließen oder einem Korps beizutreten bedeutete immer auch, als Person in eine bestimmte Form einzugehen, die Handlungs- und Verhaltensweisen nach Geschlecht und Rang regulierte. Gerade der Sektor ehrenamtlicher Wohltätigkeit war aber keine soziale Einheit, sondern allenfalls – das unterstrich die zeitgenössische Kritik am „Wohlfahrtsrummel“ – in der Formierung begriffen. Anders als etwa die Existenz einer Gesandtschaft hing die Existenz von Wohltätigkeitsvereinen stark vom persönlichen Engagement und den eingebrachten Fähigkeiten und Fertigkeiten ab. Die Selbstpräsentationen von Gestaltungskraft und Einflußnahme leitender Vereinsfrauen wurden konsequent als herrschaftliches Handeln und Element des adeligen Führungsanspruchs interpretiert, die im Zusammenwirken von Adels-, Geschlechts- und Familienzugehörigkeit entstanden. Dieses Zusammenwirken beschreibt m. E., auch wenn weitere empirische Befunde wünschenswert wären, einen grundlegenden Handlungsund Sinnzusammenhang, mit dem adelige Frauen in Führungspositionen in einem Feld gesamtgesellschaftlicher Öffentlichkeit agierten. Wohltätigkeit war zwar weiblich konnotiert, wurde aber von Frauen und Männern, Adeligen und Bürgerlichen in Einzelinitiativen oder in der Organisationsform des Vereins ausgeübt. Das Feld adelig-bürgerlichen Begegnens und Konkurrierens wurde vom gemeinsamen Leitbild des sozialen Friedens überwölbt. Die bürgerliche Herausforderung für adelige Frauen bestand darin, daß ihnen die Handlungskompetenz für diese Zielorientierung abgesprochen wurde bzw. darin, daß mit dem Konzept von sozialer Arbeit ein offenkundig wirkungsvolles Konzept bürgerlichen Handelns für die Gesamtgesellschaft vorlag. Erst in der Auseinandersetzung um konkurrierende Ansprüche, dem Allgemeinwohl zu dienen, positionierten sich Frauen als Adelige, wurde aus wohltätigem Handeln

220

3. Von den Möglichkeiten der Familie

adeliges Handeln mit dem Ziel, den Führungsanspruch zu behaupten. Dieses ‚AdeligSein‘ war voraussetzungsvoll und verlangte den Frauen aktive Vereinsarbeit, hohes persönliches Engagement und Kenntnisse moderner Sozialarbeit ab. Wer jetzt noch am tradierten Prinzip der Karitas festhielt, reagierte kaum angemessen auf die sozialen Probleme der Zeit und verspielte die Chance, den Adel als Gemeinwohlelite zu präsentieren. Die Gemeinwohlorientierung adeliger Frauen differenzierte sich nach Reichtumsverpflichtung, adeliger Selbstverpflichtung („noblesse oblige“) und dem (An)Gebot für erwerbsökonomisch handlungsentlastete Frauen, sich sozial zu engagieren. Im weiblich konnotierten Feld stellte demzufolge die überindividuelle Kategorie „Geschlecht“ eine wahrscheinliche, doch nicht notwendige Anbindung dar, um sich selbst sinnhaft zu verorten. Fand dieser Selbstbezug statt, so sollte deutlich geworden sein, daß der Rekurs auf die weibliche „Liebesarbeit“ einen konsensfähigen Code bemühte, der zur gesamtgesellschaftlichen Verständigung beitrug. Zwar verwies die „Liebesarbeit“ auf das Konstrukt polarer Geschlechtscharaktere, doch blieb die Person davon merklich unberührt. Die „Liebesarbeit“ war gleichsam ein ‚geborgtes Kleid‘, mit dem eine adelige Frau, gerade auch als Gründerin und Leiterin einer bürgerlich dominierten Frauenorganisation, eine ideelle, Frauen mobilisierende Vergemeinschaftung versuchen konnte. Zutreffender für die Person als das Bild vom ‚geborgten Kleid‘ dürfte jenes der ‚zweiten Haut‘ im Sinne Bourdieus gewesen sein, das in deutlicher Differenz zum Modell der Geschlechtscharaktere stand. Die persönlichen Qualitäten von Frauen in Leitungsfunktionen waren Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewußtsein, Selbständigkeit, Selbstsicherheit und Autorität. Was adelig-männlich und bürgerlich-männlich anmutet, waren adelig-weibliche Qualitäten, und zwar in dem Sinne, daß diese nicht nur sozialisatorisch vermittelt, sondern auch in lebensweltlichen Bezügen gebraucht und gefordert wurden. Aufgrund des herausgeforderten ‚Adelig-Seins‘ kamen diese Qualitäten besonders zur Geltung. Es verwundert kaum, daß Frauen ihr Führungshandeln in den Sinnzusammenhang ihrer Familien stellten. Hier fanden sie männliche wie weibliche Vorbilder, an denen sie sich wertorientiert ausrichteten. In den bisher thematisierten Erzählungsräumen war die Bedeutung von „Familie haben“ zumeist an konkrete Beziehungen, Personen und Besitztümern gebunden. In diesem Kontext nun avancierte die Familie von einem mehr und weniger selbstverständlichen Gegenstand der Loyalität zu einem ideellen, wurde zu einem Wert am adeligen Horizont. Zwar orientierte sich die Offiziersfrau an der Familie als Wert, um ihr neuartiges Handeln der Soldatenerziehung zu begründen, doch war hier der Adelsbezug entbehrlich. Erst die bürgerliche Herausforderung machte diesen Bezug nötig, und infolgedessen stieg „Familie haben“ in den adeligen „Wertehimmel“ auf. Das Zusammenwirken von Adels-, Geschlechts- und Familienzugehörigkeit brachte nicht nur ein ‚Adelig-Sein‘ in Gestalt eines sichtbar vertretenen und auch anerkannten Führungsanspruchs im Feld des Sozialengagements hervor, sondern eröffnete adeligen Frauen auch die Möglichkeit, zu inneradeligem und familiärem „Glanz“ zu gelangen. Gestalteten Frauen etwa im Feld des Militärischen das den Männern vorbehaltene Familienverständnis mit, wonach der „Glanz“ einer Einzelleistung zugleich die Leistungsfähigkeit „des“ Adels belegen sollte, bot der Dreiklang des Handlungs- und Sinnzusammen-

3.5. Zusammenfassung

221

hangs (Adel, Geschlecht und Familie) über einen ‚Adel der Tat‘ die Chance, unmittelbar in diese Sphäre des Familienverständnisses einzutreten. Der Exkurs „bei Hof“ betrachtete Hofgängerinnen in der höfischen Öffentlichkeit, die noch immer eine Domäne des Adels war. Das Selbstverständnis dieser Frauen war eingebettet in eine exklusive „Wir“-Gruppe, die sich als erste Gesellschaft des Wiener Hof- und Hochadels verstand und als Gruppe von Verwandtschaft und Bekanntschaft wahrgenommen wurde. Die Wahrnehmung und Deutung von Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechterdifferenzen hingegen war für Hofgängerinnen nicht relevant. Begründet wurde das Phänomen des Nichtthematisierens damit, daß der Hof die ihm zugehörigen Menschen grundlegend nach ihrem Rang klassifizierte und hierarchisierte. Dieses Ordnungsprinzip strukturierte das Selbstverständnis von Hofgängerinnen, die nicht in der Natur gründende geschlechtliche, sondern soziale Differenzierungen geltend machten, um sich von anderen zu unterscheiden. War der Hof, der öffentliche Ort für Adelige schlechthin, demnach ein geschlechtsloser Raum, wie andeutend behauptet wurde? Es wäre wünschenswert, die verschiedenen Höfe im 19. Jahrhundert in geschlechtergeschichtlicher Perspektive als sozialen Raum zu untersuchen. Beispielsweise wurde der Hof nicht als politische Arena thematisiert. Nicht entlang von Rangordnungen, sondern entlang von politischen Auseinandersetzungen könnte sich der Hof als ein bipolarer Geschlechterraum erweisen. Bedeutsamer als die Geschlechtszugehörigkeit war den Hofgängerinnen ihre Zugehörigkeit zur ersten Gesellschaft. In einer an Norbert Elias ausgerichteten Lesart, die den höfischen Habitus nicht als empirische Tatsache begreift, sondern als Ideal, welches das Verhalten von höfisch orientierten Adeligen regulierte, wurde herausgearbeitet, daß das Ergreifen von Prestigechancen nach wie vor eine relevante Handlungsorientierung am Hof war. So dienten wohltätige Aktivitäten nicht sozialen Zielen, sondern stellten Einsätze dar, mit Hilfe gesellschaftlicher Veranstaltungen Prestige zu gewinnen. In Hinblick auf Etikette und Zeremoniell zeigte sich, daß es nicht so sehr darauf ankam, Regeln zu befolgen, sondern einschätzen zu können, wie sich maßgebende Personen zu diesen verhielten. Mit solcher Kenntnis ausgestattet, war selbst der Regelverstoß eine Chance, an der von allen geschätzten kaiserlichen Gunst teilzuhaben. Die über verwandtschaftliche und familiäre Beziehungen ausgestellte Nähe zum Thron diente denn auch als Quelle sozialen Ansehens und Grundlage der Distinktion innerhalb der ersten Gesellschaft. Bedeutete die Familie im Feld des Sozialengagements Wert und Handlungsorientierung für die einzelne Person, stellte sie im höfischen Kontext vor allem eine Voraussetzung dar: Alter und Rang der Herkunftsfamilie und diejenige, in welche Frauen eingeheiratet hatten, verschafften die Eintrittskarte in die exklusive Gesellschaft „bei Hof“. Hofgängerinnen profitierten somit vom symbolischen Kapital ihrer Familien, welches sie im Erkennen und Ergreifen von Prestigechancen steigern konnten. In einer anderen, akteursgeleiteten Lesart wurden die Texte der Hofgängerinnen unter dem Gesichtspunkt des Zusammenbruchs der Monarchie betrachtet. Formierte sich ‚Adelig-Sein‘ im Kontext der Wohltätigkeit in der Auseinandersetzung mit bürgerlichen Herausforderungen, profilierte sich hier ein ‚Hochadelig-Sein‘ angesichts einer aus den

222

3. Von den Möglichkeiten der Familie

Fugen geratenen Adelswelt, das als zwei verschiedene Haltungen erschütterten Sein interpretiert wurde. Die Haltung betonter Lebensfreude stellte einen von Bürgern angesehenen und anerkannten Adel des Reichtums und der Lebensart heraus. Daß diese Lebensart hedonistische Züge trug, mochte im Zusammenhang mit dem Verlust höfischer Verhaltensorientierungen gestanden haben und unterschied sich deutlich vom Kargheitskult vornehmlich kleinadelig-preußischer Provenienz.531 Eine andere Haltung unterstrich die immerwährende Existenz hochadeliger Familien. „Familie haben“ glich hier einer grundsätzlichen Vergewisserung sozialen wie symbolischen Kapitals in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die ausgestellten Verwandtschaftsbeziehungen, die generationelle Sicherstellung und die generationenübergreifende familiäre Treue und Loyalität zum Thron akzentuierten einen Adel, der unmöglich untergehen konnte und der sich als eine bis auf Widerruf dezente Elite begriff. In diesem Teil der Arbeit wurde die weibliche Normalbiographie modellhaft als familiär strukturierte Rahmenbedingung verstanden, die der Familie abverlangte, ihren weiblichen Mitgliedern eine Position in der Gesellschaft zu ermöglichen und an die einzelne die Anforderung stellte, diese auszugestalten. Was „Familie haben“ und Geschlechtszugehörigkeit für adelige Ehefrauen bedeuteten, war je nach adelskonformem Raum verschieden. Nimmt man das bürgerliche Leitbild der Ehefrau und Mutter zum Maßstab, dann zeigten die Selbstpräsentationen und mit diesen verbundene Gestaltungsmöglichkeiten ein anderes, breiteres Spektrum guten oder gelingenden Lebens, zu dem zweifellos die Teilhabe am ‚Ganzen‘ der Adelsgesellschaft gehörte. Allerdings kann man sich leicht vorstellen, daß die soziale Anforderung, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, für alle Beteiligten auch eine soziale Zumutung gewesen sein konnte, die im Ergebnis Auseinandersetzungen und Konflikte hervorbrachte, welche die Teilhabe gefährdeten und die Familien- und Geschlechtszugehörigkeit in andere Bedeutungszusammenhänge stellten. Das ist das Thema des nächsten Teils dieser Arbeit.

531

Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 90–103.

4.

Über die Grenzen der Familie: Biographische Konflikte als Kampf um nonkonforme Lebensweisen in der Gemengelage sozialer Anerkennungsverhältnisse

Beide sollen sich leidenschaftlich geliebt haben, und beide verkörperten zwei gegensätzliche gesellschaftliche Ordnungsprinzipien. Sie – eine Adelige, er – ein Arbeiterführer. Um zum Traumpaar der Gesellschaft zu avancieren, war die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine aussichtslose Zeit. Zur Ehrenrettung, seiner und ihrer, ließ er sich auf die Forderung ihres Vaters ein. Er duellierte sich wenig „arbeiterlich“, doch männlich-konventionell – und erlag seinen Verletzungen. Daraufhin brach die Adelige mit ihrer Familie und diese mit ihr. Sie verließ ihr Elternhaus, wurde von ihren StandesgenossInnen geschnitten und fühlte sich zunächst „der Welt und allen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten preisgegeben.“1 Fünfundvierzig Jahre später und zwei Jahre vor ihrem Selbstmord 1911 konnte das lesende Publikum von Helene von Dönniges erfahren, daß ihre Beziehungen zu Ferdinand Lasalle „die erste große Handlung in meinem Leben verursacht hatten und aus einem … in engster Familienzugehörigkeit lebenden jungen Mädchen einen freien, auf sich selbst gestellten … Menschen geschaffen hatten.“ „[M]mich sozusagen aus meiner natürlichen Bahn werfend, wohinein mich Geburt und Erziehung gestellt hatten“, verlieh diese Handlung „meinem Leben eine stolze Selbstachtung, aber auch absolute Eigenführung“2. Den ursprünglich über eine Tragödie herbeigeführten Zwang zur nichtfamiliären Lebensgestaltung wertet Dönniges aus dem Abstand von Jahrzehnten als realisierte Chance selbständiger Lebensführung und Wertsetzung. Ihrer „absolute[n] Eigenführung“ entgegengesetzt steht eine Biographie, die sie mit der Metapher der „natürlichen Bahn“ erfaßt. In dieser galt nicht die Gestaltung der eigenen Existenz, sondern das Ausgestalten einer sozialen Position, in welche man durch soziale Herkunft, Familie und Erziehung „gestellt“ wurde. Verallgemeinert lautet Dönniges polares Begriffspaar zur Deutung ihres Lebens „Bindung vs. Autonomie“.

1 2

Dönniges (1909), S. 148. Ebd., S. 258f.

224

4. Über die Grenzen der Familie

4.1. Biographische Konflikte: Problemstellung und Vorgehen Die Bindung an die Familie und damit einhergehend der Vorrang familiärer vor persönlichen Interessen, welche die Beziehung zwischen Familie und Individuum als hierarchische, bis zur sozialen Ächtung bei standeswidrigem Verhalten führende kennzeichnet, gehört zum Forschungskonsens. Zugleich wird nicht verabsäumt, darauf hinzuweisen, daß die Familie den einzelnen Mitgliedern einen bevorzugten Lebensstil garantierte. Die klare Gegensätzlichkeit, mit der Helene von Dönniges ihr Leben zweiteilte und bewertete, ließe sich als weiterer Beleg für Forschungsauffassungen lesen, wonach der Preis der Familienbindung im Verzicht auf „individuelle Freiheits- und Glücksvorstellungen“, auf eine „offene Lebensplanung“ und Unterordnung unter das „Gebot der Familie“ bestanden habe.3 Diese recht allgemein gehaltene Sicht hält einer genaueren Analyse nicht stand. Der nachfolgende Teil thematisiert biographische Konflikte, die hier als erzählte Lebensentwürfe und Zukunftserwartungen verstanden werden, welche den Anforderungen der Herkunftsfamilie entgegenstehen und sich in Abweichungen vom Modell „Normalbiographie“ erzählerisch realisieren. Diese werden in der Gemengelage mehrfach gestörter Anerkennungsverhältnisse zwischen weiblichem Individuum, dessen Herkunftsfamilie und der „guten Gesellschaft“, in welche alle Familienmitglieder involviert sind, untersucht. Stand im letzten Teil der Arbeit die Frage nach den Möglichkeiten von „Familie haben“ für eine sinnvolle Lebensgestaltung im Zentrum, ist nun nach den Grenzen für selbige zu fragen. Hierüber rückt die Präsentationsform der ich-zentrierten Autobiographik in den Vordergrund, deren basale Erzählstruktur von der Auseinandersetzung zwischen „Ich“ und „Welt“ gekennzeichnet ist.4 Von Interesse sind nicht alle Texte, sondern solche, in denen Auseinandersetzungen zwischen Ich und Welt konkret als manifeste Konflikte zwischen Ich und Herkunftsfamilie thematisiert werden. Dabei handelt es sich um die Autobiographien von Lily Braun, Marie von Ebner-Eschenbach, Anna von Krane, Malwida von Meysenbug und Edith von Salburg, die jeweils 1909, 1905, 1917, 1876 und 1927 veröffentlicht wurden. Salburgs Text ist nicht nur der einzige, der nach 1918 erschien, sondern gehört auch im Ganzen der Präsentationsform der Wir-Geschichten und Geschichten anderer an. Dessen ungeachtet ist die Individualgeschichte engstens mit der Konflikterzählung verwoben und wird als geschlossenes und eigenständiges Geschehen erzählt, so daß sie an dieser Stelle der ich-zentrierten Autobiographik zugeordnet werden kann. Die Texte Meysenbugs und Brauns weisen starke inhaltliche und formale Überschneidungen auf, weshalb Meysenbugs „Memoiren einer Idealistin“ nur peripher

3

4

Reif, Heinz, Väterliche Gewalt und „kindliche Narrheit“. Familienkonflikte im katholischen Adel Westfalens vor der Französischen Revolution, in: Die Familie in der Geschichte, hrsg. v. H. Reif, Göttingen 1982, S. 90; Matzerath, Josef, Adel im Übergang: die gesellschaftliche Stellung des niederen sächsischen Adels vor dem Ersten Weltkrieg, in: Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, hrsg. v. Simone Lässig u. Karl Heinrich Pohl, Köln u. a. 1997, S. 271–297, hier: S. 291; Funck / Malinowski, „Charakter ist alles!“, S. 75. Vgl. dazu das Kapitel 2.2. dieser Arbeit.

4.1. Biographische Konflikte: Problemstellung und Vorgehen

225

Eingang finden. Den „Memoiren einer Sozialistin“ wurde hier der Vorrang eingeräumt, da sich diese in einer größeren zeitlichen Nähe zu den anderen Texten befinden. In der Adelsforschung ist das konflikthafte Aufeinandertreffen zwischen individuellen Bedürfnissen und familiären Anforderungen vornehmlich für das ausgehende 18. Jahrhundert thematisiert worden.5 Als typisch herausgearbeitet wurde das Aufkommen neuer Redeweisen, die das Gefühl und das Individuum in den Vordergrund rückten. Das Phänomen des Aufbegehrens gegen das „Gesetz“ des Familienzusammenhalts wird etwa von Heinz Reif zum Anlaß genommen, nach allgemeinen Spannungslagen zu suchen. Er untersucht einen Vater-Sohn-Konflikt im münsterländisch-katholischen Adel als Gefährdung der Familienordnung um 1800. Der Vater fungiert hierbei als Repräsentant einer althergebrachten Ordnung, während der Sohn die neue Ideenlandschaft vom „Richter im Ich“ (Andreas Bähr) repräsentiert, da er sich von den Familien- und Standesnormen löst und sich an neuen Modellen individuellen Verhaltens orientiert. Die Interpretation „Gefährdung“ wird nicht nur repräsentationslogisch plausibilisiert, sondern auch darüber, daß Reif den konkreten Fall in die Prozesse von Modernisierung und Individualisierung einordnet. Das Besondere wird in dieser sozialhistorischen Sicht in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge aufgehoben.6 Folgte man dieser auf einem abstrakten Niveau angesiedelten Interpretation, dann würde die nachfolgende Untersuchung eine additive Erweiterung zum Ergebnis haben: Auch Frauen haben mit ihren Glücksvorstellungen den Familienzusammenhalt gefährdet. Bestätigt würde, was man seit den Arbeiten von Heinz Reif weiß: Individualisierungsschübe konnten die adelige Familientextur verändern. Dessen ungeachtet weisen die vorliegenden biographischen Konflikte eine Gemeinsamkeit mit dem münsterländischen Fall auf. Die Autobiographinnen präsentieren diese ebenso als Aufeinandertreffen zwischen individuell formulierten Lebensentwürfen und den zugewiesenen Möglichkeiten durch die vornehmlich elterlichen Autoritäten. Es ist dies der zentrale Bestandteil der erzählten Selbstpräsentation und wird als „Kampf um eine nonkonforme Lebensweise“ untersucht. Hierüber läßt sich präzisieren, was in der Forschung den adeligen Individuen aufgrund des Imperativs des Familienerhalts als Leidensperspektive offeriert wird, ohne diese hinreichend gefaßt zu haben. Welche Zwänge haben adelige Frauen erinnert? Mit welchen Wünschen zielten sie über konventionell gezogene Grenzen ihrer Herkunftsfamilie hinaus? Lag ihr Leiden im Eheverzicht begründet, oder haben sie ihre Ausbildung im Vergleich zu den Brüdern als Benachteiligung erfahren?7 Und warum sollte der Wert „Familie“ handlungsorientierend wirken, wenn 5

6 7

Zum Beispiel: Reif, Väterliche Gewalt und kindliche Narrheit, S. 82–113; Engelbrecht, Jörg, Adlige Familienkonflikte am Ende des 18. Jahrhunderts. Das „Journal d’ amour“ der Luise von Hompesch aus den Jahren 1797 / 1798, in: Rheinische Vierteljahresblätter 53 (1989), S. 152–177; Duhamelle, Christophe, Der verliebte Domherr. Ein Familienkonflikt in der rheinischen Reichsritterschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 404–416. Vgl. Reif, Väterliche Gewalt und kindliche Narrheit. Zur Kritik an dieser Sichtweise und mit einer anderen Interpretation aufwartend: Duhamelle, Der verliebte Domherr. Zur geschlechtergeschichtlichen Vermutung der Benachteiligung vgl.: Conze, Von deutschem Adel, S. 297.

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4. Über die Grenzen der Familie

die dazu erforderliche emotionale Gestimmtheit im Individuum im Leiden an und durch eine konkrete Familie bestand?8 Die Beantwortung dieser Fragen stellt eine Seite der Konflikte dar. Nahe an den Lebensentwürfen und erzählten Realisierungen entlang ist zu zeigen, daß sich das angebotene Modell im Adel, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, zugunsten alternativer Optionen aufgebraucht hatte, die von den Akteurinnen als eigenständige gedeutet wurden. Dieses einfache Konfliktschema „Bindung vs. Autonomie“ beantwortet aber nicht die Frage, warum die Autobiographinnen ihre alternativen Entwürfe konflikthaft deuteten. Anders formuliert: Insofern neuere sozialwissenschaftliche Konfliktforschungen weniger nach den Ursachen, sondern stärker nach den Kontextbedingungen von Konflikten fragen9, in welche spezifischen Konstellationen waren die biographischen Konflikte eingebunden? In der Frauen- und Geschlechtergeschichte zum Bürgertum werden die sich mehrenden Mutter-Töchter-Konflikte seit der zweiten Jahrhunderthälfte als „Aufbrüche“ aus den in der Moderne tradierten Geschlechterrollenzuweisungen interpretiert. Diese Interpretation wird recht eindeutig mit zunehmender Geschlechterungleichheit im Polarisierungsprozeß begründet. In dem Maße, wie sich die Zuordnung bürgerlicher Frauen zu Ehe, Familie und Reproduktion verfestigte und sich zugleich weibliche Handlungsspielräume, etwa über eine breiter gefächerte Mädchenbildung, erweiterten, entstand eine Situation, in der Töchter die ihnen zugewiesenen Lebensbereiche zunehmend als Zeichen der Unterdrückung erfuhren und in der sie nach Alternativen suchten.10 Zweifellos gibt es Konfliktähnlichkeiten: Für die Lebensentwürfe adeliger Autobiographinnen, die sich in Richtung Schriftstellerin, Publizistin, Politikerin konkretisierten, standen keine tragfähigen Modelle in ihrer Herkunftsfamilie zur Verfügung. Auch integrieren sie die Kategorie „Geschlecht“ als wahrgenommene Benachteiligung in ihre Selbstpräsentation. Dennoch griffe eine Interpretation „Aufbruch“ zu kurz. Im vorangegangenen Teil der Arbeit habe ich gezeigt, daß hierarchische Geschlechterdifferenzen durchaus mit Vorstellungen vom guten Leben vereinbar waren und keine rigide, als Ausschluß wahrgenommene räumliche Trennung zwischen den Geschlechtern existierte. Auch ließe sich über die Deutung „Aufbruch“ nicht erklären, warum Adelige Künstlerin, Schriftstellerin, Wissenschaftlerin werden konnten, ohne diese alternativen Lebenswege als manifeste Konflikte mit der Herkunftsfamilie zu erinnern. Die Geschlechtszugehörigkeit läßt sich demnach nicht als Ursache der biographischen Konflikte begreifen, wohl aber als wichtige Kontextbedingung für die konflikthaft erinnerten Entwürfe. Es gilt auch in diesem Kapitel, Geschlecht nicht als polaren Begriff vorauszusetzen, sondern als relationalen

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Vgl. Hettling / Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel, S. 340. Eine ausgezeichnete Einführung bietet: Bonacker, Thorsten (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, Opladen 2002. Zusammenfassend für deutsche Verhältnisse: Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, bes. S. 265ff. Als Pionierstudie, und für England formuliert, gilt: Davidoff, Leonore / Hall, Catherine, Familiy Fortunes. Men and Women of the English middle class 1780–1850, London u. a. 1988.

4.1. Biographische Konflikte: Problemstellung und Vorgehen

227

zu verstehen und in seiner kontextgebundenen Bedeutung zu untersuchen, um auf diese Weise kurzschlüssige Begründungen zwischen biographischen Konflikten und „Weiblichkeit“ zu vermeiden.11 Fragt man nach konkreten Konstellationen, so stellt das polare Konfliktschema „Bindung vs. Autonomie“ eher einen Spannungsbogen dar, der eine vergleichsweise komplexe Gemengelage umreißt. Hier soll vertreten werden, daß sich die biographischen Konflikte nur verstehen lassen, wenn man sie in Relation zu mehrfach gestörten Anerkennungsverhältnissen zwischen adeligen Individuen in Familie und Gesellschaft betrachtet. Geht man den Fragen nach, wer zollt wem, warum und wofür keine Anerkennung, so wird die andere Seite der biographischen Konflikte deutlich. Gestörte soziale Anerkennungsverhältnisse wirken hier tendenziell desintegrierend, welche die Hauptakteurin aus den hergebrachten Bindungen herausführen und an denen mehrere Protagonisten beteiligt sind.12 Die so autonom oder weiblich-emanzipatorisch anmutenden Lebensentwürfe finden ihre Relation nicht so sehr in der Wechselbeziehung „Aufbruch und Ungleichheit“, sondern in „Selbstbehauptung und Desintegration“. Betrachtet man des weiteren die Kontextbedingungen für Desintegration, wird deutlich, daß den Konflikten nicht notwendig eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von individuellen und familiären Interessen zugrunde liegt, sondern mit einer Gemengelage korrespondiert, die sich in die Frage kleiden läßt: Wo sind die Grenzen des gesellschaftlich erlaubten Handelns, um den individuellen Adelsstatus sowie das Ansehen der Familie nicht zu gefährden? Mit dieser Frage schließt die Untersuchung an solche Befunde in der Adelsforschung an, wonach sich adelige Familien bis weit ins 19. Jahrhundert über ihre relative Position im Vergleich zu anderen Adelsfamilien definierten, nicht aber durch den Gegensatz zum Bürgertum.13 Nachfolgend wird versucht, den Zusammenhang zwischen biographischen Konflikten und der Gemengelage sozialer (Nicht)Anerkennung immer wieder aufzuzeigen. Auf diese Weise soll ein komplexeres Bild entstehen, als es Interpretationen eignet, welche konkrete Fälle in den weitgespannten Bezugsrahmen von Individualisierung oder Polarisierung einordnen. Nachdem die Konflikte in ihren allgemeinen Grundkonstellationen vorgestellt werden, werden sie als Einzelfälle untersucht und dargestellt, um den akteursgebundenen Variationen eines Themas mit recht verschiedenen Gemengelagen gerecht

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Daß der Geschlechtergegensatz nicht als etwas Bekanntes, sondern als etwas Problematisches behandelt werden sollte, ist im mittlerweile klassischen, methodisch nach wie vor erhellendem Aufsatz von Joan W. Scott nachzulesen: Scott, Joan W., Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075. Zum Zusammenhang von Desintegration und sozialen (Nicht)Anerkennungsverhältnissen vgl. einleitend und mit weiterführender Literatur: Köhler, Thomas, Die Konflikttheorie der Anerkennungstheorie, in: Bonacker (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, S. 319–333. Vgl. etwa: Duindam, Norbert Elias und der frühneuzeitliche Hof, S. 370–387; Frie, Ewald, Adelige Lebensweise in entsicherter Ständegesellschaft. Erfahrungen der Brüder Alexander und Ludwig v. d. Marwitz, in: Conze / Wienfort (Hgg.), Adel und Moderne, S. 273–288.

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4. Über die Grenzen der Familie

zu werden.14 Die Anordnung der Fälle erfolgt nicht chronologisch, sondern unterstreicht die Grundüberlegung, daß das vereinfachte Deutungspaar „Bindung vs. Autonomie“ nicht als Gegensatz zur Familie, sondern, einen Spannungsbogen umreißend, in Relation zu den genannten Kontexten zu verstehen ist. Stark vereinfacht formuliert: Alternative Lebensentwürfe können in scharfem Kontrast zur Herkunftsfamilie stehen und in der Realisierung weit über den erfahrenen „Raum des Adels“ hinausgehen, sie müssen es aber nicht. Der erste Fall steht deshalb dafür, daß sich Alternativen mit „Familie haben“ vereinbaren lassen. Der zweite zeigt an, daß eine solche Vereinbarung allerdings einen jahrzehntelangen Kampf bedeuten konnte, der im Grunde erst durch den Tod von Konfliktbeteiligten beendet wurde. Im dritten Fall sind Konsenslösungen unmöglich, er stellt einen „Ausbruch“ dar. In der Dramaturgie der Anordnung markiert dieser den Höhepunkt des Strebens um Autonomie. Der vierte Fall ruht auf einem vorgängigen Familienkonflikt, der Entwurf ist Effekt dieser Vorgängigkeit und führt zu einem Lagerwechsel innerhalb „des“ Adels. Dem letzten geht ein Mißverständnis voraus, führt die Protagonistin über ihre Herkunftsgrenzen hinaus und endet mit der Rückkehr in altvertraute Lebenszusammenhänge.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen a) Allgemeine Bestimmung Der Kampf ist mit Georg Simmel die grundlegende Form des Konflikts als Vergesellschaftungsform. Er findet mindestens zwischen zwei Menschen statt, Sieger ist, wer seine Interessen gegen den anderen durchzusetzen vermag, wer ihn sozial gefügig machen und seiner eigenen Gruppe einverleiben kann. Ist dieses Ziel erreicht, bezeichnet es eine soziale Struktur der Über- und Unterordnung. Eine andere Form der Beendigung des Kampfes ist die Versöhnung. Sie resultiert unabhängig vom Zweck des Kampfes aus einer sozialen Bindung, die das Vergeben und Vergessen zum subjektiven Bedürfnis macht. Der Simmelsche „Kampf“ bezeichnet – und darum ist er nützlich – die basale Form der biographischen Konflikte, ohne sie auf bestimmte Gegenstände einzuschränken.15

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Die Untersuchung von Einzelfällen erfolgt hier in verhaltener Orientierung an die Biographieforschung, welche davon ausgeht, daß jeder Fall sozial spezifisch und komplex strukturiert ist, weshalb Verallgemeinerungen über den Fall hinaus Verkürzungen des empirisch Erschließbaren darstellen. Zur Umsetzung in der Geschichtswissenschaft vgl. etwa: Sieder, Reinhard, Von der romantischen zur skeptischen Liebe?, in: Ders., Die Rückkehr des Subjekts, S. 167–208. Zu Simmels akteurstheoretischer Konfliktkonzeption vgl. einführend: Stark, Carsten, Die Konflikttheorie von Georg Simmel, in: Bonacker (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, S. 83–96. Vgl. grundlegend: Simmel, Georg, Der Streit, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Form der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, S. 284–382.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Biographische Konflikte werden von Frauen thematisiert, die aus unterschiedlichen, aber innerhalb der Adelsdifferenzierung im allgemeinen und mit Blick auf die anderen Autobiographinnen im besonderen nicht ungewöhnlichen Herkunftsfamilien stammten. Die landsässige Familie des niederen Adels ist ebenso vertreten wie die städtisch situierte Familie. Zum alten Adel tritt der Verdienstadel, man ist katholisch und protestantisch. Die Väter sind im Militär- und Staatsdienst und / oder Grundbesitzer. Was diese Frauen miteinander verbindet, ist demnach nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Adelsformation, sondern das gemeinsame Merkmal der Konflikterzählung. Ein weiteres Merkmal der Gruppe bildet die Selbstdeutung als Außenseiterin im familiären Kontext. Das heißt, daß die Zuschreibungen der relevanten anderen (Gouvernante, Mutter, Verwandte) nicht mit der Eigenbeschreibung der betreffenden Gruppe übereinstimmen und umgekehrt, daß in das Selbstbild Zuschreibungen durch jene relevanten anderen integriert sind, von denen man sich ausgeschlossen fühlt bzw. von denen man sich abgrenzen will.16 Die hier zu thematisierenden biographischen Konflikte sind ihrem allgemeinen Inhalt nach als Aufeinandertreffen individueller Lebensentwürfe mit den verordneten Anforderungen der Familie zu bestimmen. Gerungen wird in einem gleichermaßen allgemeinen Sinn um die Frage, welche Vorstellungen von einem guten oder gelungenen Leben die richtigen oder falschen sind und welches die Maßstäbe, verstanden als gesellschaftlich akzeptierte Normen, sind, auf die sich diese Vorstellungen beziehen. Auf abstrakter Ebene handelt es sich um konkurrierende Orientierungen im moralischen Raum.17 Auf der konkreten Ebene stehen sich Generationen gegenüber. Die Autobiographinnen formulieren ihre Wünsche und Erwartungen vor dem Hintergrund der erinnerten Jugendphase. Es sind Haustöchter, die Konflikte mit vornehmlich elterlichen Autoritäten austragen. Insofern tritt uns die adelige Familie nicht als Verband, Ordnung oder Geschlechterkette entgegen, sondern als Intimverband, in welchem Kinder erstmals sozialisiert werden, als konkreter Handlungszusammenhang, in welchem weibliche Jugendliche ihre divergierenden Interessen durchsetzen wollen. Familie wird nicht als wegweisender Fixstern am adeligen Firmament, sondern als irdischer Kampfplatz titulierter Individuen um den Sieg thematisiert. Während Konflikte bei Simmel die Auseinandersetzung zwischen prinzipiell Gleichen implizieren, stehen sich in der adeligen Familie mit ihrem vertikalen Beziehungsgefüge prinzipiell Ungleiche gegenüber. In struktureller Hinsicht werden Konflikte von Akteurinnen ausgetragen, die als weibliche und jugendliche Personen eine zweifach untergeordnete Position gegenüber der elterlichen bzw. väterlichen Autorität einnehmen. Eindeutige Sieger gibt es in den vorliegenden Fällen nicht. Der Kampf wird partiell versöhnlich beendet oder schließt mit einem Bruch mit der Herkunftsfamilie. Anders 16

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Zur Wahrnehmung des Anderen aus sozialpsychologischen Perspektiven vgl. informierend: Schmid, Jeanette, Die Wahrnehmung des Anderen, S. 147-167. Dezidiert aus konflikttheoretischer Perspektive vgl.: Zick, Andreas, Die Konflikttheorie der Theorie sozialer Identität, in: Bonacker (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, S. 408- 426. Vgl. Taylor, Quellen des Selbst, das Kapitel: Das Selbst im moralischen Raum, S. 52–104.

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4. Über die Grenzen der Familie

als Georg Simmel, der Konflikten eine integrierende Funktion für soziale Gruppen zuschreibt, zeigt der Bruch die desintegrierende Funktion für den Zusammenhalt der Herkunftsfamilie an.18 Nicht zuletzt sind biographische Konflikte an die temporäre Struktur der Autobiographie, gründend in der permanenten Gegenüberstellung von Vergangenem und Gegenwärtigem, gebunden.19 Die persönlichen Zukunftserwartungen als konfliktkonstituierendes Moment sind im Wortsinn „vergangene Zukunft“ (Reinhart Koselleck). Real ist somit der Konflikt als Geschichte, nicht der Konflikt als solcher. Diese Geschichte dokumentiert nicht ein Geschehen, das sich einstmals zwischen Personen so und nicht anders zugetragen hat, sondern vermittelt erzählerisch die Verarbeitung desselben. Indem die Autobiographin den Konflikt erinnert, macht sie ihn sich zu eigen und offenbart darüber die Wirkung des Konfliktgeschehens. b) Ent-Bindung – Orientierung – Bindung In seinen Ausführungen zu den Begriffen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ hat Reinhart Koselleck 1976 das zunehmende Auseinandertreten zwischen Erfahrung und Erwartung als Kennzeichen der Moderne beschrieben.20 Die Außenseiterinnen präsentieren ihre jugendlichen Erwartungen in Differenz zum familiären Erfahrungsraum. Diese Zuweisung konstituiert die Konflikterzählungen und unterscheidet sie von anderen Erinnerungen, in denen die Jugendphase thematisiert wird. Fragt man nach jugendlichen Zukunftserwartungen im normalbiographischen Zusammenhang, wird man kaum fündig. Die rückschauende ‚Phantasielosigkeit‘ ist sicherlich ein Hinweis darauf, daß Erwartungen und Erfahrungen „normaler“ adeliger Frauen mit Blick auf die Vorstellungen von der eigenen Biographie kaum differierten. Hieraus einen real existierenden Gegensatz zwischen „traditionellen“ und „modernen“ Adeligen zu folgern wäre wenig hilfreich. Vielmehr scheint mir im normalbiographischen Kontext das gesellschaftliche Debüt, der erste Ball, ein so bedeutungsvolles Ereignis gewesen zu sein, das mögliche Wünsche und Hoffnungen in der Erinnerung überlagerte. Das Entree symbolisiert wie kein anderes Ereignis die Integration in die jeweilige Adelsgesellschaft. Als Pendant symbolisieren die formulierten Zukunftserwartungen der Außenseiterinnen die Wechselbeziehung von Selbstbehauptung und tendenzieller Desintegration. Schon allein, daß Erwartungen formuliert werden, kennzeichnet zumindest Abweichungen. Und wie das gesellschaftliche Debüt im Modell „Normalbiographie“ ein Ereignis beschreibt, aus dem sich alles Zu-

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20

Vgl. Stark, Die Konflikttheorie von Georg Simmel, S. 83–96. Vgl. Leitner, Hartman, Die temporale Logik der Autobiographie, in: Sparn, Walter (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, S. 315-359. Vgl. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 349–375, hier S. 359ff. (zuerst 1979)

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

231

künftige in den Grundzügen herleiten läßt, lassen sich mit den jugendlichen Erwartungen der Außenseiterinnen die Grundkonstanten der Konflikte beschreiben. „[M]ein Sinn stand nun nicht nach Hüten oder Schlagsahne, auch der Leutnant machte mir keinen Eindruck, ich wollte mehr!“ „Ich lechzte nach Macht, um aufzuräumen auf der Erde.“ „Mich verzehrte ein brennender Durst zu lernen und zu wissen.“ „Ich wollte immer nur wissen – wissen.“ „Ich aber wollte schaffen!!“ „[J]ede Fiber verlangte nach Tätigkeit, nach wirklich ernster Tätigkeit“. „Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, …, die Mauern, die mich – umfriedeten.“ „Ich sah deutlich, daß dem Leben, das ich vor mir hatte, ein großes leitendes Prinzip … fehlte.“ „Wo war ein Ziel für mich, des Ringens wert?“ „Ich fühlte, daß ich eine Individualität wurde, mit Überzeugungen und mit der Energie, sie zu bekennen.“ „Mit der persönlichen Freiheit, dem Selbstgefühl, eine gewisse Macht zu besitzen, wuchsen diese Erlebnisse und schufen mir erbitterte Feinde.“ „Es war eben die alte Geschichte: man muß Vater, Mutter, Geschwister verlassen, um dem Messias zu folgen.“21 In diesem konstruierten ‚Kollektiventwurf‘ sind vor den konkreten Ausprägungen die thematischen Konstanten der Konflikterzählungen enthalten. Die Familie, die Gesellschaft, in die man hineingeboren wurde, werden als in Konventionen gefangen dargestellt. Das erzählte Ich, eigensinnig, sensibel, denkend, nimmt das Herkömmliche als Zwang wahr. Die Erwartungen von selbständigem Denken, sinnvoller Tätigkeit und freier Partnerwahl werden gegen die Konventionen formuliert und sind zugleich Mittel, sich dieser zu ent-binden. Das ‚Lebensziel‘ ist nicht mehr vorherbestimmt, sondern durch ein ‚Ich mit Eigenschaften‘ auf der Suche nach einem eigenständigen Leben in selbstgewählten Bindungen fragwürdig geworden. Nicht das ‚Gebot der Familie‘ und dem daraus resultierenden ‚Du sollst‘ entwickelt sich in den Erzählungen zur Handlungsmaxime, sondern es formieren sich über die Chiffren Bildung, Arbeit, Liebe nicht familiengebundene Gestaltungsmöglichkeiten auf der Grundlage ‚Ich will‘. Der nachträgliche Sinnzusammenhang des eigenen Lebens wird über das erzählte Geschehen von Bindung, Ent-Bindung und Neuorientierung hergestellt. Dieses Geschehen kann man als lebensweltlichen Konversionsprozeß lesen, der sich in seinen Konkretionen über die Chiffren Bildung, Arbeit, Liebe erschließt. Das Aufbegehren der Jungen gegen die Alten im Namen einer alternativen Ordnung, darin liegt die anthropologische Konstante der „alte[n] Geschichte“. In der abendländischen Literaturtradition bilden eigene Liebe, eigene Arbeit und eigenes Denken ein Kontinuum der Konfliktfelder zwischen den Generationen.22 Eine Neuerung erhielt die alte Geschichte durch die Idee, daß es das Recht und die Pflicht des Individuums sei, sich aus seiner Unmündigkeit zu befreien. Aus dem aufklärerischen Verdikt bezogen klas-

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Krane (1917), S. 40; Salburg (1927), S. 22; Meysenbug (1879 / 1922), S. 25; Salburg (1927), S. 117; Braun (1909 / 1922), S. 315; Krane (1917), S. 38; Ebner-Eschenbach (1906 / 1920), S. 714; Meysenbug (1879 / 1922), S. 102; Braun (1909 / 1922), S. 177; Meysenbug (1879 / 1922), S. 116; Salburg (1927), S. 183; Meysenbug (1879 / 1922), S. 165. Vgl. Matt, Peter von, Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München / Wien 1995, bes. S. 165ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

sische Autobiographie wie die Tradition des Bildungsromans den Impuls, die Entwicklung einer Persönlichkeit darzustellen, die sich selbst Gesetze gibt und als selbständiges Mitglied einer Gesellschaft in und an dieser wirkt. Die Erzählerinnen rekurrieren in verschiedener Weise auf die nunmehr tradierte Neuerung. Hettling und Hoffmann haben für das 19. Jahrhundert dargelegt, daß das Thema des Bildungsromans und die damit verbundene Metapher von Seefahrt als Muster individueller Lebensführung formuliert wurde und von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Bürgertum war.23 Wenn adelige Frauen auf die Metapher zurückgreifen, dann liest sich das so: „War vogelfrei – ohne Halt an der Familie […] ein Fahrzeug auf dem Meere des Lebens – allen Stürmen preisgegeben, ohne Steuermann.“24 Helene von Dönniges’ Äußerung, die sich auf eine biographische Zäsur der 1860er Jahre bezieht, verdeutlicht, daß die Metapher der Seefahrt nicht zur kollektiven Selbstbeschreibung adeliger Frauen gehörte bzw. kein Muster darstellte, das als Vorbild tauglich war. Sie denkt sich von der Familie als Recht- und Haltlose her. Wegen ihrer Erwartung einer selbstgewählten Liebesbeziehung, die rigoros verweigert wurde, wird sie – um im Bild zu bleiben – vom festen Landsitz auf das offene Meer geworfen. Schiffbruch zu erleiden, konnte jedem bürgerlichen Seefahrer passieren. Doch er besaß die Mittel bei der Hand, daß schlingernde Schiff möglichst auf Kurs zu bringen – kollektiv geteilte Erfahrungen mit der See und ein erprobtes Navigationssystem, das sich an den Sternen des bürgerlichen Wertehimmels ausrichtete. Dönniges hingegen ist weder Kapitän noch Steuermann, erkennt nichts am Firmament, ist fremd. Das ‚Ich will‘ adeliger Frauen, diese über die Familienräson hinausgehenden Erwartungen, zog potentiell ein hohes Maß des Scheiterns nach sich. Das Risiko der Handlungsinkompetenz bestand, insofern sie das Alte flohen und dem Neuen voraussetzungslos ausgeliefert waren. Das Abweichen von der „natürlichen Bahn“ mußte allerdings nicht im sozialen Tod enden. Die Seefahrts-Metapher enthält das Versprechen des Gelingens und konnte so eine Chance für adelige Frauen werden. „Für ihn [den verstorbenen Vater, M. K.] war das Lebensrätsel gelöst. Mein Leben war im Gegenteil von seiner Wurzel losgerissen, und ich fühlte mich hinausgeworfen auf den weiten Ozean, um künftig mein Lebensschiff allein zu steuern und dem einzigen Stern, der mir durch schwere Wolken schien, meiner Überzeugung zu folgen.“25 Auch für Malvida von Meysenbug, sich auf 1847 beziehend, stellt das Schiff nicht a priori ein verbindliches Lebensmuster dar, sondern ist Effekt einer Entwurzelung. Symbolisch bedeutet der Tod des Vaters das Sinken des Flaggschiffs „Familie“ als Leitidee und konkrete Form. Die Orientierung an der eigenen Überzeugung ist Gegenentwurf und Handlungsalternative. Damit wurde Meysenbug Außenseiterin ihrer Familie, aber nicht des gesamten Sozialgefüges. „Ozean“ und „Lebensschiff “ bzw. der abstrakt dahinter laufende Prozeß von sozialer Differenzierung und Individualisierung schaffen die Voraussetzung zur Selbstbehauptung: geächtet als Familienmitglied, aber anerkannt als Lehrende der Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht 23 24 25

Hettling / Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel, S. 333–336. Dönniges (1909), S. 148. Meysenbug (1879 / 1922), S. 134f.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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(1848–1851), anerkannt als aufrechte Demokratin im englischen Exil, anerkannt als Erzieherin, Übersetzerin, Publizistin, anerkannt als mütterliche Freundin kluger Köpfe von Nietzsche bis Rolland. Das Grundproblem der biographischen Konflikte, die Erwartung eigenständiger Lebensgestaltung unter den Chiffren Bildung, Arbeit, Liebe, bezieht seine Spannung daraus, daß diese Chiffren kaum zum mentalen Inventar der Herkunftsfamilien in Hinblick auf ihre Töchter gehörten. Sie waren keine in die Wiege gelegte Mitgift für das Leben, sondern kamen einer Entdeckung im biographischen Verlauf gleich. Chance und Gefährdung des adeligen Individuums waren damit gleichermaßen verbunden. c) Die Gemengelage der sozialen Anerkennung Ein weiteres Grundproblem der biographischen Konflikte neben dem vereinfacht formulierten „Autonomie vs. Bindung“ ist jenes um Anerkennung bzw. Nichtanerkennung durch signifikante andere. Wer „im Rahmen der Normalbiographie gelebt und gehandelt hat“, schreiben Heiner Keupp und KollegInnen, „konnte sich relativ sicher sein, daß er auch eine entsprechende Normalbiographie der Anerkennung erwerben konnte.“26 Das heißt, die für die Integrität und Handlungsfähigkeit von Personen so wichtige soziale Wertschätzung konnten Frauen schon allein darüber erfahren, daß sie im Adel übliche soziale Positionen, etwa als Offiziersfrau, ausfüllten. Malvida von Meysenbug war ihrem Selbstverständnis nach Demokratin, Lily Braun, geb. von Kretschmann, war als Redakteurin, Publizistin, Journalistin tätig und von der sozialistischen Idee überzeugt. Die mehrfach heiratende Helene von Dönniges arbeitete als Schauspielerin und studierte in den USA Medizin. Ebner-Eschenbach, Salburg und Krane wurden in erster Linie Schriftstellerinnen. Diese Frauen hatten soziale Positionen erreicht, für die es in ihren Herkunftsfamilien keine Vorbilder gab und die weit entfernt von den konventionellen gesellschaftlichen Rollen im Adel lagen. Der jeweilige Werdegang war untrennbar mit der Selbstdeutung als Außenseiterin in der und durch die Herkunftsfamilie verbunden. Ein solcher Status ist sicherlich in keiner sozialen Gruppe ein erstrebenswerter. Im Adel ist dieser Status maßgeblich abhängig, das zumindest vermitteln die Konflikterzählungen, von den Ansichten der „guten Gesellschaft“. Es fällt auf, wie stark Anerkennungsfragen zwischen elterlichen Autoritäten und Haustöchtern eingebettet sind in die (Nicht)Anerkennung der Person und die (Nicht)Wertschätzung ihrer Familie durch die Meinung anderer. Die persönliche Anerkennungsfrage gehört in den Problemkreis, was eine Person, eine Familie tun darf, um als adelig anerkannt zu werden. Den Richterspruch für diese Qualität liefert, so Norbert Elias, die „gesellschaftliche[n] Meinung“. Es ist die „gute Gesellschaft“ mit ihrer Tendenz zur Absonderung und Herausgehobenheit, welche die Zugehörigkeit einzelner nach dem Grad der dieser Tendenz folgenden Verhaltenskonfor-

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Keupp, Heiner u. a., Identitätskonstruktionen, S. 260; zu den Dimensionen von Anerkennung als Identitätsvoraussetzung und eines von mehreren Identitätszielen vgl. ebd., S. 252–263, S. 266–270.

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4. Über die Grenzen der Familie

mität bemißt.27 Konflikttheoretisch gesprochen, weisen die biographischen Konflikte eine triadische Struktur auf. Während sich zwei Parteien, so die Überlegung, immer einigen können, beginnen die Schwierigkeiten bei drei Parteien, „denn nun bedeutet die Zuwendung zur einen Seite gleichzeitig eine Vernachlässigung der anderen“.28 Für adelige Familien, die ihre Aufmerksamkeit darauf richteten, ihre Position im Vergleich zu anderen Familien zu erringen, zu festigen oder gar zu verbessern, bedeutete dies, den Richterspruch der „gesellschaftliche[n] Meinung“ stets vergleichend mit den individuellen Ambitionen ihrer Familienmitglieder abzuwägen. Man wird davon ausgehen können, daß die „Meinungen“, aus denen sich ungeschriebene wie verhandelbare Regeln goutierten Handelns ergaben, je nach adeliger Binnenkultur variierten. Indirekt ist dies eine Antwort darauf, warum Frauen vom Modell „Normalbiographie“ abweichen konnten, ohne Konfliktszenarien zu errichten. In Konfliktfällen aber, das zeigen die hier vorliegenden, vernachlässigten die elterlichen Autoritäten töchterliche Interessen zugunsten des Richterspruchs und somit zugunsten ihrer eingenommenen Familienposition. Kam es zum Bruch mit der eigenen Familie, war damit immer auch der Bruch mit den angestammten Kreisen verbunden. Daß die Kehrseite der Entscheidung „Bruch“ soziale Ächtung durch die jeweilige Adelsgesellschaft bedeutete, zeigen die Tonart des Schmerzes und die zum Teil explizit formulierte Adelskritik an.

4.2.1. Nicht Shakespeare, doch in Prosa erträglich – kein Familiendrama: Marie von Ebner-Eschenbach, geb. v. Dubsky (1830–1916) Nachdem die Erinnerungen Ebner-Eschenbachs bereits 1905 in Julius Rodenbergs „Deutscher Rundschau“ in Fortsetzungen veröffentlicht wurden, erschienen „Meine Kinderjahre“ 1906 als Buchfassung.29 Darin schildert die 75-jährige Autorin ihre ersten 14 Lebensjahre u. a. als Entdeckung ihres schriftstellerischen Talents, das ihr im künftigen ungeschriebenen Leben Anerkennung als bedeutendste deutschsprachige Erzählerin brachte. Schon 1893 wurde von ihr eine Werkausgabe „Gesammelte Schriften“ in acht Bänden herausgegeben. Im Jahr 1900 erhielt sie für ihre schriftstellerische Leistung als erste Frau die Ehrendoktorwürde der Universität Wien. In ihrem Werk setzte sie sich sozialkritisch mit der Lage der Landbevölkerung und der Situation des Adels auseinander. Dieser könne seinen Führungsanspruch nur dann aufrecht erhalten, wenn er sich

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28 29

Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 145, ausführlich S. 144–151. Die kollektive Anerkennung der adeligen Qualität gilt Adeligen und ihren Familien bis heute als wichtig. Vgl. St. Martin, Der Adel, S. 38–44. Bonacker, Thorsten, Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – Einleitung und Überblick, in: Ders. (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, S. 9–29, hier: S. 14. Hier in der Ausgabe von: Ebner-Eschenbach, Marie von, Meine Kinderjahre, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 545–723, Berlin 1920. Anmerkung zur Zitierweise: Bei allen Zitaten aus dieser und den anderen Autobiographien in diesem Teil der Arbeit wird die Seitenzahl im Text angegeben.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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auf seinen ureigensten Wert der Pflichterfüllung besinnen und diesen zugunsten unterer Schichten und zur Lösung sozialer Probleme praktizieren würde. Adel verpflichtet jeden einzelnen zur persönlichen Leistungsbereitschaft für das Wohl aller.30 Auf ihre Anfänge zurückblickend, schreibt sie: „Die stumme Ablehnung, die mein erstes poetisches Gestammel durch eine Getreueste und Geliebteste erfuhr, wurde meiner Schriftstellerei bis ins reifste Alter durch andere Vielgetreue und Vielgeliebte zuteil.“ (627) Die Ablehnung einer einzelnen, individuellen Fähigkeit durch Familienmitglieder über die Zeit und ihr persönlicher Umgang damit ist das zentrale Thema des biographischen Konflikts, der nicht zu einer Auflösung der Familienbindung führt. a) Eine wohlsituierte Familie Das Mädchen Marie wurde 1830 auf dem Familiengut Zdislawitz (Mähren) als zweite Tochter und zweites Kind der mit dem Grafen Dubsky verheirateten Freiin von Vockel geboren. Die 29-jährige Mutter starb infolge der Geburt. Der aus einem katholischböhmischen, altadeligen Geschlecht stammende Vater war schon einmal verheiratet gewesen. Aus der kinderlos gebliebenen Ehe ging seine Frau, Freiin von Sorgenthal, als verstorbene 20-jährige. 1832 ehelichte der 1784 geborene Dubsky die 24 Jahre jüngere Freiin von Bartenstein. Sie gebar zwei lebende Söhne, eine Tochter und ein totes Kind, infolge dessen sie 1837 starb. Die 1840 geschlossene vierte Ehe war von längerer Dauer. 1869 starb die Sternkreuzordensdame und geborene Gräfin von Kolowrat-Krakowsky 61-jährig. Der Graf, Major a. D., Gutsbesitzer, k. u. k.-Geheimrat und Kämmerer verstarb 1873 im Alter von 89 Jahren. – Auf diese Todesarten wird zurückzukommen sein. Reduziert man die „Kinderjahre“ auf Sachinformationen, so wird man Familienkonstellation und Lebensweise kaum als im Adel unüblich betrachten können. Zur Familie im engeren Sinn gehörten – voran die väterliche Autorität – die Großmutter, Stiefmutter und Tante. Erstere stand für die Kontinuität der weiblichen ‚Linie‘, die durch den Tod der einen Ehefrau unterbrochen wurde. Bis zur Wiederverheiratung war es die Schwester des Vaters, welche dem Haushalt vorstand. Nach den ältesten Töchtern folgten vier männliche und weibliche Geschwisterkinder. Als „Hausgenossen“ (641) galten diejenigen Personen, die für die praktische Erziehung der Kinder zuständig waren: Amme, Kindermädchen, Gouvernante für die Mädchen, Hauslehrer für die Jungen. Eine Reihe von Dienerinnen und Dienern sorgte für die Aufrechterhaltung des Haushalts.

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Eine Biographie liegt vor von: Schönfeldt, Sybil Gräfin, Marie von Ebner-Eschenbach. Dichterin mit dem Scharfblick des Herzens, Stuttgart 1997. Den sozialen Aspekten des literarischen Werkes der Autorin widmet sich: Lohmeyer, Enno, Marie von Ebner-Eschenbach als Sozialreformerin, Königstein / Taunus 2002. Nach dem autobiographischen Schreiben von Frauen am Beispiel des Textes „Meine Kinderjahre“ fragen: Goodman, Dis / Closures, S. 147–185; Becker, Eva Dorothea, Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Kinderjahre (1906), in: Heuser (Hg.), Autobiographien von Frauen, S. 302–317.

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4. Über die Grenzen der Familie

Dieser wechselte regelmäßig mit den Jahreszeiten zwischen Stadt und Land. Der Winter wurde in Wien verbracht, wo die Familie ein Haus besaß, das sie getrennt bewohnten: Die erste Etage wurde von der Großmutter bewohnt, in der zweiten lebte die Kernfamilie, in der dritten die Tante und deren Sohn. In der Kinderperspektive war der städtische Erfahrungsraum noch keiner der ‚Saison‘ bzw. großen Geselligkeiten und Gesellschaften. Zum „gewohnten Gang“ (694) der Stadt gehörte vor allem jener Unterricht, der nicht von der Gouvernante geleistet wurde. Zeichenlehrer, Klavier- und Tanzlehrerinnen vermittelten musische Fertigkeiten, Körperhaltung und Manieren. Während die Brüder ab dem achten Jahr ein Lehrinstitut besuchten, wurde für die Mädchen ein Fachlehrer für die „höheren Gegenstände“ (677) gefunden. Spazierfahrten, Konzert- und Theaterbesuche sorgten für Abwechslung, doch alljährlich galt die „Sehnsucht nach der Rückkehr auf das Land“ (703). Frühjahr, Sommer und Herbst verbrachte die Familie auf ihrem Landsitz, der anderthalb Tagesreisen mit der Kutsche von Wien entfernt lag. Die Autorin, die die meiste Zeit ihres Lebens in Wien verbrachte, betrachtet diesen Besitz, das darum liegende Land und seine Bewohner als „engste[n] Heimat“ (552). In Zdißlawitz lernten die Kinder reiten, maß sich die Tochter Marie im sportlichen Wettkampf mit dem brüderlichen Hauslehrer, sammelte die Geschwisterschar erste Jagderlebnisse. Vor allem aber sind Schloß und Park Zdißlawitz von Kindheit an ein lebendiger Erinnerungsort. Das Ansehen des Großvaters wurde hochgehalten. Er hatte ein „verwahrlostes Gut“ übernommen und es „zum Segen“ aller verwaltet, so daß „sein Wohnort für die Hütten in seiner Nähe Schutz und Schirm gewesen war.“ (616) Die im Park gelegene Familiengruft wurde oft von den Kindern besucht, „um dort andächtig unserer Toten zu gedenken“ (596). Bei den Schloßleuten schien besonders das Gedächtnis an die verstorbene Mutter hochgehalten worden zu sein. „Anhänglichkeit und Treue“ hätten sie dieser unvergleichlichen Frau über das Grab hinaus bewiesen, und ein „alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen“. (552) Wenn auch nicht über Jahrhunderte, sondern erst in der dritten Generation – hier greift der durch Land und Leute vermittelte historische Familiensinn, der den einzelnen Adeligen in den Glauben oder die Gewißheit versetzt, zur Spitze einer patriarchalischen Ordnung zu gehören. b) Das Schweigen der „Vielgetreue[n] und Vielgeliebte[n]“ (627) Inmitten einer landsässigen Familie mit saisonalem Stadtaufenthalt entwirft sich das Kind Marie „als angehender Shakespeare des 19. Jahrhunderts“ (697). Dichterin will sie werden, Dramatikerin. Was sprach dagegen? An den Gruselgeschichten der Amme die Phantasie genährt, über französische Theaterstücke den Sinn für die Form geschärft, die historische Tiefe gleichsam aus einer Universalgeschichte gesogen und in Schillers Werken die tragische Größe des Helden entdeckt. Sie ist, und wird es sein, günstig für die Literatur situiert. Talent, Muße, materielle Sicherheit – beste Bedingungen für literarische Produktivität. Die erste größere Generation von Schriftstellerinnen, darunter Karoline von Günderrode, liegt nicht weit zurück – deutsche Romantik. Am Wiener Burgtheater der 1840er Jahre werden Stücke der Amalie von Sachsen, Schwester des künftigen säch-

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sischen Königs Johann, erfolgreich aufgeführt – die hat sie gesehen. Sie muß nicht Lilith, die ungehorsame Erste werden; es gibt sie, die adeligen Frauen der Feder. Noch ist sie ein Kind. Wer sprach gegen ihre Ambitionen? „In der Schilderung dieses ruhmvollen Zukunftsbildes kam ich nicht weit. Großmama unterbrach sie mit einer Strenge, die ich noch nie von ihr erfahren hatte, und die mir bis zum heutigen Tage unerklärlich geblieben ist. Warum hat die sonst Gütigste und Nachsichtigste mein Geschwätz nicht wie eine kindische Torheit, sondern wie ein Unrecht behandelt und hart zurückgewiesen? … Großmama kam, ich wußte das wohl, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan, und meine Absicht, eine Dichterin zu werden, blieb in ihren Augen etwas Unrechtes und Sündhaftes. Ihre Entrüstung hatte es mir gezeigt.“ (632f.) In Ebner-Eschenbachs biographischem Konflikt stellt die Großmutter, neben der älteren Schwester, das konkrete Gegenüber dar, um deren Anerkennung das Kind Marie kämpft. Nur findet keine konkrete Auseinandersetzung statt. Aus der Lektüre der „Kinderjahre“ ist nicht zu entnehmen, welche „Rüge“, geschweige denn welche Gründe die Großmutter in diesem seltenen Fall von Strenge vorbrachte. Wenn die Autorin von der „stummen Ablehnung“ ihrer „Vielgeliebten“ oder „Meinen“ (633) spricht, dann meint sie damit die Großmutter, die nie wieder auf diesen Vorfall zu sprechen kommen wird (680), aber auch alle anderen Familienmitglieder, denen sie in Liebe zugetan ist. Die Beziehungen der einzelnen zueinander sind bei aller hierarchischen Stufung freundschaftlich und liebevoll gezeichnet. Gegenüber dem „Unrechte[n]“ hingegen „bewahrten die mir teuersten Menschen“ „bis ins reifste Alter“, d. h. weit über die erzählte Zeit hinausgehend, „rücksichtsvolles Schweigen“. (627) Im Text steht der kindliche Wunsch vom „Versemachen“ (626) dem Schweigen der Autoritäten gegenüber. Wie beredt, wie interpretierbar ist das Schweigen? Das Ignorieren des schriftstellerischen Talents durch Nahestehende stellte eine der Möglichkeiten autobiographischer Selbstdarstellung von Künstlerinnen und Künstlern dar. Geschlechts- und herkunftsübergreifend gehörte die Außenseiterposition zu den tradierten Topoi, um die besondere Leistungsfähigkeit hervorzuheben.31 „Der Geist baut sich selbst sein Haus“, schreibt die Autorin und unterstreicht damit die Vorstellung von der Einzigartigkeit jeder „Dichterindividualität“. (679) Das Schweigen der Dubskys gehörte somit partiell zur ‚Imagepflege‘ als Dichterin. Dessen ungeachtet war ihre Herkunftsfamilie adelig. Betrachtet man die kreativen Fähigkeiten und schöngeistigen Tätigkeiten einzelner Familienmitglieder, wird deutlich, daß die nichtbegründete Ablehnung ihres Zukunftsentwurfes in der Verletzung adeligen Lebensstils gelegen haben konnte. Die Schwester wird als hervorragende Tänzerin und talentierte Klavierspielerin geschildert. (vgl. 600) Die Mutter besticht durch Gesang, Malerei und die Kunst des Vorlesens. (vgl. 650) Der Vater zeigt „Sinn für Poesie“, ist „Freund der Musik“ und Theaterliebhaber. (572) Eingesetzt wurden diese Fähigkeiten

31

Vgl. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 356–370.

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4. Über die Grenzen der Familie

in Geselligkeitsformen. Gemeinsame Lese- und Musikabende im Familienkreis und der Besuch von Theatern und Konzerten gehörten ebenso wie das Theaterspiel vor kleinerem Publikum oder eine tänzerische Darbietung aus Anlaß des mit Gästen begangenen väterlichen Geburtstages zu den Kindheitserfahrungen. (vgl. 650, 627f., 600) Sich in den Künsten zu üben dient der Unterhaltung, gilt als Liebhaberei und zielt auf verstehendes Konsumieren von Kultur. Man schöpft Genuß aus den Künsten, aber erschafft sie nicht. Dichten aber bedeutet produktiv sein, bedeutet Rückzug aus adeliger Geselligkeit, insofern Schreiben eine solitäre Angelegenheit ist. Vor diesem Hintergrund ist das Schweigen der Dubskys nicht geschlechtsspezifisch konnotiert. Ein männlicher Sproß mit der Ambition, eine Sappho im 19. Jahrhunderts zu werden, stieße auf vergleichbare Ablehnung. „ ,Sprich nicht davon; dann vergeht’s vielleicht.‘ “ (633) Es ist dies der Ratschlag der knapp ein Jahr älteren Schwester an die Jüngere, um ihrem „Übel“, mittlerweile „als ein unheilbares anzusehen“, beizukommen. (633) Wer nicht spricht, denkt und schreibt nicht. Das Kind Marie soll selbst in das kollektive Schweigen eintreten. Die Schwester ist ihr die „Getreueste“, von ihr erwartet sie Antworten auf ihre Verse. Die Autorin zeichnet die Schwester als vorbildliche Tochter, die die Spielregeln begriffen hat und ihrer Rolle als Älteste in der Geschwisterhierarchie gerecht wird, indem sie z. B. die Jüngere in einer als Ehrkränkung empfundenen Situation in Schutz nimmt. (vgl. 564f., 600, 620f., 638) Mit Blick auf den Konflikt ist die Älteste die Gesprächige unter den schweigenden Autoritäten. Ihre Antwort auf die Frage, was gegen das Versemachen einzuwenden sei, war immer „ausweichend und unbestimmt“ (626). Mal kam es ihr „ ,kurios‘“ (627) vor, dann wieder verwies sie auf die Eltern, denen man sich zu fügen habe (vgl. 630). „Versemachen“ bewegt sich zwischen Absonderlichkeit und Ungehorsam. Das diffuse Unbehagen, die Sprachlosigkeit wird nicht näher bestimmt, scheint mir aber eine Unsicherheit im familiären Umgang mit Neuem zu spiegeln. In der Darstellung wird das Kind Marie bzw. ihr Hang zum Dichten nicht mit Klassifikationsschemata von „unweiblich“ oder „unadelig“ konfrontiert. Ihr schriftstellerisches Talent ist nicht begrifflich einzuordnen, weil es neu in der Familie ist. Es gibt keine Ahnen, die in der Familie als Modell präsent waren, um dem Kind in positiver oder negativer Hinsicht Orientierung zu geben. Ohne die Möglichkeit eines Abgleichs mit der Vergangenheit ist Schreiben „kurios“. Neues, das sich nicht in das Gewebe von Traditionen binden läßt, wird nicht gänzlich verworfen, erscheint aber zumindest prekär. Das Unbehagen am Nicht-Tradierten ließ sich hinter dem Schweigen als Erziehungsmethode verbergen. Diese Methode wird von der Autorin 60 Jahre später verhalten kritisiert, indem sie die Folgen benennt. „Großmama kam, …, auf eine einmal erteilte Rüge nie wieder zurück. Die Sache war für sie abgetan …“ (633) Die Methode des bündigen Abstrafens, der knappen Anordnungen und Befehle kam ohne Erklärungen aus. Die in den Autobiographien sehr gegenwärtige nicht-diskursive Vermittlung von sozialen Anforderungen konnte durchaus individuelle Fraglosigkeit gegenüber der gesetzten Ordnung und somit Verhaltenssicherheit erzeugen. Andererseits trug das autoritäre Schweigen dazu bei, jedwede Abweichung als „Unrecht“ zu deuten und somit individuelle Haltlosigkeit zu befördern. Das Kind Marie suchte Hilfe „in meiner mit Verzweiflung recht nah ver-

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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wandten Ratlosigkeit“ und wünschte sich „ehrlich und heiß, bald zu sterben“, um dem als „Schuld“ empfundenen Dichten zu entrinnen. (633) Sie ist mit einem gewichtigen Problem allein, das keines hätte sein müssen, wenn – wie die Autorin an anderer Stelle bemerkt – ihre Eltern, die sehr wohl von ihrem „Talent zur Poesie“ (679) wußten, darüber mit ihr gesprochen hätten. So aber haben sie ihr „das peinvoll demütigende Gefühl eines angeborenen, geheimen Makels aufgebürdet“ (634). Indem Ebner-Eschenbach das Kinderleid thematisiert, zeigt sie die Grenzen einer keinesfalls lieblosen Erziehung, aber einfallslosen, wenn es um kindliche Bedürfnisse und Eigenheiten geht. (vgl. 585, 671) Das unbeabsichtigt Gute am Schweigen: Das Kind-Ich muß sich bzw. seine hervorragende Eigenschaft selbst definieren. Diese „war etwas Unentrinnbares und ohne mein Wissen und Wollen durch eine höchste, göttliche Macht über mich verhängt.“ (634) Aus dem Bewußtsein des „Märtyrertums“ schöpft sie „Widerstandskraft“ (634), und diese wird es sein, um zukünftig „das Bündnis zwischen mir und meinem vielbestrittenen Talent“ (680) zu festigen. Gegen den familiären Widerstand entsteht Individualität, präziser „Dichterindividualität“ (679). c) Von der Märtyrerin zur Dichterin Ebner-Eschenbach gründet ihr Selbstbild als künftige Dichterin unter Berufung auf die „göttliche Macht“ als höchste Instanz. Nicht Familie, sondern Gott bildet die überindividuelle Kategorie, um sich positiv auf sich selbst zu beziehen. Das familiär vermittelte negative Identifikationsangebot, ihre Begabung als „Makel“ zu betrachten, deutet sie vor religiösem Hintergrund als positiv empfundenes „Märtyrertum[s]“ (634). Das Dichten als unwillentliche Gottesgabe interpretiert Eva Dorothea Becker als einzige Möglichkeit Ebner-Eschenbachs, um am Selbstbild als Schriftstellerin festhalten zu können.32 Das klingt nach Schicksal und Berufung und war sicher ein breit genutzter Topos zwischen Sendungsbewußtsein und Legitimationsstrategie, um sich zum normativen Leitbild der „weiblichen Bestimmung“ zu positionieren.33 Dies scheint mir nicht die Pointe im Falle Ebner-Eschenbachs zu sein. Die Gottesgabe ist Teil eines Selbstbildungsprozesses, von ihr als „Werdetage“ (688) bezeichnet und in zwei Schlüsselszenen erzählt. „Ich stand am Morgen der bittersten Tage in meiner Kinderzeit.“ (683) Sie hatte sich in der Gewißheit eingerichtet, Märtyrerin ihres Talents zu sein und bezog aus diesem positiv gedachten Leiden „Widerstandskraft“ und „Hoffart“ (634). Somit betrachtete sie sich gegenüber ihren Familienangehörigen als besonderer, höherstehender Mensch. Dieses Selbstbild zerbricht an moderner Wissenschaft. Ihr Lehrer schenkte ihr einen Astronomieleitfaden, und über diesen verlor sie den Glauben an die biblische Schöpfungsgeschichte. Sie erkennt die „Unermeßlichkeit des Weltalls“ und die Menschen, sich eingeschlossen, als „Nichts in der Unendlichkeit“. (684) Ebner-Eschenbach tötet nicht Gott, er wird der Schöpfer des „Unermeßliche[n]“, und darüber zerbricht ihre vorgestellte 32 33

Vgl. Becker, Marie von Ebner-Eschenbach, S. 313. Vgl. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 356ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

personale Beziehung zu ihm, denn „er wußte nicht von mir“ (685). Damit erweist sich ihr Märtyrertum als nicht realitätsmächtig und die überindividuelle Kategorie, an der sie ihren Entwurf ausrichtet, muß eine andere werden. Der Zusammenhang stellt sich über syntaktische und semantische Ähnlichkeiten zum zentralen Satz der zweiten Schlüsselszene her: „Es war eine bittere Zeit der Selbsterkenntnis, voll Sehnsucht und Kümmernis …“ (713) Die Bibliothek ihrer Großmutter erbend, fiel der 13jährigen eine Lessing-Biographie in die Hände. Sie hat eine hohe Meinung von ihrer Begabung, die eine „jämmerliche Einschränkung“ (712) im Vergleich mit dem jungen Gotthold E. erfährt. Angesichts der Bildungsmöglichkeiten und -pflichten, die Lessing besaß, verfällt sie in eine „Depression“ (713). Sie beneidet ihn um die Welt des Geistes, des Intellekts, in der er sich zu Hause fühlen durfte und erkennt, daß aus dieser Welt „große Menschen“ hervorgehen. (713) Zur bitteren Selbsterkenntnis gehört dann: „Zum Ruhme gereichte ihm [Lessing, M. K.] sein Glück… Wofür würde ich angesehen werden, wenn ich anfangen wollte, Griechisch und Latein zu lernen? Ganz einfach für verrückt. Ich war ja nur ein Mädchen. Was gehört sich alles nicht, schickt sich alles nicht für ein Mädchen! Himmelhoch türmten sich die Mauern vor mir empor, zwischen denen mein Dichten und Trachten sich zu bewegen hatte, die Mauern, die mich – umfriedeten.“ (714) Die Autorin läßt keinen Zweifel daran, daß das Lessingsche Glück seine Geschlechtszugehörigkeit bezeichnet. Zwar würde sie nie für eine schriftstellerische Ausbildung plädieren (vgl. 679), doch gleichermaßen erkennt sie an, daß die schulische und universitäre Bildung („Griechisch und Latein“) jene für das eigene Schreiben so wichtigen philologischen, historischen und philosophischen Kenntnisse vermittelt. Um eine große Dichterin zu werden, genügt Begabung allein nicht. Der männliche Bildungsweg aber blieb den Frauen bis in die Schreibgegenwart der Autorin hinein verschlossen. Die einfriedenden Mauern beschreiben metaphorisch die Ausschlußerfahrung qua Geschlecht im gelehrten und künstlerischen Bereich, wenn man als Frau den Anspruch erhob, zu den Großen der Zunft gehören zu wollen. Zur Selbsterkenntnis gehört nicht die Frage, ob sie als adeliger Junge in die gelehrte Welt hätte eintreten können. Denn wie abgeneigt ‚ungelehrte‘ Familien gewesen sein mögen, die Möglichkeit hätte zumindest bestanden. Da sich die Autorin in die homogene Gruppe „Mädchen“ einordnet, kann dem Schweigen der Dubskys geschlechtsspezifisches Unbehagen unterstellt werden. Die künftige Dichterin ließ sich keineswegs entmutigen. In der Auseinandersetzung mit Lessing entdeckt sie Literatur als Mittel des Wissenserwerbs und Erweiterung des eigenen Denkens. Lektüre als Selbstbildung – aus der göttlichen Begabung wird eine erworbene, trainierbare, eigene Fähigkeit und die Zuversicht wächst, eine große Schriftstellerin zu werden. (vgl. 713ff., 722) Die Autorin setzt auf die Kraft des Individuums, durch Selbsttätigkeit Schranken zu erkennen und gegen diese anzugehen, auch wenn sie nicht zu durchbrechen sind. Die sie umfriedenden Mauern, zwischen denen sich ihr „Dichten und Trachten“ zu bewegen haben würde, kommentiert sie: „Kein gutes Wort in dieser Anwendung! ‚Umfrieden‘ paßt nur für den Kirchhof, in dem die Toten liegen; die Lebendigen kommen um den Frieden, wenn man ihnen enge Grenzen setzt … Sie werden

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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fortwährend suchen sie zu durchbrechen, immer gegen sie anrennen und glauben: dieses Mal weichen sie mir!“ (714) d) Grenzverschiebungen: das Neue im Alten Die Zuversicht, mit welcher die 75jährige Autorin die 14jährige Marie am Ende des Textes in ihre schriftstellerische Zukunft blicken läßt, steht in einem gewissen Kontrast zum bisher gezeichneten Bild, sich gegen großmütterliche und schwesterliche Ablehnung behaupten zu müssen. Insofern die Verfasserin ihren Widersacherinnen keine Argumente in den Mund legt oder Handlungen begehen läßt, ist es unmöglich, einen Konfliktverlauf zu bestimmen. Aber eine familieninterne Lösung ist zu zeigen. Erste Anerkennung für ihr Schreiben erfuhr sie durch ihren 15 Jahre älteren Vetter. (vgl. 640) Diesen wird sie 1848 heiraten. Von ihm sagt sie, daß er „mich den Wert der Bildung ermessen gelehrt“ und daß darin die „größte Förderung“ ihrer schriftstellerischen Laufbahn gelegen hat. (680) Ihr Selbstbild, gegen das Schweigen der Dubskys entworfen und an Lessing geschult, wird durch den künftigen Ehemann bestärkt und Bildung, von ihr als Wissen verstanden, ein Wert, an dem sie ihre Bestrebungen ausrichtet.34 Mit dem Insistieren auf Bildung plädiert Ebner-Eschenbach nicht für eine bessere Mädchenbildung. Erkannt als Wissensdefizit, gleichen individuelle Anstrengungen dieses aus. Der „Wert der Bildung“ steht für einen Generationsunterschied, zu dem die Autorin Position bezieht. In der Adeligkeits-Diskussion wird die in Selbstdarstellungen spürbare Bildungsdistanz als Distinktion zum Bürgertum interpretiert und im Gegensatzpaar „Charakter vs. Bildung“ aufgehoben.35 Diesen Gegensatz plaziert die Autorin innerhalb des Adels, innerhalb der Familie, zwischen ihrem Vater, Jahrgang 1784, und seinem Neffen, geboren 1815. Von 1800 an stand der Vater im aktiven Kriegsdienst gegen napoleonische Armeen, 1816 trat er als 32jähriger in den Ruhestand. Der Neffe hingegen führte seine militärische Laufbahn in der akademischen fort. Er übernimmt 25jährig eine naturwissenschaftliche Professur an der Wiener Ingenieurakademie. Der alte Soldat schätzt den gelehrten Stand gering, er nennt Gelehrte abschätzig „Gelahrte[n]“, hält sie für unpraktisch dem Leben gegenüber und überflüssig für das Leben. (637) In Diskussionen agiert der mit wenig „positivem Wissen“ (572) ausgestattete Alte stark emotional, der junge Naturwissenschaftler „gelassen und nachdrücklich“ (636). Die Autorin, die Bildung für sich selbst als Wissensdefizit und Geschlechterhürde erkannt hatte, identifiziert sich mit ihrem künftigen Ehemann. Dieser genoß bei den Kindern großes Ansehen, denn er besaß eine „lange Kette der Ehren“. Im adeligen Sprachgewand das Neue: Ehre ruht auf erworbenen Bildungstiteln, es sind „Zeugnisse, die der ‚Onkel‘ sich verdient hatte“. (635) Für Ebner-Eschenbach gehören Leistung und Bildungswissen nicht in die bürgerliche Welt, sondern als Anforderung und Möglichkeit einer neuen Generation in die Adelswelt. 34 35

Zum historischen Begriff grundlegend: Vierhaus, Rudolf, Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508–551. Vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 73ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

Ähnlich, scheinbar Gegensätzliches vereinbarend, verfährt die Autorin mit ihrem Anspruch, Dichterin zu werden. Im ideologisch-normativen Konstrukt polarer Geschlechtscharaktere schließen Kunst und „weibliche Bestimmung“ einander aus. In der sozialen Praxis haben künstlerisch tätige Frauen immer vor dem Problem gestanden, den mit ihren Geschlechtsrollen verbundenen Anforderungen gerecht zu werden. Charlotte Heinritz hat belegt, daß die Schriftstellerinnen-Autobiographien um 1900 dieses Grundproblem auf verschiedene Weise verhandeln, wobei die Unvereinbarkeit gleichzeitiger weiblicher und künstlerischer Pflichterfüllung eine gemeinsame Auffassung darstellt.36 Ebner-Eschenbach beschreibt eine Frau, die im Begriff war, ihren weiblichen Wirkungskreis zu verlassen, mit den Worten: „Sie begann nach Freiheit zu lechzen, um schreiben zu können, so viel sie wollte.“ (699) A room of one’s own, nichts anderes ist damit gemeint. Doch wie ging die Autorin, verwitwete Ehefrau und Nicht-Mutter mit dem Grundproblem in ihren Erinnerungen um? Sie nimmt nicht explizit – weder argumentativ noch reflektierend – dazu Stellung; das entspricht der Erzählweise der „Kinderjahre“. Doch fällt auf, daß sie sich in eine mütterliche ‚Genealogie‘ stellt, von weiblichen Personen Anerkennung verlangt und sich auf bestimmte Weise mit einer Reihe von Müttern identifiziert. Diese Bezugnahmen lese ich als erzählerische Aufhebung des sozialen Schicksals „Mütterlichkeit“ in (Mit)Leid. Dieses gestattet der Autorin, sich in die Kontinuität ihrer weiblichen Familienmitglieder zu stellen, ohne ihren eigenen Anspruch preiszugeben. Dichtkunst und soziales Schicksal „Mütterlichkeit“ schließen sich aus, nicht aber Schriftstellerin sein und „Familie haben“. „Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht.“ (635) Die von Ebner-Eschenbach gezeichneten Frauenfiguren werden vornehmlich, abgesehen vom weiblichen Erziehungspersonal, als Mütter dargestellt, die sich hingebungs- und aufopferungsvoll ihren Kindern widmen. Mit der Idealisierung von Frauen als Mütter, wie sie seit dem späten 18. Jahrhundert anzutreffen war, verbindet die Autorin keine Zementierung des Geschlechtermodells. Vielmehr mißt sie das zementierte Ideal an der Wirklichkeit. „Mütterlichkeit“ mochte Ideal und höchste Anerkennungsform weiblicher Existenz sein. Ebner-Eschenbach präsentiert diese als soziales Schicksal, das ist letal und fragil – den Müttern mangelt es entschieden am Glücklichsein. Angehörige von Adelsfamilien verstehen sich als Glied einer Geschlechterkette: „Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb.“ (551) „In einem Punkte hatte ich das selbe Schicksal erfahren wie sie. Auch ihr Leben war um den Preis des Lebens ihrer Mutter erkauft worden, …“ (553) In diese mütterliche ‚Kette‘ stellt sich die Autorin zu Beginn der Erzählung. Das Kind steht einer Folge von Verstorbenen nach, deren Schlachtfeld das Kindbett war. Auf diesem ist der Gegner, der eigene entindividualisierte Körper, immer der Sieger. Die historische Erfahrung der weiblichen Todesart ohne Kriegerdenkmal als biographische Tatsache.

36

Vgl. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 369f.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Maries Mutter hatte „die liebreichste und gütigste Stiefmutter“ (553), diese wird ihre Stiefgroßmutter. „Sie wünschte nichts mehr, als nur in der Nähe der Kinder ihres Kindes leben zu dürfen.“ (554) Als „vereinsamte, stolze, schweigsame Frau“ (553) leidet sie, als ihr Schwiegersohn wieder heiratet. Dem Schicksal mit Haltung gegenübertreten, das ist die großmütterliche Mütterlichkeit. Zwischen Großmutter und Enkelin herrscht, bis auf die Wertung des Schreibens, eine „Stille des Einverständnisses“ (680). Das Kind Marie ist sieben Jahre alt, als ihre geliebte Mutter, erste Stiefmutter, infolge einer vierten Geburt stirbt. Ein Schuldgefühl taucht auf. In der Erholungsphase die ärztliche Erlaubnis, eine Ausfahrt zu unternehmen: „Mich wollte sie mitnehmen …, keines von meinen Geschwistern, nur mich, mich allein! … Günstlingsgefühle erfüllten mich.“ (589) Dann der Rückfall in die Krankheit, in den Tod: „[D]as ließ sich nicht begreifen.“ (593) Die andere Stiefgroßmutter am Totenbett ihrer Tochter bietet ein „großartiges Bild der Resignation“ (594). Haltung als Antwort auf ein Frauenschicksal: „Kein Beben …, kein Schluchzen … endlich hatte sie sich erhoben … und war hinweggeschritten, aufrecht wie immer.“ (594) Drei Jahre später betritt „Maman Xaverine“, zweite Stiefmutter und vierte Ehefrau des Grafen, das Haus Dubsky. „Wir fanden sie oft in Tränen.“ Die Schwestern bedauern sie, denn „sie litt unter den Schwierigkeiten ihrer Stellung.“ (649) Die Zweite und Vierte ist ad hoc Mutter von fünf Kindern. Ihr Mann ist wesentlich älter und fremd. „[D]urch ihre Umgebung, durch alles, was sie vor Augen hatte, [wird sie] an ihre Vorgängerinnen gemahnt“. (649) Mutterschaft und Ehe als Überforderung in Fortführung der weiblichen ‚Kette‘ der Familie. Angehörige von Adelsfamilien sind verpflichtet, den Anforderungen der Kette gerecht zu werden: Soziales Schicksal einlösen oder „Dichterindividualität“ entwickeln? Ebner-Eschenbach wird die erste ihrer Familie sein, welche, verheiratet und kinderlos, ein literarisches Werk schaffen wird. Das Kind Marie wird für ihr Talent keine großmütterliche Anerkennung erfahren, aber sie hat den Eindruck – erzählerisch verknüpft mit dem bevorstehenden Tod der Großmutter –, daß diese ihr Absolution erteilt hat. (vgl. 681) Diese vorgestellte Freisprechung kann man als großmütterliche Erlaubnis verstehen, das soziale Schicksal nicht als Erbschaft antreten zu müssen. Diese Ent-Bindung verstärkt die individuelle Bindung an die mütterliche ‚Kette‘: „[W]ie wird es erst sein, wenn ich Großes geleistet haben werde und sie stolz auf mich sein wird?“ (708) e) Eine Geschlechterhürde? Schreiben als individueller Gestaltungsraum Eva Dorothea Becker vertritt am Beispiel der „Kinderjahre“ Ebner-Eschenbachs die Auffassung, daß in Familien gepflegte Weiblichkeitsvorstellungen das „größte Hindernis auf dem einzuschlagenden Weg“37 zur Schriftstellerin gewesen seien. Selbstverständlich, so

37

Becker, Marie von Ebner-Eschenbach, S. 317.

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4. Über die Grenzen der Familie

wie die Autorin die Frauen ihrer Familie zeichnet, ist zu folgern, daß die in ihrem sozialen Schicksal Verstrickten in ihrem Talent eine unbotmäßige Abweichung gesehen haben. Schreibende Frauen galten zumindest als unfein, aber das ist ein Allgemeinplatz des 19. Jahrhunderts, auch wenn ein solcher Vorwurf jede Heranwachsende bedrückt haben mochte. Ihre Ausschlußerfahrung qua Geschlecht bezieht Ebner-Eschenbach explizit auf ihr an Lessing gemessenes Wissensdefizit. Auch dies ein allgemeines Problem, wofür die Autorin nicht gerade ihre Familie haftbar macht. Und doch ein besonderes: Am Beginn der Karriere stand das Scheitern als Dramatikerin. Um der hohen Tragödie gerecht zu werden, bedurfte es in den Augen der „Meisterdenker“ Abstraktionsvermögen, Allgemeinbildung und Objektivität. Diese Fähig- und Fertigkeiten schrieben sie auf natürlicher Grundlage den Männern zu. Die Autorin sieht nicht Natur, sondern Kultur am Werke, wenn sie sich im Bildungsweg Lessings spiegelt. Zugleich lag die Norm- und Meinungskontrolle seit Entstehung eines Literaturmarktes im ausgehenden 18. Jahrhundert von der Produktion bis zur Rezeption in der Hand männlicher Literaten und Intellektueller, die über schreibende Frauen eine Art „Geschlechtszensur“ ausübten. Des Weiteren war insbesondere der Theaterbetrieb bis ins 20. Jahrhundert hinein von Männern dominiert, so daß es Autorinnen in diesem Bereich besonders schwer hatten, sich durchzusetzen.38 Ebner-Eschenbach scheitert in der Königsgattung. Mithin, die Geschlechterhürde mochte immer auch in Familien präsent sein, doch im literarischen Feld der zweiten Jahrhunderthälfte, das sich ausdifferenzierte, in dem Männer zunehmend mit Frauen als Produzentinnen konfrontiert wurden und deshalb ihren Anspruch auf Feldhoheit verteidigten, konnte weibliche Geschlechtzugehörigkeit eine größere Hürde als in der Familie darstellen. Für die hier zugrunde liegenden Quellen ist festzustellen, daß Adelige, die wie Ebner-Eschenbach schriftstellerisch tätig waren, aber die Tätigkeit nicht als biographischen Konflikt betrachteten, keine massiven Vorbehalte von Familienangehörigen gegen das Schreiben aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit erinnern. Das hängt zum einen mit dem Anspruch und Selbstverständnis als Schriftstellerin zusammen. Ebner-Eschenbach war von Kindheit an überzeugt, zur Dichterin geschaffen zu sein. Dies zu realisieren, darin lag ihr Lebenssinn, sie spricht von ihrem „Kampfe um ein höchstes Gut“ (680). Maximal kontrastierend der sehr viel gelassenere Anspruch einer anderen Autorin: „Ich schrieb nicht, um zu leben, ich lebte nicht, um zu schreiben, ich lebte um zu leben.“39 Schreiben bedeutet hier weder Lebenssinn noch Erwerbsnotwendigkeit, sondern stellt eine von mehreren Möglichkeiten dar, das eigene Leben zu gestalten. Zum anderen hat Schreiben bei anderen Autorinnen selten expliziten Entwurfscharakter, sondern stellt sich als biographische Alternative zur Ehe ein. Es ist vornehmlich ein Ledigen-Phänomen. Insofern das eigene Tun nicht im Widerspruch zu den sozialen Anforderungen als Haus38

39

Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik, S. 53–64, S. 210; Stürzer, Anne, Dramatikerinnen und Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergeschichte von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit, Stuttgart / Weimar 1993. Bunsen (1929), S. 114.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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tochter oder mithelfende Tante geriet, haben Familienangehörige schreibende Frauen offenbar akzeptiert und toleriert. Schreiben ist individueller Gestaltungsraum im Familienkontext. Idealerweise war im Adel weibliche Geschlechtszugehörigkeit Voraussetzung und nicht Hindernis, um Schriftstellerin zu werden. Als die dritte Frau des Grafen Dubsky die ersten Söhne der Familie zur Welt bringt, läßt Ebner-Eschenbach die Großmutter befürchten, daß die Töchter nichts mehr gelten würden: „Zurückgesetzt würden wir werden und zu fühlen bekommen, daß es eigentlich uns, den Älteren, zugestanden hätte, männlichen Geschlechts zu sein.“ (554) Die Befürchtung spiegelt genau die Verbindung von Besitz und Individuum in landsässigen Adelsfamilien. Es waren Söhne, die als Erben des Besitzes dessen Erhalt garantierten, woraus sich eine differenzierte Wertschätzung des männlichen und weiblichen Nachwuchses ergab. Als ältester Sohn wäre das Kind Marie zum künftigen Gutsherrn aufgebaut worden. Besitzerhalt als vordringlichstes Familienziel hätte den ältesten Sohn nie Dichter werden lassen. Die am Besitz orientierte Geschlechterdifferenzierung konnte für Töchter eine Chance sein, um ein individuelles Talent zur Fähigkeit und Profession zu entwickeln. Hier entstand ein Spielraum, nicht weil Familien sonderlich erfreut über schriftstellernde Töchter waren, sondern weil der Besitz gesichert war. Es mag sein, daß aus bürgerlichen Pfarrhäusern Söhne wie Lessing hervorgingen, die das geistig-kulturelle Klima beförderten. Die wohl bedeutendsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts kamen aus adeligen Gutshäusern: Annette von Droste-Hülshoff, Marie von Ebner-Eschenbach. f) Familienname und Öffentlichkeit: Hürde am Laufbahn-Beginn Um 1900, auf dem Höhepunkt der schriftstellerischen Anerkennung Ebner-Eschenbachs, hatten sich Schriftstellerinnenvereine herausgebildet, entstanden Lexika und Anthologien deutschsprachiger Autorinnen. Waren Frauen um 1800 eher Konsumentinnen, gehörten sie nun zu den Produzentinnen von Literatur jedweden Genres und künstlerischen Anspruchs.40 In der Adelsforschung werden schreibende Frauen vor dem Hintergrund adeliger Publizistik und Professionen registriert. Man kann Schriftstellerin werden, weil eine qualitätvolle Erziehung zum Schreiben prädestiniere.41 Die Existenz adeliger Autorinnen klingt hier sehr selbstverständlich, als ob literarische Öffentlichkeit und Familienname nicht ein Problem darstellen könnten. Man hätte dies erwarten können, da sich nicht ein Eigenname im literarischen Feld plaziert, sondern ein Familienname der öffentlichen Meinung ausgesetzt wird. Das adelige Individuum tritt gleichsam als Kollektiv auf die Bühne. Dies gilt für beide Geschlechter. Insofern hat die adelige Literatin Verpflichtung 40 41

Vgl. Kaufmann, Eva, Schreibende Frauen zwischen 1880 und dem ersten Weltkrieg, in: Dies. (Hg.), Herr im Hause. Prosa von Frauen zwischen Gründerzeit und erstem Weltkrieg, Berlin 1989, S. 5–48. Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 27; Scheffler, Mandy, Adel und Medienöffentlichkeit. Die Publikationstätigkeit des sächsischen Adels 1763–1910, in: Marburg / Matzerath (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, S. 243–258, hier: S. 251f.

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4. Über die Grenzen der Familie

und Verantwortung, das Ansehen des Namens und der damit verbundenen Träger zumindest nicht zu schmälern. Ohne einen Problemüberhang schaffen zu wollen, der Familienname ist zumindest ein latentes Problem, das für Ebner-Eschenbach ein manifestes werden wird. Die Namensproblematik wird bereits bei Karoline von Günderrode (1780–1806) und Bettina von Arnim, geb. Brentano (1785–1859), jenen zur ersten größeren Autorinnen-Generation gehörenden Frauen, deutlich. Günderrode veröffentliche unter den männlichen Pseudonymen Tian und Jon. Im Zeitalter sich selbst schöpfender Originalgenies war diese Praxis ein strategisches Klugheitsgebot, um die eigene Kreativität vor der „Geschlechtszensur“ zu retten. Aber es handelte sich auch um eine adelige Praxis. Das Pseudonym schützte vor etwaigen Anfechtungen durch die Familie und schützte zugleich das Ansehen der Familienmitglieder, insofern ein „Jon“ Anfechtungen der literarischen Kritik ausgesetzt war.42 Arnim trat nach dem Tod ihres Mannes Achim (1831) mit literarischen Arbeiten an die Öffentlichkeit. Als sie 1857 ihre Sämtlichen Schriften im hauseigenen Arnimschen Verlag herausgab, enthielt diese selbst redigierte Ausgabe weder ihre vormals erschienenen politischen Schriften noch Das Armenbuch, ein Projekt zur Dokumentation der Armut in Preußen, das sie 1844, von der Zensur bedrängt, im Druck abgebrochen hatte. Ob Arnim einer weiteren Zensur, diesmal ihrer Werkausgabe, zuvorkommen oder ob sie der Nachwelt nur die romantische Autorin präsentieren wollte, sei dahingestellt. Nach ihrem Tod ließ die Arnimsche Familie jede etwaige Erinnerung an eine politische und soziale Schriftstellerin im Archiv verschwinden. Diese ‚Verschlußsache‘ trug erheblich zur Reinhaltung des Namens bei. Bettina von Arnim wurde bis ins 20. Jahrhundert auch als (nichtpolitische) Autorin, aber vor allem als große liebende Frau der Romantik rezipiert.43 Adelige Autorschaft besaß somit das Potential, das Prestige der Familie zu gefährden.44 Umgekehrt galt aber auch: Fanden schriftstellerische Produkte Anerkennung durch die Literaturkritik, stellten sich Erfolge ein, dann steigerte das Ansehen als Autorin das Ansehen der Frau in ihrem adeligen Umfeld, an dem wiederum die Familie teilhaben konnte.45 „ ,Kind, dichte, aber belästige niemand damit‘ “46, hieß der väterliche Rat an seine Tochter. Eine gute Formel, die das latente Problem adeliger Autorschaft auf den Punkt bringt. In den „Kinderjahren“ spricht die Autorin von grausamen Mißerfolgen, die den Beginn ihrer Laufbahn kennzeichneten. (vgl. 680) Seit den 1860er Jahren versuchte sie sich im noch als ‚Königsgattung‘ geltenden Drama. Vergeblich. Manches Stück wurde aufge42 43

44

45 46

Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik, S. 61–65, S. 68 und S. 206–209. Vgl. ebd., S. 226, 234f., 264, 269ff.–1929 versteigerten die Nachkommen den großen Teil des Arnim-Brentano-Nachlasses und stand nun der Forschung nicht mehr selektiv zur Verfügung. Vgl. ebd., S. 269. Familiäre Vorbehalte gegen öffentliches Schreiben finden sich auch in den Autobiographien von Lily Braun (1909 / 1922), S. 218, Marie von Bunsen (1929), S. 113 oder Gertrud von Le Fort (1965), S. 79. Z. B. Brackel (1905), S. 89, S. 128f. Le Fort (1965), S. 79.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

247

führt, aber auch zügig abgesetzt. Die Kritiken waren grundsätzlich schlecht. Besorgt um den derart in öffentlichen Mißkredit gebrachten Namen, redeten Brüder und Ehemann der Autorin bis in die 70er Jahre, als sie zur Prosa wechselte und sich Erfolg einstellte, immer wieder auf sie ein, ihre schriftstellerische Arbeit einzustellen. Dennoch: Ihr Gatte war und blieb ein Förderer ihrer Bestrebungen – ein geschlechtsvormundschaftliches Verbot sprach er nicht aus.47 g) Zusammenfassung Der biographische Konflikt, ausgelöst durch den Entwurf Dichterin zu werden, löst sich, ohne die emotionale wie soziale Bindung an die Herkunftsfamilie preisgeben zu müssen. Die alternative Option „Dichterin“ ist somit vereinbar mit „Familie haben“. Insofern die Gemengelage bzw. die Kontextbedingungen des Konfliktes vornehmlich durch das Schweigen der Familienangehörigen bestimmt sind, fällt es schwer, die wechselseitigen Faktoren des versöhnlichen Schlusses zu gewichten. Der erzählte Entwurf löst zweierlei aus: Die Nichtanerkennung einer besonderen Fähigkeit durch die Autoritäten und die Behauptung der Begabung durch die Akteurin im erzählten Geschehen. In diesem Wechselspiel erst entwickelt sich „Dichterindividualität“, welche sie von den unausgesprochenen Vorgaben des gesellschaftlich Erlaubten ihrer Herkunftsfamilie entfernt. Die Vorgaben scheinen zum einen in einer Orientierung zu liegen, die Kultur konsumiert, nicht aber produziert. Zum anderen eine Orientierung am Tradierten, einhergehend mit der stillschweigenden Übereinkunft, Neues per se auf Abstand zu halten. Zuletzt eine Orientierung an „Weiblichkeit“, die unbefragt verbindlich Ehe und Mutterschaft zum Ziel hat. In diesem Rahmen hätte sich die Adelige entfalten können. Innerhalb des Rahmens scheint es, daß der Entwurf am stärksten mit der Ent-Bindung eines spezifischen Aspektes von „Weiblichkeit“ korrespondiert. Ebner-Eschenbach bringt keine Geschlechterungleichheiten argumentativ in Anschlag, sondern sie erzählt von der immergleichen Todesart junger Frauen ihrer Familie, die infolge des Gebärens sterben, erzählt vom eigenen Leiden und das der anderen daran. Dem (Mit)Leiden am letalen Schicksal junger Frauen stellt die Autorin eine Akteurin zur Seite, die ihren Entwurf zunehmend an der überindividuellen Kategorie „Bildung“ ausrichtet. Zur bitteren Selbsterkenntnis gehört zuallererst, daß ihr die Welt des Wissens aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit verschlossen ist. Zugleich aber wird die Benachteiligung zur Herausforderung. Lektüre wird Selbstbildung, aus der göttlichen Begabung entwickelt sich deshalb die Zuversicht, selbsttätig eine große Schriftstellerin zu werden. Die Orientierung an Bildung wird keinesfalls als Gegensatz zur Herkunftsfamilie dargestellt. Vielmehr stellt sie sich mit ihrer Begabung in die weibliche Genealogie der Verstorbenen und beansprucht über diese Neuerung im Alten ihre Familienzugehörigkeit. Die ideelle Reform ist maßgeblich beeinflußt durch

47

Vgl. Goodman, Dis / Closures, S. 165–167; Becker, Marie von Ebner-Eschenbach, S. 314.

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4. Über die Grenzen der Familie

die Unterstützung des väterlichen Neffen, ihres zukünftigen Gatten. Er erkennt das schriftstellerische Talent an und eröffnet ihr in persona den Wert der Bildung, um ihre Dichterinnen-Laufbahn zu verfolgen. Auch hier stellt Bildung als Handlungsorientierung keine außerhalb der Adelsfamilie existierende Kategorie dar. In der Darstellung treffen der alte Soldat und der junge Naturwissenschaftler generationell und in der Diskussion aufeinander. An dieser Stelle wird gewissermaßen das gesellschaftlich erlaubte Handeln ausgehandelt und um Bildung erweitert. Autorin wie Heranwachsende identifizieren sich mit dem künftigen Ehemann. Für die Adelige stellen Familienbindung und „Dichterindividualität“ keinen Widerspruch, sondern die Konfliktlösung dar. Auch ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß in der landsässigen Familie der älteste Sohn am stärksten in die Pflicht des Besitz- und Namenerhalts genommen wurde. Die Besitzsicherung in männlicher Linie konnte Töchtern durchaus die Möglichkeit eröffnen, individuelle Fähigkeiten auszubilden. Der erkämpfte wie zugestandene Spielraum mochte die ideelle, emotionale und soziale Bindung an die Herkunftsfamilie verstärkt haben. Der versöhnliche Schluß erfährt in diesem Fall seine Grenzen dort, wo der Familienname einer öffentlichen Kritik ausgesetzt ist. Hier steht das Ansehen aller Träger des Namens und der mit ihnen verwandten Adeligen zur Disposition. In diesem Sinn sind adelige Schriftstellerinnen wie Schriftsteller zum Erfolg verdammt und verpflichtet.

4.2.2. Steter Tropfen höhlt den Stein – ein langer Weg zur Eigenständigkeit: Anna von Krane (1853–1937) Anna von Krane veröffentlichte 1917 als 64-jährige ihre Autobiographie „Wie ich mein Leben empfand“48. Sie war ab der Jahrhundertwende einem größeren Lesepublikum als dezidiert katholische Schriftstellerin des durch den „Kulturkampf“ konfessionell geteilten Literaturbetriebes bekannt. Damit nahm sie eine gesellschaftliche Position ein, die ganz entschieden nicht zu den Erwartungen ihrer evangelischen Herkunftsfamilie gehörte. Diese erst in der Spätphase ihres Lebens eingenommene Position war der Effekt einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung zwischen ihr und den familiären Autoritäten um ein Mindestmaß an persönlicher Eigenständigkeit. Krane wurde 1853 in der hessischen Residenzstadt Darmstadt geboren. Ihre Mutter war eine geborene Freiin von Ricou und entstammte einer französischen Familie, die während der Rheinbundzeit nach Darmstadt kam. Väterlicherseits waren die Kranes in Westfalen ansässig. Der Darmstädter „Zweig“ ging auf den Großvater zurück, der als jüngster Sohn und Nichterbe des fideikommissarisch gebundenen Rittergutes später in hessische Dienste trat. Der Vater, zunächst in der österreichischen Armee, bekleidete einen niederen Beamtenposten im Telegrafenamt. Da Kranes Mutter bereits 1858 ver-

48

Krane, Anna Freiin von, Wie ich mein Leben empfand, Bocholt 1917.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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starb, wuchs sie als einziges Kind in den Händen der Erzieherin und unter den Augen des Vaters auf. Beide Personen bilden in der Autobiographie den Kern von Familie. a) Vom Traum der Arbeit Sich an ihre Zukunftserwartungen als ca. 20jährige erinnernd, schreibt Krane: „Aber dann kam der … Traum und mehr als ein Traum, der brennende Wunsch, arbeiten zu dürfen, etwas im Leben zu leisten, nicht die untätige Zierpuppe zu bleiben, die ich zu sein verdammt war. … Ich fühlte auch ganze Welten an ungebrochener Arbeitskraft in mir, jede Fiber verlangte nach Tätigkeit, nach wirklich ernster Tätigkeit … und auch dies war mir versagt.“ (38) Der Traum von Arbeit49 stand den Vorstellungen von Erzieherin und Vater diametral entgegen: „Meine Erzieherin kannte kein anderes Ideal als das einer Dame, die nichts selber tut, alles von den tief verachteten Dienstboten tun läßt, in gelehrten Büchern liest und feierlich auf dem Sofa sitzt.“ (24) „Meines Vaters Ideal war das Puppenideal! Das niedliche hübsche Mädchen, das mit spitzem Mündchen redet, in dessen Köpfchen außer den Gedanken an einen neuen Hut und Schlagsahne sich nichts regt, das wie ein Kätzchen schmeicheln kann und dessen irdische Wünsche in einem Leutnant gipfeln. … Aber mein Sinn stand nun nicht nach Hüten oder Schlagsahne, auch der Leutnant machte mir keinen Eindruck, ich wollte mehr!“ (40) Krane formuliert keinen Plan vom künftig gelungenen Leben, sondern spricht vom Traum bzw. Wunsch, der sich über das Gefühl, etwas ernsthaft tun zu können, nicht weiter konkretisiert. Das heißt, ihre Erwartung knüpft nicht an vorangegangene oder durch Familienmitglieder vorgelebte Erfahrungen an, die sich nun in eine bestimmte Richtung spezifizieren könnten. Im Gegenteil. Mit den bis ins Klischee gesteigerten Idealen von Erzieherin und Vater wird Krane mit anderen Bildern von sich selbst konfrontiert. Einerseits ein über Vernunft und Kälte aristokratisch anmutendes Frauenbild und andererseits eine über Kindlich- und Dümmlichkeit männlich imaginiert erscheinende Weiblichkeit, denen gemeinsam eine Vorstellung von Müßiggang zugrunde liegt. So diffus Kranes eigene Erwartungen sind, der ironische Umgang mit Weiblichkeitsklischees und die Distanzierung von diesen zeigt deren Nichtakzeptanz an. Der biographische Konflikt, den Krane auszukämpfen hat, ist einer um Arbeit statt Müßiggang.50 Der Kampf, in welchem umfassend um Lebenssinn gerungen wird, zieht sich über zwei Jahrzehnte. Ein Ringen, das untrennbar mit sozialer Isolierung verbunden ist. b) Eine merkwürdige Familie Den Schlüssel für die besondere Konstellation, aus der heraus Krane ihre Erwartung formulierte, liefert folgende Äußerung: „Aber gab es je eine vertracktere Erziehung und 49 50

Zum historischen Begriff grundlegend: Conze, Werner, Art. Arbeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215. Zur Zeitgestaltung im 19. Jahrhundert vgl. grundlegend: Kessel, Langeweile.

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unnatürlichere Verhältnisse als die meinen? Und dabei verlangt man, ich solle von normalen Menschen schreiben, wenn ich selber erst nach meinem dreißigsten Jahr unter normale Menschen kam und die allerelementarsten Begriffe von Familie und Heimat nicht kannte.“ (31) Krane wirft im Kontext mit ihrem Wunsch nach Arbeit eine an das Lesepublikum gerichtete moralische Fragestellung auf: Darf man einen eigenen Weg gehen, wenn dieser von unnatürlichen Verhältnissen in natürliche führt? Wie sollte man den Anforderungen der sozialen Instanz Familie entsprechen können, wenn es nicht einmal einen Begriff von dieser gibt? Die Fragestellung ist zugleich Kranes Argumentationsfigur, um ihren Werdegang darzustellen, und um diese organisiert sie ihre Erfahrungen. Für Anna von Krane bedeutete „Familie haben“ zunächst einmal gesellschaftliches Außenseitertum durch die Familie. Die Nichtzugehörigkeit Kranes läßt sich auf drei Ebenen beschreiben. 1. Wahrnehmung und Deutung der Familie in der „guten Gesellschaft“: Die Kranes gehörten zwar qua Adelsstand zur „guten Gesellschaft“ Darmstadts, waren aber als Hinzugezogene noch lange nicht in den Kreis der Alteingesessenen aufgenommen. In der lokalen Statushierarchie dieser kleinen Residenz nahm die Familie keine herausragende Stellung ein, sondern wurde eher als sonderbare Fremde eingestuft. Krane beschreibt Darmstadt als „kleines verschlafenes Städtchen“ (16), in dem die „Durchschnittsphilister“ (24) den guten Ton angaben und die Normen des Zusammenlebens bestimmten. Für abweichendes Verhalten, zu dem die Kranes tendierten, gab es zwei Interpretationen: Reichtum oder Narrenhaus. „Da nun alle Kranes unbehelligt umherwandelten, hielt man sie selbstverständlich für ungeheuer reich und erlaubte ihnen von der Norm abzuweichen, …“. (25) Zwar ließ man die Familie gewähren, dennoch wurde sie genau beobachtet und Fehltritte wurden wenig subtil geahndet. Zur Tradition der „guten Gesellschaft“, die in der Wahrnehmung Kranes die Menschen in indische Kasten einteilte, gehörte beispielsweise das Mittagsmahl um 13.00 Uhr. Hier hatten die „Brahminen“ – und dazu gehörten die Kranes – zu essen, die „Radschas“ etc. besaßen das Vorrecht späterer Essenszeiten. Als der Vater die heilige Stunde nach hinten verlagerte, um seinem Hobby, der Fotografie, bequemer nachgehen zu können, waren alle umgehend informiert: „Ach, was gab das für eine Geschichte. Wie viel Hohn und Spott und Sticheleien bekam ich da zu hören!“ (25) Auch war der Vater, offenbar mit wenig Sinn für die lokalen Differenzierungen ausgestattet, der Auffassung, seine Tochter müsse mit der Kutsche ins Theater gefahren werden. Das war ein Vorrecht der Radschas; Brahminen gingen zu Fuß. Solche und ähnliche Beispiele nonkonformen Verhaltens dienen Krane zur Erklärung, warum sie „in dem ganzen Städtchen verschrieen“, und warum sie „ein dumpfer Haß verfolgte, der nicht zu löschen war.“ (25) Insofern die angesessenen Darmstädter die Familie nur bedingt, und zwar über deren vermeintlichen Reichtum, anerkannten, war Kranes Möglichkeit, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, von vornherein prekär. Unmöglich wurde dieses, weil die familiären Autoritäten ihrer Verpflichtung, sie auf die Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde, vorzubereiten und einzuführen, nicht nachkamen.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

251

2. Wahrnehmung und Deutung „vertrackter“ Erziehung: Anna von Krane wurde nach dem Tod der Mutter ab dem 6. Lebensjahr einer Erzieherin unterstellt, die vormals Prinzessinnen-Gouvernante im Hause Wied gewesen war. Bei den Kranes blieb sie, später dann als Anstandsdame, bis zu ihrem Tod, der eintrat, als ihr Zögling ca. 27 Jahre alt war. Von Anbeginn gelang es ihr, „sklavischen Gehorsam“ zu erzeugen, der ihr aus Furcht bereitwillig entgegengebracht wurde (18). Ihr Erziehungsziel bestand im wesentlichen darin, die Kinderpersönlichkeit zu brechen (vgl. 27) und sie dann nach dem Ideal der Dame neu zu formen.51 Krane unterstand bis weit in ihre Jugend hinein der „Herrin auf Leben und Tod“ (27) und akzeptierte sie uneingeschränkt als maßgebliche Autorität, während dem Vater eher „natürliche“ Autorität zugestanden wurde. Die Hauserziehung Kranes gestaltete sich als „Zuchthausbeaufsichtigung“ (13), sie verkehrte kaum mit anderen Kindern, durfte nicht spielen wie andere Kinder und wurde vornehmlich im Haus gehalten. (vgl. 23, 13, 32) Ihr Alltag wurde ausschließlich durch den Unterricht bestimmt. „Und dabei saß ich Sommer und Winter, jahraus, jahrein im Lernzimmer und mußte lernen, lernen ohne andern Zweck und Ziel als möglichst viel trocknen Wissenskram eingetrichtert zu bekommen …“ (24) „Aber es half mir nichts, gelernt mußte werden, bei Todesstrafe! Denn meine Herrin verstand keinen Spaß in diesen Dingen.“ (26) Die strenge und rigide Erziehung, die Monotonie des Unterrichts und das Abgesondertsein verweisen eher auf Aspekte hochadeliger Töchterausbildung, worauf die Erzieherin nicht zu verzichten vermochte. Aber während Prinzessinnenerziehung darauf ausgerichtet war, fortwährend auf ihre künftige hohe Stellung in der Öffentlichkeit vorzubereiten, wozu beispielsweise „Gehorsam“ trainiert wurde, und zwar in der Dialektik von Gehorchen und Herrschen, und auch der „trockne Wissenskram“ insofern Sinn machte, als daß hier jenes Gedächtnis trainiert wurde, welches den hohen Damen als natürliche Eigenschaft, „für jeden ein gutes Wort zu haben“ angerechnet wurde, hatte Anna von Krane eine solche Aussicht nicht.52 In der „guten Gesellschaft“ Darmstadts wäre ein Offizier gerade gut genug für sie gewesen, den sie nicht wollte und auf den sie nicht vorbereitet wurde, weil sie nicht einmal „Haushalt und Kochen“ (24), unabdingbare Voraussetzungen für eine niederadelige Offiziersfrau, erlernen durfte. Krane besaß kaum alltagspraktische Fähigkeiten und ebensowenig besaß sie die Fähigkeit, in der Gesellschaft zu glänzen: Sie ist im Sprechen „barsch und unvermittelt“ (42) – ein eklatantes erzieherisches Defizit im „Damenideal“. Die „vertrackte Erziehung“ trug „nicht dazu bei, mir die Leute meinesgleichen näher zu bringen.“ (39) Ihren „Jugendgenossinnen“ (24, 39) fühlt sie sich „weltfremd und menschenfremd“ (39) gegenüber: „Ich hatte mit ansehen müssen, wie alle ein Band inniger Freundschaft … umschlang, von dem nur ich ausgeschlossen war …“ (39)

51 52

Das Erziehungsziel erinnert stärker an hochadelige Standeserziehung. Vgl. Gestrich, Andreas, Neuzeit, in: Geschichte der Familie, S. 585ff. Einblicke in die Erziehung von Prinzessinnen bieten insbesondere folgende Autobiographien an: Cecilie, Kronprinzessin (1930); Belgien (1935).

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4. Über die Grenzen der Familie

Neben einer statusinadäquaten Erziehung und einer kaum in der „guten Gesellschaft“ integrierten Familie trug noch etwas zu Kranes Außenseitertum bei, und zwar ihre Familie im hochadeligen Verkehrskreis. 3. Familie und hochadeliger Verkehrskreis: Kranes Großmutter mütterlicherseits, eine geborene von Türckheim, war Hofdame der Großherzogin Wilhelmine, ihr Großvater Oberhofmeister des Prinzen Karl. Das dort begründete Treue- und Freundschaftsverhältnis übertrug sich adelsüblich auf die Kinder- und Kindeskinder, so daß Anna von Krane Spielgefährtin der Tochter des aus dynastischen Erwägungen heraus gegründeten Hauses Battenberg wurde.53 Da ihre Erzieherin nach wie vor der fürstlichen Familie Wied verbunden war, verkehrte Krane auch in diesem Haus. Von ihren adäquaten Standesgenossen eher ferngehalten, wurde diese Beziehung nicht unterbunden. Mit den Prinzessinnen und Prinzen spielte sie in der Kindheit „Räuber und Gendarm“ (33), mit ihnen wuchs sie zu einem jungen Mädchen heran und die ersten Bälle – dieser rite de passage für adelige Frauen – besuchte sie nicht in der „guten Gesellschaft“ Darmstadts, sondern im Hause Battenberg. Sollte Krane jemals Aspirationen auf „Höheres“ gehabt haben – die morganatische Ehe des Prinzen Alexander von Hessen hätte ihr Beispiel sein können – so realisierte es sich nicht. Der durch Familienfreundschaft begründete und den Gewohnheiten der ehemaligen Prinzeß-Gouvernante entsprechende hochadelige Verkehrskreis schließen Krane aus dem ihrem Stand angemesseneren Kreis aus. Für die Darmstädter war sie ein „Gegenstand stillen Mißtrauens“, ihr wurden „Hochmut“ und „Absonderungsgelüste“ unterstellt, und ihr wurde klar, „wie unbeliebt ich dort war, um ein mildes Wort zu gebrauchen.“ (39) Krane wurde in der Darmstädter Gesellschaft keine Wertschätzung zuteil, weil sie eine Krane war. Die Familie besaß zu wenig Prestige, als daß sie als Person vom symbolischen und sozialen Kapital profitieren konnte. Konnten affektive Bindungen in der Familie die mangelnde Wertschätzung kompensieren? c) Inmitten der Autoritäten Wenn Krane von ihrer Herkunftsfamilie spricht, dann meint sie ihre Erzieherin und ihren Vater. Eine minimalistische Variante, die durch die frühe Witwerschaft entstand und zu der wechselnde Etagenwohnungen und wechselnde zwei, drei Bedienstete gehörten. Der weitere Familienkreis bleibt zumeist Staffage, ihm kommt eine geringe Bedeutung mit Blick auf den Konflikt zu. Vater und Erzieherin waren die zentralen Figuren ihrer Kindheit und Jugend und gehören somit nicht in die von Krane gewählte Kategorie „normale Menschen“. Es sind ihre „Kerkermeister“(13) und sie selbst ein „Vogel im Käfig“ – so titelt sie das Kapitel über ihre erste Lebenshälfte. Sie räumt ein, daß die Freiheitsschranken für Mädchen der höheren Stände im allgemeinen recht eng gezogen waren, doch diese hätten Geschwister und eine Mutter gehabt, hätten teilgenommen an geselligen Ver53

Zu Battenberg: Cookridge, Edward H., Die Battenbergs. Geschichte einer europäischen Familie, München 1967.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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gnügungen. (vgl. 13) Der von Krane beschriebene psycho-soziale Binnenraum war von Kommunikationsarmut, Kälte und Aggressionen bestimmt, in dem die Erzieherin über ihre eigentliche Funktion hinaus die unumschränkte häusliche Macht ausübte. (vgl. 19) Der bereits erwähnte rigide Erziehungsstil bestimmte zugleich die häusliche Atmosphäre, und somit war die Heranwachsende vollständig der Autorität ausgeliefert. Ihre Familie nimmt Krane als „tyrannisches Überwachungssystem“ (39) wahr, das „sogar mein ans Kontrolliertsein gewöhntes Gehirn schwindlig“ (85) machte. In der geschlossenen Anstalt gab es außer dem unbedingten Gehorsam gegenüber „seine[n] von Gott verordneten Vorgesetzten“ (42) keine Handlungsorientierung, die „für das Dasein tüchtig“ (13) gemacht hätte. Krane sucht die Gründe für ihr Leid – sie glaubt sich „zu lebenslangem Gefängnis“ (43) verurteilt – in den psychisch-sozialen Dispositionen ihrer Autoritäten und der daraus folgenden Nichtanerkennung ihrer Person. Die „Herrin auf Leben und Tod“ (27) beschreibt Krane als hochgebildet, unbeugsam, stolz, verschlossen und hart in ihren Ansichten (vgl. 15), die – in den Augen des Kindes – willkürlich zu heftigstem Jähzorn neigte. „Folterqualen der Angst“ (27) erleidet das Kind ob der Unberechenbarkeit. Mit dem Abstand der Jahre meint Krane, in der Erzieherin wäre „ein Meer an Bitterkeit“ (27), das hinausdrängte, weil sie nicht zu der sich berufen fühlenden Stellung – welche auch immer – gelangt war. Ihr Erziehungsziel zum Damenideal mag ein Zerrbild persönlicher Ambitionen oder eine Projektion vergangener Prinzessinnen-Ausbildung gewesen sein. Krane wünschte sich, sie hätte mehr von der „Kindespsyche“, denn von französischer Grammatik verstanden. (29f.) War die Beziehung zur Erzieherin durch Angst geprägt, so jene zum Vater durch Fremdheit. Er lebte ein zurückgezogenes, von größeren Verpflichtungen freies und seinen persönlichen Neigungen folgendes Leben. Das Interesse an seiner Tochter galt nicht ihrer Person. Nach dem Tod seiner Frau „brach sein Heldentum zusammen“ (23), und er „ergab sich einem fortdauernden Traumleben“ (14), zu dem die Heranwachsende auf besondere Weise gehörte. Das Kind stellte die Bindung zur Verstorbenen her. Er ist „von Angstträumen gepeinigt, …, ich würde ihm auf irgend eine Art genommen.“ Gemeint war nicht das töchterliche Ich, sondern: „Er hätte nicht atmen können ohne diesen letzen Hauch ihres Wesens, der in ein armes dummes Geschöpflein gebannt war“. (23) Dem traumgespinsteten „Puppenideal“ aus realitätsverleugnender Existenz der Tochter konnte Krane so wenig genügen wie dem „Damenideal“ einer ums Leben betrogenen Gouvernante. Sie wünschte, „jedermann gefällig zu sein“ und auch ein „wenig Freundlichkeit“. (41) Statt dessen empfing sie „ewigen Tadel, Nörgeln, Verbieten, sogar noch bei [ihrer] gefesselten Bewegungsfreiheit.“ Das Ich in der erzählten Zeit zwischen ca. 20 und 25 Jahren kennt keine Möglichkeit, sich positiv auf sich selbst zu beziehen. Selbstzweifel, „vermengt mit dem grauenhaften Gefühl des Enterbten im Leben“ (41), Gleichgültigkeit, in der Erwartung „einer zu lebenslangem Gefängnis Verurteilten“ (43), Selbsthaß, weil sie jenen, „die Gewalt über mich hatten“ (43), nicht entkommen kann. Vor dem Erfahrungshintergrund fehlender gesellschaftlicher und familiärer Anerkennung entsteht der „Traum, der brennende Wunsch, arbeiten zu dürfen, etwas im Leben zu leisten“ (38).

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4. Über die Grenzen der Familie

d) Arbeit als prospektiver Fluchtpunkt Zu Beginn ihrer Autobiographie schreibt Krane: „Kein Mensch ahnt, unter welchem beständigen Druck mein Leben in seiner ersten Hälfte verlief.“ (13) Doch eine Vorstellung von diesem Druck läßt sich entwickeln. Isolation von der Außenwelt und damit verbundene Kontaktarmut hatte Krane als Erziehungsprinzip für die Töchter höherer Stände als üblich anerkannt. Das gemeinhin bürgerlich gedachte Prinzip faßte sie etwas breiter – es ist ein städtisches und Oberschichtenphänomen. Zwar mutet die Kranesche Kleinstfamilie im Vergleich zu ‚offenen Häusern‘ landsässiger Familien ungewöhnlich an, doch vor städtischer Folie sind die Kranes als Eingewanderte bis zu den Großeltern in der Stadt und am Hof präsent, und die Witwerschaft ist unter dem Gesichtspunkt der Liebesheirat ebenfalls verständlich. Das Besondere scheint doch der Anstaltscharakter zu sein, in dem Prinzipien, an denen sich die Individuen – ob formal oder individuell – ausrichten und orientieren können, nicht den Rahmen familiärer Beziehungen bilden, sondern Prinzipien als unhintergehbares Gesetz alleinige Realitätswahrnehmung konstituieren. Für Krane gibt es nur das Prinzip Gehorsam, und das steht im Machtzentrum. Keine Zwischengewalten, keine Vermittlungsinstanzen, die diese Totalität relativieren, erklären, verstehbar machen könnten. In der Perspektive der Heranwachsenden bildet das Prinzip das Familienleben und dieses die Welt. Allerdings wird ihre ‚Welterfahrung‘ in Nuancen erweitert. Es gibt Freigänge, Reisen an Badeorte etwa. Es gibt Freiräume. Der hochadelige Verkehrskreis mit seinen Schlössern, Wäldern und Parketts ist ihr das „Kindheitsparadies“. Das von jeder Literatin genannte Reich der Phantasie, hier „Traumkönigreich“ (32), das sich aus Märchen, Sagen, den antiken und modernen Klassikern speist. Unter dem „beständigen Druck“ der ersten Lebenshälfte kann man sich zum einen die Spannung zwischen Familie als unerbittlichen realitätsstiftendem Zentrum und erfahrenen Weltausschnitten als periphere ‚Sinnstiftungen‘ vorstellen, die Handlungsunsicherheit erzeugt. Zum anderen erweitern solche Weltausschnitte den familiären Erfahrungsraum um Handlungsmöglichkeiten. Die Autoritäten Kranes sind nicht mehr unfehlbar, sondern vom Leben gezeichnete Menschen mit Schwächen. In einer stärker reflektierenden Passage werden aus den „Kerkermeistern“ „meine[n] armen lieben Leutchen“ (40). Aus diesem Verständnis heraus sieht sie sich selbst nicht mehr in einem Licht purer Unterwerfung als Normalzustand, sondern als ein – wenn auch prekäres – Ich, das auf der Suche nach einer angemessenen sozialen Existenz ist. Arbeit bedeutet für die Adelige zunächst einen prospektiven Fluchtpunkt aus dem Gefängnis. e) Geistiger Wendepunkt: weibliche Vernunft und männliche Krankheit Die Orientierung an Arbeit wurde von Krane gegen die Bedingungen einer adelig-familiären Welt formuliert, die sie selbst nachhaltig bedrohte. Müßiggang vs. Arbeit beschreibt somit die Oberfläche eines Konfliktes, der im Grunde von Sinnsuche und sozialem Überleben handelt. Darin hatte ihre Stellung als Außenseiterin nichts mit Ungleichheitser-

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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fahrungen qua Geschlecht zu tun. Ihren gesellschaftlichen Ausschluß sah sie im öffentlichen Verhalten ihrer Familie begründet. Die häusliche Herrschaft der Erzieherin deutete sie nicht als „verkehrte Welt“, unerträglich erscheint hier das Machtgefälle zwischen elterlichen Autoritäten und Kind. Über mangelnde Bildung, dem Ungleichheitsgrund frauenbewegter Frauen par excellence, klagte Krane nicht, sondern über mangelnde ‚Herzensbildung‘ und einem Zuviel an formaler Wissensvermittlung. Mit ihrem Entwurf „Arbeit“ jedoch kommt sie in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts an eine normative Geschlechtergrenze, die nach Rechtfertigung verlangt. Krane sieht in Ehe und Mutterschaft den „eigentlichen Beruf[e]“ (38) von Frauen und setzt – zeitgenössisch – Weiblichkeit weitgehend mit Mütterlichkeit gleich. (vgl. 129) Als Nicht-Heiratende schreibt sie: „Dieser Wunsch [„arbeiten zu dürfen“] regt sich ja in allen weiblichen Wesen, …, und wird umso stärker, wenn sie nicht zur Ehe gelangen, also ihrem eigentlichen Berufe fern bleiben müssen.“ (38) Unter Anerkennung der „weiblichen Bestimmung“ betrachtet sie sich in einer Sonderposition als Ledige, die den Arbeitswunsch legitimiert. Doch dieser Wunsch richtete sich nicht auf im Adel übliche ‚Berufe‘ oder auf Arbeitsfelder, die mit dem Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ zu vereinbaren waren54, sondern auf die bildende Kunst. Arbeit in diesem Sinn war schöpferische Tätigkeit, mithin bürgerlich und männlich zugleich konnotiert. Das väterliche Verbot, professionelle Malerin zu werden, ist Kranes erzählte Ausschlußerfahrung als weibliche Person, die für die individuelle Biographie von zentraler Bedeutung ist. Diese Erfahrung ist verbunden, sich in der Autobiographie geschlechtlich zu positionieren, und sie ist verbunden mit einer Abkehr von als Zumutung empfundenen Standesgeboten. Das Gegenüber in der Auseinandersetzung, ihr Spiegel, stellt der Vater dar. Ihm gegenüber benennt sie sich als „ausgeprägte Persönlichkeit“ (40) und als „selbständig denkende Frau …, die ihr Urteil klar ausspricht und nach eigenen Grundsätzen handelt“ (73), während er in ihren Augen „das echt männliche Grauen vor einer denkenden Frau“ und somit vor ihr (42) besaß. Krane nimmt als Frau für sich in Anspruch, nach Maßgaben der Vernunft zu handeln. In den Geschlechterdebatten des 19. Jahrhunderts nahm Vernunft noch immer bzw. schon wieder eine prominente Stellung ein, um weibliche Minderwertigkeit und männliche Überlegenheit zu diskutieren, sei es, um die Geschlechterhierarchie zu zementieren, sei es, um sie zu überwinden. Zugleich blieb die Diskussion um „Selbständigkeit“ an den (bürgerlichen) Mann gebunden.55 Insofern sich Krane als „selbständig denkende Frau“ bezeichnet, beansprucht sie Unabhängigkeit, die begründet werden will und muß. Gegen den Willen des Vaters versucht sie ihre Erwartung zu realisieren. Damit verstößt sie gegen die väterliche Autorität, die in der symbolischen Ordnung immer auch das Gesetz verkörpert. Indem sie sich auf Vernunft bezieht, stellt sie die hierarchische Vater-Tochter-Beziehung in Frage und sucht ihr Handeln wider die Gehorsamspflicht zu legitimieren. 54 55

Vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Vgl. Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, S. 119ff.; Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 57–78.

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4. Über die Grenzen der Familie

Der Vater habe das Verbot, Malerei zu studieren, „sittlich entrüstet“ (38) ausgesprochen. Seine Tochter Malerin werden zu lassen entspräche weder Brauch noch Sitte. Von einer anderen Verbotsbegründung erzählt Krane nichts. Wie charakterisiert sie den Vater, dessen legitime Autorität persönliche Zukunftserwartungen zertrümmern konnte? Krane erfährt ihren Vater von Kindheit an als jemanden, der es verstanden hat, „mit dem besten Willen sich selbst und seine Umgebung todunglücklich zu machen, einen zu quälen bis man bald aus der Haut fuhr und sich selbst noch am meisten dabei zu martern.“ (21) Die Fähigkeit des Unglücklichseins und Unglücklichmachens sucht Krane zum einen im Bereich subjektiven Leidens, d. i. der nie verwundene Tod der geliebten Ehefrau. Zum anderen bezieht sie die väterliche Fähigkeit auf einen sozialen Kontext, sie spricht von „Neurasthenie“ (22), jener zur Jahrhundertwende weit und unter Männern verbreiteten Nervenschwäche, ersichtlich an mangelnder Willenskraft, Tobsuchtsanfällen, Selbst- und Fremdhaß, Gemütsschwankungen und Konzentrationsschwäche.56 Als Krankheit an der Moderne wurde deren biologischer oder sozialer Charakter diskutiert. Krane selbst nimmt die Krankheit als Symptom von Standeskonventionen wahr, die dem einzelnen ein individuell gelungenes Leben verwehrten. Im Vater sei ein „nicht zur Blüte gekommenes Talent“, das ihn „quälte, ohne daß er sich dessen so richtig bewußt war.“ „Was er wollte, fühlte, ahnte, was in ihm lag, das kam nicht heraus, da es ihm an der nötigen Technik und der richtigen Schulung fehlte.“ (22) Sie attestiert ihm insbesondere Talent zur Malerei und ein Gefangensein in den Vorurteilen eines „Edelmann[s] der alten Schule“, dem es zu seiner Zeit ein „kühner Gedanke“ gewesen wäre, in der Kunst eine Profession zu sehen, die sich erlernen und ausüben ließe. (22f.) Krane übt keine direkte Kritik an den begrenzten Berufsmöglichkeiten adeliger Männer, sie bespricht die Folgen. Ihr Vater scheint weder als Offizier noch als Beamter sonderlich erfolgreich gewesen zu sein. Eine künstlerische Ausbildung, die für Adelige im ausgehenden Jahrhundert durchaus möglich wurde57, hätte seinem Leben eine andere Richtung geben können. Der künstlerischer Dilettantismus, in der positiven Wortbedeutung Aspekt adeligen Lebensstils, ist in ihren Augen mitverantwortlich für seine Nervenschwäche. Da ungeschult, ist sein Amüsement an künstlerischen Dingen sprunghaft, verlieren sie schnell an Reiz. Zwischen Langeweile und Anfällen von Zorn und Beschäftigung verläuft sein Leben. (vgl. 67f.) Der Vater gehört nicht in Kranes Kategorie „normale Menschen“. In der Auseinandersetzung mit der Vaterfigur spiegelt Krane ihre eigene Situation. In der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung gibt es den Begriff des „ungelebten Lebens“, der Unerfülltheit und ungenutzte Potentiale eines konkreten Lebens zu fassen sucht und häufig in den Biographien von Menschen zu finden ist, die „aufgrund restriktiver äußerer Bedingungen eigene Impulse und Entwicklungsmöglichkeiten nicht ver56 57

Vgl. Corbin, Alain, Schreie und Flüstern, in: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4, hrsg. v. Michelle Perrot, Frankfurt a. M. 1992, S. 579–630. Vgl. Zobeltitz, Fedor von, Die beiden Geschlechter innerhalb der Aristokratie, in: Mann und Weib, Bd. 3: Mann und Weib in ihren Beziehungen zur Kultur der Gegenwart, Berlin / Leipzig 1927, S. 237–263.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

257

wirklichen konnten.“58 Krankheit sei eine mögliche Ausdrucksform des ungelebten Lebens. Wenn Krane sich als „selbständig denkende Frau“ bezeichnet, dann macht sie einen gewichtigen Unterschied zwischen seinem und ihrem „ungelebten Leben“ auf. Während der Vater unhinterfragt den Standeskonventionen folgt, deren Zwänge nicht erkennt und in diesem Sinn selbstverschuldet sind, sieht sie dank ihrer Vernunft das Kranksein durch Konvention, die ein individuelles Lebensglück verhindert. Vernunft ist Kranes Argument, um der Chiffre Arbeit vor dem Hintergrund sozial begründeter Neurasthenie die Dimension „Selbstverwirklichung“ hinzuzufügen, d. h. das Recht, sich aus einer als nicht lebbar erkannten Situation selbst zu befreien. f) Die erste eigenständige Handlung Kranes geistiger Wendepunkt korrespondierte nicht mit einem Handeln in der erzählten Zeit. Darin ist sie noch immer Anfang 20, dann Mitte und Ende 20 und das Verbot, Malerei zu studieren gilt. Mit 31 Jahren handelt sie zum ersten Mal „nach eigenen Grundsätzen“ (73). Sie tritt, vom Vater nicht autorisiert, zum katholischen Glauben über, ein Ereignis, das den tatsächlichen Wendepunkt der Konflikterzählung bildet. Mit dem Erreichen der Mündigkeit (25 Jahre) hätte Krane als Ledige die Möglichkeit gehabt, rechtlich Herrin über ihre eigene Person zu sein.59 Die dazu nötige ökonomische Selbständigkeit wäre in diesem Fall wohl fraglich gewesen. Sozialisatorisch nicht auf einen „Broterwerb“ vorbereitet, hätte sie auf ihrem Erbe bestehen müssen, das ihr dieser Vater sicher verweigert hätte. So blieb sie als Haustochter dem Hausvater untergeordnet. Aus dem „Vogel im Käfig“ wird nun eine dezidiert unfreie „Frauenseele“ (47), die sich als „Sklavin“ „harter Sitte Schranken“ (52) empfindet und sich gleich Arbeitslosen vom „großen Lebensmarkte“ (59) ausgeschlossen fühlt. Die Erfahrung sozialer Benachteiligung qua Geschlecht setzt bei Krane keine Argumentationen über die Lage von Frauen frei. Sie vergemeinschaftet sich nicht über ein Kollektivsubjekt „Frauen“ mit anderen ihres Geschlechts. Krane teilt: Es gibt eine denkende Frau – sie selbst – und „tausend andre Frauen“, gesegnet mit „schlichte[r] Einfalt“ und im Konsumrausch ihr Lebensglück findend. (49f.) An anderer Stelle bezeichnet sie sich als „Intellektuelle“ (42). Diesen Begriff füllt sie inhaltlich so wenig, wie es sich bei den einfältigen Frauen um konkrete Gegenüber handelt. Ihr Gegenüber ist der Vater, den sie als Autorität akzeptiert und zugleich in all seinen emotionalen Schwächen erlebt. Sie braucht den Schild der Vernunft, um seine männliche Phantasie, Frauen als Puppen zu betrachten, von sich abzuwehren. Diese Abwehr ist umso nötiger, als sich ihre ‚objektive‘ Lage in der erzählten Zeit nicht wesentlich verändert. Hingegen ihre ‚subjektive‘ Einstellung zur Lage: Sie sucht Trost in der Religion und findet diesen im katholischen Glauben. „Da war etwas Wirkliches. Etwas Greifbares, zum Stützen und Halten. Da war ein Glück, denn man sagte mir, ich sei nicht unnütz, nicht zu einem zwecklosen Dasein verdammt, sondern mir ginge ein 58 59

Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 61. Zum Wandel von Lebensperspektiven lediger Frauen im Adel vgl. den letzten Teil dieser Arbeit.

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4. Über die Grenzen der Familie

wunderbares Feld der geistigen Tätigkeit auf, das ich bestellen könnte, im Gebet, in Betrachtung, in der Fürbitte und vor allem in der Geduld. Und Gott sähe dies und machte mich dadurch zur Mitarbeiterin an meinem Heil, zur Mithelferin an seiner Gnade!“ (77) Krane sublimiert den sozialen Ort „Familie“, der einem Kerker gleicht, zum geistigen Ort „Kloster“. In diesem ist sie als ca. 28jährige Akteurin ihres Geschicks, erhält Anerkennung und Lebenssinn. Ihr Entwurf „Arbeit“ geht auf in einer vita contemplativa. Etwa drei Jahre später tritt Krane zur katholischen Kirche über, gibt ihrem geistigen einen sozialen Ort. Die Konversion ist ihre erste eigenständige Handlung und zugleich Abweichung. Sie konvertiert heimlich. Für diese Sünde wider die Autorität bedarf sie des vernünftigen Arguments. Vater und Tochter schließen mit „festem Handschlag“ einen „Pakt“. (85) Sie würde ihren Konversionswunsch auf einige Jahre zurückstellen, wenn er ihr erlauben würde, die katholische Kirche „in aller Freiheit“ (85) anschauen zu dürfen. Es geschieht „das für mich Unglaubliche“ – mit „kalte[m] Hohn“ bricht der Vater das Versprechen. (85) In diesem Vertragsbruch kulminiert die gesamte Mißachtung ihrer Person. Er sieht sie von Jesuiten verführt, die sie ins Kloster stecken wollen, um ihr Geld der Kirche zuzuwenden. (82f.) Sicher, das sind Phantasien eines „Katholikenfressers“, die im konfessionell geteilten Reich vorkommen konnten. Doch diese Phantasien richten sich auf eine Person, die er allenfalls vor der Folie des Puppenideals wahrnimmt, d. h. er spricht ihr die Fähigkeit selbständigen Denkens ab. Somit verstärkt der Vertragsbruch den Effekt der Nichtanerkennung. Zugleich steht der „Pakt“ für den ungeheuren Kraftaufwand, um den ‚Abfall‘ von der Autorität zu legitimieren. Als 31jährige Tochter kann sie nicht einfach eine individuelle Entscheidung treffen. Die sinnliche Erfahrung, über die Beziehung zu Gott ein sinnvolles Leben führen zu können, ist nicht Entscheidungsgrund genug für die Konversion. Krane spricht vom „notwendigen Gedankenschluß“ (78), von „Erkenntnis“ (78), von „Überzeugung“ (80); sie begründet ihr Glaubensbekenntnis rational. Krane ruft das Prinzip Vernunft an, um sich gegen einen kranken Vater zu behaupten. Vernunft, dem Vertragsdenken zugrunde liegend, sprengt die traditionelle Gehorsamspflicht gegenüber der Autorität auf. g) Sich in Freiheit binden Kranes Konversion präsentiert in der Konflikterzählung den Wendepunkt. Der töchterliche Ungehorsam in Fragen der Religiosität zieht eine Konfliktlösung nach sich, die von Krane kontrastiv und schematisch erzählt wird. Ihr Vater erlaubt ihr, in Düsseldorf Malunterricht zu nehmen. Sie meint, daß er glaubt, über die Realisierung ihres lang gehegten Wunsches würde sie zum protestantischen Glauben zurückfinden. „In Düsseldorf aber kam ich wie in den Himmel.“ (86) Anders als in Darmstadt, trägt sie in Düsseldorf nicht die Bürde ihres Namens. Sie begegnet „freundliche[n] Menschen, die mich nahmen, wie ich bin.“ (86) Das familiär bedingte Außenseitertum greift am neuen Ort nicht. Düsseldorf, durch die „Düsseldorfer Schule“ zur damaligen Zeit eine Stadt künstlerischer

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Ausstrahlung, zählte anders als Darmstadt die Künstler zur „guten Gesellschaft“. Als ‚Auszubildende‘ gehört Krane nun dazu. (vgl. 87) Der Traum von Arbeit und einer sozial würdigen Existenz realisiert sich über den Ortswechsel als Effekt der Konversion. Und sie erhält Anerkennung vom Vater, der ihr umgehend nach Düsseldorf folgte. Krane wird Zeit seines Lebens ihre Aufgaben als Haustochter erfüllen. Sie führt den kleinen Haushalt, pflegt ihn während seiner zum Tod führenden Krankheit. Als er zwischenzeitlich nach Karlsruhe, sie aber nach München gehen will, folgt sie seiner Neigung. Dafür sucht er ihr malerisches Talent zu unterstützen, und als sie später ihre nützliche Tätigkeit im Schreiben findet, – sie selbst hatte begriffen, daß die Malerei nicht ihr Metier werden würde – erfreut er sich ihrer Erzählungen und ihrer selbst. (vgl. 89f.) Diesem allzu versöhnlichen Schluß setzt Krane dennoch einen eindeutigen Kontrapunkt entgegen. Mit 41 Jahren atmet sie auf: „Und nun war mein Vater tot. Eine große schwere Lebensaufgabe war für mich erledigt, ich stand allein, ich war frei. Zum ersten Mal in meinem Leben war niemand über mir, der mir zu befehlen hatte, konnte ich tun und lassen, was ich wollte und was mir beliebte.“ (91) Kranes kontrastive Bestimmung der Konfliktlösung in ein vorher / nachher, in Nichtanerkennung / Anerkennung gründet darin, daß die erzählte Konfliktlösung zugleich die Vorgeschichte ihres individuellen Weges zu Gott bildet. Die Freisetzung aus der Familienbindung ermöglicht nun die Gestaltung einer eigenen Existenz. Aus der Not sublimierten vita contemplativa entwickelt sich eine vita activa, die sich im überindividuellen Zusammenhang „katholischer Glauben“ erfüllt. Aus dem jugendlichen Traum von Arbeit wird nun die konkrete Tätigkeit als Schriftstellerin, eine Arbeit, die sie als „Posten“ betrachtet, „auf den mich mein Herr gestellt hat“: Das ist „wirklich mein Beruf“ (172).60 Hierüber entstehen Freundschaften zu adeligen wie bürgerlichen Schriftstellern. Sie selbst lebt in einer befreundeten Familie, deren Abkunft nicht thematisiert wird. Eine Rückkehr zu den Darmstädter Familienmitgliedern findet in der Erzählung nicht statt. Doch die Beziehungen zum Hause Battenberg bleiben erhalten.

60

Zur Feminisierung des (katholischen) Glaubens und den sich hierüber herstellenden Gestaltungsmöglichkeiten in und außerhalb der Institution Ehe vgl.: De Giorgio, Michela, Das katholische Modell, in: Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 187–220; Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn / München u. a. 1995; Meiwes, Relinde, Arbeiterinnen des Herrn. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2000. Zur Thematisierung von Religion und Konfession in Relation zu Nation in autobiographischen Zeugnissen von BildungsbürgerInnen im Kaiserreich vgl.: Günther, Das nationale Ich?, S. 338–404. Hier sind die sozialhistorisch relevanten neueren religionshistorischen Forschungen eingearbeitet und empirisch aus kulturhistorischer Perspektive geprüft. In der modernen Adelsgeschichtsschreibung gehört Religion bzw. der Wandel von Religiösität (noch) nicht zu leitenden Fragestellungen. Vgl. aber: Reif, Westfälischer Adel, S. 431ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

h) Zusammenfassung Mit dem diffusen Wunsch der ca. 20jährigen nach einer sinnvollen Arbeit beginnt in der Darstellung ein biographischer Konflikt, der nach zehn Jahren eine Zuspitzung erfährt, nach fünf weiteren Jahren allmählich in ein Vergeben und Vergessen übergeht und erst durch den Tod der väterlichen Autorität – die Akteurin ist da 41 Jahre – zu einer Lösung gelangt. Diese besteht darin, sich jenseits der Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie in Freiheit zu binden, dem eigenen Leben über die Hinwendung zu Gott und der Arbeit als Schriftstellerin für ein genuin katholisch interessiertes Publikum Sinn zu geben. In diesem Konflikt geht es nicht um ‚Selbstverwirklichungsambitionen‘ einer ledigen Tochter aus adeligem Haus. Vielmehr wohnt diesem Konflikt eine umfassende Qualität inne, die man mit der Kategorie des „ungelebten Lebens“61 fassen kann. Zur Disposition steht der Kampf um eine angemessene soziale Existenz, mit der sich die Person positiv auf sich selbst beziehen kann. Der Entwurf nach sinnvoller Tätigkeit bedeutet für die Akteurin zunächst einen prospektiven Fluchtpunkt aus der Gemengelage unterschiedlicher Faktoren. Folgende scheinen von besonderer Relevanz: Der unbedingte Gehorsam gegenüber der Autorität (hier die Erzieherin) und die Erziehung auf ein Bild hin (hier die Dame) gehörten zu adeligen Erziehungsidealen und -praktiken. In diesem Fall erstreckt sich das Prinzip von Gehorsam und Unterordnung als alleiniges Ordnungsprinzip auf den gesamten familiären Binnenraum. Die Autorität ist Anstaltsherrin über einen Zögling. Der Anstaltscharakter korrespondiert mit der Nichtanerkennung, beinahe Mißachtung der Person. Diese bezieht sich nicht auf einzelne Eigenschaften oder Fähigkeiten, sondern ist total. In der Darstellung erfährt Krane weder von der Erzieherin noch vom Vater emotionale Zuwendung und Wertschätzung. Die Autoritäten degradieren sie auf ihre jeweiligen abstrakten Ideale. Der Effekt ist, daß Krane kein Selbstvertrauen aufbauen kann. In Hinblick auf die Ausbildung personaler Identität rückt dieser Mangel das Subjekt in die Nähe des „psychischen Todes“.62 Zum innerfamiliären Verhältnis tritt die Beziehung von Familie und städtischer Gesellschaft als weiterer bedingender Faktor. Der Konsens in der Adelsforschung, daß die Familie die Stellung des einzelnen bestimmte, impliziert häufig, daß das Individuum nur dem Imperativ des Familienerhaltes folgen muß, um eine angemessene gesellschaftliche Stellung einnehmen zu können, die wiederum die Position der Familie im Vergleich zu anderen stabil hält.63 In dieser strukturellen Perspektive wird nicht davon ausgegangen, daß sich „die“ Familie, vertreten durch die Autoritäten, konträr zu den Familienzielen verhalten könnte. Was mit einzelnen geschieht, wenn die Familie der sozialen Logik von Statuserhalt und -verbesserung nicht oder nicht hinreichend folgt, zeigt vorliegender Fall. Die hinzugezogenen Kranes halten sich nicht an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Darmstädter Residenz. Sie sind beargwöhnte Außenseiter. In der kleinen Kernfamilie 61 62 63

Vgl. Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 61. Vgl. Köhler, Die Konflikttheorie der Anerkennungstheorie, S. 326ff. Vgl. z. B.Matzerath, „dem gantzen Geschlechte zum besten“.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

261

gibt es keine Bemühungen, diesen Status für die kommende Generation in einen angemessenen zu transformieren. Damit ist Krane nicht nur familiäre, sondern auch soziale Anerkennung verwehrt. Der Entwurf sinnvoller Arbeit, die neben Bildung einen Wert bürgerlicher Handlungsorientierung und Selbstvergewisserung par excellence darstellte, ist somit Antwort des Subjekts auf eine erfahrene Zumutung psycho-sozialer Isolation in adelskonformen Räumen. Der Prozeß von Ent-Bindung, Orientierung und Bindung vollzieht sich in einem langjährigen Konfliktverlauf mit wenig erzählten äußeren Ereignissen und stellt eine eher ideelle, denn praktische Überwindung der Bindung an die Herkunftsfamilie dar. Zwei lebensgeschichtliche Ereignisse sind Anlaß, um den Konflikt im Sinne des Entwurfs einer Lösung zuzuführen. Anfang 20 möchte sie Malerei studieren. Die Orientierung an Arbeit wird konkretisiert. Das väterliche Verbot, eine Profession anzustreben, wirft zwei Problemkreise auf, in denen sich Krane gegen Standeskonventionen und Geschlechterzuschreibungen positioniert, um an ihrem Entwurf festzuhalten. Für Kranes Vater als „Edelmann alter Schule“ stellte Kunst als Liebhaberei eine anerkannte gesellschaftliche Option dar, als Berufsausübung lag sie jenseits seiner konventionellen Vorstellungen. Krane präsentiert die Folgen einer solchen Denkweise, damit die ideelle Überwindung des väterlichen Verbots kennzeichnend. Sie attestiert ihm Nervenschwäche, auch dadurch verursacht, daß er seine Talente nie hat ausbilden lassen. Gegen die krankmachende Konvention entstehen Ausbildung und Beruf als Handlungsmöglichkeit für ein individuell gutes Leben. Daß Krane für diese Option permanent das Argument der Vernunft bemüht, zeigt das Ausmaß der Schwierigkeiten, als junge Adelige eine Zukunft als ausgebildete Malerin realisieren zu wollen. Zur Standeshürde tritt die Geschlechterhürde. Eine Künstlerin als Tochter geht über die väterliche Vorstellungskraft hinaus. Gegen die geschlechtlich bestimmte Ausschlußerfahrung tritt ebenfalls das Argument Vernunft inkraft. Krane verkehrt die Geschlechterdifferenz zwischen „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“, indem sie den Vater als Neurastheniker zeigt, sich selbst selbständiges Denken zuweist. Damit wird die angenommene geistige und moralische Überlegenheit „des Mannes“ infrage gestellt. Nach Maßgabe der Vernunft ist der Entwurf „Arbeit“ rechtens. Die ideelle Überwindung familiärer Vorgaben, d. h. der kritische Blick auf Konventionen, führt nicht zu reellen Veränderungen. Das besondere an diesem Fall ist seine zeitliche Dimension, in welche die Geschlechterungleichheit fraglos eingelassen ist. Ein männlicher Adeliger wäre schon aufgrund der Ausbildungsgänge in einem anderen sozialen Bindungsverhältnis als dem der Herkunftsfamilie angelangt. Im Falle Kranes macht die Zeitdauer auf das Fehlen von Alternativen aufmerksam, um selbst eine dysfunktionale Bindung vergleichsweise zügig zugunsten eines adäquateren Passungsarrangements aufzulösen. Die Hinwendung zum katholischen Glauben als Überlebensstrategie und die Konversion im Alter von 31 Jahren als erste eigenständige Handlung spitzt den Konflikt zu und entschärft ihn zugleich. Krane gewinnt hierüber Gestaltungsmacht über ihr eigenes Leben. Im Glauben, daß sie zum Protestantismus zurückfindet, erlaubt der Vater ein Kunststudium. Der damit verbundene Ortswechsel von der Residenzstadt Darmstadt in die „Künstler“-Stadt Düsseldorf befreit Krane aus der familiär bedingten psycho-sozialen Isolation. In Darm-

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4. Über die Grenzen der Familie

stadt wurde sie aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit als gesellschaftliche Außenseiterin wahrgenommen. In Düsseldorf zählt nicht der Adelsname, sondern der Grad des Künstlertums. Hier beginnt Krane, sich mit den ihr eigenen Fähigkeiten eine Position in der Gesellschaft zu erarbeiten.

4.2.3. In keinem Weg mehr einen Weg sehen – ein Ausbruch: Lily Braun, geb. von Kretschmann, verw. von Gyžicki (1865–1916) „Etwas steht aus im Leben“, formuliert Thomas Nipperdey in Hinblick auf die mentale Haltung jener Deutschen um 1900, denen Kirche bzw. Religion als „innerweltliche Sinnsetzung“ abhanden gekommen war. Zu den neuen Glaubensgewißheiten im geistigmoralischen Raum avancierten als sinnstiftende Handlungsorientierungen Sozialismus und Nation.64 Die preußische Generalstochter Lily von Kretschmann gehörte zu diesen Menschen. Über eine jugendlich-pubertäre Glaubenskrise nimmt sie innerlichen Abschied von den Dogmen der protestantischen Kirche und ein Recht auf individuelle Glücksbestrebungen in Anspruch. Intellektuell flankiert vom goethischen Pantheismus, darwinscher Evolutionstheorie und nietzschischem Nihilismus trifft die 25jährige ihre „Wahlverwandtschaft“ Georg von Gyžicki, geistiger Mentor und Ehemann in einem, mit dem sie sich in der 1892 gegründeten „Gesellschaft für ethische Kultur“ engagiert. Gyžicki, Nationalökonom und „Kathedersozialist“, bringt ihr die Zukunftsvision eines nachchristlichen, auf Freiheit, Gleichheit, Solidarität (Prinzipien mit Geltung für beide Geschlechter) beruhenden Gesellschaftsmodells nahe – Rüstzeug, das sie nach seinem Tode 1895 in die SPD und aus ihrer Herkunftsfamilie führen wird.65 Im 1909 erschienenen ersten Teil ihres autobiographischen Romans „Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre“66 avanciert die sozialistische Idee am Erzählungsende zum Leitstern der 26jährigen Protagonistin. Sie entscheidet sich, Genossin zu werden, „Gefährtin nur der Elenden und der Verfolgten“(541) und weiß um die Konsequenzen: Den Menschen ihrer Herkunftsgruppe wird sie „von da an eine Gestorbene sein“ (540). Am Ende der Erzählung steht ein erzähltes Ich, das sich selbst Gesetze diktiert und kraft eigener Entscheidung eine Gruppe wählt, mit der sie die Hoffnung auf eine diesseitige Utopie für alle Menschen verbindet. Die „Lehrjahre“, der Bezug zu Goethes „Wilhelm Meister“ ist unverkennbar, sind als Entwicklungs- und Bildungsgeschichte erzählt, an deren Ende ein mit sich selbst identisches Ich steht, das seine Aufgabe im Leben gefunden hat. Der

64 65

66

Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 191. Zur Biographie vgl. Vogelstein, Julie, Lily Braun. Ein Lebensbild, in: Braun, Lily, Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1922, S. 5–80; Borkowski, Dieter, Rebellin gegen Preußen. Das Leben der Lily Braun, Frankfurt a. M. 1982. Hier in der Ausgabe von: Braun, Lily, Memoiren einer Sozialistin. Lehrjahre, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1922.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

263

Weg zu diesem Ziel ist verbunden mit dem sukzessiven Ausbruch einer Haustochter aus der Enge adeliger Lebensweise und ihrer Suche nach Lebenssinn.67 a) „Nur eins schmerzt mich …, daß ich nur Zuschauer bin“ (306) – Erwartung und Krise Zweifel und Krisenbewußtsein beherrschen das autobiographische Ich der 23jährigen Lily von Kretschmann. Der in dieser Situation zutage tretende biographische Konflikt scheint zugleich grundsätzlicher Art zu sein: Die feministische Sozialistin des Jahres 190968 fragt nach dem Eigenleben von Frauen jenseits von Ehe und Familie am Beispiel der jungen, adeligen Tochter. Sich mit der Historie von der Antike bis zur Gegenwart beschäftigend, stellt die 23jährige die Umwertung der Bedeutung von Arbeit fest. In der Vergangenheit sei Arbeit eines freien Mannes unwürdig gewesen, in der Gegenwart aber sei Arbeit eine Ehre, Nichtstun ein Laster. In einem Brief an ihre Cousine, der Vertrauten ihres „eigentlichen, verborgenen Lebens“, mißt sie sich am neu erkannten Maßstab: „ ,Wird der Wert des Menschen an seiner Leistung gemessen, wie bestehe ich vor dieser Prüfung?! Ich bin 23 Jahre alt, gesund an Geist und Körper, leistungsfähiger als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt!‘ “ (306) Die Diagnose eines lasterhaften, unwürdigen und vor allem passiven Lebens stellt Braun vor der Folie beschleunigter Zeitwahrnehmung fest, in der sich Kunst, Wissenschaft und Politik „unaufhaltsam vorwärts bewegen“ (306), Altes niedergerissen und Neues aufgebaut wird. Sich als Zuschauer wahrnehmend, setzt sie ihren Brief im emphatischen Konjunktiv fort: „ ,O daß ich die Kräfte, die ich besitze, in einer jener Pionierarbeiten einsetzen dürfte, die durch die Wüste der Welt neue Wege bahnen!‘ “ Diesen großartigen Entwurf, für einen gesellschaftlichen Fortschritt als Person eintreten zu wollen, an ihrem Alltag messend, befällt sie eine „förmliche[n] Krisis“ (309), und in dieser wendet sie sich an ihre Eltern, die sie in die Schranken profaner Wirklichkeit weisen. Braun beschreibt eine abendliche Familienszene mit den Stilmitteln der wörtlichen Rede und des Dialogs. (vgl. 310f.) Tochter (hastig, erregt sprechend): „ ,Arbeiten möchte ich – irgend etwas leisten, was mich ganz und gar in Anspruch nimmt.‘ “ Vater (zögernd, nachdenklich): „ ,Du hast doch genug zu tun, wie ich bemerke, …, du liest, du malst, du schneiderst, du beschäftigst dich mit deiner Schwester, du bist der unersetzliche Arrangeur unserer Feste.‘ “ Mutter (maliziös, bitter): „ ,Das genügt natürlich Alix’ Ehrgeiz nicht. Häusliche Pflichten sind ein überwundener Standpunkt. Aber du hast ja Auswahl genug, wenn du ihrer 67 68

Zum Einfluß des bildungsromanesken Modells auf die Autobiographik von Sozialistinnen um 1900 vgl.: Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 277–287. Zur Einführung: Gerhard, Ute, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek b. Hamburg 1990.

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4. Über die Grenzen der Familie

überdrüssig [bist], …, du kannst Gesellschafterin – Gouvernante – Hofdame werden. Sieh dann selber zu, wie das harte Brot … schmeckt!‘ “ Tochter (Tränensturz und Retro-Kommentar): „Mir ahnte längst, daß mir kein Ausweg blieb, und doch erschütterte[n] mich … diese einzigen Möglichkeiten, die für mich Unmöglichkeiten waren.“ Vater (tröstend, wägend): „ ,Wärst du ein Mann, so hätte ich dich schon auf Wege geführt, die einen Lebensinhalt gewährleisten, aber so – du bist nur ein Mädchen – nur für einen einzigen Beruf bestimmt, – alle anderen wären doch nichts als Lückenbüßer. … Ich … werde nicht ruhig sterben können, wenn ich dich nicht im Hafen weiß!‘ “ Tochter (aufschluchzend das Zimmer verlassend und Retro-Kommentar): „ ,Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann? Und hat es kein Recht auf ein eigenes Leben? – Der Mann! Ich dachte derer, die mir im letzten Winter gehuldigt hatten, …, zu einem flüchtigen Flirt wie geschaffen – aber an sie gekettet, ihnen unterworfen sein – ein ganzes Leben lang – entsetzlich!‘ “ Was Braun in dieser Familienszene infrage stellt und ablehnt, ist viel: Das ist nicht nur das gesamte Spektrum angebotener Lebensmuster im Adel, das ist im Grunde die Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts in ihren Normen und starken Konventionen, die insbesondere den Frauen der Oberschichten Handlungsräume und Verhaltensweisen zuwiesen, deren „archimedische[r] Punkt“ (Manfred Hettling) der Lebensführung auf normativer Ebene die über Familien- und Eheform geregelte Unselbständigkeit war. Brauns Kardinalfrage, ob denn die Unterordnung in der Ehe eine essentialistische sei, aus der sich alle weiblichen Daseinsformen ableiten, gehörte von Anbeginn zur modernen Geschlechterdebatte. Um 1900 wird diese Frage von einer feministischen Sozialistin gestellt, um die Sinnkrise einer jungen Frau aus gutem Hause zu unterstreichen.69 Brauns Entwurf, auf einem Gebiet Pionierin zu sein und die sich anschließende abendliche Familienszene mögen sprachlich trivial sein, und doch bringen die enthaltenen Emotionen so etwas wie einen zum hohen Affekt gesteigerten und spiegelverkehrten ‚Hamlet-Blues‘ zum Ausdruck – eine Welt ist aus den Fugen, Schmach und Gram, sie nicht einrichten zu können. „Etwas steht aus im Leben“ (Thomas Nipperdey) der 23jährigen Offizierstochter. Das ist noch nicht der Sozialismus, das ist die Erwartung, Lebenssinn in der Teilhabe an den wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen zu finden. Die Erwartung zu realisieren geht einher mit der ‚Entdeckung‘ des Wertes Arbeit und der Infragestellung von Familie. Anders als in der Darstellung Nipperdeys fungieren somit Arbeit und Familie nicht als „unbefragt verbindlich[e]“70 Wirklichkeiten, die Lebenssinn begründen, sondern stellen Fragen auf der Suche nach Sinnstiftung dar. Diese Differenz ist eine Geschlech69

70

Vgl. Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a. M. / New York 1991, S. 13–45; Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, S. 64–83, Frevert, Bürgerliche Meisterdenker; dies., Die Zukunft der Geschlechterordnung. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 191.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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terdifferenz insofern, als Braun unter Arbeit eine in die Gesellschaft hineinragende, diese verändernde Tätigkeit versteht, die sie ganz in Anspruch nehmen soll. Für Frauen eine normative Unmöglichkeit, denn einer Familie stehen sie mit diesem Anspruch nicht zur Verfügung. b) Eine positionierte Familie In den „Lehrjahren“ wimmelt es von Vettern, Cousinen, Tanten und Onkels in mehrstufigen Graden aus verschiedenen Kulturkreisen. Lily Brauns Mutter, Jenny von Gustedt, entstammte einem altadeligen braunschweigschen Freiherrengeschlecht, dessen Männer politische Ämter bekleideten und dessen Güter im Norddeutschen verteilt lagen. Auf Tantenbesuch in Weimar heiratete 1838 Werner von Gustedt Jenny von Pappenheim, Hoffräulein. Deren Großmutter war eine geborene Türckheim. Pappen- und Türckheimer führen in den süddeutschen und elsässischen Adel. Der Stiefvater Jenny Pappenheims wurde der weimarsche Staatsminister Ernst August von Gersdorff, hieraus die sächsische und lokal weimarsche Verwandtschaft. Das Weimarer Hoffräulein wurde Brauns Großmutter, die eine leibliche Tochter des jüngsten Bruders Napoleons, Jérôme, damaliger König von Westfalen, war. Über Brauns Vater, dessen Familie erst 1801 geadelt wurde, führt die Familie ins Bürgertum, genauer zu den „Industriebaronen“ des augsburgischen Patriziats. Seine Stellung als preußischer Offizier bestimmte die Lebensweise der Kernfamilie, bestehend aus den Eltern, einer und sehr viel später zweier Töchter: hohe regionale Mobilität, das so typische Beordern von einer Garnison zur anderen bei gleichbleibendem sozial-kulturellen Milieu des Militärs. Die Klammer und Heimat dieses Wanderlebens stellte das ostpreußische Landgut der Gustedts dar, regelmäßiger Sommeraufenthalt für die nicht landbesitzenden Familienmitglieder. Inmitten des vielfältigen Familien- und Freundschaftsnetzes fühlt sich die junge Kretschmann selbstverständlich dem Adel zugehörig: „ ,Eine Position in der Gesellschaft‘ war uns gesichert, ja wir besaßen sie, dank unserer Familienbeziehungen, schon jetzt. Mir war sie etwas so selbstverständliches, daß jener Hochmut, der nur entstehen kann, wenn man sie als etwas Besonderes ansieht, der daher am sichersten den Emporkömmling kennzeichnet, bei mir gar nicht aufkam.“ (55f.) Während sich die latente Aversion gegen Parvenüs durch die Erzählung halten wird, verliert die Selbstverständlichkeit, zur Gruppe des Adels zu gehören, an Relevanz. Der den konkreten biographischen Konflikt überwölbende Spannungsbogen läßt sich am besten unter Rückgriff auf „Wilhelm Meister“ verdeutlichen. Goethe läßt Wilhelm am Beginn seiner „Lehrjahre“ noch die Menschen der „höheren Regionen“71 preisen. Sie seien nicht der täglichen Mühsal ausgesetzt, die eigene Existenz auch nur zu erhalten, sondern von Geburt an in Verhältnisse gesetzt, die die Leichtigkeit des Seins außerordentlich begünstigen. Und die geistige Vervollkommnung: „Allgemein und richtig muß ihr Blick auf dem höheren Standpunkte werden …“ „Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge

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Goethe, Johann Wolfgang, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795), Stuttgart 1982, S. 158.

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4. Über die Grenzen der Familie

besser kennen, …, und wer kann seinen Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche, das Wahre leiten…!“72 Hier liegt nicht nur eine Lobpreisung eines individuell gelungenen Lebens vor, sondern implizit – Meister soll zu einem tätigen Menschen herangebildet werden – die Handlungsanweisung, das durch die Vorrangstellung Erworbene zum Gemeinwohl einzusetzen. Um 1900 beschreibt Braun adelige Männer und Frauen durchweg als geistig uninspirierte Personen, deren Wahrheitsstreben gleich null ist. Wenn das (Legitimations)Prinzip „Adel verpflichtet“ überhaupt von gesellschaftlicher Bedeutung sei, dann habe sich der Adel zuallererst Wissen zu erwerben, das ihn befähigt, drängende Probleme der Zeit überhaupt zu erkennen. Braun läßt Gysicki sagen, Adelige „ ,haben Jahrhunderte lang alle Vorzüge von Besitz und Kultur genossen, von ihnen kann verlangt werden, daß sie zu neuen Überzeugungen gelangen.‘ “ (451) Die von Braun wahrgenommenen Adeligen kommen zu keinen neuen Überzeugungen, Unzufriedenheit mit dem System kennzeichne sie, der keine Tatkraft innewohnt (vgl. 414), Kritik an Hof- und Finanzkreisen führe zu der einzigen und unzeitgemäßen Handlung, „[n]ach rückwärts radikal zu sein“ (93), d. h. historisch zu denken, ohne zu handeln. Für Braun ist der adelige Vorsprung, sein Elitestatus aufgebraucht. Es fehlt ihm ein entscheidendes Instrument, nämlich Wissen bzw. der Wille zum Wissen als Voraussetzung, um auf moderne Probleme eine moderne Antwort zu geben. c) Konturen des erzählten Selbst Wilhelm Meisters Wunsch und Ziel war es, seine Persönlichkeit, verstanden als ein „mich selbst, ganz wie ich da bin“73 auszubilden. Diese an einem ganzheitlichen Ideal orientierte Erwartung einer literarischen Figur um 1800 trifft ebenso auf die 22jährige Protagonistin in der erzählten Zeit zu. Glaubte der Kaufmannssohn eine „gewisse allgemeine, …, personelle Ausbildung“74 sei nur den Adeligen möglich, während die Gesellschaftsverfassung es den Bürgerlichen allenfalls gebieten würde, einzelne am Nutzen und Erwerb ausgerichtete Fähigkeiten zu entwickeln, so meint die Offizierstochter, daß die „Entwicklung der Persönlichkeit“ durch die „Fesseln der Kaste“ gehemmt sei. (434) Eine Position in der Gesellschaft zu haben heißt für die junge Kretschmann nicht, diesem Privileg jene Muße abzugewinnen, sich über die Aneignung mannigfaltiger Fähigkeiten zur Persönlichkeit zu bilden. Ähnlich der Figur Wilhelm Meister nimmt die Erzählerin für sich in Anspruch, daß man zunächst sich selbst in Freiheit bilden, denken, erfahren muß, damit man sich selbstbestimmt, nicht aber nach den Regeln von Herkommen und Tradition, in gesellschaftliche Anforderungen einordnet. (vgl. 526) Meister, prominentester Vertreter des literarischen Austritts aus dem ‚ständischen Modell‘, entscheidet sich für das Theater, für die Kunst, nachdem ihm sein Schwager seine künftige Position im Familienunternehmen deutlich machte. „Was hilft es mir“, argumentiert Wilhelm, „ein Landgut in 72 73 74

Ebd. Ebd., S. 301. Ebd.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

267

Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?“ Und weiter: „genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche.“75 Knapp hundert Jahre später formuliert Lily Braun ein vergleichbares Recht, sich selbst zu finden. „Worte las ich, die mich trafen wie Offenbarungen … Und Tradition und Konvention sah ich ihrer bunten Gewänder entkleidet als nackte Lügen vor mir, und mit einem einzigen Blick erkannte ich des Weibes Puppendasein. … ,Ich habe Pflichten, die ebenso heilig sind – Pflichten gegen mich selbst –‚ ich muß nachdenken, ob das, was mir gelehrt wurde, richtig ist, oder vielmehr, ob es für mich richtig ist‘, sagte Nora, und verließ das Puppenheim, um sich selbst zu finden. ‚Irgendwie und wann werde ich handeln müssen wie Nora‘, heißt es in meinem Tagebuch von Sommer 1887, …“ (284) Henrik Ibsens sozialkritisches Drama, 1879 uraufgeführt, wird für die junge Kretschmann ein folgenreiches Lektüreerlebnis. Sie erkennt den Preis ihrer vorherbestimmten Position im Adel in der Tyrannei der „weiblichen Bestimmung“. Der Ausbruch Wilhelm Meisters stand für ein neuartiges Modell der Lebensführung. Ständische Vorgaben hinter sich lassend, verkörperte er das bürgerliche, letztlich moderne Organisationsprinzip der Wechselwirkung von Individualisierung und Vergesellschaftung.76 Mit Rekurs auf Ibsens „Nora“ formuliert die junge Kretschmann am Ende des 19. Jahrhunderts die Handlungsoption der Selbstverantwortlichkeit vor der Folie geschlechtlich bestimmter Vorgaben.77 Selbstverantwortlichkeit stellt in der erzählten Zeit eine Zukunftserwartung an die eigene Person dar, mit der die Erzählerin versucht, ihre bisherigen Selbstthematisierungen prospektiv zu bündeln. Noch realitätsfern, stellen die „Offenbarungen“, Pflichten gegen sich selbst zu haben, eine Lösungsmöglichkeit dar, das geschilderte „Doppelleben“ (298) zu überwinden. „Doppelleben“ benennt das grundlegende Muster, mit dem sich die Verfasserin bis zur Konfliktlösung selbst präsentiert. In Hinblick auf ihr kindliches Selbst schreibt sie: „Mein äußeres Leben war das einer korrekten Schülerin und wohlerzogenen Tochter.“ Das innere Leben gestaltete sich über das heimliche Verfassen von Versen, „die nach Freiheit schrieen und nach Liebe.“ (81) Von der erwachsenen Haustochter heißt es: „[I]ch vergrub mich stundenweise in meine Bücher, ich lebte mit meinen Gedanken in ihnen … Aber mit dem Augenblick, wo ich im Festkleid in den Wagen stieg oder die ersten Gäste bei uns erschienen, zog ich den Schlüssel zu dem Geheimfach meines Innern ab, und nichts blieb von mir übrig als die Salondame.“ (298) Innen und außen des Selbst korrespondieren nicht miteinander. Das innere bewegt sich im geheimen Universum des Lesens mit seinen chaotischen und anarchischen Möglichkeiten – der Akt

75 76 77

Ebd., S. 301 und 303. Zur Individualisierung als Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft vgl. grundlegend: Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, München 1992, S. 264ff. In geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist Brauns Problem in der Fragestellung aufgehoben, inwiefern ausgeprägte Ungleichheitsmuster zu den Grundpfeilern der modernen bürgerlichen Gesellschaft gehör(t)en. Zu konträren Positionen vgl. Kocka, Jürgen, Einige Ergebnisse und Gerhard, Ute, Andere Ergebnisse, in: Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S. 206–209 bzw. S. 210–214.

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4. Über die Grenzen der Familie

der Lektüre als Akt der Selbstbildung.78 Das äußere übt die Pflichten und Freuden der Geselligkeit aus, es nimmt eine vorgegebene soziale Position ein. Diese strikte Zweiteilung folgt sicherlich der Motivation der Erzählerin, die Kluft zwischen sich und der dann überwundenen Herkunft zu unterstreichen. Sie ist aber auch nicht von der erzählerisch vermittelten Grunderfahrung zu trennen, für das innere Selbst, das ihr das „eigentliche“ ist, keine Aufmerksamkeit durch andere (Eltern, StandesgenossInnen) erhalten zu haben. Das „Doppelleben“ entsteht über Nichtbeachtung. Die Beziehungen zu sich selbst und den anderen in der Herkunftsgruppe sind deshalb fragil. Die sich in der Sinnkrise befindende 23jährige schreibt ihrer vertrauten Cousine: „ ,Ist es nicht merkwürdig, daß Ihr alle meinen Leichnam für mich selbst halten könnt?!‘ “ (269) In der Aussage wird die Differenz zwischen einer Person und dem Leichnam selbiger behauptet. Doch wer ist die Leiche, wenn nicht die der Person? Liest man die Aussage auf die verwendete Interpunktion hin, so existieren zwei gegensätzliche Bedeutungen, die für Brauns Beziehungen zu anderen charakteristisch sind. Der Aufforderungssatz ist im hohen Maße eine Äußerung der Selbstgewißheit, gar Selbstüberhöhung. Dieses Selbst ist kein Leichnam, es sind die anderen, die der Täuschung anheim fallen, die Verwechslung nicht erkennen, weil sie die eigentlichen Leichen sind. Der Fragesatz wiederum enthält ein starkes Kommunikationsbedürfnis eines verunsicherten Selbst, das Antworten anderer bedürftig ist: In der erfahrenen adeligen Sozialwelt fühlt sich das erzählte Ich isoliert, das gleichermaßen durch eine enorme Hoffart gegenüber anderen besticht wie es auch nach anderen sucht, um sich zu bestätigen. „[M]eine eigene Existenz bürgt mir dafür, daß es noch andere meiner Art geben muß!“ (204) Es ist dies die empirisch vernünftige Behauptung der eigenen Existenz, deren Beweis ihre StandesgenossInnen letztlich nicht erbringen. d) „Frau-Sein“: eine verheißungsvolle Option? „ ,Und das Glück, Großmama?‘ “, fragt die 17jährige, die „das laute, sprühende Leben“ erwartet. (179) „ ,Du wirst Weib werden und Mutter, und Liebe empfangen und tausendfältige Sorgen. Und dann wirst du wissen, daß sie auf sich nehmen und Liebe geben – mehr als dir gegeben wurde – das Glück ist.‘ Wir gingen weiter; ich kämpfte mit den Tränen.“ (180) Das Glück in der normativen Ordnung zu erfahren, ist die großmütterliche Antwort, auf welche die Enkelin mit Tränen reagiert. Daß der Lebenssinn, das Glück darin bestünde, als Ehefrau und Mutter in sozialer und emotionaler Verantwortung für Mann und Kinder zu leben, erscheint ihr fragwürdig: „[D]ies war das Ende, …, die einzige Frucht, die aus dem blühenden Leben so vieler Talente, so vieler Kräfte hervorging?“ (180) Die Erzählerin fragt hier nach, ob die Großmutter sich nicht an der Verwirklichung ihrer individuellen Möglichkeiten hat hindern lassen. Als Feministin greift Braun ein Problem auf, das bis in die Gegenwart, insbesondere in der Soziologie als „Dasein für andere“ 78

Zum Akt des Lesens vgl. Manguel, Alberto, Eine Geschichte des Lesens, Reinbek b. Hamburg 1999; Chartier, Roger / Messerli Alfred (Hgg.), Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven, Basel 2000.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

269

diskutiert wird: Hindert die geschlechtsspezifische Einbindung in die Familie eine individuelle Biographie oder prägt sie eine eigene aus?79 Brauns Position, selbst Ehefrau und Mutter, aber nicht darin aufgehend, ist eindeutig. Sie konterkariert das großmütterliche Glücksversprechen mit dem Leben ihrer Mutter: „[I]ch kämpfte mit den Tränen. Meine Mutter fiel mir ein: sie erfüllte bis zur Erschöpfung ihre Pflicht, aber ihre Lippen preßten sich immer enger aufeinander, als müßten sie krampfhaft die Qual zurückdrängen, die nach Ausdruck verlangte.“ (180) In der Darstellung präsentiert Braun ihre Mutter als gelebten Antipoden zum möglichen Glück im „Dasein für andere“. Pflichterfüllung ist deren einziges Handlungsgebot. Die Ehebeziehung gestaltet die Mutter „kühl, zurückhaltend“ (24). Die Beziehung zur Tochter wird von Geburt an als lieblose Pflicht dargestellt. (14, 33f., 73, 82) Reines Pflichtgefühl läßt sie mit ihrer verhaßten Schwägerin umgehen, denn sie ist die Erbtante. (47f.) Sind die mütterlichen Lippen nicht aufeinandergepreßt, so formen sie sich zu einem „herben Lächeln“ (219), entströmen ihrem Mund „Klagen und Seufzen“ (102). Die eiserne Pflichterfüllung verlangt die Mutter von der Haustochter, denn „ ,da du aber ein Weib bist, mußt du frühzeitig lernen, daß wir nie uns selbst gehören.‘ “ (220) Das soll das Glück sein, von dem die Großmutter sprach? Dafür soll sie im vom Vater gewünschten Hafen der Ehe einlaufen? (vgl. 311) Dem Kind und der Jugendlichen wird die Mutter ein negatives Vorbild. Es erstreckt sich auf die Wahrnehmung anderer Ehefrauen, sie alle haben aus Enttäuschung über die Ehe den „fatalen Zug um den Mund“ (194). Und fällt als Verallgemeinerung auf die junge Kretschmann zurück: „Groll gegen mein Schicksal erfüllte mich.“ (218) Dem pflichtversessenen „Dasein für andere“ setzt sie ein Ideal entgegen. Sie exzerpiert solche Stellen ihrer Goethe-Lektüre, „die das Recht auf Persönlichkeit und den Wert der Freude“ (203) betonen: „ ,[E]in glücklicher Mensch, ein Wesen, das sich seines Daseins freut, ist das Endziel der Schöpfung.‘ “ (204) Die von Braun gezeichnete Frau ist eine der freudlosesten Ehefrauen- und Mutterfiguren der zugrunde liegenden Quellen. Während die Heranwachsende mit dem mütterlichen So-Sein hart konfrontiert ist (vgl. 40), sucht die Erzählerin zu verstehen. Da ist die immer prekäre finanzielle Situation, die verschiedentlich zu Szenen einer Ehe führen. Der Mann gebe Geld aus, das nicht vorhanden ist, während sie mit dem Mangel wirtschaften muß. (z. B. 58–62, 103, 111, 368f.) Gewichtiger scheint folgendes: Braun spricht vom mütterlichen Prinzip, das „Selbstbeherrschung mit Selbstentäußerung“ (325) gleichsetzt. Das Prinzip bildet das Rückgrat der Mutter, ist verinnerlicht. Zweifellos stellte Selbstbeherrschung für beide Geschlechter ein nach innen gerichtetes Gebot dar, dessen äußeres Pendant „Haltung“ war, das mit persönlichen Verzichtsleistungen einhergehen konnte. Doch „Selbstentäußerung“ wurde nicht erwartet. Es ist dies die Preisgabe der Vorstellung von sich als eigene Person. In der Darstellung hat diese Preisgabe zugunsten einer Schicksalsergebenheit einen Zeitpunkt – die Eheschließung. Eine Liebesheirat, deren

79

Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 64–69.

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beiderseitiges, jungfräuliches Glück jedoch im sexuellen Vollzug endete. In den Worten Brauns erlebte die junge Frau Sex als „gräßliche Untat“, ihren bis eben Geliebten als „Verbrecher“. (13) Zum „seelischen Leiden“ traten körperliche, die von ihr nicht als Schwangerschaftssymptome erkannt wurden. Sich keine Blöße geben wollend, schwieg sie, „beteiligte sich an allen Ausflügen, allen ländlichen Festen; tanzte und ritt, obwohl es ihr oft vor den Augen dunkelte.“ (13) – Eine Fehlgeburt: „Der Schatten dieser ersten Schmerzen und Enttäuschungen fiel über ihr ganzes Leben.“ (13) Die zweite Schwangerschaft: „Die Fassung, mit der sie sich in ihr Schicksal ergab, das Vorgefühl ernster kommender Pflichten war das einzige, was sie ihm [dem ungeborenen Kind, M. K.] gegenüber aufbringen konnte.“ (14) Hier beginnt die Redundanz von Gefühlskälte und Pflicht, mit der Lily Braun ihre Mutter durch die Erzählung charakterisiert. „Du wirst Weib werden und Mutter“, lautete die großmütterliche Glücksverheißung. Herrschendes Frauenbild und Norm sind ein Versprechen auf ein individuell gutes Leben an die Enkelin. Doch gleichzeitig unterläuft die herrschende Sexualmoral ein weibliches wie eheliches Lebensglück in individueller wie normativer Hinsicht. Die heterosexuelle ‚Weibwerdung‘ der Mutter geschah voraussetzungslos. Eine Erziehung, die eine intellektuelle Beschäftigung mit Sexualität nicht vorsieht und Sinnlichkeit unterdrückt und eine Moral, die außerehelichen Sex verwirft, barg sicher ein hohes Konfliktpotential für das gemeinsam zu gestaltende Eheleben. Sigmund Freud, Zeitgenosse Brauns, die seine Arbeiten wahrscheinlich kannte, hat die möglichen Folgen einer rigiden Sexualmoral für die Ehe im Medium wissenschaftlicher Literatur dargelegt.80 In Brauns Lebenserinnerungen endet die Lebensfreude einer jungen Frau mit dem sexuellen Erleben zu Ehebeginn, das die Pflicht zum Schicksal, nicht aber Selbstliebe, Gattenliebe oder die Liebe zu den eigenen Kindern begründet. e) Im bürgerlichen Haus: Eine Horizonterweiterung? Die Familienbeziehungen der Kretschmanns reichten über die Schwester des Vaters ins augsburgische Patriziat. Im Haus der Tante lebt die Jugendliche im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren, um zur jungen Dame erzogen zu werden. „[D]ie Erkenntnis, daß es außerhalb der Welt meiner bisherigen Umgebung noch Menschen gab, mit denen ‚man‘ verkehren konnte, war epochemachend für mich“ (139f.), resümiert Braun ihre Ankunft in bürgerlichen Verhältnissen. Die Gegensätze in Herkunft, Religion, Wirtschaft, Politik und Kultur betonend, schlägt sich die junge Adelige, zwar die Mühe konzedierend, einen Fabrikanten „als gleichgestellt anzusehen“ (139), auf die bürgerliche Seite. Dienten Literatur und Kunst in den Schlössern des Adels mehr und minder dem Amüsement, gehört es in den Häusern Augsburgs „zum guten Ton, Neues zu kennen und vom künstlerischen Standpunkt aus darüber zu urteilen“ (138). 80 Vgl. Freud, Sigmund, Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), in: Ders., Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften zur Neurosenlehre, zur Persönlichkeitspsychologie, zur Kulturtheorie, hrsg. v. Achim Thom, Leipzig 1990, S. 344–365.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

271

Epochemachend ist die Existenz eines anderen Verkehrskreises, in welchem „das geistige Leben“ (140) dominiert. Träger von Kunst, Literatur und Wissenschaft sind in Brauns Darstellung bis zur Eheschließung mit Gyžicki ausschließlich bürgerliche Männer und adelige Männer, die „zu jenen aus der Art geschlagenen Sonderlingen gehörte[n], die aristokratische Familien sich gern von den Rockschößen abschütteln.“ (185) Im Haus der Tante verkehren regelmäßig der Bürgermeister, der Gemeindepfarrer und der Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung. In dieser bürgerlichen Welt wird das Grundmuster des erzählten Selbst, die statisch gehaltene Parallelität zwischen Innen und Außen, in partiellen, wesentlichen Teilen aufgehoben. Der Bereich der Literatur: Der Chefredakteur verstand es, „meine zerfahrenen Neigungen in feste Bahnen zu lenken, und erschloß mir Gebiete der Literatur, die mir … noch vollkommen fremd geblieben waren. […] [D]er Eintritt in seine Interessensphäre [bedeutete] schon einen großen Schritt vorwärts.“ (140) Bisher hatte die junge Adelige wahllos gelesen. Aus der Zerfahrenheit wird gerichtetes Neuland. Das ‚Vokabular der Bewegung‘ (die Hervorhebungen sind von mir, M. K.) fällt auf, welches man als Veränderung im Individuum lesen kann. Nicht zuerst als entwicklungspsychologischen Wandel einer Heranwachsenden, sondern – „epochemachend“ – als Wechsel der Bezugsgrößen Adel / Bürgertum. In der bürgerlichen Kultur ist individuelle Entwicklung möglich. Das gleiche im Bereich der politischen Einstellung: In häuslicher Geselligkeit bringt der Oberbürgermeister, Mitglied der nationalliberalen Partei, seine Ansichten selbstverständlich ein. Daß „anständige[n] Menschen“ konservativ sind, war ihr bisher als „allein würdige“ Auffassung dargestellt worden. (141) Die Ansichten des respektablen Mannes erscheinen ihr „beinahe als revolutionär“ (141). Besaß die Adelige bisher diffuse Ideen von Freiheit und Menschenrechten, die „bei den Meinen“ (141) kein Gehör fanden, empfindet sie das Gehörte nun „wie eine innere Befreiung: es gab Menschen…, die die Ideale der Freiheit … hochhielten, ich konnte mich zu ihnen bekennen …“ (141) Hier tritt eine Passung zutage (das ist selbstverständlich auch die Logik der Entwicklungsgeschichte), die wie im literarischen Bereich nicht ein isoliertes, sondern ein sich vergesellschaftendes Wesen aufzeigt. Mit Blick auf ihre religiöse Einstellung vollzieht sich analoges. Auch hier das ‚Bewegungsvokabular‘, die Möglichkeit sich positiv auf sich selbst zu beziehen, weil andere Menschen sie in ihren Auffassungen bestätigen, nicht aber negieren. (vgl.141f.) Zweifellos stellte die bürgerliche Sphäre für die Adelige eine Horizonterweiterung dar. Das „geistige Leben“ versetzt sie überhaupt erst in die Lage, sich als ein ‚Ich mit Eigenschaften‘ zu erkennen. Anstelle gestaltlos diffuser Meinungen und Interessen im Verborgenen tritt die Möglichkeit der Formung und Entwicklung in wechselseitiger Beziehung zur sozialen Welt. Doch wird hier ein Weg in Aussicht gestellt, sich am bürgerlichen Grundwert „Bildung“, verstanden „als permanenter Prozeß der Selbstvervollkommnung“81, zu orientieren? „Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die Dauer über den Hunger des Gemüts nicht hinwegtäuschen. Es blieb leer

81

Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, S. 331.

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4. Über die Grenzen der Familie

in mir …“ (143) Das „Gemüt“, der Sitz innerer Empfindungen und Gedanken, ist Ödnis. Damit droht die positiv bewertete Verstandesbefriedigung durch die Teilhabe am bürgerlichen Diskurs eine äußerliche zu bleiben, insofern sie keinen Widerhall im emotionalen Innenraum findet. Die Kluft zwischen Verstand und Gemüt entspricht nicht dem bürgerlichen Ideal der individuellen Vervollkommnung, wohl aber der Erziehungspraxis und dem Erziehungsziel der Tante. Bourdieu spricht von der „permanente[n] Formierungsund Bildungsarbeit“82, welche die soziale Welt leistet, um einen vergeschlechtlichten Habitus zu erzeugen. Braun erzählt von den „rastlos formenden Händen[n]“ (143) der Tante, um die Nichte zur „vollendetste[n] junge[n] Dame“ auszubilden. (149) Schreiben, dichten – für die Erzählerin Ausdruck der individuellen Anlagen der Heranwachsenden, wird „streng verbotenes Tun“ (143). Die Formung zur jungen Dame beginnt im Verbot von Kreativität und Phantasie. Soziale Kontrolle und rigide Zeiteinteilung lassen keinen Freiraum für ein Eigenleben. Es beginnt der schleichende Prozeß der Inkorporierung der Vorstellungen der Autorität. Aus der „Selbstkasteiung“ (147) des Stickens und Strickens, der Konversation und des Klavierspiels wird Selbstverständlichkeit. Die Tante ist mit ihrem Produkt zufrieden: „ ,Da ich kinderlos bin, wird für dich reichlich gesorgt sein‘ “. (149) Die innere Leere, mit der sich die Erzählerin beschreibt, steht eindeutig im Kontext von Mädchenerziehung. Die bürgerliche Welt bietet der Adeligen die Möglichkeit geistiger Entwicklung und schränkt zugleich eine umfassende Bildung individueller Anlagen geschlechtsspezifisch ein. Aus dem ‚Vokabular der Entwicklung‘ wird eines der Regression, um sich selbst zu beschreiben. Die unablässigen Redeweisen der Tante über die Pflichten einer jungen Dame „hatten überdies allmählich auf mich gewirkt wie ein Opiat, das die Seele stumpf macht“ (148). „Ich war wirklich eine ‚junge Dame‘ geworden; ich fühlte nicht einmal mehr, daß die hoffnungsvollsten Triebe meines Lebensbodens niedergetrampelt waren. […] Mein Tagebuch, das ich … nicht berührt hatte, weil ich es nicht durfte, blieb auch jetzt unausgefüllt, obwohl mich niemand mehr daran hinderte.“ (149) f) Bildungswissen und Veränderung Nach einer schweren Krankheit unternahm die 17jährige Kretschmann eine Erholungsreise mit ihrer Großmutter nach Karlsbad und Weimar, die ihr Weltbild erschütterte und ihr Selbstbild modifizierte. Braun schildert mehrere Begegnungen zwischen einem in ihren Augen selten anzutreffenden gebildeten Adeligen, ihrer Großmutter und sich Anfang der 1880er Jahre, der sie mit Darwins Evolutionstheorie derart vertraut macht, „daß kein Buch aufklärender hätte wirken können“ (183). Schwierigkeiten sind zu überwinden: „Für mich persönlich kam hinzu, daß meine naturwissenschaftliche Bildung gleich Null war, mir also zu selbständigen Nachdenken alles geistige Rüstzeug fehlte. Großmama ging es nicht viel besser: zu ihrer wie zu meiner Zeit war die Bildung der Frauen eine rein schöngeistige

82

Bourdieu, Die männliche Herrschaft, in: Dölling / Krais (Hgg.) Ein alltägliches Spiel, S. 167.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

273

gewesen.“ (183) Im Ergebnis stellt die Großmutter als gläubige Christin fest: „ ,Eine Anerkennung Darwinscher Theorien bedeutet doch für uns, die wir Laien sind, auch nichts anderes als Glauben an ihn. … Wäre es nicht heller Wahnsinn, wenn ich, wie ein ungeübter Schwimmer, mich vom sicheren Port erprobten Glaubens in die brandenden Wogen fremder Ideen stürzen wollte, nur weil vielleicht … ein neues festes Land zu finden ist?! Ich bin zu alt dazu.‘ “ (184) Auf die alte Frau wirkt die neue Lehre nicht verändernd, sondern ihren Glauben, ihr Weltbild aus vernünftigen Gründen bestätigend. Die junge Frau, den kirchlichen Dogmen abgeneigt und religiös indifferent (vgl. 106–119), reagiert auf die Ausführungen des Mannes sehr emotional: „Meine Erregung war aber so stark, daß sie nach Ausdruck verlangte. ‚Und wenn ich das neue feste Land nie erreichen sollte – ich würde lieber im Meere untergehen, als immer nur sehnsüchtig vom sicheren Port aus zusehen, wie es tobt und schäumt‘, sagte ich, und meine Stimme zitterte dabei.“ (184) Ein diffuses, aufgebrachtes Gefühl dominiert, daß die neue Lehre ihre Richtigkeit hat, eine Ahnung, daß nicht ein Schöpfungsakt ein für allemal alles festgelegt hat, sondern Entwicklung möglich ist. Eine gerichtete Sehnsucht, am Neuen teilzuhaben. Braun kontrastiert die schöngeistige Mädchenbildung mit den Naturwissenschaften und zeigt die emotionale Wirkung auf. An anderer Stelle schreibt sie, ihre (natur)wissenschaftliche Unwissenheit habe sie „oft in tiefste Verzweiflung“ gestürzt, da sie ihre Bildungslücken und die nicht gegebenen Mittel, sie zu schließen, erkannte. (355) Hardach-Pinke argumentiert, daß die seit dem späten 19. Jahrhundert festzustellende Abwertung der ästhetisch-literarischen Mädchenbildung in Lebenserinnerungen von Frauen, die Argumente für eine weibliche Hochschulbildung oder qualifizierte Berufstätigkeit untermauern sollten.83 Die diskursive Abwertung zu einem bestimmten Zweck klingt plausibel, und Lily Braun bringt am Textende vor dem Hintergrund der vermeintlichen geistigen Inferiorität von Frauen ebenfalls das Hochschulbildungsargument. (vgl. 507) Andererseits erzählt Braun von „tiefste[r] Verzweiflung“ ob der (natur)wissenschaftlichen Unwissenheit. Dieser emotionale Ausdruck klingt nicht nach einem Diskurs über gleiche Bildungschancen, sondern spricht von einer basalen Sehnsucht nach Lebensorientierung durch Wissenschaften, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend soziale und kulturelle Lebenswelten durchdrangen.84 Darwin als Stichwortgeber stand für einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der über das Zünftige hinaus bis zu den interessierten Laien Welt- und Menschenbild fundamental veränderte. Die ‚naturalistische Wende‘ dürften interessierte Männer leichter nachvollzogen haben als Frauen, insofern sie zum „selbständigen Nachdenken alles geistige Rüstzeug“ (183) besitzen konnten. Mit Rüstzeug meint Braun wissenschaftliche Verstandesschulung als Voraussetzung selbständigen Denkens. (vgl. 507f.) Für die junge Kretschmann glich das Kennenlernen einer neuen Weltsicht eher einem Kulturschock, auf den sie rein emotional reagierte. Mit Blick auf das „Insgesamt des Lebens“ schreibt Nipperdey, daß die Wissenschaften alte Orientierungen „entmächtigen“ 83 84

Hardach-Pinke, Bleichsucht, S. 203f. Dazu allg. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 676ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

und neue produzieren.85 Bildung stellt hierbei ein Mittel der „Entmächtigung“ für einzelne oder Gruppen dar. Für die junge Kretschmann schält sich im Anschluß an das ‚Darwin-Erlebnis‘ der Wunsch heraus, „Ruhe zum Lernen, zum Lesen und Arbeiten“ (187) zu erhalten. Die erwachsene Haustochter wird ihre häuslichen und geselligen Aufgaben erfüllen und sich zugleich in einem notwendig unsystematisch betriebenen Selbststudium Bildungswissen aneignen. „Denken führt auf Abwege, Zweifeln schafft Ketzer und Aufrührer.“ (343) „Licht war für mich nur die Welt der Bücher; Erkenntnisse, die ich gewann, erfüllten mich mit tiefer heißer Freude, und die Sehnsucht wuchs hinaus aus der Enge des Lebens; …“ (306) In keiner anderen hier vorliegenden Autobiographie beinhaltet Wissen so stark die Verheißung zu verändern, die Umstände und sich selbst zu gestalten. Damit einher geht eine zunehmende Distanz zu ihren Standesgenossen. „Daß ich mich im stillen immer weiter aus dem geistigen Bannkreis meiner Umgebung entfernte, bemerkte niemand. […] Unter unseren vielen Bekannten war niemand, den ich für würdig und fähig gehalten hätte, an meinen Interessen teilzunehmen.“ (304f.) Bildungswissen ist Mittel der Individuierung und Distinktion, richtet sich grundsätzlich gegen die Anforderungen von Familie und adeliger Gesellschaft. Das präsentierte Selbst definiert sich, gleichsam um zu unterstreichen, daß Bildung keine soziale Norm darstellte, über die solitäre „Welt der Bücher“. g) Fallstricke in der Heteronormativität „Das bißchen Kunst und Wissenschaft hat man uns nur gelehrt, damit wir darüber schwatzen können. Es ist kein Teil unserer selbst geworden; …“ Ohne Ernst und Verständnis für sie, fänden „Herz und Geist“ allenfalls Freude am Gemeinen und Oberflächlichen. (204) Die junge Kretschmann kritisiert hier eine (adelig)-weibliche Erziehung, zu deren Wertevermittlung Selbstbeherrschung und Haltung gehören, nicht aber Bildung. Bildung bleibt eine Äußerlichkeit, wird nicht zu einem verinnerlichten Wert, der Denken und Handeln mitbestimmt. Wenn aber das bißchen Bildung im Unterhaltungssektor verbleibt, bleiben die Folgen nicht aus: Sinnlichkeit und Verstand können die Gegenstände nicht in ihrem ‚Wesen‘, ihrer Schönheit, ihrer Wahrheit erfassen. Bindet sich das erzählte Ich über Erziehungskritik noch in eine Wir-Gruppe junger unverheirateter Frauen ein, grenzt es sich an anderer Stelle scharf von ihr ab. „ ,Ihr Leben allein widert mich an‘, schrieb ich an Mathilde, ‚ein bißchen Musik, ein bißchen Malerei, ein bißchen Wohltätigkeit und unter dieser Maske der guten Gesellschaft entweder nichts, oder ein unklares Durcheinander von Romantik und unterdrückten kleinen Passionen. Nie ein starkes Gefühl, nie ein brennendes Interesse.‘ “ (271) Aus der Erziehungskritik, mithin der Einsicht, daß äußere Faktoren das Werden zu jungen Damen mitbestimmen, wird eine von hoher Aversion getragene Wesensbestimmung der Gruppe. Aggressive Diktion und diskriminierende Vorurteile bestimmen die Passage. Einerseits kommt hierin

85

Ebd., S. 676.

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die große Distanz zwischen der bildungsbeflissenen Adeligen und jenen, die diese Ambition nicht teilen, zum Tragen. Andererseits irritiert die Passage ob der Vehemenz der Abwertung. Ich lese sie als ungewußte Abwertung des eigenen „äußeren Selbst“, welches unter den „rastlos formenden Hände der Tante“ (143) zur jungen Dame geformt und den sozialen Anforderungen, die auf eine Eheschließung gerichtet waren, gerecht wurde. Das „innere Selbst“, eines mit starken Gefühlen und brennenden Interessen, hat nur sehr vage Zukunftsvorstellungen („Meine Lebenskräfte schreien nach Betätigung.“ 216) von geistiger Arbeit zwischen Literatur und Wissenschaft. Aber eine konkretere Vorstellung von der Bedeutung der Ehe: Die großmütterliche Glücksverheißung, die mütterliche Pflichtversessenheit, das Diktum der Tante – alle liefen darauf hinaus, „daß wir nie uns selbst gehören“ (220). Die Abwertung der Altersgenossinnen geht mit der diffusen Furcht vor einer Einverleibung der „sozialen Bestimmung“ einher. Es ist dies ein Effekt der symbolischen Gewalt der heteronormativen Ordnung, die das „Weibliche“ als defizitär, abstoßend erscheinen läßt.86 Mit achtzehn Jahren erhielt die adelige Haustochter ihren ersten Heiratsantrag, den sie ablehnte. Nachfolgend mangelte es nicht an Verehrern und Bewerbern aus Gutsbesitzund Offizierskreisen. Insbesondere Vater und Onkel erwarteten, eher den Versorgungsaspekt betonend, daß sie sich verheiraten würde, aber sie akzeptierten die persönliche Entscheidung, einen Bewerber aus nicht vorhandener Liebe abzulehnen. (vgl. 206, 208, 268, 340) In der gegebenen Ordnung eines überschaubaren Verkehrskreises stellte die Gattenwahl einen akzeptierten individuellen Handlungsspielraum dar und war zugleich eine soziale Anforderung, diese Wahl zu treffen. Die junge Kretschmann bedient beides auf ihre Weise und rechtfertigt ihr Tun in einem Brief an ihre Cousine. „ ,Aber du treibst deinen Vorwurf noch weiter und sagst entrüstet, ich wäre wieder einmal reif, mein Herz wegzuwerfen. Ich gebe das ohne weiteres zu: findet mein Geist kein Interesse, so muß das Herz daran glauben. […] Er ist hübsch, elegant, leichtsinnig, oberflächlich, – kurz, ganz was ich brauche! Er ist Löwe, Herzensbrecher, – kurz ein Holz, aus dem ich mit Vergnügen meinen Ritter schnitze!‘ “ (215) Die Adelige macht vom Flirt ausgiebig Gebrauch, der durchaus eine sozial akzeptierte Interaktionsform zwischen den Geschlechtern in der Jugendphase darstellte. Der „Vorwurf“ mag eher Besorgnis meinen. Insofern gegenseitige Attraktion in die Eheschließungsgründe einging, bestand die Verhaltenszumutung des Flirts für junge Frauen darin, daß sie unter den Gegebenheiten der herrschenden Sexualmoral permanent ihre „Geschlechtsehre“ gefährdeten, die doch blütenrein in die Ehe eingehen sollte. Während Geistlosigkeit und Oberflächlichkeit Attribute sind, mit denen die Erzählerin ihre jungfräulichen Geschlechtsgenossinnen diskriminierend als innerlich leer beschreibt und sich entsprechend abgestoßen fühlt („ ,Ihr Leben allein widert mich an‘ …“. 271), bedeuten sie zur Beschreibung des jungen Standesgenossen etwas anderes. Kombiniert mit den äußeren Merkmalen „hübsch, elegant, leichtsinnig“ übt der junge Mann als Objekt ihres Be-

86

Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 63–78.

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gehrens Anziehungskraft aus. Er ist „ganz was ich brauche“. Zugleich ist er Gegenstand, auf den sie ihre Vorstellung von ‚Männlichkeit‘ projiziert: „ein Holz, aus dem ich mit Vergnügen meinen Ritter schnitze“. Eine gewisse Herabsetzung aufgrund mangelnden Geistes auch hier, aber doch nicht die Verachtung, mit der sie die in etwa gleichaltrigen jungen Frauen straft. Offensichtlich hängt die ungleiche Behandlung qua Geistlosigkeit mit ihrem heterosexuellen Begehren zusammen. Während in der Gegenwart darüber diskutiert wird, inwiefern das Begehren eher der Natur oder der Kultur zuzuordnen sei, war die Antwort im 19. Jahrhundert recht eindeutig. Über die aufklärerische Naturalisierung des Körpers, der Konstruktion einer weiblichen „Sonderanthropologie“, der Erfindung der Homosexuellen als festumrissene, biologisch begründete Personengruppe, bis zu Freud, dessen Überlegungen bis in die Gegenwart reichen, wurde das sexuelle Begehren, der „Geschlechtstrieb“ der Seite der Natur, des Körpers, der Psycho-Physiologie zugeschlagen. Im Sinne der heteronormativen Geschlechterordnung wurde Männern ein starker, Frauen ein schwacher Geschlechtstrieb zugeschrieben, woraus sich dann Aktivität und Passivität im Sexualakt herleiteten.87 Aus diesem Diskursuniversum speisen sich auch Lily Brauns Äußerungen, mit denen zu zeigen ist, daß ihr großartig-diffuser Zukunftsentwurf in den Fängen der Heteronormativität unterzugehen droht. Der Flirt, als Vorspiel zur Ehe sozial akzeptiert, ist die erzählte Situation, aus welcher heraus sie ihrer Vertrauten schreibt: „ ,Ich bedarf der Bewunderung … Und doch sehne ich mich nach einem Menschen, den nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft, …‘ “ Die Erzählerin kommentiert das Briefzitat der ca. 23jährigen mit der Äußerung, daß sie diese Auffassung „[s]chon vor Jahr und Tag“ vertreten habe und setzt fort: „Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur entfremdeten konstruieren künstlich eine Weibesliebe, die den Gleichen begehrt. Den Höherstehenden will sie; denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbedürftigkeit ist ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie, meiner Sehnsucht Erfüllung vorzutäuschen, …“ (319) Stilistisch ordnet sich die Passage in das Gesamtgefüge der Erinnerungen ein. Erfahrungen und Erfahrungswissen werden im Ton des Emotionalen, Absoluten und in Gegensätzen, kombiniert mit einer Prosa von Gewißheiten und Überzeugungen, erzählt. Thematisch fällt sie aus dem Ganzen der Erzählung heraus. Erzählte wie erzählende Person stimmen in ihrem Unterwerfungsbegehren überein mit dem Unterschied, daß letztere essentialistisch argumentiert. Zugleich wird eine zeitliche Kontinuität behauptet. Es gibt keinen übergreifenden Sinnzusammen87

Vgl. im Überblick: Schmidt, Gunter / Strauß, Bernhard (Hgg.), Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität, Gießen 2002; Eder, Franz X., Sexualitäten und Geschlechtergeschichte, in: Gehmacher / Mesner (Hgg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte, S. 203–219; Puff, Helmut, Männergeschichten / Frauengeschichten. Über den Nutzen einer Geschichte der Homosexualitäten, in: Medick / Trepp (Hgg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, S. 127– 169. Zur „Sonderanthropologie“ vgl. grundlegend: Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Zur Sexualtheorie in psychologisch-psychoanalytischer Perspektive um 1900 vgl. Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Ders., Psychoanalyse, S. 120–228.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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hang, in dem sie sich selbst zum ‚weiblichen Geschlechtscharakter‘ positiv in Beziehung setzt. Der Zusammenhang besteht einzig im weib-männlichen Verhältnis auf der Darstellungsebene der ‚Jugendlieben‘, der durch das Argument des Gegenwarts-Ich allerdings verallgemeinert wird. Braun kategorisiert eindeutig: In der Natur liegt die ‚Vollgeschlechtlichkeit‘ beider Geschlechter, im ‚Wesen‘ des vollgeschlechtlichen Weibes liegt Unterwerfung, weshalb sie den ‚Höherstehenden‘ begehrt. Sie konstruiert einen männlichen Mann und eine weibliche Frau als natürliches Verhältnis, welches auf der sprachlichen Ebene deutlich als Herrschaftsverhältnis zu erkennen ist. Zwar vermag sie dieses Verhältnis kurzweilig umzukehren („ich unterwerfe“), doch auf den unterworfenen Mann richtet sich nicht ihr Begehren, das Verhältnis bleibt unangetastet. Braun reflektiert mit keinem Wort, daß sie unter Rückgriff auf ‚Natur‘ diejenige Ordnung fundamental anerkennt, die sie in der gesamten Erzählung individualbiographisch wie frauenrechtlerisch zu bekämpfen trachtet. Dieser Widerspruch löst sich nicht auf und wird von der Autorin nicht als ein solcher erkannt. Braun spricht die Sprache der Beherrschten – bis auf weiteres ein Beispiel für die symbolische (männliche) Macht, welche auch auf jene wirkt, deren subjektiver Sinn meint, sich ihr entziehen zu können.88 Wenn Braun vom sexuellen Begehren spricht, dann spricht sie vom „körperlichen Magnetismus […] zwischen Mann und Weib“, der im „Instinkt der Natur“ gründet. (317) Die Anerkennung des Begehrens ist der 23jährigen eine wichtige Ehevoraussetzung: „ ,Würde ich mich des Instinktes schämen … – in welch unselige Ehen hätte ich mich schon fesseln lassen!‘ “ (317) Sie kommt nicht auf die Idee, Instinkt und Ehe zu entkoppeln. Hieran zeigt sich, wie diszipliniert das Begehren bzw. seine Realisierungschance auf die sozial-kulturelle Institution gerichtet ist. Braun ist bis in den Körper hinein für die Ehe disponiert. Flirtend ihrem Unterwerfungsbegehren folgend, trifft sie auf den „Höherstehenden“. Er ist nicht klüger als die anderen, sondern „männlicher“: „daß ich mich ihm, dem Starken, unterwerfen durfte – welch tiefe Seligkeit war das!“ (233) Die Gefühle sind ernst, das Vorspiel zur Ehe beendet. Ihre Bildungsambitionen und intellektuellen Neigungen belustigen nun sie selbst. (vgl. 235, 241) Nicht vom Traum einer menschheitsverändernden „Pionierarbeit“ wird sie beherrscht, sondern von seinem Traum, ihr ein „weiche[s] Nest“ (243) zu bauen. Liebe und Leidenschaft unter den Bedingungen der herrschenden Sexualmoral machen die junge Frau, die das großmütterliche Glück anzweifelte, es bei der Mutter nicht fand, zur Ehe bereit. Diese Bereitschaft eröffnet im Adel eine normalbiographische Perspektive des Engagements für die Familie, die dem Wortsinn von „Pionierarbeit“ entgegensteht. Die von Braun erzählte Liebesgeschichte ist eine romantische, die am Ebenbürtigkeitsprinzip – er ist ein Prinz von Geblüt – scheitert. (vgl. 229–254)

88

Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 63–78.

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h) Die Nichtanerkennung des ‚eigentlichen‘ Selbst Der Lebensentwurf der 23jährigen speist sich wesentlich aus ihren Lektüreerfahrungen, die ihr eine andere Welt imaginieren und ihren Erfahrungen im Umgang mit der zugewiesenen „Weiblichkeit“, abstoßend und über die ‚Magie der Liebe‘ anziehend zugleich. Bildungsambitionen und das Scheitern einer Liebe am Ebenbürtigkeitsprinzip drängen sie aus ihrer Herkunftsgruppe heraus. Hinzu tritt eine dritte Dimension: „Mein Tagebuch und die Briefe an Mathilde waren die Vertrauten meines eigentlichen, verborgenen Lebens.“ (306) Tagebuch und Brief mögen vorzügliche Medien der Selbstintrospektion sein, doch sind sie die einzigen Garanten für ‚das Eigentliche‘, stellt sich dem Individuum das Problem seiner sozialen Verortung. „Das Selbst entfaltet personale Identität nur im Modus seiner Bezogenheit auf Andere.“89 An dieser Bezogenheit herrscht im Nahraum des Ichs in der Konflikterzählung Mangel. Brauns Vorstellung von sich selbst (das verborgene Leben) findet keine Passung zur sie umgebenden äußeren Welt ihrer Kindheit und Jugend. Innerhalb der Erzählung existiert der immergleiche Zusammenhang, daß die der Person eignenden Interessen keine positive Anerkennung durch andere erfahren. In der Kindheit sind es ausgedachte Märchen, für die sie ausgelacht wird. (vgl. 28) In den Augen der Mutter stellt ihre Beschäftigung mit Literatur „dummes Zeug“ (96) dar, wird das wissenschaftliche Selbststudium mit „Mißtrauen“ (304f.) betrachtet. Als „Narrenpossen“ wertet die Tante die Schreibversuche ab. (145) Der Vater sieht sie als künftige Ehefrau und Mutter, jedes andere „Schaffen“, jeder andere „Lebensinhalt“ wären „nichts als traurige Lückenbüßer“. (311) Das jugendliche Interesse an Fragen moderner Kunst und Literatur wird in der „Gesellschaft von Gardeleutnants“ allenfalls verhöhnt. (286) Ihr Reden über „politische Tagesereignisse“ ruft nur „verblüffte Gesichter“ im Bekanntenkreis hervor. (305) Die entgegengebrachte Nichtbeachtung ihrer eigenen Interessen, Meinungen, Empfindungen machen die junge Kretschmann zu einem Fremdkörper in Familie und Verkehrskreis. Und insofern sie sich nicht auf andere beziehen kann, fällt es schwer, den eigenen Ort im sozialen Gefüge zu bestimmen. In den Briefen an die Cousine tritt die immergleiche Hybris der Person hervor. In sozialpsychologischer Perspektive sprechen Keupp und KollegInnen über diese Nichtbeachtung des Selbst von einer „Basisgefährdung“ personaler Identität.90 Zur Nichtanerkennung des ‚eigentlichen‘ Selbst tritt hinzu, daß die selbstinitiierten Handlungen von den Eltern immer als Bedrohung des Familienansehens gedeutet wurden. Als Heranwachsende widerspricht sie energisch den religiösen Auffassungen des Gemeindepfarrers, der darüber empört ist. Die Mutter löst diese Situation mit diplomatischem Geschick. Es ist die einzige Situation, in der sie sich vor ihre Tochter stellt: „ ,Ich habe nicht dich, sondern unseren guten Ruf in Schutz genommen.‘ “ (106) Als junge Dame feiert sie einige Erfolge mit Gelegenheitsdichtungen in Geselligkeiten, 89 90

Sieder, Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften, in: Ders., Die Rückkehr des Subjekts, S. 15–59, hier: S. 35. Keupp, Heiner u. a., Identitätskonstruktionen, S. 257.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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die insbesondere ihren Vater mit Stolz erfüllen. (vgl. 91, 95, 214, 218) Der Intendant des Schweriner Hoftheaters – der Vater wurde zur dortigen Garnison versetzt – bittet sie bzw. zuerst ihren Vater um Mitarbeit. Eine Festveranstaltung anläßlich des großherzoglichen Geburtstages soll gegeben werden: „Mir klopfte das Herz vor Freude: Ich sollte für die Bühne dichten! Sollte von einem großen Publikum gehört werden!“ (217) Doch die adäquate Anerkennung durch Publikum und Theaterkritik bleibt ihr ob des väterlichen Verbotes, den Familiennamen einer nichtadeligen Öffentlichkeit preiszugeben, versagt. Adelsdünkel und Familienehre legitimieren das väterliche Verbot: „[S]eine hochmütige Mißachtung des Publikums war so groß, als daß er ihm ein Urteil über mich hätte gestatten können. … ‚Damit unser guter Name durch die schmutzigen Mäuler aller Menschen gezogen wird?!‘ herrschte er mich an ‚und jeder Federfuchser sich erlauben kann, dich herunterzureißen?!‘ “ (218) Das Scheitern der von ihr angestrebten Liebesehe am Ebenbürtigkeitsprinzip geht zu Lasten der Familie. Der Vater wird unvermutet in eine andere Garnison versetzt und macht seine Tochter für die empfundene „Strafversetzung“ verantwortlich, „ ,die ich mit meinem Abschiedsgesuch beantworten würde, wenn ich nicht genötigt wäre, weiter zu dienen, um meine Familie zu erhalten …‘ “ (257) Die Mutter kommentiert:„ ,Möchtest Du daraus endlich die Lehre ziehen, daß Du Deine Launen und Leidenschaften im Zaum halten mußt, wenn Du nicht Dich und Deine Eltern zugrunde richten willst …‘ “ (256) Der Vater fühlt sich in seiner Karriere zurückgesetzt und in seinem persönlichen Ehrgefühl verletzt. Die finanzielle Familienverantwortung läßt ihn die Zumutung der Degradierung aushalten. Die Mutter spricht von „zugrunde richten“ und fürchtet damit um den Erhalt der sozialen Position der Familie. An dieser Stelle wird deutlich, daß individuelle Handlungen, die als Abweichung von den Konventionen durch eine adelige Öffentlichkeit interpretiert werden, den gesamten Familienerhalt infrage stellen können. Braun präsentiert das ‚eigentliche‘ Selbst ihrer Jugend als weitgehend isoliert vom sie umgebenden adeligen Sozialgefüge. Die ‚natürliche‘ Gewißheit der Adelszugehörigkeit weicht hierüber der Suche nach einer dem Selbst angemessenen sozialen Verortung. Und diese Suche ist begleitet von der Sinnfrage bzw. von der Frage nach dem „Lebensinhalt“, wie es die Autorin immer wieder formuliert: „Wo war ein Ziel für mich, des Ringens wert?“ (177) i) Standesgemäße Wege und ihre Überwindung Als die 23jährige ihren Lebensentwurf an Arbeit ausrichtete, formulierte sie einen Selbstund Weltveränderungswunsch vor dem Hintergrund einer Sinnkrise. Erst durch die Entlassung des Vaters und den Tod der Großmutter im Jahr 1890 wird die 25jährige Kretschmann mit einer neuartigen Situation konfrontiert, die dem individuellen Projekt „Arbeit“ konkrete Richtung und Ziel geben. Der Dienstquittierung des Generals folgten in der ohnehin prekären pekuniären Lage finanzielle Einschnitte, die den gewohnten Lebensstil beschränkten. In diesen eingeschränkten Verhältnissen scheint der Adeligen zum ersten Mal bewußt zu werden, daß

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Arbeit zuallererst der Existenzsicherung, nicht aber individueller Bedürfnisbefriedigung dient. Die bisher verhaßten häuslichen Pflichten werden nicht freudvoller, aber sie nimmt sie nun als soziale moralische Verantwortung gegenüber Vater, Mutter und Schwester, im Bewußtsein, zum Familienerhalt beizutragen, wahr. (vgl. 359–363, 365f.) Über diese Verantwortung ‚entdeckt‘ sie, daß ihre Arbeitskraft Geldwert besitzt: „ ,Da ich den Eltern überdies durch Schneidern, Putzmachen und Gouvernantenspielen bei Ilse ein Mädchen für alles und ein Fräulein erspare, so kann ich mir einbilden, mich bereits selbst zu erhalten. Nur daß dies bloße Erhalten des Lebens vom Leben selbst weit entfernt ist.‘ “ (381) Diese Arbeitsbeschreibung ist wesentlich konkreter als ihr vorheriger Arbeitsentwurf. Es geht um ökonomische Selbständigkeit in Verbindung mit einer sinnvollen Tätigkeit. Ideelle Unterstützung auf dieser Suche erfährt sie durch ihre Großmutter. Kurz vor ihrem Tod schreibt sie der Enkelin, daß sich die finanzielle Familiensituation kaum bessern wird, da von ihr kein Erbe zu erwarten sei. Aus Sorge um den ökonomischen Familienerhalt traut sie der Enkelin zu, auch „ ,außerhalb der natürlichen weiblichen Lebenssphäre‘ “ einen „befriedigenden Lebensinhalt“ zu finden, und rät ihr: „ ,[S]telle Dich auf Deine eigenen Füße.‘ “ (362) Damit ist zum einen die Erwartung verbunden, den Eltern die Sorgen um eine zu verheiratende Tochter zu nehmen, zum anderen, Eltern und Schwester finanziell zu unterstützen. Die Reaktion der Enkelin: „Nach Selbständigkeit hatte ich mich gesehnt mein Leben lang – …, aber das war’s ja gar nicht, … Nicht meiner Überzeugung leben, mein geistiges Ich befreien sollte ich, sondern im Dienst der Familie meine Begabungen in blanke Münze umsetzen.“ (363) Läßt man den Befreiungsidealismus beiseite, so erreicht die Loyalität zur Familie ihre Grenze. Alle ihre Interessen und Neigungen wurden nie anerkannt, geschweige denn gefördert, hatten sich im Bereich des Heimlichen und Verbotenen befunden – es gibt über die häuslichen Pflichten hinaus keinen Grund, im „Dienst der Familie“ zu handeln. Sie erwirtschaftet kleinere Einnahmen durch kunsthandwerkliche Arbeiten: „ ,Ich habe meinen Eltern infolgedessen das Taschengeld schon ‚kündigen‘ können, und dieser erste Schritt zur Selbständigkeit ersetzt mir etwas den Mangel an seelischer und geistiger Befriedigung.‘ “ (380) Eine reelle Chance sinnvoller Tätigkeit – der Praxistest ihrer „Begabungen“ – tritt durch den großmütterlichen Tod 1890 ein. Im klassischen Weimar aufgewachsen und bis zur Heirat 1838 Hoffräulein am Hof, hinterläßt sie der Enkelin ihren schriftlichen Nachlaß. Der Herausgeber der „Goethe-Zeitschrift“ wendet sich über den Erben, ihren Onkel, mit der Bitte um Veröffentlichung eines Artikels an sie, wogegen weder Vater noch Mutter etwas einzuwenden haben. Empfehlungen an andere literarische Zeitschriften sichern der Enkelin weitere Aufträge zu. „Ich strahlte: das war ein Anfang, – der erste Schritt zur Unabhängigkeit, und vielleicht – zum Ruhm!“ (378) Die Beziehung der jungen Adeligen zu einem Berliner Kreis von bürgerlichen Gelehrten und Literaten ist ambivalent. Einerseits freundliche Aufnahme und bereitwillige Unterstützung der literarischen Tätigkeit einer Anfängerin. Sie genießt den „geistig anregenden Verkehr ungeheuer“ und darf sich selbst ins Gespräch mischen. (385, 392f.) Die Affinität zum bürgerlichen Kreis, der Glaube, daß sie hier im Gegensatz zum verwandtschaftlichen „Zwangsverkehr“ (385) Freunde im Geiste hätte, erweist sich andererseits

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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als Vorurteil. Befremdend nimmt sie zur Kenntnis, daß sie, die sich als Neue im geselligen Verkehr und Quereinsteigerin in literarisch-publizistischer Tätigkeit angemessen bescheiden zurückhielt, plötzlich im gesellschaftlichen Mittelpunkt steht: „ ,Sie haben persönliche Beziehungen zum Großherzog von Sachsen-Weimar?‘ “ (389) Die junge Kretschmann kannte selbstverständlich den Großherzog persönlich. Hier funktioniert der ‚Freundschaftsmechanismus‘, welcher generationenübergreifend ist und die verwandten Personen der Ursprungsbeziehung einschließt. „Ich erzählte von Großmamas Freundschaft mit Karl Alexander. Der Kreis um mich vergrößerte sich. Man erging sich in Lobeserhebungen des Fürsten …“ (389) Mit Fürstengunst könne die Quereinsteigerin der Wissenschaft große Dienste leisten, meint eine namenlos bleibende Koryphäe, die ihre Arbeit bisher ignoriert hatte. „Seltsam, wie er plötzlich von meiner Leistungskraft überzeugt schien, …“ (389) Die Aufmerksamkeit, die der Adeligen hier zuteil wird, beruht auf einem Vertrauensvorschuß, den sie in dieser Gruppe nicht erwartet hatte. Sie glaubte, hier sei das persönliche Ansehen eine Frage individuell erbrachter Leistung. Die gelehrte Reaktion auf die fürstliche Bekanntschaft „verletzte mich aufs Tiefste“ (390). Diese Verletzung ist ihren enttäuschten Erwartungshaltungen geschuldet. Die Literaten und Gelehrten galten ihr bisher als „freie[n], geistig hochstehende[n] Menschen“. Zu ihnen, nicht zu den Standesgenossen, hatte sie „bewundernd aufgesehen“, von ihnen glaubte sie, daß diese sie „in den Strom geistigen Fortschritts reißen“ würden. (390) Bildung und Fortschritt gehen keine Beziehung ein, wohl aber bürgerliche Gebildete und fehlender Geistesstolz, insofern sie sich um eine wissenschaftlich ungebildete, einzig fürstlich begünstigte Frau scharen. Das ist die Enttäuschung. Der Glaube, sich unabhängig von der Familie aufgrund eigener Fähigkeiten eine Position erarbeiten zu können, ist erschüttert. „Ich wurde mißtrauisch gegen jeden“, – gemeint sind „die Männer der Kunst und Wissenschaft“ – „der mich zuvorkommend behandelte.“ (407) Mangelte es der Adeligen in ihrer Herkunftsgruppe aufgrund ihrer intellektuellen Ambitionen an Anerkennung, kann sie die Anerkennung in der Gruppe bürgerlicher Intellektueller aufgrund ihrer adeligen Herkunft nicht hinreichend, Verhaltenssicherheit gebend, einschätzen. Die bürgerliche Geisteswelt, der sie Bildung und Leistung als Mittel und Zweck „geistigen Fortschritts“ zugestand, an der sie um ihrer Person willen teilhaben wollte, zeigt sich ihr gegenüber zumindest unentschieden zwischen Bildung und Fürstengunst. Die Differenz zwischen Ideal und Praxis zu erzählen – das ist die Überwindung wahrgenommener, gedeuteter bürgerlicher Welt der Lily Braun auf dem Weg zu Lily Braun. Überwindung oder Verabschiedung der adelig-höfischen Welt ist anders konnotiert. Als 15jährige verbrachte die junge Kretschmann längere Zeit mit ihrer Großmutter in Weimar. Diese stellte ihr damals einen Hofdamenposten in Aussicht, der ihr durchaus als Alternative erschien. Es sei besser „in Weimar abhängig zu sein, als von einer Garnison zur andern stets in derselben Leutnantsatmosphäre [zu] leben.“ (192) Zehn Jahre später wird Kretschmann vom Großherzog eingeladen, um Studien zu einer Kulturgeschichte der Stadt zu betreiben. Sie ist nicht mehr fünfzehn Jahre, strebt nach persönlicher Selbständigkeit und ist auf der Suche nach Möglichkeiten, am Fortschritt der Zeit teilzuhaben. Während sich ihre Familie, insbesondere der Vater, über die großherzogliche Einladung

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freut – wenn sie schon schreiben müsse, dann könne sie „es wenigstens auf eine standesgemäße Weise“ tun – , zögert sie zum einen aufgrund der empfundenen „Fesseln des ‚Standesgemäßen‘“. (389) Zum anderen ist ihr Berlin ein dynamischer Ort geworden, sie beginnt „den Pulsschlag des Weltlebens zu empfinden und den meinen auf denselben Takt einzustellen“. (383) Braun stellt Weimar als Ort konservierter Zeit dar. Hier „versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel stieg die Vergangenheit empor.“ (400) Die Menschen bei Hofe hätten zwar die Perücken abgelegt, würden aber noch immer den Geist des ausgehenden 18. Jahrhundert verkörpern, einschließlich der Sprache des Fürsten im „eleganten Französisch des ancien régime“. (400) Sie selbst kommt sich wie die von ihr wahrgenommen Personen vor – „ein Schatten der Vergangenheit“. (402) Zur unzeitgemäßen „Hofluft“ tritt die noch immer zeitgemäße Abhängigkeit vom Fürsten am Hof. Dieser erwartet von ihr eine Residenzgeschichte in seinem Sinn, d. i. die Erfolgsgeschichte seines Hauses, das Künstlern und Dichtern traditionell den Weg zum Ruhm gebahnt habe. Für dieses Werk sei sie „prädestiniert“, nicht weil sie über nötige Fachkenntnisse verfügen würde, sondern weil sie vom „unfehlbaren Takt der Aristokratin“ geleitet sei: „ ,Von Ihnen brauche ich keine […] widerwärtigen Enthüllungen zu fürchten, … Meine Archive stehen Ihnen offen; … Ich hoffe, Sie oft zu sehen.‘ Zu einer Antwort ließ er mir keine Zeit mehr, – daß ich nicht nein sagen könnte und dürfte, war ihm selbstverständlich. Ich hatte mich nur noch tief und dankbar zu verneigen.“ (401) Der Fürst spricht hier keine Einladung zu schöpferischer Tätigkeit aus, sondern formuliert klare Anweisungen, die keinen Widerspruch dulden. ‚Standesgemäßes Arbeiten‘ ist Fürstendienst, beinhaltet Gehorsam bis in die Denktätigkeit und bleibt von der Gunst des Fürsten abhängig. „Hofluft erstickt Talente“, läßt die Erzählerin eine Tante sagen, und dies ist die Quintessenz ihrer Darstellung des Weimarer Hofes des Jahres 1891 und ihr Entscheidungsgrund, keine Hofstellung anzunehmen. (406) j) Ein „mich selbst, ganz wie ich da bin“91 Mit der Orientierung an ökonomischer Selbständigkeit und sinnvoller Tätigkeit beginnt die äußerlich sichtbare Ablösung von Familie und Herkunftsgruppe. Keine Arbeitskraft für die Familie sein wollend, bei aller Affinität zur bürgerlichen Gelehrtenwelt deren Scheinheiligkeit quittierend, den Fürstendienst aufgrund der abhängigen Stellung ablehnend – das sind Entscheidungen im Geist der Negation. Das Umschlagen in eine neue Qualität ist dem prägenden Einfluß Georg von Gyžickis zu verdanken. Sie lernt ihn 1891 beim Promenieren im Berliner „Zoologischen Garten“ kennen. Sein Adel ist unstrittig, sein Vermögen sehr gering, er ist an den Rollstuhl und als ordentlicher Professor an die Universität gebunden. Ob seiner Gesinnung wird er „Kathedersozialist“ genannt. Sie heiraten 1893, er stirbt 1895. In dieser Beziehung kehrt sich das „verborgene

91

Goethe, Wilhelm Meister, S. 301.

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Leben“ der jungen Frau nach außen. Das ‚eigentliche‘ Selbst trifft auf emotionale und intellektuelle Resonanz in der anderen Person. In einem Gespräch über die „Welt der Bücher“ findet sie sich in ihm wieder. In direkter Rede gehalten: „ ,Ich danke Ihnen …, so bin ich doch nicht mehr allein mit dem, was ich dachte und fühlte, …‘ “ (423) Mit Gyžicki hat sie, was sonst nicht der Fall war, einen konkreten Dialogpartner. Er holt die diffusen, dunklen Gedanken hervor, schult ihren Verstand im Gespräch, unterrichtet sie in Philosophie und Naturwissenschaften, gibt ihr Zeitschriften und Bücher an die Hand, um gemeinsam darüber zu diskutieren. Er formt ihr Denken und Fühlen und richtet beide auf ein Ideal aus. Das ist sein Glaube „ ,an die unendliche sittliche und intellektuelle Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur [anstelle] des Glaubens an einen unbeweisbaren Gott.‘ “ (423) Sich zum Wohl der Menschheit zu engagieren wird ihre „Lebensaufgabe“(487). Das idealistisch-materialistische Ideal und die gewonnene Selbstgewißheit, „daß es noch andere meiner Art geben muß“ (204), stellen den Rahmen dar, in dem dann die sozialistische Idee zur sinnstiftenden Handlungsorientierung avanciert und in dem sich Braun in Übereinstimmung mit ihrem in der Beziehung zu Gyžicki neu gestalteten Selbst sozial definieren kann. In der kurzen Zeit ihrer Beziehung engagierte sich Frau von Gyžicki in der von ihr und ihrem Mann mitbegründeten „Ethischen Gesellschaft“, verdiente als Redakteurin der hauseigenen Zeitschrift ihren selbständigen Lebensunterhalt, arbeitete intensiv im Verein „Frauenwohl“, gegründet von Minna Cauer, publizierte in Zeitschriften, hielt Vorträge auf öffentlichen Versammlungen. Ihre Handlungsfähigkeit realisiert sich hier in Taten, die durch relevante andere (Ehemann, Vereinsmitglieder, die Zuhörerschaft ihrer Reden) Anerkennung, Zustimmung und Kritik finden. Die Beziehungen zu ihrer Herkunftsfamilie sind in dieser Zeit angespannt, aber noch nicht abgebrochen. Vom Familiengut aus schreibt sie Gyžicki: „ ,Die Gesellschaft, in der ich mich ständig befunden habe und die doch eigentlich die meine ist, wird mir bis zur Verständnislosigkeit fremd. Ihre Atmosphäre legt sich beklemmend aufs Herz …‘ “ (454) k) Zusammenfassung Spätestens mit der Eheschließung 1893 löst sich der biographische Konflikt, initiiert durch den Entwurf der 23jährigen an einer „Pionierarbeit“ teilhaben zu wollen, es aber aufgrund von Herkunft und Geschlecht nicht zu sollen, auf. Die konkrete politisch-publizistische Tätigkeit für eine Fortschrittsutopie geht einher mit der praktischen Überwindung der wahrgenommenen Zumutungen ihrer Herkunftsfamilie. Hier galten Pflichterfüllung und weibliche Aufopferung für die Familie als sozial vermittelte Anforderungen. Arbeit, Bildung und Selbständigkeit stellten für Kretschmann demzufolge Chiffren der Sehnsucht dar. Mit Gyžicki bilden diese stark bürgerlich konnotierten Grundwerte die Grundlage, um das eigene Leben an der sozialistischen Idee auszurichten. Der Ausbruch der jungen Kretschmann aus allen angebotenen Mustern adelig-weiblicher Lebensführung ist sicher nicht von der Wahrnehmung zu trennen, in einer Zeit beschleunigten gesellschaftlichen Wandels zu leben. Vor dieser Folie erscheinen Lebens-

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welten, wie etwa der Weimarer Hof, als nicht mehr zeitgemäß, gelten dort gültige Verhaltensweisen als veraltet. Sie selbst nimmt sich hierüber als in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt wahr. Ein weiterer konfliktbedingender Aspekt scheint das „Doppelleben“ zu sein. Über weite Strecken der Darstellung gehen das ‚äußere‘ und ‚innere‘ Selbst parallele Wege – ein Zustand, der als starke Bedrängnis empfunden wird. Gewinnt das innere Selbst, von ihr als das gewichtigere gedeutet, in Handlungen die Oberhand, so ziehen diese nicht familiäre Anerkennung nach sich, sondern stellen den Ruf der Familie und – im unebenbürtigen Liebesbegehren – deren Existenz infrage. Eine Passung zwischen innerem und äußerem Selbst, hergestellt über die Kategorie „Bildung“, gelingt kurzzeitig in der bürgerlichen Welt der Tante. Die Trennung ist geschlechtsspezifisch konnotiert. Die Aneignung von Bildung und die damit verbundene Idee der Selbstbildung erfährt ihre Grenze im Erziehungsprogramm zur jungen Dame. Das „Doppelleben“ erfährt in der gedeuteten Sozialwelt keine Aufhebung. Hinzu tritt das Gefühl der Isolation. Es wird hervorgerufen aus einer nicht zureichend existierenden kommunikativen Wechselwirkung zwischen der eigenen Person und den StandesgenossInnen, welche sie in ihrer „Existenz“ hätte bestätigen können. Sie nimmt sich nicht als ein vergesellschaftetes Wesen wahr. Hierüber verliert die emotionale und soziale Bindung an Familie und Herkunftsgruppe ihre Wirkung, beginnt die Suche nach einer angemessenen Zugehörigkeit.

4.2.4. Schlechte Aussichten vor Ort – Folgen eines Familienkonflikts: Edith Gräfin Salburg, verw. Krieg von Hochfelden (1868–1942) 1927 erschienen die „Erinnerungen einer Respektlosen“92 von der 59jährigen Schriftstellerin und Publizistin Edith Gräfin Salburg, die, aus Oberösterreich stammend, nach der Jahrhundertwende mit ihrem Ehemann, Freiherr Franz Krieg von Hochfelden, ins deutsche Kaiserreich übersiedelte. Der Text gehört im Gegensatz zu den anderen eher zur Gruppe der „subjektiven Geschichtsschreibung“ und ist – typisch für die 1920er Jahre – stark weltanschaulich überformt.93 Die Autorin positioniert sich völkisch-nationalistisch und hält bei aller Kritik insbesondere am österreichischen Adel daran fest, daß der Adel natürlicher Führer des Volkes, zumindest der Bauernschaft sei. Ihre Individualgeschichte und den darin enthaltenen Zukunftsentwurf erzählt Salburg bis zum Verlassen ihrer Familie und ihrer nicht in diesem Zusammenhang stehenden Verlobung mit ca. 28 Jahren. Die Geschichte ist auf das engste mit einem im Adel typischen Familienkonflikt verbunden. Graf Salburg, ihr Vater, hatte den fideikommissarisch gebundenen Familienbesitz verschuldet übernommen. Seine Aufgabe als Majoratsherr hieß schlicht Sanierung. Der über den Besitz geregelte Familienzusammenhalt ist in einer solchen materiellen Krise gefährdet, weil sich das im Adel eingeforderte Familienbewußt92 93

Salburg, Edith Gräfin, Erinnerungen einer Respektlosen. Ein Lebensbuch, Leipzig 1927. Vgl. das Kapitel 2.3. dieser Arbeit. Allerdings trifft die weltanschauliche Überformung schon um die Jahrhundertwende auf Erinnerungen von Sozialistinnen, wie etwa Lily Braun, zu.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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sein am einzelnen erweisen muß. Die Angehörigen der Salburgs haben wenig Familiensinn in der Krise. Um die sicher berechtigten finanziellen Ansprüche bei gleichzeitiger Zahlungsunfähigkeit wird erbarmungslos gerungen, die Atmosphäre ist von Neid, Mißtrauen und Haß geprägt. Emotionen, Verhaltensweisen und materielle Interessen bedingen einander in der Salburgschen Familie außerordentlich stark. Wut kennzeichnet denn auch den ersten Entwurf im Backfischalter: „Ich lechzte nach Macht, um aufzuräumen auf der Erde. Das war mein tiefster Traum. Befreiende, reinigende Macht!“ (22) Es ist dies der ohnmächtige Wille, die Allmachtsphantasie eines jungen Mädchens in Wertediffusion. Ähnlich wie im Fall Anna von Kranes treffen hier desintegrative Faktoren aufeinander, die eine lebensweltliche Neuorientierung notwendig erscheinen lassen: Elterliche Autoritäten, deren soziale Position in der Familie und „guten Gesellschaft“ prekär ist, woraus sich – adeliger Corpseffekt – konventionelle Zukunftsaussichten für die nachfolgende Generation minimieren und Geschlecht als Ausschlußerfahrung wahrgenommen wird. In der erzählten Zeit ca. 27jährig konstatiert Gräfin Salburg: „Ich sagte mir fest, daß ich nun in das wirkliche Arbeitsleben eintreten wollte, als ein selbständiger Mensch, mich an keine andere Existenz binden, …“ (207) Arbeit, Selbständigkeit und persönliche Unabhängigkeit werden zukunftsweisende Handlungsorientierungen für ein Leben als Schriftstellerin. Im Unterschied zu Anna von Krane führt die nicht-adelig, nicht-weiblich anmutende Zukunftsvision nicht zu langatmigen Kämpfen mit den Autoritäten. Der Fall Salburg zeigt viel mehr die beschleunigte Ent-Bindung von einer Familie, die vom Individuum weder als Zusammenhalt noch als Wert wahrgenommen wurde. a) Eine verfeindete Familie Das Geschlecht der Salburgs, seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in Oberösterreich ansässig, gehörte seit dem 16. Jahrhundert zum rittermäßigen Reichsadel und wurde im 17. Jahrhundert in den Reichsgrafenstand erhoben. Salburg beschreibt ihre Familie als „ein Geschlecht, wie viele“, das über die Jahrhunderte bodenständig auf seinen Gütern lebte (32 große und kleine Schlösser) und sich loyal zum Herrscherhaus verhielt. (26) Ahnen ohne besondere Geschichte, „nicht Initiative noch Geist trugen sie hoch empor“ (26). „Resigniert bin ich nun aufgenommen“ (9), deutet sie das Ereignis ihrer Geburt auf dem Familiensitz Schloß Altenhof bei Linz (Kärnten). Auf jung verheirateten Paaren landbesitzender Familien lastete allgemein der hohe Druck einer Sohnesgeburt, um Besitzweitergabe und Familienkontinuität zu gewährleisten. Bis dahin war das Paar quasi zum ehelichen Sex adelsverpflichtet. Salburg sieht ihre Geburt als Ausdruck einer noch nicht gefestigten Position der Eltern bzw. des Vaters als Majoratsherr gegenüber der „Sippe“, so der von ihre verwendete Begriff für die erweiterte Familie, zu der in der Erzählung die Geschwister des Vaters, drei Brüder und zwei Schwestern und deren gemeinsame Mutter gehören. „[D]as große Majorat mit seinem kränklichen Herrn, da sind die lauernden, immer beutewitternden Verwandten“ (7): Stirbt der Vater, rückt einer seiner Brüder in seine Position, stirbt er im besten Fall kinderlos, fällt mehr vom persönlichen

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Erbe ab. Als 1869 der Erbe geboren wurde, „hat mein Vater wohl aufgeatmet, wie noch nie im Leben. Denn nun gab es keinen Agnaten mehr unter den feindlichen Verwandten, der mitzureden hatte … Nun erst war er Herr. In jenen Tagen ist meine Mutter aufgeblüht zu unbändiger Daseinsfreude.“ (19) Die majoratsherrliche Position der Kernfamilie geht nicht mit familiärer Anerkennung einher. Da ist zum einen Salburgs Mutter, „die erste, bürgerlich geborene Gräfin des alten Hauses“. (7) Da ist zum anderen der väterliche Majoratsherr, der „sparte, wie es adelige Art selten war.“ (29) Standesdünkel und der Anspruch auf eine herrschaftliche Lebensweise seitens der „Sippe“, der eigentliche Feind ist die Mutter des Vaters, gefährden die gesellschaftliche Stellung der Kernfamilie nachhaltig. Der Herr über den Familienbesitz besaß Recht und Möglichkeiten, die Ausgaben der einzelnen Mitglieder im Sinne des Besitzerhalts zu kontrollieren, zu sanktionieren und die Pflicht gegenüber vorangegangenen und nachfolgenden Generationen, den Besitz zu erhalten. In Salburgs Augen war es die verschwendungssüchtige Großmutter, die an der Seite eines „ebenso törichten als gutmütigen und hilflosen Edelmann[es]“ (9) die Güter zugrunde gerichtet hatte. Anstelle die Leistungen des Sohnes anzuerkennen, dem es allmählich gelingt, die offenbar hohen Schulden zu tilgen, herrschen „unberechtigte Forderungen, Gehässigkeiten, Intrigen“, herrscht Eigennutz statt Familieninteresse (175, s. a. 37, 64f., 180ff.) Gegen die formale Autorität des Majoratsherren war die „feindliche alte Frau“ (33) machtlos, aber sie desavouiert seine Stellung, – so meine Lesart – indem sie gegen die Position der bürgerlich geborenen Gräfin in der ‚guten Gesellschaft‘ von Linz interveniert. Ohne Angabe von Gründen meint Salburg, daß die alte Gräfin machtvollen, meinungsbildenden Einfluß auf die Linzer Gesellschaft besaß. Sie „imponierte immer noch“, besaß „unverändert ein Prestige“ und war „eine Macht im ‚Landl‘ “ geblieben, die zur Linzer Winter-Saison „noch immer eine Art Hof hielt“. (9, 11, 33) Die Autorin beschreibt Linz als „ein kleines, geistig enges, klatscherfülltes Pensionistennest“, in dem „[e]xklusiv bis zur Manie […] ein kleiner Provinzadel“ zusammensaß. (35, 36) Einem Kreis gleich Hochmütiger fällt Dünkel nicht auf, und der Linzer Adel war nicht grundsätzlich gegen die bürgerlich geborene Gräfin. Er erwartete von ihr eine Art demütiges Werben um eine vollwertige Aufnahme in den Kreis. (vgl. 36, 96) Was vom exklusiven Kreis womöglich als huldvoll herablassende Handreichung gedacht war, der man mit einer Unterwerfungsgeste genüge getan haben könnte, scheint von der jungen Gräfin in der Sicht der Erzählerin als Unterwerfung verstanden und somit als persönlicher Affront empfunden worden zu sein: „Sie war nicht demütig, sie bewarb sich nicht um die Gunst der Clique.“ (36) Diese konträre Haltung, von der Autorin mit „Unbesonnenheit“ (11) kommentiert, schürt den Dünkel. Es ist dies der Boden, auf dem es der alten Gräfin gelingt, einen „böswillig verhetzten Kreis[e]“ zu schaffen und die Standesgenossen auf ihre Seite zu ziehen. (35, 37) In dieser Atmosphäre verweist die Balltoilette der jungen Gräfin auf die unbezahlten Rechnungen der alten und somit auf den Sohn und Majoratsherren, der seiner Pflicht, den Familienmitgliedern eine standesgemäße Lebensführung zu gewährleisten, vermeintlich einseitig nachkommt. Der Linzer Kreis schließt sich: „Mein Vater in seiner Vornehmheit trug die wachsende Vereinsamung ruhig. Es hätte ihn ge-

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freut, die Frau, die er liebte, gewürdigt zu sehen. Das ward ihm nicht. Er ging wenig und weniger nach Linz.“ (36f.) Der Rückzug aus der ‚guten Gesellschaft‘ löste das Familienproblem nicht, von der Autorin immer begriffen als rechtmäßiges Verhalten des Majoratsherren einerseits und den unbotmäßigen Begierden der anderen Familienmitglieder. Es kam zum Bruch: „Er zerschneidet schließlich das Tischtuch.“ (64) Die majoratsherrliche Kernfamilie verließ das mit der „Sippe“ bewohnte Schloß, die Stadt Linz und das Land Kärnten, um sich in Graz, in der Steiermark niederzulassen. Die formale Spitze der Familienhierarchie scheitert am angestammten Ort durch eine in der Position nachgeordnete Witwe, weil diese die gesellschaftliche Meinung beeinflussen konnte. b) In Opposition: Grundzüge des präsentierten Selbstbildes Die gesonderte Stellung der Familie und der schwelende Familienzwist werden für die Kinder der „aufreizende Begleitakkord unseres Lebens“ (37) und in retrospektiver Vorausschau generationsübergreifende Feindschaft: „Nie würden in der Sippe deren Kinder aufgenommen sein, alles würde man ihnen später in den Weg legen.“ (65) Vor dem Hintergrund einer ungesicherten Lebensstellung im hineingeborenen sozial-kulturellen Kontext präsentiert die Autorin ein Selbst, das sich in Opposition zur Umgebung verhält und nach Maßstäben sucht, an denen es sich ausrichten kann. Ihre weitere Familie, Söhne und Töchter „eines verbrauchten Geschlechts“ (10), trugen den „Eisengürtel ihrer Kaste“, der nie um sie „zerklirrt[e]“. „Sie lebten und starben in Niederungen des Geistes wie der Seele. Das Hohe des Lebens hat sie nicht gerührt, weil nur der Schein für sie entscheidend war.“ (12) Sie aber „[w]ollte den fiebernden Sinn des Lebens wissen.“ (22) „Ich mußte denken, immerzu denken. Tag und Nacht.“ (35) Sinnfrage, abstrakte Ideale, das Insistieren auf eigenes Denken zielen auf eine ‚Lebenswahrhaftigkeit‘ jenseits der „Kaste“ ab, die per se pejorativ nur „Schein“ bieten kann. Zum adeligen Schein gehört im Grunde alles, was die Autorin über die Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen zu sagen weiß; da ist die Heuchelei des Gesellschaftslebens (122ff.), das oberflächliche Gebaren und die Sucht nach Amüsement der Koterie (92ff.), das dekadente Wien der Jahrhundertwende (208ff.) … Zorn als elementares Gefühl (vgl. 37) und ihre „erste, innere Abkehr“ (38) in früher Jugend galten dem Linzer Adel, der nicht die Leistung des Majoratsherren anerkannte, sondern dem Prestige der alten Gräfin anhing. „Keine Solidarität war da und darum keine Kraft mehr des Adels. … Kein Aufblick zu ihm war möglich.“ (37) Salburg wendet sich innerlich vom Adel ab, weil dieser keine sinnstiftende Vorbildfunktion mehr besitzt. Die Sehnsucht nach einem Aufblick – als Topos immer wieder auftauchend –, verstanden als Sehnsucht nach einem Handlungsmaßstab im geistig-moralischen Raum, kennzeichnet das Selbst über die erzählte Zeit.

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c) Isolierte Kernfamilie: Verhinderte und mögliche Perspektiven Das majoratsherrliche Paar zieht sich nach einer Saison in Graz, dem neuen Aufenthaltsort der Familie, aus der „guten Gesellschaft“ zurück. Die Linzer Dramaturgie wiederholte sich. „Die Sonderstellung meiner Eltern ist auch hier wieder geschaffen. Sie treten aus dem Kasino aus, nichts bereitet sich vor für uns, sie bauen nicht auf für die Kinder. Wir werden adelige Jugend sein, die nirgends hingehört.“ (98) Das Kasino, sicher in allen größeren Städten existierend, war im 19. Jahrhundert ein zentraler Ort adeliger Vergesellschaftung, da Männer und Frauen, im Gegensatz zu anderen Adelsvereinigungen, gleichermaßen Zutritt hatten. Generations- und geschlechterübergreifend fand man sich zum Tanz, zu Mahlzeiten und zum Spiel zusammen. Man festigte und probte den Zusammenhalt eines lokalen Adels.94 Salburg formuliert keine situative Ausschlußerfahrung, sondern eine zukunftsweisende, für die ihre Eltern verantwortlich sind, die wiederum ‚schuldlos‘ in diese Position geraten waren. Nicht nur Freundschaften, auch Feindschaften scheinen im Adel über die Zeit zu funktionieren. Zugleich formuliert Salburg hierüber deutlich ihr Verlangen nach Zugehörigkeit. Und dieses Verlangen steht im Widerspruch zu ihrem oppositionellen Selbst, das schon in früher Jugend „Zorn gegen diesen ganzen Adel empfand“. (37f.) Hier irritiert nicht der Widerspruch, Wünsche nach Abgrenzung und Zugehörigkeit sind sicher zwei gleichzeitige und aufeinander zu beziehende Grundorientierungen biographischer Entwicklung, sondern die Vehemenz der Abkehr, die um so deutlicher hervortritt, wenn man sich anschaut, wie Salburg das Kasino, die Menschen des Kasinos, der Vereinigung, der sie angehören will, an anderer Stelle beschreibt. „Über der bürgerlichen Resource … stand das adelige Kasino, in dem die Impertinenzen blühten, die Boykotts nicht alle wurden, die kleinen linksseitigen Liebesaffairen interessiert bewispert wurden.“ Hier verkehrten Komtessen „mit dem frechen Mundwerk und der feschen Wienerlinie [und] zu außerordentlicher Weltlichkeit erzogen. Die jungen Herrn, die nicht albern genug tun konnten. Nichts wissen, nichts denken, sich für nichts interessieren war ihr höchster Schick.“ (93) Das Bild mag gar nicht so sehr überzeichnet sein, Kasinos waren keine Bibliotheken, sondern Stätten der Unterhaltung. Salburg formuliert nicht einen Ausschnitt adeliger Lebensweise, sondern die Lebensweise mit den Maximen des Desinteresses und der Unwissenheit. Die Verabsolutierung verweist m. E. indirekt auf die Wirksamkeit des Prinzips Exklusivität. Salburg nimmt für sich und ihre Geschwister in Anspruch „schon unglaublich früh ein Standesbewußtsein [zu haben], das uns nie verläßt. Wir sind kleine Grafen und Komtessen. Das wissen wir.“ (21) Geschaffen und verinnerlicht, zu einer exklusiven Gruppe mit Herrschaftsanspruch zu gehören, bewirkt der Ausschluß eine verstärkte Hinwendung zu selbiger. Das habituelle Kleid sitzt fest. Salburg will ins Kasino und darf nicht – die Überhöhung adeliger Unwissenheit ist ein Frondieren gegen die für sich selbst beanspruchte Gruppe.

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Vgl. Marburg, Silke, Adel und Verein in Dresden, in: Marburg / Matzerath (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, S. 45–61.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Salburg spricht von einer adeligen Jugend, die nirgends hingehören wird. Damit meint sie sich, ihren Bruder und Erben, weniger die fünf Jahre jüngere Schwester und den jüngsten Bruder. Die antizipierte Ortslosigkeit verdeutlicht, daß die Adelslogik des vorherbestimmten Platzes eines jeden einzelnen in der Gesellschaft aufgebraucht ist. Das majoratsherrliche Paar scheint zu spüren, daß aus ihrer Sonderstellung heraus die künftigen Positionen der Kinder ungesichert sind: „Aus dieser dunklen Ahnung heraus mochte wohl der Gedanke bei meinen Eltern reifen, uns eine besondere, eine für damalige Sippenbegriffe unadelige, aufklärende Erziehung zu geben, uns alles schrankenlos lernen zu lassen, was wir wollten.“ (65) Das Unadelige an der Erziehung besteht wesentlich darin, die Kinder zu einer kritischen Meinungsbildung anzuhalten und sie für die Welt des Wissens und der Wissenschaft zu begeistern. Bildung ist von den Eltern nicht als Hilfsmittel vertikaler Mobilität gedacht, um sich einen Platz im bürgerlichen oder heutigen Sinn zu erarbeiten. Sie ist vielmehr ein Vehikel, im Raum des Adels mögliche Status- und Ansehensverluste zu kompensieren. Der Austritt aus dem Kasino bedeutete nicht Austritt aus ‚dem Adel‘, sondern Rückzug aus einer wichtigen Teilöffentlichkeit (natürlich begegnet man sich im Theater) ins Privatleben. Hier war der Ort, in dem sich Salburgs Mutter „unausgesetzt selbst weiter unterrichtete.“ (36) Nach Lage der Dinge war Salburg selbst keine ‚gute Partie‘. Es widersprach niemand, daß sie in ihrem Verkehrskreis ledig bleiben würde. Doch beide Elternteile unterstützten sie in ihrer früh begonnenen schriftstellerischen Karriere, bei der Wissen allemal eine nützliche Angelegenheit ist. Als Schriftstellerin galt sie im eigenen Kreis „vielfach als kompromittiert“ (189), als Frau Maier hätte sie nichts gegolten. Grenzen kritischer Meinungsbildung: Adelige Erziehung hob allgemein darauf ab, Gewißheiten, nicht Zweifel oder Kritik zu vermitteln, die selbst in einer adelsfeindlichen Umgebung oder gerade dort zumindest den Glauben, einer besonderen Gruppe Mensch anzugehören, bestärkten.95 Unter der Ägide mütterlichen Esprits, der Vater hält sich zurück, finden im Familienkreis anregende und erregte Diskussionen über „Gott und die Welt“ statt, in denen die jugendlichen Kinder „offen unsere Meinung“ sagen konnten. (116, 118). Die Nationalitätenfrage wird ebenso erörtert wie der Stand der Monarchie oder das Verhältnis von Kirche und Liberalismus. Die eigenen Familienangelegenheiten werden so akribisch auseinandergenommen wie die Angelegenheiten fremder Leute. Man schimpft auf die unfähigen Ahnen und denkt sich demokratisch. (23, 65, 130) Auf der einen Seite ist Salburg fasziniert von einer Atmosphäre, in der sie ihre Eloquenz und Urteilsfähigkeit ausbilden kann und als junge Autorin Anregungen in Fülle erhält. (63, 116, 164) Sie ist stolz darauf, daß man die Kinder der Salburgs „unangenehm g’scheit“ (166) findet. Andererseits stellt sie fest: „Aufbauend für eine Jugend waren sie [die Diskussionen] nicht.“ (23) Den Gesprächen fehlte ein sinnstiftendes Maß, von dem aus Kritik ihre Berechtigung hätte

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Vgl. Conze, Von deutschem Adel, S. 289.

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ziehen können. Anstelle verbaler „Respekt- und Schonungslosigkeit“ hätte sich Salburg ein Mehr an „geistiger Umsorgtheit und Verständnis, an Führung“ gewünscht. (23, 130) Ihre Familie beförderte geistige Freiheit ohne intellektuelle Lenkung, es existierte nicht der Satz vom Grunde, sondern der Geist der Verneinung. Der „Aufblick“, nach dem sich das autobiographische Ich sehnt, bieten weder der von ihr erlebte Adel noch ihre Familie an. Schwester und Bruder seien „grübelnde[n] Menschen auf der Defensive“, die den „Aufblick zu den Großen“ nicht kannten. (65) Es sind Adelige ohne Gewißheiten. Intellektuelle Förderung: Die mangelnde intellektuelle Lenkung wurde – auch dies eine mütterliche Leistung – abgeschwächt und aufgehoben durch „wertvoll großzügigen, wirklichen Unterricht.“ (89) Philosophie, Geschichte, Literatur, klassische Sprachen und Kunstgeschichte werden Salburg ab dem 15. Lebensjahr durch „wirkliche[r] Lehrer“ – kleiner Seitenhieb gegen Gouvernanten- und Hauslehrerwesen, statt dessen ausgebildete Fachkräfte, die an Gymnasien und der Universität unterrichten – erteilt. (100) Die Landesbibliothek wird zur „Heimat meiner suchenden Seele“, zur „heilige[n] Welt“. (118) In den Stücken des Landestheaters – am Horizont zieht der Naturalismus auf, kommen Hauptmann und Sudermann auch auf die Bretter österreichischer Provinz – findet sie Nahrung für ihren Protest „gegen die Kerker der Enge, der Ungerechtigkeit, der Gesellschaftslüge“. (104) Die sicher jugendbewegte Stilisierung von Protest und Wissensdrang richtet sich immer gegen die weiblichen und männlichen Standesgenossen. (119f., 122ff., 163f.) Mit einiger Überhebung kann sie behaupten, die ‚wirklichen‘ Dinge des Lebens zu kennen, während im Adelskasino ein ahnungsloses „auserlesenes Häufchen Borniertheit, Stumpfsinn und Hochmut“ (92) beieinander sitzt. Für das erzählte Ich ist bedeutsam, daß die Welt des Wissens und der Wissenschaft entscheidend zum „eigenen Schaffen“ (103) anregt. Keine Übung mehr in destruktiver Kritik, sondern selbst „arbeiten, lernen“ (168) wollend. Es sind die zumeist bürgerlichen Professoren, denen sie nicht den ersten Aufblick, aber den ersten Respekt zollt. Es ist ihre Anerkennung intellektueller Arbeit als Leistung gegen einen oberflächlichen schöngeistigen Adel, der durch Wissenschaft unterhalten werden, nichts aber von ihr wissen will. (120f.) Die isolierten und sich isolierenden majoratsherrlichen Eltern konnten Salburg keinen üblichen Komtessenweg über das Kasino zur Ehe weisen. Insofern eine Schriftstellerin sicher keine unumstrittene gesellschaftliche Position im Adel genoß, aber doch auch keine Paria-Existenz führen mußte, ist die Kompensationsstrategie eine erfolgreiche gewesen. Was die Eltern nicht vermochten, waren sinnstiftende Orientierungen, die zum ersehnten „Aufblick“ gereicht hätten. d) Familienauflösung und solitäre Neuorientierung 1891 stirbt der Vater und Majoratsherr, ein bedeutender Einschnitt für die Kernfamilie, die sich aufzulösen beginnt. Obwohl die 42jährige Mutter, die 23jährige Salburg, der 22jährige Bruder und die 18jährige Schwester ein gemeinsames geistig-soziales Binnenklima teilten, führen die biographischen Wege nun weit auseinander. Salburg präsentiert sich als einzige, die sich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich von der ihr vertrauten

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Adelswelt abwendet. Während die anderen auf spezifische Weise dem „Eisengürtel ihrer Kaste“ (12) verhaftet bleiben, steht für sie fest: „Ich wollte nun meine Wege allein suchen“ (205). Da ist zunächst der Bruder. Er geht den durch das Majoratsprinzip vorgezeichneten Weg, tritt das Erbe an und heiratet alsbald. Die majoratsherrliche Familie ist tot, es lebe selbige. Am Erben wird deutlich, daß der Familienbesitz über alle emotionalen Gräben hinweg Zusammenhalt stiftet. „Er hatte mit denen in Linz paktiert“, kommentiert Salburg, „und mußte das wohl auch.“ (180) Zugleich zeigt sich, daß der Familienkonflikt für den Erben den Charakter einer biographischen Episode trägt. Während Salburg den Bruder den Weg „als ein großer Herr“ (180) beschreiten läßt, beschreibt sie den ihrer Schwester als „am Leben vorbei“. (118) Diese strebt nicht wie Salburg nach Wissen, Taten und Lebenssinn, sondern nach einem tröstlichen Rückzug aus der Welt, den sie in der Pflege eines um fünfunddreißig Jahre älteren Ehemannes und in katholischer Frömmigkeit findet. Demgegenüber führt die Mutter als Witwe einen aktiven, in den Augen Salburgs oberflächlichen Lebensstil. Sie „ergab sich dem Sport, ritt mit Leidenschaft, spielte Tennis, hatte ihren besonderen Kreis“. (182) Die Frau, die Salburg den intellektuellen Werdegang ermöglichte, charakterisiert sie an anderer Stelle und macht darüber die Differenz zwischen sich und der Mutter auf, wie folgt: „Sie besaß nur die Entrüstungen. Was unter ihnen liegen muß als ihre Berechtigung, woran ich verzehrend litt, die Sehnsucht nach … Befreiung, den Weg empor – das hat sie nicht gekannt.“ (63) Salburg hat, und darin auch die Leistung ihrer Mutter würdigend, ihren Bildungsgang, ihre geschulte Verstandeskraft für sich als „Wegweiser ins Freie“ (65) begriffen. Daran mangelt es der Mutter, ihr Verhalten ist ein emotionales ohne Reflexion. Anstelle mittels Verstand einen Weg aus der ‚Kaste‘ zu suchen, in die sie nicht hineingeboren wurde, verbleibt sie in dieser, sich allenfalls als frustrierte Tennisspielerin an ihr abarbeitend. Nicht nur gegen die Kasino-Mentalität des von ihr erfahrenen Adels, sondern auch gegen die Lebensweisen der eigenen Familienmitglieder ist Salburg bestrebt, ein „selbständiger Mensch“ (207) zu werden. „Mir war diese Welt hier zu eng geworden. Es trieb mich hinaus in Ernst, Arbeit, Prüfungen.“ (180) Diese abstrakten Vorstellungen von einem persönlich gelungenen Leben beziehen sich zunächst auf ihre schriftstellerische Tätigkeit. Als junge Theaterautorin zieht es sie in die Theatermetropole Berlin, um in der dortigen literarischen Welt ihre Fähigkeiten zu erweitern und unter Beweis zu stellen. „[D]as volle Bekenntnis zu meiner Arbeit konnte mir nicht erspart bleiben, der große Ernst mußte kommen.“ (204, s. a. 183, 168) Der geplante Ortswechsel als Leistungstest korrespondiert mit ideellen Neuorientierungen und einer Neujustierung des autobiographischen Ichs in einer überindividuellen Ordnung. Dieser Wandel wird von der Autorin nicht sehr stark als persönliche Entwicklung erzählt, ihr Mittel ist hier vielmehr die polare Gegenüberstellung abgelegter und ‚entdeckter‘ Werte. Der Begriff „Arbeit“ etwa enthält für Salburg immer individuelle Handlungsorientierung, ist aber zugleich Vehikel, ihre Herkunftsgruppe zu diskreditieren. Die in der erzählten Zeit 25jährige Salburg nimmt für sich in Anspruch, sich von den Komtessen ihrer Umgebung durch ihre Schriftstellerei, die damit verbundenen breiteren Verkehrskreise und einen durch die Familie geförderten Bildungsvorsprung

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zu unterscheiden. Zugleich sieht sie in ihren Fehlern eine Verhaltensähnlichkeit, die sie als bezeichnend für ihre Herkunftsgruppe betrachtet. Sie ist Komtesse, und das heißt: Spielerischer Umgang mit anderen, insbesondere jungen Herren, deren Eheambitionen spöttisch zunichte gemacht werden, aus einem gewissen Machtgefühl resultierende skrupellose, verantwortungslose Art, sich gegenüber anderen zu verhalten, äußerliches Entgegenkommen ohne innere Anteilnahme. (vgl. 164, 183) Sie beschreibt sich als Teil einer Adelsgruppe, die in ihrer Wahrnehmung zwischen „moralische[r] Gesunkenheit“ (180) und der „feine[n] Dekadenz vornehmen Österreichertums“ (213) changiert. In dieser sieht sie sich selbst als materiell hinreichend abgesicherte, persönlich freie, hart arbeitende Schriftstellerin. (vgl. 183f.) Als solche fühlt sie sich „ungeführt im rechten Sinne“ (184) und meint damit den Mangel an einem ideellen Maßstab, an dem sie ihre Bestrebungen sinnhaft ausrichten kann. Anders formuliert, sie ist ein freischwebendes Individuum, das des ideologisch-sinnstiftenden Überbaus bedarf, um sich zu erden. Diesen findet sie in den Werten und Anschauungen des von ihr verstandenen preußischen Adels. Zum Ende des Textes setzt Salburg die Hochzeit ihres Bruders 1894 in Szene, dessen Gattin preußische Verwandte hatte. „[S]eelenfremd noch einmal unter all den Meinen“ (216), stellt sie österreichischen und preußischen alten Adel gegenüber. Ersterer habe weder eine von Respekt und Ehrfurcht bestimmte Beziehung zu sich selbst noch zum Thron. Ihre Herkunftsgruppe kreise ohne inneren Zusammenhalt eskapistisch um sich selbst, anstelle Stütze des Thrones zu sein. „Verlöschende Größe – abbröckelnder Glanz!“ (216) lautet die Verfallsdiagnose, begleitet von den Erscheinungen der „persönliche[n] Selbstvergötterung, de[s] kalte[n] Ichkult[s] des Hochmuts“ (215). Anders hingegen der preußische Adel. In den „festen Zügen“ (213) der männlichen Hochzeitsgäste sieht Salburg die Reichsgründung von 1871, „des heiligen deutschen Jahres“ (214), meint sie, eine nationale „Wesensart“ zu erkennen: „Preußen voran, zwingend-sieghaft das Ganze nehmend, sich ganz gebend; zum Führer einer Welt geschaffen.“ (213f.) Salburg beschwört den Nimbus einer mächtigen Nation, die zumindest „bis zu Bismarcks Sturz“ – so ihre wohl antiwilhelminisch zu verstehende Einschränkung – maßgeblich vom preußischen Adel getragen wurde. Dieser sei im kargen Boden seiner Heimat verwurzelt gewesen, war der Erzieher seines Volkes, hier stammte der Souverän aus seiner Mitte. Streng konservativ, kam seine Beziehung zum Thron „dem religiösen Empfinden … vollkommen gleich“, und „über dem Ehrgeiz noch stand das Vaterland“. (214) In diese rückwärtsgewandte Utopie einer gottgewollten, hierarchisch-organisch gewachsenen und wirkenden Gemeinschaft, in der dem Adel unter dem vergleichsweise neuen Leitbild „Vaterland“ eine Führungsrolle zufällt96, projiziert Salburg ihre Vorstellung vom eigenen Ich. Sie beneidet die preußischen Hochzeitsgäste. Sie seien in sich gefestigt, würden kein „Wort des Zweifels“ kennen und über gleiche Ehrbegriffe miteinander verbunden sein. Auch und vor allem besäßen sie als einen „starken Halt“ den von ihr ersehnten „Aufblick“. (215) Es ist dies der freiwillig gegebene Aufblick zu einer Dynastie, der man sich „von Geschlecht 96

Vgl. Funck, Marcus, Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession, in: Reif (Hg.), Adel und Bürgertum II, S. 127–171, bes. S. 146ff.

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zu Geschlecht“ (215) persönlich verpflichtet weiß, weil diese ihren Adel immer als Stütze für ihre Unternehmungen betrachtete. (214) Diesen preußischen Adel vor Augen ruft sich Salburg mit pompöser Pathetik zur Selbstkorrektur auf: „Werde, wie Deutschland ward unter den schwersten Opfern, mit höchster Hingabe deines Selbst, mit Entsagung und Wollen. Lerne zu dienen. Du hast unbewußt frevelnd, zu früh das Spiel des Herrschenwollens getrieben. Weite – harte Wege mußt du zurück. Denn ohne Aufblick kein Recht, der Menschheit zu dienen.“ (216) Mit diesem omnipotenten Entwurf und dem darin enthaltenen Handlungsmaßstab des Dienens beschreibt Salburg ihren ideellen Austritt aus ihrer Herkunftsgruppe, den sie als ideellen Aufstieg begreift – vom Schein zum Sein, von Athen nach Sparta, vom dekadenten anything goes zum herrschaftsbewußten Dienst gleich an der ganzen Menschheit. Zugleich verdeutlichen die an sich selbst gestellten Anforderungen Salburgs Wunsch, Adelige zu sein. Die Stilisierung von Opferbereitschaft und Selbsthingabe, vom Dienst am anderen als Herrschaftsideal findet sich allemal in Autobiographien preußisch-ostelbischer Provenienz, die Malinowski als „Kleinadelsanschauungen“ beschrieben und vom „freien Herrentum“ der Grandseigneurs abgesetzt hat.97 Familie Salburg ließe sich trotz finanzieller Probleme letzterem Typus zuordnen. Das heißt, die Gräfin unternimmt so etwas wie eine ‚kulturelle Konversion‘ vom Lust- zum Pflichtprinzip als individuelle Adelslosung, die zudem das empfundene Sinndefizit aufhebt, Lebensordnung und Handlungssicherheit herstellt. So viel Dynamik ist im statisch gedachten, nach Substanz suchenden, im Gegensatz zu „Bürgerlichkeit“ formulierten Modell „Adeligkeit“, den darin enthaltenen Kleinadelsanschauungen nicht vorgesehen. Im Falle Salburgs sind es eben nicht jahrhundertealte Traditionen, keine durch die Familie sozialisatorisch vermittelte Anforderung, die das Individuum zur dienenden Herrschaft disponiert, sondern es handelt sich um eine situative individuelle Aneignung. Natürlich ist die preußisch-österreichische Hochzeit autobiographisch inszeniert, ändert aber nichts daran, daß eine Person in der Lage ist zu vergleichen, Schlüsse zu ziehen und sich eine andere Adelsanschauung zu eigen zu machen. Salburg schätzt den Wert der Bildung als Mittel geistiger Beweglichkeit und Weg zur persönlichen Freiheit. Sie schätzt moderne Wissenschaften, ihre Arbeit als Schriftstellerin und die Möglichkeit, ein selbständiges Leben zu führen. Was wie eine bürgerliche Werteinvasion anmutet, waren zum einen Selbstbehauptungsstrategien in einer als ‚Kaste‘ wahrgenommenen Gesellschaft, die der Kernfamilie eine äußerst prekäre soziale Stellung zubilligte. Zum anderen waren es für Salburg Einsätze, sich im Raum des Adels, insbesondere von ihrer Herkunftsgruppe zu unterscheiden und abzugrenzen. Und sie schätzte es, adelig zu sein. Der Dienst als Herrschaftsideal, zudem gebunden an eine Vorstellung von einer durch Adelige geschaffenen siegreichen Nation, stellte einen sinnstiftenden Überbau dar, der es ihr erlaubte, sich als ‚wahrhaft‘ adelig zu betrachten.

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Malinowski, Vom König zum Führer, S. 104–117.

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e) Familie, Besitz und Geschlecht Salburg präsentiert sich als ideelle Aufsteigerin, die vom Schein zum Sein gefunden hat. Zieht man in Betracht, daß sie deutlich rangniedriger heiratete, daß die Tochter aus dieser Ehe einen bürgerlichen Mann ehelichte, daß Salburg selbst – so legen es zumindest einige Textäußerungen nahe – in vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen lebte, so kann man von einem sozialen Abstieg sprechen. Einschließlich ihres völkischen Ordnungsmodells ließe sie sich als einen weiteren Beleg für die Radikalisierung und den sozialen Niedergang des „Kleinadels“ in der Weimarer Republik lesen.98 Nur stammte Salburg nicht aus dem Kleinadel und ihre biographische Zäsur ist nicht an 1918 gebunden, sondern an die Auflösung der majoratsherrlichen Kernfamilie durch den väterlichen Tod 1891. An dieser Stelle kommt der Kategorie Geschlecht eine außerordentlich hohe Bedeutung zu. Auf der einen Seite ist man sich in der Forschung einig darüber, daß der ländliche Familienbesitz auf jedes einzelne Mitglied identitätsbildend wirkte. Die räumlich-geographische Verortung und die damit verbundene Familiengeschichte schärfte das Bewußtsein der Zugehörigkeit.99 Andererseits stellte etwa die unteilbare Besitz- und Vermögensform des fideikommissarisch gebundenen Majorats das Kollektiv „Familie“ in seiner wirtschaftlichen und sozialen Stellung und über Generationen hinweg sicher. Die nachgeborenen Kinder wurden abgefunden und Töchter als künftige Majoratsherren allgemein nicht in Betracht gezogen.100 Das heißt, die enge Bindung an den Landbesitz ist für den (künftigen) Inhaber des Majorats präfiguriert, während sie für (insbesondere) Töchter eine grundsätzlich fragile bedeutet, insofern die künftige Heirat mit einer Trennung vom Herkommen verbunden ist. Verbleibt die Heirat im tradierten Verkehrskreis, ist es eher unwahrscheinlich, daß die Fragilität zutage tritt, da sich die Frauen im Netz von Verschwägerungen und Verwandtschaften, in bekannten Schlössern oder Gutshäusern wiederfinden.101 Gräfin Salburg sah im Majoratsprinzip nicht die Verkörperung von Familienbewußtsein, nicht die darin angelegte Stabilitätsgarantie für das Kollektiv „Familie“, sondern die enthaltene Verteilungsungerechtigkeit für die Individuen, „da ein einziges Kind alles erbte, die übrigen immer fast mittellos hinausgestoßen“ (134) wurden. Unter der potenten Geschichte des ideellen Aufstiegs erzählt Salburg die frustrierte Geschichte eines Bindungsverlustes aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Es wäre krude Kausalität, würde man von der Desintegrationserfahrung „Geschlecht“ auf das mit dem adeligen Dienstideal als Handlungsmaßstab verwobene geschlossene Weltbild „völkische Nation“ schließen. Allerdings fällt auf, daß die um das Majoratsprinzip gruppierte Familie für ihren Bruder als Erben integrierende, auf Tradition und Recht beruhende

98 99 100 101

Vgl. ebd., S. 260–282. So etwa bei Conze, Von deutschem Adel, S. 247f. Ebd., S. 238f. Ein ausgezeichnetes Beispiel für ein „lebenslanges Netz“ stellen die Erinnerungen Gräfin Erdödys (1929) dar. Das erzählte Ich agiert in vergleichsweise großen geographischen Räumen mit ‚immergleichen‘ Menschen, das sind Verwandte und Familienmitglieder.

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Kraft besaß, obwohl beide – in der Darstellung Salburgs – die gesellschaftliche Ausschlußerfahrung, Kinder der Salburgs zu sein, teilten. Während diese Grundkonstellation Gräfin Salburg Zug um Zug aus ihrer Herkunftsgruppe herausfährt, endet die Fahrt für den jungen Grafen mit seinem Antritt als Majoratsherr. Was sich zeigen läßt, ist das von Salburg als ungerecht empfundene „Ausgestoßenwerden“, das die Sehnsucht nach dem Verbleib in ihrer Herkunftsgruppe ebenso spiegelt wie dessen Unmöglichkeit. Das erste Kapitel ihres Textes titelt Salburg „Nur a Dirndl“, um dann fortzufahren: „Das erste Kind – ich, – die erste Enttäuschung! Gouvernanten und Dienerschaft, schadenfrohe Leute, wie oft haben sie es mir später ausgemalt. Als das kleine Herz noch sehr zart war, Kränkungen zugänglich, die sich eingruben“. (7) Diese autobiographische Eröffnung in vier Sätzen geht gender auf verschiedene und komplexe Redeweise an. 1. Als ein grundsätzliches Ausschlußprinzip. Bis in die Dienerschaft wissen alle, daß aus einem Mädchen kein Majoratsherr wird. 2. Als ein Element sozialer Beziehungen, in welchen Macht Bedeutung zukommt. Das (Erziehungs)Personal vermittelt die elterliche Enttäuschung. Zum einen ein Hinweis auf die elterliche Absenz bei der alltäglichen Kinderbetreuung gerade in den frühen Kinderjahren. Zum anderen ein Hinweis auf eine existierende Herrschaftsstruktur zwischen unten und oben, in der eine direkte Konfliktaushandlung von unten nach oben nicht vorgesehen ist. Strukturell bedingte Animositäten können mit Schadenfreude kompensiert werden, denn natürlich wissen auch die Untergebenen, daß das majoratsherrliche Paar in seiner Position ohne Sohnesgeburt nicht gefestigt ist. 3. Als subjektiv empfundene Verletzung der Person durch mächtige Untergebene, insofern das (Erziehungs)Personal seine Schadenfreude auf dem noch nicht herrschaftlichen Rücken eines Kindes austrägt. 4. Als Gefährdung der majoratsherrlichen Macht in der Familie. Wie bereits oben ausgeführt, läßt eine Mädchengeburt die Machtbeziehungen zwischen den möglichen Majoratsanwärtern offen. „Mit Wünschen, nicht so ungut, als sie einem Erben gegolten hätten“, hätten sich die Anwärter über ihre Wiege gebeugt. Damit formuliert Salburg Macht als Schwebezustand. Noch ist der Erbe nicht da, noch gibt es eine Ranking-Liste. Obwohl Salburg die Geschlechterproblematik an erste, prominente Stelle ihrer Lebenserinnerungen setzt, entwickelt sie daraus nicht, wie man hätte meinen können, einen stringenten Erzählungsleitfaden. Während sie aus ihrer Stellung innerhalb ihrer Herkunftsgruppe heraus Kritik an der ‚Kaste‘ übt und den Adel hierüber in eine gesellschaftliche politische Ordnungskategorie transformiert, verbleibt die Kategorie Geschlecht auf der Ebene des familial Besonderen: Das ungerechte Majoratsprinzip und die Folgen für die diesem unterworfenen weiblichen Individuen. Salburg kritisiert neben der geringen Abfindung der nachgeborenen Kinder am Majoratsgedanken, daß die Ehen ohne Sohnesgeburt „angstvoll und glücklos“ (134) verliefen. Insofern drückt sie Verständnis aus, wenn sie mit der Geburt ihres Bruders ihren Vater endlich „Herr“ werden und ihre Mutter zu „unbändiger Daseinsfreude“ aufblühen läßt. (19) In dieser Logik wohnen der Betreuung und Erziehung des künftigen Erben immer auch machterhaltende, die Stellung als Majoratsherren-Paar bewahren wollende Maßnahmen inne. Noch in der Retrospektive erinnert Salburg diese als Kränkung ihres

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4. Über die Grenzen der Familie

Selbstwertgefühls. Sie ist die Älteste, recht früh standes- und machtbewußt, gehört aber nun zu den „jüngeren Kindern“. (116) „Um die Gestalt des Erben baute sich Alles auf an Hoffnungen, Wünschen. Wir – ich und die kleine Schwester … waren das Majorat belastende Attribute. Sehr klein erklärte uns der Bruder schon: ‚Euch werf’ ich hinaus.‘ “ (21) „Dicke Untertaillen trugen wir ingrimmig, die meisten der Bruder. Denn er war der Wertvollste.“ (22) „Unterjacken darunter, zwei für den Majoratsherren, wir Mädeln nur eine …“ (65) Während sie sich und ihre Schwester bis in die Kleidung hinein als ökonomischen Faktor sieht, stellt sie ihren Bruder von vornherein als eine Person, an die Zukunftserwartungen geknüpft werden, dar, dem ebenfalls bis in die Kleidung hinein sein künftiger Herren-Status vermittelt wird. Eine andere Situation: Die 12jährige Salburg liegt viele Monate schwer krank, als ein wenige Monate alter Bruder stirbt. „Der Jammer meiner Eltern war entsetzlich“, aus dem Raum des aufgebahrten Kindes meint sie die Worte ihrer Mutter zu hören: „ ,Warum, warum gerade der Bub? Warum nicht eins der Mädeln!‘– Das Wort klang fort im Ohr – allezeit.“ (90) Das Verständnis für die mütterliche „Daseinsfreude“ bei Sohnesgeburt ist hier deutlich nicht vorhanden. Salburg, die sich von ihrer Mutter nicht geliebt fühlte, weil sie als Erstgeborene „kein Bub war, sondern eine Blamage“ (9), erzählt hier von einer Zumutung, die nicht im adelshistoriographischen Sprachgebrauch „differenzierte[r] Wertschätzung männlichen und weiblichen Nachwuchses“102 zur Sicherstellung von Familienkontinuität aufgeht. In der Logik des Majoratsprinzips macht Salburg die nachhaltige („allezeit“) Erfahrung, als Tochter nicht mehr als ein Kostenfaktor zu sein, als solcher depersonalisiert läßt sich dieser – zumindest in Worten – gegen ein Sohnesleben in die Waagschale des Todes werfen. Die Geringschätzung qua Geschlecht ist, wie erwähnt, nicht kausaler, determinierende Faktor des Salburgschen Werdegangs, allerdings befördert er nicht gerade den zeitgenössisch von Familienverbänden beschworenen, geforderten und in der Forschung hochgehaltenen Familienzusammenhalt. Salburg selbst spricht im Text mehrfach davon, daß es von ihrem Vater als Majoratsherr klüger gewesen wäre, sich offensiv und im angestammten Kärnten mit den Forderungen seiner Familie auseinanderzusetzen, nicht aber in die Defensive und in die Steiermark zu flüchten. (vgl. 35, 37, 64, 178) Das bedeutet, auch ihr war an einem wie immer gearteten Ausgleich gelegen, der die Stellung ihrer Kernfamilie und somit ihre eigene verbessert hätte. Die Lektüre der Salburgschen Erinnerungen vermitteln den Eindruck, daß sie der bessere Majoratsherr als ihr Bruder geworden wäre. Er „zerstörte, was der Vater aufgebaut“ (134), er war der „ungerecht Bevorzugte“, und wo „das Muß fehlt, hört das Wollen auf, alles wird zur Spielerei.“ (179) Salburgs omnipotentes, an einer imaginierten, siegreichen deutschen Genese orientiertes Ich hätte den Verfall der Güter zu verhindern gewußt. Faktisch unmöglich tritt beim Tod des Vaters eine geschlechtsspezifische Entwurzelung zutage, die sich im Verlust von ‚Heimat‘ verdeutlichen läßt. Der Salburgische Besitz lag in Kärnten. Als die majoratsherrliche Kernfamilie aufgrund der Familienfeindschaft in die Steiermark übersiedelte,

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Conze, Von deutschem Adel, S. 290.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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„begann die Fremde. Es blieb uns viele Jahre unbegreiflich, daß wir plötzlich auch nichts anderes mehr sein sollten als irgendwelche Reisende.“ Das heimatliche Reisen war ein anderes: „Überall hatte der Name seinen Klang, war gastliches Willkommen.“ (82) Wenn Salburg den konfliktbedingten Landeswechsel als „Preisgabe der Position in der Heimat“ (64) kritisiert, dann ist darin auch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zum Familienbesitz enthalten. Zweiunddreißig Schlösser der Salburgs, alt und neu, verfallen und erhalten, seit Jahrhunderten in die Landschaft gestreut, überall das Familienwappen, überall Besitz, Herrschaft über Land und Leute: Wo eine Salburg hingeht, kennt man den Familiennamen. Bis in die Gegenwart dient etwa das Schloß den Adeligen als Emblem für die historische Existenz und Größe einer Familie und schärft das Bewußtsein des ‚überlegenen Andersseins‘.103 Der Landeswechsel der Salburgs trägt den Charakter von Exil, von Aus- und Einwanderung und betrifft die Mitglieder der Kernfamilie gleichermaßen. „Die eigenste Heimat, in der sein künftiger Besitz lag, war zur feindlichen Fremde geworden.“ (177f.) Der Bruder wird als Erbe die Feindschaft überwinden müssen und in die „eigenste Heimat“ zurückkehren. Salburg muß sich als Kostenfaktor des Majorats aus dieser auf Besitz gründenden ‚Heimat‘ ausschließen. Zum Tod des Vaters schreibt sie: „Mit ihm ist der wurzelnde Heimatbegriff, der Heimgedanke einer sicheren Zugehörigkeit in mir erloschen.“ (180) Der Vater verkörperte gleichsam als Majoratsherr den Familienbesitz in Menschengestalt. Dieses symbolische Erbe kann aber nur der Erstgeborene antreten.104 Der Nichterbin bleibt nur, ihr Zugehörigkeitsgefühl aufzukündigen. Salburgs Lebensorientierung an Bildung, Arbeit, Selbständigkeit, die in luftiger Höhe die Illusion eines bürgerlich-männlichen Subjekts sein könnte, ist neben den bereits genannten Gründen Effekt einer deutlichen Ausschlußerfahrung qua Geschlecht, die eine konkrete und intensive Bindung an ihre majoratsherrliche Familie verhindert. Sie kommentiert ihren Weggang nicht nur mit den Worten, endlich „in das wirkliche Arbeitsleben“ eintreten zu wollen, sondern auch: „Sonst war niemand da, der mich halten konnte: ich fühlte nirgends mehr eine selbstlose Liebe, das einzige, was mich gehemmt hätte.“ (207) Die ‚Entdeckung‘ von Liebe und Leidenschaft hatte etwa um 1800 bestehende Familienordnungen infrage gestellt und war Anlaß konfliktreicher Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen.105 Um 1900 ist die nicht vorhandene Liebe für Salburg ein Argument, um zu gehen. Salburg entscheidet sich mit dem Argument nicht vorhandener „selbstloser Liebe“ gegen die Familie und damit gegen zwei verschiedene soziale Anforderungen: Zum einen gegen das der Familienorganisation zugrunde liegende tradierte und geforderte Verzichtsdenken, zum anderen gegen eine weibliche Selbstlosigkeit, wie sie von nicht wenigen „Meisterdenkern“ um 1800 beständig propagiert wurde, die vor-

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Vgl. Saint Martin, Der Adel, S. 91ff. Als Rückgrat adeliger Macht und in Distinktion zum Bürgertum wird die Landbindung im deutschen Adel um 1900 beschrieben von: Funk / Malinowski, Geschichte von oben, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 247ff; Malinowski, Vom König zum Führer, S. 59–73. Vgl. auch Saint Martin, Der Adel, S. 112. Zum Beispiel: Reif, Väterliche Gewalt und „kindliche Narrheit“, S. 82–113.

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4. Über die Grenzen der Familie

nehmlich die Ehebeziehungen, aber im weiteren Sinn auch die Familienbeziehungen zugunsten des männlichen Oberhauptes auf ‚natürliche‘ Grundlage stellen sollten.106 Aus „selbstloser Liebe“ hätte Salburg in diesem Sinn die brüderliche Majoratsehe unterstützen können. Aus der Familienpflicht zum Verzicht macht Salburg ein Prinzip individueller Entscheidung. Es ist das Selbst, das seine gerichtete, bezogene Selbstlosigkeit wählt. Nicht Hingabe an die Familie, sondern an „die Menschheit“, „die Nation“. Die landbesitzende und landgesessene Adelsfamilie bildete sicher bis ins 20. Jahrhundert wenn nicht Realität, so Ideal adeliger Lebensführung.107 Gleichermaßen ist zur Kenntnis zu nehmen, daß in der autobiographischen Wirklichkeit die geschlechtsspezifische Ausschlußerfahrung von Besitz und Erbe ein Trennungsgrund werden konnte. Die Naturwissenschaftlerin Gräfin Linden, die das bisher Gesagte abschließend illustrieren soll, formuliert den Zusammenhang zwischen Besitz, Geschlecht und persönlicher Zukunftserwartung vor dem Hintergrund der Frage, was eine „würdige Existenz“108 sei. Linden, Jahrgang 1869 und somit ein Jahr jünger als Salburg, ebenfalls aus altadeliger Familie und ältestes, aber das Majorat nicht beerbende Kind, wollte „durch eigene Kraft … unabhängig und selbständig werden.“ Auf der einen Seite fühlt sie sich an den Familienbesitz gebunden, er ist die „mir liebe Scholle“. Doch die traditionell-konventionelle Möglichkeit, ausgedrückt im väterlichen Angebot, ihn „in allen namentlich weiblichen Zweigen der Gutsverwaltung [zu] unterstützen“ lehnt sie aufgrund der abhängigen Stellung der Tätigkeit ab. Erst recht mag sie kein „Drohnenleben“ in finanzieller Abhängigkeit von der Familie führen. Die Nichterbin konstatiert: „[E] s hatte … deshalb keinen Zweck, mich an Burgberg zu ketten, im Gegenteil, die Bande, die mich an die alte Heimat fesselten, sie mußten gelockert werden, um, wenn der Abschied kam, diesen leichter zu machen.“ Eine „würdige Existenz“ ist für Linden an Unabhängigkeit und Selbständigkeit gebunden und wird erfüllt durch „die Arbeit, um Wissen zu erwerben, vielleicht, um Wissen zu schaffen“.109 f) Zusammenfassung Der Entwurf der 27jährigen, eine Schriftstellerinnen-Karriere entlang der Handlungsorientierungen Arbeit, Selbständigkeit und persönliche Unabhängigkeit zu verfolgen, geht mit dem Entschluß, ihre Herkunftsfamilie zu verlassen, einher. Entwurf und Entschluß, letzterer beschleunigt durch die Eheschließung mit einem ihre Bestrebungen unterstützenden 106

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Daß die Fähigkeit, sich als eigene Person vorzustellen auch Frauen eigen war, verdroß bereits nicht wenige Meisterdenker um 1800. In der Grundlage des Naturrechts von 1796 setzt Johann Gottlieb Fichte die Ehe als natürliche und moralische Gemeinschaft, in der Frauen – abgeleitet aus der vermeintlichen Passivität beim Sex – natürlich und vernünftig ihre Unterwerfung wollen, so daß sie in der moralischen Gemeinschaft Persönlichkeit, Ich-Identität und Rechte an den Mann abtreten müssen. Vgl. Honegger, Claudia, die Ordnung der Geschlechter, S. 186f. Vgl. etwa Conze, Von deutschem Adel, S. 17–20. Linden (1929 / 1991), S. 84. Ebd., S. 83f.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Gatten, sind Effekt der sich auflösenden majoratsherrlichen Kernfamilie infolge des väterlichen Todes im Jahr 1891. Begleitet wird der Entwurf durch die ‚Entdeckung‘ eines für sie neuen Adelsideals. Das preußisch-adelige Herrschaftsideal des Dienens geriert zum sinnstiftenden Überbau, zur übergreifenden Handlungsmaxime, an der sich die individuellen Bestrebungen ausrichten sollen. Für die Autorin steht die Option „Schriftstellerin“ nicht im Widerspruch zum Anspruch auf Adelszugehörigkeit. Schreiben, durchaus Vehikel von Individualität, wird mit dem Dienstgedanken ‚geadelt‘. Über das eigene Selbst hinausweisend, stellt sich die Schreibende in den Dienst an der deutschen Nation. Die Kontextbedingungen für Salburgs Entwurf, der sie über die Grenzen der Adelswelt, in die sie hineingeboren wurde, hinausführt, sind recht eindeutig in der Zugehörigkeit zur Kernfamilie und ihrer Position innerhalb der Gesamtfamilie zu finden. Ein Teil des Entwurfs speist sich aus den Leidenschaften, die ein verschuldeter Majoratsbesitz hervortreibt. Es kommt zu einem innerfamiliären Machtkampf zwischen den Protagonisten der Gesamtfamilie, angeführt von der alten Gräfin und dem Majoratsherren, Chef des Geschlechts und der Kernfamilie, um Ansprüche der Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstils. Die alte Gräfin gewinnt den Kampf, weil es ihr gelingt, Meinungshoheit in der adeligen Öffentlichkeit zu behaupten. Sie definiert das gesellschaftlich Erlaubte, die Sparsamkeit des Herrn und das die Gepflogenheiten herausfordernde Auftreten seiner bürgerlich geborenen Gattin gehören nicht dazu. Die Kernfamilie sieht sich gezwungen, sich außerhalb der angestammten Ländereien niederzulassen, ohne jedoch die gesellschaftliche Isolierung durchbrechen zu können. Salburg wird durch diese Ausschlußerfahrung geprägt. Sie sieht sich von den üblichen Gestaltungsräumen und Zukunftsperspektiven, das Kasino symbolisiert es, ungerechtfertigt ausgeschlossen. Aus dem Willen zur Zugehörigkeit entsteht ein Frondieren gegen die ‚Kaste‘, und die Suche nach einer Handlungsmaxime, die sie dann in den Anschauungen des von ihr wahrgenommenen preußischen Adels findet. Zugleich befördert die familiäre Isolierung etwas anderes. Die Eltern, insbesondere die Mutter, investieren für ihre Kinder in Bildungswissen. Aus der „Defensive“ heraus wird Bildung zu einem Instrument, Status- und Ansehensverluste zu kompensieren. Dieses Kapital bereitet Salburg den Weg zur Schriftstellerin, hierüber orientiert sie sich an Selbständigkeit, Leistung und Arbeit. Ein anderer Teil des Salburgschen Entwurfs speist sich aus den Leidenschaften, die das als ungerecht empfundene Majoratsprinzip hervortreibt. Auf den Eltern lastet der Druck, einen männlichen Erben ins Leben zu bringen und am Leben zu erhalten, um die majoratsherrliche Position zu sichern. Dieser Druck geht mit der situativen Mißachtung des weiblichen Geschlechts einher. Und zwar dann, wenn das erstgeborene Kind ein Mädchen ist oder wenn ein Kindstod bei zu wenigen Geschwisterkindern einen Jungen betrifft. Mit dieser, den Sinn für Familiensolidarität nicht gerade befördernden Grunderfahrung ist Salburg ausgestattet. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, Haupterbin zu sein und sich immer in abhängiger Stellung zum Haupterben zu befinden. Für Salburg erlischt mit dem Tod des Vaters ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie und zum Familienbesitz. In diesem Fall zeigt sich, daß das traditionelle Verzichtsdenken an Selbstverständlichkeit

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4. Über die Grenzen der Familie

verloren hat.110 Die Hingabe des Selbst gilt nicht mehr automatisch dem Familienwohl, sondern wird zu einer Frage individueller Entscheidung. Salburgs Selbstlosigkeit orientiert sich an der überindividuellen Kategorie „Nation“.

4.2.5. Die Rückkehr der verlorenen Tochter oder vom Scheitern eines Entwurfs: Helene von Dönniges, verw. von Racowitza, verh. von Schewitsch (1843–1911) In der Berliner Wintersaison 1862 / 63 begegnete die 20jährige Helene von Dönniges, in den Häusern der grande monde ebenso zu Hause wie in den Salons eher bürgerlicher Provenienz, ihrem Schicksal in Gestalt des Theoretikers und Organisators der deutschen Arbeiterbewegung Ferdinand Lasalle. „[V]or seinem Erscheinen verblaßte alles andre zu bloßem Schattenspiel“, heißt es in ihren 1909 erschienenen Lebenserinnerungen „Von anderen und mir“.111 Eine Person tritt als Ereignis in das Leben einer anderen, welches bisherige Wünsche und Vorstellungen verdrängt. „Schicksal“ ist sowohl das Interpretament der Konfliktdarstellung als auch der Topos, mit dem die Erzählerin die Folgen des Ereignisses verdichtet und in dreifacher Bedeutung verwendet. Zum einen als glückliche Fügung, als Macht der Liebe, die zwei Menschen zusammenführen muß. (z. B. 58, 61f., 64, 74) Zum anderen als Verhängnis: Noch in der Retrospektive erscheint Dönniges ihr damaliges Agieren als etwas Unbegriffenes. Nicht von der Macht der Liebe hat sie sich leiten lassen, sondern ihr selbst unverständlich von der Macht ihrer Familie. (vgl. 52) Sie gibt sich am Lauf der Dinge, die im Sommer 1864 zum Duell-Tod Lasalles führen, Mitschuld, ohne ihre Schuld klären zu können. Und Schicksal bedeutet ihr zuletzt die Akzeptanz des Bruchs in ihrer eigenen Biographie. Der Tod Lasalles stellt die zentrale Zäsur der erzählten Lebensgeschichte dar. Dönniges muß die „natürliche Bahn“ verlassen, „stolze Selbstachtung“ und „absolute Eigenführung“ werden neue Handlungsorientierungen ihres Lebens jenseits der Kreise ihrer Herkunftsfamilie. (259) a) Scheitern eines Entwurfs Dem Schicksal Gestaltungsmacht zuzuweisen war sicher eine Möglichkeit der Erzählerin, den Tod des geliebten Mannes als einen tragischen zu begreifen. Aber nicht um die Entscheidung Lasalles, sich zu duellieren, kann es hier gehen, darauf hatte Dönniges keinen Einfluß. Ihr biographischer Konflikt, eine auf Liebe gründende freie Partnerwahl gegen den elterlichen Willen anzustreben, war von kurzer, sich dynamisch zuspitzender Dauer. Nach drei mehrstündigen Begegnungen in Berliner Geselligkeiten des Jahres 1863 folgt das entscheidende mehrtägige Treffen in einem Schweizer Kurort zum Mo-

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Zum Verzichtsdenken im 19. Jahrhundert vgl:. Reif, „Erhaltung adligen Stamms und Namens“. Racowitza, Helene von, Von Anderen und mir. Erinnerungen aller Art, 3. Aufl., Berlin 1909, S. 48.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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natswechsel Juli / August im Jahr 1864. Dönniges und Lassalle verloben sich ohne Wissen und Einverständnis der Brauteltern. Anfang August, zu Hause in Genf teilt sie ihre Eheambitionen den Eltern mit. Vater und Mutter in „maßlosestem Zorn“, voller „Empörung und Entsetzen“, als ob sie sie „auf die roheste und abscheulichste Weise zu morden gedächte“. (94) Nach dieser Eröffnung folgt weitere Theatralik, ist von Kabale- und Rankünespielen die Rede, befindet sich die Tochter in häuslicher Isolationshaft, abgeschnitten von Informationen über die Außenwelt, von ihrem Verlobten. Am Ende, Mitte August siegen die dunklen Mächte über ihr, das ist die Familie, und jene in ihr, voran der Selbstzweifel. Dönniges löst offiziell die Verbindung auf. Damit ist ihr Liebes-Projekt gescheitert, die Unterwerfung unter den familiären Willen vollbracht, der biographische Konflikt beendet. Aus der interpretierenden Rückschau beschreibt die Erzählerin die Person des Konfliktverlaufes regelmäßig wiederkehrend mit den Attributen „willenlos“, „schwach“, „unschlüssig“. Damit ist vor allem der Selbstvorwurf unzureichender Handlungsfähigkeit gemeint und „Schicksal“ Erklärungsversuch für das Scheitern ihres Lebensentwurfs. (z. B. 52) In den bisher untersuchten Konflikterzählungen spielen weder „Schicksal“ noch „Scheitern“ eine Rolle. Auch folgt der formulierten Zukunftserwartung keine Konflikteruption. Vielmehr tragen diese darstellungslogisch Prozeßcharakter. Der formulierte Lebensentwurf initiiert den biographischen Konflikt mit den Autoritäten. Infolgedessen entwickeln sich die Individuen zu dem, als was sie sich entwerfen. Richtungsorientiert nimmt der Entwurf in konflikthaften Auseinandersetzungen Gestalt an. Die lebensweltlichen Neuorientierungen erscheinen in der retrospektiven Sicht der Akteurinnen als konsequenter Schritt eines selbständig denkenden Individuums. Demgegenüber dominiert bei Dönniges das Unbegriffene. Trotz Unterwerfung unter den Familienwillen findet sie sich im sozialen Aus wieder. Innerhalb kürzester Zeit (ein Sommer lang) fällt sie aus den Kreisen heraus, in denen sie sozialisiert wurde und muß als 21jährige ihr Leben von Grund auf neu organisieren. Zwei Leitfragen interessieren in diesem Fall in besonderem Maße. Ex post mutet eine Eheverbindung zwischen Arbeiterführer und Adeliger befremdlich an. Aber es gab auch die Ehe zwischen Karl Marx und Johanna von Westphalen. Dönniges war durchaus überzeugt, die Ehefrau Lasalles werden zu können. Bei allem „Schicksal“ ist zu fragen, in welchen Konstellationen das scheinbar Unmögliche als Möglichkeit greifbar und umgekehrt, das scheinbar Mögliche unmöglich wurde? Dönniges’ Erzählung ist die einzige, in der eine Person ad hoc in eine ungewohnte Umgebung versetzt wird. Gebraucht wird ein neuer Entwurf, der dem eigenen Leben Sinn zuweist. Wie vertragen sich Herkunftssozialisation und die „absolute Eigenführung“ des Lebens als neue Orientierung zueinander? b) Familie und gemischte Verkehrskreise Dönniges entstammte väterlicherseits einer Beamtenfamilie, deren Männer im gehobenen preußischen Staatsdienst standen und deren Verdienste 1792 zur Nobilitierung führten. Mütterlicherseits, die Mutter war eine geborene Wolff, gehörte sie einer alten jüdischen

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4. Über die Grenzen der Familie

Berliner Kaufmannsfamilie an. 1842 siedelte das Ehepaar von Berlin nach München über. Wilhelm von Dönniges, Historiker und Ranke-Schüler, sollte der geistige Mentor des bayerischen Kronprinzen Maximilian werden. Er wurde sein engster Berater und übte nach seinem Regierungsantritt 1848 großen Einfluß auf die königliche Außen- und Kulturpolitik aus.112 Die Kindheits- und Jugendorte Helene von Dönniges’ waren München, Berlin und – seitdem sich der Vater im diplomatischen Dienst betätigte – Turin und Nizza. Im München der 1850er Jahre bildete der Salon Franziska von Dönniges’ das gesellige Zentrum derjenigen Gelehrten und Künstler, die der König im Zuge seiner kulturellen Neuerungspolitik, welche München dann den Glanz einer Kunststadt verleihen sollte, an die Universität berief bzw. finanziell förderte. Der Verkehrskreis, in dem Dönniges heranwuchs, bestand somit vornehmlich aus diesen bürgerlichen Familien, zu denen sich einige Aristokraten gesellten. Durch die persönliche Beziehung des Vaters zum König bestanden des weiteren recht enge Kontakte zu den Mitgliedern der königlichen Familie. Keine Beziehungen scheint es zur „ersten Gesellschaft“, exklusiv gegenüber Neuadeligen und Fremden, gegeben zu haben. (vgl. 5–15)113 Von 1857 an verbrachte die 14jährige Dönniges mehrere Jahre vornehmlich in Nizzas ‚großer Welt‘. Die sich alljährlich in Nizza zusammenfindende internationale Gesellschaft besaß in den Erinnerungen der Autorin ein Gepräge von Geburts- und Geistesaristokratie, plutokratisch flankiert. Dominierte im Münchner Elternhaus „eine Atmosphäre von Geist, Schönheit, Wissen und Kunst“, entscheidend für ihre künftige Geschmacksund Persönlichkeitsbildung, lernte sie nun, sich auf dem „Tummelplatz europäischer Eleganz“ zu bewegen. (12, 32) In diesem Verkehrskreis, in der Vergegenwärtigung angeführt von russischen Großfürstinnen, herrschte das Prinzip unentwegter Vergnügungen, die „frühmorgens mit Kavalkaden und Picknicken [begannen], um nachts mit Tanz und Champagner zu enden.“ „Muße zu irgendeiner ernsteren Beschäftigung gab es nicht.“ (36) An die Stelle geistiger Auseinandersetzungen um Literatur und kulturelles Zeitgeschehen, wie sie es von München her kannte, traten Geselligkeitsformen, welche die Handlungsentlastung einer im Sinn von Erwerb arbeitsfreien Gruppe demonstrierte. In diesem Kreis behauptete sich Dönniges, „gefeiert und umschmeichelt wie eine junge Königin“. (35) Die „junge Weltdame“ (45) mit regsamem Geist, eleganter Haltung und anerkannter Schönheit kehrte 1862 in die Berliner Häuslichkeit ihrer Großmutter ein. Über die (groß) mütterliche Bekanntschaft und Verwandtschaft verkehrte Dönniges in gastfreien bürgerlichen Familien von Staatsbeamten, Rechtsanwälten und Bankiers. Zwar wurden z. B.

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Vgl. den Art. zu Wilhelm von Dönniges in: Neue deutsche Biographie, hrsg. v. d. Hist. Kommission bei der bayr. Akademie der Wissenschaften, 1971ff., Bd. 4; Weigand, Katharina, Der gelehrte Monarch und die Kulturpolitik. Johann von Sachsen und Maximilian II. von Bayern im Vergleich, in: Müller, Winfried / Schattkowsky, Martina (Hgg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, S. 189–202. Zur „ersten Gesellschaft“ Münchens auch einiges bei: Diemel, Adelige Frauen, S. 179ff.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Ballabende ebenso von adeligen Offizieren oder Justizräten besucht, doch gerade die Abwesenheit adeliger Frauen, den Hüterinnen gesellschaftlicher Exklusivität114, unterstreicht das bürgerliche Ambiente. (vgl. 48–60) Lasalle hatte zu jener Zeit seine politische Arbeit nach Berlin verlegt und war außerdem bemüht, sein öffentliches Ansehen durch schriftstellerische und wissenschaftliche Arbeiten zu festigen. Geschult in Recht, Staatswissenschaften, Philosophie und Philologie, auch der jüdischen Religion angehörend, war Lasalle aufgrund von Herkunft und Ausbildung ‚objektiv‘ in der Lage jene Verkehrskreise zu besuchen, die auch von Dönniges frequentiert wurden. Dönniges wiederum besaß ‚objektive‘ Attribute, die eine weib- männliche Liebesbeziehung in den ‚höheren Ständen‘ initiieren konnten: Jugend, Schönheit, weltläufige Klugheit, schöngeistige Bildung und die „feineren Gewohnheiten der oberen Gesellschaftskreise“. (57) Das „Schicksal“ der Liebenden hat sozial-kulturelle Gründe. In Begleitung ihres Onkels, Justizrat, besucht sie die Dienstagabendgesellschaften einer befreundeten Familie, deren männliches Oberhaupt, Rechtsanwalt, dem Justizrat kollegial verbunden ist – und trifft auf Lasalle. (50f.) Ein Bekannter der Familie, ebenfalls Rechtsanwalt, mit dem die junge Dönniges in Begleitung seiner Ehefrau Konzerte u. ä. besucht, da die leidende Großmutter ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen kann, stellt sich als langjähriger Freund Lasalles heraus. (57f.) Mit diesem Ehepaar besucht sie den Berliner Juristenball – und trifft auf Lasalle. (59f.) Dönniges’ familiäre Herkunft bildete die Voraussetzung, um Lasalle auf geselligem Parkett kennenzulernen. Wie diffizil die Stellung dieses Mannes in der bürgerlich geprägten Gesellschaft war, zeigen Äußerung und Handlung der Großmutter in der Darstellung. Er sei ein Mensch, „den man in anständiger Gesellschaft nicht sieht“, doch er ist Gesprächsthema in dieser Anständigkeit und verkehrt in selbiger. Einerseits persona non grata, andererseits durchaus akzeptabel. Die Großmutter fragt beim Vater nach, wie sich die Familie zu einer Eheverbindung stellen würde – eine Anfrage, die sich erübrigt hätte, wäre sie von der vollkommenen Aussichtslosigkeit des Unterfangens überzeugt gewesen. (58) Doch antwortet der als bayrischer Gesandte in Bern lebende Vater mit einem „empörten abschlägigen Bescheid“. (58) c) Eine schöne Erwartung und Reden über das Scheitern „Wenn ich niemanden inzwischen finde, den ich viel – viel mehr liebe als dich – … – dann heirate ich dich“, antwortete die junge Dönniges ihrem jugendlichen Freund Yanco von Racowitza auf dessen Heiratsantrag. „Ich habe Lasalle kennengelernt – wenn er mich wirklich will, heirate ich ihn – er ist das Ideal eines Mannes, wie ich es mein ganzes Leben lang gesucht habe“, sagte sie nach einem Heiratsantrag des achtzehn Jahre älteren Mannes zu Racowitza und beendete damit dessen Ehebegehren. (47, 52f.)

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Vgl. ebd., S. 179–194.

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4. Über die Grenzen der Familie

Dönniges’ Zukunftserwartungen fügen sich in den Kontext „weiblicher Normalbiographie“ ein. Sie will sich nicht, wie etwa Lily Braun, mit Chiffren wie Arbeit und Bildung aus den Zwängen ihrer Herkunft befreien, sondern sie möchte eine auf Liebe basierende Ehe schließen. Liebe ist es, welche die Ehe begründen soll, der Grad der Liebesempfindung entscheidet über den dazugehörigen Partner. Dönniges knüpft an das Leitbild „romantischer Liebe“ an.115 Ideal und Praxis waren den Adeligen des 19. Jahrhunderts nicht fremd, wenn auch im Zweifelsfall familienstrategische Überlegungen der Statussicherung die Oberhand gegenüber individuellen Neigungen behielten. Folgten Frauen der Norm, die Ehe als Lebensbund zu betrachten, dann entschieden sie mit der Wahl ihres Partners einmalig über ihre zukünftige emotionale und soziale Existenz. Dönniges baut ihre Zukunft auf gegenseitige Liebe, einen Mann mit Eigenschaften und dessen Vision eines gemeinsamen Zieles: In „ewiger Wechselwirkung“ wollen beide „das hohe Lied der Liebe neu erfinden“ und vorerst „glückselig von der noch glückseligeren Zukunft“ sprechen. (87) Von Anbeginn ist sie von „seinem Geist und seiner Gelehrsamkeit“ wie auch seiner „Körperlichkeit“ – „eine hohe Gestalt mit cäsarenhaftem Kopf und Blick“ – gefesselt. (51) Er verfügt über Macht und Charisma, andere Personen in seinen Bann zu ziehen, ihr genügt „der Adlerblick seiner machtvollen blauen Augen“. (50, 51) Seiner Stärke vertrauend, besitzt er Energie und Willensstärke (vgl. 60), ist zugleich von „edler Empfindung“ (83) und „liebenswürdige[r] Kindlichkeit“ (81). Seine „eleganten, feinen Manieren“ (68) lassen ihn als „vollendetste[n] Weltmann“ (69) erscheinen. In einem Gespräch über ihre gemeinsame Zukunft heißt es: „ ,Mein Ehrgeiz ist, Ferdinand Lasalles Frau zu sein und sein Los zu teilen‘ “. „ ,Du hast … nicht schlecht gewählt, denn es soll dein Schade nicht sein.‘ “ Er entwirft von sich das Bild eines Politikers, der handelnd und kämpfend die Monarchie in eine Republik verwandelt, an deren Spitze ein neuartiges „Herrschaftspaar“ steht: „ ,Und glaubst du nicht – daß die Macht, – die höchste Gewalt uns gut kleiden wird? […] Seit ich dich gefunden, ist mir mein Weg zur Höhe noch klarer geworden; vereint mit dir muß ich zum Ziel kommen‘ “. (84f.) Läßt man die politische Vision beiseite, dann präsentiert Dönniges insgesamt einen Paar-Entwurf, dessen Fundament die Liebe ist. Die Beziehungsstruktur scheint auf den Mann hin zentriert zu sein, und wenn der wesentlich ältere Lasalle von ihr als einem Kind spricht, das er zu formen gedenkt (vgl. 89), dann dämmert das Bild eines ungleichen Paares herauf.116 Nun, die Beziehung wurde nicht gelebt, und Dönniges macht, indem sie ihre und seine Vision vom Glück als Gespräch zueinander in Beziehung setzt, etwas anderes deutlich. Sie will nicht irgendein Los teilen, sondern das Los eines ungemein ambitionierten, von seinen Fähigkeiten und seinem Willen zur Macht überzeugten Mannes, der überdies bereit ist, zu konzedieren, daß das männliche Ich des weiblichen Ichs bedarf, um zum Ziel zu gelangen. Diese Frau liebt einen ‚Siegertyp‘. Dem Verlangen nach einer Liebesehe wohnte 115 116

Liebe als zentralen bürgerlichen Wert beschreibt: Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung, in: Hettling / Hoffmann (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel, S. 23–55. Zu Problem und Realität des „ungleichen Paares“ im Bürgertum bis zur ersten Jahrhunderthälfte vgl. Trepp, Sanfte Männlichkeit, S. 138ff., bes. S. 284ff.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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somit das Verlangen inne, sich an der Seite eines bedeutenden Mannes zu entwerfen – im System hierarchischer Geschlechterdifferenzierung keine als ungewöhnlich zu betrachtende Erwartung.117 Biographisches Scheitern, verstanden als „wahrgenommene Differenz zum gelungenen Leben“118, wird zu einem individuell schwerwiegenden Ereignis, insbesondere dann, wenn es sich auf einen normalbiographischen Erwartungshorizont bezieht. Martina Kessel hat gezeigt, daß das moderne Konstrukt einer bürgerlich-männlichen Normalbiographie die individuelle Vorstellung von einem gelungenen Leben maßgeblich beeinflußte. Berufliche Leistung, Erfolg und Identifikation mit einem Beruf entschieden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als zentrale Kriterien über das Gelingen oder Scheitern einer Biographie.119 Vor dem Hintergrund weiblicher Normalbiographie läßt sich nun mit Dönniges’ Scheitern das Leitbild der Liebesehe als individuelles Projekt zeigen, dessen Nichtrealisierung als persönliche Niederlage wahrgenommen wurde. „Wenn ich heute mein damaliges Tun bedenke, so kann ich es nicht fassen, ja, kann nicht einmal fassen, daß ich jenes unschlüssige, aus Familienrücksichten das eigene Glück und das des geliebten Mannes aufs Spiel setzende Wesen war.“ (52) Man muß diesem Konflikt die Spitze des Tragischen nehmen, welche ihn als einsame Ausnahme erscheinen läßt, um eine allgemeine kulturelle Norm zu erkennen, der Dönniges folgt. Sie knüpft ihr „eigene[s] Glück“ an ihre Biographie, eine durch die Aufklärung eingeleitete Kopplung mit dem diesseitigen Versprechen, seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Das erreichte Glück wurde hier als persönliches Verdienst anerkannt, das Scheitern daran in die individuelle Verantwortung des einzelnen gelegt.120 Dönniges nimmt die aufklärerische Verantwortung an. Sie läßt keinen Zweifel daran, daß ihr persönliches Glück auf Erden im Erreichen einer Liebesehe bestand. Ihre Selbstanklage unterstreicht, daß Familienrücksichten darauf keinen Einfluß haben sollten. Insofern sie sich bezichtigt, das eigene Glück fahrlässig durch familienorientiertes Handeln aufs Spiel gesetzt zu haben, unterstreicht sie umgekehrt die Eigenverantwortlichkeit, um ein biographisches Ziel zu erreichen. Das Ideal der Liebesehe zeigt sich gerade über die Nichtrealisierung als individueller Anspruch, an dem sich Handeln ausrichten sollte. Zugleich umfaßt das Scheitern die Unmöglichkeit, den männlichen Karriereweg als Ehefrau wirkungsvoll mitzugestalten. Dönniges rechtfertigt ihr gescheitertes biographisches Ziel vornehmlich in der Form der Selbstanklage. Sie bezichtigt sich der Willenlosigkeit – „meine elende verachtungswürdige Schwäche“ (106) –, um ihr Verhalten zu erklären. Das Gegenwarts-Ich ver-

117 118 119 120

Bourdieu, Männliche Herrschaft, in: Dölling / Krais (Hgg.), Ein alltägliches Spiel, S. 201. Zahlmann, Stefan, Sprachspiele des Scheiterns. Eine Kultur biographischer Legitimation, in: Ders. / Scholz (Hgg.), Scheitern und Biographie, S. 7–31, zit.: S. 13. Kessel, Ein Lebenslauf in absteigender Linie? Sebastian Hensel – Bildungsbürger, Landwirt, Hoteldirektor, in: Ebd., S. 71–87. Vgl. Bähr, Andreas, Schiffbruch ohne Zuschauer? Überlegungen zur heuristischen Kategorie des Scheiterns aus der Perspektive moralischer Ausweglosigkeit im 18. Jahrhundert, in: Ebd., S. 35–51.

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4. Über die Grenzen der Familie

weigert sich einem vergangenen Ich. Es steht fassungslos einem „Wesen“ gegenüber, das aus „Familienrücksichten“ wider Eigeninteressen gehandelt hat. Zwischen beiden gibt es keine erzählerische Vermittlung, die den Konflikt in eine einheitliche Geschichte aufhebt. Obwohl erst die Kopplung von Biographie und Glück individuelles Scheitern ermöglichte, scheint das Reden über letzteres vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart an den Rand gedrängt.121 Die Selbstanklage Dönniges’ schärft zumindest die Konturen gelingender normalbiographischer Erwartungen von Frauen: die Liebesehe als Glücksanspruch, den sich Frauen handelnd realisieren können. Das Reden über das Mißlingen verweist darauf, daß die Liebesehe aus der Perspektive des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht nur individueller Anspruch war, sondern auf der sprachlichen Ebene eine kulturelle Norm darstellte, welche die Liebe im Sozialarrangement zu überlagern scheint: Junge Frauen sollen ihres eigenen Glücks Schmied sein. d) Eine unmögliche Eheverbindung? Hochmut und Wahlverwandtschaft „Mein ganzes Leben lang – bis heute – habe ich mich wie damals in meiner Einsamkeit gefragt: ‚Weshalb war diese – nur mit dem Worte Berserkerwut zu bezeichnende Raserei meiner ganzen Familie gegen Lasalle und meine Verbindung mit ihm?‘ Ich habe nie eine Erklärung dafür gefunden.“ (104) Der Erklärungsnotstand ist in der Darstellung nicht durchgängig, doch die angegebenen Gründe der Familie zielen wie die Selbstanklage ins Leere. Die elterlichen Positionen werden nur allgemein oder unscharf dargestellt, so als ob das Gegenwarts-Ich diese entweder nicht begreifen oder akzeptieren kann. Nachfolgende Interpretation wird den Erklärungsnotstand nicht aufheben können und keinesfalls das Autorinnen-Interpretament Schicksal bzw. Schicksalstragödie in eine Abfolge von Ursachen und Wirkungen überführen wollen. Sie wird versuchen, solche Sachverhalte hervorzuheben und zueinander in Beziehung zu setzen, in welchen das Liebesideal sozial-kulturellen Spannungen ausgesetzt ist. Obwohl die Vorgeschichte aufgrund des Schicksals-Interpretaments kaum mit dem biographischen Konflikt verknüpft ist, ist dennoch nach Hinweisen in diesem Textteil zu suchen, die darüber Aufschluß geben, inwiefern diese Liebesbeziehung nicht doch eine, wenn auch fragile, Realisierungschance besaß. Die Tragödie bedarf einer Fallhöhe, um das Scheitern der Heldin zu verdeutlichen. Dönniges’ Kindheits- und Jugenderinnerungen lassen sich deshalb in dem Satz zusammenfassen: „Von allen wurde ich verwöhnt und vergöttert.“ (23) Als spräche eine alternde Diva von ihren größten Erfolgen in ihr Spiegelbild, erinnert Dönniges eine Zeit, in der sie „wie eine Königin“ (35) gefeiert wurde. Hochmut kommt vor dem Fall, sagt ein Sprichwort. Und Hochmut kennzeichnet die junge Dönniges wohl am besten. Aber nicht nur im sprichwörtlich pejorativen Sinn von Überheblichkeit und Stolz, sondern auch in den anderen Wortbedeutungen von edler Gesinnung, Freude, hohem Selbstgefühl. Dieser

121

Vgl. zur Gegenwart die Beiträge in: Ebd., Kap.: Lob des Scheiterns. Einsichten und Ausblicke.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Hochmut ist ein argloser, ein naiver, der sich aus „den Vorzügen meiner rein physischen Persönlichkeit“ (2) – ihrer Schönheit – und dem „wahren Schönheitsfanatismus“ (18), der in ihrer Familie gepflegt wurde, speiste. Ihrer Schönheit schreibt sie kein „eigenes Verdienst“ (2) zu, das familiäre ‚Leitbild‘ scheint sie wie ein Schwamm aufzusaugen. Sie betreibt einen Kult des Schönen, des Ästhetischen, Geistreichen. Mit allen Sinnen nimmt sie Kunst und Literatur in sich auf, begeistert sich am antiken Schönheitsideal wie an den Heldinnen der antiken Tragödie. Ihre „Passion“ gehört den Sprachen, der Deklamation, und „alles Lernen floß [ihr] spielend zu“. (24) Was sie nach außen an andere abgibt, das ist die „Begeisterung für alles Höchste auf jedem Kunstgebiet“, ist der Sinn für „die Macht des Großen, Schönen, Edlen“. (26) Zu dieser durch keinen kritischen Blick getrübten Geisteshaltung trat ihre körperliche Schönheit, von der Dönniges sagt, daß diese „vielleicht die Rolle spielte[n], die dem Ganzen [d. h. ihrem Leben, M. K.] das Gepräge gab[en]“. (2) Welche männlichen Phantasien der schöne Körper samt Geist freisetzte, sei dahingestellt. Für die kaum 14-jährige bedeutete dieses zuerkannte Kapital ein Gewinn an naiver Macht. Hatten ihr ihre Eltern kaum einen Wunsch abgeschlagen, sind es nun ältere Männer, die in ihrem Bann stehen und Jünglinge, die zu ihren Füßen liegen. (8, 21f., 25f.) Dieser „Vergötterung“ stand kein Korrektiv, etwa durch Erziehung, zur Seite. In Dönniges’ Darstellung haben weder Eltern noch Gouvernanten Erziehungsarbeit geleistet, sie spricht vom „Wachsenlassen“. (20) Als einzige ethische Maxime galt Wahrheitsliebe; Religion, die im besten Sinn Mitmenschlichkeit und soziale Verantwortung im einzelnen erzeugen kann, besaß keinen familiären Stellenwert. (vgl. 18) Jenseits der Vermittlung ästhetischen Sinns scheint es weder Verbote noch Gebote gegeben zu haben, die Umgangsformen und Verhaltensstandards ausprägten. Die Rede ist von „elementaren Verzogenheiten“, das von Dönniges gebrachte Beispiel bezeichnend: „[I]ch hatte nie gelernt, Hunger und Müdigkeit zu ertragen, ohne diese Bedürfnisse sofort zu befriedigen“. (34) In Nizzas grande monde tanzt die anwesende Gesellschaft, wartet man auf das sich anschließende Souper. Die junge Dönniges sitzt in einer Ecke, aus Hunger nervös vor sich hinweinend. Der Retter erscheint, es ist der Hausherr und ältere Freund und verhilft ihr zu vorzeitiger Nahrungsaufnahme. In dieser Szene sind mangelnde Haltung, Charakterschwäche und Nichtbeachtung der Etikette enthalten, die schon für sich genommen zu einer Erziehungskorrektur führen müßten. Nicht bei Helene von Dönniges. Sie profitiert vom Kapital „Schönheit“, noch für jede Fehlleistung dürfte sich ein Retter gefunden haben. Die Darstellung vermittelt den Eindruck, daß sich die schöne Helene kaum gegen Widerstände behaupten mußte. Man war ihr ganz einfach zu Willen, und sie nahm mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hin. Derart „verwöhnt und vergöttert“ (23) scheint sie ihre reellen Möglichkeiten weit überschätzt zu haben. Was sich im Erzählungsverlauf als kapitales Mißverständnis zwischen Eltern und Tochter herausstellt, ist in den Anfängen argloser Hochmut einer jungen Frau, die im Wunsch, einen geliebten Mann zu heiraten, womöglich einer naivrealistischen, aber in ihren Augen nicht unmöglichen Vorstellung aufsitzt. Ein anderer Hinweis auf ein mögliches Gelingen der Liebesehe findet sich zu Beginn der Lebenserinnerungen. Dönniges stellt ihre Elternfamilien und ihre Eltern vor. Er hätte

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sich „in ein wunderschönes, junges Mädchen verliebt. Sie wurde meine Mutter – obgleich beide Familien gegen die Heirat waren.“ Beide seien dann ein „junges, sich bis zum Wahnsinn liebendes Elternpaar“ gewesen. (5) Wenn in den Quellen auf elterliche Heiratsgründe Bezug genommen wird, dann gibt es drei Zuschreibungsarten: die Liebesheirat, die Liebesheirat gegen den Widerstand der Eltern, die arrangierte und die vernünftige Heirat, welche eheliche Liebe nach sich ziehen konnte. Auf der Zuschreibungsebene koexistieren ältere und jüngere Ehekonzepte nebeneinander. Im Falle Dönniges’ würde man erwarten, daß sie diese Zuschreibung als Argument in eigener Sache nutzen würde. Töchter aus jüdischem Bürgertum, wie Dönniges’ Mutter, sind bis weit ins Kaiserreich selten Mischehen eingegangen. Auch spielte die arrangierte Vernunftehe nach wie vor eine große Rolle für den Zusammenhalt des jüdischen Bürgertums, weniger im Gegensatz zum deutschen Bürgertum, sondern wie dieses in der Spannung von Liebe als kulturellem Leitbild und einer auf Status- und Besitzmehrung zielenden sozialen Praxis.122 Die von Dönniges’ Mutter eingegangene Ehe aus Liebe gegen familiären Widerstand kann man demnach als unübliche Möglichkeit betrachten. Dönniges selbst geht darauf nicht ein. Obwohl die Parallelen deutlich sind, stellt sie keinen Bezug her. Es gibt keine Argumentation etwa dergestalt, daß bereits ihre Eltern im Namen der Liebe soziale Schranken überwunden hätten, weshalb es nur recht und billig sei, dem töchterlichen Begehren zu entsprechen. Folgt man dem Text, dann stellt sich aber indirekt ein Bezug zum zugeschriebenen elterlichen Eheschließungsmodell her. Innerhalb der Konfliktdarstellung läßt Dönniges ihren Onkel den Familienkonsens sprechen: „Niemals würde meine Familie in diese ‚wahnsinnige Heirat‘ willigen.“ (104) Verknüpft man die Wendung, mit der die Eltern beschrieben werden, d. i. das „sich bis zum Wahnsinn liebende Elternpaar“ (5) mit der Wendung „wahnsinnige Heirat“, welche die familiäre, einschließlich elterliche Haltung zum Ausdruck bringen soll, dann drängt sich ein ambivalentes Bild auf: Diejenigen Personen, denen die Liebe derjenige Heiratsgrund war, sich gegen den Familienwillen zu behaupten, sind dieselben, die eine Heirat, der nichts anderes als gegenseitige Liebe zugrunde liegt, als „wahnsinnig“ betrachten. Depersonalisiert man dieses zwiespältige Bild, dann bleibt ein entgegengesetztes, den nachgeordneten Teil ausschließendes Begriffspaar übrig: Liebe / Nicht-Liebe, welches das Möglichkeitsspektrum von Eheschließungsgründen umreißt. Obwohl Dönniges in der Gesamtdarstellung stark polarisierende (Selbst) Deutungen formuliert, besitzt sie in ihrer Liebesangelegenheit ein praxisbezogenes Gespür dafür, daß Liebe eine notwendige, aber mit Blick auf die Familie keine hinreichende Bedingung für ihren Heiratswunsch darstellt. Bereits während der ersten Begegnung im großmütterlichen Verkehrskreis sprachen Dönniges und Lasalle von sich als Paar, von ihrer „zusammengehörigen Zukunft – als ob diese bereits eine abgemachte Sache“ sei. Als er umgehend offiziell um ihre Hand anhalten will, ist sie zutiefst verunsichert und bittet um Aufschub. „[I]ch [erwachte] jäh zur traurigen Wirklichkeit, zum Bewußtsein; 122

Vgl. Kaplan, Marion A., Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997, S. 129ff.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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wie dieser Mann, dem ich mein Herz … zu eigen gegeben hatte – von meiner näheren Umgebung angesehen wurde.“ (52) Im Verlauf der Begegnungen wird er immer der Drängende, sie die Zögernde sein, weil ihr undeutlich bewußt ist, daß die männlichen Personen der ihr erlaubten Verkehrskreise nicht identisch mit Heiratskandidaten sind. Als sie dennoch ihr Ja-Wort gibt, stellt sie ihm die Bedingung, „daß wir und namentlich Lasalle alles versuchen sollen, um die Eltern zu erweichen, so daß sie ihre Einwilligung geben und die ganze Geschichte vernünftig und anständig … zu Ende kommen kann“. (77) Im Vergleich zum ambivalenten Elternbild, entsteht hier das Bild zweier moralisch integerer Personen, die über Vernunft und Anständigkeit die ablehnende Haltung der Brauteltern überwinden wollen und deren Konsens suchen, um ihre Liebesehe zu realisieren. Müßte nicht ein Paar, das dem elterlichen Willen zuwiderhandelte und eine den jeweiligen Heiratskreis sprengende Ehe einging, dem Argument der Liebe aufgeschlossen gegenüber stehen? Insbesondere deshalb, weil es sich im Gewand der anerkannten elterlichen Autorität präsentiert? Diese Fragen kann man als zweite Hoffnung der Helene von Dönniges betrachten. Die größte Realisierungschance bindet Dönniges an eine unterlassene Tat. „[W]ie anders hätte alles – alles kommen können!“ (61) Lasalle hatte sich bis zur konfrontativen Begegnung nie ihren Eltern vorgestellt. Somit seien diese den negativen Vorurteilen aufgesessen, ihre Abweisung „galt nur dem Lasalle, von dem alle Welt wußte, d. h. dem Volksmann, Agitator und dem nicht aristokratischen Bewerber überhaupt.“ (61) War die soziale Kluft tatsächlich unüberwindlich? Ist nicht Lasalle wie ihr Vater ein Gelehrter gewesen, nicht auch ein Dichter, den Frau von Dönniges in ihrem Salon hätte empfangen können, und war er nicht ein Freund Heinrich Heines, der zur Verwandtschaft der mütterlichen Familie gehörte? Dönniges insistiert auf Ähnlichkeiten. Aber zu einer Begegnung, die, mit Bourdieu formuliert, „einen Prozeß gegenseitigen Abtastens und Taxierens (besonders deutlich bei ersten Begegnungen), mit dessen Hilfe ein Habitus sich seiner Verwandtschaft mit anderen vergewissert“123, kam es nicht. Insofern ist die Konfliktdarstellung auch eine Reinwaschung Lasalles zum idealen Schwiegersohn. Weder sei er finanziell von Gräfin Hatzfeld, die er in einem langjährigen Scheidungsprozeß vertrat, abhängig gewesen, noch wurde er wegen eines Diebstahls verurteilt. (54f.) Dem Ruf, ein zweifelhafter Ehrenmann zu sein, setzt Dönniges den Gentleman entgegen, der bis in seine politische Arbeit hinein aus nichtegoistischen Motiven heraus handelte. Auch sei er nicht eigentlich Revolutionär gewesen, dieses Engagement erforderte die Zeit, sondern ein Mann der Wissenschaft. Die „Stille der Gelehrsamkeit“ habe er mit der „Lebensfreudigkeit des Weltmannes“ kombinieren können. Wie Vater und Mutter „genoß er mit raffinierten, künstlerisch fein gebildeten Sinnen“. (64) Was der rechtfertigende Text zutage fördert, ist eine habituelle Wahlverwandtschaft: „Der Geschmack paart die Dinge

123

Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 375. (zuerst 1979)

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4. Über die Grenzen der Familie

und Menschen, die zueinander passen, die aufeinander abgestimmt sind, und macht sie einander verwandt.“124 e) Eine unmögliche Eheverbindung? Die neuadelige Familie Die elterliche Ablehnung des Bewerbers richtete sich gegen den „Volksmann, Agitator und dem nicht aristokratischen Bewerber überhaupt“. (61) Auch besaß der Vater „törichten Standeshochmut, in dem befangen, er sich einbildete, eine Heirat seiner Tochter mit dem Volksmann Lasalle könne ihm seine Stellung kosten.“ (101) Bis zum erzwungenen Verzicht ihres Ehebegehrens schien die immergleiche väterliche Frage gewesen zu sein, ob sie „noch immer beabsichtige, ihn um seine Stellung zu bringen und die ganze Familie ins Unglück zu stürzen?“ (104, s. a. 129) Aus einer allgemeinen, auf politischen und sozialen Differenzen ruhenden Ablehnung entwickelt sich eine konkrete – die Sorge des Vaters um seinen beruflichen Status und damit um den Familienerhalt. Dönniges selbst erkennt die väterliche Befürchtung nicht an. Diese sei entweder „törichte[r] Standeshochmut“, d. h. als Grund für sie inakzeptabel, oder eine „raffinierte[re] Kampfmethode“ (104), sie um ihr Lebensglück zu bringen. Aber war die familiäre Ablehnung Lasalles so „töricht“ wie Dönniges behauptet? Ein Mann des Königs und ein Mann des Volkes verkörpern zwei gegensätzliche gesellschaftspolitische Ordnungen, die man sich nur schwer in einer Familie der 1860er Jahre vorstellen kann. Nicht, daß es nicht Adelige gab, die demokratische bzw. mit adeligen Grundwerten unvereinbar erscheinende Prinzipien vertraten, doch die Quellen verweisen darauf, daß heterogene politische Anschauungen, die auf die Gesellschaft als Ganzes abzielten, den familiären Frieden äußerst strapazierten.125 In Dönniges’ Familie geisterte von Lasalle das Schreckbild des „ ,abscheulichen Revolutionär[s]‘ “ (104), als solcher besaß er als Schwiegersohn keine Chance. Als Nicht-Aristokrat war Lasalle ebenfalls kein idealer Ehepartner. Der Adel väterlicherseits war jung, der mütterlicherseits nicht vorhanden. Hier ist zu vermuten, daß die einmal erreichte soziale Position, wenn auch nur am unteren Ende der adeligen Binnendifferenzierung, stabilisiert werden sollte. Dönniges war die älteste Tochter von vier weiteren Schwestern und zwei Brüdern. Ihre Schwestern haben innerhalb des Adels geheiratet, die Brüder traten in den bayerischen Staatsdienst ein. Hier tritt die Konsolidierung einer neuadeligen Familie zutage, die bei der ältesten 124 125

Ebd., S. 374. Zu demokratischen Visionen adeliger Frauen im Umfeld der Revolution von 1848 und im Gegensatz zur Familie vgl. etwa die Lebenserinnerungen Malvida von Meysenbugs (1879 / 1922), Maximiliane von Arnim, verh. Gräfin Oriola (ca. 1891 / 1937); zur sozialistischen Vision dann Lily Braun (1909 / 1922). Inwiefern demokratische Ansichten mit Adelskonzepten der ersten Jahrhunderhälfte (nicht) kompatibel waren, diskutiert: Barth, Thomas, „Eine vollständige Aenderung des Staatorganismus“. Das Zukunftskonzept Wilhelm Adolf von Trützschlers (1818–1849) für den Adel, in: Marburg / Matzerath (Hgg.), Der Schritt in die Moderne, S. 63–93. Zur sozialen Isolation adeliger Republikaner in der Weimarer Republik durch „die“ Familie des Adels vgl. Malinowski, Vom König zum Führer, S. 460ff.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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Tochter hätte beginnen können. Dönniges’ Eltern, denen sie eine Liebesehe zuschreibt, verfolgten mit Blick auf ihre Tochter das gänzlich konventionelle Ziel, ihr über einen Eheschluß wirtschaftliche Sicherheit und eine gesellschaftlich anerkannte Stellung zu verschaffen. Bereits als 12jährige wurde sie mit einem italienischen Adeligen verlobt. Als sie sich 16jährig aufgrund mangelnder Zuneigung entlobt, tritt ihr von elterlicher Seite kein Widerstand entgegen. Bis dahin aber galt von ihrem Verlobten: „Es ließ sich im ganzen nichts gegen ihn sagen“. (30) Er war reich, vornehm, großzügig und großmütig, er würde sie mit „allen Herrlichkeiten der Welt überschütten“, und sie würde „in Bälde Frau Generalin-Exzellenz“ heißen. (22) Das von der Mutter initiierte Heiratsprojekt wertet Dönniges aufgrund ihres nicht heiratsfähigen Alters als „kuriose Verlobung“ (22). Andererseits stellten fünf Töchter, die es zu verheiraten galt, eine familiäre Herausforderung dar, so daß man das in der Tat junge Verlobungsalter der Ältesten als strategisches Vorgehen betrachten kann. In den Augen der Eltern besaß Lasalle weder Titel noch gesicherte Stellung, geschweige denn Vermögen. Die väterliche Sorge um beruflichen Status und Familienglück scheint mit Dönniges’ wahrgenommenen „törichten Standeshochmut“ wenig gemein zu haben. Statt dessen ist zu vermuten, daß Wilhelm von Dönniges in Lasalle als Schwiegersohn eine berechtigte Bedrohung seiner Position empfand. Dönniges, dessen Familie 1792 nobilitiert worden war, wurde 1857 mit dem bayerischen Zivilverdienstorden ausgezeichnet, womit die Verleihung des persönlichen Adels verbunden war und 1860 in den erblichen Ritterstand des Königreiches erhoben.126 Damit gehörte er zum bayerischen Neuadel, der unter Maximilian II. bereits Teil der staatstragenden Elite war. Dieser konkurrierte mit dem alten Adel altbayerisch-katholischer Provenienz um den Einfluß auf die politischen Entscheidungen des Monarchen. Speziell am Münchener Hof in der Mitte des 19. Jahrhunderts dominierte der alte Adel, der zugleich die Spitze der Gesellschaft bildete.127 Ein Revolutionär als Schwiegersohn hätte einen absurden Nachteil im Konkurrenzkampf dargestellt, auch weil die Monarchie als Staatsform nach den einschlägigen Erfahrungen infolge von 1789 und 1848 um revolutionsverhindernde Politik bemüht war.128 Als engster Berater des Königs hatte Dönniges entscheidenden Einfluß auf dessen Kulturpolitik, die zu den großen Leistungen Maximilian II. von Bayern gehört. In diesem Zusammenhang wurde etwa Heinrich Sybel 1855 nach München berufen, um die Geschichtswissenschaft an der Universität auf ein modernes Niveau zu heben. Zog der Preuße und Protestant Dönniges als Fremder mit Nähe zum Thron den Unmut eingesessener Kreise auf sich, so wurde Sybel, Preuße und ebenfalls königlicher Berater, der de-

126 127 128

Vgl. den Artikel zu W. v. Dönniges in: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1875ff., Bd. V, S. 339ff. Vgl. einführend: Demel, Walter, Der bayerische Adel von 1750–1871, in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel, S. 126–143. Einen knappen Problemaufriß zur Erforschung von Monarchie und Moderne bietet: Körner, HansMichael, Die Monarchie im 19. Jahrhundert. Zwischen Nostalgie und wissenschaftlichem Diskurs, in: Müller / Schattkowsky (Hgg.), Zwischen Tradition und Modernität, S. 21–32.

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4. Über die Grenzen der Familie

zidiert für die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage eintrat und deshalb1861 durch Max II. wieder entlassen wurde, von weiten Teilen der Bevölkerung geradezu gehaßt. „Und erlöse uns von dem Sybel, Amen“, soll es geheißen haben.129 Die gesellschaftlich ohnehin prekäre Stellung Dönniges’ wäre in Verbindung mit einem preußischen Revolutionär stark beschädigt worden. Entscheidend für die Ablehnung Lasalles dürfte der Umstand gewesen sein, daß die Laufbahn Dönniges’ und sein Einfluß auf die politschen Entscheidungen des Monarchen ausschließlich in seiner Freundschaft zum König begründet waren.130 Er war nie formell im bayerischen Staatsdienst tätig. Ob er als Gesandter unterwegs war oder außenpolitische Ratschläge erteilte, diese Tätigkeiten waren seiner persönlichen Nähe zu Maximilian II. geschuldet. Sein Karriereverlauf, Macht, Einfluß, Ansehen waren gleichsam wie die Stellung des Günstlings oder der Gattin eines frühneuzeitlichen Regenten abhängig vom unmittelbaren Zugang zum König.131 Am 10. März 1864, Dönniges weilt seit zwei Jahren als Gesandter in der Schweiz, stirbt Maximilian II. von Bayern in München. Ab diesem Zeitpunkt dürfte die Stellung Dönniges’ ungewiß gewesen sein und abhängig von der Position des neuen Königs gegenüber dem persönlichen Berater seines Vorgängers. In diese Situation wahrscheinlicher (berufs)biographischer Ungewißheit, die zugleich den Erhalt des familiären sozialen Status gefährdete, tritt die älteste Tochter Anfang August 1864 mit der Nachricht ein, sich mit einem Mann verlobt zu haben, von dem ihre Familie „nur das Allerungünstigste“ (53) zu wissen meint. Unter dieser Vorgabe scheint die von Dönniges nie begriffene „Berserkerwut“ der Familie gegen Lasalle weniger gegen den Bewerber als gegen sich selbst gerichtet zu sein. Und zwar als Ausdruck einer situativen Ohnmacht, die künftigen Perspektiven der Familie nicht einschätzen zu können. Für die Orientierungskrise einer neuadeligen Familie um den Statuserhalt stellte ein Demokrat und Sozialist keinen Lösungsbeitrag dar. f) Eine unmögliche Eheverbindung? Fallstricke der Sexualmoral Folgen- und weitreichender für Dönniges’ Lebensgeschichte war das elterliche Heiratsverbot aufgrund Lasalles vermuteter A-Moralität. Dönniges gerät in die Fallstricke konventioneller Sexualmoral, die sie an den Rand ihres Herkunftsmilieus bringt. Kurz bevor sich die Tür hinter ihrem häuslichen Gefängnis schließt, versucht Lasalle sie bei seiner langjährigen Freundin Gräfin Hatzfeld unterzubringen: „ ‚Ach, die Gräfin!‘ sagte ich tieftraurig – denn aller Lebensmut, alle Liebesseligkeit war von mir genommen. ‚Die ist meines Vaters Hauptgrund gegen dich. Wir haben gerade einen Gast … – der

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Vgl. Weigand, Der gelehrte Monarch und die Kulturpolitik, in: Müller / Schattkowsky (Hgg.), Zwischen Tradition und Modernität, S. 189–202. Vgl. den Art. zu Wilhelm von Dönniges in: Neue deutsche Biographie, Bd. 4. Vgl. Daniel, Ute, Zwischen Zentrum und Peripherie der Hofgesellschaft: Zur biographischen Struktur eines Fürstinnenlebens der Frühen Neuzeit am Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: L’ Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 8 (1997), S. 208–217.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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hat den Eltern schreckliche Dinge von deinem Leben mit der Gräfin erzählt, hat sie eine ganz unmoralische Frau – ja, noch Schlimmeres genannt – und das hat meinen Vater noch mehr empört als deine Politik!‘ “ (96) Die maßgebliche Empörung richtete sich auf Lasalles nichteheliche Gemeinschaft mit einer älteren Frau zweifelhaften Rufes. Der Informant scheint die familiären Vorurteile gegen Lasalle befestigt zu haben. Nicht nur sein Liebesleben sei ein ausschweifendes, unbedingt abzulehnen sei aber das gemeinsame Leben mit einer geschiedenen Frau „auf fürstlichem Fuße“, die – und das ist der Hauptvorwurf – seine ökonomische Selbständigkeit finanziere. (56, 54) War eine geschiedene Frau nach den Konventionen der Zeit von prekärem Ruf, galt eine solche, von der angenommen werden konnte, daß sie sexuelle Beziehungen unterhielt, als entehrt, insofern sie ihre Geschlechtsintegrität, das Kriterium weiblicher Ehre, preisgab. Ein Mann aber, der sich auf sexuelle Beziehungen mit einer Geschiedenen einließ und sie nicht ehelichte, war kein Ehrenmann. Ließ sich ein solcher von einer ehrlosen Frau finanziell aushalten, dann besaß er kein männliches Ehrgefühl im Leib und somit nicht jenes öffentliche Ansehen, das Männern vor allem über ihre berufliche Leistung zugesprochen wurde.132 Vom Standpunkt eines rechtschaffenen Familienvaters aus betrachtet war eine Person wie Lasalle kein ‚richtiger Mann‘, dessen selbständige Lebensführung Basis einer Eheschließung und Garant familiärer Sicherheit darstellte. Erscheint die väterliche Ablehnung berechtigt, so wird sie zweifelhaft, betrachtet man den weiteren Kontext dieser Äußerung. Die dem Konflikt vorangehenden Kindheitsund Jugenderinnerungen sind zum einen von der hohen Wertschätzung des Schönen und Ästhetischen als „bestimmenden Einfluß“ (12) künftiger Entwicklung durchzogen. Als ebenso nachhaltigen Einfluß präsentiert Dönniges ihre mangelnde Orientierung an ‚richtigen‘ moralischen Maßstäben. „Moral war Nebensache“, kommentiert sie die Atmosphäre ihres Elternhauses. Diese Moral ist durchgängig sexuell konnotiert und bezieht sich auf das erotische Miteinander von Frauen und Männern. (17, 18, 19f., 25) Zum Erziehungsstil des „Wachsenlassens“ (20) gehörte, daß sie ab dem sechsten Lebensjahr gewissermaßen als teilnehmende Beobachterin im mütterlichen Salon zugegen war. Dieser Ort gelehrter und künstlerischer Geselligkeit war ebenso ein „Salon, wo die meisten … Männer – vor allem mein Vater – entweder offenkundige, oder geheime Liebeleien mit den anwesenden Damen unterhielten“. „Interessant lehrreich war dieser Kreis ganz sicher – aber fördernd für Moral und Seelenreinheit war er ebenso sicher nicht.“ (18) Ganz ähnlich wie den Salon ihrer Kindheit deutet sie die Geselligkeiten der ‚grande monde‘ in Nizza und Turin, die sie ab dem 14. Lebensjahr besuchte. Von „gesellschaftliche[r] Raserei“ ist die Rede, von einer „absolut tolle[n] Zeit“, von einer „Art Liebestaumel“ in den „mit weiten Ansichten über Moral und Sitte ausgestatteten Kreisen“. (36, 35) Sie konstatiert, diese Jahre „trugen zur Entwicklung meines Charakters nichts Gutes bei.“ (43) Der praktische Anschauungsunterricht früherer Jahre wandelte sich zum praktischen Erleben: „Ich tat daher, was ich alle um mich her tun sah: bald mit dem einen, bald mit dem

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Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, Kap.: Weibliche Ehre, männliche Ehre, S. 166ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

anderen einen kleinen weltlichen ‚Flirt‘ eingehen.“ (43) Geht man davon aus, daß die töchterliche Jungfräulichkeit normative Erwartung und Zuschreibung darstellte, welche Eltern in die Pflicht sozialer Kontrolle nahmen, dann ist in diesem Fall von mangelndem Interesse an dieser Pflicht zu sprechen, aus dem die Tochter Konsequenzen zieht: „Das Verfahren meiner Eltern: heute den einen – morgen den andren jungen Mann als meinen Verlobten anzunehmen … – wie es ihnen beliebte und paßte, – belehrte mich, daß Treue nicht zu den von mir verlangten Tugenden gehörte.“ (43) Der nach konventionellen Maßstäben leichtfertige elterliche Erziehungsstil und die von Erotik durchdrungenen Geselligkeiten schärften den Widersinn von Sexualmoral. Einerseits wurde sie damit konfrontiert, daß Frauen im Gegensatz zu Männern keinen vor-, außer- und nachehelichen Sex haben dürfen. „ ,Da schreit die Welt Anathema über sie!‘ “ (20), so das Diktum. Andererseits beobachtete sie ein mehr und weniger verdecktes Unterlaufen der Sexualmoral und erfuhr für sich selbst, daß sie mit dem anderen Geschlecht recht leger umgehen konnte, ohne elterliche Sanktionen befürchten zu müssen. Die Erzählerin der Schreibgegenwart betrachtet diesen Widersinn als prägend für ihre künftige Entwicklung. Er bildete den „Keim für meine ganze spätere Lebensanschauung“. (19) Als „Keim“ ist ein logisches Argument formuliert: Männer und Frauen sind Menschen, wenn Sexualität in der Natur liegt, dann liegt sie in beiden. (vgl. 20) Zur „Lebensanschauung“: „Damals … begründete sich in mir die Idee der ‚Manngleichheit‘ im Liebesrecht des Weibes“, reifte die „Überzeugung der Gleichberechtigung des Weibes mit dem Manne im Liebesleben“. (20, 43) Dönniges positioniert sich nicht als dezidierte Feministin, scheint aber den Diskurs der Jahrhundertwende um die „freie Liebe“ zu kennen, der für das Kaiserreich öffentlich den Zusammenhang von Sexualität und den Lebenssituationen von Frauen herstellte.133 Insofern die Öffentlichkeit selbst ein vorsichtiges Engagement auf diesem Gebiet als „Totalangriff auf traditionelle Werte und Gewißheiten“134 wahrnahm, positioniert sich Dönniges radikal. Die Anbindung des gleichen Rechts auf Sexualität an die Herkunftssozialisation bedeutet individualgeschichtlich bzw. im Erzählzusammenhang Rechtfertigung und Erklärung ihres künftigen, auf der freien Wahl von Partnern beruhenden Lebens. Ein anderer Zusammenhang stellt sich vor dem Hintergrund der moralischen Empörung des Vaters, welche die Ablehnung des Bewerbers begründet, her. Weder er noch seine Tochter noch Lasalle, dem die Empörung gilt, fühlen sich den Konventionen sonderlich verpflichtet, so daß das Rekurrieren auf Moral fadenscheinig erscheint und – die Geschichte endet ehrenrührig – das Duell ins Absurde steigert. Dennoch ist die väterlicher „Berserkerwut“ keinesfalls absurd. Als männliches Individuum mochte er nach eigenem Gutdünken handeln und denken, als Familienvater besaß er die Verantwortung, daß bei einer Eheschließung das Ansehen der Familie, die heiratende Tochter eingeschlossen, unversehrt blieb. 133

134

Vgl. einführend Gerhard, Unerhört, S. 265ff. Zur „freien Liebe“ als Idee und Realität in der modernen Gesellschaft und mit einschlägigen Literaturhinweisen versehen, vgl. einführend: Kuhn, Bärbel /  Kohser-Spohn, Christiane, Befreite Liebe, in: Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich, S. 489–516. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, S. 200.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

315

Ein tadelloser Ruf des künftigen Schwiegersohns war unabdingbar. Dönniges, die für sich selbst frühzeitig die Differenz von Schein und Sein in Fragen der Sexualmoral als erkannte reklamiert und „die sogenannten Ehrbegriffe der Gesellschaft“ (38) als Verhaltensorientierung für sich ablehnt, handelt dennoch vom „Ehrenstandpunkt“ aus, ist verstrickt in dem, was sie ablehnt: In Dönniges’ häusliche Isolationshaft dringt die singuläre Information, Lasalle habe die Stadt verlassen. Der Vater erscheint mit „Triumph in der Stimme: ‚So – nun bist du frei – dein elender Geliebter hat dich selbst verlassen. Er hat sich wohl gefürchtet vor meiner Macht; … Da ist der feige Kerl lieber entflohen!‘ “ (105) Der Jugendfreund Racowitza, angereist, ihr zur Seite zu stehen, beginnt „zu spötteln und seine Liebe herabzusetzen“ und meint: „ ,Der Mann, den du liebst – … – der ist feige, wirft die Flinte ins Korn und geht auf und davon.‘ “ (122) Vater und Freund werfen Lasalle Feigheit vor, der schlimmste Vorwurf, der einem Mann im adelig-bürgerlichen Milieu des 19. Jahrhunderts gemacht werden konnte und mit dem Verlust von Ehre und Achtung einherging.135 Der Appell an Lasalles ‚Unmännlichkeit‘ stürzt Dönniges, die in ihrer Haft über keine anderen Informationen verfügt, in (Selbst)Zweifel. Sie fragt sich, warum er „den Riesenkampf“ um sie nicht aufnimmt, ob sie doch nur eine von seinen Liebesabenteuern war? (105) Warum konnte er sie verlassen, obwohl er doch wußte, daß sie das Elternhaus nur ertrug, weil sie ihm vertraute, daß er den Kampf um eine gemeinsame Zukunft führen würde? „Von meinem damaligen Zustand kann keine Beschreibung einen nur annähernden Begriff geben“ (106), formuliert Dönniges in Hinblick auf ihre Entscheidung zugunsten des elterlichen Willens. Aus dieser Entscheidung zog Dönniges keinen Nutzen. „[I]ch hatte doch mit völligem Verzicht auf mein Glück … das getan, was, nach den Aussagen meiner Eltern, in den Augen der ‚Welt‘ das richtige, das einzige mögliche war. Und nun mußte ich allenthalben empfinden, daß die ‚Welt‘ mich ausschloß“. […] Ich … empfand es wohl, wie gerade in ‚unsern Kreisen‘, …, sich manche Hand weniger herzlich um die meine schloß – manche Tür mich nur noch einen Spalt einließ, statt sich – wie vorher, mit Freudigkeit voll und ganz zu öffnen.“ (123) Die Gefangensetzung vollzog sich im öffentlichen Raum, es ließ sich beobachten, wie der Gesandte seine Tochter von einem Haus zum anderen brachte und es von der Polizei bewachen ließ. Für diesen „Skandal“ (123) ließ man nicht den Vater, sondern die Tochter büßen. Dönniges hat für diesen Vorgang nur „Erstaunen“ (123) übrig, als ob ihr das Verhalten ihrer Kreise unverständlich wäre. Als ob sie nicht wahrhaben will, daß bereits der Verdacht einer aufs Spiel gesetzten weiblichen Ehre (warum sonst sollte ein Vater seine Tochter „mit lauten Verwünschungen über die Straße schlepp[en]“, 123) hinreichend war, um (Jung)Frauen in ihrem Ansehen zu diskreditieren und aus der Gesellschaft auszuschließen.

135

Vgl. ebd., S. 212ff.

316

4. Über die Grenzen der Familie

g) Gescheiterter Entwurf als gescheiterte Lebensgeschichte? Die Eheschließung mit ihrem Jugendfreund Racowitza, der stellvertretend für den Vater die Duell-Herausforderung Lasalles annahm, stellte für Dönniges die einzige Option dar, ihr Elternhaus zu verlassen. Als Racowitza im Winter 1865 starb, riß das letzte Band zwischen Dönniges und „dem Leben der Gesellschaft, in der [sie] geboren und erzogen“ wurde. (146) „Nun war ich vogelfrei“ (148), deutet die Erzählerin die Situation der 23jährigen Witwe. Die Erwartung, Ehefrau eines geliebten Mannes zu werden, endet im sozialen Aus. Zieht man keinen Freitod in Erwägung, folgen daraus notwendig der Aufbau einer neuen Existenz und lebensweltliche Neuorientierung. Mit 25 Jahren beginnt Dönniges ihre Bühnenlaufbahn, heiratet 1868 ihren Schauspielerkollegen Siegwart Friedmann, vereinbart ihren Beruf mit der kinderlos bleibenden Ehe, die 1873 geschieden wird. Auf einer Gastspielreise lernt sie ihren dritten Ehemann, den russischen Adeligen Serge von Schewitsch, kennen, mit dem sie 1877 in die Vereinigten Staaten aufbricht. Die 34jährige setzt dort die Bühnenlaufbahn fort, schließt daran ein vierjähriges Medizinstudium an und arbeitet dann als Theaterkritikerin und Journalistin für Zeitungen. 1890 kehrt das kinderlose Ehepaar nach Europa zurück und begibt sich auf Reisen. Diese biographischen Angaben hatten mit adelig-konventionellen Vorstellungen einer „weiblichen Normalbiographie“ nichts gemein. Scheidungen waren moralisch diskreditiert, kinderlose Ehen stellten den sittlichen Wert der Institution zum Zwecke der Fortpflanzung infrage, berufstätige Ehefrauen existierten per se nicht. Nach Amerika schickte man die Versager, über die man beim Familienessen hinter vorgehaltener Hand sprach. Zwar wurden Schauspielerinnen von Fürstenhand in den Adel erhoben, aber adelige Frauen (wie Männer) stiegen nicht in diesen Berufsstand, dessen Künstlertum im Vergleich zu den anderen Künsten nur zögerlich anerkannt wurde, ab.136 Legen die Konventionen einen ‚biographische Niederlage‘ nahe, resümiert Dönniges ihr ‚zweites Leben‘ unter einem anderen Vorzeichen. Es seien ihre Beziehungen zu Lasalle gewesen, welche „die erste große Handlung in meinem Leben verursacht hatten und aus einem … in engster Familienzugehörigkeit lebenden jungen Mädchen einen freien, auf sich selbst gestellten … Menschen geschaffen hatten.“ „[M]mich sozusagen aus meiner natürlichen Bahn werfend, wohinein mich Geburt und Erziehung gestellt hatten“, verlieh diese Handlung „meinem Leben eine stolze Selbstachtung, aber auch absolute Eigenführung“. (258f.) Deutete die Erzählerin ihre Situation nach dem Bruch mit Familie und Herkunftsmilieu als „vogelfrei“, d. h. geächtet, wie ein Gehenkter den Vögeln zum Fraß vorgeworfen, steht zum Erzählungsende hin eine Deutung, welche die vorangegangene überlagert. Die gesellschaftliche Exklusion wird nun begriffen als Möglichkeit, sich zu einem freien Menschen mit selbständiger Lebensführung entwickelt zu haben. Selbständigkeit bzw.

136

Vgl. Zobeltitz, Fedor von, Die beiden Geschlechter innerhalb der Aristokratie, S. 257ff.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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„absolute Eigenführung“ ist das Kriterium für Dönniges’ gutes Leben. Damit reklamiert sie einen Grundwert, an dem sich bürgerliche Männer orientieren sollten und der in seiner Spezifizierung von ökonomischer Selbständigkeit zentraler Bestandteil ihrer erfolgreichen Selbstdarstellungen war.137 Während Selbständigkeit im Bürgertum eine sozial vermittelte Anforderung war, erscheint der Wert hier als Effekt des Ausschlusses. Das sagt nichts über die ‚Unselbständigkeit‘ adeliger Frauen oder Männer aus. Es ist der biographische Bruch, der Dönniges in eine Situation versetzt, sich radikal selbst zu organisieren – für diese moderne Zumutung und Anforderung bietet die Selbständigkeit ein positives Deutungsmuster. Ein zweites Leben der Helene von Dönniges? Der Text legt eine solche Interpretation nahe, denn Handeln wird als selbstinitiiertes präsentiert. Sie bricht mit der Gesellschaft, nicht diese mit ihr (vgl. 176); sie entscheidet über ihre Theaterlaufbahn (vgl. 162); sie wählt ihre Geliebten und Ehepartner (175 vgl.); sie verdient ihren Lebensunterhalt mit ihrem Beruf (vgl. 186); Amerika ist ihr ein Land der Freiheit, kein Verbannungsort, nicht sie, sondern andere Standesgenossen scheitern hier (vgl. 219f., 223f.). Die vermittelte Grunderfahrung ist die, daß jede Person für sich selbst „an jedem Leid wie an jedem Glück“ (286) verantwortlich ist. Doch die Lebenserinnerungen sind auch offen für eine andere, dem ‚Scheitern‘ zugeneigte Interpretation. Im letzten Kapitel erzählt Dönniges von ihrer Rückkehr zu den Menschen jener Gesellschaft, die sie einstmals verließ, verlassen mußte: „Da waren und sind einige [gemeint sind Frauen, M. K.], die in all den Jahren, in denen mich das Leben in wilden Kämpfen umherwarf – keinen Finger breit von dem ihnen, durch geordnete Verhältnisse vorgeschriebenen Pfad abgewichen waren – die hoch angesehen in den von ihnen eingenommenen Positionen standen – die mich bei meiner Heimkehr aufnahmen wie den lang entbehrten Freund und für ‚den verlornen Sohn‘ – als den ich mich doch ansehen mußte, mit Freuden das fette Kalb schlachteten. Mit ihnen, den edlen, wahrhaft feinen Seelen ist es mir auch vergönnt, meinen Lebensabend zu beschließen.“ (298f.) Diese Passage konterkariert das gute Leben qua Selbständigkeit entschieden. Im Gleichnis des verlorenen Sohnes vertritt der Vater (göttliches) Gesetz und Ordnung. Im Angesicht existentieller Not erkennt der Sohn sein sündhaftes Handeln. Liebe und Barmherzigkeit bestimmen die Autorität, den Sünder wieder in seine Rechte und Pflichten als Sohn einzusetzen, damit die Omnipotenz von Gesetz und Ordnung bestätigend. Bei Dönniges übernehmen die angesehenen Frauen der Gesellschaft die Funktion, die verlorene Tochter wird als zugehörig anerkannt. Die „absolute Eigenführung“ ist ein Leben des Ausgeliefert-Seins, der Entbehrung und der Verfehlung. Ein gutes Leben gründet im Ausfüllen vorgegebener Bahnen. Einerseits deutet sich Dönniges als ‚Herrin ihrer selbst‘, andererseits als ‚verlorener Sohn‘ mit dem Verlangen nach Reintegration in das Gefüge ihrer Herkunftsgruppe. Diese Widersprüchlichkeit ist konstitutiv für die Erzählung nach dem Bruch mit der 137

Vgl. Hettling, Die persönliche Selbständigkeit, S. 57ff.; Kessel, Ein Lebenslauf in absteigender Linie, S. 71ff.

318

4. Über die Grenzen der Familie

Herkunftsfamilie. Zentrale Konsequenz der gescheiterten Erwartung ist die in kürzester Zeit vollzogene und unbeabsichtigte familiäre Ent-Bindung ins soziale Aus. Hieraus ergibt sich ein Zwang zur Selbstbehauptung, der eine gewisse Gegenläufigkeit erzeugt: Ein Vorwärts zur ‚Selbständigkeit‘ als Annahme der Herausforderung und ein Zurück als Nichtakzeptanz des Ausschlusses. Andere Konflikterzählungen haben gezeigt, daß sich adelige Frauen auch jenseits angestammter Familienbindungen neu orientieren und positiv verorten konnten. Es ist eine sich differenzierende Gesamtgesellschaft, die den abweichenden Lebensentwürfen Raum zur Realisierung gab. Dies ließe sich auch bei Dönniges zeigen, indem man den Spuren der „absoluten Eigenführung“ ihres Lebens folgt. Aufschlußreicher ist es hingegen, die Spur des „verlorenen Sohnes“ aufzunehmen. An dieser wird nämlich ersichtlich, was in den anderen Fällen nicht deutlich wird – das Unbehagen an einer Freiheit ohne hergebrachte Familienbindung. h) Das Unbehagen an der Freiheit „Nun war ich vogelfrei – der Welt und allen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten preisgegeben. War vogelfrei – ohne Halt an der Familie, ohne tieferes, religiöses Gefühl“ bzw. „eine andre ideelle Weltanschauung“. (148) Dönniges besaß zu diesem Zeitpunkt keine emotionale Bindung an ihre Familie mehr, und dennoch greift sie im Angesicht einer unwägbaren Freiheit auf Familie als eine erste Ordnungskategorie zurück. Damit unterstreicht sie, nicht als Adelsspezifikum, sondern als Mensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch einmal die Prägekraft und Bindungsmacht von Familie, nachgeordnet dann Religion bzw. Weltanschauung, wie sie von Thomas Nipperdey herausgestellt wurde.138 Das Unbehagen an der Freiheit zeigt sich in der Erzählung mit der übergeordneten Deutung des „verlorenen Sohnes“ als Sehnsucht nach der Wiederherstellung des status quo, nicht als Rückkehr zur konkreten Familie, sondern als Wiedereinsetzung in solche Bedingungen, die jenen ihrer Sozialisation entsprachen. Nicht „absolute Eigenführung“ bestimmt diese Erzählung, sondern „leben und kämpfen und leiden“ (147) in und an einer als „Sturm“ wahrgenommenen Welt, die sie mit „rauhem, unbarmherzigem Wüten“ (176) umherwarf. Am Ende wird ihr „Dasein … wieder geregelte Formen angenommen“ (176) haben, das sie mit jenen teilen wird, die ihre „natürliche Bahn“ nie verlassen hatten. i) ‚Ökonomisierung‘ der Schönheit Eine Frau ohne Ehemann stellte in den Ehediskursen der zweiten Jahrhunderthälfte ein verschieden diskutiertes Problem dar, dem grundsätzlich ein diskriminierendes Frauenbild vom Blaustrumpf bis zur Hure zugrunde lag.139 Zwar lebte Helene von Dönniges nur einige Jahre alleinstehend, diese waren aber Anlaß genug, sich massiv zu rechtfertigen. 138 139

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd.1, S. 191. Vgl. Kuhn, Bärbel, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914), Köln u. a. 2000.

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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„Mein Hauptgrund aber, weshalb ich dies alles so ausdrücklich betone, ist der: Feinde haben von mir gesagt, ich sei von materiellen Vorteilen geleitet worden und habe um solcher willen meine Zuneigung hingegeben.“ (175) Der feindliche Vorwurf lautet Prostitution, dem Dönniges mit zwei Argumenten begegnet. Ihre finanzielle Situation als Theaterschauspielerin sei immer desolat gewesen, die Fähigkeit „des sogenannten Geldmachens“ (172) habe sie nie besessen. Wäre es bei ihrer „Zuneigung“ zu Männern um Geld gegangen, dann wäre sie kaum in Situationen „höchst bedrängende[r] Schulden“ (175) geraten. Ihre sexuelle Geneigtheit entspräche ihrer ausgeprägten „Überzeugung“ der „Liebesgleichberechtigung des freien Weibes mit dem Manne“ (175), d. h. der nichtverheirateten Frau. Ihr sei bewußt, daß ihre Position der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen keine gesellschaftskonforme Meinung spiegele, sondern „gegen das konventionelle Sittengesetz der Welt“ (175) verstößt. Dönniges erwehrt sich des Prostitutionsvorwurfes, indem sie ihm die ökonomische Grundlage entzieht und nichteheliche Sexualität als ein Frauen und Männern eignendes Recht betrachtet. In der Rechtfertigung, daß eine Frau ohne Ehemann sehr wohl eine eigene Existenz bestreiten kann, ist nicht nur die Zurückweisung einer diskriminierenden Zuschreibung enthalten, sondern sie verweist zugleich auf Dönniges’ Grundproblem jenseits von Eheund Familienbindung. Es ist dies die „Unfähigkeit sich von Geldsorgen zu befreien“ (175) oder anders formuliert, das Unbehagen an der notwendig gewordenen ökonomischen Selbständigkeit. Dönniges’ Kapital bestand vor allem aus Schönheit, Weltläufigkeit, Sprachenkompetenz und Sprechtalent. Dieses hätte seinen symbolischen Einsatz auf dem Heiratsmarkt ihrer Herkunftsgruppe gehabt. Eine ‚gute Partie‘ hätte den gewohnten Lebensstil fortgesetzt. Auf sich selbst gestellt, unterliegt das Kapital der ökonomischen Verwertung. Dönniges muß ihre „zweite Haut“ vermarkten. Auf den ersten Blick eine gelungene Passung: Unter den Bedingungen begrenzter Berufsmöglichkeiten von Frauen wird sie Schauspielerin und feiert ihre größten Erfolge im Fach der – Salondame. Nur den gewohnten Lebensstil kann sie nicht an die neue Lage anpassen. Über die Sicherung ihres Lebensunterhalts hinaus zwingen sie ihre Schulden zum Erwerb, sie ist eine vom Markt abhängige Arbeitskraft. Zu ihren zahlreichen Gastspielreisen, „bei denen sich doch mehr verdienen ließ“ als im festen Engagement, vermerkt sie: „[I]ch paßte nicht dazu. Von Kindheit an verwöhnt und von zartester Gesundheit … war ich in diesem … Vagabundensein nicht eine Stunde glücklich. Immer auf der Fahrt oder auf Proben, abends in anstrengenden Rollen rastlos tätig – hatte ich gerade nur zu kämpfen, um die dazu nötige Kraft zu behalten.“ (186) Sie präsentiert sich als hart arbeitende Schauspielerin, die aufgrund ihrer Herkunftssozialisation nicht dazu gehört. Die Ausübung von „Brotberufen“, nach 1918 für viele Adelige notwendig geworden, stellte im 19. Jahrhundert noch keine kulturelle Norm im Adel dar, obwohl die Anfänge adelig-weiblicher Berufstätigkeit in die Zeit des Kaiserreiches fallen.140 Man kann, wie Lily Braun oder Malwida von Meysenbug, die im Erwerb gründende ökonomische Selbständigkeit als Weg zur familiären Unabhängig-

140

Vgl. dazu den letzten Teil dieser Arbeit.

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4. Über die Grenzen der Familie

keit betrachten, und zweifellos bildet diese den bis in die Gegenwart gültigen Königsweg weiblicher Emanzipationsbestrebungen. Im Falle Dönniges’, gerade über ihre Deutung als „Vogelfreie“, wird aber auch deutlich, daß der Beruf bis in den Körper hinein eine Last darstellte, daß er nicht das emanzipatorische Freiheitsversprechen einlöste, sondern ein anderes Abhängigkeitsverhältnis als das in Ehe und Familie darstellte. Das Unbehagen an der Freiheit dieser aus dem neuen Adel stammenden alleinstehenden Frau ist das Unbehagen an der ‚Ökonomisierung‘ ihrer sozialisatorisch vermittelten Fähigkeiten, denen – symbolisch gefaßt – Schönheit voran steht. Schönheit im Herkunftsmilieu war einer der Garanten glänzender gesellschaftlicher Erfolge. Auf dem Erwerbsfeld trug sie Geldwert und bedeutete in der Fremdzuschreibung den Vorwurf der Prostitution, in der Selbstdeutung ungewohnte, harte Arbeit. j) Ein Albtraum: Ökonomische Selbständigkeit Das Problem ökonomischer Selbständigkeit wird von Dönniges auch geschlechterübergreifend wahrgenommen. Ihrem Mann, Serge von Schewitsch, ehemals russischer Beamter, dessen Vermögen und Güter sequestriert wurden, weil er den Dienst ohne Einwilligung quittiert hatte, bot sich nach zwölfjährigem Leben in den Vereinigten Staaten die Möglichkeit, nach Rußland zurückzukehren, da es seinem Bruder gelungen war, die Beschlagnahmung aufzuheben. 1890 kam das Ehepaar in Rußland an: „[W]ir [hatten] zu sehr unter dem Alp pekuniären Gebundenseins gelitten, um nicht die Aussicht auf Besserung in dieser Hinsicht zu segnen.“ (285) Der amerikanische „Alp“ war viele Jahre „ein steter Kampf ums Dasein, denn wir waren absolut nur auf das angewiesen, was wir uns selbst verdienten.“ (252) Der Nachtmahr, der die Schlafenden drückt, ist nicht der unadelige „Brotberuf“ als solcher, sie arbeitet als Schauspielerin, später als Theaterkritikerin für Zeitschriften, er als Journalist, sondern Erwerbstätigkeit als einzige Quelle der Existenzsicherung überhaupt. Der Beruf stellt nicht materielle Unabhängigkeit sicher bzw. in Aussicht, wie es etwa zum bürgerlichen Selbstverständnis gehörte, sondern markiert die Abhängigkeit von der Logik des Geldes. Das Gefühl individueller materieller Sicherheit ruht in der Wahrnehmung Dönniges’ auf ererbtem oder zu erbenden Familienvermögen, nicht aber auf der Gewißheit, sich durch den Beruf eine angemessene Existenz erarbeiten zu können. Dönniges’ Resümee ihres amerikanischen Aufenthaltes versprachlicht einen Gefühlszustand des Leidens, der in der erzählten Zeit „Amerika“ seine konkrete Bedeutung findet. Deutlich wird hier ein partielles Versagen vor der Anforderung marktkonformen Verhaltens. Dem ökonomischen Kalkül steht die Adelige aufgeschlossen gegenüber. So hat sie den vernünftigen Willen, Medizin zu studieren, um hinterher zu praktizieren. Der Arztberuf, das spiegeln ihre Freunde, bot den Weg zum finanziellen Erfolg, denn sie kamen „beinahe mittellos nach Amerika“ und waren nun „mehr oder minder reiche Leute“. (264) Doch gegen den handlungsinitiierenden Traum vom selbsterworbenen Wohlstand regt sich somatischer Widerstand: „Wäre meine Gesundheit mir nicht stets so hindernd gewesen, ich hätte Vieles und Schönes erreicht.“ (268) Nicht näher spezifizierte Krank-

4.2. Biographische Konflikte: Konstellationen

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heiten begründen das nicht erreichte Ziel. Doch der Kontext ist eindeutig. Es sind die „großen Anstrengungen der Gastspiele“, die sie bereits in Europa veranlaßten, ihren „Beruf für eine Zeit aufzugeben“. (201) Trotz gerade auch finanziell erfolgreicher Gastspielreisen in den USA gibt Dönniges das Schauspiel mit der Begründung, „dann aber ließ mein Interesse daran nach“ (257), auf. Die Interesselosigkeit ist durchaus im Zusammenhang mit den „großen Anstrengungen“ zu lesen. Krankheit als Symptom der Weigerung, „ganz“ in einem Beruf aufzugehen. Der ganze Beruf wäre aber für den finanziellen Erfolg nötig gewesen. Das Ehepaar ist journalistisch und schriftstellerisch tätig, doch „beide [waren] nicht dazu geeignet, so emsig die Zeit in sitzender Arbeit zu verbringen, wie es zu wirklich lohnender Schriftstellerei nötig gewesen sein würde“. (264) Der körperliche und mentale Widerstand an einer beruflichen Tätigkeit, die Fleiß, Ausdauer und Regelmäßigkeit verlangt, unterläuft denn auch den vernünftigen Willen als Ärztin zu praktizieren. Dönniges studierte vier Jahre „mit größtem Eifer“ (264), um „direkt vor dem Doktorexamen“ so schwer zu erkranken, daß sie „völlig unfähig zum Studieren wurde“ (266) und den Berufsplan aufgab. Der Körper, disponiert, sich allseits im gesellschaftlichen Leben zu bewegen, verweigert sich einer einseitigen Zurichtung auf spezielle Fertigkeiten und Kenntnisse, die ein differenzierter Beruf in seiner Ausübung verlangt. Statt einer Profession übt Dönniges „alle[r] Art Beschäftigungen“ (268) aus. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen, gibt Sprachenunterricht, malt Bilder, die sie verkauft. Diese Tätigkeiten ruhen mehr und minder auf sozialisatorisch vermittelten „Gaben“. Sprachen und Künste zu betreiben gehörte zum adeligen Lebensstil wie die Jagd, sofern man sich letztere leisten konnte. In einer verarmenden Familie beispielsweise ließe sich der Sprachunterricht individuell als den solidarischen Sinn stärkende Unterstützung begreifen. Außerhalb von Adel und Familie und innerhalb eines ‚freien Kräftespiels‘ begründen diese Fähigkeiten und Fertigkeiten im Falle Dönniges’ eher eine fragile Existenz. Der „Alp“ finanzieller Abhängigkeit ist die Entwertung erworbenen ‚Kapitals‘ auf fremdem, ökonomischem Grund. k) Sehnsucht nach der „ersten Gesellschaft“ Die Zumutung wirtschaftlicher Selbständigkeit bei gleichzeitiger Ferne vom Herkunftsmilieu geht einher mit einem wissenden Gespür für soziale Deklassierung. Die Theaterzunft sei gemeinhin ein „viel verleumdete[s] Völkchen“ (189), antizipiert Dönniges das negative Image dieses Berufsstandes. Um so mehr hebt sie darauf ab, sich als Künstlerin zu präsentieren, die bis in hocharistokratische Kreise hinein Anerkennung findet. (vgl. 187) Zugleich präsentiert sie sich als nach wie vor zugehörig zur „ersten Gesellschaft“, sich darin von ihren Kolleginnen unterscheidend und ihren Anspruch auf ‚Adelig-Sein‘ bekräftigend. Von ihrer Reise nach Sankt Petersburg, wo sie Mitte der 1870er Jahre einige Zeit lebte, erzählt sie: „Ich traf bei der Abreise mit einem mir bekannten deutschen Prinzen zusammen, … Wir freuten uns beide des hübschen Zufalles, und ich reiste dadurch im größten Stil; … Der Fürst, wie seine Begleiter, waren liebenswürdige, gebildete Gesellschafter, und die Stunden flogen dahin, … In solcher Art und Gesellschaft

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ankommend, befand ich mich natürlich sofort in Beziehungen zu den vornehmsten Menschen – und lernte schnell den feinen Geist … der höchsten russischen Aristokratie schätzen.“ (202) In dieser Passage wird das Insistieren auf den Statuserhalt besonders deutlich. Hier spricht keine Schauspielerin, keine gefallene Adelige, sondern eine Dame von Welt, die eine selbstverständliche Bekanntschaft mit einem Fürsten signalisiert. Indem sie die Personen qualifiziert, unterstreicht sie, um die Gepflogenheiten aristokratischer Kreise Bescheid zu wissen. Daß diese Kreise sie gar nicht oder vorbehaltlich akzeptierten, darauf deuten die Adjektive in höchster Steigerungsform hin. Die Superlative „größten“, „vornehmsten“, „höchsten“ verweisen stark auf den Wunsch und die Sehnsucht, zur „ersten Gesellschaft“ zu gehören. Unter anderen Vorzeichen, der prekäre soziale Status ist hier einer gewissen finanziellen Not geschuldet, behält Dönniges diesen Wunsch vor der Folie „Amerika“ bei. Im „nüchternen Dollarlande“ (286) rückt sie keineswegs mit den dortigen Adeligen zu einer Exil-Gemeinschaft zusammen, wie man aufgrund von gemeinsamer Herkunft und gemeinsam geteilten Erfahrungen des Neubeginns hätte vermuten können, sondern Adelige dienen ihr hier zur Abgrenzung nach ‚unten‘: „Wie viele solcher Existenzen haben wir drüben scheitern sehen!“ (223f.) Als soziale Orientierung nach ‚oben‘ dienen ihr eingewanderte Aufsteiger, die mittellos beginnen und über ihre beruflichen Leistungen zu Reichtum und Ansehen gelangen. Zu den „intimsten Freunde[n]“ des Ehepaares Schewitsch zählte „einer der angesehensten Ärzte New Yorks“ (258). „Wie bereits erwähnt“, betont Dönniges wiederholend, „gehörten zu unserem intimen Umgang mehrere bedeutende Ärzte“ (264). „Jetzt sah man diesen feinen, in jedem Gedanken vornehmen Menschen dieses rauhe, harte Pionierleben nicht mehr an.“ (256) Jetzt war er „ein hochangesehener Arzt und sehr reicher Mann“ (255), dessen Haus den „Sammelpunkt allen geistigen deutschen Lebens“ (256) bildete. Vor dem wechselnden Hintergrund von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Welt behält Dönniges ihren Anspruch bei, zu den „Allerersten“ (225) zu gehören. Identifizierte sie sich im europäischen Gefüge mit geburtsadeligen Personen und dem „feinen Geist“ der Aristokratie, sind es im US-amerikanischen Kontext „Adelige“ des Verdienstes und im Geiste, mit denen sie sich verbunden fühlt. In beiden Fällen kompensiert der beharrliche Anspruch ein Abstiegsgespür im Vergleich zum Herkunftsmilieu. Zuallererst der Wunsch ‚oben‘ zu sein, ob in einer aristokratischen oder meritokratischen Welt erscheint nachrangig. l) Sehnsucht nach Familienbindung Die Erzählung vom „verlorenen Sohn“, strukturiert durch das Unbehagen an der Freiheit, endet mit der Heimkehr in ein adäquates Herkunftsmilieu, der Gewißheit und dem Gefühl, von jenen, die der „natürlichen Bahn“ treu geblieben sind, wieder aufgenommen und anerkannt zu werden. (vgl. 176, 298f.) Zur Heimkehr als Anerkennung durch andere gehörte ebenso Dönniges’ Feststellung, daß ihr „Dasein … wieder geregelte Formen angenommen hatte“ (176). Zentrum dieses nun überschaubar gedachten Lebens bildete ihre Anbindung an die ehemännliche Familie von Schewitsch.

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Während die unbehagliche Freiheit eher den Fluß der Erzählung vom „verlorenen Sohn“ darstellt, bildet die Familienintegration stärker die Mündung des biographischen Happy Ends aus, deren Quelle familiäre Exklusion war. In der erzählten Zeit „Amerika“ (1877–90) gibt es eine Anekdote, in der die gegenseitige Liebe des Ehepaares Schewitsch veranschaulicht werden soll. Darin heißt es, er sei der Mann, „der mir im spätern Leben alles das ersetzt hat, was mir in der Jugend so grausam entrissen ward“. (272) In der Jugend wurde ihr mehr als der Geliebte „entrissen“, den „ersetzt“ Schewitsch bereits in der erzählten Gegenwart, sondern etwas, was er ihr zukünftig, und gemeint ist damit die Heimkehr in ein geregeltes Dasein, zu bieten haben wird. Dönniges’ Bruch mit ihrer Herkunftsfamilie war ein endgültiger, „vogelfrei“ zu sein, hieß „ohne Halt an der Familie“. (148) Zwar besaß sie „Freunde genug! auch treue, echte darunter, – aber keinen Anhalt mehr. Die Brücke zwischen mir und dem Leben der Gesellschaft, in der ich geboren und erzogen, war … abgebrochen.“ (146) Der Familienverlust, und die Beziehungen zwischen Eltern und Tochter waren im Konflikt auf emotionalem Tiefpunkt angelangt, ist durch niemanden zu ersetzen. Während sich etwa Malwida von Meysenbug, ebenfalls konflikthaft getrennt von ihrer Herkunftsfamilie, unter ihren Freunden eine „Familie der freien Wahl“141 suchte, gehören Freunde nicht in Dönniges’ Vorstellung von „Familie haben“. Sie verliert fundamental Sicherheit, Schutz und familienvermittelte Sozialwelt. Diesen Verlust gleicht auch die mit Schewitsch geschlossene Liebesehe nicht aus. In St. Louis trifft das Paar auf einen alten Freund ihrer Herkunftsfamilie, der in Dönniges’ früher Kindheit regelmäßiger Gast des Hauses war. Hier genügen der Austausch von Erinnerungen an die Familie Dönniges, daß sie sagen kann: „Von jenem Augenblicke war ich in Amerika nicht mehr allein“. (255) Selbst diese vage, ideelle Familienbindung vermag mehr als das gemeinsame Eheleben, indem sie den Eindruck, allein zu sein, aufhebt. Die Liebesehe ersetzt nicht das Entrissene, wohl aber ein Ehemann, der zugleich integraler Teil einer Familie ist. Dönniges erzählt, daß sie, als sie Schewitsch in St. Petersburg kennenlernte, vergaß, nach seinem Namen zu fragen und deshalb Erkundigungen bei einem Bekannten einholte, der aussagte: „ ,Ja – Sergei Jegorowitsch! – …; ich treffe ihn bei Hofe und in allen ersten Kreisen der grand’ monde … […] – sehr gute Familie, drei Brüder, der eine bei der Gesandtschaft in Rom, der andre Gouverneur eines großen Gouvernements im Süden; …‘ “ Diese Aussagen kommentiert sie mit den Worten: „Den Namen, den ich nun schon solange selber trage – prägte ich mir auf diese Weise … ein“. (207) Hoffähig, aristokratisch, im höheren Staatsdienst, das ist es, was sich die zu diesem Zeitpunkt pausierende Schauspielerin einprägt. Schewitsch ist Teil nicht irgendeiner, sondern einer sehr guten Familie. Davon profitiert er bei seiner Rückkehr nach Rußland und sie mit ihm als seine Ehefrau. Dönniges hat teil an Vermögen und Besitz ihres Mannes, hat teil an der Solidarität der Familienmitglieder untereinander, hat teil am guten Ruf, den die Familie in der Gesellschaft genießt. (vgl. 285f., 289f., 291, 296f.) Wenn Dönniges beinahe enthusiastisch schreibt, „wir schwelgten im Vollbesitz all unsrer

141

So eine Kapitelüberschrift und Kapitelinhalt bei: Meysenbug (1879 / 1922), S. 381ff.

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4. Über die Grenzen der Familie

materiellen Mittel“ (296) oder die Wahl ihres ersten Wohnortes Riga damit begründet, daß „der Name Schewitsch gar guten Klang“ (289) besitzt, weil ein männliches Mitglied einst als livländischer Gouverneur Verdienstvolles geleistet hatte, dann wird deutlich, mit welcher Erleichterung Dönniges ihre neue Familienbindung begrüßte. Welche Abhängigkeiten diese Bindung nach sich zog, sei dahingestellt. Doch im Gegensatz zur erfahrenen ökonomischen Marktabhängigkeit stellten das nicht selbst erworbene, sondern von der Familie angehäufte gesellschaftliche Ansehen, die nicht selbst erarbeitete, sondern durch das Familienvermögen gegebene materielle Sicherheit eine von Dönniges bejahte, weil von Kindheit an vertraute Lebensqualität dar. m) Zusammenfassung Der biographische Konflikt der 21jährigen, eine auf Liebe gründende freie Partnerwahl gegen den elterlichen Willen durchzusetzen, löst sich auf mehrfache Weise. Dönniges unterwirft sich und löst die Verlobung auf. Trotzdem macht man sie für den „Skandal“ verantwortlich, sie wird von den StandesgenossInnen geschnitten, trotzdem erliegt Lassalle dem „Ehrenstandpunkt“ und stirbt. Sein Tod hat den emotionalen und sozialen Bruch mit der Herkunftsfamilie zur Folge, indem sie den Duellgegner und Freund ehelicht. Racowitzas Tod bedeutet für die nunmehr 23jährige den vollständigen Bruch mit den Menschen ihrer Herkunftsgruppe. Dönniges’ im normalbiographischen Kontext angesiedelter Entwurf zeigt die Spannung zwischen kultureller Norm und sozial-kultureller Praxis auf. Im Scheitern zeigt sich das Projekt der „romantischen Liebe“ als individuell zu realisierender Glücksanspruch, dessen normativer Gehalt darüber zum Ausdruck kommt, daß das Schreiben über das Scheitern eine dramatische Selbstanklage von Schuld und Handlungsunfähigkeit ist. Bedingende Faktoren des Scheiterns sind im sozial-kulturellen Feld der Familie zu finden. Zweifellos trug der neue Adel der Familie dazu bei. Die Position mußte gefestigt und wenn möglich ausgebaut werden. Dönniges’ frühe Verlobung mit einem reichen italienischen Adeligen und die adeligen Eheschließungen ihrer Schwestern künden davon, daß die Eltern auf Konsolidierung und Statusmehrung abzielten. Zugleich war im Konfliktzeitraum die berufliche Position des Vaters ungesichert. Seine Karriere als enger Königsberater ruhte auf seiner Freundschaft zum Herrscher und seiner Fähigkeit, mit dem angestammten alten Adel erfolgreich um den Einfluß auf den Monarchen konkurrieren zu können. Mit dem Tod des Königs wurde die berufliche Stellung des Vaters, und damit die der Familie insgesamt, ungewiß. Ein Bürgerlicher und Revolutionär als Schwiegersohn hätte das Aus bedeuten können. Dönniges unternimmt in ihrer Darstellung alles, um Lasalle jene soziale Anerkennung und Wertschätzung zukommen zu lassen, die ihn als „Wahlverwandten“ ihrer Familie erscheinen lassen. Eltern und möglicher Schwiegersohn sind einander bis zum Eklat nie persönlich begegnet, weshalb das gesellschaftliche Vorurteil die Oberhand behält. Lasalle galt nicht als Ehrenmann und war somit ein inakzeptabler Ehemann.

4.3. Zusammenfassung

325

Handlungsautonomie, Selbstverantwortung und Selbständigkeit sind Kriterien, mit denen die Erzählerin ihr Leben jenseits der Herkunftsbindungen unter den Bedingungen des freien Marktes deutet. Die erfolgreiche Anpassung an radikal veränderte Umstände weist beträchtliche Dissonanzen auf, die in hohem Maß auf einen Anpassungsdruck deuten, dem eine habitualisierte Adelige ausgesetzt war. Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen legen ihr auf, symbolisches und soziales Kapital in ökonomisches zu verwandeln, welches mit Risiken und Kosten verbunden ist. Die junge Dame der Gesellschaft wird Schauspielerin im Fach „Salondame“. Die gefeierte Schönheit der Gesellschaft sieht sich mit dem Vorwurf der Prostitution konfrontiert. Die Belastungen des Erwerbs- und Arbeitslebens führen zu schweren Erkrankungen. Einzig die eigene Arbeitskraft zur Existenzsicherung zu besitzen wird für Dönniges wie für ihren adeligen Ehemann Schewitsch zu einem „Alp“, die Zugehörigkeit zu einer adeligen Familie in geordneten Verhältnissen zur Sehnsucht. Die als Liebesbund geschlossene Paarbeziehung, Freundschaften und Berufstätigkeit ersetzen keinesfalls die auf Dönniges wirkende Zugkraft einer intakten Familie. Der Bruch mit ihrer Herkunft bedeutete für sie zweifellos einen Zugewinn an Handlungsautonomie, war aber auch mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden. Die Zumutungen der „neuen Welt“ scheinen schwerer als die der „alten Welt“ zu wiegen. Mit der Rückkehr nach Europa bindet sich Dönniges in die ehemännliche Familie und damit in ihre Herkunftsgruppe ein: Besitz und Vermögen, soziale Wertschätzung, gesellschaftliche Exklusivität und Hoffähigkeit, das alles ist mit dem Namen Schewitsch verbunden. Frau von Schewitsch kann sich als instand gesetzte Standesgenossin betrachten, die ihr Leben wieder in „geregelten Formen“ führt.

4.3. Zusammenfassung Das besondere Interesse der Adelsforschung an Strategien des Familienerhalts in der modernen Gesellschaft hat zum Teil zu einer einseitigen Konzentration auf Familienordnungen geführt, in denen von Normen die Rede ist, welche ein kompliziertes Beziehungsgeflecht regeln sollen, nicht aber vom Geflecht selbst. Diese Konzentration, geleitet vom Interesse am adeligen Machterhalt resp. -verlust, scheint ein dichotomes wie familienordnungszentriertes Denken verfestigt zu haben. Es impliziert die Vorstellung, daß das familiengebundene Individuum stetig nach der Individualisierung seiner Verhältnisse strebte, während es von der Familie, dem Bollwerk gegen Modernisierungsprozesse, mehr und minder erfolgreich daran gehindert wurde.142 Betrachtet man die von den Akteurinnen erinnerten biographischen Konflikte in der hier vorgeschlagenen Weise im Kontext von sozialer Anerkennung und Wertschätzung und im Hinblick auf die relative Position von Familien im Vergleich zu anderen, so sollte ersichtlich geworden sein, daß sich diese nicht auf ein gegensätzliches Konfliktschema

142

Zum Beispiel: Reif, Väterliche Gewalt und kindliche Narrheit, S. 82–113.

326

4. Über die Grenzen der Familie

„Bindung vs. Autonomie“ reduzieren lassen. Der Anspruch auf eine den Lebensentwürfen innewohnende andere Gestaltungsautonomie als im normalbiographischen Rahmen vorgesehen und von den Akteurinnen als höhere gedeutet, entsteht in den jeweils spezifischen Konstellationen der Auseinandersetzungen und Wechselbeziehungen zwischen den Beteiligten im konkreten familiären wie adeligen Binnenraum. Am Ende verorten sich die Akteurinnen in Teilbereichen der Gesamtgesellschaft, die bisher von den Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilien nicht frequentiert wurden. Die Konflikte wirken tendenziell herkunftsfamiliär desintegrierend und – zumindest im Happy End der Erzählung – gesellschaftlich integrierend. Die Selbstdefinitionen beanspruchen Zugehörigkeit zur neuen sozialen Gruppe. Die eingenommenen Positionen korrespondieren mit den jeweiligen Vorstellungen von guten Leben, welches von den adeligen Frauen dadurch charakterisiert ist, daß es das Versprechen auf eine reichhaltigere Form birgt, das eigene Leben zu gestalten. Diese eher formale Verallgemeinerung der Konfliktfälle ist auf der inhaltlichen Ebene nicht zu leisten. Jeder Einzelfall besitzt seine Spezifika und Kontextbedingungen. In den Fallzusammenfassungen sind die als relevant erachteten Faktoren bereits gebündelt worden. An dieser Stelle soll, noch bevor die Zusammenhänge von Geschlecht und Konflikt thematisiert werden, der Aspekt tendenzieller Desintegration akzentuiert werden. Er durchzieht (fast) alle Konflikterzählungen, konstituiert sie maßgeblich mit und markiert die Grenzen der Herkunftsfamilien, welche von den Akteurinnen überwunden wurden. Versteht man unter sozialer Integration von Individuen „ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung“143, welches einzelne in die Lage versetzt, sich als zugehörig zu einer sozialen Gruppe zu definieren, so weisen die meisten Konfliktfälle im Verhältnis von Individuum und Herkunftsfamilie keine Balance auf. Vor dem Hintergrund des unverrückbaren Ziels des adeligen Familienerhalts fällt einerseits auf, daß die Autoritäten der Herkunftsfamilien häufig ungenügende Leistungen erbrachten, um den weiblichen Individuen eine Position in der Gesellschaft und die damit verbundene soziale Anerkennung zu sichern. Auch hierüber kam dem in der Forschung hochgehaltenen Wert „Familie“ geringe Wirkung zu.144 Als wirkungsmächtige Orientierungen der eigenen Lebensgestaltung erwiesen sich hingegen die Chiffren Arbeit, Liebe, Bildung. Andererseits fällt ebenso auf, daß der Verlust der familiären Bindung zu den nichtintendierten Folgen gehörte,

143

144

Anhut, Reimund, Die Konflikttheorie der Desintegrationstheorie, in: Bonacker (Hg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, S. 381–407, hier S. 381. Der von Anhut dargelegte akteurstheoretische Desintegrationsansatz geht davon aus, daß Desintegration die nicht eingelösten Leistungen von gesellschaftlichen Institutionen und Gemeinschaften markieren, dem einzelnen existentielle Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Unversehrtheit zu sichern. Zu den zu lösenden Aufgabenstellungen erfolgreicher sozialer Integration gehören auf der strukturellen Ebene die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, auf der institutionellen Ebene der Ausgleich konfligierender Interessen auf der Basis der Gleichwertigkeit, auf der personalen oder sozio-emotionalen Ebene die Herstellung emotionaler Beziehungen zwischen Personen zum Zweck von Sinnstiftung. Im folgenden orientiere ich mich an diesem Ansatz, nicht um dessen Kriterien zu erfüllen, sondern um die hier herausgearbeiteten Befunde zu ordnen. Zur Familie als Wert: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 47ff.

4.3. Zusammenfassung

327

ein vollständiger Bruch mit dem Herkommen insgesamt eher die Ausnahme darstellte und eine alternative Option wiederum die Familienbindung bestärken konnte. In den Lebensentwürfen scheinen die unterschiedlichen Grade der familiären Desintegration nicht angelegt gewesen zu sein. Folgt man der einfachen Überlegung, daß zum adeligen Familienerhalt (wie für die Existenz einer gesellschaftlichen Minderheit mit ungebrochenem Führungsanspruch insgesamt) eine größtmögliche Zahl integrierter Mitglieder keinen unbedeutenden Faktor darstellt, dann werden an den Konfliktfällen Probleme ersichtlich, die womöglich Indizien für neue Herausforderungen des Zusammenhalts seit der zweiten Jahrhunderthälfte waren. Die Adeligen präsentierten sich als Außenseiterinnen, d. h. der Konformitätsdruck, sich in den üblichen Räumen zu entfalten, scheint nach wie vor groß gewesen zu sein. Dennoch kämpften sie um die Realisierung ihrer Entwürfe. Und gerade weil es jenseits der Herkunftsfamilien gesamtgesellschaftliche Teilbereiche gab, in denen man sich mehr und minder existenzsichernd plazieren konnte, scheinen die Abweichungen von Modell „Normalbiographie“ zu gelingen. Mit der Existenz von Alternativen aber wird die Familienbindung zunehmend auf eine freiwillige Basis gestellt. Es hat den Anschein, daß es zu einer neuen Aufgabe werden konnte, solche familiären Bindungsverhältnisse zu erzeugen, die stärker auf soziale Akzeptanz abzielten, denn mit dem Mittel sozialer Ächtung drohten. Der Konfliktfall Ebner-Eschenbach: Womöglich war eine stabile Herkunftsfamilie (hier: materielle Sicherheit, landsässig, geregelte Erbfolge, unbestrittenes gesellschaftliches Ansehen) eher geneigt, alternative Optionen zu herkömmlichen Wegen eines ihrer Mitglieder zu akzeptieren. In diesem Fall fand das zunächst Verbotene (das Dichten) zumindest hinnehmende Akzeptanz durch die maßgebliche Autorität (Großmutter). Die Anerkennung des Schreibens durch den Cousin und künftigen Ehemann verweist darauf, daß das Beschreiten eines neuen Weges erleichtert wurde, wenn ein engeres Familienmitglied Unterstützung gewährte. Ein solcher sozialer und emotionaler Rückhalt scheint gute Voraussetzungen geschaffen zu haben, um Probleme innerhalb einer Familienbindung zu lösen. Stand das engere Familienmitglied zugleich für eine neue Wertorientierung (hier: Bildung), so war die Möglichkeit gegeben, sich innerhalb der Familie an einem Vorbild auszurichten. Mit Hilfe ihres künftigen Ehemannes gelang es der Akteurin, die Option „Schriftstellerin“ ohne den Verlust der Familienbindung durchzusetzen. Im Falle EbnerEschenbachs wird deutlich, daß das Spektrum des gesellschaftlich erlaubten Handelns im Horizont der erinnerten Herkunftsfamilie erweitert werden konnte, mithin, daß die Grenzen der Familie uneindeutig, gestaltbar und durchlässig waren. Der Konfliktfall Krane: Der Fall Krane legt nahe, daß eine Herkunftsfamilie, die nicht in der Lage war, ihren Mitgliedern die Zugänge zu den üblichen Gestaltungsräumen in einer konkreten Adelsgesellschaft zu sichern, damit rechnen mußte, daß einzelne Mitglieder nach ‚unstandesgemäßen‘ Wegen suchten und dies mit abnehmender Familienloyalität verbunden sein konnte. Ein anderes Problem zeigt sich auf der Ebene der „Harmonie in der Hierarchie“. Hier wurde nicht das patriarchale Ordnungsgefüge der Familie infrage gestellt, sondern dessen Tyrannei aufgezeigt. Im „Vertragsbruch“ zwischen Vater und mündiger Tochter wird deutlich, daß der Mißbrauch von Autorität nicht akzeptiert

328

4. Über die Grenzen der Familie

wurde und die Familienbindung von „oben“ her aufsprengen konnte. Des weiteren zeichnet sich ab, daß in einer Familie, in der ausschließlich auf ein Bild hin erzogen wurde, ohne diesen Stil durch emotionale, der Person geltenden Zuwendungen zu kompensieren, kaum ein Bewußtsein von sich selbst als ein sich zugehörig fühlendes Familienmitglied entstehen konnte. Der Konfliktfall Braun: Anders als bei Anna von Krane verfügte die Herkunftsfamilie auf der sozial-strukturellen Ebene über ausreichende Ressourcen, der Tochter eine Position in der Gesellschaft bereitzustellen. Stark geschwächt wurde die soziale Bindung durch ein anderes Problem. Es scheint, als ob die im Adel des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbreitete Bildungsdistanz in diesem Fall ihre desintegrative Wirkung entfaltete. Das um Bildung kreisende präsentierte Selbst ist isoliert und entfremdet sich hierüber seiner Herkunftswelt. In der Familie gab es kein generelles Verbot, sich im Selbststudium Bildungswissen anzueignen. Was sie allerdings verweigerte, war die Kommunikation mit und durch Bildung. Die nonverbale Nichtanerkennung des Selbst stärkte, ähnlich wie bei Ebner-Eschenbach, das Gespür für die eigene, abweichende Besonderheit und verringerte die Bereitschaft familiensolidarischen Handelns. Mit dem verweigerten Gespräch aber begab sich die Herkunftsfamilie um die Möglichkeit, Orientierungskrisen ihrer Mitglieder im Familiensinn zu lösen. Brauns Entwurfskonkretion zur feministischen Sozialdemokratin stand im schroffen Gegensatz zu herkömmlichen adeligen Lebens- und Vorstellungswelten. Dieser Fall verweist darauf, daß das ‚vernünftige‘ Kommunizieren moderner Ideen womöglich zu einer Herausforderung wurde, um zu starke Gegensätzlichkeiten im familiären Binnenraum zu vermeiden. Der Konfliktfall Salburg: Das Problem, welches die majoratsherrliche Kernfamilie nicht befriedigend lösen konnte, war die Sicherstellung der herkömmlichen Zukunftsperspektiven für die Kinder, weil sie sich selbst in einer unsicheren Position befand. Ähnlich wie im Fall Krane ist die soziale Beziehung des Gebens und Nehmens zwischen Familie und Individuum, welche das einzelne Mitglied verpflichtet, den Familienstatus durch das eigene Verhalten nicht zu beschädigen, durch die Kernfamilie aufgehoben.145 Der Fall Salburg unterstreicht nachdrücklich, welchen starken Einfluß die „gesellschaftliche Meinung“ (Norbert Elias) zur Adelsqualität auf die von ihr Betroffenen haben konnte, generationsübergreifend Individuen in ihrer Lebensqualität beeinträchtigte und Lebenswege mitformte. Das gesellschaftliche „Geschnittenwerden“, angeführt durch ein weibliches Mitglied der Herkunftsfamilie, trug nicht dazu bei, ein solidarisches Familienverhältnis zu entwickeln. Im Gegenteil: Die Gesamtfamilie wurde zum Feind und mit ihr der Salburg bekannte Adel. Die majoratsherrliche Kernfamilie scheint aufgrund ihrer prekären Stellung disponiert gewesen zu sein, in die Teilhabe an Bildung und Bildungswissen als Instrument der Kompensation, womöglich der Anpassung zu investieren. Sie begünstigte hierüber Salburgs alternative Option „Schriftstellerin“ außerordentlich, konnte sie aber nicht sinn145

Zum Geben und Nehmen zum Zweck der Sicherung von Familienstabilität vgl.: Matzerath, „dem gantzen Geschlechte zum besten“, S. 291–319.

4.3. Zusammenfassung

329

stiftend ummanteln. Trotz der Defensive blieb Sinn einzig auf den Familienbesitz gerichtet, aufgebaut um den Sohn und künftigen Majoratsherren. Ein Bewußtsein davon, daß der Erbe die gesellschaftliche Isolation letztlich schadlos überstehen wird, scheint Salburgs Ausschlußerfahrung verstärkt zu haben. Eine dauerhafte emotionale Bindung an die Kernfamilie, welche das Ich auf das „Ganze“ des Familienwohls hätte ausrichten können, scheint nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein. In den so verschiedenen Konfliktdarstellungen von Krane, Braun und Salburg fällt übergreifend auf, daß gestörte oder kaum vorhandene emotionale Beziehungen zwischen elterlichen Autoritäten und Töchtern stark dahingehend konnotiert sind, daß die vorgegebene Familienbindung keine hinreichenden Sinnbezüge bereitstellte, um der normativen Anforderung des pro familia gerecht zu werden. Hieraus scheint eine moralische Berechtigung erwachsen zu sein, der Herkunftsfamilie den Rücken zu kehren. Das heißt, die Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehungen im 19. Jahrhundert, in der Adelsforschung vor allem als Mittel der sozialen Kontrolle beschrieben146, zeigt sich hier als Anspruch auf Zuwendung und Aufmerksamkeit, deren Nichtrealisierung seitens der Autoritäten den Familienzusammenhalt gefährdeten. Trotzdem scheint die Abkehr von der Herkunftsfamilie auch aufgrund dieser nicht erbrachten Leistung unter hohem Legitimationsdruck gestanden zu haben. Das Schreiben über erfahrene familiäre Zumutungen stellte den adeligen Leitstern „Familie“ schlechthin infrage. In diesem Zusammenhang fällt auf: Die konkreten Entwurfsrealisierungen kommen nicht ohne einen umfassenderen sinnstiftenden Überbau als jenem der Familie aus. Man arbeitet für den Katholizismus, den Sozialismus, den Nationalismus. Religion wie Weltanschauung forderten vom einzelnen, was auch im Adel und seinen Familien ‚immer schon‘ gefordert wurde: Die Ausrichtung des Individuums auf ein kollektives Ziel, welches über es selbst hinausweist. Der Konfliktfall Dönniges: Für den Fall Ebner-Eschenbach wurde eingangs festgehalten, daß es der Akteurin gelingt, die Grenzen des gesellschaftlich erlaubten Handelns zu erweitern, diese mithin nicht festgelegt, sondern verhandel- und wandelbar waren. Im Fall Dönniges kann man durchaus generalisierend festhalten, daß ein öffentlicher Skandal eine eindeutige Grenzübertretung war. Im inneradeligen Geschlechterkampf war die „relative Positionierung des Geschlechts … Gegenstand höchster Aufmerksamkeit und steter Bemühungen“, welche trotzdem „schwer berechenbar und dynamisch“ blieb.147 Vor diesem Hintergrund bedrohte ein Skandal die soziale Position der Familie, die Ehre des Namens, die berufliche Position des Mannes außerordentlich und zog für das beteiligte Familienmitglied wohl unvermeidlich die Fahrt nach Amerika oder Afrika nach sich. Ob die Familie wegen eines Skandals dauerhaft Schaden nahm oder nicht, dürfte erheblich von den Reaktionen und Aktivitäten der „gesellschaftlichen Meinung“ abgehangen haben. Bestimmte sich das gesellschaftlich erlaubte Handeln danach, das 146

147

So etwa hat Heinz Reif dargelegt, daß das elterliche Mittel des Liebesentzugs einen herausragenden Beitrag zum Erhalt der Familienordnung insbesondere in den Umbruchsphasen zum 19. Jahrhundert leistete. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 291ff., S. 313f. Frie, Adelige Lebensweise, in: Conze / Wienfort, Adel und Moderne, S. 272.

330

4. Über die Grenzen der Familie

Familienansehen nicht zu schmälern, so zeigen die so unterschiedlichen Fälle EbnerEschenbach und Dönniges, daß das „Erlaubte“ nicht klar definiert war, sondern einem stillschweigenden Gespür folgte, das im Bewußtsein einzelner nicht präsent sein mußte. Es bedurfte erst einer Handlung (das erste Gedicht, das Kennenlernen eines Mannes) im Urteil anderer, um die eigenen Bestrebungen als regelwidrig zu erkennen. Und erst individuelle Handlungen dürften ein kollektives Gespräch über das „Unerlaubte“ jenseits des in der Erziehung allgegenwärtigen „Das tut man nicht!“ hervorgebracht haben. Nicht nur blieb die relative Positionierung einer Familie schwer berechenbar, auch das einzelne Familienmitglied stand vor dem Problem, eigene Bestrebungen ins Verhältnis zum „Unberechenbaren“ eines stillschweigenden Gespürs zu setzen. Zum Zusammenhang von Geschlecht und biographischen Konflikten: Die erzählerisch realisierten Optionen Schriftstellerin, Sozialdemokratin ordnen sich thematisch in das Gesamtgefüge autobiographischen Schreibens von Frauen um die Jahrhundertwende ein. Mit vielen Autorinnen dieser Zeit scheinen adelige Frauen die Gemeinsamkeit zu teilen, daß vorgegebene Lebenswege und Rollen nur noch bedingt tauglich waren, dem eigenen Leben Sinn zuzuweisen.148 Welche sozial-kulturellen Bedeutungen wiesen nun adelige Autobiographinnen der Geschlechtszugehörigkeit zu, bzw. welche Wirkungsmacht entfaltete die Kategorie Geschlecht in den erinnerten biographischen Konflikten? Beim Stand der geschlechtergeschichtlichen Adelsforschung kann eine zusammenfassende Antwort nur eine annähernde, Befunde hervorhebende, denn systematische sein. In der Frauen- und Geschlechtergeschichte wird die Auffassung vertreten, daß sich spätestens mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das polare Geschlechtermodell realitätsmächtig (sozial, rechtlich, mental, diskursiv) konsolidierte und zementierte. Die Geschlechterdifferenz, verstanden als hierarchischer Gegensatz zwischen den Geschlechtern, ordnete insonderheit bürgerliche Menschen in „Kulturfrauen“ und „Geschäftsmänner“. Angehörige des weiblichen Teils erfuhren diese Dualität zunehmend als Einengung. Aus dieser binären Logik heraus wurde mehr und minder konfliktreich nach Alternativen zur „Bestimmung“ gesucht.149 In der Adelsforschung hat Eckart Conze diese Auffassung auf vereinfachende und spezifische Weise übernommen: Unter Ausschluß der dieser Logik innewohnenden Dynamik und unter besonderer Berücksichtigung der die Geschlechter hierarchisierenden adeligen Familienordnung erscheinen Frauen als zweifache Opfer moderner, in der „Natur“ verankerter wie tradierter, im Besitz gründender Geschlechterverhältnisse.150 Obwohl es den Anschein hat, daß sich Geschlecht zu einer gesellschaftlichen Ordnungskategorie ersten Ranges entwickelt hatte, ist die vorliegende Untersuchung nicht davon ausgegangen, Geschlecht als zentrale Kategorie vorauszusetzen. Analysiert man biographische Konflikte adeliger Frauen nicht vorausset148 149

150

Vgl. Heinritz, Auf ungebahnten Wegen, S. 438–440. Vgl. Budde, Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft, bes. S. 265ff., Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“, bes. S. 133ff.; zu „Neuerungen“ allgemein vgl. die Beiträge des gleichnamigen Kapitels in: Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994. Vgl. Conze, Von deutschem Adel, S. 290ff.

4.3. Zusammenfassung

331

zungsvoll über die Dimension ‚Aufbruch aus der Häuslichkeit‘, sondern in Relation zur Gemengelage sozialer Anerkennungsverhältnisse, so sollte deutlich geworden sein, daß das Interpretament eines polaren Geschlechtermodells allenfalls ein Prokrustesbett hervorgebracht hätte, in welchem die konkreten Fälle gestreckt oder gezwängt zum Erliegen gebracht worden wären. Vielmehr zeigen die Einzelfälle, daß Geschlecht in die Konflikte unterschiedlich gewichtet eingelassen war, von den Akteurinnen verschieden gedeutet und problematisiert wurde und sich in Interdependenz mit anderen sozial-kulturellen Kriterien befand. Trotz aller Pluralität und Relationalität ist dennoch übergreifend festzustellen, daß keine der Autobiographinnen umhin kam, sich in den biographischen Konflikten nicht geschlechtlich zu positionieren. In Rede gesetzt und wahrgenommen als hierarchischer Geschlechtergegensatz wurden Bildung, Ausbildung, geistige Inferiorität und moralischgeistige wie ökonomische Selbständigkeit, männliche Macht und weibliche Pflichten, doppelte Sexualmoral. Im Medium der Autobiographik zeigen sich somit Spuren der Geschlechterdebatten des 19. Jahrhunderts, deren Stimmenvielfalt und Widersprüchlichkeit belegen, daß das polare Modell nie unumstritten hegemoniale Bedeutung beanspruchen konnte.151 Da Geschlecht nur innerhalb eines Kontextes Sinn erhält, verwundert es nicht, daß die Bedeutungszuschreibungen je nach Konflikterzählung verschieden waren. EbnerEschenbach etwa unterlief ganz unprätentiös das Ideal der Mütterlichkeit, indem sie von den Folgen generativer Reproduktion erzählte und sich selbst als erste Geistesproduzentin in die Reihe ihrer im Kindbett verstorbenen Mütter setzte. Krane zerstörte das Konstrukt der Überlegenheit des männlichen Verstandes, indem sie ihren Vater konsequent in seinen intellektuellen und psychischen Defiziten beschrieb, sich demgegenüber weiblichen Verstand zuschrieb, um sich auf diese Weise gegen die strukturelle Autorität „Vater“ zu behaupten. Braun, die „natürliche“ Geschlechterordnung am konsequentesten infrage stellend, verfing sich in eben jener „Natur“, indem sie ihr sexuelles Begehren als weiblichen Wunsch nach Unterwerfung artikulierte. Salburg kam ohne Rückgriff auf „Natur“ aus. Sie problematisierte die emotionale, soziale und ökonomische Zurücksetzung von Töchtern in Hinblick auf das ‚ewig männliche‘ Majoratsprinzip, machte aber auch auf die Fragilität majoratsherrlicher Macht aufmerksam. Dönniges nahm für sich wie für alle Frauen und Männer ohne eheliche Bindung das Recht auf sexuelle Freiheit und Gleichheit argumentativ in Anspruch, hierüber eine eindeutige Antwort auf Fragen an die herkömmliche Sexualmoral gebend, in deren Fallstricke sie selbst eingebunden war. Es ist nicht der Fall, daß Geschlecht als Kategorie hierarchischer Differenz keine Rolle gespielt hat. Auch sollte deutlich sein, daß diese Differenz nicht einheitlich gebraucht wurde, sondern von den Adeligen kreativ und widersprüchlich in die jeweiligen Belange ihrer erinnerten Konflikte eingearbeitet wurde. In keinem Fall würde die Ge-

151

Vgl. Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, S. 121ff.

332

4. Über die Grenzen der Familie

schlechterdimension allein hinreichen, um die biographischen Konflikte zu beschreiben und zu verstehen. Eine weitere übergreifende Gemeinsamkeit besteht darin, daß adelige Frauen die registrierten Geschlechterunterschiede in Hinblick auf ihre retrospektiven Lebensentwürfe als Hindernisse ihrer Realisierungen gedeutet haben. In der Spannung zwischen Erwartungen und Erfahrungen präsentierten sie ein Erfahrungswissen verschiedener sozialkultureller Ungleichheiten, Benachteiligungen, welche die prospektive und vorgestellte Handlungsfähigkeit der jeweiligen Akteurin bedrohten. Hierbei kam insbesondere den Geschlechterhürden Bildung, Ausbildung, Sexualmoral maßgebliche Bedeutung zu. Da die Entwürfe einen gewichtigen, aber nur einen Aspekt der biographischen Konflikte darstellten, fallen auch hier stärker Unterschiede auf. Einige Hervorhebungen: Auf Bildung bzw. Bildungswissen als Hürden griffen Ebner-Eschenbach und Braun zurück. Ebner-Eschenbach antizipierte ihren Willen am männlichen Bildungswissen teilzuhaben als unbotmäßige Weiblichkeit und das ihr zur Verfügung stehende Wissen als defizitär für eine erfolgreiche Schriftstellerinnen-Laufbahn. Die geschlechterdifferierende Bedeutung von Bildung wurde von der Autorin sparsamer verbalisiert als die Bedeutung von Bildung als männliche Generationendifferenz zwischen dem ‚alten Soldaten‘ und dem ‚jungen Gelehrten‘, zwischen Vater und künftigem Ehemann. Sich mit letzterem im Bildungsgleichklang präsentierend, wurde die Geschlechterhürde nicht aufgehoben, sie erscheint gleichsam durch Partnerschaft und Generationszugehörigkeit amalgamiert. Brauns Bildungsgebrauch war gegenüber Ebner-Eschenbachs expressiv, emphatisch und verbunden mit dem Ideal von Selbstvervollkommnung, Emanzipation und Fortschritt. Ihr Entwurf, eine „neue Welt“ mitzugestalten, ging mit der Ablehnung jedweder Gestaltungsmöglichkeiten von Frauen im Adel einher. Sie bedeuteten ihr nur mehr Zumutung, Diktat, Schicksal. Im Lichte hoher Ideale und großer Erwartungen gerierte auch der von ihr wahrgenommene Adel zu Handlungsunfähigkeit, wurde nicht nur Geschlecht, sondern auch die Herkunftsgruppe geordnet. Für Helene von Dönniges wurde nicht Bildung, sondern ihre angezweifelte Geschlechtsehre zu einer Hürde, deren Überwindung im sozialen Aus und im sozialen Neubeginn endete. Für Dönniges wurden Jahre der Berufstätigkeit zu Jahren der Herausforderung, aber ebenso der Überforderung. Weder sie noch ihr Ehemann waren es gewohnt, für die Sicherung der eigenen Existenz zu arbeiten. Dieser Fall verdeutlicht wie kein anderer, daß die Freisetzung aus Familienbindungen zu Neuorientierungen zwang, welche die Ent-Bindung als Verlust, weniger als Chance erscheinen ließ. Von einem Verlust konnte Anna von Krane beim Tod ihres Vaters nicht sprechen, eher von Befreiung. Als 20jährige durfte sie kein Studium der Malerei aufnehmen. Das väterliche Verbot zielte auf Geschlecht und Stand: Frauen brauchen keine Ausbildung, und aus Kunst macht man keine Profession. In der väterlichen Abhängigkeit blieb sie über Jahre ledige Haustochter. Die geschilderte Enge und Perspektivlosigkeit korrelierte mit ihrer marginalen Existenz in der lokalen Adelsgesellschaft, zurückzuführen auf das Verhalten der Familie. Auch Salburg besaß keine durch die Familie bereitgestellte gesellschaftliche Position, doch Eltern, die sich um Alternativen mühten. Bei Salburg trifft man deshalb nicht auf die in den anderen Fällen markierten geschlechtlich

4.3. Zusammenfassung

333

bedingten Benachteiligungen. Hier war es die prinzipiell männliche Erbfolge, die von ihr als Zurücksetzung erfahren wurde. Die Unterschiede verdeutlichen, daß Geschlecht als Kategorie hierarchischer Differenz keineswegs eine kohärente Gruppe „benachteiligte Adelsfrauen“ erzeugte. Zum einen wurden Geschlechterhürden um 1900 diskutiert, sozial verändert und aufgeweicht. Und adelige Autobiographinnen waren zumindest in einem abstrakten Sinn – sie präsentieren ihre Texte einem anonymen Publikum – am „Aushandeln“ von Geschlechterkonstruktionen beteiligt. Zum anderen sollte jeder einzelne Fall verdeutlicht haben, daß Geschlecht eine relationale Kategorie darstellte, welche die erinnerten Konflikte in ihrem Verlauf beeinflußte und kontextuell bedingte. Sie überschnitt sich und war verwoben mit anderen sozial-kulturellen Kriterien wie die Stellung in der Geschwisterfolge, das Unterordnungsverhältnis zu den elterlichen Autoritäten, die materielle (In)Stabilität der Familie, die gesellschaftliche Position und das damit verbundene Ansehen für jedes einzelne Familienmitglied. In diesem Geflecht konnte Geschlecht marginal oder dominierend wirken. Festzuhalten bleibt, daß Geschlechterdifferenzen auch ohne biographische Konflikte wirksam waren, biographische Konflikte adeliger Frauen um 1900 aber nicht ohne Einbeziehung der Geschlechterdimension erinnert werden konnten.

5.

Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Maria Gräfin von Linden wurde 1869 auf Schloß und Familiensitz Burgberg in der Schwäbischen Alb geboren. Von 1883–1887 war sie Schülerin des Victoria-Pensionats in Karlsruhe, einem der angesehensten Institute der höheren Töchterbildung. Nach häuslicher Vorbereitung legte Linden 1891 das Abitur ab. Von 1892 an studierte sie an der Universität Tübingen Naturwissenschaften und schloß mit der Promotion ab. Zunächst Assistentin ihres Doktorvaters und Zoologen Theodor Eimer wechselte sie 1899 an das Hygiene-Institut in Bonn und übernahm dort ab 1908 die Leitung des Parasitologischen Instituts. 1910 erhielt sie eine außerordentliche Professur an der Universität Bonn. So außerordentlich wie die Professur war auch die berufliche Laufbahn der Gräfin, insofern Frauen im Kaiserreich erst ab 1900 zum regulären Studium zugelassen wurden und akademische Berufswege einschlagen konnten.1 Linden schrieb ihre Lebenserinnerungen 1929, die durchaus vom Bewußtsein des Außerordentlichen getragen sind. Heiter und nonchalant im Stil, doch stringent in der Form erzählt der ich-zentrierte Text eine lineare, bruchlose Erfolgsgeschichte von der Wiege bis zur Promotion, in der das erzählte Ich in allen Dingen „über das Schema F triumphierte“.2 Die Bruchlosigkeit der Erzählung wird nicht zuletzt dadurch hergestellt, daß das erzählte Ich im Horizont eines guten, gelingenden Lebens einen konkreten Zukunftsplan entwirft, den es zielstrebig und entschieden verfolgt und für diesen von relevanten Anderen Unterstützung erfährt. Es waren Lehrerinnen und Lehrer, welche die Gräfin insbesondere in ihren naturwissenschaftlichen Interessen förderten, und so bilanziert sie die Jahre im Mädchenpensionat: „[H]ier hatte ich klar erkannt, wo mein Lebensglück zu finden sei.“3 Sie hatte keinesfalls die Absicht, „in den Hafen der Ehe

1

2 3

Vgl. Huerkamp, Claudia, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996. Zur wissenschaftlichen Laufbahn Lindens vgl.: Junginger, Gabriele, Maria Gräfin von Linden. Eine Wissenschaftlerin ist ihrer Zeit voraus, in: Maria Gräfin von Linden. Erinnerungen der ersten Tübinger Studentin, hrsg. von Gabriele Junginger, Tübingen 1991, S. 11–19. [= Linden (1929 / 1991)] Linden (1929 / 1991), S. 28. Ebd., S. 74.

336

5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

einzulaufen“, sondern ihr Ziel war darauf gerichtet, sich „an dem Busen einer Alma mater zu bergen“.4 Linden ist die einzige Autobiographin, die sich dezidiert gegen eine Ehe ausspricht. Ihre gewollte Ehelosigkeit begründet sie zum einen damit, „durch eigene Kraft … unabhängig und selbständig [zu] werden“, zum anderen mit einem intellektuellen Sonderbewußtsein: Es seien „einzelne Individuen …, deren erste und gewiß auch höhere Pflicht es ist, das Vordringen auf geistigem Gebiet zu ihrer Lebensaufgabe zu machen.“5 Obwohl Lebensentwurf und Individualgeschichte einige Ähnlichkeiten mit denen der Außenseiterinnen aufweisen, kam es nicht zu einem biographischen Konflikt. Linden sah sich nicht als Außenseiterin, sondern als eine Person, die eine Pionierarbeit leistete.6 Familiäre Widerstände waren hier der familiären Bereitschaft, Lindens „Lebensglück“ materiell und ideell zu fördern, nachgeordnet. Lindens Individualgeschichte ignorierte selbstbestimmt hergebrachte Muster weiblicher Ehelosigkeit im Adel und war dennoch nicht mit Ausschlußerfahrungen verbunden, die einen Ausbruch aus vertrauter Adelswelt hätte nach sich ziehen können. (Auto)Biographie und berufliche Laufbahn der Gräfin mochten im Konkreten außerordentlich gewesen sein, dennoch ruhten sie auf einem sich im 19. Jahrhundert vollziehenden Wandel von Lebensperspektiven lediger Frauen im Adel. Das Außerordentliche war eingebettet in einen Prozeß, der an der Wende zum 20. Jahrhundert als Übergang von einer tradierten zu einer neuen Bindung sichtbar wurde. Das ist das Thema des folgenden Teils und zugleich dessen These, die am Beispiel eines traditionellen, adelskonformen Ortes adeliger Frauen, einem freiweltlichen Damenstift, plausibilisiert werden soll.

5.1. Gegenstand und Vorgehen Autobiographinnen, die wie Linden nicht geheiratet hatten, schrieben nicht von gewollter Ehelosigkeit. Auch war der Status der Ledigen kaum Gegenstand expliziter Reflexion. Zwar gehörten ehelose Frauen (und Männer) zur adeligen Familiennormalität im Sinne einer Regelhaftigkeit. Heinz Reif etwa hat diese hervorgehoben und betont, daß der geforderte Heiratsverzicht zu den familialen Strategien der Statussicherung gehörte.7 Doch scheint die von Töchtern und Söhnen geforderte Verzichtsleistung wenig Wertschätzung erfahren zu haben. Zumindest war die faktische Existenz eheloser Frauen nicht im nor4 5 6 7

Ebd., S. 52. Ebd., S. 83–86, zit.: S. 83 und S. 99. Vgl. ebd., S. 100, S. 125. Enge Heiratskreise (einerseits aus Gründen der Exklusivität, andererseits zum Zweck der Güterzentrierung) konnten dazu führen, daß zu wenige ebenbürtige Ehekandidaten zur Verfügung standen. In solchen Fällen wurde ein Heiratsverzicht nahegelegt, gefordert. Drohte dem Familienbesitz Gefahr, wurden alle finanziellen Ressourcen zu seinem Erhalt benötigt. Dazu gehörte der Brautschatz der Töchter, aber ebenso die Ausbildungskosten nachgeborener Söhne. Der Besitzerhalt begründete ebenfalls Ehelosigkeit. Vgl. Reif, Heinz, „Erhaltung adeligen Stamms und Namens“, S. 275–309.

5.1. Gegenstand und Vorgehen

337

malbiographischen Leitbild der Mutter, Ehefrau, Herrin und Gesellschaftsdame, das Normalität und Norm der Ehe zur Voraussetzung hatte, aufgehoben. Das mochte eine Identifikation mit dem eigenen Status erschwert haben. Hinzu trat das Zerrbild der alten Jungfer, das nicht nur im Bürgertum verbreitet war, sondern auch im Adel seinen Widerhall, erinnert sei an die Furcht vor einer Mauerblümchen-Existenz auf Bällen, fand.8 Die zurückhaltende Artikulation lediger Autobiographinnen dürfte die Interpretation von Leonore Davidoff und Kolleginnen stützen, wonach diese eine Unsicherheit in der Wahrnehmung der eigenen Position als Ledige anzeigt. Einerseits wurden ehelose Frauen in den Zusammenhängen von Kernfamilie und Verwandtschaft gebraucht, andererseits definierte die herrschende Eheideologie sie vorrangig über den Mangel an Familie, wurden Ledige „als Randständige der Gesellschaft betrachtet“.9 Ledige Autobiographinnen, abgesehen von Gräfin von Linden, präsentierten sich vordergründig als Erzieherinnen, Schriftstellerinnen und im Amt der Hofdame oder als Oberin eines Krankenhauses. Hintergründig lebten sie familiengebunden in der häuslichen Unterstützung ihrer Angehörigen oder gehörten zum ‚Hilfstrupp der Tanten‘, der ausrückte, wann immer Familien diesen benötigten. Ledige lebten demnach in den gleichen adelskonformen Räumen wie Ehefrauen, nur war ihre Position in diesen nach Amt und Familienstand von denen der Ehefrauen verschieden. Von Interesse ist nun, daß Ledige auf tradierte Angebote wie Tante, Erzieherin, Hofdame zurückgriffen, doch von der traditionellsten der tradierten Möglichkeiten, nämlich dem Eintritt in ein Stift, keinen Gebrauch machten. Das irritiert umso mehr, als daß das Stiftsleben (wie das Hofleben) eine eigenständige, im Vergleich zum Tanten- oder Erzieherinnen-‚Sein‘ familienunabhängige Existenzform darstellte, die doch gewiß auch attraktive Seiten besaß. Auch muß Ende des 19. Jahrhunderts noch Bedarf an Stiften bestanden haben. Im „Handbuch der Damen-Stifter“ von 1893 sind ca. 90 Einrichtungen auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreiches zu zählen. Über den Verwendungszweck äußerte sich der Verfasser: „Die Nachrichten über die inneren Verhältnisse der Damenstifter, …, dürften die Wirkung haben, dem, in Folge Unkenntnis der Bestimmungen, häufig masslosen Andrange Unberechtigter vorzubeugen.“10 Im folgenden wird es nicht möglich sein, solche im Handbuch genannten „inneren Verhältnisse“ facettenreich und dicht zu beschreiben. Das liegt zum einen am Forschungsstand, den es zu Damenstiften im 19. Jahrhundert nicht gibt. Zwar hat sich etwa Walter Demel 1990 verwundert darüber geäußert, daß ein solches Stift bis ins 20. Jahrhundert hinein existierte und attestiert, dies sei „ein Fall erstaunlicher Überlebenskraft einer Einrichtung des Alten Reiches und anscheinend nicht die

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Zu Lebens-, Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen von Ehelosigkeit im Bürgertum vgl. grundlegend: Kuhn, Bärbel, Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850– 1914), Köln u. a. 2000. Davidoff, Leonore / Doolittle, Megan / Fink, Janet / Holden, Katherine, Das Paradox der Familie im historischen Kontext, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 358–382, bes. S. 372–374, zit.: S. 372. Gritzner, Maximilian, Handbuch der bestehenden Damen-Stifter, Frankfurt a. M. 1893, S. IV.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

einzige“.11 Doch folgten seiner formulierten Verwunderung keine Untersuchungen, die zum Beispiel nach dem Stift als Lebensform oder nach seinem Funktionswandel auf dem Weg in die Moderne gefragt hätten.12 Das hier vorzustellende freiweltliche Stift, das von Gottfried von Jena 1702 gestiftet wurde und von 1703 bis 1974 in der Stadt Halle (heute: Sachsen-Anhalt) existierte, folgt denn auch keinem anderen Kriterium als dem Interesse an ledigen Frauen im Adel und dem freundlichen Hinweis einer ebenfalls interessierten Person, es zu diesem Zweck im Archiv dieses Stiftes zu versuchen. Die vorgefundenen Archivalien waren nicht aussagekräftig genug, um eine wohl vorhandene, aber von ledigen Autobiographinnen nicht mehr favorisierte Lebensform zur Darstellung zu bringen. Dies ist der andere Grund, warum die „inneren Verhältnisse“ eines Stiftes nicht dicht zu beschreiben sind. Die Archivalien sind in der Hauptsache die Stiftungsurkunde von 1702, die Personalverzeichnisse der Stiftsdamen und Stiftsanwärterinnen (Expektantinnen) von 1703 bis 1948 und persönlich verfaßte Lebensläufe von 1860 bis 1891 geborenen Frauen, mit 11 12

Demel, Walter, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871, S. 140. Zwar widmet Christa Diemel in ihrer Arbeit Stiften und Stiftsdamen einige Seiten. Doch diese unterstreichen vor allem das Desiderat: Es hat im 19. Jahrhundert adelige Damenstifte gegeben, aber es gibt zu diesen keine Forschungsfragen. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 56–68. – Einige Anmerkungen und Verweise zur Forschungslage: Die deutsche Historiographie zum Kloster- und Stiftswesen beschreibt eine Geschichte vom Frühmittelalter bis zum Ende der Frühneuzeit. Es ist eine Geschichte von hochmittelalterlicher Blüte zu spätmittelalterlicher Krise, vom Niedergang zu Zeiten der Reformation, hin zur Beförderung ins historische Aus durch Ergebnisse napoleonischer Feldzüge. Dieses Interpretationsmuster meint gemeinhin den sukzessiven Bedeutungsverlust in geistig-kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Zu diesem Prozeß – schlußendlich unter die Begriffe Säkularisierung und Mediatisierung gefaßt worden – ist anzumerken, daß sich nur wenige Einzeldarstellungen zu Stiften und Klöstern mit der nachreformatorischen Zeit beschäftigen. Vgl.: Schulze, Hans Kurt, Das Stift Gernrode, Köln / Graz 1965; Pape, Rainer, Sancta Herfordia, Geschichte Herfords von den Anfängen bis zur Gegenwart, Herford 1979; Goetting, Hans, Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, Berlin / New York 1973; Gampl, Inge, Untersuchungen zur Entstehung adeliger Damenstifte in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der alten Kanonissenstifte Deutschlands und Lothringens, Wien / München 1960; Theil, Bernhard, Das (freiweltliche) Damenstift Buchau am Federsee, Berlin / New York 1994; Hankel, Hans Peter, Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte im Alten Reich und ihr Ende, Frankfurt a. M. u. a. 1996; Küppers-Braun, Ute, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605–1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie, Münster 1997; Dose, Hanna, Evangelischer Klosteralltag. Leben in Lüneburger Frauenkonventen 1590–1710, untersucht am Beispiel Ebsdorf, Hannover 1994. – Hervorzuheben ist die Monographie von: Meier, Marietta, Standesbewußte Stiftsdamen. Stand, Familie und Geschlecht im adligen Damenstift Olsberg 1780–1810, Köln u. a. 1999. Meier versteht ihre Arbeit als Beitrag zur Familien-, Geschlechter- und Adelsgeschichte. Im Mittelpunkt ihrer sozialhistorischen Untersuchung steht die Auseinandersetzung des Adels mit dem politischen und gesellschaftlichen Strukturwandel am Ende des Alten Reiches, d. h. Auseinandersetzungen der Stiftsdamen mit Adel, Hof, Bürgertum und Dorfbevölkerung um 1800. Vor dem Hintergrund bisheriger Stiftsgeschichtsschreibung setzt diese Arbeit neue Maßstäbe, deren Fragestellungen (vorausgesetzt man verfügt über eine entsprechende Quellenlage, die im vorliegenden Fall nicht gegeben ist) auch für das 19. Jahrhundert von Interesse sind.

5.1. Gegenstand und Vorgehen

339

denen sie sich um eine Aufnahme ins Stift bewarben. Die Archivalien eignen sich nicht für die Analyse subjektiver Bedeutungsgefüge, sondern sind Quellen, die Einblicke in die normative Verfaßtheit des Stiftes geben, und mit denen man vor allem den Funktionswandel der Einrichtung aufzeigen kann. Die vormoderne Institution des Stiftes, mit der adelige Familien ihre ehelosen Töchter standesgemäß versorgten, wandelte sich zu einem Altersheim an der Wende zum 20. Jahrhundert, d. h. zu einer Institution im heraufziehenden Wohlfahrtsstaat. Dieser Funktionswandel, das wird zu zeigen sein, hing sehr eng mit dem Wandel der Lebens(ver)läufe lediger Frauen in diesem Zeitraum zusammen. Das heißt, es änderten sich die nicht vom Subjekt intendierten Lebensperspektiven, wann was in einem Lebenslauf zu geschehen hatte, die grundlegend das für Subjekte normalbiographisch Erwartbare mitkonstituierten. Die Erklärung und Deutung des Wandlungsprozesses erfolgt zurückhaltend auf der Folie soziologischer und sozialhistorischer Lebens(ver)laufs- und Biographieforschung. Hiernach ist der moderne Lebenslauf durch seine Vorhersehbarkeit, d. h. durch seine Institutionalisierung und die Erwartbarkeit eines längeren Lebens gekennzeichnet. Die Veränderungen weiblicher Lebens(ver)läufe in der Moderne werden vor allem im Zusammenhang mit dem Wandel von Bildung, (Erwerbs) Arbeit und Familie betrachtet.13 Um den Funktionswandel des Stiftes und den Wandel von Lebens(ver)läufen resp. Lebensperspektiven deutlich zu machen, ist es notwendig, anhand der Quellen ins 18. Jahrhundert zurückzublenden, als auch in das zweite und dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vorauszuschauen. Am Beginn der Darstellung stehen einige grundlegende Bemerkungen zu Stiften, Klöstern und Frauen, welche die Gründung des Jena-Stiftes am Anfang des 18. Jahrhunderts historisch kontextualisieren sollen. Im Anschluß erfolgt die Analyse des Wandels. Diese wird von einem Exkurs begleitet, der die Individualgeschichte einer ledigen Autobiographin vorstellt. Zwar war im 19. Jahrhundert nicht jede Ledige eine Stiftsdame, doch jede Stiftsdame im Jena-Stift war ledig. Aufgrund der Quellensituation arbeitet der Exkurs solche mit dem Ledigen-Status verbundenen Probleme heraus, die womöglich für ehelose Frauen nicht exemplarisch waren, aber doch eine andere Möglichkeit der Selbstbezugnahme aufzeigen, als die hier vorangestellte, bruchlose Erfolgsgeschichte der Gräfin von Linden. Nicht zuletzt stellt die Einbeziehung des Exkurses den bescheidenen Versuch dar, die bisher in dieser Arbeit dominierende kulturhistorisch orientierte Betrachtungsweise mit der nunmehr quellengeneriert erforderlichen sozialhistorischen Betrachtung, die doch recht entwicklungszentriert ausfällt, zu verbinden.

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Vgl. Dausien, Biographie und Geschlecht, S. 13–43; Hareven, Tamara K., Familiengeschichte, Lebenslauf und sozialer Wandel.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

5.2. Klöster, Stifte, Frauen – die Gründung des Jena-Stiftes (1703) im historischen Kontext Um das Jena-Stift ins historische Licht zu rücken, ist zunächst zu erläutern, worin sich das Stift als Institution religiösen Charakters vom Kloster unterschied. Auch muß angerissen werden, welche Bedeutung Stifte und Klöster für adelige Frauen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit haben konnten. Im Anschluß ist es dann möglich, die Gründung des Stiftes im Jahre 1703 in einem spezifischen Kontext vorzustellen. Gemeinsam ist Klöstern und Stiften, daß sie in der Regel von einer Rechtsperson gegründet oder gestiftet wurden. Als Gründer / Stifter betätigten sich begüterte Adelige bzw. Adelsfamilien, der Kaiser, manchmal auch Bischöfe. Klöster wie Stifte wurden von Anbeginn mit kontinuierlichem Grundbesitz dotiert. Viele Einrichtungen übten demnach die Grundherrschaft aus und bezogen ihre Einkünfte maßgeblich aus den jeweiligen Gütern. Beide Institutionen waren generell unabhängig, wenn sie nicht sowieso im Eigentum der Gründerfamilie – Stichwort Eigenkirchenwesen – verblieben. Der autonome Status mußte jedoch im Mittelalter, in dem eine Vielzahl komplizierter Abhängigkeitsverhältnisse existierte, nicht sonderlich viel bedeuten. Aus diesem Grund strebten Klöster und Stifte nach päpstlicher und / oder Reichsunmittelbarkeit. Wurde dieser Status erreicht, unterstanden sie direkt dem Papst bzw. dem Kaiser und genossen relative Immunität gegenüber den Zwischengewalten.14 Personell besetzt waren Klöster wie Stifte vornehmlich mit Angehörigen des Adels, wobei die Adelszugehörigkeit bei Stiften dringlicher eingefordert wurde als bei Klöstern.15 Während beide Institutionen äußerlich große Gemeinsamkeiten aufwiesen, unterschieden sie sich inwendig wesentlich in den Normen der Lebensführung.16 Wer in ein Kloster eintrat, legte das Gelübde ab, sein – nunmehr zölibatäres – Leben Gott zu weihen. Er wurde auf eine gemeinsame asketische Lebensführung verpflichtet (vita communis), was auch bedeutete, Privateigentum in die Klostergemeinschaft einfließen zu lassen und darauf keinen individuellen Anspruch erheben zu können (persön14

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Beispiel: So war eine vollgültige Rechtsperson an die Funktion der Wehrfähigkeit gebunden. Aus verschiedenen Gründen besaßen Mönche, Frauen und Bauern diesen Status nicht. Deshalb übten Vogteien – in der Hand Adeliger – Schutzfunktionen über Stifte und Klöster aus. Unter anderem vertraten sie diese in weltlichen Angelegenheiten vor Gericht oder gegenüber anderen Rechtspersonen. Gleichzeitig besaßen Vögte bestimmte Rechte bezüglich der inneren Angelegenheiten von Stiften / Klöstern, z. B. das Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung der Äbtissin. Aus der Schutzfunktion konnte massive Einmischungspolitik werden. Immunität befreite nicht von der Schutzherrschaft, stärkte aber die Rechte der Klöster und Stifte gegenüber den Vögten. Stiftsfähigkeit war zumeist an den Nachweis der Ahnenprobe gebunden. Eine soziale Öffnung nach „unten“ ist bei den Klöstern der Bettelorden zu beobachten. Die Beghinenkonvente werden beispielsweise als Alternative für nichtadelige Frauen diskutiert.Vgl. Weimann, Ute, Mittelalterliche Frauenbewegungen. Ihre Beziehungen zu Orthodoxie und Häresie, Pfaffenweiler 1990, S. 175–207. Die Differenzen mußten nicht unüberwindlich sein. Die historische Entwicklung einzelner Einrichtungen zeigt z. B. Umwandlungsprozesse von Klöstern zu Stiften und umgekehrt. Vgl. Theil, Das (freiweltliche) Damenstift Buchau; Gampl, Adelige Damenstifte, S. 25–34.

5.2. Klöster, Stifte, Frauen – die Gründung des Jena-Stiftes (1703)

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liches Armutsgebot). Die ideale Lebensform bestand im Rückzug von der Außenwelt (Klausur) und der Ausrichtung des Alltags auf liturgische Abläufe (Fürbittengebete, Totengedenken, geistliche Gesänge). Monastische Lebensführung wurde durch Befolgen einer „ordo“ geregelt. Viele Klöster orientierten sich an der benediktinischen Regel, die den Grundsatz „ora et labora“ vorschrieb.17 Der Eintritt in ein Stift bedeutete, in eine freiere christliche Gemeinschaftsform als die klösterliche einzugehen. Weder wurde ein Gelübde verlangt noch die Klausur vorgeschrieben. Stiftsangehörige konnten verreisen oder an Geselligkeiten teilnehmen. Privatvermögen wurde innerhalb und außerhalb des Stiftes gestattet. Der Austritt, zumeist aus Heiratsgründen, war unproblematisch. In der Ausübung des Chordienstes an der jeweiligen Stiftskirche bestand die einzige und eigentliche geistliche Aufgabe. Damenstifte waren fast immer freiweltliche Institutionen, d. h. frei von vorgeschriebener „ordo“ und monastischen Satzungen.18 Im Zuge der Reformation wurden die meisten Klöster in Mittel- und Nordostdeutschland aufgelöst bzw. in freiweltliche Stifte umgewandelt. Bereits existierende Stifte wurden im Sinne des neuen Glaubens reformiert. Klöster und Stifte galten dem Adel traditionell als Versorgungseinrichtungen für unverheiratete Töchter. Der Hochadel besetzte insbesondere die Stellen der reichsunmittelbaren Damenstifte, während der niedere landsässige Adel auf die Einrichtungen seiner Region zurückgriff. Daß von über 200 niedersächsischen Klöstern 15 Frauenklöster die Reformation ‚überlebten‘, läge nicht zuletzt daran, so Hanna Dose, daß „der landsässige Adel ein starkes Interesse am Fortbestehen der Klöster [hatte], da er diesen seit Anbeginn als einzig standesgemäßen Versorgungsinstitutionen für seine unverheirateten Töchter reiche Zuwendungen gemacht hatte.“19 Der Landesherr konnte es sich „nicht leisten, die Klöster gegen den Willen des Adels zur Sanierung der Staatskasse aufzulösen, …“20 Neben dem Versorgungsaspekt gilt außerdem, daß Klöster und Stifte bis ins 18. Jahrhundert die einzige Möglichkeit für Mädchen boten, sich außerhalb der Familie Bildung anzueignen. Zugleich waren sie ein Ort der Erziehung, in welchem Töchter auf ihre künftige (hoch)adelige Stellung vorbereitet wurden.21 Namen wie Hrotsvith von Gandersheim, Hildegard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg bezeugen den hohen Bildungsstand von Nonnen und Stiftsdamen im Mittelalter. Viele Stifte und Klöster richteten Schulen ein. Aufnahmebedingungen waren an adelige Herkunft oder elterliche Finanz-

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Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Stichwort „Kloster“, S. 1218–1223. Einen guten Überblick bietet Gampl, Adelige Damenstifte. Dose, Evangelischer Klosteralltag, S. 17. Ebd. Vgl. allg.: Kleinau, Elke / Opitz, Claudia (Hgg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt / New York 1996. Ein konkretes Beispiel bietet: Wolff, Kerstin, Öffentliche Erziehung für adelige Töchter? Stiftsideen in Sachsen-Gotha nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Geschichte des sächsischen Adels, hrsg. v. Katrin Keller u. Josef Matzerath, Köln u. a. 1997, S. 275–289.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

kraft gebunden, so daß die Konventualinnen zumeist Mädchen des eigenen Standes unterrichteten.22 Mit Blick auf katholische Hochadelsstifte im 17. / 18. Jahrhundert betont Ute KüppersBraun das Stift als Sozialisationsort, der vor allem standesgemäßes Verhalten vermitteln sollte.23 Zu diesem Verhalten gehörten Gehorsam, Disziplin und Beherrschung der Gefühle. Um diese Eigenschaften zu erlernen, warteten katholische Hochadelsstifte mit einem besonderen Initiationsritual für die Neuankömmlinge (ca. 16 Jahre) auf. Bevor sie zu vollgültigen Stiftsdamen erklärt wurden, mußten sie die einjährige „stricte Residenz“ absolvieren. Während den Stiftsdamen die Ausübung des Chordienstes freigestellt war und es ihnen freistand, ein geselliges, müßiges, reisendes Adelsleben zu führen, waren die Residentinnen zu steter Anwesenheit verpflichtet und trugen die Verantwortung für die stiftseigene Aufgabe. – Chordienst hieß, sich fünfmal täglich, tagein, tagaus in der Stiftskirche einzufinden, um dort gregorianische Gesänge mit Andacht zu singen, die dazu nötigen Lateinkenntnisse zu erlernen und für Gott und Verstorbene zu beten. Erst nach guter Führung und Jahresfrist galten Residentinnen als „emancipirte“ Stiftsdamen. Danach stand hochadeligem Leben innerhalb und außerhalb des exklusiven Stiftes nichts mehr im Weg. Einem hochadeligen Damenstift anzugehören bedeutete gesellschaftliches Ansehen. Einem hochadeligen und reichsunmittelbaren Stift anzugehören bedeutete noch größeres Ansehen und konnte nur noch dadurch gesteigert und um Macht und Herrschaft bereichert werden, wenn man das Amt der Äbtissin innehatte. Diese trug den Titel Fürstin oder Fürstinäbtissin und regierte als Landesherrin über den Territorialbesitz des Stiftes. Aus diesem Grund waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vierzehn Damenstifte im Reichstag vertreten. Sie gehörten den geistlichen Reichsständen, konkret dem Reichsprälatenkollegium, an.24 Da Frauen keinen Zugang zum Reichstag hatten, sendeten die Äbtissinnen Beauftragte zu den Sitzungen. Auf diese Weise wurde dem Novum weiblicher Mitglieder Rechnung getragen.25 Mit der Aufhebung der reichsunmittelbaren Damenstifte im Jahre 1803 (Reichsdeputationshauptschluß) bzw. den Folgejahren bis 1810 verloren die Fürstinäbtissinnen ihre landesherrlichen Herrschaftsrechte und hochadelige Frauen eine exklusive Institution.26 Zwar regierten die Fürstinäbtissinnen über sehr kleine Territorien, doch immerhin. Mit der territorialen Neugliederung der Gebiete des Alten Reiches verschwanden die letzten legitimen weiblichen Landesherren.27 22 23 24 25 26 27

Zu konkreten Aufnahmebedingungen, Lehrinhalten usw. vgl. Dose, Evangelischer Klosteralltag, S. 230–243. Küppers-Braun, Ute, Katholische Hochadelsstifte als Orte weiblicher Sozialisation im 17. und 18. Jh., in: Kleinau / Opitz (Hgg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1, S. 207–217. Vgl. Hankel, Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte, S. 18–29. Vgl ebd., S. 29. Für eine differenzierte Betrachtung vgl. ebd., S. 15–17, S. 99–109 und S. 209–214. Zum herrschaftlichen und dynastischen Handeln adeliger Frauen, u.a. auch hochadeligen Stiftsdamen, vgl.: Wunder, Heide (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002.

5.2. Klöster, Stifte, Frauen – die Gründung des Jena-Stiftes (1703)

343

Das „freye weltliche adeliche Stifft“28 in Halle war eine nachreformatorische Neugründung auf protestantischem Gebiet und ist weder eine reichsunmittelbare (geschweige denn papstunmittelbare) noch hochadelige Institution gewesen. Damit gehörte es von Anbeginn zu den kleinen, glanz- und machtlosen Stiften, religiös ausgerichtet und zur Töchterversorgung gedacht. Der Eröffnung des Stiftes im Jahre 1703 gingen übliche Grundlegungen voraus. Der Stifter war in Person Gottfried von Jenas (1624–1703), Kanzler des Herzogtums Magdeburg, gegeben.29 Er stattete das künftige Stift mit seinem Wohnhaus, einer halben Hufe Land und einem Grundkapital von 46 000 Thalern aus.30 Des weiteren bestimmte er den Landesherren, den König von Preußen, als Schutzherren über das Stift. Stiftung und Schutzherrschaft wurden anschließend vom König rechtskräftig anerkannt.31 Für den Zeitpunkt der Gründung sind zwei Besonderheiten festzuhalten: 1. Die Neugründungen des 18. Jahrhunderts gingen oft auf den jeweiligen Landesherren zurück oder zunehmend auf adelige „Interessengemeinschaften“. Die Einzelperson „Stifter“ wurde seltener, hatte aber den unbedingten Vorteil, daß sich das Stift in Streitfällen nur mit der Stifterfamilie, nicht aber mit mehreren Instanzen auseinandersetzen mußte.32 2. Das Jena-Stift gehörte zu den wenigen Stiften des 18. Jahrhunderts, die den Zutritt bürgerlicher Frauen in der Verfassung festschrieben33: „… auff dem Fall aber, da keine Adeliche oder Bluts-Freunde sich anmelden oder vorhanden, mögen auch Jungfrauen Vornehmen Bürgerlichen standes, …, auff eben die Conditiones, wie die Adeliche in dieses freye weltliche Stifft aufgenommen werden.“34 Diese Möglichkeit wurde jedoch erst an der Wende zum 20. Jahrhundert und sehr selten genutzt.35

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Stiftsarchiv der Domgemeinde (nachfolgend abgekürzt: StArch), Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, Stiftungsurkunde 1702, § 1. Gottfried von Jena stammte aus alter hallescher Pfännerfamilie, die Erhebung in den Adelsstand erfolgte 1492. Vor seiner politischen Laufbahn war v. Jena Rechtsprofessor in Heidelberg und Frankfurt / O. In mehreren politischen Ämtern für Brandenburg-Preußen unterwegs, wurde er 1674 zum Mitglied des Geheimen Rats in Berlin ernannt. 1687 übernahm er die Verwaltung des Herzogtums Magdeburg, das 1680 von Sachsen an Brandenburg-Preußen ging. Vgl. Adelslexikon, Band VI., S. 38. [Genealog. Hb. des Adels, Bd. 91 der Gesamtreihe]; Gabriel, Martin, Die reformierten Gemeinden in Mitteldeutschland, Witten 1973, S. 90f. und Anm. 299. Vgl. StArch, Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, Stiftungsurkunde 1702 und ebd., Vol. IV, Nr. 1, Das Vermächtnis von 46 000 Th. „Wir und unsere Nachkommen, Könige in Preußen, als Hertzogen zu Magdeburg, wollen auch dieses freye jungfräuliche Stift dabey jederzeit allergnädigst schützen, handhaben und erhalten, wie Wir dann zugleich Unserer Magdeburgischen Regierung hiermit allergnädigst anbefehlen, solches an Unsererstatt gleichfals zu thun, … Friderich R.“ – Die Bestätigung der Stiftsgründung in: StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr.1, Fundation und eine Kopie ders. in: StArch, o. Sgn., Alte Briefe 1826. Vgl. Gampl, Adelige Damenstifte, S. 44f. Vgl. Gritzner, Handbuch der Damenstifter. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, Stiftungsurkunde 1702, § 1. Vgl. Anh., Tab. 5, Stiftsfräulein bürgerlicher oder z. T. bürgerlicher Herkunft.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Im Verlauf seiner 271jährigen Existenz ‚schrieb‘ das Stift keine Geschichte, wohl deshalb konnte es von kaum einer anderen Geschichte aus der Fassung gebracht werden. Als Quedlinburg 1803 seinen reichsunmittelbaren Stiftsstatus verlor, feierte das JenaStift sein 100jähriges Jubiläum. Während Quedlinburg mit Siegel und Vermögen in den Domänen des Königreiches Westfalen verschwand36, sequestrierte König Jérôme nur für kurze Zeit die Kapitalien des Jena-Stiftes37. Als unabhängige Einrichtung existierte das Stift bis 1948. Nun zum Staatsgebiet der künftigen Deutschen Demokratischen Republik gehörend, wurde 1949 „die Umwandlung dieser Stiftung zu einer unselbständigen Anstalt der evangelisch-reformierten Domgemeinde zu Halle“ von der Landesregierung Sachsen-Anhalt genehmigt.38 Somit stand das Stift unter der Oberhoheit der evangelischen Kirche der Provinz Sachsen. 1972 starb die letzte Äbtissin. Nach Auflösung des Stiftes ging der verbliebene Besitz 1974 an die Stadt Halle über.39

5.3. Exkurs (I): Das Schweigen der Ferdinande von Brackel Am Beispiel der Lebenserinnerungen Ferdinande von Brackels (1835–1905) soll gezeigt werden, welchen Einfluß der Ledigen-Status auf die erinnerte Individualgeschichte nehmen konnte. Es wird darzustellen sein, daß die nichtrealisierte normalbiographische Option einen zeitweiligen Orientierungsverlust der Person zur Folge hatte und im Anschluß zu einem Selbstbild führte, das sich vornehmlich über den schriftstellerischen Beruf definierte. Ferdinande von Brackels um 1900 verfaßte Autobiographie erinnert ein 65jähriges Leben, das 1835 mit der Geburt des vierten Kindes (und ersten Tochter) einer katholischen, landsässigen, westfälischen Adelsfamilie auf Schloß Welda bei Warburg begonnen hatte.40 Erzählte Zeit, Lebenserzählung und Erzählstruktur sind auffällig gut aufeinander abgestimmt. Zäsurbildend sind das Jahr 1866 (1835 zu 1866 zu 1900), das 31. Lebensjahr (0 zu 31 zu 65) und das 11. Kapitel (von 22 Kapitel). Das zeitgleiche Auftauchen dieser Ereignisse auf den Seiten 80 bis 89 halbiert in etwa die Erzählungszeit von 166 Seiten. Brackels „Mein Leben“ teilt sich in ein Vorher – Nachher: Das ‚erste Leben‘ zeigt sich ab dem Beginn der Jugendphase als ein Leben ohne biographische Option. Das ‚zweite Leben‘ realisiert dann eine individuell erarbeitete biographische Möglichkeit. Zum ‚ersten Leben‘: Die Kapitel 1 bis 6 sind im Vergleich zu anderen Autobiographien adeliger Frauen nicht ungewöhnlich. Das erste Kapitel ist den Vorfahren gewidmet, daran schließen sich Erinnerungen an die Eltern an. Erfahrungen und Erlebnisse 36 37 38 39 40

Vgl. Hankel, Die reichsunmittelbaren evangelischen Stifte, S. 163–195. Vgl. Gabriel, Die reformierten Gemeinden, S. 91. StArch., o. Sgn., Kabinettsbeschluß der Landesregierung Sachsen-Anhalt, Halle, den 2. 2. 1949. Vgl. StArch., o. Sgn., Gemeindeblatt der reformierten Domgemeinde (1987?), o. S. Brackel (1905)

5.3. Exkurs (I): Das Schweigen der Ferdinande von Brackel

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der Kindheit werden mitgeteilt, die sich auf das soziale Umfeld des Hauses, der Geschwister, des Dorfes beziehen. Ihre Bildungsgeschichte umfaßt Privatunterricht in den Elementarfächern, den weiterführenden Unterricht durch den Gemeindepfarrer und eine begleitende Ausbildung in „Gesellschaftsfähigkeit“ durch hausangestellte Gesellschafterinnen. Am Ende des 6. Kapitels ist Brackel 18 Jahre und eine gewöhnliche (land)adeligweibliche Erziehung und Sozialisation abgeschlossen. Die Kapitel 7 bis 10 bestechen durch ihre Ereignislosigkeit und ungenügende Zeitstrukturierung. Das siebente Kapitel setzt den Gesellschafterinnen ein ewiges Denkmal, das achte Kapitel erzählt von immergleichen Geselligkeiten mit der gutsnachbarlichen Familie. „Stilleben auf Welda“ heißt bezeichnend das neunte Kapitel. „Ich bekam nicht viel von der Außenwelt zu sehen und zu hören. … Zeit hatte ich ja, meiner Phantasie obzuliegen.“41 Im zehnten Kapitel endlich ein Ereignis, das die Zeit im Zähfluß beendet. Quasi als deus ex machina greift das Jahr 1866 in die Erzählung ein – eine Zeitspanne, die sie anregte und bewegte, „wie keine andere es je wieder getan hat.“42 1866 ist Brackel 31 Jahre, hinter ihr liegen dreizehn ereignislose Jahre. Die Kapitel 7–10 sind durchaus nicht ungewöhnlich für die in dieser Arbeit versammelte Autobiographik. Doch häufen sich die „Stilleben“ in einer anderen erinnerten Lebensphase – der des Alter(n)s. Je näher die erzählte Zeit dem Zeitpunkt der Niederschrift kommt, desto unkonkreter werden Ereignisse benannt, desto häufiger werden „Charakterbilder“ anderer Zeitgenossen entworfen, desto mehr gerinnt Zeit zu Ewigkeit. Zwar wird der Beginn des Alter(n)s zeitlich wie sozial verschieden besetzt, doch gemein ist den Darstellungen dann doch, alle wichtigen und prägenden Dinge des eigenen Lebens bereits erzählt zu haben. Die Alter(n)serzählung erklärt das Leben zu einem langen, ruhigen Fluß; immerhin nicht weniger. Die Kapitel 7–10 sind absolut untypisch für die Autobiographien verheirateter adeliger Frauen. Die Heirat ist diesen Frauen Anlaß der Zäsurbildung und Reflexion, woran sich ein neuer Lebensabschnitt, die Ehe, in der Erzählung anschließt. Das dritte Lebensjahrzehnt ist voll von erzählbaren Ereignissen: Verlobung, Hochzeit, erste Ehejahre, Kinder, Berufskarriere des Mannes, eigene Verantwortungsbereiche usf. Im Gegensatz zu Brackel erreichten diese Frauen den Ehestand. Zur rechten Zeit in die Institution Ehe eingegangen zu sein, versetzte die adeligen Autobiographinnen in die Lage, eine auf gesellschaftlichem Konsens beruhende Erzählung zu verfassen. Das Schweigen der Ferdinande von Brackel im Vergleich zu den Erzählungen der Ehefrauen wird man nicht als Leerstellentechnik im Text, womöglich aber als ‚strukturelle Leere‘ betrachten können. Es fällt auf, daß Brackel weder das Ereignis des ersten Balles erinnert, der die Integration in die Adelsgesellschaft symbolisierte, noch einen expliziten Zukunftsentwurf formuliert, der immer auch ein Indikator für das Hinausstreben aus familiären Setzungen war und konfliktreich erinnert (nicht im Falle Gräfin von Lindens) wurde. Während junge Ehe41 42

Ebd., S. 69. Ebd., S. 84.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

frauen begannen, ihre familiär vermittelte Position in der Gesellschaft einzunehmen und individuell auszugestalten und Außenseiterinnen um ihre abweichenden Zukunftsentwürfe kämpften, positioniert sich Brackel in keine Richtung. Brackels Schweigen deutet auf eine Handlungs- und Orientierungslosigkeit hin, die an eine ungewollte Ehelosigkeit denken läßt. Zumindest eine Stelle im Text weist darauf hin, daß schwierige finanzielle Besitzverhältnisse der Familie eine Heiratsverzicht nahelegten: „Gerade die letzten Jahre hatten schwere Sorgen um unseren Besitz ihn uns nur um so lieber gemacht. Wir jüngeren Kinder waren alle darin einig gewesen, lieber alle Opfer zu bringen, als diesen Besitz aufzugeben.“43 Wenn Brackels „Opfer“ die Ehelosigkeit war, dann zeigt die ‚strukturelle Leere‘ an, daß das Modell der weiblichen Normalbiographie zwar nicht umstandslos für alle Frauen empirische Gültigkeit, aber doch eine hohe normative Kraft für Frauen im Adel besaß. Brackels Schweigen bedeutete, daß sie sich mit dem normalbiographischen Leitbild nicht identifizieren konnte und ein anderes Leitbild, auf das sie sich als Ledige hätte beziehen können, nicht zur Verfügung stand. Das „Stilleben“ kennzeichnet somit, daß die Randposition lediger Frauen in Familie und Gesellschaft auch verinnerlicht sein konnte. Die 30jährige „alte Jungfer“ konnte vom Leben in etwa das erwarten, was der 80jährigen Witwe in der Alter(n)serzählung bevorstand: Ruhe und Todeserwarten. Das Jahr 1866 beendete Brackels zukunftsloses „Stilleben“. Während der „deutsche Bruderkrieg“ sich anschickte, Nationalgeschichte zu machen, feierte die 31jährige erste Erfolge als Schriftstellerin, denen selbstverständlich die individuelle Begabung vorausging. Auch mit Hilfe der hierüber erfahrenen Anerkennung gelang es ihr, das ‚erste Leben‘ zu verabschieden. Mit knapp 10jähriger Verspätung (im Vergleich zu den Ehefrauen) konnte Brackel einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Das zäsurbildende 11. Kapitel gibt vorherige Entbehrungen an und läßt der Erleichterung über diesen Umschwung freien Lauf: „Ich fühlte bedeutend mehr, als in der ersten Jugend, die Vollkraft des Lebens. Alles erschien mir klarer, das Gefühl des Schaffens und Wirkens machte mich glücklich; ich fühlte mich mehr anerkannt, ich wurde zwangloser und freier in all meinem Tun und Lassen.“ – „Ich war mit den Jahren nun schon fast an die Grenze der Jugend der Frau angekommen, aber, wie gesagt, eigentlich empfand ich die Jugend erst jetzt in vollem Maße.“ Brackel ist sich sicher, „daß nicht viele Damen anfangs der Dreißiger gerade das aus vollem Herzen sagen. O ja, ich liebte damals das Leben viel mehr, als ich es mit achtzehn Jahren geliebt hatte.“44

43 44

Ebd., S. 111. Brackel (1905), S. 86, S. 87, S.89.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution vom ‚Brautdepot‘ zum Altersheim Das „Stilleben“ der Ferdinande von Brackel mochte beredter gewesen sein als das Reden über die Erfahrungen gesellschaftlicher Marginalisierung. Um diese randständisch-randständige Existenz zumindest zu kompensieren, bedurfte es individueller Anstrengungen, für sich selbst eine Möglichkeit sinnvoller Lebensgestaltung zu finden. Die einfachste Möglichkeit wäre womöglich der Eintritt in ein Stift gewesen, da individuelles Bedürfnis und die traditionelle Antwort des Adels auf seine „Frauenfrage“ einander hätten ergänzen können. Im folgenden wird der Funktionswandel des Jena-Stiftes vom 18. Jahrhundert bis Anfang des 20. Jahrhunderts vorzustellen sein. Die Veränderung des Stiftes vom ‚Brautdepot‘ zum Altersheim bezeichnet aus funktionalistischer Sicht die Integration einer ehemals adelsspezifischen Einrichtung in die Sozialstruktur des modernen Wohlfahrtsstaates. Entsprechend wandelt sich der Typ „Stiftsdame“. Wurden im 18. Jahrhundert Mädchen schon in jungen Jahren für eine Stiftsstelle angemeldet, traten Ende des 19. Jahrhunderts Frauen mit langem Vorleben in das Stift ein. Es wurde zum Lebensabschnittsbegleiter alter Damen. Diese Tatsache ist als sukzessiver Wandel familialer Praxis gegenüber ledigen Töchtern zu interpretieren – sie werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Selbständigkeit entlassen.

5.4.1. Die immerwährende Einrichtung: Grundzüge einer inneren Verfassung des Jena-Stiftes Gottfried von Jena bestimmte in der Stiftungsurkunde (1702) in fünfzig Paragraphen auf ca. 100 Seiten Regeln des Zusammenlebens und der inneren Verfassung. Die Einhaltung dieser Statuten sollte dem freiweltlichen Stift, in Zusammenarbeit mit königlicher Schutzherrschaft und preußischer Regierung, historische Kontinuität sichern. In § 50 heißt es: „Im übrigen will der Herr Fundator, daß alles, was vorsteht, stets, fest, und unverbrüchlich gehalten werden, und eine ewige immerwehrende Stifftung seyn und bleiben solle, zu welchem Ende er nicht allein Sr. Königl. Majt. in Preußen allergnädigste Confirmation …, sondern auch Dero mächtigste Protection … ausbittet und ausdinget.“45 Zweck der Stiftung bestand in der standesgemäßen Versorgung unverheirateter Töchter. Der Stiftseintritt war an bestimmte Bedingungen geknüpft. Anwärterinnen mußten in Preußen geboren sein oder ihren ständigen Wohnsitz in Preußen nachweisen können. Die evangelisch-reformierte Religion galt als verbindliche konfessionelle Aufnahmebedingung. Nach Beitritt des Stiftes zur „Union“ im Jahre 1830 konnten auch evangelisch-

45

StArch, Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 50.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

lutherisch Konfessionelle aufgenommen werden.46 Des weiteren wurde adelige Herkunft oder Zugehörigkeit zum Familienverband derer von Jena gefordert. Ließ sich diese Forderung nicht realisieren, konnten auch bürgerliche Frauen eintreten.47 Stiftsfähigkeit war nicht an eine Ahnenprobe gebunden. Den Nachweis von 8 oder 16 Ahnen behielten sich Hochadelsstifte bzw. manche Stifte des landsässigen Adels vor, um die Exklusivität ihrer Gruppe zu wahren.48 Das Mindesteintrittsalter war auf 16 Jahre festgelegt, bei der Anmeldung mußten die Mädchen das Alter von 12 Jahren erreicht haben: „Wie nun kein Fräulein zu überreden in das Stift sich zu begeben, also solt ihr noch vielweniger wieder ihren Willen dergleiches zugemuthet werden, zu welchem Ende auch jeder, damit sie nun eine reiffe Entschließung darunter bey sich fassen können, wenigstens das Sechzehnde Jahr … zurück geleget, …, ehr sie introduciret werden kann, … Auch ist keiner eine Expectantz oder Anwartung zu geben, die nicht das zwölffte jahr überschritten.“49 Das Alter der „reiffe[n] Entschließung“ verweist auf zwei Aspekte, die das Jena-Stift charakterisieren: Das Stift ist keine Bildungsanstalt und dient nicht der Versorgung von Witwen. Bei Stiftseintritt waren im 18. Jahrhundert 100 Reichsthaler zu entrichten, die jährliche Präbende betrug dann 120 Reichsthaler für die Konventualinnen und 220 für die Äbtissin.50

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Seit dem Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund 1613 gab es auf den später preußischen Gebieten ein Nebeneinander von lutherischem und reformiertem (auf Calvin zurückgehend) Bekenntnis. Die nachfolgenden brandenburgisch-preußischen Könige waren reformierten Glaubens. Das Jena- Stift gehörte (wie sein Stifter) der seit Ende des 17. Jh. in der Stadt Halle existierenden reformierten Gemeinde an. Vgl. dazu: Gabriel, Die reformierten Gemeinden in Mitteldeutschland. Zu den religiösen Differenzen zwischen beiden Konfessionen vgl. einführend: Heyer, F., Konfessionskunde, Berlin / New York 1977, S. 649–676. Anfang des 19. Jh. schienen nur noch äußere Unterschiede beide protestantischen Kirchen zu trennen. Die Vereinigung der Kirchen zur „Evangelischen Kirche der Union“ ging auf einen Aufruf Friedrich Wilhelm III. (1817) zurück. Vgl. einführend: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, Berlin / New York 1982, S. 677ff. Zu „Union“ und Jena- Stift vgl.: StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 6, Beitritt des Stiftes zur Union. Vgl. StArch., Cap. I. (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 1 – Regionale und konfessionelle Begrenzungen waren in fast allen Stiften normale Aufnahmebedingungen. Einige Stifte ließen sowohl die katholische als auch die evangelische Konfession zu (z. B. das Campanini- Stift in Schlesien, Kngr. Preußen: die Hälfte der 18 Stellen wurde an Angehörige der katholischen Konfession vergeben, die andere an Angehörige der evangelischen). Andere bestimmten, daß eine bestimmte Anzahl von Stellen mit Ausländerinnen besetzt werden soll (z. B. Stift Mosigkau im Herzogtum Anhalt: 2 von 6 Stellen konnten bis 1869 von Ausländerinnen besetzt werden). Vgl. Gritzner, Handbuch der Damen-Stifter. Das Essener Stift blieb z. B. dem hohen katholischen Adel vorbehalten, Stiftungen des westfälischen katholischen Adels forderten ebenfalls 16 Ahnen. Vgl. Küppers-Braun, Katholische Hochadelsstifte, S. 208 und Reif, Westfälischer Adel, S. 35. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 16. Vgl. ebd., §§ 15 und 25.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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Aufnahme konnte auch solchen Frauen gestattet werden, die zwar kein Präbendenanrecht besaßen, aber dennoch in dem Stift leben wollten – unter der Voraussetzung, daß sie sich aus eigenen Einkünften unterhielten.51 Die Zahl der regulären Stiftsstellen wurde auf 10 festgelegt. Die Präbenden gingen an neun Konventualinnen und eine Äbtissin. Bei Vakanz einer Stelle (z. B. durch Heirat oder Tod) rückte eine der Expektantinnen (Stiftsanwärterinnen) nach. Pro Stelle standen drei Anwärterinnen zur Verfügung, wodurch eine regelmäßige Besetzung des Stiftes gewährleistet werden sollte.52 Eine der Stellen blieb der Besetzung durch die preußische Königin („jus primarium precum“) vorbehalten. Das Erstbesetzungsrecht ist übliche Praxis gewesen. Es konnte der Familie des Gründers zugesprochen werden, zumeist aber kam es landesherrlichen oder schutzherrlichen Personen zu. Die jeweiligen Königinnen machten bis 1918 zehn Mal von diesem Recht Gebrauch,53 so etwa Königin Elisabeth Christiane, die dem Stift 1782 folgendes mitteilte: „Da ich wünsche, daß die bey dem dortigen Fräulein Stift jetzo vorhandene Vacanz mit der einzigen Tochter des hiesigen Capitains von Unruh wiederbesetzt werden möge: So empfehle ich dem Capitul des gedachten Stifts dieselbe zu dem Ende hierdurch aufs aller beste; und versichere, daß die Ernennung nur erwehnter Fräulein von Unruh zu sothaner Stelle mich um so mehr vergnügen wird, da selbe von einer alten angesehenen Familie ist, die ich ganz besonders schätze, und daß ich die von dem Capitul mir dadurch bezeigende Attention jederzeit sehr gnädig erkennen, und dagegen stets verharren werde.“54 1892 verkaufte das Stift dem preußischen Staat das Besetzungsrecht für zwei Stiftsstellen. Aus welchen Gründen die partielle Preisgabe von Unabhängigkeit erfolgte, ist aus den Quellen nicht zu ersehen.55 Möglicherweise waren finanzielle Schwierigkeiten der privaten Stiftung dafür verantwortlich. Der Stiftskonvent setzte sich aus den Konventualinnen und der Äbtissin zusammen. Nach der Äbtissin folgte in der Rangordnung die Seniorin als „Dienstälteste“. Ob damit ein bestimmtes Amt verbunden war, geht aus den Äußerungen des Stifters nicht hervor, ist aber anzunehmen.56 Die Äbtissin wurde vom Konvent gewählt. Die freie Äbtissinnen51 52 53 54 55

56

Vgl. ebd., § 42. Vgl. ebd., §§ 1, 11 und 12. Vgl. Anh., Tab. 1, Konventualinnen (1703–1948). StArch., o. Sgn., Brief der preußischen Königin vom 28. 12. 1782 an das Stift. Der Vertrag selbst konnte im Archiv nicht gefunden werden, allerdings Regierungsmitteilungen, die sich auf diesen beziehen: StArch., Neuere Akten VII (Rechnungssachen 1892–1944), Brief des Regierungspräsidenten zu Merseburg vom 24. 9. 1936 an das Stift: „Durch Vertrag von 11. / 26. April 1892 hat das von Jena’sche Fräuleinstift in Halle dem Preußischen Staate das Recht der Besetzung von 2 Stiftsstellen für alle Zeiten eingeräumt und als Gegenleistung von der Staatsregierung ein Kapital von 50000,– RM gezahlt erhalten. Diese Rechtsverpflichtung … besteht für das Stift nach wie vor fort.“ Zu den Zahlungsmodalitäten für die zwei Stellen vgl. ebd., Brief des Geheimen Kanzleirathes zu Berlin vom 8. 5. 1892 an das Stift. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 23: „Mit dem Rang der Stifftsfräulein … solt es ohne einige andere respekten nach der Zeit gehalten werden, als Sie in das Stifft kommen, als daß allemahl die erst eingenommene der anderen vorgehe; …“ – Obwohl nur zehn Personen im Stiftshaus lebten,

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

wahl gehörte immer zu den wichtigsten Rechten von Stiften und Klöstern. Es sicherte die innere Autonomie eines Stiftes. Wurde dieses Recht vom Landesherren beschnitten, konnte – wie im Fall des Stiftes Gernrode – aus einem unabhängigen Stift hausherrliches Eigentum werden.57 Das Amt der Äbtissin als Vorsteherin des Stiftes umfaßte folgende Aufgabenbereiche: Aufsicht über das weltliche und religiöse Leben der Stiftsgemeinschaft, damit verbunden das Recht auf Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit gegenüber den Konventualinnen und Hausangestellten; Vermögensverwaltung und Wirtschaftsführung des Stiftes; Repräsentation des Stiftes in der Gesellschaft.58 Die Aufgaben der Konventualinnen bestanden darin, der Äbtissin Gehorsam zu leisten und sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Sollten sich jedoch ernste Versäumnisse bei der Äbtissin bemerkbar machen, die dem Stift zum Nachteil gereichen konnten, besaßen die Konventualinnen das Recht, die Angelegenheit vor den Landesherren zu bringen, der dann eine Entscheidung fällte.59 Der preußische König besaß die hohe Gerichtsbarkeit über das Stift. Er ließ sich in seiner Eigenschaft als Schutz- und Landesherr von Regierungsbeamten vertreten. Diese hielten insbesondere die Kommunikation zwischen Stift und König aufrecht und waren bei wichtigen Anlässen (z. B. Äbtissinnenwahl) zugegen. Als Kuratoren fungierten die halleschen Domprediger, deren Aufgabe darin bestand, das Stift in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten zu beraten, wofür sie entlohnt wurden.60 Das Diskussions- und Entscheidungsforum des Stiftes war der halbjährlich stattfindende „General-Capitul“. Äbtissin, Konventualinnen und Domprediger sollten „zuförderst untersuchen …, ob sich einige Gebrechen in und bey dem Stiffte, und denen darzu gehörigen Persohnen finden, damit solche ohne Nachsehen und Zeitverlust gebührend remediret, …; hiernechst soll darbey, was zur Beförderung des Stiffts Wohlstand und Aufnehmen dienen kann, über-

57

58 59 60

ist trotzdem anzunehmen, daß ein reibungsloser Stiftsalltag arbeitsteilig geregelt wurde (irgendeine mußte für das Hauspersonal zuständig sein, eine andere für Einkäufe … ). – Im evangelischen Kloster Ebsdorf gab es z. B. Anfang des 18. Jh. sechs verschiedene Ämter (neben dem Äbtissinnenamt), u. a. das Amt der Küchenmeisterin. Die „Schafferin“ war für die Haushaltsführung, insbesondere für die Lebensmittelbeschaffung und -verwaltung, zuständig. Eine ausgeglichene Haushaltsbilanz hing wesentlich von ihren Fähigkeiten ab. Das Seniorinnenamt war in diesem Kloster eher ein Ehrenamt ohne Aufgabenbereich. Vgl. Dose, Evangelischer Klosteralltag, S. 280. Das Fürstenhaus Anhalt betrieb im 16. Jh. eine planmäßige Mediatisierung des reichsunmittelbaren Stiftes Gernrode, indem es alle verfügbaren anhaltischen Prinzessinnen in den Konvent führte, so daß nur noch Angehörige des anhaltischen Fürstenhauses für das Amt der Äbtissin in Frage kamen. Von 1570–1614 waren vier Fürstentöchter bis zu ihrer Heirat (!) im Amt, gewählt im Alter von 9, 13, 8 und 4 Jahren: Deutlicher läßt sich der „Griff nach dem Stift“ nicht kennzeichnen. Ab 1653 gehörte Gernrode offiziell zum weltlichen Besitz der Fürsten von Anhalt. Vgl. Hankel, Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte, S. 52ff. Vgl. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, §§ 10, 44, 45. Vgl. ebd., § 48. Vgl. ebd., §§ 27, 46, 48.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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leget und besorget, und endlich jedermann, der etwas bey solchem General-Capitul anzubringen, gehöret, …“61 Im Untersuchungszeitraum wurden an der inneren Verfassung des Stiftes nur zwei Veränderungen vorgenommen – zum einen die konfessionelle Erweiterung von 1830, zum anderen die Ausdehnung des Stellenbesetzungsrechtes auf den preußischen Staat (1892). Beide Sachverhalte stellen zeitgemäße Modifizierungen, keine Verfassungsbrüche dar. Als einzige Änderungen sind sie zugleich Indiz für die 200jährige Kontinuität des Stiftes und verdeutlichen indirekt, daß weder Adel noch Staat ein Interesse an der Auflösung dieser Institution hatten. In bezug auf die Fragestellung ist festzustellen: Aufgrund der Kontinuität des Stiftes ist zum einen davon auszugehen, daß Stiftsfräulein des 18. Jahrhunderts und jene des 19. Jahrhunderts vergleichbare Eintrittsvoraussetzungen erfüllen mußten und mit ebenso vergleichbaren inneren Strukturen konfrontiert wurden. Zum anderen ist die Funktion des Jena-Stiftes allgemein zu bestimmen. Es ist eine standesgemäße Versorgungsanstalt für preußische, adelige, ledige Frauen ab dem 16. Lebensjahr. Das bedeutet, Funktionswandel des Stiftes und Veränderung des Typs „Stiftsdame“ sind auf dem Weg der inneren Verfassung nicht zu bestimmen.

5.4.2. Das Jena-Stift als ‚Brautdepot‘ (1703–1836) Von der Gründung des Stiftes 1703 bis zum Verlust der Selbständigkeit 1948 meldeten 140 Personen Stiftsanwartschaft an, 106 Personen traten in das Stift ein. Die unter prosopographischem Gesichtspunkt geführte Auswertung der Personalverzeichnisse des Stiftes62 zeitigt unterschiedliche Datenerhebungen und Ergebnisse. Das wichtigste Ergebnis besteht im auffälligen Anstieg des Lebensalters bei Stiftseintritt. Von 1703 bis 1948 verdoppelt bzw. verdreifacht sich das durchschnittliche Eintrittsalter auf ca. 60 Jahre. Die weitere Darstellung folgt der vorgenommenen Einteilung der Verlaufskurve in drei Phasen, die auf den Untersuchungszeitraum begrenzt sind (1703–1836, 1837–1880, 1881–1920). Wie lassen sich allgemeine Stiftsfunktion und Stiftsfräulein-Typ spezifizieren, d. h. aus welchen Gründen wird die erste Phase als ‚Brautdepot‘ behauptet? Bis 1836 lebten 62 Personen im Jena-Stift. Beim Stiftseintritt waren 17,3 % der Frauen jünger als 20 Jahre, 34,6 % waren jünger als 25 und 23 % jünger als 30 Jahre.63 Insgesamt blieben 38 Stiftsfräulein bis zu ihrem Tod (durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 31 Jahren) in 61 62

63

Ebd., § 48. StArch., Classe III, Titel I, Capitel III, No. 1b, Verzeichnis der Konventualinnen 1703–1948. StArch., o. Sgn., Expektanzbuch 1703–1948. Im Konventualinnen- und Expectanzbuch sind relativ vollständige Personenangaben zu familiärer und regionaler Herkunft, Lebensdaten, zur Aufenthaltsdauer im Stift und die Gründe des Austritts verzeichnet. Wegen Datenungenauigkeiten bei 10 Personen beruhen diese Angaben auf der Anzahl von 52. Wenn nicht explizit angegeben, bildet für alle folgenden Daten und Zahlenwerte die Tabelle 1, Konventualinnen (1703–1948), im Anhang die Grundlage.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

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Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

Eintrittsalter (Mittelwert)

60 50 40 30 20 10 0 1700– 1721– 1720 1740

1741– 1760

1761– 1780

1781– 1800

1801– 1820

1821– 1840

1841– 1860

1861– 1881– 1880 1900

1901– 1921– 1941– 1920 1940 1960

Zeitraum (Durchschnittliches Eintrittsalter der Konventualinnen pro Jahrzwanzigt 64 )

Jahrzwanzigt64 der Einrichtung, 24 Adelige „resignirten“ nach einigen – im Schnitt 12 – Jahren, d. h. sie traten aus dem Stift aus. Von 19 Frauen ist bekannt, daß sie aus Heiratsgründen das Stift verließen, das sind 30,6 % von der Gesamtzahl.65 Das ‚Brautdepot‘ ist demnach durch zweierlei zu charakterisieren: Zum einen trat eine Großgruppe von unter 30jährigen mit einem Durchschnittsalter von 21,8 Jahren in das Stift ein. Sie stellen im Hinblick auf dieses Alter potentielle Gattinnen dar.66 Zum anderen sind knapp 31 % Abgänge von Frauen zu verzeichnen, die tatsächlich in den Ehestand wechselten. Somit zeigt sich das Jena-Stift als eine Institution, die sowohl ‚ewige‘ Stiftsfräulein beherbergte als auch eine Gruppe von Frauen, denen das Stift ein kurzweiligerer Lebensabschnittsbegleiter gewesen ist. Das ist keine besondere, sondern eine typische Erscheinung. Zum Vergleich: Das Essener Hochadelsstift verließen 46 % Frauen, um zu heiraten.67 Die westfälischen Stifte dürften vergleichbare Abgänge zu verzeichnen gehabt haben.68 64 65 66

67 68

Siehe auch: Anh., Abb. 1, Eintrittsalter der Konventualinnen. Vgl. Anh., Tab. 2, „Resignirte“ Konventualinnen (1703–1948). Da die historische Demographie aus guten Gründen mikrohistorisch arbeitet, es zugleich keine Werte zum Erstheiratsalter preußischer Adelsfrauen im 18. Jahrhundert gibt, folgende Orientierung: Zwischen 1720 und 1819 betrug das durchschnittliche Heiratsalter westfälischer Adelsfrauen 19 bis 23 Jahre. (Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 243.) Bei Ute Frevert heißt es, Adelsfrauen „heirateten gemeinhin mit 20 oder 21 Jahren“. (Frevert, Frauen-Geschichte, S. 32.) Vgl. Küppers-Braun, Katholische Hochadelsstifte, S. 209. Zwar gibt Heinz Reif keine Zahlen an, aber er impliziert ein ähnliches Verhältnis: Es „wurden nahezu alle Töchter zunächst einmal in ein Damenstift gegeben, das ein Teil von ihnen später wieder verließ, um zu heiraten.“ Reif, Westfälischer Adel, S. 115. Ein ähnliches Nebeneinander von ‚ewigen‘ und ‚kurzweiligen‘ Stiftsdamen auch bei: Meier, Standesbewußte Stiftsdamen, S. 346f.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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Das ‚Brautdepot‘ bezeichnet neben der Quantität eine bestimmte Qualität: Die Verhaltensnormen und Lebensregeln des Jena-Stiftes lassen erkennen, daß die Stiftsfräulein ein geselliges Leben führen konnten. Im Stift waren Privatbesuche erlaubt, wobei die Äbtissin bei männlichen Besuchern „gleichwohl dabey dafür zu sehen hat, daß solche Zusammenkunft in ihren der Äbtissin Zimmer und in ihrer Gegenwarth geschehe, auch nicht über die gebühr wehre.“69 Außerhalb des Stiftes konnten die Stiftsfräulein „in alle Ehrbare vornehmen Gesellschaften, wann Sie dahin eingeladen seynd, oder es sonst eine untadelhafte gelegenheit an die Hand gebet, nach belieben kommen“.70 Für solche Anlässe stand es den Stiftsfräulein frei, „sich nach belieben zu kleiden, doch das alle Vanitat und eiteler pracht dabey vermieden“.71 Da sich das Stift nicht auf dem flachen Land, sondern in einer Stadt befand, ist anzunehmen, daß die kulturellen, intellektuellen und sonstigen Angebote der städtischen Gesellschaft auch wahrgenommen wurden. Eheambitionierten Frauen (bzw. deren Familien) standen somit Heiratswege offen.72 Die Quellenlage läßt jedoch keine Aussagen über die soziale Praxis zu. Der Tatsache, daß knapp 31 % der Frauen heirateten, ist nicht zu entnehmen, wo und ob die Ehen arrangiert wurden, oder wer maßgeblich am Zustandekommen beteiligt gewesen ist. Insofern ist nicht zu entscheiden, ob auch das Jena-Stift „ziemlich unverhohlen als Heiratsmarkt aufgebaut wurde“.73 Auf der normativen Ebene ist festzustellen, daß die Stiftsregeln eine Lebensführung ermöglichten, die keineswegs das Erreichen der Ehe beinhaltete, sondern eine künftige Heirat nicht ausschloß. Innerhalb des Stiftes dominierte das Ideal der tugendhaften, gottesfürchtigen und tüchtigen Hausfrau. Die Stiftsfräulein wurden dazu angehalten „alles dasjenige, was der Christen Pflicht erfordert, vor andern Menschen zu leisten, …, und endlich denen Armen und Nothleidenden nach Vermögen Gutes zu thun, die Zeit nicht auf Vanitäten [d. h. „nichtige Dinge“ wie Tanzen, Karten- und Würfelspiele u. dgl., M. K.] anzuwenden, …, sondern sollen anstatt dessen mit andern dem Frauenzimmer vergönten wohlanständigen Dingen und Übungen, auch sauberer Arbeit, …, als leserliches Schreiben, Mahlen, Nehen, Stricken, Lesung guter Bücher, Lernung fremder Sprachen, der Music und dergleichen, die Zeit hinbringen, und den Müßiggang fleißig meiden, sich mit allem Fleiß, so viel möglich, auf die Haushaltung und Wirthschaft appliciren, damit, wann es Gott gefiele, sie über lang oder kurtz in den Hausstand zu setzen, sie demselben mit Nutzen vorstehen können.“74

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73 74

StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 23. Ebd., § 24. Ebd., § 22. Grundsätzlich galt: Den Stiftsfräulein „bleibet allerseits die uneingeschrenckte Freyheit vorbehalten und unverwehret, sich christl. gebrauch nach zu verheyrathen“. In: StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 38. Reif, Westfälischer Adel, S. 106. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, § 17.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Des Stifters Gebote waren Nächstenliebe und Arbeit, seine Verbote Müßiggang und Ausübung von „Vanitäten“. Diese Anordnungen wurzelten offenbar im frühaufklärerischen Denken und reformierten Glauben. Möglicherweise waren ihm auch die Gepflogenheiten insbesondere in Hochadelsstiften bekannt. Die Essener Stiftsdamen beispielsweise sollen Müßiggängerinnen gewesen sein, die ihren Tag mit Billard und Kartenspielen verbrachten und Fragen der Haushaltsführung ihren Kammermägden überließen.75 Inwieweit Gottfried von Jena sein Stift als Abgrenzung zu Hochadelsstiften gedacht hatte, ist nicht auszumachen. Auf jeden Fall hatte er ein Frauenbild vor Augen, daß im landsässigen und niederen Adel des 18. Jahrhunderts Gültigkeit beanspruchte – das Bild einer mit praktischen Fähigkeiten und nützlichem Wissen ausgestatteten, aber auch Geselligkeitsformen beherrschenden Frau.76 Dieses Frauenbild korrespondierte mit der Gesamtstruktur des Jena-Stiftes. Zwar ohne Hausvater, doch in patriarchalischer Logik war das Stift nach den Prinzipien des „ganzen Hauses“ aufgebaut.77 Die Konventualinnen hatten die Äbtissin als Mutter zu achten und waren ihr untergeordnet, wobei die Äbtissinnen-Funktion sowohl hausväterliche Herrschaftsrechte (niedere Gerichtsbarkeit, Stiftsrepräsentation nach außen) als auch hausmütterliche Befugnisse (Aufsicht über Hauswirtschaft und Gesinde) beinhaltete.78 Die hierarchische Ordnung spiegelt sich auch in der personellen Zusammensetzung hinsichtlich des Alters. Gerade in den Anfangszeiten des Stiftes weist das Eintrittsalter der Frauen eine große Heterogenität auf. Die ersten zehn Stellen wurden an eine 47jährige und eine 55jährige Frau vergeben, die anderen Frauen waren zwischen 19 und 22 Jahren. Die Initiative zu dieser offensichtlichen Mutter-Tochter-Relation ging auf den Stifter zurück, der sich die Erstbesetzung vorbehielt.79 Dem Alter folgte die Funktion: Die 47jährige Eleonore von Börstel wurde als erste Äbtissin eingesetzt. Franzisca von Benatre, vormals Hofdame der preußischen Königin, trat mit 42 Jahren in das Stift ein und erhielt sogleich die Äbtissinnenwürde. Die 49jährige Frau von Tour wurde sechs Jahre nach ihrem Eintritt zur Äbtissin gewählt.80 Analog zum „ganzen Haus“, in dem die Hausmutter zumindest ihren Kindern die natürlich Ältere war, standen deutlich ältere Frauen als Äbtissinnen den jungen Stiftsfräulein vor. Daß ein solches Alter nicht unbedingt selbstverständlich gewesen ist, darauf wurde bereits hingewiesen.81 75 76 77

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Vgl. Küppers-Braun, Katholische Hochadelsstifte, S. 212 u. 216. Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 15ff.; Reif, Westfälischer Adel, S. 144ff. Zur Kritik des konservativ-sozialharmonischen Modells des „ganzen Hauses“ vgl.: Opitz, Claudia, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20 (1994), S. 88–98; Derks, Hans, Über die Faszination des „Ganzen Hauses“, in: GG 22 (1996), S. 221–242. – Trotz der Kritik wird hier am „ganzen Haus“ festgehalten. Und zwar als Form der Beschreibung des Stiftshaushaltes, der die zugehörigen Personen rechtlich und ökonomisch integrierte und sicher auch Einfluß auf das Verhalten der Personen zueinander besaß. Vgl. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, §§ 10, 17, 45. Vgl. ebd., § 2. Vgl. Anh., Tab. 3, Äbtissinnen des Jena- Stiftes. Gemeint ist die planmäßig betriebene Mediatisierung des reichsunmittelbaren Stiftes Gernrode durch das Fürstenhaus Anhalt. Zu diesem Zweck wurden sehr junge Mädchen des Fürstenhauses in

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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Das Jena-Stift hatte nicht nur die Funktion, ledige Töchter zu versorgen, sondern war im weitesten Sinn auch Erziehungsanstalt. Die Stiftsregeln vermittelten ein bestimmtes Frauen-Leitbild, an dem sich die Konventualinnen orientieren sollten. Wenn diese nur annähernd handlungsrelevant gewesen sind, dann dürfte die Möglichkeit der nicht-müßigen, aber auch geselligen Lebensführung einen positiven Einfluß auf das Selbstverständnis der ‚ewigen‘ Stiftsfräulein ausgeübt haben. Für die heiratenden Frauen ist sicher von Vorteil gewesen, daß sie im Stift jene Rollen einüben oder trainieren konnten, die auch im Ehestand von ihnen erwartet wurden. 1836 ist nun das Jahr im Verlauf der Stiftsgeschichte, welches das signifikante Nebeneinander von ‚ewigen‘ und ‚kurzweiligen‘ Stiftsfräulein beendete. Für den Funktionsverlust liegen keine quellenfaßbar stiftsinternen Gründe vor. Die „Resignationen“ blieben aus, die Phase des Stiftes als ‚Brautdepot‘ war abgelaufen.82 Die Institution verlor ihre traditionelle Funktion, und aus der heutigen Perspektive stellte das Jahr 1836 ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Jena-Stiftes dar. Doch nicht das Ereignis als solches ist interessant, sondern die Frage nach den Mechanismen seiner Produktion.

5.4.3. „1836“ – Zur Genese eines Ereignisses Vor welchem Hintergrund verliert das Jahr 1836 seine scheinbare Zufälligkeit? Zur Beantwortung sind einander diffundierende Räume zu öffnen, und zwar jene der Ereignisse, Praktiken, Strukturen und Prozesse. Es gilt, den Fakt als Faktum zu begreifen. Ich gehe davon aus, daß das stiftsinterne historische Ereignis „1836“ eine zum Abschluß gebrachte, sukzessiv erfolgte Interessenverlagerung adeliger Familien in Preußen symbolisiert. Francis L. Carsten nennt Preußen im 18. Jahrhundert einen „Adelsstaat“, womit er meint, daß nirgends sonst in Europa Adel und Staat so enge Beziehungen zueinander eingegangen waren.83 Das absolutistische bzw. aufgeklärt absolutistische Preußen arbeitete mit einem effizienten Verwaltungsapparat – an der Spitze des Beamtentums standen Adelige. Preußen entwickelte sich im 18. Jahrhundert zur stärksten europäischen Militärmacht – das Offizierskorps bestand fast ausschließlich aus Adeligen. Der Aufstieg des Hohenzollernstaates gründete wesentlich darauf, daß es den jeweiligen Königen – insbesondere Friedrich II. – gelang, den preußischen Adel an ihre Interessen zu binden. Die Politik Friedrich II. war durchaus adelsfreundlich, so verbot er den Erwerb von Rittergütern durch Bürgerliche, um die Stärke des Adels, die auf Grundbesitz und daraus

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das Äbtissinnenamt eingesetzt. Vgl. Hankel, H. P., Die reichsunmittelbaren evangelischen Damenstifte, S. 52ff. (s. a. Anm. 57) 1836 „resignirt“ die letzte Frau aus Heiratsgründen bzw. die vorletzte; von 1837 bis 1948 erfolgen noch insgesamt vier vorzeitige Abgänge, einer wegen Eheschließung. Es sind Ausnahmen von der Regel, sie stehen in keinem vergleichbaren Verhältnis zu den 24 Abgängen bis 1836. Vgl. Anh., Tab. 2, „Resignirte“ Konventualinnen (1703–1948). Carsten, Francis L., Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt a. M. 1988, S. 54.

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abgeleiteten Herrschaftsrechten beruhte, zu konservieren. Adeligen, die in Armut abzurutschen drohten, wurde dadurch geholfen, daß der König einen Teil der Schulden übernahm. Festzuhalten ist, daß es einige sehr wohlhabende Familien gab, doch die Mehrheit des preußischen Adels nie reich gewesen ist.84 Des Königs restriktive Gesetzgebung zeigt andererseits die Grenzen der Adelsfreundlichkeit an: Dem preußischen Adel war der Eintritt in ausländische Dienste verboten, andernfalls wurde das Vermögen beschlagnahmt. Wer im Ausland studierte, besaß keine Chance, ein Amt in Preußen zu erhalten. Armeedienst war Pflicht, der man sich nur durch Krankheit, geringe Körpergröße oder mangelndem Denkvermögen entziehen konnte.85 Letztlich gelang ein Interessenausgleich: Preußen besaß fortan einen Dienstadel, loyal zu König und Staat. Im Gegenzug wurden alle Adelsprivilegien im Allgemeinen Landrecht (1794) bestätigt.86 In preußischen Diensten waren fast alle Väter der Konventualinnen des Jena-Stiftes. Soweit erkennbar, standen bis 1836 fünfundzwanzig Männer im Militärdienst, neun waren Staatsbeamte. Nur zwei Väter wurden ausschließlich als Gutsbesitzer geführt.87 In ihren Berufen repräsentierten diese Männer sowohl den Hohenzollern-Staat als auch den preußischen Adel. Zugleich repräsentierten sie typische adelig-männliche Karrieremuster innerhalb der Standesgrenzen. Genormt von Verboten und Geboten, vom Staat gebraucht und durch seine Erfordernisse hervorgebracht. Man muß sich einen adeligen, mit wenig Besitz ausgestatteten, loyalen Staatsdiener denken, dessen Ziel darin besteht, seinen Familienangehörigen ein standesgemäßes Auskommen zu sichern.88 Dann wird vorstellbar, welche Interessen Familien leiteten, wenn sie Töchter im heiratsfähigen Alter in das Jena-Stift gaben. Lebensperspektiven von Frauen sind in dieser Zeit nicht zuletzt Produkt von Männer-Geschichte(n). Das zeigt sich z. B am Erbrecht: Die Errichtung von Fideikommissen setzte sich im preußischen Adel erst im 19. Jahrhundert durch. Im 18. Jahrhundert galt das Prinzip der Erbteilung. Der Besitz wurde unter gleichberechtigten Erben wertmäßig geteilt. Gleichberechtigt waren die Söhne, nicht die Töchter, die in der Regel abgefun84

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Vgl. ebd., S. 47ff. – Im 18. Jahrhundert gehörten z. B. die v. Schulenburgs, v. Alvensleben, v. Arnim und v. Dohna zu den reichen Adelsfamilien. Eine Auflistung der reichsten preußischen Adeligen im 19. Jahrhundert findet sich z. B. in: Lieven, Abschied von Macht und Würden, S. 345. Hier dominieren dann die schlesischen Magnaten wie Fürst Henckel von Donnersmarck oder Graf von Schaffgotsch. Vgl. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, S. 40–43. Wichtige Privilegien waren: Steuerrechtliche Vorteile, bäuerliche Erbuntertänigkeit, die alleinige Berechtigung, Rittergüter zu besitzen und die wichtigsten Ämter zu besetzen. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. Anh., Tab. 4, Berufe der Väter von Konventualinnen. Unter „Familie“ soll im folgenden im Sinn von Heinz Reif eine herausgehobene Personengruppe, bestehend aus der Eltern- und Kindgeneration, aus dem adeligen Verwandtschaftsnetz gemeint sein. Als Kernfamilie ist sie zum einen Leistungs- und Handlungseinheit und zum anderen adelsspezifisch in das Familiengeschlecht als überpersönlichen Verband in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integriert. – Zum Versuch einer Typologie der Adelsfamilie im 18. Jahrhundert, allerdings gebrochen durch die Besonderheiten des westfälischen Adels, vgl. Reif, Väterliche Gewalt und „kindliche Narrheit“, S. 82–113, besonders S. 89ff.

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den wurden. Es sei denn, die Tochter war das einzige Kind der Familie, dann wurde sie als Erbin eingesetzt.89 Demgegenüber legte die fideikommissarische Bindung – wie sie beispielsweise in Westfalen existierte – fest, daß das Gut unteilbar, unveräußerbar und erschwert verschuldbar war. Der älteste Sohn (Majoratsprinzip) erbte das Familiengut als einziger und stand diesem Besitz quasi als Verwalter vor.90 Durch die fideikommissarische Verwaltung konnten neue Güter akkumuliert und somit der Familienbesitz arrondiert werden, da ein größerer ökonomischer Handlungsspielraum bestand. Das Erbteilungsprinzip führte oft zur Zersplitterung des Besitzes und konnte zum Absinken von Adelsfamilien führen, insbesondere dann, wenn nur ein Gut zu vererben war. Gerade die Erbteilung gewährleistete m. E. jedoch, daß die Töchter in Familien des preußischen Dienstadels in bestimmter Hinsicht nicht die schlechtesten Aussichten auf eine Ehe hatten, da der ökonomische Gesichtspunkt zwangsläufig einen anderen Stellenwert als beispielsweise beim stiftsfähigen westfälischen Adel besitzen mußte. Ein stiftsfähiger Stammherr in Westfalen heiratete die Tochter eines stiftsfähigen Stammherrn. Mit der Heirat verzichteten Töchter auf Erbansprüche, so daß das Stammgut ihrer Herkunftsfamilie nicht belastet wurde. Die Stiftsfähigkeit beider Eheleute garantierte, daß den Nachkommen ahnengeprobte, begehrte Ämter erhalten blieben. In Westfalen entstand ein sehr enger und beschränkter Heiratskreis, zu dem immer weniger Familien Zutritt besaßen. Nachgeborene Söhne dieses exklusiven Kreises, fideikommissarisch vom Familienbesitz ausgeschlossen, traten oft in eines der zahlreichen geistlichen Ämter des katholischen Landes ein. Da die Ämter ans Zölibat gebunden waren, minimierten sich Heiratschancen vieler Töchter. Als Stiftsfräulein trugen sie dazu bei, die Ausgaben der Familie gering zu halten.91 Der Heiratskreis des mehrheitlich nicht reichen preußischen Adels dürfte sich auf selbigen beschränkt haben und somit im Vergleich zum westfälischen Beispiel groß gewesen sein. In diesem Kreis müßten ökonomische Vorteile durch eine Eheschließung aufgrund der Erbteilung geringer gewesen sein. Welche Heiratschancen besaßen z. B. drei Söhne und zwei Töchter einer mit einem Rittergut ausgestatteten Familie? Einer der Söhne soll das Gut übernehmen, die anderen eine Offiziers- bzw. Beamtenlaufbahn einschlagen. Alle drei erben jeweils ein Drittel des Besitzes. Die Abfindungssumme der Töchter ist eher niedrig, weil die Ausbildungskosten der Söhne sehr hoch sind. Zunächst stehen die Heiratschancen für alle Kinder nicht schlecht – die Söhne treffen allerorten auf gering entschädigte Töchter, die Töchter auf „Bruchteil“-Rittergutsbesitzer. Die Frage ist nur, ob solche Ehen ein standesgemäßes Leben garantieren würden?

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Vgl. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, S. 51. – Zur Komplexität und Transformation adeliger Besitzverhältnisse in Preußen vgl.: Schiller, René, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 80f. Vgl. ebd., S. 82ff. und S. 88.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Bei näherer Betrachtung ergeben sich folgende Möglichkeiten standesgemäßer Ehe- und Lebensführung: 1. Der Sohn, der das Gut übernimmt: Hier war die Wahrscheinlichkeit der Verschuldung sehr hoch, da die Erbanteile der Brüder ausbezahlt werden mußten. Die Heirat einer Erbtochter hätte dieses Problem lösen können. Allerdings muß die Frage offen bleiben, ob Väter von Erbinnen für solche Verbindungen ihr Einverständnis gegeben haben würden. Auf jeden Fall mußte ein Kleingutsbesitzer, der in den Ehestand treten wollte, materielle Eigeninteressen verfolgen. 2. Der Offiziers- bzw. Beamtensohn: Beide Berufe waren standesgemäß, sicherten aber nicht zugleich eine standesgemäße Ehe. Denn Beamten- und Offizierskarrieren verliefen langsam. Erst nach Jahren besetzte man eine Position, die gute Einnahmen erbrachte. Mit diesen und dem ererbten Drittelbesitz konnte ein Rittergut erworben werden. Im Gegensatz zum ersten Fall stand eine Eheschließung nicht notwendig unter der materiellen Option. 3. Die Töchter: Aus welchen Gründen hätten sie zum Heiratsverzicht gezwungen werden sollen? Der Heirats- und Erbverzicht sicherte insbesondere fideikommissarischen Grundbesitz.92 Aufgrund des Erbteilungsprinzips konnte Ehelosigkeit keine herausragende familiale Strategie zum Besitzerhalt darstellen. Es muß angenommen werden, daß das Familien- und Eigeninteresse zeitgemäß auf Verheiratung abzielte. Durch die geringe Abfindung der Töchter waren optimale Ehen sicher jene, die mit Beamten oder Offizieren geschlossen werden konnten. Geringer Grundbesitz und Erbteilung begünstigten Eheschließungen insofern, als der mangelnde Reichtum der meisten preußischen Adelsfamilien kein gewichtiges Kriterium für eine Heirat oder Nichtheirat von Töchtern sein konnte. Ein bedeutendes Kriterium scheint jedoch zu sein, ob und wann es den adeligen Angehörigen in Militär und Verwaltung gelungen war, eine Position zu besetzen, die ein Minimum standesgemäßer Lebensführung in der Ehe garantierte. Wer die Offizierslaufbahn einschlug, diente sich allmählich nach oben: „Der junge Offizier wurde oft erst nach 15 Dienstjahren Kapitän, was er maximal weitere acht Jahre blieb. Erst wenn er eine Kompanie erhielt, konnte er mit einem einträglichen Einkommen rechnen …“93 Der Offizier, der seine Karriere mit ca. 18 Jahren begann, war mindestens 33 Jahre alt, bevor er überhaupt daran denken konnte, eine Ehe einzugehen.94 Wenn er dann heiratete, dann dürfte sein Wahl entweder auf eine sehr junge Frau oder auf eine seinem Alter gemäße

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Diese Verzichtsleistungen waren besonders im stiftsfähigen westfälischen Adel ausgeprägt. Denn hier schützte vor allem der Familienbesitz die Angehörigen vor Verarmung und bot die Grundlage für ein standesgemäßes Leben. Vgl. ebd., S. 94. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, S. 45. Zum Verhältnis von Heiratsverhalten und Sozialstruktur vgl. z. B.: Ehmer, Josef, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, S. 67ff.

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Frau gefallen sein.95 Aufgrund des langsamen Karriereverlaufs, der eine späte Erstheirat erforderlich machte, wurden die Heiratschancen von Frauen insofern begünstigt, als sie zumindest bis zum 30. Lebensjahr gute Aussichten hatten, in die Ehe einzutreten. Adelige Familienväter kannten den beruflichen Werdegang bzw. hatten ihn selbst erlebt. Vor diesem Hintergrund erlangt das Stift Bedeutung. Wenn Familien ihren Töchtern im heiratsfähigen Alter eine Stiftsstelle kauften, dann ist das als eine Doppelstrategie der Lebenssicherung zu betrachten.96 Im westfälischen Adel mochte der Familienbesitz allen Mitgliedern Sicherheiten einräumen. Bei der Mehrheit der preußischen Familien war das aus genannten Gründen nicht der Fall. Die Stiftsstelle garantierte auf jeden Fall ein standesgemäßes Leben. Zugleich waren die stiftsexternen Bedingungen (männliche Berufskarrieren) dergestalt, daß Ehen von Stiftsfräulein keineswegs auszuschließen waren. Wurden westfälische Töchter ins Stift gegeben, um die Familienkosten gering zu halten, so gingen preußische Töchter deshalb ins Stift, weil die Familie allein kein Garant standesgemäßen Lebens gewesen ist. Welche anderen Interessen mochten Familien bewogen haben, Stiftsfräulein zu Töchtern haben zu wollen? 1. Die Verantwortung des Kriegers: Der Adel hatte seine Wurzeln im mittelalterlichen Rittertum – Kriegsführung war sein ältester Beruf, dieses Privileg war Quelle seines Selbstbewußtseins, seiner Macht. Das komplementäre Privileg hieß Schutzherrschaft – der Adelige als Schutzherr der Bauern, Frauen, Familien, Dörfer, des Landes. Der preußische Adel kämpfte im Schlesischen und Siebenjährigen Krieg, er hatte hohe personelle und wirtschaftliche Verluste zu erleiden. Insbesondere der Siebenjährige Krieg trieb viele Adelsfamilien in den Ruin.97 Ein adeliger Familienvater des 18. Jahrhunderts wußte nicht nur um die Heldentaten einzelner in Vergangenheit und Gegenwart, er wußte auch um Verwüstungen, Plünderungen und Gemetzel. Kaufte er seiner Tochter eine Stiftsstelle, so handelte er in schutzherrlicher Verantwortung. Dieser Adelige konnte nicht mit Sicherheit wissen, ob sein Besitz vom Krieg ruiniert werden würde, ob der Bräutigam der Tochter

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Die nachgeborenen Söhne des westfälischen Adels, die in weltlichen Berufen Karriere machten, somit mit o. g. preußischen Adeligen zu vergleichen sind, heirateten im Durchschnittsalter von 30 Jahren. (Zum Vergleich: Die Stammherren waren bei der Erstheirat zwischen 26 J. und 28 J.) Über die Hälfte von ihnen heirateten Frauen, die über 25 Jahre alt waren. Dieses Verhalten zielte auf Familienplanung mit geringer Kinderzahl ab, da die Phase der Gebärfähigkeit so nicht voll genutzt wurde. Wie die Frage der generativen Reproduktion beantwortet wurde, hing eng mit der ökonomischen Situation von Männern und ihrer Geburtenfolge in der Herkunftsfamilie zusammen. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 246–248. Unter „Strategie“ ist nicht eine intentional ausgeführte Handlung eines erfolgsorientierten Subjekts zu verstehen, sondern eine Handlung, die i. S. v. Bourdieu vom Habitus generiert ist. Das heißt: „Strategien […] sind Handlungen, die sich objektiv auf Ziele richten, die nicht unbedingt auch die subjektiv angestrebten Ziele sein müssen.“ Vgl. Bourdieu, Pierre, Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, S. 113. Vgl. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, S. 48.

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zu Tode kommen würde, ob er selbst überleben würde. Das Jena-Stift, in städtischer Lage und unter Schutzherrschaft des Königs stehend, wurde womöglich als Garant der Unversehrtheit von Töchtern in kriegerischen und potentiell kriegerischen Zeiten betrachtet. 2. Distinktion innerhalb des Standes: Indem eine Tochter in die Normen und Strukturen des Jena-Stiftes eintrat, repräsentierte sie zugleich einen Frauentyp, in welchem ihre Familie sie zu sehen wünschte – der Typ des ehrbaren und tüchtigen „Frauenzimmers“. „Frauenzimmer“-Qualitäten waren auf einem preußischen Rittergut gefragter als höfische Manieren. Auf diese Weise repräsentierte die schlichte Existenz von Stiftsfräulein das Selbstverständnis einer bestimmten Adelsgruppe – in diesem Fall das des preußischen Dienstadels.98 Die Kehrseite von Repräsentation ist Distinktion. Auf den Heiratsmarkt bezogen signalisierten Stiftsfräulein, daß Ehen nicht um jeden Preis geschlossen wurden. Das standesgemäße Stiftsleben war einem Leben an der Seite eines verschuldeten „Krautjunkers“ vorzuziehen. 3. Das Stift als Standesrepräsentant; Partizipation am Prestige der Hochadelsstifte: Über familiale Interessen hinausgehend, verweist die Existenz von Stiften auf die ständische Gesellschaft, auf den Adel als Stand. In keinem anderen Stand konnten Familienangehörige so offenkundig freigesetzt werden, dort wurden sie als Arbeitskräfte benötigt. Stifte versinnbildlichten adeligen Lebensstil, strahlten auf Angehörige anderer Stände Luxus und Müßiggang aus. Hingegen symbolisierten reichsunmittelbare, hochadelige Damenstifte nicht in erster Linie Lebensstil, sondern Adelsmacht: Fürstinäbtissinnen als Landesherren. Für den niederen Adel blieben diese Stifte unerreichbar. Doch bereits die Existenz des Jena-Stiftes sicherte seine „stille Teilhaberschaft“ am „Glanz“ der Großen. Sich z. B. im Spiegel des kaiserlich gegründeten, traditionsreichen, mächtigen Stiftes Quedlinburg betrachten zu können – damit konnte sich das Jena-Stift in einen historischideellen Zusammenhang stellen, der weit über die eigene Geschichte hinausging. Durch die Partizipation am Prestige der Hochadelsstifte ließ sich das eigene Ansehen symbolisch erhöhen.99 Bis hierher wurde versucht, mögliche materielle und ideelle Interessen vorzustellen, die den preußischen Dienstadel des 18. Jahrhunderts veranlaßt haben konnten, seine Töchter im heiratsfähigen Alter in ein Stift zu geben. Insbesondere kam es darauf an, das Stift als Doppelstrategie der Lebenssicherung, resultierend aus der Kluft zwischen nicht reichem Adel und der Norm standesgemäßer Lebensführung, plausibel zu machen. Die Preisgabe des Jena-Stiftes als Brautdepot vollzog sich vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Wandels vom 18. zum 19. Jahrhundert. Aufklärungskritik und Französische Revolution – Indikatoren des Wandels – brachten den Adel insgesamt in 98

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Hingegen repräsentierten die Stiftsdamen des Essener Stiftes ein andere Gruppe, nämlich den alten und hohen katholischen Adel. Wer hier Stiftsdame wurde, besaß makellose 16 Ahnen und gehörte zu einem kleinen exklusiven Kreis. Vgl. Küppers-Braun, Katholische Hochadelsstifte, S. 208. Hier gedacht als Analogie zum Verhältnis von Adel als soziale Gruppe und dem Einzelnen in seiner symbolisch-kulturellen Dimension. Vgl. dazu: Simmel, G., Exkurs über den Adel, S. 823f.

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eine Legitimationskrise, die frühestens ab 1815 als überwunden zu betrachten ist.100 Die allgemeine Adelskrise, davon ist auszugehen, zeigte sich je nach gruppenspezifischer bzw. individueller Situierung innerhalb des Adels in unterschiedlicher Gestalt und in verschiedenen Wirkungen. Für die Belange des Jena-Stiftes ist die Annahme wichtig, daß sich Angehörige des preußischen Dienstadels zunehmend an aufgeklärten, später romantischen Idealen von Individualität und Subjektivität orientierten. Die in diesem Zusammenhang seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geführten öffentlichen Diskurse um Familie, Partnerschaft, Ehe und Geschlechterrollen dürften auch für die Angehörigen dieser Adelsgruppe handlungsrelevant gewesen sein.101 Da die vorliegenden Quellen die Annahme tatsächlich veränderter familialer Beziehungen weder bestätigen noch widerlegen können, wird ihre Plausibilität über das Rekurrieren auf die stiftsfähigen Adelsfamilien Westfalens hergeleitet. Heinz Reif konnte für den stiftsfähigen westfälischen Adel anhand von Tagebüchern und Briefwechseln zeigen, daß die Konzepte von Liebesheirat, Empfindsamkeit, Freundschaft usw. in den individuellen Vorstellungen und der gelebten Praxis einzelner verankert gewesen sind. Ich-zentrierte Lebensentwürfe in einer Zeit von Umbruchserfahrungen bedrohten die hierarchische Familienordnung ebenso wie der Rückgang ständisch-hausväterlicher Herrschaft aufgrund sich durchsetzender moderner Rechtsauffassungen.102 Zu diesen längerfristigen Entwicklungen traten Ereignisse, die die Familienordnung an den Rand des Zusammenbruchs führten. Die Aufhebung des geistlichen Staates, der vornehmlich von Angehörigen der stiftsfähigen Familien getragen wurde, infolge französischer Besetzung bzw. Übernahme durch den preußischen Staat, entzog diesen Familien eine wesentliche Herrschaftsgrundlage. Sie wurden plötzlich und radikal ihrer geburtsständischen Rechte entmachtet. Auf diesen Bruch wurde zunächst mit einem Rückzug auf die Familie reagiert. In Korrelation von Individualisierung und Disziplinierung der Individuen beschreibt Reif eine auf materielle Interessen gründende, neue familiale Praxis, die sich vor allem durch eine Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung auszeichnete. In dem Maße, wie Gefühle die zwischenmenschlichen Beziehungen ge100

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Zur Rolle des Adels in der Übergangsphase vgl. den Sammelband von Reden-Dohna, Armgard v. / Melville, Ralph (Hgg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Stuttgart 1988. Zur Diskursebene vgl. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Zum Verhältnis von Normen und historischer Realität vgl.: Trepp, Anne-Charlott, Anders als sein „Geschlechtscharakter“. Der bürgerliche Mann um 1800. Ferdinand Beneke (1774–1948), in: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 57–77; Hausen, Karin, „… eine Ulme für das schwanke Efeu“. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, S. 85–117. Zur Handlungsrelevanz und Aneignung solcher Diskurse und Normen im Bürgertum maßgeblich: Trepp, Sanfte Männlichkeit; Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 260–278. Zur Reduzierung der hausväterlichen Gewalt (z. B. dürfen Eltern Kinder in keine Ehe zwingen) im Preußischen Landrecht (1794), das spätestens ab 1815 auch für Westfalen verbindlich wurde, vgl. Kosellek, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 62–70.

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stalteten, konnte Liebesentzug ein neues, auf Selbstkontrolle setzendes Sanktionsmittel werden, mit dessen Hilfe die hergebrachte Familienordnung stabilisiert werden konnte.103 Die „bei den aufwachsenden Kindern einsetzenden Individualisierungsprozesse wurden von den Eltern, die ihr Verhalten zu den Kindern innerhalb der Familie ebenfalls in Grenzen individueller gestalteten, gleichsam umgelenkt und zur Stützung der an kollektiven Zielen ausgerichteten Familienordnung genutzt.“104 Diese die alte Ordnung bewahren wollende Reaktion auf den Individualisierungsschub beförderte die partielle Privatisierung und Intimisierung der Familie, ohne das oberste familiale Ziel des Besitzerhaltes gefährden zu müssen. Der stiftsfähige Adel erbrachte in der „Sattelzeit“ eine enorme Anpassungsleistung. Im Kontext der Aufrechterhaltung seiner Familienordnung beruhte diese Leistung darauf, daß es den Familien gelang, Aspekte des sich um 1800 konstituierenden „bürgerlichen Wertehimmels“ in ihre Ordnung zu integrieren und diese, adeligen Eigeninteressen gemäß, zu modifizieren. Der preußische Dienstadel machte andere Krisenerfahrungen als der westfälische Adel. Die militärische Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt signalisierte die Schwäche des Kriegerstandes. Die Stein-Hardenbergischen Reformgesetzgebungen seit 1807 hoben Adelsprivilegien auf, die Reorganisation von Militär und Verwaltung nach Bildungsund Leistungsprinzipien erhöhte den Konkurrenzdruck gegenüber bürgerlichen Staatsbeamten. Die ökonomische Situation blieb weiterhin ungünstig bzw. verschlechterte sich. Immer mehr Adelige verfügten nicht mehr über das traditionelle Herrschaftsinstrument – den Grundbesitz.105 Der signifikante Unterschied zum stiftsfähigen Adel in Westfalen bestand darin, daß die Krise auf dieser Ebene keinen radikalen Bruch bezeichnete. Der Dienstadel wurde nicht plötzlich entmachtet, stand demnach nicht unter dem Druck, nach völlig neuen Handlungsmustern zu suchen. Vielmehr ist zu vermuten, daß die Krise jene Verhaltens- und Bewußtseinsformen beschleunigte, die dem Dienstadel bereits inhärent waren. Schon unter den absolutistischen Herrschern des 18. Jahrhunderts wurden geburtsständische Herrschaftsrechte teilweise entzogen und durch „berufsständische“ kompensiert. Der Dienstadel wandelte sich sukzessive in einen privilegierten „Berufsstand“. Die Krise stellte auf dieser Ebene keinen Bruch dar, sondern beschleunigte den Prozeß hin zu

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Vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 283–304. Zur Komplexität des Verhältnisses von Emotion und materiellen Interessen vgl. den programmatischen Aufsatz von Medick, Hans / Sabean, David, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Dies. (Hgg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 27–54. Reif, Westfälischer Adel, S. 293. Der landlose Adel resultierte aus der Kluft zwischen der Zahl von Rittergütern und der Zahl von Adelsfamilien. Auf 20 000 Adelsfamilien kamen ca. 6 000 Rittergüter. Die Verschuldung der Rittergüter stieg an und führte trotz rechtlicher Verbote im 18. Jahrhundert zum Verkauf an finanzkräftige Bürgerliche – um 1800 waren 10 % der adeligen Güter dem Adel entfremdet. Die Mehrzahl der adeligen Männer war auf den Staatsdienst angewiesen. Vgl. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 80–87.

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einer adeligen Funktionselite des Staates im 19. Jahrhundert.106 Auf der familialen Ebene ist ein ebenso schrittweiser, um 1800 beschleunigter Wandel zu vermuten. Aus sozialhistorischer Sicht ist zu bedenken, daß der an Grundbesitz eher arme, in Staatsdiensten beschäftigte Adelige in seiner sozio-ökonomischen Situation nicht mit einem westfälischen Stammherrn, sehr wohl aber mit einem bürgerlichen Beamten zu vergleichen wäre. Partiell ständischen Strukturen enthoben und insbesondere den Staatsinteressen verpflichtet, zugleich den „gebildeten Ständen“ angehörend, mochte dieser Adel um 1800 eine größere strukturelle Nähe zu bürgerlichen Staatsbeamten in Preußen als zum stiftsfähigen Adel Westfalens aufweisen. Deshalb ist anzunehmen, daß die neuen Träume von Ehe- und Familienglück im Dienstadel ungleich offener aufgenommen wurden als beim westfälischen Adel. Zur Familie als ein sachlich-ökonomischer, aber auch als Geschlechterverband trat demnach ein Beziehungsmuster, das sich durch emotionale Vertrautheit und Zuwendung auszeichnete. Allerdings dürfte das Insistieren auf soziale und ökonomische Faktoren, die Adelige und Bürgerliche partiell miteinander verbunden haben mochten, ein zu starke Verengung bedeuten, um den mentalen und kulturellen Veränderungen in der entsicherten Ständegesellschaft gerecht zu werden. Im Abschnitt 3.4.1.1. dieser Arbeit wurde am Beispiel der 1818 geborenen Maximiliane von Arnim thematisiert, daß es im Berlin der 1830er, 1840er Jahre ein „Wir“ junger Frauen und Männer aus Hoch- und Hofadel, aus bürgerlichen und adeligen Künstler- und Gelehrtenkreisen gab, für welche die Liebesehe zum Plan vom Glück gehörte. Es griffe zu kurz, läse man die Erinnerungen Gräfin Oriolas, geb. v. Arnim, an ihre Kindheit und Jugend unter dem Gesichtspunkt der Stilisierung einer Tochter aus romantischem Elternhaus. Vielmehr gehörten ihre Kindheit und Jugend und noch mehr die Biographien ihrer Eltern einer Zeit, einer Epoche an, die Ewald Frie als „Laboratorium vor der Moderne“ (1790–1830) bezeichnet, in der für Adel wie Bürgertum „die Vergangenheit als prägende Denkstruktur entsichert war, ohne daß ein dominantes Zukunftsmodell sich schon abzeichnete“ und in der zur „Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft“ auch das Ausprobieren neuer Lebensformen und Gesellschaftsmodelle gehörte.107 Dazu gehörte die ‚Entdeckung‘ des Familienlebens, das sich durch wechselseitige emotionale Beziehungen zwischen dem Paar, den Eltern und Kindern auszeichnete. Frie zeigt, daß nicht nur die von Trepp untersuchten Hamburger Bürgerinnen und Bürger, sondern auch der preußische Adelige Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777–1837) die eigene Biographie vom Mittelpunkt des Privaten neu zu organisieren versuchte.108 106

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Zu den unterschiedlichen Startbedingungen ins 19. Jahrhundert des westfälischen und preußischen Adels vgl. Reif, Westfälischer Adel, S. 176–186. – Zum Verhältnis „Geburtsstand“ und „Berufsstand“ unter den Bedingungen der Herausbildung der modernen Gesellschaft vgl.: Gall, Lothar, Vom Stand zur Klasse? Zur Entstehung und Struktur der modernen Gesellschaft, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 1–21. Frie, Ewald, Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777–1837). Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft, in: Reif (Hg.), Adel und Bürgertum I, S. 83–102, zit.: S. 86. Vgl. Frie, Ewald, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen, bes. das Kapitel: Familie, Hof, Stadt, S. 43–71.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Wenn aber das Private zum biographischen Entwurf werden konnte, an dem sich künftige Ehepaare orientierten, den Mütter und Väter ihren Kindern vorlebten, dann mußte eine solche Konstellation letztlich auch Auswirkungen auf das Jena-Stift in seiner Funktion als ‚Brautdepot‘ haben. In dem Maße, wie z. B. individuelle Bedürfnisse der heranwachsenden Kinder durch die Eltern berücksichtigt wurden, stand den Töchtern ein bescheidener Entscheidungsspielraum zur Verfügung. Sie konnten den Stiftseintritt ablehnen und sich für einen Verbleib innerhalb der Familie entscheiden. Gerade in der Zeit der Adelskrise war der Zusammenhalt der Familie wichtig, so daß von einer elterlichen Akzeptanz solcher Entscheidungen auszugehen ist. Auch ist der materielle Vorteil zu bedenken: Auf eine Stiftsstelle zu verzichten bedeutete die Senkung von Familienausgaben. Zugleich konnten Töchter durch ihre häusliche Mitarbeit den Haushaltsaufwand mindern. Die Orientierung auf eine Eheschließung konnte durch ein Verbleiben in der Familie womöglich im Interesse der Töchter als auch der Eltern anvisiert werden. Eine über Jahre hinweg erfolgte regelmäßige Teilnahme der Töchter an adeligen Festen und Geselligkeiten dürfte persönliche Freundschaften und die Chancen einer Liebesheirat befördert haben. Die Funktion des Jena-Stiftes als ‚Brautdepot‘ ergab sich im 18. Jahrhundert insbesondere aus der Doppelstrategie der Lebenssicherung. In dem Maße, wie sich die familiale Praxis auch zu einem Binnenraum gegenseitiger Zuneigung zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern gestaltete, trat diese Strategie zu einem in Grenzen am Individuum orientierten Verhaltens- und Handlungsmuster zurück. Das ‚Brautdepot‘ wechselte die Institutionen: Für junge, noch nicht verheiratete Frauen des Dienstadels trat an die Stelle des Stiftes die Familie. Eine veränderte Auffassung von Familie mußte auch die Wertung, was als „standesgemäß“, d. h. gleichsam auf natürliche Weise zur sozialen Gruppe passend, zu gelten hat, verändern. Im 18. Jahrhundert galt das Stift als standesgemäße Einrichtung. Um die Jahrhundertwende entwickelten sich offenbar für die Gruppe junger potentieller Gattinnen die Familienzusammenhänge zu einem Raum standesgemäßer Lebensführung. Zu dieser „Ortsveränderung“ könnte beschleunigend beigetragen haben, daß das Jena-Stift (wie alle kleinen Stifte) durch die Säkularisierung der reichsunmittelbaren Stifte an seiner bisherigen Qualität durch Prestige-Partizipation einbüßte. Während die Familien des stiftsfähigen westfälischen Adels in der Umbruchsphase gleichsam ‚zwangsintimisiert‘ erscheinen, ist für den preußischen Dienstadel eine sozioökonomische Ähnlichkeit zu bürgerlichen Staatsbeamten angerissen worden, die womöglich eine größere Offenheit gegenüber neuen Vorstellungen von Familie und Ehe mitbedingt hat. Mit dem Rückgriff auf das „Laboratorium“ sollte aber auch aufscheinen, daß das Private zum adelsbiographischen Entwurf gehören konnte und somit vom Individuum her zu gestalten war. Im Kontext eines neuartigen Ehe- und Familienverständnisses verrückten sich die Lebensperspektiven von Töchtern: Das junge Stiftsfräulein des 18. Jahrhunderts kann als potentielle Gattin betrachtet werden. Die junge ‚Tochter des Hauses‘ nach der Jahrhundertwende ist als potentielles Stiftsfräulein zu denken.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

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5.4.4. Leben in der ‚Warteschleife‘ (1837–1880) Ab 1837 beherbergte das Jena-Stift ledige Frauen bis zu ihrem Tod. Erst jetzt entsprach die Funktion der gängigen Vorstellung, in Stiftsdamen auf Lebenszeit unverheiratete Frauen zu sehen. Das Eintrittsalter der Konventualinnen erhöhte sich wesentlich. Der Auftakt für diese Verschiebung ist durch Frau von Seelhorst personifiziert, die 1837 als 41jährige in das Stift eintrat. Bis zu diesem Zeitpunkt lagen die Durchschnittswerte bei Eintritt pro Jahrzwanzigt im dritten Lebensjahrzehnt (23 J., 26 J., 23 J.).109 Danach erhöhten sie sich auf 37 bzw. 36 Jahre. Von den fünfzehn Frauen, die bis 1880 in das Stift eintraten, waren nur drei von ihnen unter Dreißig.110 Der Altersanstieg ist eine Folge des Ausbleibens von „Resignationen“ bei konstanter Anzahl von zehn Stiftsstellen, wodurch der bisherige Regulierungsmechanismus wegfällt. Frauen mit Stiftsanrecht (Expektanz) mußten nun auf den Tod einer Insassin warten, um eine Stelle besetzen zu können. Während in der ersten Phase die Wartezeit zwischen Expektanz und Eintritt ca. drei Jahre betrug, erhöhte sie sich nun auf knapp neun Jahre.111 Die angehenden Stiftsfräulein wurden in die ‚Warteschleife‘ genötigt. Die Altersstruktur des Stiftes verschob sich folgerichtig nach hinten. Diese Erklärung ist zumindest um eine Überlegung zu ergänzen. Der Funktionswandel des Jena-Stiftes korrelierte mit einer Homogenisierung des Typs „Stiftdame“. Galt in der ersten Phase ein Nebeneinander von ‚kurzweiligen‘ und ‚ewigen‘, aber auch jungen und alten Stiftsdamen, schält sich in der zweiten Phase ein einheitlicher Typ der ewigen, jenseits des dreißigsten Lebensjahres eintretenden Stiftsdame heraus. Dieser Einheitstyp verweist m. E. indirekt auf die Durchsetzung einer weiblichen Normalbiographie im 19. Jahrhundert, die nicht nur auf eine Ehe zugeschnitten war, sondern auch auf den Zeitpunkt des Eintretens in den Ehestand. In der ersten Phase traten Frauen aus Heiratsgründen z. B. im Alter von 20, 24 oder 27 Jahren aus, doch ebenso heirateten Frauen mit oder nach dem 40., 45. oder 46. Lebensjahr. Die Ehe war demnach zu vielen Zeiten im Lebenslauf von Frauen möglich.112 Die Stiftsdamen der 2. Phase wuchsen, wie im letzten Unterkapitel ausgeführt, als ‚Tochter des Hauses‘ in der Familie auf. Erziehungsleistungen durch die Eltern, insbesondere der Mutter, einerseits, aber auch eine im 19. Jahrhundert möglich gewordene geregeltere Schulbildung andererseits trugen dazu bei, Töchter auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. In dieser Zeit betrug das durchschnittliche Erstheiratsalter von Frauen 25 Jahre.113 Aus

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Ich beziehe mich auf den Zeitraum nach 1760, der unter dem Gesichtspunkt des Eintrittsalters normale Verhältnisse signalisiert – das Typische zeigt sich erst nach Beendigung der Stiftskonsolidierung. Weiter oben wurde bereits auf die Altersheterogenität der Anfangsjahre hingewiesen. Sechs Frauen waren zwischen 32 und 38 Jahren, fünf zwischen 40 und 49 Jahren, eine war 50 Jahre alt. Vgl. Anh., Abb. 2, Eintritts- und Expektanzalter der Konventualinnen (1703–1948). Vgl. Anh., Tab. 2, „Resignirte“ Konventualinnen (1703–1948). Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1860–1866, S. 109.

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der Perspektive der historischen Demographie spricht Imhof von einer „Standardisierung der Heiratsalter“114, d. h. von einer Vereinheitlichung in Richtung der Durchschnittswerte. Dieser Befund wird durch die Untersuchung von Göckenjan und Taeger zu Altersbildern in Diskursen des 19. Jahrhunderts gestärkt. Das Alter, nichts anderes als eine auf Konventionen beruhende Zuschreibung, die soziale Erwartungen spiegelt, begann für ledige Frauen nach Überschreitung des Heiratsalters und schlug sich im Begriff der „alten Jungfer“ nieder. Ehefrauen galten nach Beendigung der Gebärfähigkeit als alt und wurden als „geschlechtslose Unwesen“ betrachtet115: „Frauen verlieren mit Überschreiten des 25. Lebensjahres, spätestens mit 40 ihre Existenzberechtigung.“116 Im Licht dieser Ergebnisse fällt das Expektanzalter der Frauen auf. Zwischen 1841 und 1860 wurde das Stiftsanrecht mit durchschnittlich 26 Jahren erworben, zwischen 1861 und 1880 mit 30 Jahren. Damit liegt das Expektanzalter einerseits höher als das durchschnittliche Eintrittsalter der ersten Phase, andererseits höher als das durchschnittliche Erstheiratsalter dieses Zeitraumes. Es hat den Anschein, daß die Stiftsanwartschaft zu einem Zeitpunkt erfolgte, als mit einer Eheschließung nicht mehr zu rechnen war. Das Leben in der ‚Warteschleife‘ dürfte in vielen Fällen ein Kampf um die eigene Biographie und Identität gewesen sein. Der Ledigen-Status entzog den einzelnen einen durch Eheschließung und Mutterschaft anerkannten Lebensabschnitt des Erwachsenenseins. Die Ledige vollzog per Zuschreibung als „spätes Mädchen“ und „alte Jungfer“ den direkten Sprung von der Kindheits- in die Alter(n)sphase bzw. verblieb in der einen oder anderen. Ohne Ehe, Mann und Kinder wurde sie als „Mangelwesen“ betrachtet, der man mit Mißtrauen oder Spott begegnete. Die Gesellschaft der (Ehe)Männer und Ehefrauen stigmatisierte, um sich der eigenen Lebensform zu vergewissern und deren Überlegenheit herausstellen zu können.117 In diesem Kontext erscheint das Jena-Stift der zweiten Phase als Fluchtpunkt: Eine unverheiratete Frau war ein Nichts. Als Stiftsdame hingegen, mit Rechten und Pflichten in eine Institution eingebunden, besetzten Frauen eine soziale Position, die zwar den Ledigen-Status nur wenig verschleierte, aber ein gewisses Maß an Anerkennung bedeutete. Eine Stiftsdame konnte Wohltätigkeitsveranstaltungen besuchen oder ausrichten, eine Ledige war u. U. Objekt einer karitativen Handlung. Eine Äbtissin mochte herrisch sein und ihre Marotten haben, eine „alte Jungfer“ galt als verwelkt, ver-

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Imhof, Arthur, Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit, in: VSWG 71 (1984), S. 175–198, hier S. 184. Vgl. Göckenjan, Gerd / Taeger, Angela, Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, in: AfS 30 (1990), S. 43–79, hier: S. 44ff. und 64ff. Ebd., S. 70. Vgl. Perrot, Michelle, Außenseiter: Ledige und Alleinstehende, in: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4, S. 293–309; Dauphin, Cécile, Alleinstehende, in: Geschichte der Frauen, Bd. 4, S. 481–497. Zum Verhältnis von sexueller Ordnung, Männerphantasien und Nicht-Ehefrauen vgl. einführend Corbin, Alain, Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 83ff. Daß ledige Frauen im Bürgertum diese Zumutungen spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht unwidersprochen hinnahmen, zeigt: Kuhn, Bärbel, Familienstand: ledig.

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kümmert. Der Eintritt ins Jena-Stift bot zum einen die Möglichkeit, sich mit einer im Adel angebotenen sozialen Position positiv zu identifizieren. Zum anderen generierte der Stiftseintritt einen neuen Lebensabschnitt, der sicherlich bedeutungsvoll erfahren wurde, wenn man einbezieht, daß der Ledigen nach dem 25. Lebensjahr die eigene Biographie abgesprochen wurde, weil sie das normative Ziel nicht erreicht hatte. Unbestritten – nicht jede nicht-heiratende Adelige wurde nach Überschreitung des Heiratsalters Stiftsdame. Auch hatte nicht jede Adelige das Bedürfnis, überhaupt eine Ehe eingehen zu wollen. Welche jedoch innerhalb der Adelsschranken bewußt oder unbewußt handelte, hatte als freiwillige oder unfreiwillige Ledige drei standesgemäßen Optionen zu folgen: Stiftsfräulein (auch Nonne oder Ordensfrau besonders in katholischen Regionen), Gouvernante (je nach sozialer Position innerhalb des Adels auch Erzieherin oder Hofdame), Faktotum „Tante“. Für individuelle Lebensentwürfe außerhalb dieser Vorgaben gab es um und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts keine Alternativen. Auch Schriftstellerinnen bildeten keineswegs eine Ausnahme. Bettina von Arnim oder Marie von Ebner-Eschenbach waren verheiratet, Ferdinande von Brackel und Thekla von Gumpert waren als „Tante“ bzw. Erzieherin tätig. Die Schriftstellerin blieb in den sozialen Erwartungen an Frauen den vorgesehenen Mustern nachgeordnet.

5.4.5. ‚Urnengang‘ (1881–1920) Zwischen 1881 und 1920 betrug das durchschnittliche Eintrittsalter der Frauen 48 bzw. 49 Jahre. Dieser Altersanstieg setzte sich nach 1920 fort und pegelte sich letztlich bei 61 Jahren ein. Im halleschen „Auskunftsbuch über Wohltätigkeit und Wohlfahrtspflege“ von 1907 wurde das Jena-Stift als „Altersversorgungsanstalt“ geführt.118 Spätestens ab den 1920er Jahren wurde die Einrichtung von der Inneren Mission, der Anstaltsfürsorge evangelischer Wohlfahrtstätigkeit, „zur Förderung von Altersheimen“ finanziell unterstützt.119 Somit ist das Jena-Stift der Jahrhundertwende Bestandteil eines recht heterogenen Netzwerkes der Altersfürsorge, das grundsätzlich in öffentliche und private Wohlfahrtspflege zu unterscheiden ist und aus so unterschiedlichen Institutionen wie städtischen Armen- und Siechenhäusern einerseits und privaten Pfründnerhäusern bzw. sog. Altersstiften andererseits bestand. Die Begriffe Pfründner, Sieche und Arme zeigen für unsere Zwecke hinreichend an, daß Altersfürsorge nicht an ein bestimmtes chronologisches Alter gebunden war, sondern sich zum einen nach dem Gesundheitszustand, zum anderen nach

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Auskunftsbuch über Wohltätigkeit und Wohlfahrtspflege in Halle. a. S., hg. v. Dr. Tempelmann, Halle 1907, S. 17. Mitteilung des Provinzial-Ausschusses für Innere Mission in der Provinz Sachsen vom 14. 9. 1925 an das Jena-Stift, in: StArch, Neuere Akten VII, Rechnungssachen 1892–1944.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

Vermögen und sozialer Herkunft richtete.120 In dieser Gemengelage ließe sich das JenaStift gut mit den sog. Altersstiften, die Hans-Joachim von Kondratowitz als „Prototyp des Altenheims des 20. Jahrhunderts“121 betrachtet, vergleichen. Diese Altersstifte waren in der Regel private Neugründungen des 19. Jahrhunderts und wendeten sich an eine bürgerliche Zielgruppe (Witwen, Ledige, Junggesellen, seltener Ehepaare). Eine Stiftsstelle konnte frühestens ab dem 40. Lebensjahr käuflich erworben werden.122 Ausgang des 19. Jahrhunderts unterschieden sich adeliges Jena-Stift und bürgerliches Altersstift de facto nur im Hinblick auf die Zielgruppe. Ohne einen Vergleich anstreben zu können, bleibt festzuhalten, daß sich aufgrund der Altersverschiebung im Jena-Stift diese Adelsinstitution unvermutet im Forschungskontext von Alterssicherung und Wohlfahrt präsentiert. Wenn an dieser Stelle wiederum nach den Gründen und dem Zweck des Stiftseintritts zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lebenslauf gefragt werden soll, ist nochmals an den bisherigen Verlauf zu erinnern: Für die erste Phase des ‚Brautdepots‘ wurde eine familiale Doppelstrategie der Lebenssicherung lediger Töchter herausgearbeitet, die zweite Phase kann als familiale, aber auch individuelle Kompensationsstrategie derjenigen Frauen betrachtet werden, die den Status der Stiftsdame dem Stigma der „alten Jungfer“ vorzogen. Beide Strategien waren eng an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen geknüpft. Zweifellos ist die deutsche Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine andere als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts bzw. des 18. Jahrhunderts gewesen. Zunächst ist klarzustellen, daß es sich bei der Altersverschiebung nicht um eine verlängerte Wartezeit zwischen Expektanz und Eintritt handelte. Das Expektanzalter betrug durchschnittlich 40 Jahre. In den meisten Fällen lag das tatsächliche Alter zwischen 43 und 58 Jahren. Offensichtlich erfolgten Anmeldung und Eintritt nach einem vergleichsweise langen Vorleben. Anhand von Lebensläufen, die schriftlichen Aufnahmegesuchen ins Jena-Stift beigefügt worden sind, läßt sich zum einen zeigen, daß der Stiftseintritt eine selbständige Entscheidung zum Zweck der Altersvorsorge gewesen ist. Der ‚Urnengang‘ bezeichnet somit eine individuelle Strategie der Alterssicherung. Zum anderen ist aus den geschilderten Berufswegen vorsichtig zu schließen, daß Adelsfamilien ihre ledigen Töchter in die Selbständigkeit entließen. Die Bewerbungen bzw. Lebensläufe existieren erst ab den 1920er Jahren, stimmen also mit den tatsächlich eintretenden Frauen der dritten Phase nicht überein. Ausgewählt wurden Lebensläufe von Frauen, die zwischen 1860 und 1891 geboren wurden, weil sich deren Werdegang zum einen im Kaiserreich konsti-

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Vgl. Kondratowitz, Hans-Joachim v., Das Alter – eine Last. Die Geschichte einer Ausgrenzung, dargestellt an der institutionellen Versorgung des Alters 1880–1933, in: AfS 30 (1990), S. 105–144. Kondratowitz, Hans-Joachim v., Das Altersstift. Merkmale einer Alterssicherung im 19. Jahrhundert, in: Göckenjan, Gerd (Hg.), Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik, Augsburg 1990, S. 142–157, hier: S. 142. Vgl. ders., ebd., S. 142–157 und Ellerkamp, Marlene, Wege in die Institutionen. Armenhaus und Stift als Alterssicherung in Bremen, in: Ebd., S. 63–104.

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tuierte. Zum anderen soll durch diese Auswahl (das sind dreizehn von dreißig Lebensläufen im Umfang von jeweils zwei bis drei Seiten) zumindest auf die zeitliche Nähe zu den insbesondere nach 1900 eintretenden Frauen hingewiesen werden. Die Bewerbungen um eine Stiftsstelle zeigen, daß sich Frauen bewußt für das JenaStift und nicht für eine andere Einrichtung entschieden. Entweder hatten sie das Stift schon einmal besucht oder kannten eine der Stiftsdamen. Die Stiftskenntnis ist an solchen Redewendungen wie „Auf Empfehlung von Fräulein …“ oder „Da mir das Jena-Stift gut gefällt …“ abzulesen.123 Daß es sich bei den Bewerbungen um Alterssicherung handelte, ist an den geäußerten Zukunftswünschen zu erkennen. Die 68jährige: „So erlaube ich mir, Ihnen [der Äbtissin, M. K.] meinen Lebenslauf zu senden, da ich gern einen Stiftsplatz haben möchte, um mein Nomadenleben beschließen und ein eigenes Heim haben zu können.“124 Die 65jährige: „Da ich mit zunehmenden Alter … ruhebedürftig bin …, wäre ich sehr dankbar, wenn ich eine Stelle im v. Jena’schen Stift bekäme.“125 Die 60jährige: „… wäre mir die Aussicht, dort [im Stift, M. K.] meinen Lebensabend zu verbringen sehr sympathisch.“126 Die 47jährige: „…, daß ich den Wunsch habe, mich um eine spätere Stelle in dem von Jena’schen Stift zu bewerben.“127 Die 45jährige: „Um danach für die Zukunft ein gesichertes Heim zu wissen, spreche ich hiermit die ergebene Bitte aus, mich für das Jena-Stift vorzumerken …“128 Die 45jährige: „…, bin ich nicht in der Lage, mir für später eine Heimat zu schaffen und bitte deshalb, als Expektantin auf eine Stelle … aufgenommen zu werden.“129 Das Alter wurde als eigener Lebensabschnitt aufgefaßt und das Stift als altersangemessene Lebensform begriffen, wobei aus den Äußerungen der Frauen ab dem 60. Lebensjahr ein aktuellerer Stellenbedarf abzulesen ist als bei den anderen. Bei den Aussagen der Mittvierzigerinnen wird insbesondere die Sorge des ungesicherten Alters deutlich. Resultierend aus Krieg und Inflation taucht in fast allen Lebensläufen der Topos „Vermögensverlust“ bzw. „Vermögensverringerung“ auf. Das Jena-Stift hatte immer schon mietfreien, eigenen Wohnraum und die regelmäßige Zahlung der Stiftspräbende geboten. Es wurde ein bescheidener Wohlstand garantiert, der sicher auch die Frauen der dritten Phase zum Stiftseintritt motivierte und durch die spezifische Erfahrung der 1920er Jahre noch an Attraktivität gewann. Das adelige Stift stand nach der Jahrhundertwende nicht

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Vgl. z. B. die Anschreiben und Lebensläufe der Ida von Westernhagen oder Ruth von O(pp)en, in: StArch., Neuere Akten II, Anmeldungen und Lebensläufe 1920–1943. Frau von Arnst(…), in: StArch., Neuere Akten II, Anmeldungen und Lebensläufe 1920–1943. Anna von Schronther, in: Ebd. Ida von Westernhagen, in: Ebd. Alice von Münchow, in: Ebd. Elisabeth von Hegener, in: Ebd. Erna von Abendroth, in: Ebd.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

nur für einen Ort, an dem der oben zitierte „Lebensabend“ verbracht werden konnte, sondern der diesen Lebensabend abzusichern half.130 Die geäußerten Wünsche nach einem „eigenen Heim“, „gesicherten Heim“ führen nun zu der Frage nach der selbständigen Lebensführung lediger Adelsfrauen. Nachweislich lebten von dreizehn Frauen nur drei dauerhaft im Haushalt der Eltern bzw. im Haushalt nächster Familienangehöriger. Die anderen lebten in eigenen Haushalten bzw. in familienfernen Verhältnissen. Zwei Frauen kehrten nach Jahren ins Elternhaus zurück, um die Eltern bzw. die Mutter zu betreuen, während eine Frau erst nach dem Tod der Mutter einen eigenen Hausstand gründete. Drei von zehn Frauen teilten ihre Wohnung mit einer Freundin. Daß diese familienferne Existenz keineswegs bedeutete, ein kärgliches und zurückgezogenes Leben zu fristen, wie man unter Umkehrung der herrschenden Ehe-Ideologie einerseits, aber auch im Wissen um die real existierende Not eheloser Frauen unterer Bevölkerungsschichten andererseits annehmen könnte, legen die Äußerungen einer Bewerberin nahe: Im Jahr 1911 „zog ich mit einer Freundin … zusammen nach Frankfurt a. / Oder, wo wir ein gemütliches Heim hatten. Im Jahre 1917 erkrankte meine geliebte Freundin schwer und ich habe sie zu Tode pflegen dürfen. Bis zum Jahre 1922 behielt ich dann eine eigene kleine Wohnung in Frankfurt, wo ich einen großen Freundeskreis besaß … Mit der Inflation verlor ich mein kleines Vermögen und konnte den eigenen Haushalt nicht mehr aufrecht erhalten. … Gern hätte ich natürlich ein eigenes Heim … und die gewohnte Selbständigkeit wieder und würde daher sehr dankbar sein, wenn ich … eine Stiftsstelle im Jena-Stift erhalten könnte.“131 Daß die meisten Frauen vor Stiftseintritt ein selbständiges und familienunabhängiges Leben führten, ist nicht nur den geschilderten Wohnverhältnissen, sondern insbesondere den erzählten Berufswegen zu entnehmen. Zehn Frauen erhielten im Kaiserreich eine Berufsausbildung. Jene drei Frauen, die dauerhaft in der Familie lebten, waren ohne Beruf. Sie entsprechen dem tradierten Bild der ledigen Adelstochter: Mathilde von Colomb, geb. 1869, verbrachte ihr Leben mit siebenjähriger Unterbrechung (sie war bis 1899 Hofdame der Prinzessin Heinrich von Preußen) im Elternhaus.132 Die 1875 geborene Anna von Schronther teilt über sich mit, sie habe „nach Absolvierung der städtischen höheren Mädchenschule mein Leben hauptsächlich in Pflege nächster Angehöriger … hingebracht“.133 Die Äußerungen der Lily von Stockmar, geb.1879, geben einen durch äußere Umstände verhinderten Lebensentwurf zu erkennen: „Nach meiner Rückkehr aus der Pension habe ich ohne Beruf im Hause meiner Eltern gelebt, und die Geselligkeit in Coburg … mitgemacht. Der Tod unserer Mutter 1904 brachte mir den ersten schweren Schicksalsschlag, der auch das äußere Leben veränderte. Ich führte von da ab als … älteste Tochter den

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Zu Armutserfahrungen im Adel infolge von Krieg und Inflation vgl.: Malinowski, Vom König zum Führer, S. 260ff. Frieda von Pressentin, in: StArch., Neuere Akten II, Anmeldungen und Lebensläufe 1920–1943 Vgl. Mathilde von Colomb, in: Ebd. Anna von Schronther, in: Ebd.

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Haushalt, der … beengt und unruhig blieb.“134 Zum Haushalt gehörten acht Kinder, ein kranker Vater, ein Stadt- und ein Landhaus. Nach dem Tod des Vaters (1909) lebte Lily von Stockmar vornehmlich beim Bruder, der den Besitz erbte. Ob sie vor dem Tod der Mutter heiraten oder einen Beruf ergreifen wollte, sei dahingestellt. Sie entsprach als „Haushälterin“ den familialen Erwartungen und verzichtete auf die Realisierung eigener Lebensvorstellungen. Daß die Familie nach wie vor den Lebensweg lediger Frauen beeinflußte, ist auch einigen Lebensläufen der berufstätigen Frauen zu entnehmen. Während in den meisten Fällen die Ausbildung in etwa nach Beendigung der Schulzeit erfolgte, ist in drei Fällen ein durch Familienverhältnisse bedingter verspäteter Berufseintritt zu verzeichnen. Die 1879 geborene Margarete von Bescherer half ab dem 16. Lebensjahr bei der Bewirtschaftung des Familiengutes, bis dieses verkauft wurde. Auf diese Weise als Arbeitskraft freigesetzt, konnte sie erst 1911 eine Ausbildung beginnen: „1911 ging ich nach Breslau, um mich in Klavier und Gesang ausbilden zu lassen und folgte damit dem Hauptwunsch meines Lebens. 1913 machte ich mein Musiklehrerin-Examen… Wurde daraufhin auf 2 Konservatorien … fest angestellt und … gab auch noch Privatstunden.“135 Elisabeth von Hegener, geb. 1886, wurde erst 1913 zur Krankenpflegerin ausgebildet, da sie ihrem Vater nach dem Tod der Mutter (1903) den Haushalt führte. Bis zum Tod des Vaters (1921) arbeitete sie nur zeitweise in diesem Beruf: „Leider konnte ich nicht ständig bei dieser Arbeit bleiben, da auf mir die Sorge für meinen Vater und dessen Haushalt ruhte.“136 Die Diskontinuitäten in Berufsbiographien sollen allerdings nicht über die Veränderung von Lebensperspektiven hinwegtäuschen: Ausgang des 19. Jahrhunderts war ein Zeitpunkt in der Geschichte lediger Frauen erreicht, ab dem der Beruf eine ernstgenommene Alternative zu lediger Familienbindung und Ehe darstellen konnte. Frauen mit frühem Berufseintritt weisen vergleichsweise kontinuierliche Berufsbiographien auf, haben mit den anderen jedoch die Berufswahl gemein: Die berufstätigen Frauen waren entweder Krankenpflegerinnen oder Lehrerinnen. Die Krankenpflegerinnenausbildung erfolgte in Häusern der Diakonie. Nach Probejahr und Schwesternexamen waren diese Frauen als Leiterinnen kleinerer Diakonieeinrichtungen oder Krankenstationen tätig. Eine Frau trat in die äußere Mission über und ging als Kranken- und Wirtschaftsschwester nach Kamerun. 137 Die an Seminaren ausgebildeten Lehrerinnen übten ihren Beruf an Privatschulen oder in Privathaushalten im In- und Ausland aus, wobei die Stellen häufig gewechselt wurden. So besuchte Erna von Abendroth, 1887 in der Lausitz geboren, nach Beendigung der höheren Töchterschule von 1901 bis 1906 das Königliche Lehrerinnenseminar in Dresden. Sie legte die Schulamtskandidatenprüfung ab und unterrichtete von 1907 bis 1909 in einem adeligen Haus und an einer Privatschule. 1910 studierte sie ein Semester 134 135 136 137

Lily von Stockmar, in: Ebd. Margarete von Bescherer, in: Ebd. Elisabeth von Hegener, in: Ebd. Vgl. z. B. Frau von Arnst(…), Frieda von Pressentin, Ilse von Rohrscheidt, in: Ebd.

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an einer französischen und einer schottischen Universität. Von 1910 bis 1912 arbeitete sie als Lehrerin einer Privatschule in England. Im Anschluß unterrichtete sie in verschiedenen Privathäusern in der Schweiz und Frankreich. 1914 bereitete sie sich auf das Abitur vor und erhielt das Reifezeugnis. Von 1914 bis 1918 war Abendroth, wie so viele Frauen, als Pflegerin in Lazaretten tätig, wobei sie außerdem ein staatlich anerkanntes Schwesternexamen ablegte. Nach dem Krieg studierte sie Volkswirtschaft und promovierte 1921 in Leipzig.138 Die unter den Aspekten Wohnverhältnisse und Berufstätigkeit sondierten Lebensläufe geben den Blick auf drei unterschiedliche Typen lediger Frauen im Adel frei. Um die Jahrhundertwende handelt es sich dabei erstens um den Typ der familiengebundenen, berufslosen Frau, zweitens um den Typ der diskontinuierlich bzw. temporär gebundenen Frau an Herkunftsfamilie und Beruf, drittens um den Typ der familienfernen, im Beruf engagierten Frau. Zum traditionellen Ledigen-Typ treten zwei neuartige hinzu bzw., um ein zeitgenössisches Sprachbild zu bemühen, zur Tante tritt die Junggesellin. Auf diese Junggesellinnen wird sich im folgenden konzentriert. Wenn behauptet wurde, die Adelsfamilien entlassen ihre ledigen Töchter in die Selbständigkeit, dann impliziert diese Behauptung, der Adel hätte Rahmenbedingungen geschaffen, die es den ledigen Frauen ermöglichte, innerhalb der Adelsschranken Handlungsspielräume zu erweitern. Gerechtfertigter ist die Auffassung, daß die Freisetzung lediger Adelsfrauen aus der Familie Ausdruck der Anpassungsfähigkeit des Adels an die gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Eine dieser Veränderungen war der durch den Industrialisierungsprozeß verursachte Zustrom bürgerlicher Frauen auf den Arbeitsmarkt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden neue Berufsfelder bzw. alte differenzierten sich aus. Ausgang des 19. Jahrhunderts existierte ein ausgeprägtes Netzwerk von Frauenberufsverbänden, welche die jeweiligen Berufsinteressen öffentlich vertraten. Die Kehrseite des Integrationsprozesses hieß Diskriminierung qua Geschlecht. Ungleiche Erwerbs- und Aufstiegschancen bestimmten die Realität berufstätiger Frauen.139 Die Herausbildung eines geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktes war keineswegs „das Ergebnis des freien Spiels von Angebot und Nachfrage“ – so Karin Hausen –, sondern „die Übersetzung kulturell verankerter gesellschaftspolitischer Grundüberzeugungen“.140 Der Kampf um Beruf und Bildung, eines der zentralen Anliegen der Frauenbewegung seit den 1860ern, setzte sich in der Öffentlichkeit als sog. Frauenfrage fest. Die unverheiratete bürgerliche Frau, ein problematisch gewordener Versorgungsfall für die Familie, innerhäuslich beschäfti-

138 139

140

Vgl. Erna von Abendroth, in: Ebd. Vgl. z. B. Kerchner, Brigitte, Beruf und Geschlecht. Frauenberufsverbände in Deutschland 1848– 1908, Göttingen 1992; Nienhaus, Ursula, Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864–1945), Frankfurt / New York 1995. Hausen, Karin, Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: Dies. (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, S. 56.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

373

gungslos geworden, für die außerhäusliche Erwerbstätigkeit normativ nicht vorgesehen, wurde zum politischen Diskursgegenstand.141 Die Praxis bürgerlich weiblicher Berufstätigkeit und insbesondere der öffentliche Diskurs darüber bildete m. E. eine der Voraussetzungen für den Eintritt lediger Adelsfrauen ins Berufsleben. Ein sich änderndes Bewußtsein im Adel hin zur Betrachtung der Ledigen als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, für das die Gesellschaft gleichzeitig einen Lösungsvorschlag bereitstellte, dürfte ein Grund gewesen sein, daß adelige Familien ihr Einverständnis in die Berufstätigkeit ihrer ledigen Töchter gaben. Das Diktum, nicht arbeiten zu sollen, traf auf adelige Frauen in zweifacher Weise zu – als Frau und als Adelige. Der Adelige ging keiner Arbeit zum Selbstzweck nach (die sog. Brotberufe), er diente höheren Werten. Dieser tief verwurzelte Dienstgedanke war denn auch zum Teil dafür verantwortlich, daß sich standesgemäße Berufe für Männer kaum erweiterten.142 Auch die Väter der Stiftsfräulein waren bis ins 20. Jahrhundert hinein beinahe ausnahmslos in Staats- und Heeresdiensten tätig.143 Insofern ist die Existenz lediger Adelsfrauen auf dem Arbeitsmarkt – auch wenn die Lebensläufe alles andere als repräsentativ sind – als Anpassungsleistung des Adels nicht zu unterschätzen. Daß diese Frauen in der Krankenpflege und als Lehrerinnen arbeiteten, nicht aber in Bereichen wie Handel und Gewerbe oder in neuen Berufen wie Sekretärin oder Stenotypistin, ist sicher kein Zufall, sondern der adeligen Herkunft geschuldet.144 Lehrtätigkeit war sicherlich der standesgemäße Beruf für bürgerliche Frauen schlechthin. Aus adeliger Sicht dürfte dieser Beruf insofern standesgemäß gewesen sein, als daß er unter den Frauenberufen mit den angesehensten Rang einnahm, es im Adel die Tradition der Gouvernante gab und nicht zu erwarten war, daß eine adelige Lehrerin an Volksschulen unterrichten würde. Im Beruf der Krankenschwester traten adeliger Dienstgedanke und tradierte Karitas zusammen. Im Abschnitt 3.4.3. dieser Arbeit wurde hinlänglich gezeigt, daß das soziale Engagement verheirateter Frauen für Kranke und Bedürftige auch die Bedeutung eines adeligen Allgemeinwohl-Auftrages besaß. Diese ehrenamtlichen Tätigkeiten, sehr wahrscheinlich von ledigen Frauen zeitintensiver als von Ehefrauen ausgeübt, dürften den Weg zur Profession mitbereitet haben. Überwölbt von der Idee des „Dienstes für andere“ konnte der Beruf als adelsadäquate Berufung verstanden werden. Würde die Berufstätigkeit lediger Adelsfrauen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts systematisch untersucht, so ist anzunehmen, daß sie vornehmlich in sozialpflegerischen und pädagogischen Berufsfeldern anzutreffen waren. Die Lebensläufe 141

142 143 144

Vgl. z. B. Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung; Greven-Aschoff, B., Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttingen 1981; Frevert, Frauengeschichte, S. 104ff. Vgl. Reif, „Erhaltung adligen Stamms und Namens“, S. 284ff. Vgl. Anh., Tab. 4, Berufe der Väter von Konventualinnen. Zu Relationen von Klasse, Geschlecht, Berufstätigkeit vgl. z. B.: Haupt, Heinz-Gerhard, Männliche und weibliche Berufskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Verhältnis von Klasse und Geschlecht, in GG 18 (1992), S. 143–160; Kaplan, Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität.

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5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

berufstätiger, lediger Frauen deuten darauf hin, daß der Adel um 1900 unter den Bedingungen einer sich durchsetzenden bzw. sich durchgesetzt habenden industriellen Moderne die sog. Frauenfrage (die für den Adel immer eine Versorgungsfrage aller Töchter und nachgeborenen Söhne gewesen ist) analog zum Bürgertum beantwortete bzw. zu beantworten begann.

5.5. Exkurs (II): Die Hauptaufgabe der Ferdinande von Brackel Das Schweigen Ferdinande von Brackels wurde im zäsurbildenden 11. Kapitel durch das Erzählen erster schriftstellerischer Erfolge durchbrochen. Die autobiographische Darstellung des ‚zweiten Lebens‘ hebt die Schriftstellerin Brackel hervor. Das Reden über die Arbeit füllt ca. dreiviertel Text im zweiten Teil. Die Tätigkeit Schreiben zieht sich als roter Faden durch die Kapitel 12 bis 22. Brackel verfaßt eine Werkbiographie, die schon in den Kapitelüberschriften deutlich wird. Sie heißen „Der erste Roman“, „Die ersten Novellen“ usw.145 Zugleich geht das erzählte und erzählende Ich in die Selbstpräsentation der Schriftstellerin ein. Im vorangegangen Teil der Arbeit wurde gezeigt, daß der Beruf der Schriftstellerin nicht zwingend zu einem biographischen Konflikt führen mußte, sondern allmählich im Adel goutiert wurde, sofern das öffentliche Ansehen der Familie nicht in Mißkredit geriet. Brackels Schreiben stieß kaum auf familiären Widerstand. Als Nicht-Ehefrau und Nicht-Mutter wurde Brackel kaum beachtet. Als Schriftstellerin bot sich ihr nun die Möglichkeit, die für ein positives Selbstbild nötige Anerkennung zu finden: ein Fall von Erfolgszwang. 1875 erschien Brackels Roman „Die Tochter des Kunstreiters“. Er kennzeichnete den Durchbruch als Schriftstellerin und brachte der Verfasserin die Selbstbestätigung durch andere. Zu diesem Zeitpunkt war Brackel 40 Jahre: „Die Menschen fingen an, sich um mich zu bekümmern, und selbst die, die mich seit meiner Kindheit gekannt, fanden etwas mehr in mir als früher.“146 Der Erfolg brachte ihr die Anerkennung der Adelsgesellschaft, verzieh den Makel der Gatten- und Kinderlosigkeit. Die Rolle der erfolgreichen Schriftstellerin muß in hohem Maße Brackels Selbstbewußtsein konstituiert und bestimmt haben. Der Status der Nicht-Ehefrau scheint hingegen ein virulenter Identitätskonflikt gewesen zu sein, den Brackel letztlich nicht auflösen konnte. Die Autobiographie bietet dafür zwei Schlüsselaussagen. Zu Beginn und auf dem

145

146

Die insgesamt 11 Kapitel teilen sich inhaltlich wie folgt auf: Kapitel 17 und 22 sind den beiden Rom-Reisen verschrieben, die Kapitel 12, 19 und 20 beinhalten Aspekte des Familienlebens, die verbleibenden sechs Kapitel widmen sich der Schreibtätigkeit (13. Schriftstellerische Tätigkeit, 14. Der erste Roman, 15. die ersten Novellen, 16. Daniella, 18. Am Heidstock und Prinzeß Ada, 21. Im Streit der Zeit. Der Spinnlehrer von Carrara und kleinere Arbeiten). Vgl. Brackel (1905) Ebd., S. 105.

5.4. Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter oder Wandel einer Institution

375

Höhepunkt ihrer Karriere (sie ist zu diesem Zeitpunkt 31 bzw. 45 Jahre alt) reflektiert Brackel ihre Person im Verhältnis zu anderen Frauen. „Ich war mit den Jahren nun schon fast an die Grenze der Jugend der Frau angekommen, aber, wie gesagt, eigentlich empfand ich die Jugend erst jetzt in vollem Maße.“ – Brackel ist sich sicher, „daß nicht viele Damen anfangs der Dreißiger gerade das aus vollem Herzen sagen. O ja, ich liebte damals das Leben viel mehr, als ich es mit achtzehn Jahren geliebt hatte.“147 „Es war ein eigener Eindruck, wieder dort zu sein und einen Teil der damaligen Gesellschaft wiederzusehen. – Zwanzig Jahre sind in jedem Leben, besonders aber im Frauenleben ein großer, großer Zeitraum. Mir hatte er mehr gebracht wie genommen; während so viele meiner schönen Mitschwestern von der Bühne des Lebens gewissermaßen abgetreten waren, war ich eigentlich erst hinaufgestiegen.“148 Zunächst scheint es, als wolle sich Brackel gegenüber gesellschaftlichen Vorstellungen von einem weiblichen Lebenslauf behaupten. Einer Gesellschaft, die unverheiratete Frauen nach dem 25. Lebensjahr stereotyp als „alte Jungfer“ betrachtet, hält sie die Aussage von der erst jetzt empfundenen Jugend und der Liebe zum Leben entgegen. Spätestens in der zweiten Aussage wird jedoch deutlich, daß sie die Zuschreibungen selbst nicht infrage stellt, sondern mit Hilfe dieser Zuschreibungen verheiratete Frauen als Negativbild fixiert. Während die biologische Uhr gebärender Frauen allmählich abläuft, Ehefrauen laut Vorstellungen ihre Aufgabe und somit ihren Lebenslauf erfüllt haben werden149, zieht die ledige Schriftstellerin in aufsteigender Linie an diesen vorbei. Brackel präsentiert sich als das eigentliche Erfolgsmodell. Die Umkehrung herrschender Vorstellungen bricht jedoch deren bipolare Logik nicht auf: Auf der sprachlichen Ebene verkehrt Brackel das hierarchisch organisierte Oppositionspaar Ehefrau / Nicht-Ehefrau ins Gegenteil. Der Begriff „Ehefrau“ steht somit nachgeordnet an zweiter Stelle. Der erste Begriff verweist den anderen ins Marginale, schließt ihn letztlich aus. Fraglos kann auf diese Weise eine Leserschaft zum Nachdenken über Vorurteile angeregt werden. Die ironische Verfremdung von Ehefrauen in „Damen“ und „schöne Mitschwestern“ scheint jedoch aufgrund der dadurch vorgenommenen scharfen Abgrenzung eher dafür zu sprechen, daß Brackel Zeit ihres Lebens in Konflikt mit ihrem Ledigen-Status gestanden hat. Aus der Perspektive eines 65jährigen Lebens gelingt ihr kein gelassener, relativierender oder distanzierter Blick zurück. Die Herabsetzung anderer ist für die Herstellung eines positiven Selbstbildes nötig. Indem Brackel Lebensläufe von Ehefrauen und Müttern pauschalisiert, reduziert und disqualifiziert, qualifiziert sie letztlich ihr LedigSein als Defizit normalen Frauenlebens. Damit bestätigt sie das gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster, ledige Frauen als Mangelwesen zu betrachten. Zugleich unterstreicht Brackels Abwertung die empirische wie normative Gültigkeit der weiblichen Normalbiographie im Adel, zu der Ehe und Mutterschaft voraussetzungsvoll gehörten, um in 147 148 149

Brackel (1905), S. 86, S. 87, S. 89. Ebd., S. 128. Zu Zuschreibungsmodalitäten lediger und verheirateter Frauen vgl. Göckenjan / Taeger, Matrone, Alte Jungfer, Tante, S. 43–79.

376

5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

adelskonformen Räumen so agieren zu können, wie im dritten Teil dieser Arbeit dargestellt.

5.6. Zusammenfassung In diesem Teil der Arbeit wurde der Funktionswandel eines Stiftes vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert vorgestellt. Das Stift als adelsspezifische Einrichtung in der Vormoderne entwickelte sich sukzessive zu einem Altersheim im heraufziehenden modernen Wohlfahrtsstaat. Dieser Wandel dürfte sich mit weiteren Untersuchungen als eine Entwicklungslinie neben anderen herausstellen. Folgt man verstreuten Hinweisen, dann scheint sich zum Beispiel das Stift in Heiligengrabe (heute: Brandenburg) dezidiert auf die Funktion einer Schul- und Erziehungsanstalt konzentriert zu haben, um adelige Töchter in Preußen zu unterrichten.150 Mecklenburgische Damenklöster mit Stiftscharakter scheinen vornehmlich junge Frauen aufgenommen zu haben, d. h. sie scheinen nach wie vor der traditionellen Versorgungsfunktion gefolgt zu sein.151 Die Stiftsbeispiele, die Christa Diemel in ihrer Arbeit zu adeligen Frauen mitteilt, zeigen an, daß Stifte hinsichtlich Aufnahmebedingungen, Höhe der Präbenden, Normen der Lebensführung und Stiftshoheiten (private Einzel- oder Familienstiftung, Stiftung eines Adelsvereins, königliche Stiftung) derart unterschiedlich waren, daß man von ‚dem Stift‘ kaum sprechen können wird. Wahrscheinlich ist, daß man von einer sehr heterogenen Stiftslandschaft im 19. Jahrhundert ausgehen kann, die zunächst einmal erfaßt werden müßte, um eine systematische Erforschung zu ermöglichen. Der Funktionswandel des hier untersuchten Stiftes wurde mit einem Wandel von Lebens(ver)läufen resp. -perspektiven lediger Frauen begründet. Die hergestellten Begründungszusammenhänge sollten verdeutlichen, daß die der Analyse vorangestellte außerordentliche akademische Karriere der 1869 geborenen Gräfin von Linden wohl singulär gewesen sein mag, doch in einen Prozeß des Übergangs von tradierter Familienbindung zur neuen beruflichen Bindung an der Wende zum 20. Jahrhundert eingebettet war. Für langjährige Stifts- oder Hofdamen, die familienvermittelt oder in eigener Entscheidung auf hergebrachte Muster lediger Lebensweise zurückgriffen, mochte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht viel geändert haben, wohl aber für jene Gruppe junger unverheirateter Frauen, die als ‚ewige‘ Haustochter lebenslang an den elterlichen bzw. als Tante an den weiteren familiären Haushalt gebunden waren. Allmählich nahm die Perspektive „Beruf“ Konturen an. Es wurde gezeigt, daß es für ab 1860 geborene Frauen möglich wurde, mit einer vorgängigen Berufslaufbahn in das nunmehrige Altersstift einzutreten. Zur Tante trat die Junggesellin, die im Kaiserreich eine Ausbildung erfahren 150

151

Vgl. Diemel, Adelige Frauen, S. 65f.; in autobiographischer Perspektive: Schulenburg, Tisa von der, Des Kaisers weibliche Kadetten. Schulzeit in Heiligengrabe – zwischen Kaiserreich und Revolution, Freiburg 1983. Conze, Von deutschem Adel, S. 319f.

5.6. Zusammenfassung

377

hatte, vergleichsweise kontinuierlich berufstätig war und im eigenen, familienunabhängigen Haushalt lebte. Die ausgeübten Berufe der Lehrerin und Krankenschwester wurden als standesgemäße Tätigkeiten vorgestellt, die innerhalb der Grenzen des Adels ausgeübt werden konnten. Würde die Berufstätigkeit genauer untersucht, so ist zu vermuten, daß deren Anfänge im bereits diskutierten Feld des Sozialengagements (3.4.3.) zu suchen sind. Ähnlich wie im Bürgertum dürfte hier eine Entwicklungslinie vom Ehrenamt zur Profession auszumachen sein, bestünde die Möglichkeit, männliche und weibliche Berufslaufbahnen im Adel vergleichend zu untersuchen. Von hier aus wäre auch zu fragen, was sich an dieser Stelle nicht beantworten läßt, welche Auswirkungen eine offenkundig durch den Beruf gegebene familienunabhängige Position auf Familienverständnis und die Art des Familienzusammenhalts haben konnte. In der Adelsforschung findet die Berufstätigkeit lediger Frauen erst mit Blick auf die Weimarer Republik Eingang. Stephan Malinowski reißt das Phänomen knapp an, ordnet die nun häufiger anzutreffenden Lehrerinnen und (Kranken)Pflegerinnen vor dem Hintergrund des sozialen Niedergangs des Kleinadels ein und interpretiert die Berufstätigkeit als erzwungene Selbständigkeit aufgrund der realen wirtschaftlichen Situation.152 Diese Deutung von der nur der ökonomischen Notwendigkeit geschuldeten Berufs- und Erwerbstätigkeit ist, sofern man sie nicht als ausschließliche Deutung betrachtet, auch für die im Kaiserreich in den Beruf eintretenden Frauen und künftigen Stiftsdamen, die wohl kaum aus reichen Familien stammten, nicht von der Hand zu weisen. Die etwa im Feld des sozialen Engagements geleistete „Liebesarbeit“ war nicht nur weiblich konnotiert, sondern besaß die Bedeutung des Freiwilligen, d. h. des Freiseins vom ökonomischen Zwang. Im Teil zu den biographischen Konflikten gab es eine Akteurin (4.2.5.), die ein hohes Lied auf Freiheit und Unabhängigkeit sang, doch an der Schaffung ihrer eigenen ökonomischen Selbständigkeit scheiterte, weil sie nicht in der Lage war, einem sog. Brotberuf regelmäßig nachzugehen. Das heißt, im Adel gab es ideologische, die Sozialisation durchdringende Vorbehalte, die man als Hürde auf dem Weg in die Berufsarbeit nicht unterschätzen sollte, bevor man einer Krankenschwester Selbstverwirklichungsambitionen unterstellt. Mit den vorhandenen Stiftsquellen ist nicht zu entscheiden, doch ökonomischer Zwang und Selbstverwirklichung qua Beruf dürften Pole eines Spektrums von individuellen Entwürfen und nichtindividuellen Bedingungsgefügen gewesen sein. Jenseits der Pole kann man mit dem vorhandenen Material auf einer allgemeinen Ebene formulieren, daß die Berufsperspektive den Lebens(ver)lauf von Töchtern im Adel neuartig strukturierte und sich auch auf das Selbstverständnis lediger Frauen ausgewirkt haben dürfte. Durch die für einen Beruf erforderlichen Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse, dann durch das zu erwartende Berufsprofil wurde der Lebens(ver)lauf in dieser Hinsicht für Adelstöchter plan- und berechenbar. Unabhängig von der Option einer künftigen Ehe oder ‚ewigen Tante‘ konnten subjektive Erwartungen an die Zukunft gestellt wer-

152

Malinowski, Vom König zum Führer, S. 266–268.

378

5. Am Rand der Familie: Das Stift als Lebensabschnittsbegleiter eheloser Frauen

den.153 Der autobiographische Zukunftsentwurf der Gräfin von Linden, Wissenschaftlerin zu werden, unterstreicht den Zusammenhang von subjektiver Erwartung und Lebens(ver)lauf ebenso wie die autobiographische Orientierungslosigkeit der wohl ungewollt Ehelosen Ferdinande von Brackel im dritten Lebensjahrzehnt. Der Beruf löste ledige Frauen aus den familiären Zusammenhängen heraus und stellte sie in den Zusammenhang eines mehr und weniger um die Erwerbsarbeit herum organisierten Lebens(ver)laufs. Dieser strukturierte nun neuartig die „lebensweltlichen Horizonte bzw. Wissensbestände, innerhalb derer die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen.“154 Zwischen der Tante und der Junggesellin, die nach 1900 in das Jena-Stift eintraten, lagen Welten, aber beide besaßen ihren Platz in der Adelsgesellschaft.

153 154

Vgl. Kohli, Martin, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985, S. 1–29. Ebd., S. 3.

6.

Schluß

Die Annäherungen an das gute Leben adeliger Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließen an dieser Stelle. Hauptsächlich anhand von Lebenserinnerungen wurde untersucht, wie Frauen ihre Bindung an die Familie wahrgenommen und gedeutet haben, und welche Handlungsoptionen und Wertorientierungen sich aus dieser Bindung ergaben, um der eigenen Existenz Sinn zu verleihen. Das Vorhaben wurde in vier Teilen umgesetzt. Der erste untersuchte anhand von Vorworten, den „Metatexten“ von Autobiographien, die Gebrauchsweisen des Autobiographischen, um adelige Verfasserinnen in den zeitgenössischen Kontext des gattungsgeschichtlich Möglichen einzuordnen. Der zweite Teil rekonstruierte Aspekte einer weiblichen Normalbiographie im Adel und untersuchte entlang dieser familiär strukturierten Rahmenbedingung die Selbstpräsentationen und Gestaltungsmöglichkeiten von Ehefrauen und Müttern in adelskonformen Räumen. Im dritten Teil ging es nicht um Möglichkeiten der Familie, sondern um familiäre Grenzen positiver Selbstbezüge. Biographische Konflikte von Außenseiterinnen wurden dahingehend ausgelotet, in welchen Konstellationen das normalbiographisch Erwartbare aufgesprengt wurde, und welche Konsequenzen sich daraus für die Akteurinnen ergaben. Anhand nichtautobiographischer Quellen, doch mit Hilfe von Autobiographien untersuchte der letzte Teil den Wandel von Lebensperspektiven lediger Frauen, für die im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Wechsel des Bezugs von der familiären zur beruflichen Bindung festzustellen war. In jedem Teil der Arbeit wurden Antworten auf die Frage nach der Bedeutung, dem subjektiven Sinn von „Familie haben“ gegeben und an entsprechender Stelle zusammengefaßt. In den jeweiligen Zusammenfassungen wurde versucht, die Befunde und Ergebnisse zu historischen Aussagen zu verdichten: Sie wurden in den Kontext sowohl der Frauen- und Geschlechtergeschichte als auch der historischen Adelsforschung zum 19. Jahrhundert eingeordnet. Wo es möglich war, konnten Befunde auf beide Forschungskontexte bezogen werden, die als Überlegungen und Fragestellungen für eine künftige geschlechtergeschichtlich orientierte Adelshistoriographie formuliert wurden. An dieser Stelle handelt es sich deshalb nur mehr darum, das Thematisierte anhand einiger Ergebnisse abzurunden.

380

6. Schluß

Vor dem Hintergrund des nur marginal existierenden Forschungsstandes zu Frauen im Adel des 19. Jahrhunderts nutzte die vorliegende Arbeit den frauengeschichtlichen Ansatz des „Sichtbarmachens“ und das geschlechtergeschichtliche methodische Postulat der Relationalität und Kontextgebundenheit von Geschlecht. Zwar ging die Studie von der außerautobiographischen Annahme aus, daß Frauen anders und enger als Männer in die Familie eingebunden waren, nicht aber davon, daß die erinnerte Individualgeschichte im vermeintlichen Ort von Frauen aufgeht. Über weite Strecken der Darstellung wurde gezeigt, daß das nie unumstrittene, aber letztlich dominierende bürgerliche Ordnungsmodell der „polaren Geschlechtscharaktere“ für die Sicht- und Handlungsweisen adeliger Frauen in ihren Lebenserinnerungen von geringer Bedeutung war. Deren Gestaltungsräume (Ehe, Landbesitz, Militär- und Staatsdienst, soziales Engagement, Hof) waren keine separaten Frauenwelten, sondern solche adelskonformen Räume, die insgesamt für die Geschichte des Adels im 19. Jahrhundert relevant waren. Die eheliche Unterordnung realisierte sich nicht bedingungslos, beide Geschlechter besaßen gleichberechtigten Hofzugang, die Aufgabenbereiche der Gutsherrin, der Diplomatenfrau wurden als gleichwertig gegenüber den Männern wahrgenommen. Die Offiziersfrau war wie die Diplomatenfrau anerkanntes Mitglied des Korps. Die Teilhabe war nicht zufällig, sondern gründete in tradierten Konventionen und sozialen Anforderungen, die adeligen Frauen und Männern eine Fülle gesellschaftlicher Verpflichtungen abverlangten, die Pflicht auferlegten, den Landbesitz zu erhalten und Männern nahelegte, in den als standesgemäß geltenden Berufsfeldern zu agieren. Hierauf fußte das normalbiographisch Erwartbare bzw. die als Modell rekonstruierte weibliche Normalbiographie mit dem Primat, eine familiär vermittelte Position in der Gesellschaft einzunehmen. Hieraus ergaben sich die Teilhabe an der und die Integration in die Adelsgesellschaft. In den erinnerten adelskonformen Räumen nutzten Frauen eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, die es erlaubten, die eingenommen Positionen nicht einfach zu übernehmen, sondern mit eigener Verantwortung, eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auszugestalten, so daß sie sich mit diesen identifizieren konnten. Die Identifikation mit Erfordernissen der Gutsherrschaft, mit den Anforderungen der Korps oder des Hofs wiederum verstärkte die Bindung und das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe des Adels. In dem Maße, wie die familiär vermittelte Position für integrierte Angehörige der Adelsgesellschaft sorgte, blieb die Loyalität zur Familie erhalten. Die loyale Bindung wurde besonders dort deutlich, wo Frauen in ihrem ‚Adelig-Sein‘ herausgefordert wurden. Im Raum des sozialen Engagements, in dem Bürgerliche und Adelige als konkurrierende Gemeinwohleliten aufeinandertrafen, stieg die Familie zum „adeligen Wertehimmel“ auf, wurde „Familie haben“ zu einem Wert, an dem sich Handeln ausrichtete, um den adeligen Führungsanspruch zu behaupten. Die Bindungskraft der Familie wurde dann gefährdet, wenn das durch tradierte Konventionen und soziale Anforderungen prästabile Gefüge des normalbiographisch Erwartbaren aus dem Gleichgewicht geriet. Nur wer sich nicht in den vorgegebenen „natürlichen Bahnen“ bewegte, konnte an die Grenzen des Familiären stoßen, und so waren es Außenseiterinnen, die die Anfälligkeiten der Familie sichtbar machten. Deren bio-

6. Schluß

381

graphische Konflikte verdeutlichten mehrere, ineinander verwobene Aspekte möglicher Ent-Bindungen von der Familie. In dem Maße wie weibliche Individuen Zukunftserwartungen formulieren konnten, die sich von den Erfahrungen der Herkunftsfamilie unterschieden, wuchs auch das Bestreben, diese individualbiographisch zu realisieren. Deren Erwartungen an eine von der Herkunftsfamilie unabhängige, selbstbestimmte Lebensgestaltung (hier in den Bereichen Literatur, Kunst und Politik), die sich an den überindividuellen Kategorien Arbeit und Bildung orientierte, gingen in dem Primat, eine Position in der Gesellschaft einzunehmen, nicht mehr auf. Inwiefern die allgemeine Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung zu einem Bruch mit der Herkunftsfamilie und den Gepflogenheiten der sie umgebenden Adelsgesellschaft führte, hing nicht zuletzt von den Erfahrungen in der Familie ab. Zur Disposition stand die individuelle Handlungsfähigkeit. In der Gemengelage sozialer Anerkennungsverhältnisse erfuhren sich heranwachsende junge Frauen als Außenseiterinnen, die innerhalb der Familie darunter litten, in ihren Wünschen, ihrem Wollen und Meinen von zumeist elterlichen Autoritäten nicht anerkannt zu werden. Die elterliche Ablehnung orientierte sich hierbei nicht an einer grundsätzlichen Ignoranz individueller Bedürfnisse, sondern an der im Adel besonders wichtigen „gesellschaftlichen Meinung“ (Norbert Elias). Sie bestimmte das gesellschaftlich erlaubte Handeln einzelner Familienmitglieder mit und rechnete deren Leistungen wie Fehlleistungen der Wertschätzung der gesamten Familie zu. Die erfahrene eingeschränkte individuelle Handlungsfähigkeit setzte sich somit im Feld des Gesellschaftlichen fort, da hier das Ansehen der Familie den Handlungsmaßstab setzte. Eingeschränkte Handlungsfähigkeit und familiäre Isolation konnten sich zur Erfahrung gesellschaftlicher Marginalisierung verdichten, wenn sich die Herkunftsfamilie in einer ungesicherten Stellung innerhalb der Adelsgesellschaft befand. Ob ökonomisch, sozial oder kulturell begründet, war die Wertschätzung der Familie im Sinken begriffen, so standen die Chancen der elterlichen Autoritäten schlecht, das normalbiographisch Erwartbare für ihre Töchter zu realisieren. Eine Position in der Gesellschaft einzunehmen war keine abzuwählende Option, sondern unerreichbar. Im Kontext biographischer Konflikte kam der Geschlechtskategorie eine größere Relevanz als im Rahmen der weiblichen Normalbiographie zu. Im autobiographischen Blick zurück wurde Geschlecht als Kategorie der Benachteiligung und des Ausschlusses wahrgenommen und als Hindernis auf dem eingeschlagenen Weg, der aus den angestammten Lebenswelten der Herkunftsfamilien hinausführte, gedeutet. Der Ausschluß von höherer Bildung wurde beklagt, die Unmöglichkeit qualifizierter Ausbildung und Profession bedauert, die Ungleichheit auf dem Feld der „sexuellen Frage“ angeprangert. Das waren um 1900 zentrale Themen, die im Diskursuniversum um die „weibliche Bestimmung“ debattiert wurden und den Verfasserinnen offenkundig nicht fremd waren. Zweifellos haben adelige Autobiographinnen die Ausschlüsse und Benachteiligungen auf ihrem Lebensweg erfahren, doch im Erfahrungsraum der Herkunftsfamilien, dem Ausgangspunkt biographischer Konflikte, besaß Geschlecht nicht die Eindeutigkeit und Gewißheit wie vergleichsweise als Argument im Diskursuniversum. Gegen Ausbildung und Beruf sprachen eben auch tradierte ständische Vorurteile. Und die Untersuchung zu ledigen Frauen legt

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6. Schluß

nahe, daß diese Vorurteile allmählich überwunden wurden, daß Ledige mit einer Berufsausübung durchaus anerkannte Mitglieder der Adelsgesellschaft sein konnten. Sehr zum Leidwesen mancher Autobiographin gehörte Bildung nicht zum Wertekanon ihrer Herkunftsfamilien, waren Männer und Frauen gleichermaßen desinteressiert. Drang aber der Wert in die Familien ein, so partizipierten beide Geschlechter am Wissenserwerb, gab es kein Vorurteil gegenüber Frauen namens geistige Inferiorität. Selbst die rigide gehandhabte Sexualmoral gegenüber Frauen konnte im Umfeld der Herkunftsfamilie einer gewissen sexuellen Freizügigkeit weichen. Allerdings war hier der Höchstpreis zu zahlen: Öffentlich wahrgenommen, folgte unweigerlich der gesellschaftliche Tod. Das bedeutet nicht, daß der Erfahrungsraum der Herkunftsfamilien frei von Geschlechterturbulenzen war, sondern nur, daß diese nicht polaren Gegensätzen und eindeutigen Zuordnungen folgten. Eindeutig war in adeligen Familien, so sie über Majoratsbesitz verfügten, daß der Erstgeborene erbte. Dieses Vorrecht wurde als Benachteiligung der nachgeborenen Kinder und als töchterliche Benachteiligung wahrgenommen, denn Töchtern würde der Besitz und die an ihm haftenden kulturellen Bindungen niemals gehören. In Hinblick auf die Wirkungsmacht der polaren Geschlechterordnung im Adel ist sicherlich noch vieles zu untersuchen. Doch kommt es nicht von ungefähr, daß es diejenige Außenseiterin war, die sich am weitesten von adeligen Lebenswelten entfernt hatte, Lily Braun, welche emphatisch für den „höherstehenden Mann“, den allein „das Weib“ begehrt, plädierte und ihren ersten dezidierten Ausschluß qua Geschlecht nicht im Adel, sondern im Bürgertum erfuhr. Auch im Rahmen der weiblichen Normalbiographie gab es ein weibliches Unterwerfungsbegehren. Zur im Adel geforderten Anerkennung männlicher Autorität trat eine freiwillig gegebene, in der „Natur“ des Begehrens liegende Unterordnung. Das bedeutet, es war die moderne Liebeskonzeption, die im Adel ein Denken und Handeln in Geschlechterpolaritäten befördern konnte. Doch solange Frauen in dem spezifischen Gefüge von adelskonformen Räumen und dem normalbiographisch Erwartbaren agierten, verfestigten sich die Geschlechterdifferenzen bürgerlicher Provenienz nicht. Mit dem Ende der Monarchie ging Adeligen der Bezug zum Hof, häufig auch Grundbesitz verloren, waren vielen männlichen Adeligen die Zugänge zu den traditionellen Berufslaufbahnen versperrt, unterlag das von adeligen Frauen ausgeübte soziale Engagement staatlichen Eingriffen. Den Verlust solcher Bindungen und Bezüge hatte die Außenseiterin bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert zu verkraften. Und so ist zu vermuten, daß viele Frauen im Adel sich erst im beginnenden 20. Jahrhundert mit den Anforderungen und Zumutungen einer polaren Ordnung auseinandersetzen mußten, die ihrerseits in Veränderungen begriffen war.

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde 2009 an der Philosophischen Fakultät I der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg als Dissertation verteidigt. Für die Aufnahme in die Reihe Elitenwandel in der Moderne danke ich Heinz Reif; ebenso gilt mein Dank dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort für den großzügigen Satz- und Druckkostenzuschuß. Ohne Andreas de Boor hätte die Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht erscheinen können. Ihm, dem Ungeduldigen, danke ich für seine geduldigen computertechnischen Ratschläge, um effizient ein verlagstaugliches Manuskript herzustellen. Mit Umsicht setzte sich Irmgard Vorpagel dafür ein, mein Oszillieren zwischen alter und neuer Orthographie zugunsten ersterer zu korrigieren. Sie hätte es auch umgekehrt gekonnt, und alle übrigen Fehler gehen auf mich. Simone Uhlig hat den gesamten Schreibprozeß begleitet und den Text mit ihren vielen Überlegungen und Gegenargumenten mitgestaltet. Auf die Anfänge zurückschauend, möchte ich jenen danken, die die wissenschaftliche Neugierde am Thema weckten, das sind Pia Schmid und Christina Benninghaus, und jenen Historikern, die in einer bestimmten Phase mit ihrer Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft dafür sorgten, daß diese Neugierde nicht zum Erliegen kam, das sind Silke Marburg und Josef Matzerath. Wesentliche Teile der Arbeit sind im personellen, sozialen und intellektuellen Umfeld des Projektes „Von Ständegesellschaften zu Nationalgesellschaften“ am GWZO in Leipzig unter Leitung von Michael G. Müller entstanden. Hierüber bot sich mir die Möglichkeit, ein sehr viel breiteres Spektrum adels- und elitenhistorischer Fragestellungen kennenzulernen, als das ansonsten der Fall gewesen wäre und trug wesentlich dazu bei, meine Perspektive auf den Adel in der Moderne besser einordnen zu können. Hilfreich waren hier Hinweise von Monika Wienfort, die zudem so freundlich war, die Arbeit der Zweitbegutachtung auf sich zu nehmen. Vor allem aber möchte ich Dietlind Hüchtker danken. Ihre Bereitschaft, Textbausteine zu lesen, kritisch zu kommentieren und zu diskutieren, hat die Arbeit vor manchem methodischen Fallstrick bewahrt. Wie ich Michael G. Müller danken kann, weiß ich nicht. Seine Denkweisen, seine Offenheit und sein Vertrauen haben ihn einen Betreuer sein lassen, an dem ich wissenschaftlich wachsen und mich menschlich bilden konnte.

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Danksagung

Der vorliegende Text ist auch ein persönliches Buch und versucht, auf Fragen biographischen Scheiterns zu antworten. „Vom guten Leben“ ist meiner Mutter Ariane Kubrova (†) und meiner Studienfreundin Katrin Bäckhausen (†) gewidmet.

Halle/S., im März 2011

Monika Kubrova

Anhang

Abbildungen und Tabellen 70

Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

Eintrittsalter (Mittelwert)

60 50 40 30 20 10 0 1700– 1721– 1720 1740

1741– 1760

1761– 1780

1781– 1800

1801– 1820

1821– 1840

1841– 1860

1861– 1881– 1880 1900

1901– 1921– 1941– 1920 1940 1960

Zeitraum Abbildung 1

Durchschnittliches Alter der Konventualinnen bei Eintritt in das Stift

70

Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

60

Alter in Jahren

50

40

30 Alter bei Eintritt (Mittelwert)

20

Alter bei Expektanz (Mittelwert) 10 1700– 1721– 1720 1740

1741– 1760

1761– 1780

1781– 1800

1801– 1820

1821– 1840

1841– 1860

1861– 1880

1881– 1900

Zeitraum des Eintritts Abbildung 2

Durchschnittliches Alter der Stiftsfräulein bei Expektanz und Eintritt

1901– 1920

1921– 1941– 1940 1960

388

Anhang

Tabelle 1

Konventualinnen (1703–1948)*

3 Stockhausen v. Eleonore Lucie 4 Norprath v. Isabelle Franziska Theodore

1703 1703 1682 1703 1703

5 Möllendorf v. Eleonore Dorothee 6 Langen v. Beate Eleonore

Ä

Tod

1648 1703 1703 1706 1706

Austritt

1656 1703 1703 1708 1708

2 Wuthenau v. Marie Sibylle

Eintritt

1 Börstel v. Eleonore Sophie

Expektanz

Alter bei

Tod

Austritt

Eintritt

Expektanz

Lfd. Nr. Name

Geburt

Jahr der / des

47

47

52

52

55

55

58

58

21

21

20

20

R/P 1748

66

1703 1703 1737 1737 1683 1703 1703 1762 1762

79

79

7 Langen v. Louise Charitas

1684 1703 1703 1755 1755

19

19

71

71

8 Jena v. Louise Dorothee (d. Ä.)

1681 1703 1703 1727 1727

22

22

46

46

17

17

46

46

26

83

83

9 Börstel v. Henriette Christine

1703 1703 1712

10 Jena v. Johanne Eleonore (d. J.)

1686 1703 1703 1732 1732

11 Fontaine de la Charlotte le Macon

1680

12 Schönebeck v. Marie

1706 1763 1763

R S

1708 1737 1737

13 Benatre v. Franzisca

1667

1709 1748 1748

14 Bär v. Sophie Eleonore

1684

1712 1754 1754 Ä / P

Ä

Mittelwerte 1700–1720

42

81

81

28

70

70

28,7 29,7 65,1 65,2

15 Montmartin v. Marie Wilhelmine

1711

16 Chalezac de Elisabeth

1678 1707 1732 1759 1759

1727 1792 1792 Ä / P 29

16

81

81

54

81

81

17 Blixen v. Sophie Eleonore

1686 1707

21

18 Rahde(n) v. Marie Elisabeth

1698 1710 1737 1768 1768

12

39

70

70 68

19 Stechow v. Marie Dorothee

1725 1737 (1737) 1793 1793

S

12

(12)

68

20 Hautcharmoy v. Henriette Charlotte Marie Louise

1720 1738 1738 1788

R

18

18

68

Mittelwerte 1721–1740:

18,4 31,8 73,6 75,0

21 Tour de Constanze Albertine Marie

1706 1738 1749 1770 1770 Ä / P

22 Treskow v. Albertine Charlotte

1728 1749 1749 (1755)

23 Froben v. Eleonore Franzisca Friederike

1731 1749 1749 1778 1778

24 Bruno (Brüno) v. Beate Christiane Louise 1722 1737 1749 1766 25 Stechow v. Charlotte Sophie Henriette

1728 1754 1755 1768 1768

26 Biedersee v. Eleonore Wilhelmine

1720 1756 1756 1798 1798

Mittelwerte 1741–1760:

R R S

32

43

64

64

21

21

27

18

18

47

15

27

44

26

27

40

40

36

36

78

78

47

24,7 28,7 50,0 57,3

389

Abbildungen und Tabellen

Konventualinnen (1703–1948)*

Tod

28 Rosey du Catharine Amalie Louise

14

Austritt

27 Cordier v. Wilhelmine Elisabeth Johanne 1748 1762 1762 1776 1776

Expektanz

Alter bei

Tod

Austritt

Eintritt

Expektanz

Lfd. Nr. Name

Geburt

Jahr der / des

Eintritt

Fortsetzung Tabelle 1

14

28

28

47

47

69

69

1739 1764 1764

R

25

25

29 Knobelsdorf v. Caroline Aemelie Christiane 1748 1766 1769

R

18

21

22

25

30 Schierstedt v. Sophie Henriette Dorothee 1744 1766 1769 1791 1791 31 Nimschefsky v. Henriette Wilhelmine

1756 1768 1769

R

12

13

32 Stechow v. Anna Charlotte Elisabeth Wilhelmine

1731 1771 1771 1800 1800

S

40

40

33 Biedersee v. Louise Wilhelmine

1753 1772 1775 1793

R

19

22

40

34 Ziegler v. Sophie Louise

1753 1773 1776 1791

R

20

23

38

35 Dörenberg (Dörnberg) v. Dorothee Florentine Philippine

1757 1775 1777 1788

R

18

20

31

36 Jena v. Eleonore Sophie Louise

1765 1779 1779 1795

R

14

(14)

30

Mittelwerte 1761–1780:

20,2 22,6 40,4 48,0

37 Diest v. Antoinette

1788 1798 R / P

38 Cordier v. Louise Martha

1753 1776 1789 1828 1828

Ä

23

36

75

39 Collas v. Friederike Christiane Eleonore Caroline

1755 1782 1792 1801

Ä /R

27

37

46

40 Unruh v. Wilhelmine Ernestine Lucie

1769 1783 1792 1797

R

14

23

28

41 Hundt v. Caroline Friederike Christiane Philippine Auguste

1767 1789 1793 1797

R

22

26

30

42 Uckermann (Uekermann) v. Johanne Juliane Philippine

1774 1792 1793 1806

R

18

19

32

43 Collas v. Lousie Bernhardine Johanne Sophie Amalie Antonie

1767 1793 1793 1813 1813

26

26

46

44 Courbiere de Marie Elisabeth de l‘homme 1773 1793 1795 1829 1829 45 Bessel v. Wilhelmine Auguste

Ä

1776 1792 1797 1807 1807

46 Biedersee v. Caroline Christiane Dorothee 1764 1793 1797 1803 1803 47 Broeck (Braeck) v. Juliane Sophie Charlotte Henriette Friederike

1782 1797 1799 1806

R

48 Sandrart v. Phillippine

1772

P

Mittelwerte 1781–1800:

1799 1813 1813

75

46

20

22

56

56

16

21

31

31 39

29

33

39

15

17

24

27

41

41

21,0 26,1 40,7 48,0

390

Anhang

Fortsetzung Tabelle 1

Konventualinnen (1703–1948)*

Austritt

50 Regemann v. Charlotte Amalie

R

13

16

26

Ä

19

20

67

67

1786 1799 1802 1812

51 Lichnowsky v. Johanne Louise Augustine 1783 1802 1803 1850 1850 Wilhelmine

Tod

Eintritt

20

Tod

17

Austritt

15

Eintritt

R

Geburt

Expektanz

Alter bei

49 Miltitz v. Sophie Auguste Louise Wilhelmine 1784 1799 1801 1804

Lfd. Nr. Name

Expektanz

Jahr der / des

52 Arnim v. Caroline Friederike Henriette

1783 1802 1806 1845 1845

19

23

62

62

53 Renouard v. Johanne Caroline Amalie Julie

1781 1806 1806 1807 1807

25

25

26

26

54 Lichnowsky v. Amalie Louise Caroline Philippine Albertine

1785 1807 1814 1857 1857

Ä

22

29

72

72

55 Stwolinska v. Charlotte Augustine Henriette Caroline Emilie

1792 1814 1814 1862 1862

S

22

22

70

70

22

23

57

57

20

22

38

56 Recke v. d. (Freyin) Lousie Caroline 1792 1814 1815 1849 1849 Auguste Alexandrine Friederike Henriette Ernestine Wilhelmine 57 Regemann v. Wilhelmine

1794 1814 1816 1832

58 Marwitz v. d. Sophie Caroline Emilie

1791 1815 1816 1818

59 Barfuss v. Henriette Auguste Wilhelmine 1785 1816 1818 1830 1841

R R

24

25

27

R

31

33

45

Mittelwerte 1801–1820:

21,1 23,2 46,4 58,6

60 Recke v. d. Ernestine Aurora Helene

1795 1819 1830 1850 1850

61 Hagen v. Albertine

1808 1827 1830 1874 1874

62 Kamptz v. Sophie Juliane Ernestine

1804 1827 1830 1836

63 Seelhorst v. Ernestine Amalie Louise

1796 1832 1837

24

35

55

55

Ä

19

22

66

66

R

23

26

32

36

41

Mittelwerte 1821–1840: 64 Funk v. Emilie Charlotte Wilhelmine

56

25,5 31,0 51,0 60,5 1808

1846 1868 1868

P

38

60

60

65 Seldt (…elt) v. Ulricke Ernestine Catharina 1800 1832 1850 1855 1855

32

50

55

55

66 Ledebur v. Maria Wilhelmine Auguste Eugenie Eleonore Adele Adelheid

1818 1833 1850 1868 1868

15

32

50

50

67 Hagen v. Friederike Thekla

1810 1837 1850 1856

R

27

40

46

68 Jena v. Auguste

1832 1850 1856 1913 1913

Ä

18

24

81

81

69 Funk v. Wilhelmine Jeanette

1812 1851 1856 1874 1874

39

44

62

62

70 B(K)oenigk v. Henriette Caroline Johanne Louise

1825 1851 1858 (1880) 1895

26

33

(55)

70

Mittelwerte 1841–1860:

R

26,2 37,3 59,0 63,0

391

Abbildungen und Tabellen

Fortsetzung Tabelle 1

Konventualinnen (1703–1948)*

Eintritt

Austritt

Tod

1837 1856 1865 1898 1898

19

28

61

61

73 Kitzing v. Anna Amalie Clementine Cecilie Marie

1836 1862 1868 1874 1874

26

32

38

38

74 Breitenbanck (…bach /…barck) v. Ida

1833 1865 1869 1907 1907

32

36

74

74

75 Dresky v. Melanie Adolphine Josephe Wilhelmine

1833 1868 1874 1924 1924

35

41

91

91

Tod

69

Austritt

69

Eintritt

49

Geburt

Expektanz

Alter bei

48

Lfd. Nr. Name

Expektanz

Jahr der / des

71 Madai v. Auguste Leopoldine

1813 1861 1862 1882 1882

72 Jena v. Johanne Ulricke

76 Gronefeld v. Elsbeth Julie Wilhelmine

1846 1868 1874 1913 1913

77 Jena v. Therese

1839 1869 1875 1921 1921

P

Ä

Mittelwerte 1861–1880:

28

67

67

36

82

82

30,3 35,7 68,9 68,9

78 Seelhorst v. Ferdinande Caroline

1848 1874 1883 1913 1913

79 Ledebur v. Ernestine Albertine Marie Mathilde Pauline

1854 1874 1888 1938 1938

80 Herzberg Gräfin, Elisabeth Charlotte Wilhelmine Bertha

1836

81 Pergande Henriette Louise

1839

26

35

65

65

20

34

84

84

1892 1909 1909 Pm

56

73

73

1892 1919 1919 Pm

53

80

80

S

82 Flotow v. Ottilie

1833 1888 1897 1915 1915

83 Jena v. Gisela

1856 1899 1899 1915 1915 Ä / P

P

Mittelwerte 1881–1900: 84 Ledebur v. Wilhelmine Else Clementine Luise

22 30

55

64

82

82

43

43

59

59

36,0 47,5 73,8 73,8 1850

1910 1939 1939 S / Pm Ä

60

89

89

56

56

85 Jena v. Magarete

1869 1888 1913 1925 1925

19

44

86 Donop v. Elisabeth

1894 1906 1913

12

19

87 Ingersleben v. Marie

1858 1913 1914 1936 1936

55

56

78

78

88 Blomberg v. Marianne Mathilde

1867 1914 1915 1921 1921

47

48

54

54 62

89 Luebtow v. Maria Helene

1856 1914 1916 1918 1918

90 Lüderitz v. Magarethe Jenny Bertha Leopoldine

1870 1916 1919 1924

91 Sack Gertraud Charlotte Wilhelmine Hildegard

1863 1919 1919 1927 1927 Pm

Mittelwerte 1901–1920:

R

58

60

62

46

49

54

56

56

64

64

41,9 49,0 65,3 67,2

392

Anhang

Fortsetzung Tabelle 1

Konventualinnen (1703–1948)*

Eintritt

Austritt

Tod

63

63

93 Knobelsdorff-Brenkenhoff v. Irma Bernhardine Betty Hedwig

1881 1915 1922 1934 1939

34

41

53

58

94 Josephson Brigitte Luise

1859 1922 1924 1932

63

65

73

55

56

75

75

56

56

83

83

Tod

45

Austritt

36

Eintritt

1877 1913 1922 1940 1940

Geburt

Expektanz

Alter bei

92 Knobelsdorff-Brenkenhoff v. Christa Emma Gertraud

Lfd. Nr. Name

Expektanz

Jahr der / des

R

95 Colomb v. Mauritia Wilhelmine Beate Ida 1869 1924 1925 1944 1944 Mathilde Marie 96 Seydlitz-Kurzbach v. Anna

1869 1925 1925 1952 1952

Ä

97 Sack Caroline Helene Thekla Clara

1866 1927 1927 1941 1941 Pm

61

61

75

75

98 Westernhagen v. Ida Anna

1867 1933 1933 1939 1939

66

66

72

72

99 Munnich v. Magarethe Rosa Ida 100 Abendroth v. Erna (Dr.)

1866 1936 1936 1949 1949

70

70

83

83

1887 1938 1938 1959 1959

51

51

72

72

83

83

101 Stockmar v. Lilly Elisabeth Charlotte

1879 1939 1939

102 Schronther (Schrotter,Schroller) v. Anna Elisabeth

1875 1940 1940 1958 1958

Pm

Mittelwerte 1921–1940:

60

60

65

65

56,1 57,8 73,2 73,8

103 Zittwitz v. Erna

1875 1940 1941 1949 1949

65

66

104 Rohrscheidt v. Ilse

1891 1941 1941

50

50

105 B(L)esche(w/r)er v. Magarethe

1872 1944 1944 1948 1948 Pm

72

72

106 Rauppert v. Magdalena Magareta Agnes

1893 1948 1948

55

55

Mittelwerte 1941–[1948]:

74

74

76

76

61,8 62,1 76,0 76,1

Legende. * Daten nach Jahr des Eintritts sortiert Ä – Abtissin; P -– Precistin (von der Königin ernannt); Pm – Precistin (vom Innenministerium ernannt); R – Resignierte; S – Seniorin ( ) – unsichere Datenangabe / unsicherer Zahlenwert (wurden in den Berechnungen nicht erfaßt) Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

393

Abbildungen und Tabellen

„Resignirte“ Konventualinnen (1703–1948)*

1 Stockhausen v. Eleonore Lucie 2 Börstel v. Henriette Christine 3 Hautcharmoy v. Henriette Charlotte Marie Louise

Aufenthaltsdauer

Resignation

Expektanz

Alter bei Resignation

Eintritt

Expektanz

Lfd. Nr. Name

Geburt

Jahr der / des

Eintritt

Tabelle 2

1703 1703

Heirat

1703 1703 1712 1720 1738 1738 1788

Grund der Resignation

9 18

18

68

50

Heirat unbekannt

4 Treskow v. Albertine Charlotte

1728 1749 1749 1755

21

21

27

6

5 Bruno (Brüno) v. Beate Christiane Louise

1722 1737 1749 1766

15

27

44

17

Heirat

6 Rosey du Catharine Amalie Louise

1739 1764 1764

25

25

Heirat

7 Knobelsdorf v. Caroline Aemelie Christiane

1748 1766 1769

18

21

Heirat

8 Nimschefsky v. Henriette Wilhelmine

1756 1768 1769

12

13

9 Biedersee v. Louise Wilhelmine

1753 1772 1775 1793

19

22

Rückkehr ins Elternhaus

Heirat 40

18

Rückkehr ins Elternhaus

10 Ziegler v. Sophie Louise

1753 1773 1776 1791

20

23

38

15

unbekannt

11 Dörenberg (Dörnberg) v. Dorothee Florentine Philippine

1757 1775 1777 1788

18

20

31

11

unbekannt

12 Jena v. Eleonore Sophie Louise

1765 1779 (1779) 1795

14

(14)

30

27

37

46

13 Diest v. Antoinette

1788 1798

14 Collas v. Friederike Christiane Eleonore 1755 1782 1792 1801 Caroline

Heirat 10

Heirat

9

Heirat

15 Unruh v. Wilhelmine Ernestine Lucie

1769 1783 1792 1797

14

23

28

5

Heirat

16 Hundt v. Caroline Friederike Christiane Philippine Auguste

1767 1789 1793 1797

22

26

30

4

Heirat

17 Uckermann (Uekermann) v. Johanne Juliane Philippine

1774 1792 1793 1806

18

19

32

13

Heirat

18 Broeck (Braeck) v. Juliane Sophie Charlotte Henriette Friederike

1782 1797 1799 1806

15

17

24

7

Heirat

19 Miltitz v. Sophie Auguste Louise Wilhelmine

1784 1799 1801 1804

15

17

20

3

Heirat

20 Regemann v. Charlotte Amalie

1786 1799 1802 1812

13

16

26

10

Heirat

21 Regemann v. Wilhelmine

1794 1814 1816 1832

20

22

38

16

Heirat

22 Marwitz v. d. Sophie Caroline Emilie

1791 1815 1816 1818

24

25

27

2

Heirat

23 Barfuss v. Henriette Auguste Wilhelmine 1785 1816 1818 1830

31

33

45

12

Heirat

24 Kamptz v. Sophie Juliane Ernestine

23

26

32

6

Heirat

35

12

Mittelwerte 1. Phase:

1804 1827 1830 1836

19,1 22,6

394

Anhang

Fortsetzung Tabelle 2

„Resignirte“ Konventualinnen (1703–1948)*

Eintritt

Resignation

Aufenthaltsdauer

27

40

46

6

26 B(K)oenigk v. Henriette Caroline Johanne Louise

1825 1851 1858 1880

26

33

55

22

51

14

Eintritt

1810 1837 1850 1856

Expektanz

25 Hagen v. Friederike Thekla

Lfd. Nr. Name

Geburt

Expektanz

Alter bei Resignation

Jahr der / des

Mittelwerte 2. Phase:

26,5 36,5

Grund der Resignation Heirat unbekannt

27 Lüderitz v. Magarethe Jenny Bertha Leopoldine

1870 1916 1919 1924

46

49

54

5

unbekannt

28

1859 1922 1924 1932

63

65

73

8

Anstaltswechsel

54,5

57

64

7

Josephson Brigitte Luise

Mittelwerte 3. Phase:

Legende. * Daten nach Jahr des Eintritts sortiert ( ) – unsichere Datenangabe / unsicherer Zahlenwert (wurden in den Berechnungen nicht erfaßt) Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

395

Abbildungen und Tabellen

Tabelle 3

Äbtissinnen des Jena-Stiftes*

Tod

Austritt

Eintritt

Expektanz

Lfd. Nr. Name

Geburt

Jahr der / des

Amtszeit

1 Börstel v. Eleonore Sophie

1656 1703 1703 1708 1708

1703–1708

2 Benatre v. Franzisca

1667

1709 1748 1748

1709–1748

3 Bär v. Sophie Eleonore

1684

1712 1754 1754

P

1749–1754

4 Montmartin v. Marie Wilhelmine

1711

1727 1792 1792

P

1771–1792

5 Tour de Constanze Albertine Marie

1706 1738 1749 1770 1770

P

6 Cordier v. Louise Martha

1753 1776 1789 1828 1828

1755–1770 1801–1828

7 Collas v. Friederike Christiane Eleonore Caroline

1755 1782 1792 1801

1793–1801

8 Courbiere de Marie Elisabeth de l‘homme

1773 1793 1795 1829 1829

1828–1829

9 Lichnowsky v. Johanne Louise Augustine Wilhelmine

1783 1802 1803 1850 1850

1830–1850

1785 1807 1814 1857 1857

1850–1857

10 Lichnowsky v. Amalie Louise Caroline Philippine Albertine 11 Hagen v. Albertine

1808 1827 1830 1874 1874

1858–1874

12 Jena v. Auguste

1832 1850 1856 1913 1913

1875–1913

13 Jena v. Therese

1839 1869 1875 1921 1921

14 Jena v. Gisela

1856 1899 1899 1915 1915

15 Jena v. Magarete

1869 1888 1913 1925 1925

1922–1925

16 Seydlitz-Kurzbach v. Anna

1869 1925 1925 1952 1952

1925–1952

Legende. * Daten nach Jahr des Eintritts sortiert P – Precistin (von der Königin ernannt) Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

1915–1921 P

1914–1915

396 Tabelle 4

Anhang

Berufe der Väter von Konventualinnen

Namen

Vornamen

Beruf / -e

Blixen v.

Andreas Dubslaff

Oberstleutnant

Rahde(n)

Arnold Bernhard

Königlich Preußischer Hof- u. Legationsrath Amtsherr v. Jericho/Hrzt. Magdeburg Erbherr auf Giesenbrügge

Stechow v.

Caspar Heinrich

Oberstleutnant

Bruno (Brüno) v.

Vincenc George

Erbherr auf Helpe Oberstwachtmeister

Hautcharmoy v.

Heinrich Carl Ludwig

Offizier

Treskow v.

Otto Melchior

Erbherr auf Milo Königlich Preußischer Kammerherr

Froben v.

Friedrich Emanuel

Justiz-, Hof- und Kammerrath

Biedersee v.

Victor Friedrich

Erbherr auf Ballenstedt Gutsbesitzer

Rosey du

Carl

Oberstwachtmeister

Knobelsdorf v.

Gottlob

Offizier/Hauptmann

Schierstedt v.

Dietrich Friedrich Carl

Erb- und Gerichtsherr auf Paplitz Gutsbesitzer

Nimschewsky v.

Wilhelm

Oberst

Biedersee v.

Friedrich Wilhelm

Regierungsrath

Ziegler v.

Rudolf Friedrich

Finanzrath

Dörenberg (Dörnberg) v.

Ferdinand

Königlich Preußischer Etat- und Kriegsminister

1. Phase: 1703–1836

Cordier v.

Offizier/Regimentskommandeur

Collas v.

Johann Jakob

Hauptmann

Unruh v.

Johann Ernst

Hauptmann

Hundt v.

Johann Christian

Major

Bessel v.

August Moritz

Königlich Preußischer Direktor der Kammerdeputation zu Lingen

Uckermann (Uekermann) v.

Johann Philipp

Rittmeister

Courbiere de

Wilhelm Renatus

Generalleutnant

Biedersee v.

Victor Ludwig

Hauptmann

Broeck (Braeck) v.

Ferdinand Wilhelm Leberecht

Leutnant

Miltitz v.

Hanns

Major

Regemann v.

Johann Gottfried

Oberstleutnant

Lichnowsky v.

Ludwig

Major

Arnim v.

Carl Ludolph Bernhard

Regierungspräsident zu Minden

397

Abbildungen und Tabellen

Fortsetzung Tabelle 4 Namen

Berufe der Väter von Konventualinnen Vornamen

Beruf / -e

Renouard v.

Jeremias

Capitän/Generalmajor

Stwolinska v.

Sylvius Gottlieb

Leutnant

Recke v.

Ernst Sigismund Wilhelm

Hauptmann

Regemann v.

Carl

Leutnant

Marwitz v.

Friedrich Ferdinand

Leutnant

Barfuss v.

Franz Heinrich

Hauptmann

Hagen v.

Carl

Landrath

Kamptz v.

Ernst August

Generalmajor

Seelhorst v.

Ernst Carl Friedrich

Rittmeister

Funk v.

Friedrich Wilhelm

Generalmajor

Seldt (...elt) v.

August

2. Phase 1837–1880

Ledebur v.

Mecklenburgischer Kammerherr Generalmajor

Hagen v.

Carl Columbus Albert

Rittmeister

Jena v.

Eduard

Rittmeister Erbherr auf Dobbernitz

B(K)oenigk v.

Ferdinand Wilhelm

beim Militär

Madai v.

August Friedrich Wilhelm

Beamter

Kitzing v.

Appelationsgerichtspräsident

Breitenbanck v.

Rittergutsbesitzer

Dresky v.

Major

Gronefeld v.

Oberregierungsrath

3. Phase: 1881–1920 Seelhorst v. Ledebur v.

Major Louis

Major

Pergande v.

Ernst

Land- und Stadtrichter (Justitzrat)

Flotow v.

Hans

Landrat zu Schleusingen

Jena v.

Carl

Major

Jena v.

Carl Wilhelm Eduard

Hauptmann

Donop v.

Friedrich Franz Carl

Major

Ingersleben v.

Otto

Gutsbesitzer

Luebtow v.

Carl

Beamter

Lüderitz v.

Carl Heinrich Wilhelm

Major

Sack

Albert

Oberregierungsrath

398 Fortsetzung Tabelle 4 Namen

Anhang

Berufe der Väter von Konventualinnen Vornamen

Beruf / -e

1921–1948 Knobelsdorff-Brenkenhoff v. Helmuth

Rittergutsbesitzer

Josephson

Pfarrer/Domprediger in Halle

Hermann

Seydlitz-Kurzbach v.

Fritz Eduard Richard

Leutnant

Colomb v.

Carl Ernst Georg

Rittmeister

Westernhagen v.

Udo

Munnich v.

Rittmeister Hauptmann

Abendroth v.

Alexander Bernhard

Königlich Sächsischer Obergrenzaufseher

Stockmar v.

Carl

Rittergutsbesitzer

Schronther v.

Georg

Tribunalrath

Rohrscheidt v.

Kurt

Regierungsassessor

Zittwitz v.

Rudolf Friedrich

Pfarramtskandidat Gymnasiallehrer

Bescherer v.

Roderich

Rittergutsbesitzer

Rappert v.

Eberhard

Ingenieur

Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

399

Abbildungen und Tabellen

Tabelle 5

Frauen bürgerlicher oder z. T. bürgerlicher Herkunft

Name

Eltern

Stiftseintritt

Pergande, Henriette Loise

Maria von der Gablenz Ernst Pergande, Justitzrat

1892

Sack, Gertraud

Gertraud von Selchow Albert Sack, Oberregierungsrat

1919

Josephson, Brigitte Luise

Berthe Cremer Hermann Josephson, Domprediger

1924

Sack, Caroline Thekla Clara

Gertraud von Selchow Albert Sack, Oberregierungsrat

1927

Westernhagen, Ida von

Sophie Felber Udo von Westernhagen, Rittmeister

1933

Munnich, Margarete von

Leontine Nehring (?) von Munnich, Hauptmann

1936

Rohrscheidt, Ilse von

Elisabeth Schulz Kurt von Rohrscheidt, Regierungsassessor

1941

Zittwitz, Erna von

Ottilie Steinweg Rudolf von Zittwitz; Lehrer und Pfarramtskandidat

1941

Rauppert, Magdalena von

Magdalena Heinze Eberhard von Rauppert, Ingenieur

1948

Quelle: StArch, Verzeichnis der Konventualinnen

Quellenverzeichnis Archivalien ( Bestand des Stiftsarchivs der evangelisch-reformierten Domgemeinde in Halle / S.)

Gedrucktes AUS Halles Vergangenheit. Die Einweihung des Fräuleinstifts, in: Stadtzeitung vom 14. 5. 1926 (Halle). AUSKUNFTSBUCH über Wohltätigkeit und Wohlfahrtspflege in Halle a. S., hrsg. v. Dr. Tempelmann, Halle 1907. GEMEINDEBLATT der reformierten Domgemeinde (1987 ?). STÖTZER , Johann Friedrich, Gedanken und Empfindungen bei der ersten hundertjährigen Jubelfeier des hiesigen von Jenaschen Fräulein-Stiftes, Halle 1803.

Ungedrucktes StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 1, Stiftungsurkunde (Fundation) 1702 von Gottfried von Jena. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. I, Nr. 6, Beitritt des Stiftes zur Union 1830. StArch., Cap. I (Generalia), Vol. IV, Nr. 1, Das Vermächtnis von 46000 Thalern. StArch., Classe III, Titel 1, Capitel III, No. 1b, Verzeichnis der Konventualinnen 1703–1948. StArch., Neuere Akten II, Anmeldungen und Lebensläufe 1920–1943. StArch., Neuere Akten VII (Rechnungssachen 1892–1944): Brief des Geheimen Kanzlei Rathes in Berlin vom 8. 5. 1892 an das Stift; Mitteilung des Provinzial-Ausschusses für Innere Mission in der Provinz Sachsen vom 14. 9. 1925; Brief des Regierungspräsidenten in Merseburg vom 24. 9. 1936 an das Stift. StArch., Neuere Akten VIII (Anstellung, Versicherungen 1892–1943): Fragebogen zur Anmeldung bei der Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege vom 5. 9. 1929. StArch., o. Sgn., Expektanzbuch 1703–1948. StArch., o. Sgn, Brief der preußischen Königin Elisabeth Christine vom 28. 12. 1782 an das Stift. StArch., o. Sgn., Kabinettsbeschluß der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Halle, den 2. 2. 1949).

Autobiographik A RNIM, Maxe von, Tochter Bettinas / Gräfin von Oriola 1818–1894. Ein Lebens- und Zeitbild aus alten Quellen geschöpft von Johannes Werner, Leipzig 1937. (verfaßt um 1891)

402

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