Selbstzwang und Selbstverwirklichung: Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen [1. Aufl.] 9783839416983

Dieses Buch macht die gegenwärtige psycho-soziale Verfassung europäischer Menschen aus den historischen Traditionen ihre

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Selbstzwang und Selbstverwirklichung: Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen [1. Aufl.]
 9783839416983

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Symptome des Wandels
1 Essen
2 Ausscheidungen
3 Nacktheit und Schlafen
4 Liebe und Sexualität
5 Kinder
6 Gewalt
II Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang
1 Zivilisation
2 Das Menschengeflecht
3 Die Verhöflichung der Krieger
4 Scham und Peinlichkeit
5 Heliozentrik
6 Kritik
III Die Intervention der Disziplinargesellschaft
1 Die Mikrophysik der Körper
2 Wahnsinn und Vernunft
3 Das Verstummen der Dinge
4 Das Verschwinden des Menschen
IV Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung
1 Das Glück der Waren
2 Die Entfernung der Ferne
3 Das Automobil
4 Der Mythos der Bilder
V Gegenwartsgeschichte
1 Jenseits des Menschen
2 Die Wiederbelebung der Furcht
3 Epochen des Wandels
4 Abschied vom vollkommenen Menschen
Anmerkungen
Einleitung
Symptome des Wandels
Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang
Die Intervention der Disziplinargesellschaft
Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung
Gegenwartsgeschichte
Literatur

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Bernhard Rathmayr Selbstzwang und Selbstverwirklichung

Band 2

Editorial Der geologische Terminus »Konglomerat« bezeichnet ein Steingemenge aus Geschiebestücken, die sich durch ein Bindemittel verfestigen. Die beiden lateinischen Wörtchen »con« und »glomerare« weisen auf das bunt Zusammengewürfelte, den Knäuel, Klumpen, Kugelball, Globus. Die Reihe Konglomerationen verwendet diesen geologischen Tatbestand als Gleichnis für das Verhältnis und das Verhalten der Subjekte in Gesellschaften der ausgehenden Moderne. Der Vergleich zielt auf das, was zwischen dem Geschiebe und dem Globus geschieht, auf die Prozesse der Verfestigung, der Konglomeration in den Alltagen der Menschen. Die Reihe will – einerseits – die Sedimente, Geschiebestücke, die neben gewohnten Gebirgen liegen, kulturlesend sammeln, auslesen und in den Fluss der sozialen Ballungen zurückgeben und – andererseits – den Mechanismen und Resultaten der Versteinerung dieser heterogenen Alltagspartikel in der Zeit und in der Lebenszeit nachgehen. Herausgeber/-innen, Schreiber/-innen und Leser/-innen können so ein Kolleg auf Zeit bilden, das Vergangenes in der Subjektbildung der Gegenwart auf zukünftige Konstellationen hin liest. So soll am Scheideweg der Gegenwart das labile Verhältnis von Absicherung und Entsicherung für künftige Alltagswelten geklärt werden und prinzipiell offen bleiben. Die Reihe wird herausgegeben von Helga Peskoller, Bernhard Rathmayr und Maria A. Wolf. Wissenschaftlicher Beirat: Birgit Althans, Anna Bergmann, Michaela Ralser, Edith Seifert, Hanne Seitz und Gabriele Sorgo.

Bernhard Rathmayr (em. a.o. Univ.-Prof., Dr. phil.) lehrt Anthropologie und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Innsbruck und Bozen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Historische Anthropologie, Zivilisationsgeschichte, Geschichte der Körper, Liebe/Sexualität, Gewalt, Konsum, Medien und Kindheit.

Bernhard Rathmayr

Selbstzwang und Selbstverwirklichung Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1698-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 I 1 2 3 4 5 6

Symptome des Wandels | 19 Essen | 22 Ausscheidungen | 43 Nacktheit und Schlafen | 45 Liebe und Sexualität | 50 Kinder | 76 Gewalt | 106

II Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang | 127 1 2 3 4 5 6

Zivilisation | 127 Das Menschengeflecht | 130 Die Verhöflichung der Krieger | 135 Scham und Peinlichkeit | 138 Heliozentrik | 147 Kritik | 150

III Die Intervention der Disziplinargesellschaft | 173 1 2 3 4

Die Mikrophysik der Körper | 173 Wahnsinn und Vernunft | 184 Das Verstummen der Dinge | 187 Das Verschwinden des Menschen | 201

IV Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung | 209 1 Das Glück der Waren | 210 2 Die Entfernung der Ferne | 212

3 Das Automobil | 238 4 Der Mythos der Bilder | 265

V Gegenwartsgeschichte | 275 1 2 3 4

Jenseits des Menschen | 282 Die Wiederbelebung der Furcht | 298 Epochen des Wandels | 308 Abschied vom vollkommenen Menschen | 311

Anmerkungen | 319 Einleitung | 319 Symptome des Wandels | 320 Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang | 332 Die Intervention der Disziplinargesellschaft | 340 Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung | 346 Gegenwartsgeschichte | 357

Literatur | 363

Einleitung

Roland Barthes hat 1957 nach dem Besuch der Pariser Ausstellung »La Grande Famille des Hommes« auf die spezifische Verführung aufmerksam gemacht, die Menschen, so verschieden sie sind, zu einer großen Familie der Schicksalsgleichen zu verbinden. »Zunächst«, so Barthes’ Kritik an der Ausstellung, »bekräftigt man die Unterschiede« und »hebt die Unendlichkeit der Variationen der Art hervor«, man »babelisiert« nach Belieben das Bild von der Welt. Dann gewinnt man auf magische Weise aus diesem Pluralismus eine Einheit: der Mensch wird geboren, arbeitet, lacht und stirbt überall auf die gleiche Weise, und wenn in diesen Akten noch irgendeine ethnische Besonderheit steckt, so gibt man zumindest zu verstehen, dass hinter ihnen eine identische »Natur« liege und dass die Verschiedenheit nur formalen Charakters sei und der Existenz einer gemeinsamen Materie nicht widerspreche.1

Barthes hat für diese Art Anthropologie den Begriff »Adamismus«2 geprägt: Der Mythos von der conditio humana stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen. Der klassische Humanismus postuliert, dass man, wenn man ein wenig an der Geschichte der Menschen kratzt, […] sehr schnell zur tieferen Schicht einer universalen Natur gelange. Der fortschrittliche Humanismus muss dagegen stets daran denken, die Begriffe dieses alten Betrugs umzukehren, die Natur, ihre »Gesetzmäßigkeiten« und ihre »Grenzen« unaufhörlich aufzureißen, um darin Geschichte zu entdecken und endlich die Natur selbst als historisch zu ersetzen. 3

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Wissenschaft über den Menschen verstand sich bislang – und versteht sich weithin noch – als Anspruch, das Eigentliche, das Unterscheidende, das Wesen des Menschen zu ergründen. An der Möglichkeit dieses Unterfangens sind in jüngerer Zeit erhebliche Zweifel laut geworden, die sich nicht zuletzt an den Dutzenden unterschiedlichen philosophischen Bestimmungsversuchen dieses Wesens festmachen. Alles »Hirngespinste«, hat schon Ludwig Feuerbach gemeint und eine »kopernikanische Wende« der Philosophie gefordert, die anstelle des »philosophischen Menschen« den »Menschen aus Fleisch und Blut« zum Gegenstand der Philosophie macht. Spekulative Philosophie ist für Feuerbach eine »betrunkene« Philosophie, die erst wieder »nüchtern« werden müsse.4 Karl Marx führte die Ersetzung des Menschen durch das Menschliche mit der Einfügung der Menschen in die Gattungs- und Gesellschaftsgeschichte konsequent bis zur Bezweiflung des Individuums als abstraktem Gegenstand der Anthropologie weiter. Ein transzendentales Wesen des Menschen ist für ihn eine Einbildung, die »die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen ›der‹ Mensch vorgestellt« haben, »so dass den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ›der Mensch‹ unterschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde«5 . Das Individuum ist nicht mehr unveränderlicher Träger wandelbarerer gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern selbst Ergebnis gesellschaftlichen Wandels: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, so Marx in den 1845 veröffentlichten »Thesen über Feuerbach«6. Das Buch »Selbstzwang und Selbstverwirklichung« folgt diesem relativistischen Menschenverständnis, das – ohne diesen marxistischen Hintergrund – seit den 1970er Jahren insbesondere von einer Richtung der Anthropologie vertreten wird, die sich »Historische Anthropologie« nennt.7 Bereits in Dietmar Kampers früher Anthropologiekritik wird dieser Standpunkt prominent eingenommen: Die gegenwärtige Anthropologie-Kritik, um die es geht, kann als eine Kritik charakterisiert werden, die den »Standpunkt der Geschichte« einzunehmen versucht und von dorther alle anthropologischen Ansätze diskriminiert, welche eine »menschliche Natur« ohne Rücksicht auf ihre historische Veränderbarkeit dingfest machen wollen. 8

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Die Vorstellung einer gleich bleibenden menschlichen Natur wird zum Ansatzpunkt grundsätzlicher Kritik: Die Relevanz gegenwärtiger Anthropologiekritik für eine Methodologie der Humanwissenschaften besteht also in einer historischen Relativierung der »menschlichen Natur«. Natur im Sinne von Begriff, Wesen, Prinzip wird durchsichtig als Resultat einer Vergangenheit bzw. Postulat einer Zukunft. Die zu gewinnende neue Dimension wissenschaftlicher Erkenntnis ist die »Geschichte«, die sich theoretisch als unabschließbar erweist und die kurzschlüssige Methode der anthropologischen Forschung zugunsten einer offenen menschlichen Praxis sprengt. 9

Damit ist eine unüberschreitbare Barriere zwischen dem jeweils partikulären Wissen von konkreten Menschen über sich und dessen illegitimer Verallgemeinerung errichtet. Jede Definition des Menschen, »welche die Möglichkeit eines Widerspruches durch den also Definierten nicht einkalkuliert, ist ein gewalttätiges Unternehmen, das letzten Endes jedes menschliche Selbstverständnis vernichtet.«10 Ein solcher Zugang bedeutet den Verzicht auf den Anspruch, ein überzeitliches, absolutes »Wesen« des Menschen aussagen zu können. Menschen werden als je konkret in ihrer Zeit, ihrer Kultur, ihrer sozialen und individuellen Geschichte verweilende und einem permanenten Wandel unterworfene Personen betrachtet. Wesensaussagen über »den« Menschen werden als kontingente, relative Aussagensysteme verstanden, die Teil einer Geschichte der Reflexion der Menschen auf sich selbst sind. Die Behauptung allgemeiner, die gesamte Menschheitsgeschichte steuernder religiöser, metaphysischer oder empirischer Triebkräfte ist nicht Voraussetzung, sondern Gegenstand historischer Anthropologie. Sie kommt als Folge gesamtgesellschaftlicher Abstraktionsprozesse in den Blick, die sich nicht der »Natur« des Menschen, sondern seiner als Natur missverstandenen Geschichte verdanken. Die einzige in ihrem Sinne in der Menschengeschichte annehmbare Konstante ist die grundsätzliche Wandelbarkeit aller auf den Menschen bezogenen und von ihm hervorgebrachten Manifestationen. Nicht einmal die »unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit«11 sind ihr Formalobjekt, sondern die Gestalten und Dynamiken des Wandels konkreter Teilkulturen, die nicht als lückenlose Erklärungen des Menschheitsganzen ausgegeben werden dürfen, sondern als bemerkenswerte Beispielfälle möglicher Konkretisie-

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rungen des Menschseins. Die ideologische Identifikation von Natur und Geschichte, die geschichtlich-gesellschaftliche Errungenschaften und Zwänge als naturwüchsig ausgibt und sie dadurch dem gesellschaftlichen Veränderungsprozess entzieht und den Individuen als Wesensverpflichtung auferlegt, wird so selbst Gegenstand kritischer Historiographie. Die Absage an alle ungeschichtlichen Totalitätsansprüche einer als deskriptiv ausgegebenen normativen Bestimmung »des« Menschen lässt eine »Deutung des Menschen, die im Grunde schon weiß, was der Mensch ist, und daher nie fragen kann, wer er sei«, und die »nur die nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjectum zu leisten hat«, statt sich selbst »als erschüttert und überwunden zu bekennen«, nicht mehr zu.12 Eine historisch angeleitete Frage nach den Menschen folgt einer retardierenden, Rück-Sicht nehmenden, revisionären Dimension, die sowohl ein Element der »Wissenshege«, der Achtung und Rettung vergangener Wissensweisen und Wissensbestände enthält, als auch ein Element der »Melancholie« angesichts der uneingelösten Hoffnungen der Früheren, eine »Treue der Schwermut zum niemals Werdenden«13 . Sie schließt aber auch ein Erschrecken ein, wie es Walter Benjamin in seiner dramatischen Assoziation zu Paul Klees »Angelus Novus« aufruft: Der Engel der Geschichte hat das Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken zukehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm in den Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.14

Eine historisch orientierte Menschenkunde schreibt die conditio humana nicht fest. Sie versteht sie als einen offenen Prozess, der sich erst in der traditio humana, in der Geschichte des Menschlichen, entfaltet und erschließt. Als eine Archäologie des Menschlichen aus den Fundstücken seiner grundsätzlich unabgeschlossenen Geschichte und Gegenwart fügt sie den Erzählungen der conditio humana die Nacherzählungen der traditio humana hinzu. Es ist entscheidend, dass diese traditio nach vorne offen gedacht wird: Das Menschen Mögliche ist erkennbar an dem, was Menschen

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bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen. Historisch-anthropologische Forschung besteht in der Bemühung, Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen, zu einer Erkundung des Menschlichen aus seiner von den Leiden und Hoffnungen der Gegenwart aus angefragten Geschichte, ohne deren Zurkenntnisnahme menschliche Entwicklung Gefahr läuft, sich in der Enge des jeweiligen Zeitgeistes einzuschließen. Stattdessen wird versucht, im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten. Zu diesen Möglichkeiten gehören auch jene Äußerungsformen von Menschen, die im Alltagsjargon als unmenschlich bezeichnet werden. Nichts belegt die Geschichte der Menschen eindeutiger als die Tatsache, dass das Unmenschliche Menschen möglich ist. Ein anhaltendes und immer noch enormes Ausmaß an Gewalt, Kriegen, sozialer Ungerechtigkeit, Wirtschaftsimperialismus, religiöser und anderer Intoleranz, Diktaturen oder deren Entsprechungen in Form von Alltagsfaschismen, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus – das alles sind Erscheinungsformen einer nach wie vor höchst problematischen Verfassung des homo occidentalis, denen auf der anderen Seite viele Anstrengungen der Herbeiführung von mehr Menschlichkeit unter den Menschen entgegenstehen. So sehr die Menschen aus ihrer Geschichte verstanden werden müssen, so sehr dient die Geschichte der Menschen dem Verständnis ihrer Gegenwart. Die treibende Kraft der Erkenntnisbemühung ist nicht die Aufbereitung des Geschichtlichen für museale Zwecke, die Blickrichtung wird vielmehr von den brennenden Fragen gegenwärtiger menschlicher Existenz angeleitet, von der beunruhigenden Erfahrung der Unbeantwortbarkeit heutiger Fragen, der Ausweglosigkeit gegenwärtiger Probleme, der Macht zerstörerischer Dynamiken der modernen Zivilisation. Die Geschichte der Menschen hält freilich nur dann Antworten für deren Gegenwart bereit, wenn sie nicht vorher illegitim zu ihrer Rechtfertigung vereinnahmt wurde. Nicht aus der ein für alle Mal erkannten Geschichte zu lernen, ist das Ziel der Bemühungen, sondern heutige Fragen als Anspielungen auf vergessene geschichtliche Antworten zu verstehen, sie als Hinweise auf in ihnen verborgene Spuren historischer Vorläufe zu lesen, deren Gehalt es erst zu ergründen gilt.

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Letzter Sinn historisch-anthropologischen Fragens ist nicht die für sich bedeutsame Rekonstruktion geschichtlicher Gegebenheiten, sondern das Begreifen gegenwärtiger Entwicklungen von ihrer oftmals abgekoppelten Vorgeschichte aus. Vorgänge, die aus ihren Erscheinungsweisen in der Gegenwart heraus nicht mehr angemessen verstanden werden können, oder wie Dietmar Kamper es ausdrückt: »Wirkungen, für die man noch keine adäquaten Ursachen gefunden hat«15, werden mit möglicherweise auf sie hinführenden Entwicklungen in Verbindung gebracht, die eine Schlüsselfunktion für ihr Verständnis haben können. Der Erkenntnisertrag dieser Bemühung besteht selten in jenem Nachvollzug kausaler Verknüpfung geschichtlicher Ursachen-Folge-Relationen, dem eine historizistische Geschichtswissenschaft verpflichtet ist. Selbstverständnis und Selbstverständlichkeiten historischer Menschen liegen in den seltensten Fällen offen zutage. Teils waren sie den damals Gegenwärtigen nicht bewusst, teils erschienen sie ihnen nicht bedeutsam, teils wurden sie absichtlich verborgen, verschleiert, verdrängt. »Alle, die wir da sind«, schreibt Denis de Rougemont in seiner Geschichte der Liebe im Abendland, führen, ohne es zu wissen, unser Leben von Zivilisierten in einer eigentlich unsinnigen Konfusion von niemals ganz toten Religionen, die selten ganz verstanden oder ausgeübt worden sind, in einer Konfusion von Moralauffassungen, die ursprünglich einander ausschlossen, sich später aber übereinandergelegt haben oder sich im Hintergrund unseres elementaren moralischen Verhaltens miteinander verbunden haben, in einer Konfusion von unbewussten, aber umso wirksameren Komplexen und Instinkten, die weniger aus irgendeiner tierischen Natur stammen als aus völlig in Vergessenheit geratenen Gewohnheiten, die zu ganz unbewussten geistigen Spuren oder Narben geworden sind.16

Die Suche nach dem Verständnis des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen bleibt dabei selbst noch einmal geschichtlich, d.h. von den gesellschaftlichen Bedingungen der heute Fragenden bestimmt. Umso wichtiger ist es, die unumgängliche Konstruktion geschichtlicher Ereignisse aus der Mentalität jeweils gegenwärtiger Epochen und der Einbildungskraft jeweils gegenwärtiger Historiographen einzukalkulieren, die eine wohlverstandene »Gegenwartsgeschichte« erst vor undurchschautem Tempozentrismus und unkritischer Weiterführung erkenntnistheoretischer oder ideologischer Reduktionen bewahren kann.17

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Die Versuche, menschlicher Existenz die Möglichkeiten des Menschlichen historisch-kritisch verfügbar zu machen, deuten bisher nicht darauf hin, dass die Synopse der darin vorfindlichen Menschenbilder letztendlich wieder ein einheitliches Mosaik »des« Menschen ergeben könnte. Vielmehr taucht am Ende zumindest der abendländischen Geschichte ein Element der Simulation,18 der Selbsttäuschung,19 der Fiktion20 auf, das Gesamtkonzeptionen einer conditio humana der Sphäre grandioser Imaginationen zuweist. Antworten auf die Frage nach den Menschen bedürfen vorerst der geduldigen Kleinarbeit einer Archäologie des Menschlichen aus seiner Geschichte und Gegenwart, die den Erlebnissen gegenwärtiger und den Erfindungen zukünftiger Menschlichkeiten die Erinnerungen an vergangene Menschenschicksale zuspielt. Der hier vorgelegte zweite Band der Reihe »Konglomerationen«21 zieht zu dieser Archäologie des Menschlichen nicht nur historisch-anthropologische Forschungen im engeren Sinn heran, sondern vollzieht eine nach Ansicht des Autors längst fällige Öffnung hin zu zivilisationsgeschichtlichen, diskursgeschichtlichen und historisch-psychologischen Herangehensweisen. Im Blickpunkt des Interesses stehen Prozesse der Entstehung und Veränderung sozialer und mit ihnen einhergehender psychischer Strukturen. In einer ersten Annäherung werden deshalb Symptome des Wandels menschlicher Verhaltensweisen vorgestellt. Die ausgewählten Felder haben durchweg mit einer unveräußerlichen Basis menschlichen Lebens zu tun, mit dem Körper und seiner Geschichte: Essen, Schlafen, Nacktheit, Schwangerschaft, Geburt, Kindheit, Liebe, Sexualität und Gewalt werden auf ihre geschichtliche Wandelbarkeit befragt. Das zweite Kapitel ist den theoretischen Grundannahmen der Theorie des Zivilisationsprozesses gewidmet, wie sie Norbert Elias in den 1930er Jahren entwickelt hat: dem für Elias paradigmatischen Grundsatz einer figurativen statt individualistischen Verfassung menschlichen Verhaltens sowie seinen zentralen Konzeptionen zum Wandel des Affekthaushaltes durch die Erhöhung der gesellschaftlichen Interdependenz und den wachsenden gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang, einschließlich der zivilisatorischen und erkenntnistheoretischen Effekte der Erschütterung der geozentrischen Sicherheit durch die heliozentrische Entfernung der Menschen aus dem Mittelpunkt der Welt. Eine Aufarbeitung der kontroversiellen Auseinandersetzung mit dieser Theorie, von grundsätzlichen Befürwortern bis zu entschiedenen Gegnern wie Breuer, Schwerhoff und vor allem Duerr, lässt deren Kritik und Weiterentwicklung dringlich werden.

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Dieser Weg wird, im dritten Kapitel, zunächst über eine in der Forschung bisher noch nicht versuchte An- und Einfügung diskursgeschichtlicher Theoreme zur Genese und Veränderung der europäischen Verhaltens- und Wissensarchive an bzw. in die Theorie des Zivilisationsprozesses beschritten: Michel Foucaults historischen Analysen zum Wandel der Vergesellschaftung der Körper von gewaltsamer physischer Unterdrückung zu einer Mikrophysik der Kontrolle, Erziehung und Arrangierung der Körper im Rahmen der Kalküle nicht mehr brachial durchgesetzter, sondern subtil wirkender gesellschaftlicher Mächte. Von hier aus ergibt sich eine erste, grundlegende Korrektur der Zivilisationstheorie Elias’schen Zuschnitts: Die Anpassung der europäischen Menschen an die Erfordernisse der neuen, vernetzten Gesellschaften wurde nicht schon durch den Automatismus der wachsenden Interdependenz bewirkt, sondern bedurfte bis ins Kleinste ausgeklügelter Techniken der Disziplinierung der Menschen in allen Bereichen ihrer Existenz. Foucaults Beitrag reicht aber weit über die Theorie der Disziplinargesellschaft hinaus. Insbesondere seine aus der Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Wahnsinn entwickelte Vergeschichtlichung der Idee des Subjekts, einer bis dahin weithin als unveränderlich verstandenen Grundlage menschlicher Existenz, sowie seine Geschichte des Verhältnisses zwischen den Dingen und der zunächst in ihnen verborgenen und später nur mehr über sie geführten Sprache legen tiefe Spuren des Wandels menschlicher Selbstverständnisse offen – bis hin zu der alles vermeintlich verbürgte Wissen über den Menschen von Grund auf erschütternden Ahnung, dass »der Mensch« – der Mensch der europäischen Wissenschaft seit dem 18. Jahrhundert – »verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«22 Mit der Intervention der Disziplinargesellschaft ist die Sozio- und Psychohistorie der europäischen Menschen noch nicht an ihrem vorläufigen gegenwärtigen Ende angelangt. In der modernen Konsum- und Mediengesellschaft wird die gesellschaftliche Anpassung der Individuen nicht mehr durch Selbstzwang und auch nicht mehr überwiegend durch Disziplinierung hergestellt. Darin besteht die zweite entscheidende Korrektur der Zivilisationstheorie nach Elias und Foucault. Die zentrale Konformitätsmechanik der Gegenwart funktioniert über die Ideologie des freien, selbstbestimmten Individuums, das alles kann, fast alles darf und alles soll. Das Ideal der Selbstverwirklichung und die Illusion der Selbstbestimmung sind an die Stelle des Selbstzwangs getreten. Freilich bedeutet diese Selbstverwirklichung nur scheinbar die grenzenlose Freiheit. Untergründig

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bleibt auch sie ein Instrument der Einpassung der Menschen in den Rahmen der nach wie vor durch ökonomische, politische und patriarchalische Mächte bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse. Durch diese grundsätzliche Täuschung wird die gegenwärtige Existenz der europäisch zivilisierten Menschen bestimmt. Dass dem so ist, versucht das vierte Kapitel zunächst anhand einer Charakteristik der Konsumgesellschaft zu demonstrieren. Insbesondere in der noch kurzen Geschichte des Automobils und der bereits längeren des Reisens zeigt sich der Widerspruch zwischen der objektiv-technischen Beschaffenheit von Konsumgütern und ihrer subjektiv-psychischen Aneignung als Ware: als Träger imaginärer Wünsche, die selbst dann noch aufrechterhalten werden, wenn sie durch die Bedingungen des modernen Massenverkehrs und Massentourismus als objektiv unerfüllt erfahren werden. In ähnlicher Weise bedienen die modernen Publikumsmedien Wunsch- und Angstpotentiale ihrer Konsumenten-/innen, wie sich am Beispiel des Leitmediums Fernsehen veranschaulichen lässt. Moderne Konsumenten-/innen und Medienkonsumenten-/innen werden zu einer »birealen« Wahrnehmung instand gesetzt, in der reale und mediale Erfahrung nebeneinander existieren, ohne dass deren fundamentaler Widerspruch noch wahrgenommen wird. Im fünften und letzten Kapitel werden zwei Zugänge zur Deutung der Gegenwart aus ihrer Vorgeschichte vorgestellt: Dietmar Kampers Theorem einer »Transhumanen Expansion« und eine den tiefen Pessimismus Kampers erleichternde Perspektive des Überlebens, die auf einer Reflexion der Geschichte der Angst aufbaut und die Rehabilitation der Furcht propagiert. Der Versuch, Epochen der europäischen Sozio- und Psychogenese zu benennen und in eine Reihenfolge zu bringen, sowie die Absage an die mächtige europäische Denktradition von der Vervollkommnung des Menschen als dessen eigentliche Bestimmung bildet das offene Ende dieser Überlegungen zur Genese der abendländischen Menschen. Die Zukunft lässt sich unter den Perspektiven der in diesen historisch-anthropologischen Analysen gewonnen Einsichten nicht vorhersagen. Diese Einsichten stellen aber Blickwinkel zur Verfügung, unter denen sich die laufenden Entwicklungen strukturierter beobachten lassen sollten, als dies die üblichen, nicht selten zu pauschalen Gesamtsichten auf die Welt von heute oder die Gesellschaft von morgen ermöglichen. In keinem seiner Teile geht es diesem Buch um eine dem ununterbrochenen Zeitlauf folgende Historiographie, sondern stets um die Dokumentation und Analyse ausgewählter Zeiträume der Antike, des Mit-

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telalters, der Renaissance, der Aufklärung und der Gegenwart – solcher Zeiträume, in denen bemerkenswerte Wandlungen dessen vor sich gingen, was Norbert Elias den »Prozess der Zivilisation« genannt hat. Im Zentrum dieser Überlegungen steht nicht die Perspektive eines geschlossenen Entwicklungskreises der Geschichte europäischer Menschen, sondern eine möglichst anschauliche Darstellung der unterschiedlichen Wahrnehmens-, Verhaltens- und Denkweisen der Menschen in manchen Epochen der europäischen Geschichte. Sozusagen zwischen den Zeilen erst werden verbindende Dynamiken im Konglomerat der Geschichte der europäischen Menschen erkennbar: Allem voraus eine wachsende Dominanz der das Verhalten kontrollierenden Psychen über die Körper, ein Wandel vom konkreten, an der eigenen Erfahrung orientierten sinnlich-köperlichen Erleben zu einer an moralisch-abstrakten Normen orientierten Verfassung der Individuen. Damit einhergehend eine Trennung zwischen einer »objektiven«, an der Eigenart der Dinge haftenden Erkenntnisweise zu einer »subjektiven« an der Sprache über die Dinge, an den über sie gestülpten Begriffen und Semantiken und an der eigenen Innerlichkeit sich orientierenden Erkenntnisweise. Zuletzt ein Wandel in den teils bewussten, teils unbewussten Methoden der Verhaltenssteuerung der gesellschaftlichen Menschen von äußerem Zwang zu gesellschaftlich erzwungener Selbstbeherrschung bis zu – in der Gegenwart – gesellschaftlich erzwungener Selbstverwirklichung. Der Großteil der in diesem Band entfalteten Gedanken wurde in einer Serie von Lehrveranstaltungen am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck entwickelt. Seit den 1980er Jahren war an diesem Institut ein transdisziplinäres Verständnis von »Erziehungswissenschaft« möglich, das historische Anthropologie, Zivilisationsgeschichte, Historische Psychologie und Psychohistorie sowie eine Reihe anderer quer zu den disziplinären Ordnungen der Fachwissenschaften liegende Denkrichtungen ermöglichte und unterstützte. Eine der jüngsten Errungenschaften dieser Bemühungen ist das zusammen mit Helga Peskoller, Maria A. Wolf und zahlreichen Mitarbeitern-/innen entwickelte Projekt »Konglomerationen«, für das der erste Band in einer gleichnamigen Reihe bereits vorliegt und dem nun dieser Band als zweiter folgt. Den Mitbetreibern-/innen und Mitarbeitern-/innen dieses Projekts bin ich für Kritik und Anregungen zu Dank verpflichtet. Helga Peskoller, Michaela Ralser und Maria A. Wolf danke ich darüber hinaus für die Planung und Redaktion des Sammelbandes »Texturen von Freiheit«23 , in dem in zahlreichen

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Beiträgen jene Wissenschaftsauffassung dokumentiert wird, die das, was man üblicherweise mein »akademisches Leben« nennen würde, bisher ausgemacht hat. In besonderer Weise aber gilt mein Dank der großen Zahl der Studierenden, die – bisweilen fasziniert, bisweilen irritiert – über all die Jahre das Abenteuer eines konglomerativen Denkens zwischen den Demarkationslinien wissenschaftlicher Fachgrenzen mitgemacht und sich der damit verbundenen Provokation eigener und institutioneller Ordnungen des Wissens ausgesetzt haben.

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I Symptome des Wandels

Kaum eines Aspektes unserer Existenz sind wir so sicher wie dessen, dass wir einen Körper haben. Ein Mensch kann im Zorn zu einem anderen sagen, er habe keinen Verstand, keinen Geschmack oder kein Herz – womit nicht das Körperherz gemeint ist, sondern ein seelisches Zentrum von Mitleid und Empathie – aber niemand würde wohl zu einem anderen sagen, er habe keinen Körper. Der Körper, dessen sind wir ganz gewiss, ist das, was wir an uns selbst und am anderen sehen, was wir spüren, was friert und schwitzt, hungert und dürstet, lacht und weint, was sich in den Konvulsionen der Lust und den Krämpfen der Schmerzen windet, was lebt und stirbt. Nicht nur, so nimmt ein unproblematisches Alltagswissen an, haben alle Menschen einen Körper, sondern alle Menschen haben von einigen Äußerlichkeiten abgesehen den gleichen Körper. Seit der Entstehung der Evolutionstheorie gestehen wir diesem Körper eine physiologische Veränderung in einem langen Artenwandel zu, vom Menschenaffen zum Australopithecus und den übrigen Hominiden, zum Homo erectus; habilis; sapiens; sapiens sapiens. Für die Zeit ab dem Homo sapiens nehmen Naturwissenschaftler keine substantiellen Veränderungen des menschlichen Körpers mehr an,1 sondern nur noch marginale Variationen zwischen verschiedenen Individuen bzw. ethnischen Gruppen, einst »Rassen« genannt.2 Nichts ist unwahrscheinlicher, als dass dieser seit Jahrtausenden kaum mehr veränderte Körper in der jüngeren und jüngsten Zeit, in den letzten Jahrtausenden etwa, eine Geschichte haben sollte. Müsste es nicht vielmehr so sein, dass »Geschichte« das ausmacht, was die Menschen – auch mittels ihrer Körper – an Veränderungen ihrer physischen und sozialen Umwelt verursachen, ohne dass diese Körper selbst dabei dabei wesentlich ändern? Die Menschen samt ihren Körpern wären danach die

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selbst unveränderlichen Träger der Veränderungen, die sich in ihren Lebenswelten abspielen: Rodung und Pflanzung, Gruppen- und Staatenbildung, Agrikultur und Städtegründung, Krieg und Frieden, Institutionen, Kunst, Technik. Lässt sich »Körper« so denken, dass er ein von gesellschaftlichen Ordnungen, Mentalitäten und Normalitäten unbeeinflusstes Instrument, einen für alle möglichen Verhaltensweisen geeigneten Apparat darstellt, der sozusagen von dem jeweiligen Ensemble der kulturellen Selbstverständlichkeiten bloß entsprechend gespielt oder betätigt werden muss, oder ist »Körper« insgesamt mit diesen sich wandelnden Bedingungen verbunden und verwachsen und deshalb selbst wandelbar? Die folgenden Hinweise auf Symptome des Wandels von Körpererfahrungen gehen dagegen davon aus, dass Körper eine Geschichte haben. Anhand von Dokumenten aus der Antike und ab dem Spätmittelalter werden verschiedene Bereiche der Körperlichkeit in ihrer Veränderlichkeit dargestellt: Essen und Schlafen anhand einiger von Norbert Elias und Thomas Kleinspehn aufgearbeiteter Belege; Erotik und Sexualität am Beispiel der höfischen Liebe; auf Schwangerschaft, Geburt und Kindheit bezogene Vorstellungen, Verhaltensregeln, Magien und Bräuche; Gewalt. Zu allen diesen Aspekten körperlicher Verhaltensweisen und zu einigen mehr, dem Geruch z.B. und dem Geschmack,3 der körperlichen Hygiene,4 der Mode,5 dem Sport,6 der Gesundheit und Krankheit,7 dem Tod,8 dem Schmerz,9 der Marter und Folter10 und der Hinrichtung11 usw., ließen sich die Belege gewandelter Körperzustände und -äußerungen beliebig vermehren. Angesichts all dieser von der heutigen Verfassung der Körper weit abweichenden Anordnungen der Empfindung und Äußerung erhebt sich die Frage, welcher Körper es ist, der angesichts der gleichen Umstände im einen Fall – dem Fall der Antike oder Mittelalters – mit Lust und Befriedigung und im anderen – dem gegenwärtigen – Fall mit Ekel, Angst und Abscheu reagiert. Die Hinweise auf höchst unterschiedliche Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen der Körper zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen erweisen die Okkupation der Vielfalt konkreter Körpererfahrungen durch »den« einen Körper als unzulässig. Den darin postulierten »wahren« Körper gibt es nicht. Er existiert lediglich als Behauptung seiner Existenz, als Anspruch auf die Verallgemeinerungsfähigkeit einer bestimmten Wahrheit über alle Körper. Einen »im höchsten Grade phantasmatischen Ort« hat Roland Barthes den Körper genannt.12 Der unveränderliche, allen Menschen gleiche Körper ist eines dieser Phantasmen. Dieser Körper wäre nicht lebendig, sondern tot. Der im 13. Jahrhundert

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vom lateinischen corpus übernommene Begriff »Körper« bedeutet den toten Herrenleib, den Leichnam.13 Gegen eine solche Relativierung erhebt sich der Verweis auf den biologischen Körper mit seinen Zellen, Geweben, Organen, seinen komplexen biochemischen Prozessen, seinem Leben und seinem Tod. Es sei evident, dass es diesen lebendigen Körper gibt, und dass er den Serien der wandelbaren Körpererfahrungen vorausgeht als ihr unwandelbares Substrat. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Abtrennung, die Abstraktion, eines rein physiologischen von einem sozialen Körper selbst ein Produkt der Geschichte der Körper ist. Auch der physiologische Körper existiert stets nur in der Weise, wie er von den Alltagsmenschen, den Badern, den Hebammen, den Folterknechten, den Turnlehrern und Fitnesstrainern, den Ärzten-/innenen und Chirurgen-/innen und den Kosmetikern-/innern verstanden und benannt wird. Als ein lebendiges Ganzes bei Hippokrates, als ein Gefäß kommunizierender Säfte von der Antike über das ganze Mittelalter bis weit hinein in die Neuzeit, als eine Maschine funktionierender Organe oder ein chemisches Labor von den ersten Anatomen bis zur modernen Organmedizin14 und wieder als ein energetisches Ganzes in der alternativen Heilkunst wie bereits im alten China und Tibet. Welcher all dieser Körper wäre dann derjenige, den es in jedem Fall gibt? Der Körper als ein Abstraktum existiert nicht und der konkrete Körper ist mit keiner der auf ihn bezogenen Vorstellungen je identisch. Der menschliche Körper wird »immer und in jedem Fall als Abbild der Gesellschaft aufgefasst, eine ›natürliche‹, von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers« kann es nicht geben.15 Dietmar Kampers Prinzip der »anthropologischen Differenz« gilt auch für den Körper. Er ist vom Begriff her unbegreifbar, das Undenkbare hinter allen Denkbarkeiten über ihn, das Ungedachte hinter allen Körpervorstellungen und Körpertheorien. Menschen wie Körper erschließen sich nur über ihre Geschichte und sie erschließen sich in ihr nie zur Gänze. Weil sie »der puren Form nach das Invariante der möglichen Antwort, und wäre es Geschichtlichkeit selber, diktiert«,16 ist die Frage nach »dem« Menschen – und »dem« Körper – tautologisch. Was der Mensch sein soll, ist immer nur, was er war: er wird an den Felsen seiner Vergangenheit festgeschmiedet. Er ist aber nicht nur, was er war und ist, sondern ebenso, was er werden kann; keine Bestimmung reicht hin, das zu antizipieren.17 Der Verweis auf eine nicht vorherzusehende Geschichte zeigt, dass das epistemische Prinzip der Historizität weder auf einen Relativismus beliebig wandelbarer

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Körperkonzepte noch auf ein hinter diesen Körperkonzepten erkennbares Bleibendes abzielen kann. Vielmehr bleibt die Erkenntnis des Körpers an das gebunden, was die Körper in ihrer Geschichte bislang erkennen lassen haben, was aber die fortdauernde Geschichte weder determiniert noch von ihr aus usurpiert werden darf. Die Körper sind, was sie waren, und sie werden sein, was sie werden. Dennoch ist der Körper mehr als eine in der Gegenwart nur noch vage erinnerte Erfahrung vormoderner Menschen: ein niemals einholbarer Grund der Erfahrung des Menschen, in Lust und Schmerz, in Leben und Tod Ermöglichung und Begrenzung menschlicher Existenz überhaupt. Eine Antwort, in Bezug auf die jede Kultur, jede Epoche, im Grunde jeder Mensch – im Rahmen jeweils gesellschaftlich-kultureller Mentalitäten und Praktiken – eine eigene Frage stellt. Der Körper fühlt und fühlt sich an, gewiss; er erfährt Lust und Schmerz, gewiss; er wird geboren, stirbt, gewiss: aber »das« Gefühl hinter den Gefühlen; »die« Lust hinter den Lüsten; »das« Leid hinter den Schmerzen; »der« Tod hinter den tausend Arten zu sterben, ist keiner menschlichen Erkenntnis je zugänglich. »Die Bilder, die wir uns vom Körper machen – die uns gemacht werden – verweisen letztlich immer wieder zurück auf den Ort an dem sie wirken: erlebte, lebendige Körper.«18 Dieser aus einem unerkennbaren Wesen, aus wahrnehmbaren Wirkungen und aus in einer Geschichte des Wissens wandelbaren Interpretationen bestehende Körper kann eine Geschichte haben – und er hat eine Geschichte.

1 E SSEN Norbert Elias hat im ersten seiner beiden Bände »Über den Prozess der Zivilisation«19 Dokumente zum Wandel des Körperverhaltens beim Essen, beim Ausscheiden, beim Schlafen oder Lieben und vor allem in punkto Aggression gesammelt. In sogenannten »Manierenschriften« des 13.-16. Jahrhunderts, die die oberen Schichten ermahnen, bestimmte Verhaltensweisen abzulegen und andere anzunehmen, findet er zahlreiche Belege für heute unübliche, teils undenkbare Gewohnheiten körperlichen Verhaltens. Aus Bonvesin de la Riva, »De le zinquanta cortexie da tavola«, 13. Jahrhundert:20

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Schneuz nicht die Nase mit der gleichen Hand, mit der du das Fleisch hältst.

Aus dem »Galateo« des Giovanni della Casa, 1558:21 Es steht auch übel, dass sich einer, da er am Tisch sitzt, krauet: Ja an dem Ort und zu solcher Zeit sol sich einer so viel es möglich auch deß auswerfens enthalten, und so man es nicht ganz umgehen könte, so sol man es doch auff eine höfliche Weise und unvermercket thun. Ich habe oft gehöret, dass für zeiten ganze völcker so mäßig gelebet, und sich dapfer geübet, dass sie des aussprünzen durchaus nit bedürffet haben. Wie sollten dann wir uns auch nit eine geringe zeit desselben enthalten können. Du solt dein fatzetlein niemand überreichen als ob es new gewaschen were.

Aus einer lateinischen Tischzucht »Stans puer ad mensam«22 Spucke nicht über oder auf den Tisch.

Aus »The Babies Book«, 15. Jahrhundert:23 Was du im Mund gehabt hast, leg nicht aufs Geschirr zurück; Biete nicht jemand von dem Stück an, von dem du abgebissen hast.

Solche Verhaltensanweisungen sind nicht nur als Dokumente der Veränderung der Sitten zu lesen, sondern auch als Hinweise auf einst bestehende Gewohnheiten. Die Autoren beziehen sich nicht auf auffallende Entgleisungen oder besondere Arten, sich daneben zu benehmen. Was sich ändern soll, sind vielmehr alltägliche Verhaltensweisen, die bisher unauffällig, weil allgemein gebräuchlich waren. Die nun anbefohlenen Esssitten reagieren auf bisher übliche Verhaltensweisen: Die Manieren sind gemessen an den späteren in jedem Sinne des Wortes ungezwungen. Man soll nicht schmatzen und schnauben beim Essen. Man soll nicht über die Tafel spucken und sich nicht ins Tischtuch schneuzen, das ja auch zum Abwischen der fettigen Finger dient, oder nicht in die Finger selbst, mit denen man in die gemeinsame Platte fasst. Aus der gleichen Schüssel oder auch von der gleichen Unterlage mit anderen zu essen, ist selbstverständlich. Man soll

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sich nur nicht über die Schüssel hermachen, wie ein Schwein, nicht das Abgebissene wieder in die allgemeine Soße tauchen. 24

Im Laufe der Jahrhunderte entstehen Zug um Zug die Vorschriften und Tabus, die heute zu den Selbstverständlichkeiten einer ordentlichen Tischkultur gehören: »Zuerst wird die Suppe oft getrunken, sei es aus dem gemeinsamen Napf oder aus Kellen, die mehrere benutzen. In den courtoisen Schriften wird vorgeschrieben, sich des Löffels zu bedienen. Auch sie werden zunächst Mehreren gemeinsam gedient haben.«25 Ab dem 16. Jahrhundert scheinen die Menschen immer empfindlicher zu werden. Mit der Zeit wird es üblich, dass jeder seinen eigenen Löffel erhält, mit dem zunächst noch aus der gemeinsamen Schüssel gegessen wird, bis auch das nicht mehr erträglich erscheint. Man isst jetzt nicht mehr die Suppe unmittelbar aus der gemeinsamen Schüssel, sondern schüttet sich etwas davon auf den eigenen Teller, und zwar zunächst mit dem eignen Löffel. Aber es gibt sogar Leute, […] die so delikat sind, dass sie nicht aus einer Schüssel essen wollen, in die andre ihren schon gebrauchten Löffel getaucht haben. Es ist deswegen nötig, seinen Löffel, bevor man ihn in die Schüssel taucht, mit der Serviette abzuwischen. Und manchen Leuten genügt selbst das nicht mehr. Dort darf man den einmal gebrauchten Löffel überhaupt nicht mehr in die gemeinsame Schüssel tauchen, sondern muss sich einen neuen dafür geben lassen. 26

Neben sozialen Ursachen ist der Wandel begleitet und verursacht von der Veränderung einer körperlichen Reaktion: Die Menschen empfinden die beim mittelalterlichen Essen normale und selbstverständliche Vermischung von Körpersekreten, Körpergeräuschen, Speisen und Berührungen zunehmend als ekelig. Angriffspunkte dieser Esserziehung sind zunächst unverfängliche Körpergesten, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr sozial erträglich erscheinen. Aus heutiger Sicht mögen diese Verbote unbefangener Körperäußerungen als selbstverständlich erscheinen. Wir können kaum anders, als uns vorzustellen, dass Ekel der Grund gewesen sein muss, der dazu führte, dass Unsitten wie Spucken, Nasenbohren, oder sich ins Tischtuch zu schnäuzen in Misskredit kamen. So war es aber wohl nicht. Sonst müssten in den auf über zwei Jahrhunderte verteilten Schriften doch irgendwo Ekelgefühle als Begründung der neuen Verhaltensanforderungen auftauchen. Ekel ist die Folge, nicht die Ursache

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der neuen Formen der Verhaltenskontrolle, die ihren Erklärungsgrund eben nicht in der Aktivierung allgemeinmenschlicher Anlagen, sondern in psychisch gewordenen sozialen Umbrüchen haben. Vermeintlich unwandelbare Körpergefühle sind nicht die Voraussetzung der Geschichte der Körper, sondern ihr wandelbares Ergebnis. Als im 11. Jahrhundert die Frau des Dogen, eine griechische Prinzessin, beim Essen ihr von zuhause gewohntes Verhalten fortsetzte, ihre Nahrung »au moyen de petites fourches en or et à deux dents«27 zum Mund zu führen, gab es in Venedig einen Riesenskandal: Diese Neuerung wurde für ein Zeichen einer so übertriebenen Raffinesse gehalten, dass die Dogin seitens der Kleriker streng getadelt wurde, und diese den Zorn Gottes auf sie herabriefen. Kurz nachher befiel sie eine abstoßende Krankheit und der Heilige Bonaventura zögerte nicht, zu erklären, es handle sich dabei um eine Strafe Gottes. 28

Der Bericht nimmt nicht weiter darauf Bezug, was an dem ungewohnten Verhalten der Dogin es war, das die Zeitgenossen, allesamt gewohnt, mit den Händen zu essen, so sehr entrüstete.29 Offensichtlich entsprach das Verwenden der Gabel dem, was wir heute einen »Fauxpas« nennen würden, ein schlicht unmögliches, völlig unangebrachtes Verhalten, dessen spontane Ablehnung keiner näheren Begründung bedarf, weil allen Beteiligten unzweifelhaft klar ist, dass es sich nicht gehört. Vielleicht könnte man die Entrüstung der venezianischen Tischgenossen mit der vermutlichen Reaktion von Heutigen angesichts der Tatsache vergleichen, dass jemand sich einen Schutzhandschuh überzieht, bevor er jemand anderem die Hand zur Begrüßung reicht. So selbstverständlich wie heutigen Menschen klar wäre, dass diese Geste im absoluten Gegensatz zur Bedeutung des Grußes als Zeichen der Anerkennung steht und eine Zurückweisung des Gegenübers, ja dessen Verachtung bedeutet, so eindeutig müsste für die Damaligen die Unvereinbarkeit der Gabel mit dem Essen gewesen sein. Die Verwendung eines solchen »Distanzierungsinstruments«, wie Norbert Elias die Gabel in einem Interview genannt hat, galt den Menschen im 11. Jahrhundert noch als eine unstatthafte Extravaganz, vielleicht auch als ein Affront gegenüber den Tischgenossen, jedenfalls als eine unziemliche individuelle Abweichung von den allgemein gebräuchlichen Verhaltensweisen beim Essen.

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Seit dem frühen 12. Jahrhundert ist eine neue Art von Schriften überliefert, die sich mit der Regulierung des Verhaltens beim Essen beschäftigt. Zunächst in der lateinisch sprechenden Klerikerschaft,30 seit dem 13. Jahrhundert aber auch zunehmend in Laienschriften aus der Provence und dem benachbarten Italien, wie etwa die ursprünglich italienische Schrift »Der wälsche Gast« von Thomas Zirkalaria, das verlorengegangene, ebenfalls ursprünglich italienische »buoch von der hüfscheit«, die fünfzig Curtesien des Bonvicino da Riva oder, als erster deutschsprachiger Beleg, die dem Tannhäuser zugeschriebene »Hofzucht«.31 Die Titel der Schriften weisen auf den kulturellen Ort, dem sie zugehören. Sie sagen: Das ist die Art, wie man sich an den Höfen benimmt. Durch sie bezeichnen zunächst bestimmte Spitzengruppen der weltlichen Oberschicht, nicht etwa die Ritterschaft als Ganzes, sondern die ritterlich-höfischen Kreise um die großen Feudalherrn, das, was sie für ihr Gefühl unterscheidet, die spezifischen Gebote und Verbote, die sich zunächst an den großen Feudalhöfen herausgebildet haben. 32

Hier ist der historische Ursprung dessen, was heute als »Höflichkeit« – wie manche nostalgisch meinen – wieder im Kommen oder – wie andere kulturpessimistisch beklagen – im Verschwinden begriffen, in jedem Fall aber etwas ganz anderes ist als die mittelalterliche »höveschheit«, »hübescheit« oder »hovezucht« (frz. »courtoisie«, engl. »courtsey«, ital. »cortezia«). Besonders deutlichen Ausdruck finden die neuen Tendenzen der Entflechtung und partiellen Distanzierung der kollektiven Körper voneinander, die immer zugleich auch ein Stück Distanzierung der Einzelnen von ihrem eigenen Körper mit sich bringt, in den Vorschriften zur Handhabung des Messers, dessen ungezwungene Verwendung in der friedlichen Situation des höfischen Mahles immer weniger akzeptabel wird. Die Chinesen, bei denen das Messer seit langen Jahrhunderten von der Tafel verschwunden ist, bezeichnen die Europäer als Barbaren: »Sie essen mit Schwertern.«33 An dieser Bewertung des Messers wird der Hintergrund sichtbar, der auch in Europa zu immer stärkeren Reglementierungen seiner Verwendung bei Tisch geführt hat: Das Messer ist eine Waffe, die der Tötung von Angreifern und Feinden, der Tötung und Zerlegung von Tieren dient. Im Rahmen der allgemeinen Entwöhnung von direkter Gewaltsamkeit werden aber Gesten, die Angriffsgesten ähnlich sind, verboten. Nicht nur, dass man das Messer nicht gegen sich selbst richten darf – »bere not

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your knyf to warde your visage«, heißt es in Caxtons »Book of Curtesye«, »denn darin ist viel Schrecken«34 – es darf vor allem nicht mit der Spitze voraus jemandem gereicht und damit gegen ihn gerichtet werden. 1560 heißt es in der stark an Erasmus angelehnten »Civilité« von C. Calviac: Wenn du jemandem ein Messer überreichst, nimm die Spitze des Messers in die Hand und presentiere ihm den Griff: denn es wäre nicht anständig, es anders zu machen. 35

Noch heute unterscheidet die abgerundete Spitze das als Essbesteck verwendete Messer von dem als Waffe verwendeten. Hierzu muss man sich nochmals in Erinnerung rufen, dass nicht unbedingt jeder mittelalterliche Tischgenosse ein eigenes Messer hatte, sondern häufig ein solches Gerät zum Abschneiden von Fleisch herumgereicht wurde. Es aber, wie vorher üblich, zusammen mit dem Bissen auch zum Mund zu führen, wird nun untersagt, auch das Umfassen des Messergriffs mit der ganzen Hand, eine Geste, die unschwer als Angriffshaltung zu erkennen ist. Überhaupt soll der Gebrauch des Messers beim Essen auf das Notwendigste eingeschränkt werden: Halte das Messer nicht immerfort in der Hand, wie das die Leute auf dem Dorfe machen, sondern nimm es nur dann, wenn du es gerade brauchst. 36

Nachdem sie Allgemeingut geworden sind, leiten sich diese Tabuisierungen nicht mehr von der tatsächlichen Gefahr einer missbräuchlichen Verwendung des Messers als Waffe her. Sie verpönen nicht mehr die reale Bedeutung der Geste, sondern ihre symbolische. Der untergeordnete Tischgenosse darf bei Tisch keine dem Kampf ähnliche Geste vollführen, nicht weil ein solcher Angriff real befürchtet wird, sondern weil die Geste wie ein Angriff aussieht. »Das Verbot ist zu einem sozialen Distinktionsmittel geworden.«37 »Daz ist des tanhausers gediht und ist guod hofzuht«, so übertitelt der Minnesänger und Spruchdichter des 13. Jahhunderts, über den außer seinen Lebensdaten (1245-1265) kaum etwas bekannt ist, seine belehrenden Verse über das ordentliche Essen. Nach einleitenden Strophen, die an die Einhaltung von »zuht« und an das Gedenken der Armen gemahnen, verlangen die frühen Handlungsanweisungen in »des tanhausers getiht« schlicht die Einhaltung der vorgeschriebenen Regeln des Verhaltens am

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Hof als kollektivem sozialen Ort, an dem Individuen durch ihre Position innerhalb des Gruppengefüges definiert werden. Die Einschränkungen beziehen sich auf Manipulationen am eigenen Körper (1), auf Verhaltensweisen, die das Verhältnis zu den übrigen Anwesenden betreffen (2) und auf das Verhältnis zur anwesenden Gruppe insgesamt, insbesondere zu den Höhergestellten (3). ad 1: Abstand vom eigenen Körper Der riuspet, swenne er ezzen sol, und in daz tischlach sniuzet sich, diu beide ziment niht gar wol, als ich des kann versehen mich. Und der sich über die schüzzel habet, so er izzet, als ein swin und gar unsuberliche snabet, und smatzet mit dem munde sin … Und die sich uf den tisch legent, so si ezzent, daz enstet niht wol; wie selten die die helme wegent, da man frouwen dienen sol. I solt die kel ouch jucken niht, so ir ezzt, mit blozzer hant; ob es aber also geschiht, so nemet hovelich daz gewant. Und jucket da mit, daz zimt baz, den iu diu hant unsuber wirt; die zuokapher merkent daz, swer sülhe unzuht niht verbirt. Ir sült die zende stüren niht Mit mezzern, als etlicher tuot, und als mit manegem noch geschiht; swer dazz phliget, daz ist niht guot.

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Swer ob dem tische sniuzet sich, ob er ez ribet an die hant, der ist ein gouch, versihe ich mich, dem ist nicht bezzer zuht bekannt. In diu oren grifen niht enzimt Und ougn, als etlicher tuot, swer den unflat von der nasen nimt, so er izzet, diu dri sint niht guot. 38

Man kann annehmen, dass die nun verpönten Praktiken bis dahin üblich und keineswegs prekär waren. Jetzt aber wird die Einschränkung einer Reihe auf den eigenen Körper bezogener Manipulationen gefordert: Kratzen, Schnäuzen, Nasenbohren, Ohrenausräumen, Sich-Aufstützen, Zähnestochern, Rülpsen, Schmatzen, Schlürfen, bei Tisch Einschlafen. Sozialer Anlass dieser Einschränkungen ist die Neudefinition der höfischen Gruppe als System einander über- und untergeordneter Einzelner, die sich nicht mehr selbstherrlich, ohne relativierenden Bezug zueinander verhalten dürfen. Gesten, die auf die ausschließliche Regulierung des eigenen Verhaltens durch unmittelbares Reagieren auf eigene körperliche Reize und Antriebe rekurrieren, werden deshalb heikel, weil sie die Unabhängigkeit des Einzelnen einseitig betonen. Die Verbote richten sich nicht auf ein bereits mit negativen psychischen Empfindungen assoziiertes Verhalten, sondern auf solche Verhaltensweisen, die in antiquierter Weise die monokratische Verfassung der selbstherrlichen Einzelmenschen zum Ausdruck bringen und deshalb durch die Formierung neuer Verhaltenscodes disqualifiziert werden sollen. Es geht um eine frühe Form dessen, was wir heute funktionale Erziehung nennen: ein quasi mechanisches Erzwingen neuer Körpergewohnheiten durch eine neue Logik der Vergemeinschaftung, in die die alten Gewohnheiten nicht mehr »passen«. So etwa, wie erstmalige Besucher von Städten sehr rasch merken, dass viele in ihrer angestammten, z.B. dörflichen Umgebung selbstverständlich übliche Verhaltensweisen dort keinen Sinn haben, lächerlich und deplatziert wirken oder sogar gefährlich sind, z.B. die Annahme, dass die meisten Leute einander kennen, dass Besuche ohne Voranmeldung möglich sind oder Wege jederzeit gefahrlos überquert werden können: »Das ist nicht städtisch, das ist nicht gut«, müsste man in der Diktion der Mittelalterlichen sagen, obwohl ein

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solches Verhalten für einen dörflichen Menschen weder anrüchig noch moralisch verdächtig oder peinlich ist. ad 2: Abstand vom Körper der anderen Kein edler man selbander sol Mit einem leffel sufen niht; Daz zimet hübschen liuten wol, den dicke unedlich geschiht. Mit schüzzel sufen niemen zimt, swie des unfuor doch maneger lobe, der si frevelichen nimt und in sich giuzet, als er tobe. Sümliche bizent ab der sniten Und stozens in die schüzzel wider Nach geburischen siten; Sülh unzuht legent die hübschen nider. Etliche ist also gemout, swenn er daz bein genagen hat, daz erz wider in die schüzzel tuot; daz habet gar für missetat. Die senf und salsen ezzent gern, die sulen des vil flizic sin, daz si den unflat verbern und stozen niht die vinger drin. Der beide reden und ezzen will, diu zwei were mit einander tuon, und in dem slaf will reden vil, der kan vil selten wol geroun. Ob dem tische lat daz brehten sin, so ir ezzet, daz sümliche tuont,

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daran gedenkt, friunde min, daz nie kein site so übele stuont. Es dünket mich groz missetat, an swenne ich die unzuht siehe, der daz essen im munde hat und die wile trinket als ein viehe. Ir sült niht blasen in den tranc, des spulgent sümeliche gern; daz ist ein ungewizzen dank, der unzuht sollte man enbern. E daz ir trinkt, so wischt den munt, daz ir besmalzet niht den tranc; diu hovezuht wol zimt alle stunt und ist ein hovelich gedanc. 39

Die zweite Klasse der anempfohlenen oder untersagten Verhaltensweisen betrifft das Verhältnis der einzelnen Körper untereinander und legt im Wesentlichen fest, dass die einzuverleibende oder einverleibte Speise nicht mit jener des anderen in Berührung kommen soll: nichts Angebissenes zurücklegen; Speisen nicht ins gemeinsame Salzfass tunken; Mund vor dem Trinken abwischen; kein Brot in den gemeinsamen Weinkrug tunken; anderen keine Reste anbieten; auch das Händewaschen gehört wohl hierher. So bald du jetzt zu disch wilt gohn, Dein hend solt vor gewäschen hon … Was du inn den mundt wilt schieben, Solts vor brechen oder klieben. Dann was auß dem eyn mal gaht, Das man vohin beseyffert hat, Das ist alles nicht angenehm Und den leuten gar unbequem. »Disch-Zucht«, 1538 40

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So wie die monolithische Exemplarität der einzelnen Körper beginnt auch deren Vermengung untereinander problematisch zu werden. Insbesondere die Vermischung von Körperflüssigkeiten, bis dahin offenbar nicht als ekelig empfunden, wird nun zum Problem. Die Rücksichtnahme auf die körperliche Integrität der anderen führt noch nicht zu einer neuen »Corporate Identity«, sondern behindert zunächst die Gesten der Vermischung. Die Körper, die sich aufgrund wachsender ökonomisch-sozialer Verflechtung zunehmend aufeinander verwiesen sehen, müssen, um sich nicht zu verlieren, gleichzeitig Erfahrungen der Trennung, der Umgrenzung als eigene machen und so das Aufgehen im Gemeinschaftskörper vermeiden. Diese Tendenz geht aber längst nicht so weit, wie sie in späteren Jahrhunderten gehen wird, wenn zunehmende Ängstlichkeit und Allergie gegenüber Berührungen körperliche Nähe und Verschlungenheit ganz generell prekär machen. Noch stellt sie einen Schutz der Integrität dar, den die Körper selber leisten können, ohne auf die Unterstützung genereller psychischer Strukturveränderungen zurückgreifen zu müssen. Der Abgrenzungsvorgang ist noch mimetisch, die Menschen setzen was sie erfahren noch unmittelbar in körperliche Vermeidungshandlungen um. Deshalb werden auch die neuen Verhaltensregeln nicht als allgemeine Tugenden, sondern als simple Körpergesten beschrieben. Als Orientierungshilfen für jene, die frisch in die veränderte Mechanik höfischer Gruppendynamik hineinkommen und deshalb deren Mechanismen noch nicht kennen. ad 3: Abstand nach oben Des herren wart das er an vach Zu essen, so var du im nach Dann in die schussel man nit sol Ob sie schon wit ist vff ein mol Sztossen zwi hend, nym eben war Bis der herr von der platten war. Reinerus Alemicus de Saxonia: »Phagifacetus«, 13. Jahrhundert 41

Eine dritte Klasse von Regeln betrifft das Verhältnis des Einzelnen zur ganzen Gruppe und zu den Höhergestellten: sich auf den angewiesenen Platz setzen; warten, bis sich der Ranghöchste bedient hat; die Ellenbogen nicht auf den Tisch legen (d.h. nicht zu viel Platz auf diesem beanspruchen); Heiterkeit; Zurückhaltung beim Reden; das Essen nicht kritisieren; Tisch-

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genossen nicht reizen; die fortgetragene Platte nicht nochmals verlangen (d.h. nicht aus dem vom Gastgeber festgelegten Rhythmus des Essens ausbrechen). Die Regeln beziehen sich auf ein Verhältnis der Unter- und Überordnung zwischen den Tischgenossen. Es ist deutlich zu sehen, dass sich die Vorschriften und Verbote an die weniger Mächtigen unter ihnen richten. Sie haben auf Botmäßigkeit gegenüber dem Höhergestellten zu achten, er weist ihnen den Platz zu, er bestimmt die Menge und die Dauer des Essens, er verlangt ihre Freundlichkeit, Zurückhaltung, ihren Verzicht auf Kritik als Ausdruck der Anerkennung seiner größeren Macht, seiner höheren Stellung. Die Texte lassen erkennen, dass diese Macht noch keineswegs automatisch abgesichert ist, sondern über die Umwandlung egalitärer Gesten und Verhaltensweisen in solche der Unterordnung erst durchgesetzt und gelernt werden muss. An Texten zur Esserziehung aus verschiedenen Jahrhunderten lassen sich auch die Beeinflussungsstrategien verdeutlichen, die die Hofzuchtmeister, die Moralisten und die Prediger verwendet haben, um die Veränderung des Verhaltens der Menschen zu erreichen. Die abendländische Kultur hat sich zur Durchsetzung ihrer zivilisatorischen Standards nicht vor allem der Überredung, der Überzeugung oder der Verführung bedient, sondern in hohem Maße der Drohung und der Verleumdung und – bis in die Gegenwart – der Gewalt. Thomas Kleinspehn42 hat im Rahmen seines Versuches, den Zusammenhang von Essen und Psyche aus der Geschichte beider zu verstehen, solche Texte analysiert. Dabei lassen sich unterschiedliche »Pädagogiken« der Esserziehung erkennen: bloß imperative (1), moralisch abstrakte (2) und letztlich ganze Bevölkerungsgruppen abwertende Zuschreibungen (3). ad 1: Imperativisch-konkrete Essanweisungen Hierbei bedienen sich die Autoren knapper Ge- und Verbote ohne weitere Begründungen: Ob man dir geb ein weiches ey schlag das mit wenig streich entzwey Doch sig das brot zerschnitten vor Nit suff e uß glich wie ein mor Oder wie charibdis thut die schiff

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Mit finger nit inß salzfaß griff iß es gemechlich uß der schal dass nit dein schlundt geb widerhal Drink nicht biß du kumst zu dem end Kratz nit am Boden mit der hend. Iß still nit schmatz mit diner spise Dann sollich toen macht schantlich wise Mit essen fur dich eben sehe Das dir zwen schaden nit geschehe Der ein dass du begreifst all Ding Der ander dass dir spiß zerrint. Reinerus Alemanicus de Saxonia: »Phagifacetus«, 13. Jahrhundert 43

Das Verhalten beim Essen wird hier »noch ganz allgemein, gleichsam neutral«44 reglementiert. Der Text beschränkt sich beinahe ausschließlich auf bloße Anweisungen bzw. Verbote, was zu tun, was zu unterlassen sei, ohne dass dem Begründungen oder moralische Wertungen hinzugefügt werden. Lediglich die Vergleiche mit dem »mor« bzw. der »charibdis« sowie die Formulierung »sollich toen macht schantlich wise« deuten erste abstraktere Einordnungen an. Noch aber wird nicht angenommen, dass der Adressat solcher Appelle den Sinn der von ihm geforderten Verhaltensänderung einsieht und psychisch aus eigenem Antrieb mitbetreibt, also verinnerlicht. Es genügt, wenn er ihr, aus welchen Gründen immer, entspricht. Hinter dieser Strategie steht ein anderes Menschenbild und, wiederum hinter diesem, eine andere reale geschichtliche Verfassung jener Gruppen mittelalterlicher Menschen, die in den Wandel der Lebensverhältnisse verwickelt waren, deren Folge unter anderem die neuen Anforderungen an das Verhalten bei Tisch darstellen. Die neuen Verhaltensregeln werden nicht über den Umweg der Psychisierung umgesetzt, also nicht über die Verwandlung der Gesamtpersönlichkeit in einer Art und Weise, die das neue Verhalten als Ausdruck ihrer Psyche »von selbst« erwarten lässt, sondern als äußere Applikationen der neuen Verhaltenserfordernisse an psychisch unveränderte körperlich-seelische Identitäten, die dieses Verhalten entweder knurrend als ein erzwungenes hingenommen oder bereitwillig als ein sich der neuen Mechanik reibungslos einfügendes Handeln erlernt haben mögen, es aber keineswegs als eine neue Art von Menschsein moralisch-psychisch überhöht haben. Der Vorgang der Veränderung des Verhaltens nutzt nicht die

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Teilung des Menschen in ein gegeneinandergesetztes Innen und Außen, spekuliert nicht auf die Disziplinierung der Körper durch eine ihnen vorgesetzte Psyche, sondern resultiert aus neuen Arten der Anordnung körperlich-seelischer Ganzheiten. Die Gebote und Verbote richten sich mit wenigen Ausnahmen nicht auf die Subjektivität ihrer Adressaten, sie gründen sich nicht auf deren inneres Empfinden, sondern werden einem bloß äußerlichen Verhaltenscode unterworfen, der auf keine andere Weise begründet wird als aus der Objektivität der sozialen Gegebenheiten, in denen er Gültigkeit haben soll: der Gesamtsituation der konkreten höfischen Gesellschaft teils untereinander gleichrangiger, teils hierarchisch einander untergeordneter Männer, die durch ihren adeligen Stand von den übrigen Menschen, den Klerikern und den Bauern, abgehoben und durch ihre Rangunterschiede als Individuen im Kollektiv konstituiert werden. Die aufgrund veränderter äußerer Lebensstrukturen erforderliche Verhaltensänderung wird in ihren Anfängen nicht durch eine erwartete Veränderung des Innenlebens der Menschen, durch einen Wandel dessen, was wir Psyche, die Summe der passiven und aktiven individuellen Wahrnehmungs-, Vorstellungs-, Empfindungs- und Gefühlsvorgänge nennen, veranlasst, sondern durch die Variation der sozialen Arrangements bewirkt, die bestimmte vorher selbstverständliche Gewohnheiten nicht mehr erlauben und um den Preis der ansonsten drohenden sozialen Ausschließung neue Verhaltensweisen erzwingen. »Das ist nicht höfisch«, »das ist nicht guot« sind bei Tannhäuser die Floskeln, mit denen das neue Verhalten begründet wird. Das Verhalten der Tischgenossen soll nicht durch Appelle an psychisches Wohlbefinden, sondern durch das Anbefehlen körperlichen Wohlverhaltens verändert werden. Die neuen Verhaltensanweisungen werden nicht mit dem drohenden Zeigefinger des Pädagogen vorgetragen. Es geht vielmehr um die Einführung einer neuen Mechanik innerhalb eines Systems von auf eine neue Weise zusammengeschalteten Körpern. Eine Disziplinierung, die am Körper des Einzelnen ansetzt und ihn in ein der Gesamtsituation entsprechendes Verhältnis zu den anderen Körpern bringt. Der Einzelne bleibt, und das wird diese Art der Regulierung von allen späteren unterscheiden, Träger seines Verhaltens – und das heißt im Mittelalter vor allem seines Körpers – aber er gerät unter einen gewissen Druck, sein Verhalten an den übrigen Anwesenden zu orientieren. Essen wird als eine gemeinschaftliche Tätigkeit aufgefasst, in der nicht mehr heroische, einsame Körper unvermittelt »aufeinanderprallen«,45 sondern Gewährleis-

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tungen gegenseitiger Berücksichtigung verlangt werden, Zurücknahmen von Körperäußerungen, die anderen zu nahe kommen könnten. ad 2: Moralisch-abstrakte Essvorschriften Bereits in des Tannhäusers Hofzucht finden sich einige Formulierungen, die über den Charakter bloß imperativischer Verhaltensanweisungen hinausgehen. Auch in anderen Manierenschriften finden sich Formulierungen, die den Täter mit Tieren vergleichen und ihm ausrichten, dass er sich für sein Verhalten schämen müsse. Der »Phagifacetus« des Reinerus von Sachsen enthält neben bloß imperativen auch deutliche Hinweise auf moralisch-abstrakte Begründungen der Essgebote und -verbote: Hiett dich gar eben von der schandt Wann vsz gat zu dem mund die handt Bisz nit der erst, losz sie am bort desz dellers ligen an eim ort. Doch fast schantlich allermeist Die backen spannen als ein leist Vnd fullen den mundt vber al Eee das vorder fal ze dal Vnd legen vff kernen so vil Das es nit tragen mag die myl. Vff din hoffzucht tut man vil blick. Ouch haltest du ere, sydt, und masz Das man nit sprech du sigst ein frasz. Reinerus Alemenicus de Saxonia, »Phagifacetus«, 13. Jahrhundert 46

Die weitgehend gleich bleibenden Essregeln müssen nun nicht mehr nur befolgt werden, weil das dem Verhalten bei Hofe entspricht, sondern weil ihre Nichtbeachtung dem Esser »schandt« bringt, vor der er sich hüten soll, ihm die Verachtung der Tischgenossen als »frasz« einträgt. Die Hofzucht ist nicht mehr bloß ein Set angelernter Regeln und Rücksichtnahmen, auf die mit der Phrase, was »höfisch« ist oder nicht, bzw. was bei Hofe »guot« oder »nicht guot« sei, verwiesen wird, sondern eine geschlossene, an der Einzelperson haftende Eigenschaft, an der deren Wert gemessen werden kann. Das erforderte Verhalten selbst wird nicht nur in operativen Termini, sondern mit allgemeinen, abstrakten Begriffen wie »ere«, »sydtt« und

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»masz« beschrieben. Sich angemessen zu benehmen, heißt nicht mehr nur, die erforderten Verhaltensregeln einzuhalten, sondern einer abstrakten, situations- und personunabhängigen Norm zu entsprechen, deren Erfüllung nicht mehr nur von der Anpassung des Einzelnen abhängt, sondern vom Urteil der anderen, die »vil blick« auf sein Verhalten werfen. So gesehen ist es gewiss nicht zufällig, dass nun auch das Herrschaftsgefälle bei Tisch viel deutlichere Beachtung erfordert. Das Recht des Herrn auf den ersten Zugriff, das die anderen verpflichtet, zu warten, »bis der herr von der platten war«, wird verschärft: Die Hände dessen, der »nit der erst« ist, werden zur Gänze ruhiggestellt: »losz sie am bort des dellers ligen an einem ort«. Die Übernahme der Verhaltenskontrolle durch allgemeine, aber gleichwohl von jedem Einzelnen als sein Verhalten zu gewährleistende, durch nicht mehr imperativische, sondern abstrakte, den Einzelnen bloß als ihr Exemplar ansprechende Verhaltensnormen verurteilt den Körper, den Träger einer ursprünglichen Autonomie, zum erzwungenen Wechsel zwischen Warten und zeitgerechtem Funktionieren. In späteren Texten, etwa des 15. Jahrhunderts, treten derartige übersituationelle Verallgemeinerungen vermehrt auf: Du solt ober tisch forchtig sein Unde des ersten gesegen das essen dein Gnug lore salt du geben Und messig sein, das ist dir eben. Wenig red, das zimt dir wol, Ain fröhleihs antlitz man haben sol. Den armen gib deiner speis ain tail, Sicher ist das deiner Seele hail. Obrig wollust sei fern von dir. Frasheit soltu vor lassen Und haimlich claffen, friss dich massen. Und e du von dem tsiche gast Dank erst umb das du genommen hast. Der ler du gefolgig sey, so wonth dir guth und ere pey. »Tischzucht« aus der Mahninger Handschrift, 15. Jahrhundert 47

Der Esser soll jetzt generell, in Bezug auf sein gesamtes Verhalten, ängstlich sein, Mäßigkeit wird zur ganzheitlich zugemuteten Charaktereigen-

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schaft, ein »der ler gevolgig« Verhalten wird allen seinen Handlungen unterstellt. »Wollust« und »Frassheit« treten als an der Person haftende moralische Mängel an die Stelle der situativen Ermahnung, sich nicht zu viel aus der Schüssel zu nehmen. Die äußerlich sichtbare Zurschaustellung dieser inneren Eigenschaften wird vorgeschrieben: »Ain fröhleichs antlitz man haben sol«. Von all dem und von der Freigiebigkeit gegenüber den Armen hängt nicht mehr nur die Anerkennung als verträglicher Tischgenosse, sondern der »Seele hail«, »guth« und »ere«, also die Anerkennung als Mensch und als Christ insgesamt ab. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und dessen unmittelbaren Folgen für die jeweils aktuelle Situation hat sich ausgeweitet in den Zusammenhang zwischen dem Verhalten und dem Charakter der handelnden Person. Das Kalkül der Beurteilung hat sich geändert. Was einer tut oder unterlässt, wird nicht mehr von der Situation bestimmt, in der er sich befindet, und hat auch nicht mehr nur für sie Konsequenzen. Es wird als Ausdruck der Wertigkeit seiner Gesamtperson gedeutet und an einem abstrakten Menschenideal gemessen. ad 3: Selbstmotivierung durch Erniedrigung anderer »Es sey fraw oder man, wer nit wöll sitzen schamrott«, heißt es in einer Tischzucht aus dem Liederbuch der Clara Hätzlerin um 1470,48 jede und jeder also ist an die Ordnung gebunden. Die Gebote, die zu beachten sind, haben sich wenig geändert, es wandeln sich vor allem die Motive, die den Esser zum rechten Verhalten bewegen sollen: Nun merckend hie dise disch-zucht Wer di nit kan,der ist verrucht. Jucken und kratzen niemand sol, Ob eynem disch, es stet nit wol. … Welcher sich überd schüssel habt, Und darzu rüdisch inn sich schnabt Mit dem Mund, als eyn eberschwein, Der solt billich bein seuen sein Welcher auch schnauffet, als eyn dachs, und schmetzet, als ein wasserlachs. Der selbige sein zucht gar vergißt, Wo der mit andern leuten ißt.

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Etliche beissen von den schnitten, Nach der groben bauern sitten, und stossens wider innd schüssel Beschmiern ir Finger und ir trüssel. »Disch-Zucht«, 1538 49

Nicht mehr bloß Beschämung und Spott gilt es zu vermeiden, sondern den Verlust der Menschlichkeit schlechthin, um nicht als »ain schwein« oder »by anderm vich«50 zu landen. Der Verstoß gegen die Essnormen enthält nicht mehr bloß das Risiko, vom Tisch gewiesen zu werden, sondern kommt der Verbannung aus der Spezies der Menschen insgesamt gleich. Wer nicht ordentlich isst, verhält sich wie »ain schwein«, »ayn eberschwein«, »eyn dachs«, »ein wasser-lachs« oder »rüdisch«. Er gehört von der Tafel der gesitteten Esser entfernt, er soll lieber gleich »bein seuen sein«. Wer die Tischzucht nicht beherrscht, ist in seiner gesamten personalen Integrität gestört er »ist verrucht«: ein Unmensch, ein Ausgestoßener. Noch, so scheint es, haben sich die abstrahierten und zu einer geschlosseneren Norm verbundenen Verhaltensregeln nicht gänzlich zur Dignität eines vereinheitlichten, abstrakten Subjekts verbunden, noch ist das Allgemeine mit dem Besonderen, die einzelne Anweisung mit ihrer moralischen Verallgemeinerung durchmischt, aber die Grundstruktur der Konzeption des leib-seelischen Menschen hat sich geändert. Die Menschlichkeit ist auf die Seite des angepassten Verhaltens gerückt, die Psyche ist im Vormarsch und lässt die ungebärdigen Körper im Schweinestall der Unmenschlichkeit zurück. Die Psychisierung des Menschen als ein Vorrang des Seins vor dem Tun, des Sinnes vor den Sinnen hat begonnen. Von den Schnitten abzubeißen und sie dann wieder in die gemeinsame Schüssel einzutauchen, heißt es bereits im 13. Jahrhundert bei Tannhäuser und auch in der eben wiedergegebenen, aus dem Jahr 1538 stammenden »Disch-Zucht«, sei ein Verhalten »nach der groben Bauern Sitten«. 1549 erschien Friedrich Dedekinds »Grobianus. De morum simplicitate«, bereits 1551 lag eine deutsche Übersetzung des äußerst beliebten Werkes mit den Titel »Grobianus. Von groben Sitten und unhöfflichen geberden« vor. In diesem Hauptwerk der nach ihm benannten »grobianischen« Schriften werden einfache Menschen, Bauern vor allem, als grobschlächtige Tölpel vorgeführt, die sich nicht zu benehmen wissen. Grobianus wäscht sich nicht, niest, spuckt, hustet, furzt und hat Flöhe. Er benimmt sich scham-

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los gegenüber Mädchen und Frauen und zettelt Raufereien an. Bei Tisch nimmt er sich die größten Portionen, ist laut, verhält sich unflätig und auf jede Weise unappetitlich. Mit der grobianischen Literatur ist eine neue Zuspitzung der Esserziehung erreicht. Nun ist es nicht mehr bloß der einzelne Esser, der abgewertet wird, sondern dieser als Zugehöriger zu einer insgesamt abgewerteten Gruppe von Menschen, den Bauern oder, wie in Sebastian Brandts »Narrenschiff« (Ende 15. Jahrhundert), den Narren. Unangemessenes Verhalten bei Tisch wird mit einer generellen Abwertung dieser Menschengruppen verbunden, oder besser: Deren Abwertung wird als didaktische Methode zur Motivierung der Gutmenschen benutzt. Die in grotesker Weise übertriebenen Abartigkeiten im Benehmen der Grobiane werden mit deren generell schlechten Eigenschaften begründet. Enthielten die mittelalterlichen höfischen Tischzuchten noch eindeutige Aussagen, konnte man dort die Regel entnehmen, dies zu tun und jenes nicht, so erscheinen dieselben Aussagen hier verklausuliert, satirisch überspitzt und bekommen erst ihren eigentlichen Sinn – ihren »pädagogischen« Sinn zumal – wenn man sie in einem bestimmten Wertesystem liest.51 Andere hinwieder sind so faul, wenn sie den Löffel führen zum Maul, dann hängen sie den offenen Rüssel so über Platte, Mus und Schüssel, dass fällt ihnen etwas dann darnieder, dasselbe kommt in die Schüssel wieder. 52

Die Qualifizierung ganzer Bevölkerungsgruppen als »faul« erfolgt nicht aus mit ihnen geteilter realer Erfahrung, sondern wird über diese Didaktik der Vernaderung erst geschaffen. Die Regulierung der Essgewohnheiten wird als Medium charakterlicher Erziehung verwertet, und diese Erziehung wird nicht mehr über ein positives Programm der Verhaltensanpassung betrieben, sondern über die Verächtlichmachung unangepasster anderer. Thomas Kleinspehn führt diese neue Facette der Esserziehung auf »ein ambivalentes Verhältnis zwischen den angestrebten und in den Lehren verbreiteten Tugenden und dem tatsächlichen Leben und den Wünschen« zurück. »Die starke Übertreibung weist auf die Stärke des Wunsches.«53 Die Diffamierung der einen als unzivilisierte Ungeheuer soll durch die Didaktik der angstlustigen Mixtur von Unterhaltung und Abschreckung54 die effektivere Anpassung der anderen bewirken. Die Strategien der Psychisierung des Essens, die bisher als noch weitgehend extern vorgeschriebene körperliche Distan-

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zierungsgebote (imperativische Essvorschriften) in den früheren und als schon auf die moralische Bewertung der Gesamtperson zielende intern verankerte Beurteilungen (moralische Essvorschriften) in den späteren höfischen Schriften deutlich geworden sind, werden so durch eine weitere, dynamische Strategie ergänzt: die Ermöglichung des eigenen, den bisherigen Gewohnheiten und Wünschen widersprechenden Verhaltens durch die moralische Ächtung seines phantasierten Gegenteils, durch die Projektion der eigenen unerzogenen Wünsche auf böse andere, die Externalisierung eigener unbrauchbar gewordener Handlungsweisen auf unzivilsierte Wilde. Dieser Mechanismus der Selbsterziehung durch Abspaltung der eigenen unerzogenen Anteile als phantasierte Untugenden anderer funktioniert in der weiteren Entwicklung nicht nur von oben nach unten, von den Adeligen und frühen Bürgerlichen zu den »primitiven« Bauern hin, sondern auch von unten nach oben, von den Bürgerlichen und den um ihre Freiheitsrechte kämpfenden Bauern zu ihren adeligen Herren. Im 16. Jahrhundert findet sich in vielen Schriften der frühen Bürgerlichen eine harsche Kritik der Unmäßigkeit der Adeligen: Sy treiben kein andere handtierung dann jagen, beyssen, sauffen, prassen, spielen, leben von rent zinß und gülten im überfluß kostlich.55

Auch diese Schriften deuten auf ein hohes Maß an Ambivalenz. Auf die Unerreichbarkeit der Vorrechte und des Reichtums der Adeligen einerseits, auf die »Angst vor dem Gefressenwerden durch die Mächtigen«56 andererseits. Letztlich haben diese imaginären Repräsentationen unterdrückter Wünsche und projektiver Ängste das reale Verhalten auf beiden Seiten nachhaltig beeinflusst: Die aufstrebenden Schichten versuchen, sich durch Maßhalten von der für sie ohnedies unerreichbaren und deshalb moralisch angeprangerten Unmäßigkeit des Adels zu distanzieren, diese wiederum trachten, den sozialen Sprengstoff durch Appelle zur eigenen Mäßigung zu neutralisieren. Über die Selbststilisierung als moralische Vorbilder versuchen sie, reale Machteinbußen auf der Ebene ideologischmoralischer Bedeutung zu kompensieren. Im sogenannten »Regentenbuch« von Georg Lauterbeck57 wird den Führungspersönlichkeiten kontrolliertes, mäßiges Verhalten nahegelegt.

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Aber ein Regent sol sich selbst also in die Sachen schicken und seine sitten so anstellen auch also leben als wole er alle sein Händel öffentlich ausrichten und für niemand nichts verhehlen. Und so ihm nicht möglich alle Laster von sich zu thun so sol er sich derjenigen entschlagen welche sich nicht wöllen verbergen lassen und am tage ligen. 58

Die Aufrechterhaltung der Herrschaft wird an die Vorbildlichkeit der Herrschenden gebunden, ein Zusammenhang, den Thomas Kleinspehn59 mit der Formulierung »Erziehung durch Vorbild« wohl nicht in seiner wahren Eigenart erfasst. Es geht eher um die Selbsterziehung der Herrscher. Die Sorge vor dem Verlust der Kontrolle über die Untertanen wird durch die Anempfehlung besonderer Selbstkontrolle psychisch beschwichtigt. Um die Angst vor deren schwindender Loyalität bei sich zu beruhigen, halten die Mächtigen sich selbst in einer ständigen argwöhnischen Beobachtungssituation angesichts ihrer Untergebenen, indem sie ihr gesamtes Handeln als öffentliches stilisieren – »als wolt er alle sein Händel öffentlich und am Tage ausrichten« – und sich das Vorrecht öffentlich prekären Verhaltens nur dann nehmen, wenn ganz sicher niemand zuschaut. In den Wandlungen der Esssitten und, noch mehr, in den Verfahren, die die Proponenten der Esserziehung zur Motivierung der Esser anwenden, wird ein fatales Leitmotiv westlicher Zivilisation deutlich: Zug um Zug werden die neuen Verhaltensstandards von der unmittelbaren körperlichen Erfahrung der neuen Gruppen- und Machtverhältnisse abgelöst und den Menschen als moralische Prinzipien vorgegeben. An die Stelle der situativ erfahrbaren, konkreten sozialen Realität tritt die abstrakte Charakterisierung der ordentlichen Person bzw. die Verächtlichmachung ihres Gegenteils, ganzer Bevölkerungsgruppen, deren zivilisatorische Abweichung als pädagogisch nutzbares Abschreckungsmittel für hartnäckige Verweigerer der neuen Sitten erfunden wird. Zur rascheren und effektiveren Beseitigung einst guter, nun aber schlechter Sitten wird die Unterscheidung guter und schlechter Menschen nach dem Kriterium des Wohlverhaltens in die Pädagogik der Zivilisierung eingeführt. Als nach und nach immer grundlegenderes Prinzip der Unterscheidung wird sich diese Pädagogik der Vernaderung weit über

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die ursprünglichen Anlässe hinaus zu einem generellen Verfahren der Menschenbeurteilung entwickeln, das je nach politischen Umständen zur Ausgrenzung und Verfolgung beliebiger Menschen und Gruppen zur Verfügung steht. Die Psychisierung des Essens vom körperbetonten Zusich-Nehmen der Speisen in der Gruppe Gleichberechtigter zum immer stärker kontrollierten Mahl unter ungleichberechtigten Essern ist zugleich eine Geschichte der Produktion von Außenseitern und Unholden, die in den neuen Machttheatern die Rollen der Menschenunwürdigen zu geben haben, damit die Würde der Herrschaften umso erhabener erglänzen und die Mühe der ihnen nacheifernden Mittelschichten umso lohnender erscheinen kann.

2 A USSCHEIDUNGEN Neue Verhaltensvorschriften beziehen sich im ausgehenden Mittelalter nicht nur auf das Essen, sondern auch auf dessen Gegenteil. Auch hier spielen die sich wandelnden Ekelgefühle eine große Rolle. Aus »ein spruch der ze tische kêrt«, 15. Jahrhundert:60 Grîf ouch niht mit blôzer hant Dir selben under dîn gewant.

Aus der Wernigerodischen Hofordnung von 1570:61 Dass nicht männiglich also unverschämt und ohn alle Scheu, den Bauern gleich, die nicht zu Hofe oder bei einigen ehrbaren, züchtigen Leuten gewesen, vor das Frauenzimmer, Hofstuben und anderer Gemach, Thüren oder Fenster seine Nothdurft ausrichte, sondern ein jeder sich jederzeit und -ort vernünftiger, züchtiger und ehrerbietiger Wort und Geberde erzeige und verhalte.

Aus der Braunschweigischen Hofordnung von 1589:62 Dergleichen dass niemand, der sei auch wer er wolle, unter, nach oder vor den Mahlzeiten, spät oder früh, die Wendelsteine, Treppen, Gänge und Gemächer mit dem Urin oder anderem Unflath verunreigen, sondern wegen solcher Nothdurft an gebührliche Orte gehen thue.

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Aus dem »Galateo« des Giovanni della Casa, Erzbischof v. Benevent, 1558:63 Über das stehet es einem sittsamen, erbahrn mensch nicht an (Similimente non si conveniene a Gentilhuomo costumate apparecchiarsi alle necessità naturali…), dass er sich natürlicher Notdurft in anderer Leute gegenwertigkeit rüste und vorbereite oder nach dem er solches verrichtet sich in ihrer gegenwertigkeit wiederum nestele und bekleide. So wird auch ein solcher nach seiner aus heimlichen orten wiederkunft für ehrliche gesellschaft die hände nicht waschen, nach dem die ursach darum er sich wäschet der leut gedancken eine unfläterey für die augen darstellt. Ist auch eben umb derselbigen ursach willen kein feine gewohnheit, wenn einem auf der gassen etwas abscheuliches, wie es sich wol bisweilen zuträgt, fürkommet, statim ad comitem se convertat eique illam monstrat. 64 Multo minus decebit alteri re foetidam, ut olfaciat porrigere, quod nonnumquam facere aliqui solent atque adeo urgere, quum etiam naribus aliorum rem illam grave olentem admovent et inquiunt: Odorare amabo quantopere hoec foetat; quum potius dicendum esset: Quia foetet, noli oderari. 65

Selbst das in der letzten Passage kritisierte Verhalten wird, wie Elias betont nicht als »krank«, »pathologisch« oder »pervers« qualifiziert, »sondern eher als ein Verstoß gegen Takt, Höflichkeit oder gute Formen«. Der Druck, solche Verhaltensweisen abzulegen, der auf den Einzelnen ausgeübt wird, ist »minimal, verglichen mit dem gegenwärtigen. Das Gefühl des Abscheus, der Peinlichkeit oder des Ekels, das sie [die ma. Gesellschaft, B.R.] solchem Verhalten entgegenbringt, ist ihrem Standard entsprechend unvergleichlich viel schwächer als bei uns.«66 Der andere Standard der Gesellschaft in der Zeit des Erasmus wird deutlich, wenn man liest, wie selbstverständlich es ist, dass man jemandem begegnet, »qui urinam reddit aut alvum exonerat«67. Völlig unbefangen berichtet noch im 16. Jahrhundert ein Schüler im Rahmen der Schilderung seiner Morgentoilette davon, dass er »urinam in area« gelassen habe: »Erzähle mir«, sagt in einem Schulbuch von 1568, in Mathurin Cordiers Schülergesprächen, der Lehrer zu einem der Schüler, »in genauer Reihenfolge, was du vom Aufstehen bis zum Frühstück gemacht hast. Hört gut zu, Jungen, damit ihr lernt diesen euren Mitschüler nachzuahmen: »Experrectus surrexi e lecto«, sagt der Schüler, »indui tunicam cum thorace […] deinde egressus cubiculo, descendi infra, urinam in area reddidi ad parietem, accepi frigidam aquam e situla, manus et faciem lavi usw. Ich bin aufgewacht, bin aus dem Bett gestiegen, habe Hemd,

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Strümpfe und Schuhe angezogen, meinen Gürtel umgeschnallt, an der Hofmauer Urin gelassen, habe aus dem Eimer frisches Wasser genommen, Hände und Gesicht gewaschen und am Tuch abgetrocknet« usw. 68

Körperliche Verrichtungen, einschließlich des Urinierens, sind zu Erasmus Zeiten »so selbstverständlich, wie etwa Kämmen oder Schuhe-Anziehen«69 . In späteren Zeiten hätte man die Verrichtung an der Hofmauer zumindest in einem Erziehungs- und Unterrichtsbuch wohl kaum erwähnt. Für Cordier und seinen Schüler ist sie noch völlig selbstverständlich: Lange Zeit hindurch dient die Straße, nahezu jeder Ort, an dem man sich gerade befindet, den gleichen und verwandten Zwecken, wie oben die Mauer des Hofes. Es ist nicht einmal etwas Ungewöhnliches, sich der Treppen, der Zimmerecken, der Tapisserien an den Mauern eines Schlosses zuzuwenden, wenn einen ein Bedürfnis ankommt.70

Die Verbote und Vorschriften verweisen auch hier auf Gewohnheiten, die allgemein üblich waren und die Menschen nicht verwunderten. In den Ermahnungen der Hofschreiber zeigt sich eine tiefgreifende Veränderung der Beziehung der Menschen zu ihren eigenen Körpern und zu denen der anderen, die sich in späteren Jahrhunderten zu einem generellen Ekel vor Exkrementen auswächst. Damit stellt sich die Frage, ob lediglich derselbe Körper anders reagiert – was am »Körper« wäre es aber, das da anders reagiert? – oder ob der »Körper« immer schon auch durch jenes wandelbare Verhalten bestimmt ist, das in ihm und ihm gegenüber sich äußert, und das kein ihm Äußerliches, sondern Teil von ihm ist.

3 N ACK THEIT UND S CHL AFEN Aus einer lateinischen Tischzucht »Stans puer ad mensam«, ca 1470:71 Teilst du das Bett mit einem Mann höheren Standes, frage ihn, welche Seite er vorzieht.

Die kurze Anweisung nimmt Bezug auf eine Situation, die nicht nur in den Privathäusern, sondern auch in Gasthäusern, zwischen Fremden also, immer wieder vorkam: die Übernachtung mehrerer Personen in einem

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Bett. »Es war sehr gewöhnlich, das viele Menschen in einem Raum übernachteten, in der Oberschicht der Herr mit seinem Diener, die Frau mit ihrer Magd oder ihren Mägden, in anderen Schichten häufig selbst Männer und Frauen in dem gleichen Raum, oft auch Gäste, die über Nacht bleiben.«72 Das hinderte niemanden, nackt zu schlafen. »Wer nicht in den Kleidern schlief, zog sich völlig aus. Im Allgemeinen schlief man in der Laiengesellschaft nackt, in den Mönchsorden je nach Regel völlig angezogen oder völlig ausgezogen.«73 Das galt für Männer wie für Frauen. Das Taghemd beim Schlafengehen anzubehalten, schürte eher Misstrauen: »Es erweckte den Verdacht, dass der oder die betreffende mit einem körperlichen Schaden behaftet sei – aus welchem anderen Grund sollte man seinen Körper verstecken? – und es hatte auch meistens einen Grund dieser Art. Wir hören z.B., wie im »Roman de la Violette« die Dienerin ihre Herrin erstaunt fragt, warum sie denn im Hemd zu Bett gehe, und diese ihr erklärt, sie tue es wegen eines Körpermals.74 Nacktheit in alltäglichen, nicht erotisch bedeutsamen Alltagssituationen ist im Mittelalter und in der frühen Neuzeit selbstverständlich und unheikel, wie etwa eine Szene aus dem »Stundenbuch des Duc de Berry« zeigt, in der sich zwei Frauen und ein Mann, aus der Winterkälte kommend, ihre frierenden Geschlechtsorgane am offenen Feuer wärmen. Ähnlich unbekümmert verhielten sich die Menschen in den öffentlichen Bädern, oder, wie ein in späterer Zeit schon entrüsteter Beobachter feststellt, auf dem Weg dorthin. Es scheint, wenigstens in den Städten, häufig gewesen zu sein, dass man sich zu Hause auszog, bevor man ins Badhaus ging: Wieviel mal laufft der Vater bloß von Hauß mit einem einzigen Niederwad [Leintuch, B.R.] über die Gassen, samt seinem entblößten Weib und bloßen Kindern dem Bade zu […] wievielmal sehe ich Mägdelein von 10, 12, 14, 16 und 18 Jahren ganz entblößt und allein mit einem kurtzen Leinen, oft schleußig [zerschlissen, B.R.], und zerissenen Bademantel oder, wie mans hier zu Land nennt, mit einem Badehr allein vorn bedeckt, und hinden umb den Rücken! Dieser und [an den] Füssen offen und die Hand mit Gebühr in den Hindern haltend, von ihrem Hauß über die langen Gassen bei mittags bis zum Bad lauffen. Wie viel lauft neben ihnen die gantz entblößten zehen, zwölfe, viertzehn und sechzehnjährigen Knaben her.75

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Wesentlich lasterhafter noch ging es in den öffentlichen Badestuben zu,76 wie es der Meister des Anton von Burgund um 1470 ins Bild gesetzt hat: Leicht bekleidet oder ganz nackt vergnügen sich Badegäste beiderlei Geschlechts essend und trinkend, und nicht nur das. Beherzt fasst da einer der Herrn seiner Dame zwischen die Beine, während ein anderes Paar bereits dabei ist, sich in das bereitstehende Bett zu verfügen. Das alles wird mit entrüsteter Geste von einem hohen Geistlichen dem durch das Fenster blickenden Fürsten zur Kenntnis gebracht. In späteren Jahrhunderten erregt Nacktheit Aufmerksamkeit und Missfallen, wird den Menschen generell peinlich, gilt als unschicklich und unhöflich oder als erotisches Signal. Mit der Zeit geraten immer mehr solcher selbstverständlichen Gewohnheiten in den Rang dessen, was »man nit zu thun« pflegt oder wessen man sich »schämet«: Della Casa nennt eine Reihe von Unsitten, die man vermeiden soll. Man soll in Gesellschaft nicht einschlafen, keine Briefe lesen, sich nicht die Fingernägel schneiden oder säubern. Und man soll tunlichst seine Blöße bedecken: Überdies soll einer nicht so sitzen, dass er einem andern den rücken oder hindern zukehrt, noch einen schenkel so hoch erheben, dass etwa die glieder des menschlichen leibes, so billig allezeit mit den kleidern bedeckt bleiben sollen, möchten entblößt und gesehen werden. Denn diss und der gleichen pflegt man nit zu thun, ohne allein unter den personen, dafür man sich nit schämet (se non tra quelle persone, che l’huom non riverisce). War ist es, so etwa ein großer Herr solches thete für jemandt aus seinem Hausgesinde oder auch in gegenwertigkeit seines freundes, der geringeren standes were; denn er würde ihm damit nit einer hoffart, sondern vielmehr einer besonderen lieb und freundtligkeit anzeigung von sich geben.77

Der Freundlichkeit gegenüber den hohen Herrn zuliebe wurde bis in die Neuzeit hinein der Körper der Frauen zur Begrüßung und zum Gefallen geboten. Bei Besuchen hoher Herrschaften, wie etwa 1461 beim Einzug Ludwig XI. in Paris, Karl des Kühnen 1468 in Lille oder Karl V. 1520 in Antwerpen war es üblich, zum Empfang schöne, nackte Frauen am Stadttor zu postieren. Über den Einzug Ludwig XI. in Paris wird berichtet: Es standen bei der Fontäne du Ponceau wilde Männer und Weiber, die mit einander kämpften; dabei drei nackte schöne Mädchen, welche Sirenen vorstellend, so herrliche Brüste und Körperformen besaßen, dass sich niemand satt sehen konnte.78

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Vor Ludwig XI. deklamierten drei nackte Jungfrauen Verse zum Ruhme des Königs, vor Karl dem Kühnen wurde das »Urteil des Paris« mit drei nackten Schönheiten aufgeführt. Bei manchen Mysterienspielen sollen auch Männer nackt aufgetreten sein. Eine beliebte Praxis bestand darin, die eigene Gattin oder Geliebte gänzlich nackt oder mit tiefem Dekolleté porträtieren zu lassen. So etwa die berühmte Venus del Tribuna von Tizian, die die Herzogin von Urbino darstellt, oder die beiden Gemälde Karl II. von England, ebenso von Tizian, auf denen er neben seiner nackten Maitresse musiziert. Desgleichen die nackten Porträts der Diana von Poitiers, Maitresse Heinrich II., oder Gabrielle d’Estree, Maitresse Heinrich IV. Geradezu unzählig ist die Zahl der Frauenporträts, die sozusagen nur wegen des schönen Busens der Dargestellten gemalt worden sind. Ein schöner Busen genoss […] die höchste Bewunderung der Zeit. Und dass sie diese bevorzugte Schönheit in ganz besonderem Maße besaßen, veranlasste unzählige Frauen der Gesellschaft, ihr Mieder freigebig auseinanderzufalten und alle Hüllen beiseite zu schieben, damit sich die Lust eines jeden ungestört an diesen Schätzen sättige.79

Eine besondere Raffinesse bestand darin, die eigene Mätresse als Madonna darstellen zu lassen. Im Gewande der Jungfrau Maria konnte man das heiligste und hehrste Symbol repräsentieren und dabei doch dem Weltlichsten dienen, seine irdische Schönheit in der pikantesten Weise den Blicken preisgeben. Das berühmteste geschichtliche Beispiel dafür ist das bekannte Gemälde der Agnes Sorel, der Mätresse Karls VII. von Frankreich, als Jungfrau Maria von Jean Fouquet gemalt. Den Jesusknaben auf dem Schoße, enthüllt »la Belle des Belles«, wie sie von der Galanterie der Zeit genannt wurde, vor den Blicken die ganze Pracht ihrer köstlichen Brüste.80 In der Renaissance entwickelte sich eine männerdominierte Variante des Vorzeigens der Nacktheit. In ihrer Eitelkeit, mit den physischen Vorzügen ihrer Gattinnen zu prahlen, verstiegen sich verheiratete Männer dazu, mit oder ohne Wissen ihrer Frauen den Wahrheitsbeweis anzutreten. Von einer besonders befremdlichen »Eigenart des privaten Lebens«81 berichtet Eduard Fuchs in seiner illustrierten Sittengeschichte: Man gibt den Freunden Gelegenheit, die Gattin beim Bade oder bei der intimen Toilette zu belauschen, oder man führt sie am liebsten ins Schlafgemach, wo die

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schlafende Gattin, nicht ahnend, dass sie fremden Blicken zur Schau gestellt wird, hüllenlos ihre Schönheit preisgibt; man schlägt auch das allenfalls verhüllende Linnen zurück, so dass alle ihre Reize den Neugierigen sichtbar werden. So prunkt und protzt man unter sich mit der körperlichen Schönheit der Frau als mit einem Schatz und Reichtum, um den man beneidet sein will, und dem Zweifel soll kein Raum mehr bleiben. Man prunkt aber damit auch als der unumschränkte Besitzer. 82

Gelegentlich geschieht diese Zurschaustellung sogar ganz offen: »Die Frau muss es sich hin und wieder sogar gefallen lassen, dass der Gatte seine Freunde an ihr Lager führt, auch wenn sie nicht schläft, und dass er gegen ihren Willen die Hüllen hinweg zieht, die ihren Körper den Blicken teilweise entziehen.«83 Von ähnlichen Gebräuchen berichtet der französische Schriftsteller Branôtme in seinem Buch über Klatsch und Tratsch unter galanten Damen:84 Ich will noch von einem Manne berichten, den eines Morgens ein Freund besuchte, als er sich gerade ankleidete. Bei dieser Gelegenheit zeigte der Gatte ihm seine Frau ganz nackend auf dem Bett im Schlummer liegend, ohne jegliche Bedeckung, denn es war sehr heiß. Er zog den Vorhang halb zurück, so dass die aufgehende Sonne ihre Schönheit bestrahlte. Der Freund weidete seine Blicke daran, und dann gingen beide Männer zum König.

Solche Beispiele heute kaum – oder doch schon wieder? – vorstellbarer Gebräuche im Verhältnis der Liebenden und der Eheleute betreffen gewiss nicht den Normalfall mittelalterlicher oder späterer Sitten. Sie sind aber in einer Häufigkeit belegt, die darauf schließen lässt, dass sie von den Menschen, die sie eben pflegten, nicht als etwas Absonderliches verstanden wurden, sondern als etwas, das – wenn auch nicht überall und alle Tage – eben vorkam und in diesen Grenzen dann auch normal war. Was aber bedeutet das für das Verhältnis dieser Menschen zu ihren Körpern, für ihre Körper überhaupt? Die Annahme, ihre unseren heutigen gleichenden Körper hätten sich in bestimmten Situationen bloß anders verhalten, stößt auf Grenzen, die eben dieselben Körper markieren: Sie würden in mancher der berichteten Situationen heute mit Scham, Widerstand und Verweigerung reagieren, während sie damals solche Haltungen im Allgemeinen nicht einnahmen und vermutlich als eigenartig empfunden hätten.

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4 L IEBE UND S E XUALITÄT »Amor omnibus idem«, die Liebe ist bei allen dieselbe, bei den Menschen wie bei den wilden Tieren, den Fischen und den Vögeln, deklamiert Vergil in den »Georgica«.85 Sie alle stürzt sie in »furias« ignemque, in rasendes Feuer. Wie ein Wolkenbruch tobt sie, eine reißende Flut, eine wilde, nicht zu bezähmende Raserei: Versuchte nicht Glaukos, der Sohn des Sisyphos, seine Stuten von der Paarung zurückzuhalten, um sie renntüchtiger zu machen? Aus Zorn darüber versetzte Venus die Tiere in Raserei und sie zerfleischten ihn. Ein tremor86 ist das Begehren, zügellos, rücksichtslos, tödlich. Die Löwin verlässt ihre Jungen, der Bär richtet ein Gemetzel an: alles aus Liebe.87 Die Liebe ist ein »remedium«, das die Wildheit bezähmt, Tiere und Menschen sanft macht und gesellig, so dagegen Ovid in der »Ars amatoria«. »Blanda truces animos fertur molisse voluptas«: Zärtlich verlockt sie die wilden Begierden zur Sanftheit.88 Aus ungestümer Triebhaftigkeit wird kontrollierte Vernunft: »Quod nunc ratio est impetus ante fuit«.89 Nur zwei der unzähligen Zeugnisse aus der Geschichte der Liebe, die widersprüchlicher nicht sein könnten und die die Liebe von den beiden diskursiven Entgegensetzungen her markieren, in denen sie über die Jahrtausende und Jahrhunderte bis in die Gegenwart reflektiert wird: im Mythos, in der Literatur, in der bildenden Kunst, in der Musik, im Kitsch, in den Medien. Es geht um die Dramatik des Verhältnisses von Begehren versus Ordnung, von Leidenschaft versus Vernunft, von Trieb und Sublimation, Ehe und Ehebruch, Eros und Agape, von der himmlischen und der irdischen Aphrodite. Vergils, des Römers, Rede vom Liebeswahn hat in diesem Spannungsverhältnis bereits Position bezogen. Indem sie das Spontane, das Wilde, das Unkontrollierte des Begehrens im Reich der Abnormalität und Unvernunft ansiedelt, ist sie bereits einer der mehreren Lösungen des Rätsels der Liebe in ihrer Geschichte verpflichtet. Die Beziehungskultur im klassischen Griechenland folgte gänzlich anderen Direktiven. Im Hause des Isomachos, einem der wohlhabendsten Athener Bürger des 5. Jahrhunderts v.u.Z., gibt es Streit. Der Grund dafür steht, angetan mit hohen Plateau-Sandalen und geschminkt mit Bleiweiß und Henna, vor den gestrengen Augen des Hausherrn: seine Ehefrau. Der entsetzte Gatte erteilt ihr eine lange Belehrung: Schminke, so erklärt er ihr, ist Täuschung. Einen »helleren Teint«, »rosigere Wangen«, eine »schlankere Taille« vorzugeben,

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als man hat, widerspricht dem Wesen der Ehe als redlicher Lebens-, Güter-, und Körpergemeinschaft: Zwischen Eheleuten darf die natürliche Attraktivität nicht künstlich angestachelt werden: »Die Götter«, belehrt Isomachos seine Frau, »haben Pferde zur angenehmsten Sache für Pferde gemacht, die Rinder für Rinder, die Schafe für Schafe; desgleichen finden die Menschen nichts Angenehmeres als den Körper des Menschen ohne jede Zutat.«90 Isomachos »lehnt alle Künstlichkeit ab, deren man sich bedient, um die Begierden und Lüste zu mehren«91 . Die solchermaßen belehrte Ehefrau gibt sich damit noch nicht zufrieden. Was, so fragt sie, wenn es verboten ist, bloß schön zu scheinen, soll sie tun, um tatsächlich schön zu sein und vor allem: zu bleiben? Und sie hat dabei ihre Rivalinnen um die erotische Zuwendung ihres Gatten im Auge, die jungen Sklavinnen und vor allem die Kurtisanen, an deren geschminktem Teint und den hennagefärbten Haaren ihr Mann, wie sie vermutlich weiß, gar nichts auszusetzen hat. Ihr fürsorglicher Gatte und Lehrer kennt die Lösung ihres Problems: Die wirkliche Schönheit einer Frau besteht nicht in Äußerlichkeiten, sie »ist durch ihre Hausfrauenbeschäftigungen gewährleistet, wenn sie ihnen richtig nachgeht. Wenn sie nämlich die Aufgaben ihrer Verantwortung erfüllt, bleibt sie nicht sitzen – zusammengekauert wie eine Sklavin oder müßig wie eine Kokette.« Nicht künstliche Mittel, sondern die rechte Ausübung ihrer Rolle als Herrin des Hauses und die damit verbundenen Tätigkeiten machen sie schön. Sie hält sich aufrecht, sie wacht, sie kontrolliert, sie geht von Zimmer zu Zimmer, um die Arbeit zu überprüfen; der aufrechte Stand und der Gang geben ihrem Körper jene Haltung und Formung, die in den Augen der Griechen die Plastik des freien Individuums ausmachen. Desgleichen ist es gut für die Hausherrin, wenn sie den Teig knetet, wenn sie die Gewänder oder die Decken ausschüttelt und ordnet. So formt sich und hält sich die Schönheit des Körpers. 92

Das macht ihre Vorrangstellung vor den anderen Frauen im Hause und außerhalb des Hauses aus. Die Herrschaftsposition hat ihre physische Seite – und das ist die Schönheit. […] Sowohl durch die physische Schönheit, die mit ihrer privilegierten Stellung zusammenhängt, wie auch durch den freien Willen, mit dem sie zu gefallen sucht, wird die Hausherrin immer den Vorrang vor den anderen Frauen haben. 93

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Die Eheauffassung, die Xenophon in der Figur dieses griechischen Großgrundbesitzers vorstellt, zieht einen klaren Trennstrich zwischen der Erotik mit Sklavinnen und Kurtisanen, die dem griechischen Mann unangezweifelt zusteht, und der ehelichen Liebe. »Die Kurtisanen haben wir für das Vergnügen, die Konkubinen für die tägliche Bequemlichkeit; die Gattinnen haben wir, um eine legitime Nachkommenschaft und eine treue Hüterin des Herdes zu haben«, heißt es in einer Demosthenes zugeschriebenen Rede.94 Jene mögen sich oberflächlich verschönern, um die Begierde, die sexuelle Lust zu bedienen, die Ehe dagegen ist eine ernste Sache, in der Attraktivität, Anmut und Schönheit von anderen Kriterien bestimmt werden: von der gemeinsamen Verpflichtung auf das Gelingen der Führung des Haushalts, des oikos. Darin sind die Rollen von Mann und Frau begründet. »Das Haus – die Frau, die Diener, das Anwesen – zu regieren«95 ist die Aufgabe des Mannes, die praktische Umsetzung dieser Ökonomie in das alltägliche Funktionieren die Aufgabe der Frau, der »gehorsamen Herrin des Hauses«, wie Foucault es formuliert.96 »Die Bedrohung der Ehe kommt nicht von dem Vergnügen, das der Mann da und dort finden mag, sondern von den Rivalitäten, die zwischen der Gattin und den anderen Frauen um die Vorrangstellung im Haus ausbrechen können.«97 Von derlei Konflikten gibt es viele Zeugnisse: »Die Gattinnen machten ihren Männern die Vergnügen zum Vorwurf, die sie anderswo suchten, und die flatterhafte Frau des Eiphiletos wirft ihm seine Intimitäten mit einer kleinen Sklavin vor.«98 Und was, wenn nicht die Vernachlässigung der häuslichen Erotik durch die Ehemänner hätte wohl Solon veranlasst, per Gesetz zu dekretieren, dass ein Mann seiner Frau wenigstens dreimal im Monat beizuwohnen habe. Den Kern der antiken Männermoral beeinträchtigt das freilich nicht: Der treue Gatte ist nicht derjenige, der den Ehestand mit dem Verzicht auf jedes sexuelle Vergnügen mit einer anderen verbindet; sondern derjenige, der seiner Frau die ihr durch die Ehe zugesprochenen Vorrechte bis zuletzt bewahrt.«99 Diese Auffassung »bringt einerseits das Prinzip einer einzigen rechtmäßigen Gattin zur Geltung«100, andererseits legt sie die erotische Selbstbestimmung extrem asymmetrisch fest: »Die Frauen – als Ehefrauen – [sind] rechtlich und gesellschaftlich gebunden: ihre ganze sexuelle Tätigkeit muss sich innerhalb der Ehebeziehung abspielen, und ihr Gatte muss ihr ausschließlicher Partner sein.« Bei Ehebruch droht ihnen die Verstoßung aus dem Haus ihres Gatten und der Ausschluss vom Kult der Polis, der wichtigsten außerhäuslichen Öffentlichkeit.

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Das ist, so werden die Philosophen und Moralisten der Antike nicht müde zu betonen, alles andere als ein Freibrief für eine Libertinage der Männer. Denn: Wenn ihre gesellschaftliche Bestimmung darin besteht, zu herrschen, dann bedeutet dies nicht nur die Kontrolle der anderen, sondern – um diese ausüben zu können – die Kontrolle ihrer selbst. Selbstbeherrschung als Voraussetzung für Herrschaft, das ist die ethische Maxime des griechischen Mannes, und die ihr entsprechende Tugend ist die enkráteia, die Mäßigung, die Kunst, wie Plato Sokrates sagen lässt, »sich selbst zu befehligen«101, d.h. »weise zu sein und sich zu beherrschen, den Vergnügungen und Begierden in sich zu befehlen«102 . Die oberste moralische Maxime des griechischen anér ist die Selbstkontrolle. Und ihre ultimative Bedrohung ist die unkontrollierte, die unbeherrschte, die anarchische Seite der Liebe, der Verlust der Herrschaftsfähigkeit und damit der Männlichkeit schlechthin. Nicht der Verzicht oder gar die Verteufelung der Begierden sind das Programm der griechischen Erotik, sondern der agón, sich ständig zu messen im Kampf mit ihnen. Die Forderung reicht bis zur Beschränkung der sexuellen Beziehungen auf die Ehe. Aristoteles etwa bezeichnet sowohl die Beziehung »des Gatten mit einer anderen Frau« als auch »der Gattin mit einem anderen Mann« als »Schande«.103 Keines Vergnügens Sklave zu sein und seinen Begierden noch mehr zu befehlen als seinen Landsleuten, schärft Isokrates dem jungen Nikokles ein, als dieser im Begriff ist, das Königtum Salamis auf Zypern zu übernehmen: »Herrsche über dich selbst so wie über die anderen und glaube, dies werde einen König am meisten auszeichnen, wenn du keiner Leidenschaft sklavisch frönst, sondern wenn du über deine Triebe eine strengere Herrschaft ausübst als über deine Untertanen.«104 Nikomachos selbst lässt er der Zustimmung seiner Untertanen sicher sein, »dass Selbstbeherrschung und Gerechtigkeit die wertvollsten Tugenden sind«105 . Eine Einstellung, die der König dadurch bekräftigt, »dass ich mich seit der Übernahme der Königsherrschaft niemandem körperlich genähert habe als meiner Frau«106. Es sei ihm zwar bekannt, dass auch jene, die sich »woanders eine Befriedigung ihrer Lüste verschaffen, bei der großen Masse Beifall finden«, er aber wolle »den anderen Bürgern mit meiner Lebensführung beispielgebend sein«.107 – »Das Beste ist, seine Lüste zu beherrschen und nicht von ihnen besiegt zu werden – was nicht heißt: sie nicht zu gebrauchen« – so wird es mehr als ein halbes Jahrhundert später Diogenes Laertios in einer der wenigen erhaltenen Philosophiegeschichten des Altertums zusammenfassen.108

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Die platonische, die rein geistige Liebe, die der Philosoph im Phaidros und im Symposion propagierte, war im Griechenland Platos kaum von Einfluss, wie überhaupt der Einfluss der Philosophie auf das Alltagsleben der Antike überschätzt wird. »Athen«, schreibt der amerikanische Anthropologe John J. Winkler, war ein Gesellschaftssystem, in dem Philosophen vielfach missachtet wurden und, wenn dennoch beachtet, leicht als Narren und Spinner dargestellt wurden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf diese exzentrische Clique lenken, sondern auf die Bürgerschaft […] ergibt sich ein ganz anderes Bild, nämlich eines, in dem die Debatten der Philosophen keinen spürbaren Eindruck hinterlassen.109

Die irdische Liebe der Bürger wird, ganz im Gegensatz zu Platons philosophischem Ethos, »als Vergnügen, einfach als die physische Sinnenlust aufgefasst«110, die Männern und – unter deren Aufsicht – Frauen von Natur aus gegeben ist. Von ihr mäßigen Gebrauch zu machen, ohne die Kontrolle und die Selbstkontrolle zu verlieren, darin besteht die Moral der Lüste. Die leidenschaftliche, die wahnhafte Liebe hat in dieser Konzeption von sexueller Befriedigung, ehelicher Pflicht und selbstbeherrschter Herrschaftsführung keinen Platz, mehr noch, sie ist gefährlich, zu meiden, zu bekämpfen. Das europäische Altertum hält es mit der modernen Psychiatrie. »Es ist ja bekannt«, schreibt Denis de Rougemont in seiner Geschichte der Liebe im Abendland, dass für die Griechen und Römer die Liebe eine Krankheit war, soweit sie die Sinnenlust, die ihr natürliches Ziel ist, ins Übersinnliche verlagerte. Plutarch bezeichnete sie als einen Wahnsinn und sagt weiter, dass andere sie für eine Art Tollwut hielten. […] Man müsse darum denen, die verliebt seien, alles verzeihen, als ob sie krank wären.111

Die weitere Entwicklung der griechischen und römischen Antike bis in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung hinein hat den Heroismus selbstbeherrschter Herrscher durch ein immer genaueres Netz gesetzlicher Vorschriften, ärztlicher Richtlinien und philosophischer Begründungen strapaziert, ohne aber jemals jenen Grad an Triebfeindlichkeit zu erreichen, wie ihn die spätere christliche Moral beanspruchte. Die Liebesmoral im Zeitalter des Staatskirchentums und des Feudalismus ist keine Fort-

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setzung der Antike, sondern steht zu ihr im Widerspruch. Die Männer des frühen Mittelalters waren nicht selbstbeherrscht, sondern unbeherrscht, und die Moral der Kirche zielte nicht auf die Kultivierung des Subjekts, sondern auf seine Unterwerfung unter den Willen Gottes. »Sokrates ist kein Wüstenvater, der gegen die Versuchung kämpft, und Nikokles ist kein christlicher Ehemann.«112 Weder legt die Antike, wie später die christliche Kirche, detaillierte Zeitpunkte für Essen und Fasten, Sexualität und Enthaltsamkeit fest,113 noch verbindet sie die Nichtbefolgung ihrer Regeln mit einer grundsätzlichen Abwertung oder Verdammung der Sünder. Die in der Antike propagierten Selbsttechniken verlangen nicht, »dass man den Akten ihre Natürlichkeit nimmt; sie nimmt sich auch nicht vor, ihre Lustwirkungen zu vergrößern; sie will sie vielmehr entsprechend den Erfordernissen der Natur verteilen und ordnen«114 . Die grundsätzlich positive Bedeutung der Sexualität bleibt als Tenor aller gesellschaftlichen Beeinflussungsstrategien erhalten: Wir sind noch weit entfernt von einer Erfahrung der sexuellen Lüste, in der diese dem Bösen verbündet sind, in der das Verhalten sich der allgemeinen Form des Gesetzes wird unterwerfen müssen und in der die Entzifferung des Begehrens eine unerlässliche Bedingung dafür sein wird, zu einer geläuterten Existenz zu gelangen.115

Für den Kirchenlehrer Augustinus (354-430 n.  Chr.) ist die Unbezwingbarkeit des Sexualtriebes die Ursache des Sündenfalls, die christliche Ehelehre wird eine grundsätzlich sündige Sexualität nur noch zum Zwecke der Fortpflanzung und der Vermehrung des Volkes Gottes sowie zur Vermeidung noch größerer Sünden als legitim ansehen. Die sexuellen Vorgänge werden bis in ihre Einzelheiten hinein in erlaubte und unerlaubte unterteilt. Sexuelle Lust bleibt noch dort, wo sie einzig erlaubt ist, in der christlichen Ehe, eine wenn auch lässliche Sünde. Erst der spanische Jesuit Thomas Sanchez hat Ende des 16. Jahrhunderts die Vereinigung der Gatten vom Makel der Sünde befreit: Sofern nichts unternommen wird, um die Fortpflanzung auszuschließen, lehrt er, obgleich ein extremer Moralist, in seinen Schriften über das Sakrament der Ehe,116 begehen Eheleute auch dann keine Sünde, wenn sie dabei Lust empfinden. Von all dieser bigotten Kasuistik ist in der griechischen und auch in der römischen Antike nicht die Rede. Der Unterschied ist selbst dort noch zu merken, wo die späte Antike asketische Prinzipien bereits hochhält.

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Der Weg einer kleinen Wandersage durch die europäische Geschichte mag das verdeutlichen. Vermutlich war es der Stoiker Plinius Secundus, der in seiner Naturgeschichte als erster die »Mär vom keuschen Elefanten« aufgegriffen hat: »Aus Schamhaftigkeit«, so schreibt er, »begatten sich die Elefanten niemals außer im Verborgenen […]; sie tun es nur alle zwei Jahre und auch dann, wie man sagt, nie länger als fünf Tage: am sechsten baden sie in einem Fluss; vorher kehren sie nicht wieder zur Herde zurück. Ehebruch kennen sie nicht […].«117 Was bei dem antiken Naturhistoriker ein Bericht über nachahmenswertes Verhalten ist, mutiert bei dem missionarischen Mönch Franz von Sales zur eindringlichen Moralpredigt. Der Elefant, so schreibt er, ist nur ein plumpes Tier – und doch das würdevollste, das auf der Erde lebt, und das mit dem meisten Verstand […]. Er wechselt nie das Weibchen und liebt zärtlich dasjenige, das er erwählt hat, mit dem er sich jedoch nur einmal alle drei Jahre paart, und das nur fünf Tage und so versteckt, dass es bei diesem Akt nicht gesehen wird; wohl aber lässt er sich am sechsten Tag sehen, an dem er geradewegs zum Fluss geht, in dem er seinen ganzen Körper wäscht, ohne zur Herde zurückzukehren, bevor er sich nicht gereinigt hat.118

»Ist das nicht eine gute und rechtschaffene Art?«, fragt Franz von Sales am Ende des 15. Jahrhunderts seine Zuhörer-/innen. Neben dem deutlich verschärften moralischen Zeigefinger hat der Missionar unter der Hand die Enthaltsamkeit der Elefanten um ein Jahr verlängert. Noch deutlicher zeigt sich diese Tendenz in einem Wanderzitat, das seinen Ausgang ebenfalls in der Antike nimmt. Die Passage aus Senecas verschollenem Traktat über die Liebe ist uns nur in der Version des Hieronymus erhalten: Ehebrecherisch ist auch die allzu brennende Liebe gegen die eigene Frau. Die Liebe zur Frau eines anderen ist immer schändlich, zu eigenen Frau ist es die übermäßige Liebe. Ein vernünftiger Mann soll seine Frau mit Besonnenheit lieben und nicht mit Leidenschaft; er soll seine Leidenschaft zügeln und sich nicht zum Beischlaf hinreißen lassen. Nichts ist schändlicher, als seine Frau wie eine Mätresse zu lieben. […] der Mann soll sich seiner Frau nicht als Geliebter sondern als Gatte nähern.119

Immer wieder wird dieses Zitat in der Folge aufgegriffen und immer dramatischer wird die Gefahr der leidenschaftlichen Liebe beschworen: »Der

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Mann, der sich von übermäßiger Liebe hinreißen läßt«, heißt es bei dem Theologen Benedicti (1584), und seine Frau so leidenschaftlich bestürmt, um seine Begierde zu befriedigen, als wäre sie gar nicht seine Frau und er wollte dennoch Verkehr mit ihr haben, der sündigt. Das scheint der heilige Hieronymus zu bestätigen, wenn er dem Pytagoräer Sextus beipflichtet, der sagt, daß der Mann, der seiner Ehefrau in übermäßiger Liebe zugetan ist, Ehebruch begeht. […] Darum soll der Mann sich seiner Frau nicht wie einer Dirne bedienen, und die Frau soll sich ihrem Mann nicht wie eine Geliebte nähern, denn es ziemt sich, von diesem heiligen Sakrament der Ehe mit aller Schicklichkeit und Ehrfurcht Gebrauch zu machen.120

Nicht nur, dass der Gottesmann über die Herkunft des Zitates nicht ganz im Bilde ist, er erweitert das Unheil der leidenschaftlichen Liebe in die Breite der Beziehung – auch die Frau darf sich nicht wie eine Geliebte aufführen – und vertieft es in den Abgrund der Sünde gegen das heilige Sakrament der Ehe. Es waren nicht nur die Theologen, die in den Chor der Gefährlichkeit der Leidenschaft einstimmten. Neben Montaigne wärmt z.B. Brantôme in den schlüpfrigen Geschichten seiner »Vies des dames galantes« das Zitat wieder auf. Nun ist es bereits die Bibel selbst, die die leidenschaftliche Liebe in das Reich der Unzucht verbannt: Wir finden in unserer Heiligen Schrift sogar, daß sich Mann und Frau untereinander gar nicht so stark zu lieben brauchen; das besagt natürlich, mit geiler und unzüchtiger Liebe; wenn sie ihr ganzes Herz auf die schlüpfrigen Freuden richten, denken sie so stark daran, geben sich ihnen so sehr hin, daß sie dabei der Liebe vergessen, die sie Gott schuldig sind; ich habe selbst Frauen gesehen, die ihren Gatten so sehr liebten und umgekehrt, die von solcher Glut entbrannten, daß beide dabei jeden Gottesdienst vergaßen; die Zeit die er beanspruchte, wurde von ihren Unzüchten verschlungen und aufgezehrt.121

Dass derlei Gottvergessenheit nur ins Verderben führen kann, steht für Brantôme außer Frage: Außerdem lehren diese Gatten ihre Frauen in ihrem eigenen Bett tausend Geilheiten, tausend Schlüpfrigkeiten, tausend neue Stellungen, Wendungen, Arten und bringen ihnen jene ungeheuerlichen Figuren des Aretino bei; aus einem

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Feuerbrand, den sie im Leib haben, lassen sie hundert lodern; und so werden sie verhurt. Sind sie einmal auf solche Weise gedrillt, können sie sich nicht davor behüten, ihren Gatten zu entlaufen und andere Kavaliere aufzusuchen Darüber verzweifeln die Gatten und töten ihre armen Frauen; darin haben sie sehr unrecht.122

Längst geht es nicht mehr um die Selbstbeherrschung der Männer, sondern um deren Angst vor der den Frauen unterstellten Unfähigkeit, ihre leidenschaftlichen Begierden zu beherrschen, die seit der biblischen Eva eine lange Tradition hat. Für die christlichen Asketen ist das Heil der Seele nicht erst durch die leidenschaftliche Liebe bedroht, sondern bereits durch die ganz gewöhnliche Lust. Das antike Ideal des selbstbeherrschten Herrschers ist zur Ängstlichkeit christlich-bürgerlicher Anstandswahrer verkommen, die zu ihrer Rechtfertigung die absolute Bedrohung durch eine aus allen Fugen geratende Leidenschaft benötigen: das schlummernde Feuer der Leidenschaft der Frauen, das nicht angefacht werden darf, weil es nicht mehr gelöscht werden kann. Die christliche Lösung des Dilemmas zwischen Liebe und Leidenschaft verschärft die antike in mehrfacher Hinsicht. Sie verlagert die natürliche Lust in den Bereich des Dämonischen und zugleich das Dämonische in das unbeherrschbare Begehren der Frau. Nur als himmlische, als unio mystica zwischen Christus und der Kirche, ist die Liebe erwünscht, als irdische bleibt sie, wie Paulus es formuliert, bestenfalls als Zugeständnis an den »Stachel des Fleisches« geduldet.123 Die adeligen Oberschichten kümmerten sich freilich wenig um die Predigten der Kleriker. Nicht nur, dass unter den Jungen Frauenraub und Vergewaltigung gang und gäbe war, auch die einmal geschlossene Ehe schützte die Frauen nicht vor dem Schicksal, verlassen, vertrieben, ins Kloster oder ins Gefängnis gesteckt zu werden, wenn dem Herrn nach einer anderen – oder nach einer anderen, für seine Macht förderlichen Verbindung – war. Nicht die leidenschaftliche Liebe, sondern die Einhaltung des einmal gegebenen Versprechens einzufordern, war deshalb das Bestreben der Frauen. Ob die claren Franzoysinne dir nach dienst bieten minne, daz si dich wellen ergetzen min, so denke an die triuwe din.

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Mit diesen Worten verabschiedet Gyburg den Markgrafen Willehalm, ihren Ehemann, in dem gleichnamigen Epos Wolframs von Eschenbach, als er sich in heikler Mission zum König, seinem Schwiegervater und Lehnsherrn, nach Laon aufmacht.124 Eine gewaltige maurische Streitmacht belagert zur selben Zeit den Herrschersitz Orange, die letzte seiner Burgen. Hilfe durch ein Heer des Königs ist die einzige Chance, sich aus dieser Umklammerung zu befreien. Die Art und Weise, wie Gyburg sich von ihrem Mann verabschiedet, hat wenig mit dem zu tun, was man sich unter einer Abschiedsszene vorstellt, wie Peter Czerwinski durch eine für unsere Begriffe »hölzerne Umständlichkeit der Übersetzung«125 zeigen will, die die Denkweise feudaler Vorstellungen von Treue nachvollzieht: Wenn die vollendet schönen (d.h. adeligen) Frauen in Frankreich Euch also ihre höfisch friedliche Anerkennung bieten und Euch, wenn ihr sie gleichermaßen anerkennt, damit Ersatz für meinen durch Gewalt herabgewürdigten Rang schaffen wollen, so denkt an Eure Verpflichtung, Schaden von mir abzuwenden (wie es ein Lehensherr mit seinem Vasallen zu tun hat).

Die Abschiedsszene hat mehr mit der Einhaltung von Verträgen als mit Liebe oder Eifersucht zu tun. Gyburg – ihrethalben steht die unermessliche Streitmacht der Araber im Lande, denn sie ist Arabel, die Tochter Tarramers, des höchsten Anführers dieses Heeres, Herrschers aller Heiden, und war die Frau Tybalds, der ersten seiner Könige; der provençalische Markgraf hatte sie, selbst von den Arabern gefangen, zum Christentum »bekehrt«, hatte bei ihr minne, d.h. die Anerkennung seines dem ihren angemessenen Ranges gefunden, war mit ihr nach Frankreich geflohen, um sie dort zu heiraten und hatte derart den gewaltigen Rachefeldzug ausgelöst – Gyborg also fordert von Willehalm, dass er bei seinem Ritt nach Laon in den gewaltfreien Schutz- und Friedenszonen der Höfe, unter Wirkung hochadeliger Frauenschönheit und ehrendem minne – Dienst sie und die kriegerische Gewalt in seinem Territorium nicht vergesse.126

Dass Gyborgs Besorgnis berechtigt ist, hängt mit einer für uns kaum mehr vorstellbaren Angewiesenheit mittelalterlicher Menschen auf unmittelbare Erfahrung und sinnliche Präsenz zusammen. Gyburgs Mahnung, so Czerwinski, »muss angebracht sein, denn offensichtlich stellt es auf die-

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ser Entwicklungsstufe der Organisation menschlichen Denkens noch eine Schwierigkeit dar, sinnlich nicht mehr unmittelbar Gegebenes gegen die übermächtige Präsenz neuer tableaux gleichwohl in der Erinnerung festhalten zu können«127. Gyburg kennt den normalen Umgang, der einem Edlen am Hofe zuteil wird, zuteil werden muss, wenn er als ranggleicher Edelmann anerkannt werden soll. Eines der Rituale besteht darin, dass die edlen Damen ihm ihre Minne anbieten. Gyburgs Problem ist nicht, dass das geschehen wird – es ist normal und unproblematisch, dass es so sein wird –, sondern wie garantiert werden kann, dass Willehalm darüber seinen eigentlichen Auftrag nicht vernachlässigt. Nicht Abschiedsschmerz oder etwa Eifersucht ist das Thema dieses Dialogs, sondern die berechtigte Sorge, der Markgraf könnte angesichts der neuen Erfahrung seiner wiederhergestellten Würde am Hofe die ältere seiner Niederlage und damit die Befreiung seiner Gattin schlicht vergessen. Nicht von der Intensität gegenseitiger Liebe sieht Gyborg deshalb die Herstellung einer beständigen Erinnerung bedroht, sondern vom Einfluss der »gegen die unmittelbaren Handlungen sozial noch relevanter Körper sich verselbständigenden Instanzen«128. Dagegen bringt sie die höfische Tugend der Treue, das heißt der Verlässlichkeit in einem Vasallenverhältnis, das den Vorstellungsrahmen für die Ehe unter Adeligen bildet, ins Spiel. Die Denkungsart der Feudalen in Sachen Liebe ist weit entfernt von den »Melodramen einer subjektiven Innerlichkeit«129 , die wir Heutigen mit der Trennung Liebender verbinden. Dass dem so ist, wird auch in der Antwort, die Willehalm seiner Gattin gibt, unmissverständlich deutlich: Er gap des fianze, daz diu jamers lanze sin herze immer twunge. Willehalm verbürgte sich (eigentlich: leistete die Sicherheitsgarantie des Unterworfenen), dass die Lanze des Krieges in der Provence sein Herz immer bedrohen sollte.130

Diese Zusicherung ist nach Czerwinski nicht wörtlich genug zu nehmen: Willehalm muss ein Indiz des Krieges in seinem Herzen, muss den gewaltsamen Zustand der Provence als besondere, nicht-höfische Verfassung seines Körpers an den Hof nach Laon transportieren, will er die

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permanente Vergegenwärtigung von Ziel und Ausgangspunkt seines Handelns gegen die sinnliche Präsenz ihnen entgegengesetzter Verhältnisse durchhalten. Er vermag das offensichtlich nicht mit abstrakter Reflexion, sondern nur so, dass die Ereignisse, auf die sich seine Erinnerung zu beziehen hat, trotz aller Situationswechsel in seinem Körper eingeschrieben, an ihm nicht ausgelöscht werden.131

Beständig in Gefahr, »sich im Gegenwärtigen vollständig zu verlieren«, muss Willehalm jedweder friedlichen Symbolik des Hofes entsagen, will er die Erinnerung an die Gewalt, die ihm angetan wurde und die seiner Frau noch angetan wird, bewahren und so seinem Eid nicht untreu werden: Will er seinen durch die Niederlage entehrten Rang nicht vergessen, darf er sich am Hofe nicht von den Frauen ehren lassen; will er sich der Gewalt erinnern, darf er nicht in die Friedlichkeit der Höfe eintauchen, darf er Küsse – die Gewaltverzichtsbezeigungen sind, nichts mit Sexualität zu tun haben – weder geben noch empfangen; soll ihm die Vernichtung seines adeligen Reichtums im Kopfe bleiben, darf er sich nicht der höfischen Verschwendung anheimgeben, kein standesgemäßes Lager benutzen, nur Wasser und Brot zu sich nehmen.132

Dem feudalen Liebeskonstrukt, das im Epos Willehalm zum Ausdruck kommt, steht die provençalische Erotik des 12. Jahrhunderts gegenüber, die in den Liedern der Troubadoure die romantische Liebe verherrlicht.133 . »Niemand kann mehr daran zweifeln, dass die gesamte europäische Dichtung aus der Dichtung der Troubadoure des zwölften Jahrhunderts hervorgegangen ist«, der »Verherrlichung der unglücklichen Liebe«, schreibt Denis de Rougemont in seiner Geschichte der Liebe im Abendland.134 In der gesamten südfranzösischen Lyrik gibt es nur ein Thema: die Liebe. Aber nicht die glückliche, erfüllte oder befriedigte Liebe – ein solches Schauspiel kann ja nichts hervorbringen – sondern im Gegenteil, die ewig unbefriedigte Liebe. Ja, es gibt in der gesamten südfranzösischen Lyrik und in der Lyrik Petracas und Dantes eigentlich auch nur zwei Personen: den Dichter, der achthundert-, neunhundert-, tausendmal immer wieder seine Klage vorträgt, und die Schöne, die immer nein sagt.135

Die romantische Liebe wurde, wenn man Theoretikern wie Denis de Rougemont oder Norbert Elias glauben kann, nicht von den mächtigen Männern verordnet, sondern von den Ohnmächtigen unter ihnen erfunden.

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An den Höfen der großen Grundherrn sammelt sich […] ein Reichtum, der dem Gros der kleineren Grundherrn fehlt. Und diese Chancen begegnen sich mit einer wachsenden Nachfrage nach Chancen, einem wachsenden Angebot an Diensten durch zu kurz gekommene Krieger oder andere vom Boden abgedrängte Existenzen. Je geringer die Expansionsmöglichkeiten der Gesellschaft werden, desto größer wird die Reservearmee aller Schichten, auch der Oberschicht.136

So schildert Norbert Elias die Situation einer wachsenden Zahl verarmter adeliger Männer im hohen Mittelalter: »Sehr viele auch aus dieser Schicht sind schon zufrieden, wenn sie durch irgendeine Funktion an den Höfen der Grundherrn einfach ein Unterkommen, Bekleidung und Beköstigung finden, und wenn sie irgendwann einmal durch die Gnade eines großen Herrn ein Stück Land, ein Lehen erhalten, so ist das ein besonderer Glücksfall.« Figuren wie der Minnesänger Walther sind für diese Situation paradigmatisch: Das in Deutschland gut bekannte Schicksal Walthers von der Vogelweide ist in dieser Hinsicht auch für die Lebensläufe vieler Männer in Frankreich durchaus typisch. Und von dem Untergrund dieser gesellschaftlichen Zwangsläufigkeiten aus läßt sich einigermaßen ahnen, was alles an Demütigungen, vergeblichen Bittgängen und Enttäuschungen hinter Walthers Ausruf liegen mag: »Ich hab mein Lehen!«.137

Die weniger Glücklichen finden psychischen Ersatz für entgangenen Besitz an Territorium und der ausgeschlossenen Ehe mit einer adeligen Frau in der Verherrlichung der unglücklichen Liebe, der Liebe als Sehnsucht. Eine »höchst subtile Erfindung der Troubadoure«, hat Dietmar Kamper die romantische Liebe genannt, »die eine Krankheit des Sozialen mit Hilfe ihrer Intensivierung heilen wollen. Die Situation wurde so gewählt, dass die Liebe umso intensiver ausfiel, je unerfüllbarer sie wurde.«138 Die romantische Liebe ist, so gesehen, eine Verlegenheitsgeste entthronter Männer. Es ist die Herrschaft der Vermögenden über die Unvermögenden, die als psychische Entsprechung das Ritual der übersteigerten Unterwerfung der entmachteten Männer unter die phantasierte Herrschaft der Frauen hervorbringt. Aus der Verlegenheit sozial deklassierter Männer entstand eine Liebestradition, die für viele Menschen mit dem Begriff der Liebe überhaupt identisch geworden ist, die amour passion, die leidenschaftliche

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Liebe, die Liebe, die sich in der Sehnsucht nach Liebe verzehrt, die romantische Liebe. Die entmachteten, des Besitzes und damit der ungezügelten Verfügung über Frauen beraubten Männer sind es, die das Ideal der unerreichbaren Frau erfunden haben, die sie als Troubadoure, als Minnesänger statt als Minnetäter, in ihren Liedern verherrlichten. Ihr poetisches Thema ist die in unerreichbare Ferne entrückte Geliebte, die der Minnesänger mit unstillbarer Sehnsucht begehrt:139 »Oh, dies Begehren«, singt Aimeric von Belenoi, in der Tat es wird mich töten, mag ich nun bleiben oder weitergehn. Denn die mich könnte heilen, will mich nicht mehr sehn. […] es übertrifft – und mag’s aus Wahnsinn auch geboren sein – jedes andere. […] Mein Gott, wie geht das zu, je weiter sie von mir entfernt ist, um so mehr begehrt sie mein Herz.

In immer neuen Strophen singen sich Männer wie Peire von Rogiers ihr Liebesleid von der Seele, dabei immer wieder betonend, wie unverzichtbar es für sie ist: Wilde Qual muss ich leiden aus Kummer um sie, der so groß ist. Mein Herz soll sich durchaus nicht davon frei machen, noch kann ich Freude, süß und gut, je als Verheißung schauen: Hätt’ ich selbst hundert Freuden durch meinen Mut, ich würde mir nichts daraus machen, denn ich kann nur sie allein begehren.

Die begehrten Frauen sind zugleich diejenigen, die für die Leiden der Männer verantwortlich gemacht werden. Bernart de Ventadorn: Sie hat mein Herz genommen, sie hat mich selbst genommen, dann hat sie sich selbst meinen Blicken entzogen und mir nur mein Verlangen und mein dürstendes Herz gelassen!

Dass es sich um Lieder von Ohnmächtigen handelt, denen nicht nur die Liebe, sondern jegliche Macht adeliger Ritter abhandengekommen ist, klingt gelegentlich gerade dort noch verräterisch durch, wo der Sänger,

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diesmal Arnaut Daniel, aufzählt, worauf er alles mit Leichtigkeit verzichten könnte, gewänne er nur die Liebe seiner Dame: Ich will weder das römische Reich noch will ich, daß man mich dort zum Papst wählt, wenn ich nicht zu ihr zurückkehren darf, für die mein Herz entflammt ist und sich verzehrt. Aber wenn sie meine Qual nicht mit einem Kuß heilt, bevor das neue Jahr beginnt, so vernichtet sie mich und verdammt sich selbst.

Zwar werden die abgelehnten Wünsche so gewählt, dass sie in ihrer Übertreibung leicht als nicht wirklich angestrebte Ziele erkennbar sind. Sie stehen aber in ihrer Qualität für das, was für den fahrenden Sänger tatsächlich unerreichbar geworden ist und seiner unglücklichen Frauenliebe die subjektive Motivation verleiht. Die ihrer Macht und ihrer Sexualität beraubten Männer brauchen das Leiden an der Idealisierung unerreichbarer Frauen geradezu süchtig, um sich des noch größeren Leidens an ihrer eigenen Ohnmacht zu erwehren. »Das Leiden, das mich befallen hat«, singt Chrétien de Troyes, unterscheidet sich von allen Leiden; es gefällt mir, ich habe Freude daran; mein Leiden ist das, was ich will, und mein Schmerz ist mein Heil. Ich habe also eigentlich gar nichts, worüber ich mich beklagen könnte, denn mein Leiden kommt mir aus meinem eigenen Willen; es ist mein Wollen, das zum Leiden wird; aber ich habe so viel Freude daran, zu wollen, dass ich angenehm leide, und so viel Lust in meinem Schmerz, dass ich mit Wonne krank bin.

Die Liebe der Troubadoure und der Romane ist der poetische Ausdruck der sozialen Demontage einer bestimmten Schicht von Männern, die zugleich eine Beendigung ihrer Macht über Frauen ist, denen sie sich jetzt sehnsuchtsvoll unterwerfen. Noch einmal sind es also die Frauen, die nunmehr als Objekte für den Liebeswahn jener Männer zur Verfügung stehen, deren Machtwahn ausgeträumt ist. Noch als angebetete Idole haben sie ihren Part in den Machtspielen der Männer zu geben, so ohnmächtig die-

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se Männer inzwischen geworden sind. Je heruntergekommener sie sind, desto höher heben sie die Frauen hinauf. Die Macht in der Ohnmacht ist ihnen durch die mächtig gebliebenen Ehemänner der verehrten Frauen garantiert. Sie mögen die schmachtenden Gesänge ihrer abgetakelten Konkurrenten genossen haben. Die in ihnen zum Ausdruck kommende Hoffnungslosigkeit ihrer Rivalen konnte das Bewusstsein von ihrer eigenen Macht nur festigen. Da ist das Prestige- und Repräsentationsbedürfnis dieser großen Feudalherrn im blutigen oder unblutigen Konkurrenzkampf untereinander; da ist ihr Distinktionswillen gegenüber den kleineren Rittern; und als Ausdruck alles dessen werden hier Dichter und Sänger, die Herren und Herrin preisen, die den politischen Interessen und politischen Meinungen des Herrn, Geschmack und Schönheit der Herrin Worte geben, zu mehr oder weniger festen gesellschaftlichen Institutionen.140

Die Selbstvergewisserung der Männer über die Uneinlösbarkeit ihrer Wünsche ist die Voraussetzung dafür, dass diese Liebesliteratur vorgetragen werden konnte. Es entspricht der gesellschaftlichen Lage besitzloser Männer, ihre Wünsche und deren Unerfüllbarkeit zugleich auszudrücken, und es entspricht vielleicht auch der psychischen Verfassung der an der freien Ausübung ihrer erotischen Wünschen gehinderten Frauen, geliebt zu werden und sich verweigern zu können – zu müssen freilich –, da sie in Wirklichkeit ja besessen wurden und zur Verfügung zu stehen hatten. Der gesellschaftliche Ursprung der romantischen Liebe ist in der Konkurrenz unter Männern zu suchen. Im Unterschied zwischen den »Haves«, denen, die haben und den »Have Nots«, den Habenichtsen, wie Elias sagt. Mit der Praxis der Liebe hat dieser romantische Überschwang wenig zu tun. Die wird weiterhin von Männern mit Frauen gelebt, die ihnen ihre Väter ausgesucht haben oder die sie selbst nach politisch-ständischen Kalkülen gewählt haben. Das verbotene Begehren aber verflüchtigt sich in die gefahrlosen Höhen der folgenlosen Verehrung vergeistigter Frauengestalten, von denen manche Historiker meinen, dass es sie gar nicht gegeben hat. Romantische Liebe bedeutet die Konstituierung des liebenden Subjekts als eines unglücklichen, die Gleichsetzung von Liebe mit Sehnsucht nach Liebe, die Etablierung des Verlangens als Zustand. Nicht nur, dass die verehrten Frauen unerreichbar waren, sie mussten es auch sein, ihre Anziehungskraft besteht geradezu in ihrer Unerreichbarkeit. Wesentliches Element der romantischen Liebe ist die Trennung zwischen Liebe und Se-

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xualität, das Denken der körperlosen Liebe, der Liebe ohne Lust, der Lust am Verlust. Als Ausdruck und Rechtfertigung ihrer verzweifelten Situation steigerten sich die romantischen Liebeslyriker in die Vorstellung, die reale Einlösung ihrer unbändigen Sehnsucht sei nur um den Preis des Lebens möglich. Diese Liebe, würde sie eingelöst, wäre so intensiv, dass sie den Tod der Liebenden zur Folge hätte. Ihr Herrn, gefällt es euch, eine schöne Geschichte anzuhören von Liebe und Tod? Es ist von Tristan die und von Isolde, der Königin. Vernehmet, wie in großer Freude und großem Leid sie einander liebten, dann daran starben an einem Tag, er um sie, sie um ihn.141

So beginnt der Roman »Tristan und Isolde« in der Nachdichtung des alten Epos von der todgeweihten Leidenschaft von Joseph Bédier. Und er endet mit der Vorahnung des gemeinsamen Liebestodes: »Mein Tod ist nahe: Fern von Euch werde ich an meiner Sehnsucht sterben«, spricht Tristan. Und Isolde antwortet: Mein Freund, schließe deine Arme und umfange mich so eng, dass in der Umarmung unserer beider Herzen brechen und unsere Seelen entweichen! Führe mich in das glückselige Land, aus dem niemand wiederkehrt, wo himmlische Musikanten ihre Lieder singen, ohne Ende.142

Eine wie große Faszination das Phantasma des Liebestodes auf die Damaligen ausübte, kann die Geschichte von Margarida und ihrem Verehrer Guilhem zeigen, deren Andenken alljährlich an ihrem Grab zu Perpignan begangen wurde. Nach seiner in mehreren Fassungen überlieferten Lebensgeschichte hatte der Troubadour Guilhem de Cabestanh (1190-1212) ein Liebesverhältnis mit der Schwester seiner geliebten Dame, der Gattin des Barons Raimon von Roussillon, vorgetäuscht, um der Verfolgung des Barons zu entgehen. Das führte nun wieder zu Missverständnissen bei Margarida, seiner wahren Geliebten: Am anderen Morgen ließ sie Guilhem zu sich rufen, empfing ihn übel und nannte ihn einen Betrüger und Verräter. Aber Guilhem bat sie um Gnade da er ganz unschul dig sei an dem, wessen sie ihn anklagte, und er entdeckte ihr alles, wie es stand, Wort um Wort. Die Dame sandte nach ihrer Schwester und erfuhr auch durch sie, dass Guilhem ohne Schuld sei, und sie befahl ihm, ein Gedicht zu ver-

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fassen, worin er zeige, dass er keine andere Dame liebe als sie allein. Darauf dichtete er die Kanzone, die beginnt: »In süßem Bangen, das die Liebe mir beschied«. Als aber Raimon das Lied hörte, das Guilhem auf seine Gattin gedichtet hatte, ließ er ihn zu einer Unterredung fern vom Schlosse entbieten, schlug ihm das Haupt ab und legte es in eine Weidetasche. Darauf riss er ihm das Herz aus dem Leibe und legte es zu dem Haupt. Als er zum Schloss zurückgekehrt war, ließ er das Herz rösten und auf die Tafel seiner Gattin tragen. Und als sie es gegessen hatte, erhob er sich und offenbarte ihr, dass sie soeben das Herz Guilhems de Cabestanh gegessen habe, und zeigte auf das Haupt und fragte sie, ob das Herz gut zu essen gewesen sei. Sie hörte, was er gesagt hatte und erkannte das Haupt Herrn Guilhems. Und sie antwortete ihm, es sei so gut gewesen und so wohlschmeckend, dass ihr nie eine andere Speise und anderer Trank den süßen Geschmack aus dem Munde nehmen solle, den das Herz Guilhems darin hinterlassen habe. Raimon lief auf sie zu mit dem Schwert, aber sie stürzte sich fliehend von einem Balkon und brach den Hals.143

Der Volksmund billigte eine derartig grausame Verfolgung der wahren Liebe nicht. Er wusste davon zu berichten, dass »bei dem König Alfons und bei allen Baronen des Landes großer Jammer und Trauer über das Ende Guilhems und der Dame« ausgebrochen war, »und dass Raimon sie so schmählich getötet hatte«. Sie verbanden sich zur Vernichtung des Übeltäters, nahmen ihn gefangen und verheerten seine Burgen und Länder. Die unglücklichen Liebenden aber erhielten ein schönes Grab und »alle treuen Liebenden beteten zu Gott für ihre Seelen«.144 Die Geschichte vom »coeur mangé« ist ein altes Märchenmotiv, das in der Folge noch verschiedenen Persönlichkeiten angedichtet wurde. Als neununddreißigste Novelle ist die Geschichte auch in Boccaccios »Decamerone« gelandet. Historisch ist sie wohl kaum: »Raimon von Castel Roussillon vermählte sich mit Saurimonde de Peralda [der unglücklichen Geliebten Cabestanhs, B.R.] 1197, also ein Jahr nach dem Tode Alfons’ II., der den Mord gerächt haben soll. Auch überlebte die historische Saurimonde ihren Gatten und heiratete 1210 aufs neue.«145 Die volkstümliche Tradition wartet mit phantastisch ausgeschmückten Geschichten auf, deren historischer Kern nicht in den geschilderten Ereignissen besteht, sondern in den hinter diesen vernehmbaren Wünschen der Erzähler-/innen und ihrer Zuhörer-/innen, es möge sich so zugetragen haben. Die Existenz der romantischen Liebe ist deshalb um nichts weniger geschichtliche Realität. Sie formt als psychische Tatsache, als Wirklichkeit

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der Gefühle und Wünsche, Erwartungen und Enttäuschungen die Praxis der Liebe nachhaltiger, als so mancher erfundene Bericht über die unglückliche Liebe der Troubadoure vermuten lässt: die Sehnsucht von Männern nach der idealisierten Gestalt einer Frau, die gleichzeitig unerfüllbar bleibt, weil ihre Erfüllung für die Damaligen aufgrund des bestehenden Machtgefüges unmöglich war oder für die Heutigen das Risiko der EntTäuschung und der Banalisierung des geliebten Objekts beinhaltet. »Die ich habe, kann ich nicht lieben«, klagt Tristan, der große traurige Held der romantischen Liebe, »und die ich liebe, kann ich nicht haben« – »Wo sie begehren, lieben sie nicht, und wo sie lieben, können sie nicht begehren«, wird Sigmund Freud über Tristans nicht minder traurige Nachfahren sagen.146 Die Spur der romantischen Liebe, die im französischen Mittelalter ihren Anfang nimmt, ist mit diesem keineswegs zu Ende. Mit ihr beginnt, wie Dietmar Kamper sagt, »die Liebeskultur Europas«,147 oder wie der Jungianer Robert A. Johnson es ausdrückt, der »Irrtum des Abendlandes«148 . Im romantischen Liebeskonstrukt hat das Mittelalter einen mächtigen Gegenpol zur vorherrschenden Geschlechterkonzeption des Adels hervorgebracht, die auf das Erbe des Blutes ausgerichtet ist,149 eine genealogische Liebeskonzeption, die auf die Erhaltung und Fortsetzung der adeligen Dynastien gerichtet ist und nicht auf die Leidenschaft zwischen den Gatten. Die romantische Liebe der Troubadoure ist die Revolte der Gefühle gegen die Vernunft, gezähmt durch die subtilen Regeln der höfischen Liebe. Die Liebe der Troubadoure und der Romane ist durch die Gleichzeitigkeit leidenschaftlicher Liebe und deren körperlicher Unerfüllbarkeit bestimmt, ein Paradox, das in einigen Ritualen der mittelalterlichen Liebeskultur auf die Spitze getrieben wurde. Es gibt zumindest zwei Formen des physischen Liebesbeweises, den die angebetete Dame ihrem Liebhaber erweisen konnte: das Ansehen ihres nackten Leibes und den Liebestest. Die Einladung, die Geliebte nackt zu sehen, bedeutete einen bevorzugten Liebesbeweis, den die – meist verheiratete – Dame ihrem Verehrer gewähren konnte, ohne die Rechte ihres Mannes oder den Anstand zu verletzen. Sie konnte ihren Verehrer zusehen lassen, »where the lady undresses«150. Es wäre ein großer Fehler, sagt der provençalische Troubadour Bernard de Ventadour, if she did not call me to her chamber where she is undressing so that at her command [per sa comanda] I might be near her, and at the edge of the bed, humbly

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on my knees [a genolhs et umilians] remove her well-fitting shoe if she decided to offer me her foot 151.

Sich entkleidend konnte die Dame dem Verehrer einen Kuss gewähren, ohne dass dadurch ihre Ehre beeinträchtigt worden wäre. Die höchste Gunst, die einem Verehrer gewährt werden konnte, und zugleich die Probe darauf, ob er die Dame von Herzen liebte oder nur auf sinnliche Freuden aus war, ist der Liebestest [asag]. Der Test treibt die Paradoxie der romantischen Liebe zum Höhepunkt: In einer äußeren Anordnung, die alle Merkmale des physischen Liebesaktes nachahmt, darf alles außer diesem passieren. In seiner höchsten Form besteht der Test darin, dass dem Verehrer erlaubt wird, bei der Dame zu liegen, wobei er schwören muss, sich allen ihren Anweisungen zu fügen. Beautiful friend, gracious and kind [arinens e bos], if ever I held you in my power [en mon poder], may I lie next to you for a night [jagues ab vos] and give you the kiss of love [un bais amoros]. You know, it would give me great pleasure to hold you in my arms instead of my husband [en luoc del mant], as long as you first promise [ab so que m’aguessetz plevit] to do everything I wish (that is to say, to do no more than what I ask). 152

So lässt es die Herzogin von Dia, eine der wenigen tobairitz153 , ihren Verehrer wissen. Neben ihr zu liegen [jazer], sie anzusehen [remitar], vielleicht sie zu halten [tener], zu umarmen [abrassar], zu küssen [baizar] oder zu berühren [manejar] sind die äußersten Vergünstigungen, die ihm die Dame, die ihn »en son poder« hält, gewähren wird. Der gesellschaftliche Sinn solcher fürs Erste befremdlichen Praktiken liegt im höchst unromantischen Schicksal der adeligen Ehefrauen im 13. Jahrhundert. Die Gunst des nackten Anblickes und der Liebestest simulieren eine sekundäre Macht der Frauen inmitten einer patriarchalischen Unterdrückungsordung. The Countess of Dia’s only liberty (one more apparent than real) is that she invites her knight to the test (or perhaps to a new test). He is to undergo the asag, bot he must not surrender to temptation unless she also wishes to succumb, and then after he has sworn to accept only what she offers him. (This may be seen as a common feminine response to the brutal and loveless rights of a husband in the thirteenth century: the lady wants to hold her lover en son poder.) Therefore, the lover has to be content with resting on the cushion of his lady’s naked arms,

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with Iying beside her [jazer], with gazing on her [remitar], and finally with tener, abrassar, baizar and manejar.154

Äußerungen des Widerspruchs gegen die Abgehobenheit der romantischen Sehnsuchtsliebe, wie die im 15. Jahrhundert übersetzte lateinische Liebeskunst, in der eine adelige Dame den schwärmerischen Antrag eines Ritters in aller Entschiedenheit zurückweist, sind selten. Ganz im Stil der Troubadoure macht der Ritter sein gesamtes Leben und Glück von der Liebe der Dame abhängig: Ihr kommt mit dieser Eurer Rede dem Todkranken Hilf des Lebens reichen und bitt ich Euer Weisheit um Euer Tugend willen zu entscheiden, ob einem wohlgebornen Weib ziemlicher sei, einem Manne Trost und Hoffnung zu versprechen, womit sie ihm offenbart den Weg aller Tugend, Ehren und Zucht, oder ob es ihr besser geziemet, dass sie ihm Hoffnung und Trost versag, und damit den Weg der Gutheit verschliess.

Die Antwort der Angebeteten kommt völlig unerwartet und ist schroff: Alles, das ich Dir kunnt zu Hilf tun, hab ich Dir vergunnt. Ich hab dir mit freien Worten verheißen, dass Du mein Leib und Person wohl täglich anschauen magst. Das aber Du begehrst und fleißiglichen bittest, das magst Du mit keinem Weg erwerben noch erlangen. In Wahrheit, ich hab festen Mut, und ist mir mein ganzer Will und Fürsatz, daß ich der Lieb und Minn’ nimmer wollt untertan sein, noch der Pein und Marter der Liebhaber dulden.

In dem Maße, in dem der Mann den spielerischen amourösen Diskurs, an dem die Dame großen Geschmack findet, aufgibt und ihr die ganze Verantwortung für sein Glück und vor allem für sein Unglück überantworten will, zieht sie sich zurück. Sie besteht darauf, die Dosierung der erotischen Intensität selbst zu bestimmen, statt sich die Liebe als Therapie männlicher Leidenszustände aufzwingen zu lassen. Anstelle übertriebener romantischer Poesie spricht sie Klartext. Wenn er jemals in dieser Form gesprochen wurde, dann ist ihr Schlusssatz ein phänomenaler Durchbruch autonomer weiblicher Erotik, der nicht nur im Mittelalter Seltenheitswert besitzt. Sie beansprucht die Freiheit der erotischen Entscheidung nicht nur für sich selbst (»dass ich der Lieb und Minn’ nimmer wollt untertan sein«), sondern auch gegenüber der ungefragten Einbeziehung in die Lei-

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densphilosophie der Männer in der Rolle der Helferin, Trösterin, Erlöserin. Sie wolle, sagt sie, nicht »der Pein und Marter der Liebhaber dulden«. Damit ist der fatale Mechanismus der männlichen Romantik durchbrochen. Die Frauen, nicht die Männer, sind die wahren Leidtragenden dieser Liebe als Sehnsucht, sie haben zu dulden, was die Männer ihnen andichten: die Ursache ihrer Leiden zu sein und deshalb zu deren Heilung verpflichtet. Kein Wunder, dass der auf diese Weise abgewiesene Mann eine solche Reaktion nicht verstehen kann oder will. Mit einem Schlag ist seine romantische Höflichkeit zu Ende, und er greift zur Diffamierung. »Edle Frau, wie schade, dass Du im Irrsein verbleibest!« Frauen, die dem romantischen Liebeswahn die Normalität ihrer erotischen Selbstbestimmung entgegensetzen, riskieren unter den Bedingungen einer Liebeskultur, die gesellschaftlich entmachteten Männern als letztes Refugium psychischer Selbsterhaltung dient, das Verdikt der Abnormalität. Die esoterische Liebeslehre einer körperlosen Erotik, in den elitären Zirkeln der griechischen Philosophen und Moralisten folgenlos erörtert und in den Traktaten der christlichen Prediger den adeligen Machthabern erfolglos verkündet, findet in den Liedern der Troubadoure ihre erste breite Rezeption und ihre rituelle Praxis. Die wahnhafte »Liebe zur Liebe«155 etabliert sich als Alternative zum natürlichen Begehren und zur institutionellen Ehe, die beide noch tief in den Fängen männlicher Gewalttätigkeit stecken. Die Lösung der Liebe aus der Gewalt der Körper hat freilich einen hohen Preis: die Lösung der Liebe von den Körpern überhaupt, ihre Idealisierung, Vergeistigung, Entsexualisierung. Die Geschichte der Liebe im Abendland lässt sich als ein Drama des Scheiterns an dem Versuch lesen, die einander radikal ausschließende auf Stabilität und Dauer gegründete eheliche und die auf Gefühl und Leidenschaft gegründete romantische Liebe zu versöhnen. Durch das Ethos der christlichen Ehe versucht die christliche Kirche das unruhige romantische Sehnen mit der ruhigen Verlässlichkeit lebenslanger Ehe zu verbinden oder, wie de Rougemont es formuliert, »Wasser und Feuer miteinander zu vermählen«156. Seit dem 18. Jahrhundert tendiert nach Philippe Ariés die Gesellschaft dazu, die beiden traditionell gegensätzlichen Formen der Liebe einander anzunähern. Im Westen entstand nach und nach ein Eheideal, das es den Ehegatten zur Pflicht macht, einander wie Verliebte zu lieben – oder wenigstens so zu tun. Die außereheliche Erotik hat Eingang in die Ehe gefunden und die traditionelle Zurückhaltung zugunsten der Leidenschaft und auf Kosten der Dauer

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verdrängt. […] Heute gibt es nur noch eine Liebe, die leidenschaftliche, stark erotische Liebe.157

Es sind die Frauen, die den ausgeschlossenen Teil der Romantik der Männer zurückholen in die Geschichte der Liebe und damit gleichzeitig aus ihrer der männlichen Erotik untergeordneten Rolle heraustreten. »Legt man zugrunde, was uns aus der Hand von Frauen überkommen ist, so drängt sich der Schluss auf, die weibliche Lust sei ein gänzlich unbekanntes Feld gewesen«, so Angeline Goreau mit Blick auf die Geschichte der weiblichen Erotik.158 Von den Frauen wurden »unablässig und allenthalben Keuschheit und Bescheidenheit, Ehrsamkeit und Anstand als unabdingbare Notwendigkeiten gefordert«159 und das Gros der Frauen fügte sich in dieses Schicksal. »Es gab allerdings einige wenige Rebellen. Die Autorin eines Gedichts mit dem Titel ›Sylvias Klage über das Unglück ihres Geschlechts‹ aus dem Jahre 1688 empfand das Gebot der Zurückhaltung ganz unstreitig als Bedrückung«: Unsere Gedanken, wie Zunder bereit, Feuer zu fangen, werden oft von liebendem Verlangen ergriffen Doch die Sitte verfügt so strenge Gebote, Wir dürfen’s um unser Leben nicht zeigen. Hat eine von uns einen bescheidenen Jüngling gesehen, Und gleich kommen ihr zärtliche Gedanken […] Sitte und Sittsamkeit, weit härter dann noch, Verbieten streng, unsere Leidenschaft zu bekunden.160

»Doch trotz der mutigen Offenbarung ihrer sexuellen Wünsche zog es die Autorin vor, ihren Ruf vor zusätzlicher Beschädigung zu schützen, indem sie mit einem Pseudonym zeichnete: Sylvia«.161 Die Wiederherstellung der weiblichen Erotik bahnt sich erst zweihundert Jahre später an und sie erfolgt auf eine ganz andere Weise. Nicht in offener Rebellion, sondern in einer femininen Variante der romantischen Liebe. Um die Jahrhundertwende gibt es Zeugnisse bürgerlicher Frauen, die alle Merkmale der romantischen Liebessehnsucht der Troubadoure enthalten. Als »furchtbare heilige Flamme« beschreibt die Amerikanerin Mabel Loomis die Macht der Liebe, die »so durch mein ganzes Innere zuckt«;162 »Wenn mich die Menschen nur lieben, tue ich alles für sie […] Ich besitze eine so ungeheure Fähigkeit zum Lieben! Wenn ich nur ein

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kleines Rinnsal herauslasse und es dann staue, ersticke ich beinahe unter dem Ansturm von etwas Unbeschreiblichem, das mich überkommt.«163 In einem Punkt unterscheidet sich die Romantik der Frauen allerdings wesentlich von der Sehnsuchtsliebe der Männer: Mabel Loomis ist fest entschlossen, das Objekt ihrer romantischen Liebe auch wirklich zu bekommen. »Gut, aufrichtig, zärtlich« müsse der Mann ihrer Träume sein.164 Voller Ungeduld strebt sie der Einlösung dieses Traumes entgegen, sehnt sich »so sehr nach Zärtlichkeit, dass ich wirklich glaube, dass ein schwacher Mann mich glücklicher machen würde als gar kein Mann«165 . David Todd, Astronom wie ihr Vater, wird der endlich Auserkorene sein, und sie schildert ihn schon nach der ersten Begegnung nicht als den fernen, unerreichbaren Ritter, sondern mit all seinen irdischen Qualitäten: »Er sieht gut aus, ist blond, hat prächtige Zähne, angenehme Umgangsformen und versteht es, heftig aber ganz unschuldig zu schäkern.«166 Bald nachdem die »schönste Zweisamkeit« gemeinsamer Spaziergänge gelegentlich in ihrer Wohnung endete – »je nun, ich war machtlos«167 –, vertraut Mabel ihrem Tagebuch an: »Ich werde dir etwas sagen, was ich dir nicht sagen sollte – ich weiß, dass ich David brauche, nicht nur zu meinem Glück, sondern seine Gegenwart ist absolut unentbehrlich für mein körperliches Wohlbefinden.«168 Die ersten Jahre der Ehe schildert Mabel wie das erotische Paradies auf Erden: Jeden Abend entkleidete er mich auf der hellen Orientbrücke vor dem Kamin u. hüllte mich in Decken, damit ich nicht fror, während er heiße Steine in mein Bett legte. Danach trug er mich auf den Armen ins Bett u. packte mich sorgfältig ein, wobei er mich über und über mit Küssen bedeckte. Dann ging er wieder an den Schreibtisch u. arbeitete noch ein zwei Stunden. Und wenn wir von Gesellschaften nach Hause kamen und mir kalt war, tat er als erstes dasselbe – und liebte mich so!. Morgens stand er auf und machte Feuer u. legte meine Kleider davor aus, bis sie warm geworden waren, u. dann kam er zu mir u. trug mich auf den Armen bis dicht vor dem Feuer, wo meine »frisch getoasteten« Gewänder schon auf mich warteten. Dann kamen die Trauben oder Feigen oder Äpfel, mit denen er mich immer vor dem Frühstück verwöhnte.169

Es ist die Inkarnation der romantischen Liebe, die Mabel Loomis Todd hier beschreibt. Nicht mehr soll, wie in den Gesängen der Troubadoure, die Liebe durch die Sehnsucht nach ihr ersetzt werden, sondern der Wunsch,

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am lebendigen Leib mit der Intensität dieser Sehnsucht geliebt zu werden, soll erfüllt werden.170 Bürgerliche Frauen verlangen der durch die Jahrhunderte nachklingenden Liebes- und Todeslyrik der Männer den Wahrheitsbeweis ab, die Angebeteten treten heraus aus der Abgeschlossenheit der Kemenaten und landen mitten in den Armen jener Männer, die ihnen in eitler Selbstschonung die Verursachung ihres Liebesleids vorgeworfen hatten: »Denn die mich könnte heilen, will mich nicht mehr sehn.« Die weiblichen Troubadoure des aufsteigenden 19. Jahrhunderts drehen den Spieß um. Nicht die Erfüllung der romantischen Liebessehnsucht, schreibt Mabel in ihre Tagebücher, führe zum Liebestod, sondern das Ausbleiben dieser Erfüllung: »Ohne sie müsste ich zugrunde gehen.«171 Die Umkehrung des romantischen Liebesideals geht dadurch vor sich, dass die Frauen ihre passive Rolle darin aktivieren. Damit ändert sich auch für die Männer das Thema. Es geht nicht mehr um die Ersetzung der Liebe durch die Sehnsucht nach ihr, sondern um die Entsprechung zur aktualisierten Sehnsucht der Frauen, die irrealen Liebesschwüre der Männer zu erhören und von ihnen genau im Sinn dieser Schwüre real geliebt zu werden. Etwa um dieselbe Zeit, als Mabel und David Todd sich verliebte Briefe schreiben, gibt es einen bemerkenswerten Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Martha Bernays, seiner späteren Frau. Nach der Verlobung war Martha von ihrer resoluten Mutter für vier Jahre nach Wandsbeck bei Hamburg übersiedelt worden, wohl um sie dem Zugriff des jungen Freud so lang zu entziehen, bis dessen Vermögensverhältnisse eine ordentliche Heirat ermöglichten. Soweit wir wissen, hat der Romantiker Freud seiner Braut täglich geschrieben, manchmal sogar mehrmals am Tag. An die tausendfünfhundert Briefe an seine Verlobte sind aus diesen vier Jahren erhalten, an die sechshundert von Martha an ihn. In einem dieser Briefe antwortet Freud auf eine Schilderung des Wandsbecker Marktes, in der sich Martha offensichtlich von dem ungezügelten Treiben der gewöhnlichen Leute distanziert hatte. Er gibt ihr zunächst recht: Derlei Vergnügungen wären weit von dem entfernt, woran Leute wie sie und er Geschmack haben könnten. Dann aber setzt er zu einer unvermuteten Wendung an: Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genußfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben alles für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung unserer natürlichen Triebe

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gibt uns den Charakter der Verfeinerung. […] warum betrinken wir uns nicht? […] warum verlieben wir uns [nicht] jeden Monat aufs neue?172

Wir tun es, antwortet Freud sich selbst, um den Kater, das Leid der Trennung, zu vermeiden: So geht unser ganzes Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuss zu verschaffen, und in der höchsten Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die jahrelang entbehren und sich sehnen.173

Der junge Freud will derlei verständnisvolle Anerkennung der auf unmittelbarere Bedürfnisbefriedigung gerichteten »Psychologie des gemeinenen Mannes« keinesfalls als Ausdruck seiner eigenen Wünsche gewertet wissen. Mein geliebtes Mädchen, wenn Dir solches Geplauder nicht gefällt, so verbitt es Dir nur. […] Ich bin ganz gefaßt, daß mich Prinzeßchen ganz bevormunden wird. Von der Geliebten läßt man sich gerne beherrschen; wären wir doch schon soweit, Marthchen.174

Ganz im Stil und fast mit dem Vokabular der höfischen Minne-Vasallen unterwirft sich dieser Wanderer zwischen drei Welten, zwischen männlicher Triebhaftigkeit, zärtlicher Romantik und bürgerlicher Anständigkeit, dem Willen seiner Dame und ruft sich vom kurzen, neidvollen Blick auf die da unten, die nicht »das augenblickliche Vergnügen verschmähen«, auf »die Armen, das Volk« und »ihre dicke Haut, ihren leichten Sinn«175 zurück zur Ordnung. In dem 1908 erschienen Aufsatz über »Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität«176 wird Freud deutlicher: Mit Berufung auf Christian von Ehrenfels ergreift er die Partei der über das Maß zum Verzicht angehaltenen Männer: »Für die uns beherrschende kulturelle Sexualmoral sei charakteristisch die Übertragung femininer Anforderungen auf das Geschlechtsleben des Mannes und die Verpönung eines jeden Sexualverkehrs mit Ausnahme des ehelich-monogamen.« Die »femininen Anforderungen« beschwören nochmals die alte, vormoderne Rollenteilung in der Erotik der Geschlechter: männliche Eroberung und weibliche Hingabe. In Freuds Behandlungszimmer finden sich mittlerweile die bürgerlichen

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Frauen ein, Opfer der männlichen Erotik wie der männlichen Romantik am Ende ihrer Ära. Die bis in die Gegenwart reichende romantische Liebeskultur ist eine Romantik der Männer und der Frauen. Sie reicht von den jugendbewegten Seufzern Klopstocks bis zu den Leiden des jungen Werther und den Tränen der Luise Millerin, von den revolutionären Phantasien der sozialistischen Sexualreformer-/innen zu den einsam schmachtenden Männern im brennend heißen Wüstensand der Schlager der 1950er Jahre und den ihnen antwortenden sehnsüchtigen Liedern der Frauen am Hafen von Piräus: Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den einen, den ich so lieb wie keinen, und der mich glücklich macht.

Die antiautoritären Groupies der 1960er Jahre wie die Vermarktung heutiger doppelt-romantischer Sehnsüchte von Männern und Frauen in medialen Traumhochzeiten und Telenovelas – sie alle gehören der romantischen Liebe in ihren alltäglichen Gestalten an.177 Keiner der historischen und gegenwärtigen Versuche, Traum und Wirklichkeit, Romantik und Realität, Liebeswahn und Liebe zur Deckung zu bringen, ist bisher gelungen. Dieser Befund gebietet äußerste Zurückhaltung in Bezug auf die Zukunft der Liebe. Ob und wann das Abendland aus der Geschichte der Liebe gelernt haben wird und die fortgesetzt scheiternden Versuche, die Liebe der Romane und die Liebe des Lebens schroff gegeneinander auszuspielen oder glatt miteinander zu versöhnen, beenden wird, das steht – noch einmal romantisch gesagt – in den Sternen. Allzu schwer, hat Ovid gemeint, sei es nicht mit der Liebe: Erst einmal suche zu finden, was du zum Lieben erwählst […]. Dann ist das zweite Geschäft, die Erkorene [den Erkorenen, B.R.] dir zu gewinnen, und das dritte, dass lang dauere der zärtliche Bund.178

5 K INDER War es schon in den bisherigen Belegen vormoderner Körperkultur vor allem der Körper der Frauen, auf den sich gesellschaftliche Norm und gesell-

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schaftlicher Wandel bezogen, so gilt dies in besonderer Weise für alles, was mit Schwangerschaft, Geburt und Kindern zusammenhängt. Die folgenden aus verschiedenen Quellen zusammengestellten Sprichwörter, Regeln und Anweisungen über den Umgang mit Kindern und Kinderkriegen tun wir heute als wunderlichen Aberglauben ab.179 Für die Damaligen hatten sie einen ähnlichen Rang, wie ihn heute die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie oder der Kindermedizin haben: Erklärung zu geben und Hilfe zu verschaffen angesichts der Ohnmacht gegenüber dem eigenartigen, unbeeinflussbaren Verhalten der infantes, derer, die nicht sprechen können, die so gänzlich anders sind als die Erwachsenen und dennoch von ihnen verstanden werden sollen, zumindest dort, wo sie sich nicht recht entwickeln, krank werden, sterben – Erfahrungen, die die vormodernen Menschen im Übermaß mit ihren Kindern gemacht haben, bei nicht annähernd demselben Wissen über Kindheit und Kinder, das heutigen Eltern zur Verfügung steht. Die Unzahl von Weisheiten, die sich auf Mütter und Kinder beziehen, ist noch nicht ausreichend sozialwissenschaftlich aufgearbeitet. Die hier angeführten Beispiele zeigen, wie intensiv das Bemühen der Menschen war, der Ohnmacht gegenüber den Angst- und Wunschprojektionen, die die Kinder auslösten, mit Praktiken sozialer Machbarkeit zu entsprechen, die dem Unbekannten mit Bekanntem begegnen wollen: mit stabilisierenden Urteilen und Vorurteilen darüber, was eine Frau, was eine Mutter, was Sexualität ist, was Gott und die Heiligen zufrieden stellt und was ihre Rache hervorruft, welche Heilmittel und heilsamen Orte es gibt – alles in allem: was hilft und was schadet beim Kinderkriegen und Kinderhaben. Schon für die Fruchtbarkeit einer Ehe gibt es eine Reihe von hilfreichen Anleitungen. So war es etwa günstig, wenn bei der Hochzeit in der Kirche ein Kind schrie oder eine Schwangere der Braut ein Stück Brot reichte mit den Worten: »Möge es dir ebenso nutzen wie mir.« Der Bräutigam sollte während der Trauung auf der Schürze der Braut knien und ihr am Hochzeitstag ein gebrauchtes Hufeisen, einen Strauß Eisenkraut und einen Heller ins Bett legen. Gegen Unfruchtbarkeit halfen Gebete zur Heiligen Anna, zur Jungfrau Maria und anderen Heiligen. In manchen Kirchen gab es Heiligenstatuen mit einem Loch, in das die Bittstellerin ihren Finger stecken konnte, oder auch solche mit sichtbarem Penis, von dem man etwas abschaben und dann mit Weißwein auf nüchternen Magen trinken konnte. Es half auch, einen Kirschbaum zu schütteln, unter einem prähistorischen Sarkophag durchzukriechen sowie Bauch oder Scham an einem Menhir zu reiben.

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Zahlreich sind die Regeln, die in Bezug auf den ehelichen Verkehr zu beachten sind. Geschlechtsverkehr während der Menstruation würde den Blutfluss zurückstauen und eine Missbildung des Kindes verursachen, vor allem Rothaarigkeit, die einen schlechten Charakter bedeutet. »Homme roux et chien pilu, mieux vaut mirte que connu«, heißt es in Frankreich, oder »Barbe rouge et cheveux noirs, qui le tuerait ne ferait que son devoir«.180 Desgleichen kein Geschlechtsverkehr bei Vollmond, am Faschingsdienstag, an Montagen, d.h. Tagen des Mondes, bei abnehmendem Mond oder Neumond. Vor der Hochzeitsmesse darf das Brautpaar nicht essen, sonst bekommt das Kind eine kranke Zunge, wird stumm, stottert oder sabbert. Jungvermählte dürfen keine Patenschaft annehmen, sonst sterben die eigenen Kinder. Die Möglichkeiten, das Geschlecht des Kindes zu beeinflussen, sind vielfältig. Einen Jungen wird es geben, wenn zwei Hochzeiten gleichzeitig stattfinden, wenn die Schwangere den ansonsten Männern vorbehaltenen Bodensatz einer Weinflasche trinkt, wenn der Vater das Hirn eines Ochsen isst, wenn ein Ehepaar einen Menhir von beiden Seiten umarmt, sodass ihre Lippen genau gegenüber liegen, sowie bei Vollmond und zunehmendem Mond. Das Geschlecht des erwarteten Kindes wird jenes der ersten Person sein, der eine Schwangere beim Kirchgang begegnet. Schwangerschaftsdermatosen und ein runder Bauch weisen auf Jungen, glatte Haut und ein spitzer Bauch auf Mädchen, ebenso Übelkeit in den ersten Wochen. Sollte ein Baby als Erstes Papa sagen, wird das nächste ein Junge, ebenso wenn die Schwangere den rechten Fuß auf eine Stuhlleiste stellt oder diesen, am Schoß ihres Mannes sitzend, weiter herunterhängen lässt als den linken. Dasselbe mit links ergibt ein Mädchen. Man konnte aber auch einen Test machen: Die nur mit einem Hemd bekleidete Schwangere wirft am Hals ein Geldstück in das Hemd. Kopf ist ein Junge, Zahl ein Mädchen. Groß war die Angst vor Missbildungen, Krankheiten oder sonstigen Gebrechen der Kinder, zahlreich sind deshalb die Auflagen, die Ehepaare, vor allem schwangere Frauen zu beachten hatten. Keinesfalls sollte man im Mai heiraten, man bekäme sonst »Rotznasen«. Ekelgefühle oder Gelüste während der Schwangerschaft standen im Ruf, entsprechende Muttermale in Form von Früchten, Kaffeeflecken, Blumen etc. zu verursachen, zu viel Durst eine heraushängende Zunge beim Kind. Die Schwangere darf nur schöne Gegenstände betrachten, wegen der Gespenster soll sie nachts das Haus nicht verlassen, sonst schadet sie dem Kind. Sie darf sich nicht wiegen, nicht versuchen, das Gewicht des kommenden Kindes herauszu-

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bekommen, sonst wird es nicht zunehmen und sterben. Sie darf keine Schnüre, Kordeln oder Halsketten an sich haben, sonst wickelt sich die Nabelschnur um den Hals des Kindes und erdrosselt es. Aus demselben Grund darf niemand über ein schwangere Frau hinwegsteigen, geschieht es doch, muss man zurücksteigen. Keinesfalls darf eine Schwangere zu blühend aussehen oder gar eitel sein: »Belle brebis, agneau maligne«181, sagen die Franzosen. Sie darf keinen Kontakt zu toten Kindern haben, zu keinem Begräbnis gehen, keinen Krankenbesuch machen oder mit Puppen spielen – sonst wird ihr Kind sterben. Legt sie sich auf die linke Seite, holt der Teufel das Kind, sieht sie den Mond an, wird es mondsüchtig, uriniert sie bei Vollmond, kann das Kind ein missgestaltes Mondkalb werden, tritt sie auf einen Igel, bekommt sie Igeln, tritt sie in das Blut einer Stute, dauert die Schwangerschaft elf Monate. Während der Schwangerschaft soll sie für zwei essen, Kirschwasser oder Branntwein trinken, damit sie ein schönes Kind bekommt. Die Geburt selbst ist von vielen Regeln und Praktiken begleitet. Zu ihrer Herbeiführung oder Beschleunigung ist es dienlich, wenn die Mutter bis zum letzten Moment schwere Arbeit verrichtet oder von vier Fuß Höhe herabspringt. Außerdem helfen Aufgüsse von Beifuß, Goldlacksamen, Veilchenschnaps, ein Glas Weißwein mit drei Löffel Branntwein und sieben fein gemahlenen Lorbeerblättern, fein gemahlene Aalleber mit der im Backofen getrockneten und klein gestoßenen Gallenblase des Aals. Das leere Wäschefass darf nie auf seinem Untersatz stehen bleiben, sonst muss die Frau bei der Geburt so lange leiden, wie es dort stand. Der Vater ist bei der Geburt als einziger Mann anwesend. Liegt die Gebärende nicht im Bett, hält er sie unter den Armen oder sie sitzt auf seinem Schoß. Gegen den Geburtsschmerz helfen Reliquien, das Tragen eines vom Priester gesegneten Hemdes oder Salzbrocken, die man der Frau in die Hände gibt, und die sie zu Pulver zerdrücken soll. Zum Schutz werden der Gebärenden Hemd, Hut und Hose ihres Mannes auf den Leib gelegt. Ist der Mann während der Geburt betrunken, wird das Kind ein Tor. Während Schwangeren segensreiche Wirkungen zugeschrieben werden – so wird etwa nie ein Blitz das Haus treffen, in dem eine Schwangere wohnt, sogar von Rückenschmerzen können Schwangere heilen, wenn sie über den Leidenden hinwegsteigen – gelten Wöchnerinnen als unrein und für sich selbst und andere gefährlich. Sie dürfen sich neun Tage nicht die Haare waschen, sonst fallen sie aus, dürfen sechs Wochen nicht zum Brunnen gehen, sonst werden sie lausig und der Brunnen bekommt Würmer.

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Zahlreiche Zeichen verweisen auf eine glückliche oder unglückliche Zukunft des Kindes. Einem Kind, das mit einem Teil des Amiums, dem »Glückshäubchen«, geboren wird, wird im Leben alles gelingen. Auch wenn das Kind mit offenen Augen oder mit Zähnchen geboren wird, ist das ein Glückszeichen. Hat der Säugling viele Haare, wird er kräftig sein, eine gute Ehe schließen, reich werden und viele Nachkommen haben. Für blonde Babys oder Babys ohne Haare gilt das Gegenteil. Babys mit krausen Haaren werden schalkhaft. Schreit das Kind bei der Geburt, wird es ein Musiker, schweigt es, wird es krank. Kleine Warzen oder Muttermale können Gutes oder Böses bedeuten. Kinder mit einem bläulichen Äderchen zwischen den Augen werden sterben, solche mit dem Äderchen an den Schläfen werden glücklich, ist das Äderchen auf der Nase, werden sie hundert Jahre, wenn sie das siebente Jahr überleben. Ebenso viele Praktiken sind erforderlich, um die Gesundheit und das Wohlergehen des Kindes zu gewährleisten. Dreimal mit der Nabelschnur über die Augen des Kindes zu fahren, verbessert seine Sehkraft, ebenso, wenn die Mutter zwei Tropfen ihrer ersten Milch in die Augen des Kindes spritzt. Das Blut der Nabelschnur, über dem Gesicht des Kindes ausgedrückt, sorgt für frischen Teint. Die Nabelschnur wird bei Mädchen kurz, bei Knaben länger abgeschnitten, damit sie in der Kavallerie dienen und »gewissen Pflichten« angemessen nachgehen können. Sie darf nicht ins Feuer oder Wasser geworfen werden, sonst verbrennt oder ertrinkt das Kind, sie darf nicht liegen gelassen werden, sonst frisst sie ein Tier und das Kind spürt die Bisse. Man kann sie wie die Plazenta nachts unter einem Baum vergraben, dann bekommt das Kind die Eigenschaften dieser Pflanze, z.B. die Hautfarbe eines weißen, rosaroten oder roten Rosenstrauches. Bei Knaben empfiehlt sich der Lorbeerstrauch, damit sie tapfer werden. Erwischt man einen Weinstock, wird das Kind ein Trinker. In manchen Gegenden ist das Vergraben freilich verpönt: Das Kind würde ersticken. Die Nabelschnur wird dann im Mauerwerk des Speichers verborgen oder aufbewahrt wie ein Talisman, der Glück bringt. Manchmal verknotet die Hebamme die Nabelschnur, kann das Kind später den Knoten auflösen, gilt es besonders geschickt. Traditionelle Praktiken regeln die Betreuung und Pflege der Kinder. Das Neugeborene wird in lauwarmem, manchmal mit Eidotter und frischer Butter versetztem Wasser gebadet. Bei schwächlichen Kindern gibt man dem Wasser Weißwein oder Branntwein zu und das Kind erhält gewässerten und gezuckerten Wein oder Branntwein zu trinken. Dann hüllt

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man es in das Leibhemd, das der Vater gerade ausgezogen hat, um ihm dessen Kraft und Gesundheit und seine Eigenschaften zu übertragen und es vor Krämpfen und Epilepsie zu bewahren. Ist der Kopf oder das Gesicht verformt, wird er von der Hebamme »geknetet«, die Nase des Kindes wird zusammengedrückt, damit es gerade wächst. Mit dem Nagel des kleinen Fingers schneidet die Hebamme häufig das Zungenbändchen durch, damit das Kind nicht stumm bleibt. Die Kinder werden nach Bedarf gestillt, auch nachts. Die Milch der Mutter gilt als Ersatz der Natur für das Blut, von dem sich der Embryo ernährte. In manchen Kreisen galt allerdings das Stillen der eigenen Kinder als höchst unschicklich. Für »schweinisch und schmutzig« hielten es etwa nordbayrische Frauen, ein Ehemann drohte seiner Frau damit, nichts mehr zu essen, wenn sie »diesen abscheulichen Brauch« nicht aufgebe.182 »L’allaitment flérit les femmes et l’accouchement les réhabit«183 , sagt ein französisches Sprichwort. Lloyd deMause bezeichnet den gesamten Zeitraum vom 4. bis zum 13. Jahrhundert als Zeitalter der »Weggabe«, in dem, wer immer es sich leisten konnte, eine Amme ins Haus holte oder den Säugling einer Amme übergab. Das Weggeben von Kindern zu Säugammen war bis in das 18. Jahrhundert weit verbreitet, obwohl allgemein bekannt war, dass dies auch deren Tod bedeuten konnte. Das wurde zumindest in Kauf genommen, manchmal wohl auch beabsichtigt: Ausgenommen Fälle, in denen die Säugamme ins Haus geholt wurde und dort lebte, blieben die Kinder, die man einer Säugamme übergab, im allgemeinen zwei bis fünf Jahre dort. Die Bedingungen waren in vielen Ländern ähnlich. Jacques Guillimeau schilderte, wie leicht ein Kind bei einer Amme »erstickt, erdrückt oder fallengelassen wird und auf diese Weise früh zu Tode kommt; oder es wird von einem wilden Tier, einem Wolf oder einem Hund gefressen, verstümmelt, verunstaltet, so dass die Amme aus Furcht, ihrer Nachlässigkeit wegen bestraft zu werden, das Kind gegen ein anderes austauscht«. Robert Pemell berichtete, der Pfarrer seines Bezirks habe ihm erzählt, bei Antritt seines Dienstes sei der Bezirk voll gewesen von Säuglingen aus London; im Verlauf eines Jahres habe er jedoch alle bis auf zwei begraben.184

Eine Mutter, die ihr Kind einer Amme übergibt, darf diese oder das Kind dabei nicht ansehen, sonst bekommt sie das Milchfieber oder die Milch steigt ihr zu Kopf. Wurde keine Amme herangezogen, kam alles darauf an, dass die Mut-

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ter Milch hatte und das Baby trank. Die Brustwarzen der Mädchen wurden bereits bei der Geburt geformt, damit sie später stillen können. Stillende Mütter, und nicht nur sie, müssen auf vieles achten. Sie dürfen eine Steckoder Nähnadel nicht an der Spitze anfassen, sonst können sie nicht stillen. Wenn man die Eier der eigenen Hennen isst, darf man die Schalen nicht ins Feuer werfen, sonst wird die Ehefrau die Milch verlieren. Je mehr bei der Hochzeit geschossen wird, desto mehr Milch wird die Frau haben. Bei Milchproblemen helfen Milchsteine aus grau gesprenkeltem Jaspis, die ins Korsett gesteckt werden; in Wallfahrtsorten gesegnete Halsketten mit »Milchperlen«; Saugen an den Brüsten ähnlichen Stalaktiten von »Milchgrotten«; Ziehen an einem Ginsterbusch; Pflanzen mit Milchabsonderung; Pulver, das als »Milch der Jungfrau« in manchen Wallfahrtskirchen erhältlich ist; Baden der Brüste in heiligen Quellen; heiliges Wasser in die Ärmel schütten, um die Brüste zu benetzen; Stecknadeln in eine Quelle werfen; Leerschöpfen eines Kirchenbrunnens: während dieser sich wieder füllt, soll die Milch einschießen. Bei zu wenig Milch hilft die Darbringung eigener Milch oder aus dieser gemachten Käses bei der Heiligen Jungfrau oder ein Gebet zur Heiligen Barbara, der beim Martyrium beide Brüste abgerissen wurden, der Schutzpatronin der Stillenden. An ihrem Festtag soll man gesegneten Hanf oder Werg auf die Brüste legen. Mit ihrer Macht ist freilich nicht zu spaßen: Einem Mann, der sie zum Spaß um Milch bat, wuchsen große Brüste, die vor Milch überflossen. Wenn die Frau zu viel Milch hat, werden »Sauger« herbeigeholt, um sie vor dem Milchfieber zu bewahren. Das können kleine Hunde sein, andere Frauen oder sehr hässliche alte Männer. Ebenso wichtig wie das Gelingen des Stillens ist dessen zeitgerechte Beendigung. Von einem Kind, das zu lange gestillt wird, wird angenommen, es verbrauche seinen Verstand beim Saugen. Mit den ersten Zähnen soll deshalb das Stillen beendet werden. Zur Entwöhnung wird Pfefferpaste auf die Brustwarzen aufgetragen. Um die Milch zum Versiegen zu bringen, werden Umschläge mit verschiedenen Kräutern oder mit Schlangenhaut verabreicht und Halsketten aus Korkpfropfen oder Schlangen angewendet. Auch das Auflegen der Nachtmütze des Mannes auf die Brüste soll helfen. Eine neue Schwangerschaft beendet das Stillen sofort, sonst wird die Milch schlecht und schadet dem Kind. Alle Sorge gilt dem neuen Kind, das erste Kind saugt sonst dem nachfolgenden »an den Füßen«. Die Entwöhnung ist die offizielle Voraussetzung zur Wiederaufnahme der Sexualität, die deshalb mit dem Zahnen in Verbindung gebracht wird.

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Frühes Zahnen ist schlecht, spätes Zahnen gut: »Wem spät erscheinen die Zähn, kann die Seinigen sterben sehn«, sagt ein deutsches Sprichwort, und: »Wem früh wachsen die Zähn, wird auch früh zu Grabe geh’n«. Gegen die Schmerzen beim Zahnen helfen Amulette aus Schmerlen-, Hunde- oder Fuchszähnen; ein umgehängtes Säckchen mit Pfoten und Haut des Maulwurfs; ein Halsband aus Garn, das durch den Körper eines lebenden Maulwurfs gezogen wurde; das Auflegen von »Schneckensteinen«, den Kopfknochen der Schnecken oder des Kopfes einer Viper; ein Halsband aus Bernstein; das Einreiben des Zahnfleisches mit Rotwein oder mit dem Hirn eines männlichen Hasen; hartes, am besten geweihtes Brot zum Beißen. Bevor es spricht, darf man ein Kind nicht vor den Spiegel halten, sonst nimmt es Beziehung zu seinem nicht sprechenden Doppelgänger auf und bleibt stumm. Für früheres Sprechen lernen hilft Nuckeln an geweihtem Brot, besonders an Brot, das von Menschen gebacken wurde, die ihre Eltern nie kennengelernt haben: Sie müssen ja eine natürliche Sprachbegabung haben. Wenn das Kind als Erstes das erste Ei einer Henne isst, wird es ein Sänger. Allzu häufiges Küssen schadet dem Kind. Man soll nicht über das Kind steigen oder es unter einem Tisch oder Karren durchkrabbeln lassen, beides schadet seinem Wachstum. Außer dem Heiligen Abend, an dem während der Mitternachtsmette die Heilige Jungfrau kommt und das Kind beschützt, sollen die Kinder vor allem nachts nie allein sein wegen böser Geister und des Teufels. Nach allgemeiner Ansicht soll man Kinder weinen lassen, dann bekommen sie eine starke Stimme und bleiben gesund. »Enfant qui ne pleure pas, ne téte pas«185 , sagt ein französisches Sprichwort. Babys sollen dick sein, dann sind sie gesund. Zu rasch wachsende Kinder werden dumm, zu früh intelligente sterben bald. »Damit das Haus glücklich ist, muss ein Idiot darin wohnen«, meinen nochmals die Franzosen. Kinder werden so eng gewickelt, dass sie unbeweglich sind, damit ihr Körper geformt, ihr Rücken gerade und ihre Beine nicht krumm werden. Die Windeln, alte Bezüge und Lappen, werden selten gewechselt. Man legt die Wiege mit einem saugfähigen Hafersack aus und lässt die ausgewickelten Kinder vor dem Kamin ihr Geschäft machen, die Beinchen auf die kalten Steine zu stellen, hilft nach. Hände und Arme müssen von Geburt an eng und gerade angewickelt und so gebunden werden, dass sie in diesem Zustand bleiben, d.h. die Arme am Körper

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entlang und die Beine nebeneinander […]. Dann muss der Kopf mit einem Tuch, das man gewöhnlich Häubchen nennt, fest und gerade gehalten werden. Man befestigt das Häubchen rechts und links am Wickel. […] Es muss so gewickelt werden, damit sein Körper gerade wird, was die anständigste und naturgemäßeste Form des Menschen ist, und um ihn daran zu gewöhnen, sich aufrecht zu halten. Ohne das würde er auf vier Beinen laufen wie die meisten der anderen Tiere.186

Jungen dürfen nicht mit alten Unterröcken gewickelt werden, sonst werden sie zu viel Gefallen an Mädchen finden, Mädchen nicht mit Männerhosen, sonst laufen sie später den Männern nach. Das Gehen lernen wird durch das feste Wickeln zum Problem. »Gängelbänder« und »Fallhüte« sind physiologische Hilfen. Rollen auf einem Altar, Eintauchen der Füße in heilige Quellen, Pulver von Statuen des Heiligen Christophorus oder vom Grabstein weit gereister Ritter in den Brei zu mischen: Das alles hilft nicht nur zum Gehen lernen sondern auch gegen Beinkrankheiten. In manchen Kapellen gibt es die Fußstapfen Jesu, in die man das Kind stellen kann, in anderen Tunnels, durch die die Kinder kriechen. Man lässt die Kinder nach Geld kriechen und es in den Opferstock werfen, sie erste Schritte auf dem Grabstein eines örtlichen Seligen oder auf dem Friedhof machen oder man geht einmal am Tag um den Calvaire. Zuständige Heilige sind Petrus in Fesseln, St. Rochus, Christophorus. Der Umgang mit Schmutz und Sauberkeit unterscheidet sich erheblich von modernen Vorstellungen. Ein bestimmtes Quantum Schmutz gilt als Schutz und als Düngemittel, vor allem am Kopf für das Wachstum der Haare. Läuse gelten als natürliches Mittel zur Aussonderung der Säfte. Man entlaust die Kinder zwar, lässt ihnen aber zwei, drei Läuse auf dem Kopf, sehr kräftigen Kindern alle, damit sie das schlechte Blut verzehren. Der Schorf auf dem Kopf soll bleiben, damit die Säfte nicht zu seinem Herzen dringen und es töten. Nasen bleiben rotzig: »Miex vaut laisser son enfant morveux que lui arracher le nez«187, wissen die Franzosen. Bis zu einem, an manchen Orten zwei oder gar sieben Jahren sollen dem Kind die Nägel nicht geschnitten werden, sonst bekommen sie nicht die endgültige Form. Man darf nur an ihnen knabbern. Das Kind würde sonst ein Dieb oder sonst wie böse oder es bekäme einen »kurzen« Verstand. Damit die Kinder sich nicht kratzen, befestigt man ihre Ärmchen an den Windeln. Später darf man die Nägel nicht an Sonntagen oder bei annehmendem Mond schneiden. Die Sauberkeitserziehung setzt früh ein, praktisch ab der Geburt. Kleine Seifenstücke oder in Öl getauchter Sauerampfer sorgen für regelmäßigen Stuhl.

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Kindliche Exkremente dürfen nicht mit zu heißer Asche bedeckt werden, das würde dem Kind wehtun. Hasenhirn, Kuchen von roten Schnecken, Sud mit mitgekochter Maus oder Rattendreck helfen gegen Verstopfung. Die Taufe muss möglichst rasch nach der Geburt vorgenommen werden. Kann das Kind vor Einbruch der Nacht nicht getauft werden, muss die Mutter bei ihm wachen. Weitere Personen wachen darüber, dass sie nicht einschläft. Sie könnte sonst dem Einfluss böser Geister oder deren Liebkosungen verfallen. Vor der Taufe darf das Kind nicht geküsst werden, sonst bekommt es eine Oberlippe wie ein Entenschnabel. Auch darf es nicht gestillt werden, sonst verwendet das Böse im Kind die Nahrung dazu, es zu töten und zu entführen. Weil es unrein ist und verborgen bleiben muss, darf das ungetaufte Kind nicht ins Sonnenlicht. Bevor es getauft ist, dürfen die Windeln des Kindes nicht mit dem Wäscheklopfer geklopft werden. Das Kind, das »den Taufstein einweiht«, d.h. am Tag der Einweihung des Taufsteins getauft wird, stirbt, Mädchen, die zu Ostern getauft werden, werden unfruchtbar. Schreit das Kind während der Taufe, bekommt es eine schöne Stimme, schreit es nicht, hat es ein kurzes Leben. Beim »Taufzug«, dem Weg vom Geburtsort zur Pfarrkirche, soll das Kind von einer Person seines Geschlechtes getragen werden, man soll langsam gehen, denn das Kind wird, wenn es später ins Wasser fällt, so lange an der Oberfläche schwimmen, wie man beim Taufzug gebraucht hat. Der Priester muss für Buben und Mädchen unterschiedliche Kännchen verwenden, sonst bleiben Buben bartlos oder Mädchen werden bärtig, er muss das Credo deutlich sprechen sonst wird das Kind stottern. Er muss dem Kind in die Ohren blasen, sonst bleiben sie ganz klein. Der Pate muss vorher urinieren, sonst wird das Kind ein Bettnässer. Er muss das Kind über einen Bach tragen, damit es später nicht ins Wasser fällt. Pate und Patin müssen sich nach der Zeremonie vor der Kirche küssen, sonst wird das Kind rotznasig, sabbert oder wird töricht. Es müssen die Glocken geläutet werden, sonst wird das Kind taub oder stumm. Wenn die Mutter im Wochenbett das Glockengeläut vollständig hört, wird das Kind glücklich. Wenn sie nur einzelne Schläge wie das Totenglöckchen hört, stirbt es. Nach der Taufe wird das Kind auf dem Altar hin- und hergerollt, damit es nicht böse wird. Das Chrisam-getränkte Taufhäubchen darf nicht gewaschen werden und wird für alle Kinder verwendet. Es soll nach der Taufe noch eine Zeitlang auf dem Kopf bleiben, um die Wirkung des Öls zu steigern. Bei Mädchen beeinflusst die Dauer des Tragens die Dauer der späteren Regel, bei Jungen die Dauer der späteren Verliebtheit.

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Schwerkranke Kinder werden in Wallfahrtskirchen gebracht, dort lässt man ein Hemd von ihnen in einer Quelle schwimmen. Geht es unter, werden sie sterben, schwimmt es, werden sie gesund. Oder man steckt ihren Kopf in eine Maueröffnung, heben sie ihn, werden sie leben, wenn nicht, werden sie sterben. Kranke Kinder kann man schützen, indem man sie in das Laken einhüllt, auf dem ein Toter aufgebahrt war. Muttermale verschwinden, wenn man sie mit Hand oder Fuß eines Toten berührt: Sie verwesen mit ihm. Allenthalben lauern Unfallgefahren. Feuer, Wasser, Haustiere, vor allem Schweine, die im ganzen Haus herumlaufen, wilde Tiere, vor allem Schlangen, die den Kindern nachts die Milch heraussaugen und allerlei Geister sind ständige Gefahren für Kinder. Gegen sie hilft Tabak oder Knoblauch auf der Wiege. Ebenso schützt das Ei einer schwarzen Henne, in einer noch nie benutzten Pfanne gebraten, das Kind, das Verstauen eines kleinen Säbels in der Wiege der Jungen oder eines Spinnrockens unter der Matratze der Mädchen wehrt Vorfahren ab, die das Kind holen wollen. Eine besondere Bedrohung stellten »Wechselbälger« dar. Das sind missgebildete oder häufig hungrige Kinder, die nachts vom Teufel gegen das Kind ausgetauscht wurden. Sie saugen vier bis fünf Frauen aus, beißen die Mutter in die Brust und können sie krank bis zum Tode machen. Sie dürfen vernachlässigt und verprügelt werden. Man nimmt einen einjährigen Zweig einer Haselnussstaude und schlägt den Wechselbalg so lange, bis das eigene Kind wieder zum Vorschein kommt. Nachts soll das Kind nicht gestillt werden. Die Mutter könnte den Wechselbalg erwischen, den der Teufel neben das Kind gelegt hat. Bekommt er einen Schluck Milch, kann er nicht mehr ausgetauscht werden. Gegen das Austauschen hilft das Unterlegen eines Gebetbuches. Ähnlich groß war die Sorge vor dem »Beschreien« der Kinder. Kinder können von Hexen oder Zauberern »berufen« oder »beschrien« sein. Beschriene Kinder werden krank, essen nichts mehr, weinen viel und sterben. Sowohl Lob als auch Beschimpfung des Kindes kann als Schadenzauber wirken, ebenso der böse Blick. Dagegen hilft der Spruch: »Hat dich beschrien ein Mann, hat dich verschrien ein Weib, hat dich verschrien eine junge Dirn, jetzt will ichs von dir kihr’n« und dreimal über das Kind fahren als wolle man es abwischen, auch der Ruf »Unbeschrien, toi, toi, toi«, »Gott behüts« oder das Schmähen des berufenen Kindes. Um zu wissen, ob das Kind beschrien ist, soll die Mutter jeden Morgen seine Stirn lecken. Ist es beschrien, schmeckt sie salzig.

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Krankheit und Tod bedroht das Leben der kleinen Kinder von Anfang an, weshalb den Eltern vielfältige Mittel zum Schutz der Kinder zur Hand sind. Amulette, Steine, Schnitzel von der Osterkerze, Weihrauch, Knochen eines kleinen Hundes für Jungen, einer Hündin für Mädchen, Korallen, Küchensalz, Rostwasser aus Nägeln für kränkliche Kinder. Gut ist es, Säuglinge auf Farnkraut zu betten und ein Maulwurfsfell auf die Fontanelle zu legen. Neugeborene soll man nicht wiegen, sonst nehmen sie nicht mehr zu. Schaukeln ist das Allheilmittel gegen alle Unzufriedenheiten des Kindes, vor allem zum Einschlafen. Man darf aber die leere Wiege nicht schaukeln, sonst legt sich der Teufel hinein, und die Wiege muss stets auf der rechten Seite getragen werden. Die Diagnose von Krankheiten ist schwierig, Ärzte sind rar und wenig kompetent, die Menschen versuchen deshalb, sich selbst zu helfen. Durch das Eintauchen von Gegenständen, etwa Teilen vom Hemd des Kindes oder Efeublättern, die einen für eine Krankheit zuständigen Heiligen repräsentieren, lässt sich ermitteln, um welche Krankheit es sich handelt: Was als erstes versinkt, das ist es. Wallfahrten folgen, Amulette, Steine, auf Kohle geröstetes Roggenbrot wird aufgelegt, Heilkräuter werden angewandt. Rotwein oder roter Flanell helfen gegen »rote« Krankheiten wie Masern oder Scharlach, Reiben am Schweinetrog oder Saugen an einem von der Katze angenagten Knochen oder Umschläge mit Ziegendreck gegen Ziegenpeter. Der Heilige Blasius oder ein Halstuch aus Hanf, das mit Regenwürmern gefüllt ist, helfen gegen Halsschmerzen. Gegen Koliken windet man ein Garn um den Leib des Kindes, das am folgenden Tag dem Heiligen Nikolaus um den Hals gehängt wird, oder man verabreicht dem Kind einen Brei mit geweihtem Mehl und Pulver vom Bauch des Heiligen Nikolaus. Ein offenes Gesäß wird an die Luft gehalten oder mit schmutzigen Lappen eingewickelt. Gegen Mundschwamm empfiehlt es sich, einen blühenden Ligusterzweig in den Kamin zu werfen: Wenn er austrocknet, trocknet auch der Schwamm aus. Bei Kopfgrind werden die Haare geschoren, Umschläge von der Königskerze gemacht oder jeden Morgen ein Glas Urin von einem kerngesunden jungen Mann verabreicht. Gegen Würmer hilft ein Knoblauchhalsband in Form eines Rosenkranzes, ein Tropfen Wein bzw. Alkohol wirkt als Gegenmittel gegen die Milchnahrung, die Würmer erzeugt. Die Würmer »nagen das Herz von unten an«, sie »pissen ins Herz«. Ein Beschwörungsgebet: »Wurm, ich verbiete dir, diesem Kind mehr weh zu tun, als unser Herr Jesus Christus getan hat, wie er im Leib seiner Mutter, der seligen Jungfrau Maria, war«, dazu

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fünf Paternoster und fünf Ave Maria. Würmer, die im Kopf Meningitis verursachen, soll eine lebend entzwei geschnittene halbe Taube anlocken und herausziehen. Gegen Krämpfe soll man einen jungen Esel zwischen den Ohren küssen, ein Säckchen mit Samen der roten Pfingstrose und Maulwurfsfüßen um den Hals tragen oder gesegnetes Salz essen. Bei hartem Bauch hilft das Auflegen eines verwesenden Tieres, das die Krankheit verwesen lässt, Massieren, gesegnetes Brot auf den Bauch des Kindes legen oder es auf den Amboss legen und mit dem Schmiedehammer auf diesen schlagen. Gegen Hernien wird das Durchreichen durch einen gespaltenen Baum angeraten, der dann zusammengebunden wird. Über lange Jahrhunderte gehört der frühe Tod von Kindern zum erwartbaren Schicksal der Menschen. Bis in das 17. Jahrhundert ist damit zu rechen, dass die Hälfte der Kinder das fünfte Lebensjahr nicht überleben, die meisten dieser Kinder sterben bei oder unmittelbar nach der Geburt. Tote Vorfahren, so nimmt man an, ziehen die Kinder zu sich. Noch schlimmer freilich als der Tod eines Kindes ist der Tod eines ungetauften Kindes. Die Sorge der Menschen galt weniger dem diesseitigen als dem jenseitigen Heil der Kinder. Mit den toten Säuglingen pilgerten fromme Eltern zur Kirche, wo sie, durch einen Nadelstich in die Lippe kurz als lebendig erklärt, noch rasch die Taufe erhielten, um nicht als Kinder des Satans in die Ewigkeit eingehen zu müssen.188 Ungetaufte Kinder befinden sich im limbus puerorum, einem trüben Tümpel, mit weißen Ruten ausgestattet, und versuchen ständig, sich Wasser über den Kopf zu gießen. Gelingt es ihnen, sind sie getauft. Sie sind Sternschnuppen, böse Geister, Irrlichter, die Wanderer ins Wasser zu locken versuchen. Ihre Leiber verwandeln sich in duftenden Rasen, ihre Seelen sind Vögel. Bis zum jüngsten Tag singen sie traurige Lieder, dann werden sie von Johannes dem Täufer getauft und erlöst.189 Den Leichnam eines toten Kindes soll die Mutter mit ihrer Milch besprengen, damit die nachkommenden Kinder die für dieses Kind bestimmte Milch ihm nicht rauben, sonst schadet sie ihren Augen, Ohren oder ihrem Wachstum. Die toten Kinder werden entweder im Garten oder in einer besonderen Ecke des Friedhofs begraben. Der Vater legt dem Kind ein Lieblingsspielzeug auf das Grab. Der Leichnam wird mit Blumen verziert, das Gesicht verdeckt, der Sarg erst geschlossen, wenn er ins Grab versenkt wird. »Himmeln« heißt im Bayrischen und im Schwäbischen die absichtsvolle Vernachlässigung der Kinder, die zum Tod führt. Sind sie ge-

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tauft, dienen sie im Himmel als Fürbitter für die Eltern: »Drei Kinder im Himmel haben die Macht, das Seelenheil der Eltern zu sichern.« Meist schläft das Kleinkind im Bett der Mutter, dadurch ist es vor vielen Gefahren geschützt, aber nicht vor dem Ersticken unter der Last der eingeschlafenen Mutter oder Amme, der manchmal auch Absicht unterstellt wird. Außerdem ist es äußerst schädlich, wenn die Amme starke Weine trinkt, denn in betrunkenem Zustand könnte sie leicht das Kind vernachlässigen, so dass es, während die Amme eingeschlafen ist, von den Haustieren verschlungen oder aus ihren Händen ins Feuer oder Wasser fallen oder auch in ihrem Bett im Schlaf durch Überliegen erstickt werden kann; auf diese Weise sterben viele Kinder.190

Die Grenzen zwischen der beabsichtigten Kindesaussetzung oder -tötung und dem Tod von Kindern durch Unachtsamkeit oder Unglück sind fließend. Es sei bekannt, schreibt Philipp von Navarra um 1260 in seiner Abhandlung über die vier Lebensalter, dass die Kinder von ihrer Geburt bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres in großer Gefahr des Todes oder des Leidens schweben: die einen dadurch, dass sie, solange sie klein sind, mit den Frauen zusammen in einem Bett schlafen, die anderen durch Feuer, Wasser oder Sturz oder durch andere vielfache Arten des Unglücks, welche zum Teil durch mangelnde Aufsicht, zum Teil durch Unglücksfälle geschehen.191

Trotz zahlreicher Belege für die oppressio infantium, wie das kirchliche Recht das Erdrücken von Kindern nennt, und für das, was Philipp »mangelnde Aufsicht« nennt, war es nach Klaus Arnold »in jedem Fall die Ausnahme«, dass »Kinder im Findelhaus oder bei fremden Ammen durch unsachgemäße Pflege oder bewusste Vernachlässigung umkamen«. Absichtliches Ersticken von Kindern erscheint ihm unwahrscheinlich: »Mütter nahmen ihre Kinder auch im Mittelalter sicher nicht in der Absicht in ihr Bett, sie zu ersticken. Kirchliche Bestimmungen zur »buoß der elltern, die ire kindt ertrucken«192 deuten eher nicht in diese Richtung. Kirchliche Quellen sprechen von einer großen Häufigkeit solcher Fälle. Von einer »häufigen Erscheinung« spricht ein Schreiben Papst Gregors IX. an den Erzbischof von Upsala aus dem Jahr 1232, und noch 1562 heißt es in der

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preußischen Kirchenordnung, Kindeserdrückung komme »in diesen landen, Gott erbarm […] vielmals und gemeiner dann anderswo vor«. Die kirchlichen Autoritäten unterscheiden, ob Eltern »ire kind zuo in nemen in daz bethe« um »redlicher sach willen«, wie »von frost und keltin wegen, oder fürchten ir vor den tieren oder den würmern [Schlangen, B.R.]« – dann sind sie unschuldig – oder aus schuldhafter Nachlässigkeit oder Ungeschicklichkeit: Wäre aber daz sy die kindt zuo in nehmen […] von unordentlicher lieb wegen oder durch tragheyt und falscheit, das sy den kinden die milch und die gespunst dester leichter geben in dem bedt dann darauß, und sturben die kinder also bey inen, so wären sy denn schuldig daran und söllen dreu jar büssen mit fasten und mit beten und mit almousen geben und zuo den heiligen geen […] Auch wär daz die elltern grosses leibs wären und ungeschickt und grob mit sitten und gebärden und die kinder bey inen sturben, so sölten sy fünff jare büssen (oder wären trunken und nit förchten ob die kinder stürben, so sollten sy siben jar büssen). Kleine Kinder, die man leichtiglich mag ertrucken, mügen die elltern nit zuo nehmen on sünde, sterben sy bey in.193

Während die weltlichen Rechtsquellen ambivalent bleiben und wohl erkennen lassen, »dass Kindesmord vorkam; jedoch auch, dass er verpönt war und mehr oder weniger streng bestraft wurde«194 , stellen ihn die kirchlichen Strafandrohungen in »Bußbüchern, kanonistischen Kommentarwerken, Beschlüssen von Diözesansynoden«195 eindeutig unter Strafe. Die Reihe kirchlicher Verbote, Kinder ins Bett zu nehmen, und der Missbilligung der Vernachlässigung von Kindern von Seiten kirchlicher Autoritäten ist lang. Auch das kirchliche Recht macht aber Unterschiede. Ist die Mörderin eines unehelichen Kindes eine paupercula, eine Frau, die ihr Kind aus Armut nicht ernähren kann, so verfügt die Kirche nur die Hälfte der Buße, die sie einer Frau auferlegt, die mit dem Mord nur ihre Unzucht verbergen will. Im weltlichen Recht gibt es im deutschsprachigen Bereich nur zwei Belege für das Verbot, Kinder ins Bett zu nehmen: einen Beschluss des preußischen Landtages von 1525 und die Bestimmung eines Weistums von Hausberg in Österreich: Es sol sich auch ainiche weibsperson, sonderlich aber die kindlpötherin, nit untersteen, ire jungen kinder nächtlicherweil zu innen an das pöth zu legen, da-

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durch ainiches mahl gevehrliche dathen geschehen. Da nun ain solches vorkommen, sollen die täderin an leib und guet gestraft werden.196

Während der gesamten griechischen und römischen Antike war dagegen das ius vitae necisque197 sowohl legitimer als auch illegitimer Kinder das Recht der Väter. In Rom musste das Neugeborene dem pater familias zu Füßen gelegt werden. Hob er es auf [levatio], anerkannte er es als seinen Sohn oder seine Tochter. Hob er es nicht auf, musste das Kind ausgesetzt oder getötet werden. So weist etwa ein Mann namens Hilarion im 1. Jahrhundert n. Chr. seine Ehefrau an, wenn du, was ja gut möglich ist, ein Kind gebären solltest, und es ist eine Junge, so lass es am Leben; Wenn es aber ein Mädchen ist, so setze es aus.

Der griechische Philosoph Aristoteles spricht sich dafür aus, behinderte Kinder auszusetzen: Was das Großziehen von Kindern betrifft, so sollte gelten, dass kein deformiertes Kind großgezogen werden sollte; wo aber die herrschenden Sitten das Aussetzen von Neugeborenen verbieten, sollte eine Grenze für die Erzeugung von Nachkommen gesetzt werden.198

Es gibt auch weniger vornehme Äußerungen. Ein Mann, so ein antiker Autor, könne mit seinen Kindern tun, was er wolle, denn werfen wir nicht auch unsere Spucke, unsere Läuse und dergleichen unnütze Dinge von uns, obgleich sie von uns selbst erzeugt worden sind?199

Noch ein mittelalterlicher Vater meinte, es »kümmere ihn wenig, wenn William [sein Sohn] gehängt werde, denn er habe Ambosse und Hämmer, mit denen er noch bessere Söhne schmieden könne.«200 Das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern, sei nicht dem Zorn zuzuschreiben, meint der Römer Seneca, sondern der Vernunft: Tolle Hunde bringen wir um; einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, und an krankhaftes Vieh, damit es die Herde nicht anstecke, legen wir das Messer, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich sind und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. 201

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Kindesmord war in der Antike nichts Unrechtmäßiges und wurde trotz christlicher Verbote im Mittelalter fortgesetzt, zumindest was die illegitimen Kinder betrifft. Die Kinder wurden weggelegt, sie »verunglückten« oder sie wurden »Totammen« übergegeben, die Mittel und Wege wussten, wie man »Kinder der Sünde« unauffällig ums Leben bringt: Dass man sie nach einem heißen Bad der kalten Luft aussetzte; dass man ihnen zu essen gab, was Magen- und Darmkrämpfe verursachte; dass man Gips in ihre Milch mischte oder sie plötzlich mit Nahrung vollstopfte, nachdem sie zwei Jahre lang überhaupt nichts bekommen hatten. 202

Darüber hinaus berichtet Lloyd deMause von erschreckenden Gebräuchen der absichtlichen Verletzung oder Verstümmelung von Kindern, z.B. um sie besser zum Betteln gebrauchen zu können; von so makabren Unsitten, wie dem Hochwerfen oder einander Zuwerfen von gewickelten Kindern wie Spielbällen; von sinnlosen Abhärtungsmethoden mit eiskaltem Wasser. Auch dabei konnten Kinder zu Tode kommen. »Fast die Hälfte der Kinder kommt in der Kindheit durch falsche Behandlung oder Nachlässigkeit um«, so ein Kinderarzt aus dem 18. Jahrhundert. Im Altertum gab es den regelrechten Verkauf von Kindern als Sklaven oder ihre Hingabe als Geiseln, was ihre Verstümmelung oder Tötung mit sich bringen konnte. Der Kindheitshistoriker Klaus Arnold betont, dass das Recht der Kindestötung sowohl in der griechischen als auch in der römischen Antike »nicht mit der geübten Wirklichkeit gleichzusetzen« sei,203 dennoch sei dieses Recht eindeutig belegt, wobei in der Praxis vor allem »missgestaltete« Kinder davon betroffen gewesen seien. Kinder, deren Aussetzung beschlossen war, brachte man in Rom zur columna lactaria204 auf dem Gemüsemarkt; man rechnete dabei auf das Mitleid der Frauen, die diesen Markt besuchten und sich der Findlinge annehmen sollten.205 In Bezug auf die Germanen berichtet dagegen Tacitus: »Die Zahl der Kinder zu beschränken oder eines der nachgeborenen zu töten, gilt ihnen als Schandtat.«206 Eine Feststellung, die wohl zu deutlich von dem Interesse bestimmt ist, den dekadenten Römern die sittlich hochstehenden Germanen als Spiegel vorzuhalten, als dass sie historischen Ansprüchen genügen könnte. Tatsächlich ist die Kindestötung nach germanischem Recht erlaubt. »Für das frühe Mittelalter gibt es bei den germanischen Volksstämmen vor der Christianisierung eindeutige Hinweise auf eine Praxis der Kindestötung, die insbesondere Mädchen bedrohte.«207 Das friesische Recht gestattete der

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Mutter die Tötung ihres neugeborenen Kindes, und die Isländer machten bei ihrem Übertritt zum Christentum noch im Jahr 1000 das Recht, Kinder auszusetzen – neben der Erlaubnis, weiterhin Pferdefleisch zu essen – zur Bedingung. Die Entscheidung über Leben oder Tod des Kindes stand auch hier dem Vater zu. Hob er das Kind vom Boden auf und erhielt es seine erste Nahrung durch die Mutter, durfte es nicht mehr getötet werden. Während in Rom die Aussetzung von Kindern so vorgenommen wurde, dass das Kind möglichst gefunden werden konnte, bedeutete sie im germanischen Bereich den Tod des Kindes. Rührende Geschichten von ausgesetzten Kindern, die gefunden und gerettet wurden, haben – von Moses über Ödipus bis Romulus und Remus – in der klassischen Antike eine lange Tradition und werden – von Beowulf bis Hänsel und Gretel oder Schneewittchen – auch bei den Germanen erzählt. In der rauen Wirklichkeit aber wurden nur die Kinder gerettet, die in den bereits früh (ab 600) belegten Findelhäusern der Klöster oder Kirchen abgelegt wurden. Die bis ins 19. Jahrhundert übliche »Drehlade« ist erstmals für das Ospedale del Santo Spirito in Rom belegt, das 1198 von Papst Innozenz III. errichtet wurde.208 Das Christentum hat die Kindestötung von Anfang an bekämpft. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion wird diese Position auch staatliches Recht. Im Jahr 347 erklärt Kaiser Valentinian III. die Kindestötung zum Mord. In der Einführung zu seinem Buch »Das fremde Kind« weist Dieter Richter auf eine bedeutsame Unterscheidung hin, die »wo es um Kinder geht, besonders leicht vergessen zu werden« scheint: die Unterscheidung von Kinderleben und Kindheitsbild. »Kinderleben« meint die gesellschaftliche Wirklichkeit von Kindern, ihr Leben und Treiben an einem bestimmten Ort; »Kindheitsbild« meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe, oder auch ein Einzelner von Kindern macht (und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber »wirklichen« Kindern durchaus beeinflussen können). 209

Die Geschichte der Kindheit steht uns grundsätzlich auf keine andere Weise zur Verfügung als in solchen Bildern, die als »Geschichten, Bilder, Urkunden, Museumsbestände etc.« zugänglich sind und »der Wirklichkeit, von der sie berichten, ferner oder näher« stehen, aber »niemals […] mit ihr identisch« sind.210

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Die Erwachsenen, die die Bilder von Kindheiten kreieren und tradieren, sind stets Eltern, Lehrer-/innen, Erzieher-/innen, Priester-/innen, Politiker-/innen, Philosoph-/innen, Ideolog-/innen, kurz mit ihrem Gegenstand auf eine emotionale, interessierte, programmatische Weise verbundene Personen, die – und das ist für jede denkbare Wirklichkeit von Kindheit unausweichlich – stets auch von und für sich sprechen, wenn sie von Kindern reden. Kind und Kindheit sind Bezeichnungen einer Beziehung innerhalb der generativen Differenz Erwachsene – Heranwachsende, oder wie es der Systemtheoretiker Dieter Lenzen ausdrückt: Ohne Kinder gibt es keine Erwachsenen und umgekehrt.211 Selbst die völlig ahistorische Wesensbestimmung von Kindheit von Rita Süßmuth, besser bekannt als ehemalige deutsche Bundestagspräsidentin, nach der »Erziehbarkeit, Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungswilligkeit Grundzüge kindlichen Menschseins ausmachen«, verortet Kindheit im Verhältnis der Generationen, wenn auch auf eine selbst für die 1970er Jahre, in denen der Beitrag erschienen ist, befremdlich konservative Weise: »Allen Phänomenen, Lebensäußerungen und Verhaltensweisen des Kindes und Jugendlichen«, schreibt Süßmuth, ist »die Tatsache gemeinsam, nicht erwachsen zu sein.«212 Während Süßmuth eine Positionierung von Kindheit im Gefüge der Generationen als Wesen von Kindheit schlechthin missversteht, muss Geschichte der Kindheit als eine Geschichte von Kindheitsbildern in einer Galerie wandelbarer Erwachsenen-Kind-Beziehungen aufgefasst werden. Zu welchen Themen in welchen Zeiten sich diese Bilder hängen lassen, welche Verbindungen und Herleitungen sich zwischen ihnen ergeben und welche Brüche, Überraschungen und Unverständlichkeiten diese Bildersammlung bereitstellt: Das ist der Stoff, aus dem die Geschichte der Kindheit besteht. Gesamtsichten der Kindheitsgeschichte unterscheiden sich je nach dem eingenommenen Blickpunkt erheblich. Den Ton gibt immer noch die nie offen ausgetragene Kontroverse zwischen dem französischen »Sonntagshistoriker« (Eigeneinschätzung) Philippe Ariés213 und dem amerikanischen Psychohistoriker Lloyd deMause214 an. Beide Bücher lösten eine erhebliche Verstörung bei pädagogischen Wissenschaftlern-/innen und praktischen Pädagogen-/innen aus, die bis heute anhält. Die Frage nach dem Zusammenhang von Kindheit und Gesellschaft war gestellt: als Frage nach den unterschiedlichen Kindheiten in der Geschichte der Kinder. Am Horizont der Geschichte der Kindheit dämmerte die Ahnung herauf, dass die Ordnung der Erziehung auf den Kopf gestellt werden könnte: dass es

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Erziehung nicht gebe, weil es Kinder gibt, sondern Kinder, weil es Erziehung gibt. Nach Ariés ist Kindheit im modernen Sinn als inniges Verhältnis zwischen Kindern und Eltern und als von Erziehung und Schule geprägter Lebensabschnitt eine Erfindung des 17. Jahrhunderts. Vorher war die Kindheit kurz wie das Leben, die besondere Behandlung der Kinder als »Kinder« im Unterschied zu den Erwachsenen endete bereits nach dem »Hätschelalter« des Säuglings: »Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, d.h. auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt«.215 Spätestens mit sieben Jahren traten die Kinder »in die große Gemeinschaft der Menschen ein, teilten ihre Freunde, die jungen wie die alten, die täglichen Arbeiten und Spiele mit ihnen. […] Diese mittelalterliche Zivilisation hatte die paideia der Alten vergessen und wusste noch nichts von der Erziehung der Modernen.«216 Den äußeren Verhältnissen entsprach das innere Verhalten der Erwachsenen gegenüber den Kindern, das Ariés im Unterschied zur hochgradigen modernen Gefühlsintensität als »emotionale Neutralität« charakterisiert, als eine gewisse »Gleichgültigkeit«.217 Damit erklärt er sich etwa das bis in das 16. Jahrhundert – mit Ausnahme des Jesuskindes – beobachtbare weitgehende Fehlen von Kinderpotraits in der Malerei. Die Vorstellung, das Bild eines Kindes zu bewahren, ob dieses nun am Leben geblieben und erwachsen geworden oder aber im zarten Alter gestorben war, kannte man nicht. Im ersten Falle war die Kindheit nur eine bedeutungslose Übergangszeit, die man nicht im Gedächtnis zu behalten brauchte; im zweiten Falle, d.h. wenn das Kind gestorben war, fand man nicht, dass dieses kleine Ding, das allzu früh wieder aus der Welt verschwunden war, des Andenkens würdig sei: dafür gab es zu viele, die unter Schwierigkeiten am Leben erhalten werden mussten!218

Entscheidend ist die Bewertung, die Ariés mit dieser Kindheit vor der Erfindung der Kindheit verbindet: Die mittelalterliche und vormoderne Kindheit ist für ihn die glücklichere Kindheit, in der Kinder eingebettet sind in die vielfältige Sozialität der großen Familien, in die erfahrungsreiche lebensernste Gesellschaft der Erwachsenen, wie sie für sich ist und nicht künstlich für Kinder gemacht wird. Erst durch den Erziehungseifer

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der bürgerlichen Familie und der Schule werden die Kinder aus dem geselligen Verband vormodernen Zusammenlebens von Eltern, Kindern, Verwandten, Freunden, Einheimischen und Fremden verbannt in das, was Ariés »pädagogische Quarantäne« nennt: eine eigens für sie geschaffene Erziehungsprovinz außerhalb des Lebens der Erwachsenen. Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die Schule hat das einstmals freie Kind in den Rahmen einer zunehmend strengeren Disziplin gepresst, die im 18. und 19. Jahrhundert in die totale Abgeschlossenheit des Internats münden wird. Die Besorgnis der Familie, der Kirche, der Moralisten und der Verwaltungsbeamten hat dem Kind die Freiheit genommen, deren es sich unter den Erwachsenen erfreute. Sie hat ihm die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, dass wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte. 219

Im krassen Gegensatz dazu ist für Lloyd deMause die Geschichte der Kindheit »ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in die Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht werden.«220 Je weiter wir uns der Gegenwart annähern, so deMause im Gegenzug, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder nicht wehrlose Objekte negativer Projektionen und abgewehrter Ängste Erwachsener sind, sondern emphatisch, als in ihrer – kindlichen – Subjektivität wahr- und ernst genommene Personen akzeptiert werden. Der Streit um diese beiden gegensätzlichen Konzeptionen der Geschichte der Kindheit dauert an. Kindheitshistoriker-/innen und Pädagogen-/innen haben sich als Parteigänger oder Gegner der einen oder anderen Sichtweise deklariert, mehrheitlich allerdings neigen sie der Position von Philippe Ariés zu. In der Einleitung zur zweiten Auflage seines Buches gibt dieser manchen Kritikern recht: »Wenn ich dieses Buch heute konzipieren müsste, wäre ich wohl besser gegen die Versuchung gefeit, einen absoluten Ursprung, einen Nullpunkt zu bestimmen.«221 Und er räumt ein, dass er den Leiden der Kinder im Mittelalter zu wenig Beachtung geschenkt hat, allem voran dem bis weit in die Neuzeit hinein geduldeten

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Kindesmord. DeMause dagegen hält bis heute an seiner Theorie von Generation zu Generation abnehmender negativer Projektionen fest, ohne zu beachten, dass mit dem Beginn der Pädagogisierung der Kindheit eine neue Form von Projektionen auf den Plan tritt: Positive Wunschprojektionen, die sich auf das Kind richten und es – so sehr es seit Rousseau in seiner Eigenart und seinem Eigenwert anerkannt wird – tendenziell zum Objekt pädagogischer Kontrolle machen. Abseits dieser Kontroverse lassen sich dennoch einige Orientierungsmarken einer Geschichte der Kindheit – der Kindheitsbilder, nicht zu vergessen – des europäischen Kulturkreises ausmachen. Geschichtlichkeit der Kindheit meint Geschichte des Wandels des Kindheitsstatus im Unterschied bloß zum Wandel der Lebensverhältnisse von ansonsten gleich bleibenden Kindern. Die Existenz einer ahistorischen Kindheit ist, so sehr die Historiker und Psychologen auf das »spielende«, das »erziehungsbedürftige« oder das »kompetente« Kind rekurrieren mögen, ein künstliches Konstrukt. Der Rahmen der gesellschaftsmöglichen Vorstellungen und Vorschriften für die höchst unterschiedliche Altersgruppe, die jeweils Kindheit genannt wird, kann nicht anthropologisch fixiert werden, sondern bleibt gerade anthropologisch offen. Der Wandel reicht von der dezidierten Unterscheidung und Abgrenzung dieser Lebensphase bis zu ihrer Einbindung und Vermengung mit anderen Lebensaltern und muss für jede Epoche neu erforscht werden, weil er in jeder Epoche neu gelebt wurde. Gerade das – und nicht die Definition eines ewig Kindlichen – ist die Aufgabe der Geschichte der Kindheit. Die wissenschaftliche, erziehungspraktische und jedenfalls die populärwissenschaftliche Kindheitsdebatte läuft dagegen Gefahr, Kindheitsgeschichte nicht oder nur als museale Raritätensammlung zuzulassen und die Kindheit im modernen Sinn absolutzusetzen. Wenn etwa das »Verschwinden« der Kindheit konstatiert wird,222 geschieht dies mit einem kulturpessimistischen Unterton, der nicht neutral eine eben statthabende Veränderung feststellt, sondern einen »Verlust«, die Einbuße eines unveräußerlichen Elementes menschlicher Existenz. Ein geschichtliches Konzept von Kindheit, das davon ausginge, dass diese vielfältigen Wandlungen unterliegt, hat sich – trotz aller Rückkehr zur Geschichte – bei den Pädagogen und, noch verwunderlicher, bei den Historikern noch keineswegs generell durchgesetzt. Die nachantike europäische Kindheitsgeschichte wird durch eine große Wende zwischen der alten und der neuen Gesellschaft charakterisiert, die

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im Wandel von einer geringen Differenzierung zwischen Kindheits- und Erwachsenenstatus zur Etablierung dieser Differenz als entscheidendes gesellschaftliches Strukturprinzip besteht. Bis gegen das 18. Jahrhundert überwiegen die mit dem feudal-patriarchalischen Gesellschaftstyp verbundenen Einstellungen und Praktiken, danach die mit dem bürgerlichen Gesellschaftstyp einhergehenden. Dazwischen liegt eine längere Zeit des Übergangs, in der ältere Ansichten mit Zähnen und Klauen verteidigt und neuere mit revolutionärem Impetus verfochten werden. Unter den Bedingungen feudaler Gesellschaftsstrukturen war der frühe Eintritt der Kinder in das Erwachsenenleben und die Unterordnung der Kinder unter die Regeln der Familienherrschaft vorrangig gegenüber ihrem Alter und ihrem Wert als unverwechselbare individuelle Personen. Aufgrund der insgesamt vermischteren Lebensformen und der Kürze der Lebensspanne werden Kinder in der alten Gesellschaft von Anfang an enger in das Lebensspektrum der Erwachsenen einbezogen, es gibt weniger eigens für sie reservierte und auf sie zugeschnittene Lebensbereiche und kaum welche, von denen sie ausgeschlossen sind. Darauf deutet sowohl die breite Handhabung beim Gebrauch der Termini für die einzelnen Lebensalter hin als auch die hohe Toleranz gegenüber der Alltagsgefährdung von Kindern, die nur rudimentäre Ausstattung von Kindern mit Spielzeug und sonstigen »kindgerechten« Vorkehrungen und Utensilien sowie der beinahe völlige Mangel an differenzierten Überlegungen zur Behandlung und Erziehung von Kindern. Diese Charakteristik der vormodernen Epoche spiegelt sich nicht nur in den äußeren Verhältnissen, sondern auch in deren innerpsychischen Entsprechungen wider. Die Gefühle Erwachsener gegenüber Kindern, einschließlich der Gefühle der Mütter den Neugeborenen gegenüber, sind weniger fixiert und hängen stärker von Lebensumständen, sozialen Schicksalen und von dem ab, was üblich ist. Dafür spricht sowohl die weite Verbreitung der Kindestötung und des Ammenwesens bis in das 18. Jahrhundert als auch der Einfluss der Überlastung der Mütter durch Arbeit bzw. ständige Schwangerschaft auf die Haltung gegenüber ihren Kindern. Die These Elisabeth Badinters, dass »Mutterliebe« kein gleich bleibender natürlicher Instinkt, sondern ein geschichtlich wandelbares Gefühl ist, lässt sich mit den historischen Daten besser illustrieren als ihr Gegenteil. Die Zuschreibung dieses Gefühls als frauenspezifische biologische Konstante erweist sich als eine gesellschaftliche Projektion, die mit der Positionierung der Frau als Familienwesen seit dem 18. Jahrhundert zusammenhängt.223

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In der bürgerlichen Epoche überwiegt dagegen die gesellschaftliche Form akzeptierender Fürsorge verbunden mit strenger erzieherischer Ambition. Die Geschichte der Kinder nach der großen Wende ist eine Geschichte der auf sie gerichteten pädagogischen Ideen, Methoden und Institutionen. Ab dem 18. Jahrhundert beginnen sich immer mehr gezielte Pädagogiken und Einrichtungen speziell auf Kinder und Jugendliche zu konzentrieren, es wird geradezu eine Wahnvorstellung der aufgeklärten Gesellschaften, Kinder aus ihrer natürlichen Unbedarftheit oder Verderbtheit zu sittlicher Reife und Vernunft zu führen. Träger dieser Pädagogisierung der Kindheit sind die bürgerliche Familie und die Schule. In den Familien richtet sich die Anstrengung, gegen die Privilegien des Adels und die Konkurrenz aus der eigenen Schicht zur ökonomisch-kulturellen Hegemonie zu gelangen, neben der Tugend- und Leistungszumutung, der sich die Erwachsenen selbst aussetzen, auch und vor allem auf die Kinder. Sie sollen das Erbe der bürgerlichen Unternehmer fortsetzen und vermehren. »Vor allem empfehle ich Dir«, schreibt um 1750 ein besorgter Vater an seine Ehefrau, was die Erziehung der Kinder angeht, keine Minute zu verlieren; verdopple oder verdreifache die täglichen Lektionen, damit sie vor allem lernen, sich richtig zu halten, zu bewegen und zu essen […]. Wenn ich nichts anderes hätte, würde ich mein letztes Hemd verkaufen, um meine Kinder auf dem Niveau aller anderen Kinder ihres Alters und ihres Standes zu sehen. 224

Und er formuliert diese Erziehungsambition – typisch für das bürgerliche Kindheitsverständnis – auch gleich als Verhaltensauftrag an die Kinder. »Sie sollen nicht geboren worden sein, um uns durch ihre Unwissenheit und ihr Betragen Schande zu bereiten. […] wenn ihnen jedoch ihrerseits an meinem Glück liegt, so müssen sie sich anstellig zeigen und die Zeit nutzen.«225 Der neuen Besorgtheit der Eltern hat eine neue Beflissenheit der Kinder zu entsprechen, die, wie Katharina Rutschky in ihrer »Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung« gezeigt hat, mit strengen Strafen und unbeugsamer Erziehungsgewalt eingefordert wird.226 Gegenüber Versuchen einer Bewertung der unterschiedlichen Epochen der Kindheit auf der Dimension »glücklicherer« versus »unglücklicherer« Kindheiten ist äußerste Vorsicht geboten. Die einseitige Verklärung des Mittelalters wird nur durch eine weitgehende Aussparung der sozialen Not und der Gewalt gegen Kinder möglich, das Lob der Fortschritte durch die

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Pädagogik unterschlägt deren disziplinierenden Charakter und Absolutheitsanspruch. Die Durchsetzung einer pädagogischen Auffassung von Kindheit hat den konkreten Kindern zwar ein Stück ihrer vorherigen »Freiheit« im Sinne einer geringeren gesellschaftlichen Reglementierung weggenommen. Allerdings: Diese »Freiheit« war auch eine Freiheit zur Willkür unberechenbarer Erwachsener, zur unerträglichen Not und für viele Kinder – zum Tod. Sie bestand nicht gegenüber der absoluten Autorität der Eltern, die von diesen notfalls mit Gewalt durchgesetzt wurde. Andererseits wurden die enormen Anstrengungen der Erziehung und Bildung von Kindern, die die modernen Gesellschaften unternommen haben, überwiegend nicht im Interesse der Selbstverwirklichung der Kinder, sondern im Interesse ihrer Disziplinierung im Sinne der Erwachsenen oder ihrer Lenkung auf moralisch-abstrakte Bildungsziele hin unternommen. Kinder waren nicht nur Nutznießer dieser Erziehungs- und Bildungsideologie, sondern ebenso sehr auch ihre Opfer. Noch die heutigen Gesellschaften vermögen ihre pädagogische Fürsorge nicht als freies Angebot auf der Basis von Neigung, Interesse und Verlockung zu formulieren, sondern als zwingende Vorschrift und uniforme Verpflichtung. »Kindheit« bedeutet in der europäischen Geschichte kein bloß biophysiologisches Stadium und auch nicht bloß ein soziales Faktum oder ein gesellschaftliches Konstrukt, sondern stets auch eine psychische Dynamik, die bewusste und unbewusste Emotionen der Menschen organisiert. Projektive und substitutive Wünsche und Ängste Erwachsener begleiten in der gesamten Geschichte der Kindheit die Beziehung der Erwachsenen zu den Kindern. Was Erwachsene unter Kindheit verstehen, wie sie Kinder wahrnehmen, wie sie auf sie reagieren und welche Gefühle sie ihnen gegenüber entwickeln, hängt mit ihrer eigenen Existentialität zusammen: Kinder sind Teil erwachsener Psychostrukturen – je jünger ihre Geschichte ist, umso enger und verwobener. Für die meisten Menschen der Gegenwart sind Kindheit und Kinder nicht ein abgetrenntes partielles und damit im Grunde auch entbehrliches Element der persönlichen Existenz, sondern mit dieser selbst untrennbar verbunden, sodass der Verlust dieses Elementes die Integrität der Gesamtexistenz bedroht. Kindesliebe – oder ihr Gegenteil – ist zum unveräußerlichen Bestandteil erwachsener Psychen und Identitäten geworden, einer der Gründe, weshalb Philippe Ariés’ historischer Relativismus bei vielen Kommentatoren auf Ablehnung gestoßen ist: »Kindheit«, ein Konglomerat von Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, Lebenslügen, Aktivitätsmöglichkeiten und -hemmungen Er-

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wachsener, darf nicht verschwinden, selbst die Vorstellung, es habe einmal weniger von ihr gegeben, ist schon bedrohlich. Keiner der großen klassischen Entwürfe der europäischen Pädagogik, der nicht ein gerütteltes Maß solcher Projektionen enthielte: Sei es Jan Komenskys Bildungsenthusiasmus, »die vollständige Kunst, allen alles zu lehren« durch die die gesamte Jugend beiderlei Geschlechtes ohne jede Ausnahme rasch, angenehm und gründlich in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann […]. Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnütze Mühe herrsche, in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe. 227

Sei es John Lockes Psychologie der tabula rasa, die das Kind zum unbeschriebenen Blatt erklärt und damit zum Exerzierfeld der Pädagogik;228 sei es Immanuel Kants Verabsolutierung der Erziehung als einziger Methode der Vermenschlichung: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung«, verkündet der Königsberger Philosoph in seinen Vorlesungen über Pädagogik, »er ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht.«229 Überraschenderweise ist für den Philosophen der Mündigkeit »Zucht« und »Disziplin« wesentlicher Teil von Erziehung, der mündige Vernunftgebrauch ist dem »roh« auf die Welt kommenden Menschen nur durch massiven Erziehungszwang abzuringen; sei es Rousseaus Entfaltung der bonté naturelle nach den Vorgaben einer vom Philosophen entworfenen künstlichen »Natur«, überwacht durch den herzlosen Pädagogen, der emotionslos das rationale Geschäft der Erziehung besorgt; sei es Pestalozzis Rettungsenthusiasmus, der Mythos des einfühlsamen Pädagogen, der über sich spricht, über seine eigenen Gefühle, seine Hoffnungen und Verzweiflungen, und sein, des selbstlosen Retters, notwendiges Gegenüber, das arme, verlorene, verlassene Kind, das ganz klein sein muss, damit sein Pädagoge ganz groß werden kann, »Alles für andere, für sich Nichts«, steht auf seinem Grabstein in Birr; sei es der umfassende pädagogische Kontrollwahn von Philanthropen wie Basedow, Campe, oder Salzmann:

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Wenn […] Kinder gerecht und gut werden sollen, so müssen sie in gänzlicher Entfernung von der gewöhnlichen Gesellschaft, in einem Kreise von unverderbten Gespielen, unter der Aufsicht von lauter guten Menschen erzogen werden. 230

So die Maxime der Philanthropine, hochgelobt von Kant, besucht von den Größen der Zeit, Goethe eingeschlossen. Einzig Herder erschrickt vor dem Ausmaß pädagogischer Gängelung, das dort vorherrscht: »Mir kommt alles schrecklich vor, wie ein Treibhaus, oder vielmehr wie ein Stall voll menschlicher Gänse«, schreibt er, und: Basedow, den »ich persönlich kenne, möchte ich keine Kälber zu erziehen geben, geschweige Menschen«;231 sei es die Vergöttlichung des Kindes im missionarischen Reformenthusiasmus Ellen Keys und ihrer reformpädagogischen Nachfahren von Montessoris kindlicher Selbsttätigkeit in vorgegebenen entwicklungspsychologischen Abfolgen und mit vorgefertigten Lernmaterialien bis zu Steiners krauser kosmologischer Pädagogik und den übrigen jugend- und bildungsbewegten Reformpädagogen-/innen. »An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen!« Mit diesem Zitat aus Nietzsches Zarathustra leitet Ellen Key im Jahr 1900 ihr Buch »Das Jahrhundert des Kindes« ein. »Eurer Kinder Land sollt ihr lieben«, trägt sie den Erwachsenen auf, »das unentdeckte im fernsten der Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen!«232 – »Physisch und psychisch starke und behände Wesen« sollen die Kinder werden, mit rotem Blut, klarem Auge, breiter Brust, Wesen von Selbstvertrauen und Milde erfüllt, den Blick wach für Schönheitsbilder, die Seele sehnend, Mysterien zu durchdringen, die Herzen im Einklang mit den Freuden und Schmerzen dieser wunderbaren Welt pochend. 233

Auch das revolutionäre Pathos der antiautoritären Pädagogik der 1960er Jahre, durch das die ungerechte Welt an ihren Kindern genesen soll, gehört noch in diese Reihe, ebenso die Antipädagogik der 1970er Jahre, die im Namen der Autonomie der Kinder jede Erziehung als Unterdrückung brandmarkt. Alle diese pädagogischen Programmatiken leiden an der Berufskrankheit der Pädagogik und ihrer Vertreter-/innen von Anfang an, jener bisweilen bis ins Wahnhafte sich steigernden Überdehnung und Übertreibung des pädagogischen Ethos, das die Erwachsenen als die allein verantwortlichen Regisseure überwachter oder wie Christa Berg so

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unübertrefflich formuliert hat, »fürsorglich belagerter« Kindheiten234 stilisiert und den Kinder die Last der Rettung der Zukunft auferlegt. Der Wandel der Erwachsenen-Kind-Beziehung in der europäischen Geschichte verläuft zwischen den Polen »Unterwerfung und Gehorsam« versus »Liebe und Fürsorge«. Es sind die unterschiedlichen Gewichte und das unterschiedliche Verhältnis dieser beiden Qualitäten, die im abendländischen Verständnis von Kindern und Erziehung wirksam sind und in wandelnder Verfassung deren unterschiedliche Gesellschaftsformen durchziehen. Die ursprünglich aus dem feudalen Patriarchat, den ökonomischen Zwängen und der physischen Anfälligkeit von Kindern stammende Gefühlsarmut, Unterwerfung und Grausamkeit ihnen gegenüber hat sich in den folgenden Epochen nicht aufgelöst, sondern entsprechend den gesellschaftlichen Veränderungen gewandelt. Während in der römischen Antike noch das Überleben der Kinder davon abhing, ob der pater familias das Neugeborene vom Boden aufhob und damit als seinen Sohn, seine Tochter anerkannte, und die Söhne lebenslang den Vätern untergeordnet blieben, wurde aus der absoluten Gehorsamspflicht gegenüber dem feudalen Vater im frühen Bürgertum eine Ideologie der Nachfolge im bürgerlichen Unternehmertum. Diese Nachfolge war an die Nutzung der individuellen, kreativen Eigenmotivation und -kompetenz der Nachkommen gebunden und konnte deshalb nicht nur über Gehorsam erzwungen werden. Sie sollte durch Entwicklung und Lernen, durch Erziehung und Unterricht gesichert werden. Daraus resultiert einerseits eine positive, auf Zukunftshoffnung ausgerichtete Hinwendung zu den Kindern als »frei« sich entfaltende Individuen. Andererseits bedeutet die Erzeugung dieses freien Individuums eine zivilisatorische, ökonomische und psychische Notwendigkeit, die nicht dem Zufall überlassen werden kann. Darauf begründet sich die Tendenz zu einer totalitären, umfassenden, die kindliche Umwelt lückenlos kontrollierenden Zwangspädagogik, die zugleich einen Ausdruck der ökonomischen Aspiration des Bürgertums als aufsteigender ökonomischer Herrschaftsschicht als auch der mit dieser Aufstiegshoffnung verbundenen Euphorie bzw. Versagensangst darstellt. Die alte Unterwerfung der Kinder unter das feudale Regime der Erwachsenen hat sich weder durch die Hereinnahme der Kindheit in den schützenderen Raum der bürgerlichen Familie überwinden lassen noch durch die Ausweisung dieser Kindheit in die geschlossenen Anstalten einer totalen pädagogischen Kontrolle. Beides sind Variationen der traditionellen Unterwerfungspolitik unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen.

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Der eigentliche Fortschritt in der gesellschaftlichen Verfassung der Kindheit, Kinder nicht ausschließlich als Erfüller der Wunschträume und Albträume Erwachsener zu sehen, sondern als eigenständige Subjekte von Bedürfnissen und Lebensweisen, hat mit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch gar nicht begonnen. Er wurde bestenfalls unter Verschleierung der wahren Verhältnisse behauptet. Die europäische Erziehungslandschaft stellt sich am Übergang zur Gegenwart als Widerspruch zwischen Freiheit und Zwang dar. Der seit der pädagogischen Wende grundlegend neue Anspruch, die Kindern entgegengebrachte fürsorgende Liebe mit der ihnen abgeforderten gesellschaftlichen Anpassung in Einklang zu bringen, ist das entscheidende Dilemma der abendländischen Pädagogik, das bis heute noch nicht wirklich gelöst ist. Auf dieses Dilemma haben im 20. Jahrhundert sowohl die Programmatiker der Reformpädagogen zu antworten versucht als auch die Alternativen, die die antiautoritären Pädagogen und ihre Nachfolger verkünden. Für alle diese Pädagogiken ist eine Grundstruktur von Belang, die die Geschichte der Kindheit und der Erziehung unterschwellig durchzieht. Was weithin als Summe der Absichten und Handlungen gilt, die Erwachsene unternehmen, um Kinder an die erwünschten Verhaltensformen heranzuführen, enthüllt sich bei genauer Betrachtung von einer zusätzlichen Seite her, die den Akteuren weder bewusst ist noch von der wissenschaftlichen Analyse der Erziehung bisher ausreichend berücksichtigt wurde: als Medium einer Selbsttechnik Erwachsener, die in einer auf das Innere der Kinder gerichteten Bearbeitung ihres eigenen Inneren besteht. Erziehungsdebatten sind nur in einer Hinsicht Debatten über die Erziehung der Kinder, in der anderen dienen sie den Erwachsenen zur Selbstfindung, Selbstvergewisserung, Selbstmotivierung, Selbstbeschränkung und Selbstbestrafung angesichts schwierig zu bewältigender eigener Lebensverhältnisse. An ihren Kindern erproben Erwachsene sich selbst als projektierte neue Menschen. In dem Maß, in dem Kinder auf die neuen Verhaltensmuster hin »erzogen« werden können, »lieben« sie sie als Realabstraktionen ihrer Zukunftshoffnungen; in dem Maß, als Kinder sich dieser Erziehung widersetzen, beschuldigen, bestrafen und verwerfen sie sie als obstinate Hinweise auf die Widerständigkeit gesellschaftlicher und individueller Umstände gegen die Einlösbarkeit dieser Hoffnungen. Im Prozess der Erziehung werden permanent Utopien individuellen Erwachsenenglücks in Maßnahmen zur Fabrikation von Kindern als reale Vorausexemplare dieser Utopien umgewechselt. »Ich will ja nur dein Bes-

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tes«, lautet seit langem verräterisch die besorgte und zugleich enteignende Formel für dieses psychopädagogische Tauschgeschäft. Es ist diese untergründige Dynamik der Erziehung, die den durchgängigen Charakter der Übertriebenheit ihrer Projekte und die ebenso durchgängige Bereitschaft zu deren gewalttätiger Durchsetzung ausmacht. Die Hoffnungen erwachsener Menschen bezüglich der Transzendierung ihres kurzen Lebens in die Höhenflüge utopischer Ewigkeiten sind nicht ortlos. Sie haben eine irdische Entsprechung: die Kinder. Die Emanzipation der Kinder aus der Zwanghaftigkeit der an ihnen ausgeübten Selbsterziehung der Erwachsenen ist erst zu erwarten, wenn die Erwachsenen imstande sein werden, auf die Übersteigerung ihrer Lebenshoffnungen zu verzichten und sich einem Pragmatismus zuzuwenden, der sie davon befreit, ihre Kinder zu Schatzkästlein ihrer überzogenen Wünsche oder zu Pestgruben ihrer begrabenen Hoffnungen zu abstrahieren, statt sich zu ihnen als lebendigen, konkreten und wachsend eigenständigen Personen in Beziehung zu setzen. So manches deutet darauf hin, dass die Gesellschaft, in der wir leben, dabei ist, das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen neuerlich in einer Weise umzuordnen, die an vormoderne Zustände erinnert. Die ursächlichen Dynamiken dieses Wandels sind freilich in keiner Weise vormodern, sondern sehr modern: Die umfassende Konsumorientierung des gesamten Lebens bewirkt einerseits, dass Kinder wieder früher und umfassender an der Welt der Erwachsenen teilnehmen, während andererseits eine boomende Freizeit- und Medienindustrie Erwachsenen Unterhaltung nach dem Muster vermeintlich kindlicher Unbekümmertheit anbietet. Die Frage an die Zukunft der Kindheit und der Erwachsenheit könnte lauten, ob das Verhältnis dieser beiden Status nicht im Begriff ist, sich umzukehren. Ob nicht Kinder zunehmend als psychische Stützen und Lebenshilfen für schon aus traditionalen Normen entlassene, aber noch nicht in einer neuen Autonomie angekommene Erwachsene imaginiert werden. Einer der illustrativsten Seismographen für die Veränderung gesellschaftlicher Psychohaushalte ist die Werbung. Seit geraumer Zeit treten dort Kinder als »Betreuer« von Erwachsenen auf. Sie empfehlen ihnen Wundermittel gegen Husten und rauen Hals, sie loben die Wasch- und Kochkünste ihrer Mütter (sofern sie Instant-Industrieprodukte verwenden), sie erweisen sich tolerant gegenüber den kleinen Fehlern der Eltern. Auch mit Angst vor Kindern, die eine solche fürsorgliche Rolle nicht einnehmen, lässt sich nach Auffassung der Werber bereits ein Geschäft machen: In einer seit längerem laufenden Werbeserie der Wiener Städtischen

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Versicherung treten ein Vater und sein kleiner Sohn in immer demselben Rollenspiel auf: Mal hat das Kind ein großes Stück Torte, von dem es dem drängend bittenden Vater nichts abgibt, mal ein Papiertaschentuch, das es dem verschnupften Vater nicht borgt, sondern sich selbst in die Ohren steckt, um sein Schniefen nicht zu hören – mit immer derselben Moral von der Geschicht’: Besser ist es, selbst vorzusorgen – natürlich mit einer Versicherung der Städtischen –, statt auf die Fürsorglichkeit der eigenen Kinder zu hoffen. Noch als zurückgewiesene bleibt die Sehnsucht nach dem für seine Eltern sorgenden Kind ein Wunschpotential, das Eltern eine konsumistische Rationalität unterstellt. Eine aus der historischen Reflexion der Kindheit lernende Pädagogik könnte an der Stelle ansetzen, wo das Generationenverhältnis aufgehört hat, sich als Unterwerfungsverhältnis zu verstehen, und der bislang von dort aus eingeschlagenen Richtung in immer mehr und immer wirksamere Erziehung der Kinder eine Gegenrichtung hinzufügen: das Erwachsenen-Kind-Verhältnis aus der Verabsolutierung des Erziehungsparadigmas und damit aus der Dichotomie zwischen Strenge und Liebe zu lösen und für ein lebendiges Interaktionsparadigma zu öffnen, das der Unterschiedlichkeit zwischen Gleichen Rechnung trägt – der unterschiedlichen Selbständigkeit von Kindern und Erwachsenen, ihrer unterschiedlichen Angewiesenheit auf Unterstützung und Hilfe, ihrer unterschiedlichen Eingefügtheit in Systeme von Zwängen und Regeln, und ihrer kaum unterschiedlichen Angewiesenheit auf Annahme, Verständnis und kritische Solidarität in einer Gemeinschaft, sei es die Familie in all ihren Formen, die Gruppe der Gleichaltrigen, die für die Erwachsenen nicht weniger wichtig ist als für die Kinder, oder jenes Gemisch von Alt und Jung, Einheimisch und Fremd, das für die europäischen Gesellschaften einmal prägend war, und für das die gegenwärtigen Phobien so wenig Raum lassen.

6 G E WALT Das Bemerkenswerte an den Veränderungen der Gewalttätigkeit und Gewaltbereitschaft ist deren bis in das 17. Jahrhundert reichende Normalität, die Selbstverständlichkeit, die Beiläufigkeit, die Alltäglichkeit, in gewisser Weise alltägliche Notwendigkeit dieser Gewalttätigkeit. Robert Muchembled zitiert in seiner Analyse zivilisatorischer Veränderungen vom 15. bis

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18. Jahrhundert aus einem Gerichtsprotokoll eine harmlose Gassenszene, die schlagartig tödlich endet: Ein Händler, Bürger von Tournai, der sich am 27. Mai 1697 mit einem Wagen auf die Reise gemacht hat, gelangt gegen 6 Uhr abends vor ein Wirtshaus in einem Dorf. Da kommt ein Mann in Fuhrmannskleidung nahe an ihm vorbei und schickt sich an, mit lautem Getöse einen Wind oder Hinterfurz zu lassen, worüber der Bittsteller [der um Begnadigung bittende Städter], der sich beleidigt fühlt, ihm sagt: »Das ist doch wohl sehr unanständig, dergleichen unter der Nase anständiger Leute zu machen.« Der Betreffende antwortet: »Deswegen habe ich es ja gemacht«, bevor er von der Hand des Beleidigten – welcher beteuert, ihn nie zuvor gesehen zu haben – zu Tode kommt. 235

Norbert Elias hat als einer der ersten die Bedeutung der Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit als Prinzip der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der privaten Existenz im Mittelalter erkannt und dokumentiert: »Raub, Kampf, Jagd auf Menschen und Tiere, das alles gehörte hier unmittelbar zu den Lebensnotwendigkeiten, die dem Aufbau der Gesellschaft entsprechend offen zutage lagen. Und es gehörte demgemäß auch für die Mächtigen und Starken zu den Freuden des Lebens.«236 In einer Kriegshymne, die dem Minnesänger Bertram de Born zugeschrieben wird, heißt es: Je vous dis, que tant ne m’a saveur manger ni boire ni dormir que si j’entendess crier: »A eux!« des deux côtés et que j’entends hennir les chevaux sans cavaliers sous l’ombrage et que j’entends crier: »Aidez! Aidez!« et que je vois tomber par les fossés petits et grands sur l’herbage et que je vois les mortes aux flancs percés par le bois des lances ornées de bannièrs. 237

Gefangene, insbesondere die Ärmeren, für die kein Lösegeld zu erwarten ist, werden gefechtsuntauglich gemacht: Par ma tête, sagt der König [in einem ma. »Chanson de gestes«, B.R.], Tout chevalier que j’aurai pris, je le honnirai et lui coupe rai le nez ou les or reilles. Si c’est un ser gent ou un marchand on le privera du pied ou du bras. 238

»Er verbringt sein ganzes Leben damit«, heißt es in einer mittelalterlichen Chronik von einem Ritter,

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zu plündern, Kirchen zu zerstören, Pilger anzufallen, Witwen und Waisen zu unterdrücken. Er gefällt sich beson ders darin, die Unschuldigen zu verstümmeln. In einem einzigen Kloster, dem der schwarzen Mönche von Sarlat, findet man 150 Männer und Frauen, denen er die Hände abgeschlagen oder die Augen ausgedrückt hat. Und seine Frau ist ebenso grausam. Sie hilft ihm bei seinen Exekutionen. Ihr macht es selbst Vergnügen, die armen Frauen zu martern. Sie ließ ihnen die Brüste abhauen oder die Nägel abreißen, so dass sie unfähig waren zu arbeiten. 239

Elias verweist darauf, dass derlei Grausamkeiten nicht gesellschaftlich tabuisiert waren. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude. Bis zu einem gewissen Grade drängte sogar der gesellschaftliche Aufbau in diese Richtung und machte es notwendig, ließ es als zweckmäßig erscheinen sich so zu verhalten. […] Das Gros der weltlichen Oberschicht des Mittelalters führte das Leben von Bandenführern. 240 Erst recht galt dies für die zum Kampf ausgebildeten Ritter: Der Krieger des Mittelalters liebte den Kampf nicht nur, er lebte darin. Er verbrachte seine Jugend damit, sich auf Kämpfe vorzubereiten. Wenn er mündig war, schlug man ihn zum Ritter, und er führte so lange Krieg, als es seine Kräfte nur irgend erlaubten, bis ins Greisenalter hinein. Sein Leben hatte keine andere Funktion. Sein Wohnhaus war eine Wache, eine Festung, Angriffs- und Verteidigungswaffe zugleich. Wenn er zufälligerweise, wenn er ausnahmsweise im Frieden lebte, brauchte er wenigstens noch die Illusion des Krieges. Er schlug sich in Turnieren, und diese Turniere unterschieden sich oft von wirklichen Kämpfen nur wenig. 241

Schauplatz von Gewalttätigkeit war nicht nur der Krieg, sondern der gesamte Alltag der mittelalterlichen Menschen. In Paris gehörte es während des 16. Jahrhunderts zur Festesfreude des Johannestages, ein oder zwei Dutzend Katzen lebendig zu verbrennen. Diese Feier war sehr berühmt. Das Volk versammelte sich. Festliche Musik spielte auf. Unter einer Art von Gerüst wurde ein mächtiger Scheiterhaufen errichtet. Dann hing man an dem Gerüst einen Sack oder Korb mit den Katzen auf. Sack oder Korb fingen an zu glimmen. Die Katzen fielen in den Scheiterhaufen und verbrannten,

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während sich die Menge an ihrem Schreien und Miauen erfreute. Gewöhnlich waren König und Hof anwesend, und zuweilen ließ man dem König oder dem Dauphin die Ehre, den Scheiterhaufen anzuzünden. 242

Nicht weniger grausam gestalteten sich öffentliche Hinrichtungen und die damit verbundenen peinlichen Martern. Gewalttätigkeit, Gewaltbereitschaft und Gewaltlust gehörte nicht erst im Mittelalter zu den grundlegenden Verhaltensformen der europäischen Kulturen. In den »zahllosen Detaileinstellungen« der Reality-Epen der Antike inszeniert und deutet sich »Mordlust (und Lust an der Beschreibung des Mordens) als kollektives Vergeltungsritual«. Wenn der Terminator Achill das Schlachtfeld betritt, »kommt es zu rauschartigen Tötungsorgien, die Gegner werden zerstückelt, die Achsen der Kampfwagen glänzen und drehen sich im Blut der Feinde«.243 Nachdem er Iphition, dem Sohn des Otrynteus, mit einem einzigen Hieb den Kopf gespalten hat, und »der Achäer Gespanne zerschnitten ihn mit ihren Reifen«244 , knöpft sich Achill der Reihe nach die tüchtigsten Kämpfer der Trojer vor: Demoleon aber als nächstem, Stieß an der Schläfe den Helm er durch mit den erzenen Wangen. Ganz hindurch und zerbrach den Schädel: vom Blute besudelt Ward das ganze Gehirn: den Stürmenden zwang er so nieder. Den Hippodamas dann, der vor seinem Wagen hersprang Und vor ihm flüchtend davonlief, stieß er den Speer in den Rücken. Der verhauchte sein Leben und brüllte so, wie der Stier brüllt, Der als Opfer gezerrt wird zum helikonischen Herrscher. 245

Polydoros, Sohn des Priamos, ist der nächste: Bis gegenüber am Nabel drang durch die Spitze der Lanze Klagend sank er ins Knie, eine finstere Wolke umfing ihn Hingesunken hielt er mit den Händen seine Gedärme. 246

Nachdem Hektor, Achills Gegenspieler, ihm durch eine Verneblungstaktik Apolls knapp entkommen ist, gerät der Held völlig außer Rand und Band. Es folgt eine Orgie der Gewalt, die jedem Actionfilm Ehre machen würde:

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Sprach es und stieß dem Drypos den Speer in die Mitte des Nackens; Und der stürzte ihm vor die Füße. Den ließ er da liegen, Doch den Demuchos, Sohn des Philetor, den schönen und großen, Traf er ins Knie mit dem Speer und hielt ihn zurück, doch als nächstes Schlug er zu mit dem großen Schwert und nahm ihm das Leben. Gegen Laogonos drauf und Dardanos, Söhne des Bias, Stürmte er an und stürzte die beiden vom Wagen zu Boden, Den mit dem Speere treffend, den nah mit dem Schwerte erschlagend. Tros dann, Alastors Sohn, der entgegen ihm kam und die Knie Flehend umfasste, ob er ihn verschone und lebend entlasse Und nicht töte aus Mitleid vielleicht mit den Altersgenossen; Ach, der Tor, er wusste es nicht, dass vergeblich er flehte; Denn nicht heiteren Mutes und auch nicht milde gesonnen War der Mann sondern wütend. Als Tros ihm die Knie umfasste, Um ihn flehend zu bitten, stieß der ihm das Schwert in die Leber. Und heraus glitt die Leber, das schwarze Blut aber füllte Darunter den Bausch des Gewandes; und Dunkel umhüllte die Augen Dem des Lebens Beraubten. Dem Mulios stieß der Pelide Mit dem Speere ins Ohr; und gleich aus dem anderen Ohre Drang die eherne Spitze. Dem Echeklos, Sohn des Agenor, Trieb er das Schwert mit dem Knauf hinein in die Mitte des Kopfes; Warm ward das ganze Schwert vom Blute; aber die Augen Beide ergriff der purpurne Tod und das mächtige Schicksal. Und dem Dekalion dann, wo den Ellenbogen die Sehnen Halten zusammen, durchbohrt er dort mit eherner Spitze Seinen Arm; der blieb am Arme gelähmt ihn erwartend, Vor sich sehend den Tod; der stieß mit dem Schwert in den Nacken, Warf dann das Haupt weit weg mit dem Helme; und aus den Wirbeln Spritzte das Rückenmark; so lag er gestreckt auf dem Boden. 247

Das Wüten ist noch lange nicht zu Ende. Nicht ehe Rhigmos »das Erz im Bauche« steckt und Areithoos, sein Gefolgsmann »in den Rücken mit scharfem Speer« getroffen ist, nicht ehe der Held wie »loderndes Feuer« über seine Feinde kommt und tobend »mit der Lanze gleich einem Dämon überall tötend« sie wie die Ochsen beim Drusch »auf wohlgerichteter Tenne« zermalmt, und die Erde »vom Blute strömt«.248 Am Ende ist das Schlachtfeld ein einziges Meer von Blut:

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Also stampften die Rosse, gelenkt vom stolzen Achilleus, Da über Leichen zugleich und Schilde; vom Blut war die Achse Untenher ganz bespritzt, um den Wagenkorb auch die Geländer, Gegen die von den Pferdehufen schlugen die Tropfen Und von den Reifen der Räder; so strebte er, Ruhm zu gewinnen, Peleus’ Sohn, die unnahbaren Hände besudelt mit Mordblut. 249

Die in der Ilias vom Geschehen her nicht erzwungenen Darstellungen der Details der Grausamkeit und Zerstörung, das spritzende Blut, die herausquellenden Gedärme, die durchbohrten Ohren, durchschnittenen Sehnen, die austretenden Gehirne, der Matsch aus Blut und zermalmten Körpern sind keine zufälligen Ausgeburten dichterischer Übertreibung oder krankhafter Phantasie. Sie erfüllen die Anforderungen der Volkserziehung im Zeitalter der Erlangung, Verteidigung und Erhaltung der Macht durch Krieg und Sieg. Sie bilden das ästhetische Zünglein an der Waage einer auf Unterwerfung und Unterdrückung der Unterlegenen gegründeten Kultur des Rechts der Stärkeren. Je weniger die staatliche Ethik der Gewalt mit privater Moral zur Deckung gebracht werden kann, desto mehr muss das Gewicht auf der einen Seite, der Seite des Tötens, gesteigert werden. Deshalb das Übertriebene, das Rasende an der Darstellung der Gewaltszenen. Durch die detailgetreue Wiedergabe unmenschlicher Tötungsorgien, ausgeführt von moralisch unantastbaren Helden, erreicht Homer, was als endgültige Botschaft bei seinen Lesern oder Hörern ankommen soll: Feinde sind auf jede Weise zu verachten, zu degradieren, zu entehren, zu unterdrücken und zu vernichten, und jede Art der Unterdrückung besiegter Völker ist moralisch gerechtfertigt. Kein Funken Mitleid ist ihnen gegenüber am Platz, jede Art von Grausamkeit dagegen geboten. Eine Botschaft, die sich wohl auch nach Innen richtet, den Eigenen zeigend, welches Schicksal sie erwartet, wenn sie sich der Politik der Vereinigung der bisher getrennten griechischen Stämme zum Volk der Hellenen entgegenstellen. Die übertriebene, unrealistische Darstellung der Gewalt im Rahmen einer realen oder als real ausgegebenen Geschichte ist das neue ästhetische Stilmittel, mit dem sich Gewalt als Mittel der Politik legitimieren lässt. An Hektor, dem Erzfeind der Griechen, wird die Mitleidlosigkeit des Helden noch einmal exemplarisch vorgeführt. Ihm gegenüber kann Achill seine kannibalischen Triebe nur mühsam im Zaum halten. Nicht einmal

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ein ehrenvolles Grab darf ihm zuteil werden, seinen Leichnam sollen die Hunde zerfleischen. Fleh mich nicht an, du Hund, bei den Knien und bei den Eltern! Könnten mich selber doch die Wut und der Zorn dazu treiben, Roh abschneidend dein Fleisch zu verzehren, für all deine Taten. Darum wird dir auch keiner vom Haupte die Hunde verscheuchen, Und selbst wenn sie auch zehn- und zwanzigfache Entsühnung Brächten und hierher stellten und mir noch andres versprächen, Und nicht, wenn dich selbst mit Gold aufwiegen er wollte, Priamos, Dardanos’ Sproß, auch dann soll die würdige Mutter Nicht auf die Bahre dich bettend beklagen, den sie geboren, Sondern die Hunde und Vögel sollen dich gänzlich zerreißen. 250

Mit der Einführung demokratischer Elemente in die Politik vermindert sich in der griechischen Antike der Bedarf an Gewaltverherrlichung. Der Bezug zum Phänomen Gewalt wird »innerhalb der demokratischen Gesellschaftsform sehr viel komplexer und verdeckter als in der des homerischen Kriegeradels der Frühzeit. Der genuin demokratische, mehrheitssuchende und -bildende Diskurs setzt auf Argumentation und Bestechung. Heroischer Leitbilderdienst ist hierbei nur mehr bedingt hilfreich.«251 Das Menschenopfer wird durch das Tieropfer, die reale Gewalttat durch deren Vorspielen und Nachspielen auf der Bühne der klassischen Tragödien ersetzt. An die Stelle der Tat tritt das Drama, das Erleben der Tat und der zu ihr passenden Affekte des Jammers [éleos] und des Schreckens [phóbos]. Lernziel dieser subtilen Didaktik der Gewalt ist nach Aristoteles die kátharsis, die Reinigung von eben diesen Gefühlen durch deren Ausleben im Theater. Im Prinzip ist es darum zu tun, die ursprünglich artspezifischen Reaktionsmodi polisgerecht zu schulen, d.h. Jammer nicht bis zur Selbstaufgabe, Schreck nicht zur Flucht anschwellen zu lassen. Das Verausgaben dieser atavistischen, unproduktiven Verhaltensweisen im Rahmen einer geschlossenen, nur fingierten Handlung – eben der des Theaters – entlastet den intendierten Rezipienten gleichsam vom Druck dieser Affekte und macht ihn frei zur Ausbildung ziviler, zivilisatorischer Qualitäten. 252

So wie das drastische Vorführen der Details zu den Stilmitteln der Verherrlichung der nackten Gewalt im Epos gehörte, so gehört das Verbergen, das

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Andeuten, das Geschehen im Off zu jenen der Katharsis im klassischen Drama. Die Gewalttat geschieht nicht auf offener Bühne. »Im aristotelischen System ist für ein L’art pour I’art der Grausamkeit kein Raum. Dem wohldosierten, stets kontrollierten Schock indes gilt die Aufmerksamkeit der Autoren« ebenso wie der Schulung der Unterscheidungsfähigkeit zwischen berechtigter und verwerflicher Gewalt.253 Ziel der Inszenierung ist die »Doppelung von Evokation und Bannung der bedrohenden Gewalt«. Éleos, die Totenklage, die in den Jahrtausenden des Gottkönigtums das Sterben der Könige begleitet hatte, und phóbos, der erschrockene Schauder angesichts tödlicher Gefahr, können in einem System geteilter Macht nicht mehr die staatstragenden Emotionen bleiben. Diszipliniertes Handeln statt rasender Wut und kontrollierte Reaktion statt kopfloser Flucht oder heilloser Verzweiflung – das politische Problem der Sieger besteht in Friedenszeiten darin, den verbliebenen Gewaltimpulsen und der verbliebenen Furcht einen konstruktiven Ort im Gefüge der Affekte zuzuweisen. Die Didaktik der griechischen Dramen dient der Einbürgerung der Helden, der Veteranen siegreicher Schlachten in die Friedenspolitik der Polis und dem behutsamen Abbau der Glorifizierung von Gewalt. Im künstlichen Gewalttheater des Dramas soll ein spielerischer Ort für das Verlernen jener Gefühle geschaffen werden, die im Alltag obsolet geworden sind. Aristoteles hat den Dramatikern genaue Anweisungen gegeben, wie der neue tragische Held des Dramas auszusehen hat. Jammer stelle sich nur ein, wenn der Held sein Unglück nicht verdient, und Schauder nur, wenn er dem Zuschauer ähnlich ist. Der tragische Held des Dramas ist, wenngleich von erhabenem Geschlecht, einer wie du und ich, »der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers«254 , ein neues Verständnis von Gewalt als unvorhersehbares Unglück, das gleichwohl den des allgewaltigen Schutzes seiner siegreichen Helden beraubten Durchschnittsbürger nicht in beständige Angst und in lähmenden Schrecken versetzen darf: Das ist die ästhetische Funktion der kathartischen Trauer im griechischen Drama. Ganz anders die Gewaltspiele des Circus Maximus der römischen Massengesellschaft. 150.000 Zuschauer soll der noch aus republikanischer Zeit stammende Circus Maximus, mit seinen 620 Metern Länge das größte zusammenhängende Bauwerk des antiken Rom, gefasst haben, ebenso viel wie die Zahl der Arbeitslosen der Stadt. Austragungsstätte nicht nur

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für Wagenrennen, sondern auch für Tierhatzen oder, wie nach Cäsars siegreicher Rückkehr von Gallien, riesige Schaukämpfe mit 1000 Fußsoldaten, 40 Elefanten und 600 Reitern. Mit dem unter Titus Flavius255 fertig gestellten Kolosseum erhielt das Theater der Gewalt sein eigenes Haus. Ein typisches Tagesprogramm schildert der römische Dichter und Alltagshistoriker Martial256 wie folgt: Vormittags gab es Tierhatzen und zu Zirkusvorführungen umfunktionierte Hinrichtungen. Das grausame Sterben der Tiere gibt allerlei Anlass zu poetischen Anspielungen und geistreichen Vergleichen. Als bei den grausamen Kämpfen der vom Caesar veranstalteten Jagd ein leichter Speer eine trächtige Sau durchbohrte, sprang ein Ferkel aus der Wunde des armen Muttertieres hervor. O wilde Lucina, soll das eine Geburt gewesen sein? Diese Sau hätte gewünscht, von noch mehr Geschossen verwundet zu werden, damit allen Ferkeln dieser traurige Weg nach draußen offengestanden hätte. Wer bestreitet, dass Bacchus beim Tod seiner Mutter gezeugt wurde? Dass so eine Gottheit gezeugt worden ist, könnt ihr glauben, da doch ein Tier so geboren wurde. 257

Zur Hinrichtung vorgesehenen Schwerverbrechern werden qualvolle Rollen in makabren Mysterienspielen und Realinszenierungen grausamer Mythen zugeteilt. »Alles was die Sage singt«, schreibt Martial »spielt die Arena uns vor.«258 Sei es, dass eine verurteilte Frau gezwungen wird, Pasiphae, die Gattin des kretischen Königs Minos, zu spielen, die sich von einem Stier begatten ließ, dass der leierschlagende Orpheus ganz gegen den Inhalt des Mythos von einem Bären zerfleischt wird oder der Tod des Räuberhauptmanns Laureolus, einer Theaterfigur, realistisch inszeniert wird: Wie Prometheus, an den skytischen Felsen gebunden, mit seiner allzu kühnen Brust den ständig auf ihm sitzenden Vogel nährt, so bot einem schottischen Bären seine bloßen Eingeweide dar Laureolus, wirklich am Kreuze hängend. Es lebten die zerfleischten, triefenden Glieder, und am ganzen Körper war Körper nirgendwo mehr. 259

Seneca260 berichtet von Schwerverbrechern, die man ohne Rüstung aufeinander losgehen ließ oder Kettenkämpfen aussetzte, in denen der jeweili-

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ge Überlebende gegen einen neuen Gegner weiterzukämpfen hatte, solange, bis er unterlag. »Exitus«, schreibt Seneca, solcher Kämpfe sei immer der Tod. Da der Aufwand für derartige Vorführungen nicht besonders groß war, weil die Verbrecher gratis zur Verfügung standen und man keine kostspieligen Raubtiere beschaffen musste, hatten sie kein besonders hohes Prestige und galten eher als Pausenprogramm für jene, die zwischen den Vormittags- und den Nachmittagsvorstellungen nicht nach Hause gehen wollten. Erst am Nachmittag begann der Höhepunkt des Programms, die Gladiatorenkämpfe. Noch die distanzierte Diktion der Realienkunde vermag einem den Schauder über den Rücken zu jagen über das, was sich da an unerbittlicher Grausamkeit im Staub der Arena abspielte: Manchmal wurde gleich am Anfang angekündigt, dass ohne Pardon [sine missione] gefochten werden würde, im allgemeinen war es jedoch so, dass zunächst bis zur Kapitulation des einen Fechters gekämpft wurde. Da er dies durch Niederlegen des Schildes und Heben des Zeigefingers der dadurch freigewordenen linken Hand anzeigte, hieß das »bis zum Fingerheben kämpfen« [ad digitos pugnare]. Der neben den Kämpfern stehende Kampfrichter hielt dann den Sieger von weiteren Angriffen ab, und der Veranstalter hatte nun zu bestimmen, ob dem Besiegten Begnadigung [missio] gewährt werden solle. Gewöhnlich stellte er diese Entscheidung dem Publikum anheim. Dieses drückte durch Tücherschwenken den Wunsch nach Begnadigung aus, oder entschied durch Daumensenken auf Tod. […] [Vom unterlegenen Kämpfer wurde] erwartet, dass er den Todesstoß, den der Sieger ihm auf ein Tubasignal hin gab, mit in den Schoß oder auf den Rücken gelegten Händen gefasst entgegennahm. An den Niedergestreckten trat dann ein Mann heran, der die Maske des Totengeleiters Hermes-Merkur trug, und prüfte mit einem glühenden Eisen, ob der Tod schon eingetreten war. War das der Fall, schleiften ihn Sklaven, die Chormasken trugen, durch ein besonderes Tor hinaus, Porta Libitinensis genannt nach der altlateinischen Todesgöttin Libitina. In der Arena wurde der blutgetränkte Sand untergeharkt, und der nächste Kampf konnte beginnen. 261

Im Unterschied zu Epos und Drama, die beide reale Gewalt durch ihre Nacherzählung bzw. ihr Nachspiel substituieren, ersetzt der Circus dieses Spiel von der Gewalt durch das Spiel mit der Gewalt, spielt Gewalt nicht nach, sondern zeigt sie vor. Der gesellschaftliche Hintergrund dieser Art der Codierung von Gewalt, die keine Ästhetisierung mehr ist, sondern eine Realinszenierung, ist in dem Übermaß an Gewalttätigkeit zu suchen, das

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die Fundamente des imperialen Rom ausmacht: Die halbe Welt wurde in Kriegen und Eroberungsfeldzügen dem Imperium unterworfen, ganze Völkerschaften versklavt; von Cäsar bis Domitian nur eine Minderheit der Kaiser des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, die nicht durch politischen Mord oder Selbstmord ums Leben kamen – der Machtpolitik nach außen entsprachen nicht minder grausame Machtkämpfe im Innern, die häufig blutig ausgetragen wurden. Die Führerschaft in Rom zu erlangen, war daran gebunden, durch Krieg und Sieg Ruhm und Größe des Reiches zu mehren. Den in solchen Kriegen erfolgreichen Feldherren hatte der jeweilige Machthaber als zukünftigen Rivalen zu fürchten. Der römische Staat gründete sich wie kein anderer auf die ständige, unmittelbare und uneingeschränkte Präsenz von Gewalt, nicht als Ultima Ratio oder als Entgleisung der Politik, sondern als Prinzip. Ein solcher Überhang an Gewalt kann nicht mehr durch poetische Heroisierung vermittelt werden. Nur mehr die reale Komplizenschaft der Bürger war als wirksame Marketingstrategie für die ökonomische, ideologische und politische Durchsetzung des Kriegs als Mittel der Politik denkbar. Das ist der letzte Sinn der schon bei Juvenal262 kulturpessimistisch gefärbten Klage, dass das Volk, »das früher den Oberbefehl verlieh«, sich nur mehr ängstlich an zwei Wünsche klammere: »panem et circenses«.263 Nicht schon, wie eine landläufige Deutung dieses geflügelten Wortes meint, wenn für Essen und Vergnügen gesorgt war, konnten die Machthaber der Loyalität ihrer Untertanen gewiss sein. Dann hätte es der unsagbaren Grausamkeit der Spiele nicht bedurft. Die römischen Circenses führten vielmehr durch das je größere Ausmaß an bombastischer Grausamkeit den Bürgern die je größere Macht ihres jeweiligen Veranstalters vor Augen. Je mehr Gladiatoren, je wildere Tiere, je realistischer simulierte Schlachten sich einer leisten konnte, desto unangefochtener musste seine Macht sein. Erst wenn die Bürger zu dem Eindruck gelangten, dass der Krieg nach außen und im Innern, vorgeführt in der Realistik der Schaukriege und in der Gnadenlosigkeit der Gladiatorenkämpfe, Ausdruck einer politischen und ökonomischen Potenz war, die die unerlässliche Voraussetzung für ihre private Wohlfahrt darstellte, dass jener der bessere Kaiser war, der die meisten Länder erobert, die meisten Paläste gebaut und die grausamsten Spiele veranstaltet hatte, konnte man davon ausgehen, dass sie Ruhe hielten. Die im Theater der Gewalt angezielten Gefühlskategorien waren nicht Jammer und Schrecken, sondern Lust an Leid und Tod der Opfer. Und sie sollten nicht durch Katharsis beseitigt, sondern durch

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ständig neue Zufuhr stimuliert werden als tragfähiger Grundkonsens für die Gewaltpolitik des imperialen Staates. Die Antike ist nicht die letzte Epoche, in der sich die Ästhetisierung von Gewalt als heldenhafte Schönheit oder grausames Machtheater antreffen lässt. Zahlreiche Abwandlungen und Wiederholungen dieses Motivs werden folgen. Je nach ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Gemengelagen wird Gewalt über die ihr beigegebene Ästhetisierung in das Gesamtkonzept einer Epoche eingefügt und als normal ausgegeben. Als heldenhafte Tapferkeit, als schaudererregendes Vergnügen, als ehrenvolles Martyrium, als heiliger Krieg, als gerechte Vergeltung, als unausweichliches Triebschicksal, als legitime Selbstverteidigung, als gerechte Rebellion, als Hexenverfolgung, Pogrom und Genozid, stets begleitet von jener Art der literarischen und ästhetischen Inszenierung, die noch die scheußlichsten Verbrechen in strahlendes Heldentum verwandelt. In der Renaissance und im Barock setzt sich die Geschichte der Inszenierung und Ästhetisierung der nunmehr beim Staat monopolisierten Gewalt in die Richtung einer immer weitgehenderen Befreiung der Untat von ihrer empirischen Substanz, von schreiendem Unrecht, Schmerz, Blut und Tod fort. Über die subtile Umdeutung des frühchristlichen Pazifismus und des augustinischen miles Christi in den Heiligen Krieg und den heldenhaften Tod des Kreuzritters in den hochmittelalterlichen Epen wird Gewalt zur ethisch-religiösen Pflicht hochstilisiert: »Mission, Kreuzzug, Krieg – jedes Blutbad zur höheren Ehre Gottes. So wird die persönliche Mordlust zum Gottes-Dienst erhöht, das Töten des heidnischen Feindes zur Erlösung stilisiert«264 , und »gottgefälliges Handeln und Bereitschaft zum Genozid werden gleichgesetzt.«265 Im barocken Märtyrerdrama erreicht die »Geschichte der körperlichen Destruktion als Gegenstand künstlerischer Darstellung«266 einen Höhepunkt. Hier, wie schon in der Renaissance, kommt der Verbindung von Sexualität und Gewalt besondere Bedeutung zu. Grausame Folter und qualvoller Tod sind die Alternative zur Preisgabe des Glaubens oder zum Verlust der Keuschheit. Die jahrhundertelang offen oder verdeckt gewalttätige Männlichkeitsform der Sexualität tritt zutage.267 Die Darstellung von Martyrien wird – nicht nur in der Literatur – zu einem bevorzugten Thema. Die Folter konzentriert sich in vielen Fällen auf die Genitalorgane des Opfers – insonderheit der Weiblichen. Die entsprechenden Prozeduren ermöglichen es, sich auf den nackten Körper des Opfers zu konzentrieren. Seine Schönheit und erotische Ausstrahlung

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bleibt im Moment der Verstümmelung erhalten, ja erfährt sogar eine gewisse Steigerung.268 Den grausam gemarterten und getöteten Heiligen kommt verklärte Schönheit im Schmerz, lustvolles Leiden und besondere erotische Anziehung gerade wegen ihrer standhaften Keuschheit zu.269 Gewalt kann sich umso sadistischer austoben, je mehr sie auf der ästhetischen Ebene in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die reale Gewalt, in anhaltenden Kriegen, Bestrafungen, Hinrichtungen und vielen anderen Formen überaus präsent, wird in zwei aufeinanderfolgenden und einander entgegengesetzten ästhetischen Strategien durch Bilder von ihr in die Phantasie der Einzelnen eingebaut: In realistischen Höllendarstellungen à la Taddeo di Bartolo,270 die die verbliebenen Gewaltimpulse versorgen, und in geschönten Darstellungen der Erhabenheit im Schmerz à la Sebastiano del Piombo,271 die die neue Kultur der Verdrängung einleiten. Beide Strategien dienen demselben Anliegen: Gesellschaftliche Gewalt so mit den Psychen der Individuen zu verbinden, dass sie sie akzeptieren, ertragen oder sogar genießen, aber nicht selbst ausüben. Dem dient die Übersteigerung des satanischen Sadismus ebenso wie die entrückte Schmerzlust verklärter Folteropfer. Beide Szenen sind so weit entfernt von jeder denkbaren Realität, dass sich der Betrachter nicht mit ihnen identifizieren kann, nicht mit dem rasenden Teufel und nicht mit der in Schönheit sterbenden Märtyrerin. Er soll es auch nicht. Gewalt, so die Botschaft einer Ästhetik erzwungenen Gewaltverzichts, tun und erleiden die anderen. Unter dem Deckmantel außerirdischer Gewaltphantasien, die in grauenerregenden Höllen oder verklärten Himmeln verortet sind, kann die gewöhnliche irdische Gewalt ungestört ihrer Wege gehen. »Die Erden stinckt uns an, wir gehn in’ Himmel ein. Betrübt euch, Liebste nicht! Die Pein ist sonder Pein!«, lässt Andreas Gryphius die standhafte Catharina von Georgien zu ihren Begleiterinnen sagen, ehe sie von glühenden Zangen zerrissen und bei lebendigem Leib verbrannt wird.272 Durch die nach der Renaissance sich anbahnende Säkularisierung des gesellschaftlichen und individuellen Lebens verliert die Gewalttat jene Rahmenbedingungen, die sie bisher nicht nur ermöglicht, sondern auch real begrenzt haben: die soziale Kontrolle in mehr oder weniger friedlichen Gemeinwesen und die ideologische Kontrolle durch Religion und Moral. »Gewalt wird nun zu einem säkularisierten Phänomen, unverstellt von Tabus: Stimulans, Droge, Narkotikum in einem.«273 Gewalt wird vom Mittel zum Zweck. Machiavellis274 wertfreie Beschreibung der Gewalt als

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legitimes Mittel politischer Führungskunst gehört ebenso zu den Varianten neuer Gewaltcodierungen wie die Entstehung immer ausgeklügelterer Prozeduren der öffentlichen Bestrafung und der Folter oder der große Publikumserfolg der Shakespeare’schen Dramen. Eine Inhaltsangabe eines seiner frühesten und beliebtesten Stücke, »Titus Andronicus«, umfasst kaum weniger Morde und Verstümmelungen als ein moderner Gewaltfilm: Der Held, ein ruhmreicher römischer Feldherr, hat die Gotenkönigin Tamora gefangengenommen. Sie wird Frau des Kaisers Saturnius und bleibt gleichzeitig Geliebte des verräterischen Negers Aaaron. Zwei ihrer Söhne ermorden Basanius, Saturnius Bruder, und vergewaltigen seine Braut Lavinia, die Tochter des Titus. Anschließend schneiden sie ihr Zunge und Hände ab, damit sie das Verbrechen nicht anzeigen kann. Dennoch gelingt es ihr, die Namen der Täter mit dem Mund aufzuschreiben. Titus nimmt nun ebenso umfassend wie verwirrend Rache. Zunächst setzt er Tamora ihre Söhne als Mahlzeit vor, des weiteren kommen nahezu alle Beteilgten zu Tode. 275

In der Zeit der Aufklärung schreitet die Ästhetisierung der Gewalt bis zu einem Grad der Veredelung des Schreckens durch die guten Absichten fort. »Nein, nein, lieber Papa! Erlauben Sie, daß wir uns entfernt halten!«, so lässt der Philanthrop C. F. Weisse in seiner 1791 verfassten Abhandlung über »den erzieherischen Wert einer Hinrichtung« die Kinder einmütig schreien. Doch der Vater bleibt hart. Die beiden Knaben werden aus pädagogischen Gründen bei einer demnächst stattfindenden Hinrichtung zugegen sein müssen. Bei den Mädchen lässt er mit sich reden, denn am wenigsten kann ich es von dem zärtlichen Geschlecht leiden, wenn dies nach dergleichen Dingen läuft, ohne Empfindung den armen Büßenden aufs Blutgerüst begleitet, und sich an einem Henkerschwert zu weiden scheint. 276

Überdies kämen die Mädchen wohl kaum jemals in die Lage, aus beruflichen Gründen bei einer Hinrichtung erscheinen zu müssen. Bei den Knaben freilich, sei das ganz anders: Eine Mannsperson muß fürs erste weniger weichlich sein. Mut und Tapferkeit ist des Mannes Anteil, seine vorzügliche Tugend und nicht selten Pflicht. Zweitens mag er sich beinahe einem Stand der Welt widmen, welchem er will, so ist er in

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Gefahr, nicht nur blutige Auftritte zu sehen, sondern als Mittelsperson dabei zu erscheinen. Als Geistlicher, als Richter oder Sachwalter, als Arzt, als Soldat fordert ihn oft sein Beruf dazu auf, selbst Blut zu vergießen. Alsdann ist es keine Kleinigkeit, wenn man nichts davon sehen und hören kann, und es doch sehen und hören muß. 277

Außerdem könne das Ansehen der grausamen Strafe eine präventive Wirkung haben, auf die man keinesfalls leichtfertig verzichten solle. Zwar hofft der Pädagoge von Herzen, dass mit Gottes Hilfe keines der Kinder »jemals einer so vorsetzlichen Bosheit und Grausamkeit fähig sein wird«, aber wer weiß: Aber, mein Gott, zu was für schrecklichen Dingen läßt sich nicht das menschliche Herz durch andere Mittel, hauptsächlich durch übel beherrschte Leidenschaften verleiten! Wie mancher nicht unedle Mann, der selbst eher geblutet, als seine Hand an seinen Nächsten gelegt hätte, ist durch Stolz, Neid, Eifersucht, Rache, Zank, Gewinnsucht und Geiz, beim Spiel und im Trunk, ein Mörder geworden! Wie manche unglückliche Weibsperson hat aus einer falschen und übereilten Scham über einen unglücklichen Fehltritt, den sie begangen, die Frucht ihres Leibes zerstört, die bei der zurückkehrenden Vernunft tausendmal ihr eigens Leben für das Leben ihres Kindes hingegeben hätte!278

So kann es keinesfalls schaden, wenn die Kinder »solche schrecklichen Strafen« auf ihr »Herz, so sehr es sich auch davon entfernt glaubt, einen heilsamen Eindruck machen« lassen.279 Und nicht zuletzt könne der Anblick solcher Strafen die Herzen der Kinder mit »Dankbarkeit und Freude gegen Gott erfüllen«, dass sie »auf der einen Seite christliche, gute Eltern, Lehrer und Freunde« haben, und auf der anderen sowohl »von der äußersten Armut« als auch vom »Überfluß«, beides Quellen, die Ursachen von Verbrechen werden können, einen Eindruck erhalten. »Meine Kinder folgten meiner Vorschrift«, freut sich der Pädagoge, »und taten sich die Gewalt an, die Verurteilung mitanzusehen. Es reute sie auch nicht, weil es in der Folge unter uns und unseren Freunden eine Veranlassung zu mancher lehrreichen Unterredung wurde.«280 Kein theoretischer Traktat könnte die Philosophie der Zivilisierung des Schreckens im Zeitalter der Vernunft besser zusammenfassen als diese verquere Erziehungsanleitung. Die Bedingungen, unter denen Gewalt verabscheuungswürdig und unter denen sie notwendig ist, treten klar hervor:

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Als Folge unkontrollierter Leidenschaft des Einzelnen stellt sie eine extreme Gefährdung dar, ja die Leidenschaft selbst ist bereits eine Gefahr. Als rächender Arm des Staates in der Justiz aber oder als dessen gerechte Faust im Krieg ist sie weiterhin notwendig und erwünscht, so erwünscht, dass Kinder sich nicht früh genug darauf vorbereiten können, sie auszuhalten oder auszuüben. Und als drohende Strafe schließlich vermag sie die öffentliche Moral und den Respekt vor himmlischen und irdischen Autoritäten zu bestärken. Gewalt, so Conrad Weisse, richtig angewendet und dosiert, ist nützlich, ein lehrreiches Schauspiel der Vernunft: »Wenn man aber in der Jugend sich zu einem gesetzten Wesen gewöhnt, und seinem Herzen Gewalt antut, mit einer gewissen Standhaftigkeit ein solches Schauspiel anzusehen; so erspart man sich gewiß manche Qual auf Lebenszeit.«281 Der Zusammenhang zwischen realer und gespielter Gewalt hat sich durch die Erfindung eines solchermaßen heilsamen Schreckens nicht grundsätzlich gewandelt, das grausame Spiel der Hinrichtung, das seit dem offenen Vergnügen im römischen Circus zur klammheimlichen Lust am Grauen mutiert war, hat lediglich seine offizielle Legitimation, nicht seine psychische Funktion geändert. Es geht immer noch um die Vorführung einer Gewalttätigkeit, die dem Zuschauer aus der Hand genommen wurde, die ihm aber nicht aus dem Kopf will. In einer auf Vernunft und Wohlverhalten gegründeten Gesellschaft ist sie aber nur mehr als »Schauspiel der Gerechtigkeit«282 inszenierbar, oder, wie Diderot in seiner Encyclopedie an der Vivisektion von Verbrechern demonstriert, als Gewalt im Dienste der Menschlichkeit. Was ist Menschlichkeit anderes als die stete innere Bereitschaft, unsere Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen? Was aber ist dann an der Vivisektion eines Übeltäters unmenschlich? […] Wie man auch über den Tod eines Übeltäters denken mag, stürbe er im Anatomiesaal, so wäre dies der Gesellschaft nicht weniger nützlich, als wenn er auf dem Schafott stürbe, und diese Todesart wäre nicht schlimmer als jene andere. Wüßten nicht Anatomie, Medizin und Chemie gleichermaßen zu profitieren? Was die Verbrecher angeht, so ist niemand unter ihnen, der nicht einer schmerzhaften Operation gegenüber dem sicheren Tod den Vorzug gäbe; der sich nicht statt einer Hinrichtung lieber eine Flüssigkeit ins Blut spritzen oder infundieren ließe, oder sich das Hüftgelenk amputieren, oder die Milz herausnehmen, oder einen Teil des Gehirns entfernen, oder die Brust- oder Oberbaucharterien abbinden, oder sich von zwei oder drei Rippen einen Teil absägen oder eine Darmpartie herausschneiden ließe, deren oberes

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Ende man in das untere stecken könnte, sich die Speiseröhre offenlegen oder sich, ohne daß der Nerv davon berührt würde, den Samenleiter abbinden oder sich irgendein anderes inneres Organ auf andere Weise operieren ließe. 283

Im Vergleich zu den damals immer noch üblichen Hinrichtungsarten durch Rad und Scheiterhaufen konnte das Angebot fachmännisch vorgenommener Verstümmelung oder absichtlicher Infektion als humanere Alternative zum sicheren, qualvollen Tod propagiert werden. Arasse vermerkt zu Recht, dass Diderot die einzelnen chirurgischen Anregungen mit einem »beinahe jubelnden Crescendo«284 aufzählt. Wie immer vernünftig Gewalt legitimiert wird, es fehlt nie das Element der Faszination. Der Vorschlag, Todeskandidaten von tollwütigen Tieren beißen zu lassen und »all den Experimenten zu unterziehen, die man mit Tieren macht«, stammt von dem Arzt Joseph-Ignace Guillotin: Ein kleiner Biß oder auch die schmerzhaften Symptome der Krankheit – steht das in irgendeinem Verhältnis zu den schrecklichen Qualen, die ein Mensch zu ertragen hat, dem man die Knochen bricht und den man zwingt, in verzweifelter Todesangst zu sterben?285

Obwohl er ihren Bau nach historischen Vorbildern nur propagiert, sie aber nicht selbst erfunden oder hergestellt hat, ist Guillotins Name für alle Zeiten mit dem Namen der Maschine verbunden, mit der jene unbeschreiblichen Tötungsorgien erst möglich wurden, die den traurigen Höhepunkt der Französischen Revolution während der Schreckensherrschaft von Robespierre und St. Just ausmachen. Auch diese Maschine wurde im Namen der Menschlichkeit entworfen. Bewunderer nannten sie die »Heilige Guillotine«, und am Grabe Guillotins äußert der Trauerredner mitfühlendes Bedauern gegenüber Kritik, der dieser zu seinen Lebzeiten ausgesetzt gewesen war: Zum Unglück für unseren Kollegen hat sein menschenfreundlicher Gesetzesvorschlag, der allgemeine Zustimmung fand und zum Bau eines Instrumentes führte, dem das gemeine Volk den Namen unseres Freundes gab, ihm viele Feinde gemacht. Wieder einmal findet man bestätigt, wie schwer es ist, den Menschen Gutes zu tun, ohne daß damit für einen selbst manche Unannehmlichkeiten verbunden sind. 286

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Die Rede vor der Nationalversammlung vom 1. Dezember 1789, in der Guillotin seine Ideen zur Humanisierung des Strafvollzugs in eine Reihe von Paragraphen fasste – unter anderem gleiche Strafe für gleiche Vergehen, Abschaffung öffentlich entehrender Strafen, ehrenvolles Begräbnis von Hingerichteten usw. – enthält jenen unscheinbaren Artikel, der zur rechtlichen Legitimation des maschinellen Tötens werden sollte: Art. 6: In allen Fällen, in denen das Gesetz die Todesstrafe für eine angeklagte Person vorsieht, soll die Strafart die gleiche sein, welches Verbrechens sie sich auch immer schuldig gemacht hat; der Verurteilte soll enthauptet werden, dies geschieht mit Hilfe einer einfachen Mechanik. 287 Im Text seiner Rede äußerte sich Guillotin ausführlich zu dieser Mechanik des Tötens, deren Devise »Menschlichkeit, Gleichheit, Vernünftigkeit« sei: Menschlichkeit gegenüber dem Opfer, dessen Schmerz die Guillotine verringert […], Menschlichkeit gegenüber den Zuschauern, denen die Maschine den grauenerregenden Anblick der Hinrichtungsmethoden erspart, weil sie aus dem unmenschlichen Schauspiel des öffentlichen Sterbens ein kurzes Blutvergießen macht. Menschlichkeit vor allem gegenüber dem Scharfrichter, der von dem monströsen corps-à-corps mit dem Hingerichteten befreit wird. 288

An die Stelle der unmenschlichen Hinrichtung durch den grausamen Menschen tritt das lautlose und schmerzlose Töten durch die menschliche Maschine. Die Codierung des Tötens als eines neutralen, technisch präzise funktionierenden Vorgangs entfernt den handelnden Menschen vollends aus dem Vollbringen der todbringenden Handlung und der Zufügung von Schmerz. Sie ersetzt ihn durch die stets und unabhängig von seiner physischen oder psychischen Präsenz, seiner Grausamkeit oder seinem Mitleid einsatzbereiten Vollziehung einer für alle gleichen Gerechtigkeit und einer für alle identischen Strafe, die ihre Entsprechung in der Gleichförmigkeit der Bewegung des Fallbeils hat. Töten wird menschlich, Sterben vernünftig. Die Verwandlung des Schreckens zum nützlichen Werk wird plausibel durch den Anschein seiner Vermeidung: »Die Maschine wirkt wie der Blitz, der Kopf rollt, das Blut sprudelt, der Mensch ist nicht mehr«289, so formuliert es Guillotin. Das vorgebliche Ende des Leids ist das tatsächliche Ende des Mitleids. Die annähernde Zeitgleichheit pädagogischer, ärztlicher und strafrechtlicher Initiativen zur Verbindung humaner Prinzipien mit inhuma-

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nen Akten der Marter und des Tötens ist kein Zufall. Die Menschlichkeit pädagogischer Nutzanwendung und ärztlicher Schadensabwendung sind einander in einer prekären Weise ähnlich. In beiden Fällen wird die Humanität vordergründig als Ertüchtigung der educandi oder als Schonung der morituri, der Verurteilten, der Gemarterten und Todgeweihten, verkündet. Tatsächlich steht der gute Zweck abstrakter Prinzipien im Zentrum, zu deren Durchsetzung jedes Mittel recht ist: Die Erhaltung der guten Sitten, der Volksgesundheit, der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Nicht diese Prinzipien selbst machen das Inhumane an der neuen Humanität aus, sondern die Tatsache, dass sie entlang einer Praxis gesellschaftlicher Gewaltausübung entwickelt und im Bewusstsein der Normalbürger verankert wurden. Durch die Humanisierung der Grausamkeit als Menschenliebe wird der implizite Gewaltanteil sowohl der neuen Gerechtigkeit als auch der neuen Pädagogik erkennbar, in den Gewaltorgien der französischen Revolution ebenso wie in den Verirrungen einer bis zur Erzeugung von Todesangst und zum Risiko des Selbstmordes konsequenten Pädagogik. Zum Vernichtungsfuror des Epos, zur Lebensertüchtigung des Dramas und zur Verrohung des Circus fügt die Pädagogik und die Politik der Vernunft eine neue Dimension im Verhältnis zwischen der Gewalt und ihren Erscheinungsformen hinzu: Die Versachlichung und Verwissenschaftlichung des Grauens im Dienste der Menschlichkeit. Mit dieser Wendung des Bösen ins Gute ist die Charakteristik der modernen Gewaltform geschaffen, von der alle folgenden Entwicklungen lediglich graduelle Variationen sind, keine grundsätzlichen. War das Epos das Nacherleben, das Drama das Wegerleben und der Circus das Miterleben der Gewalt, so leitet der nachmittelalterliche Habitus jene Unsichtbarmachung der Gewalt ein, aus der immer neue Imaginationen der Grausamkeit hervorquellen. Gewalt wird von ihren realen Erscheinungsformen abgekoppelt und zum Gegenstand imaginärer Thematisierungen, Inszenierungen und Darstellungen, deren Veranlassungen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gegebenheiten liegen können. Die Ausführungen dieses Kapitels zum Wandel von Körpererfahrungen haben nur einen kleinen Ausschnitt der Geschichte der Körper berührt. Deren weiterer Weg führt entlang der Elias-Formel vom »gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang«290 über die Etablierung wachsender Kompetenzen der Körperkontrolle zur Disziplinargesellschaft nach den Ideen Foucaults291 zu dem, was man »gesellschaftlichen Zwang zur Selbstverwirklichung« in den modernen Konsumgesellschaften nennen

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könnte,292 und endet vorläufig bei der gegenwärtigen Ambivalenz zwischen einer »verpflichtenden Immaterialisierung« der Körper in virtuellen Ersatzwelten und einer »radikalen Bewegung der körperlichen Rehabilitation«293 in modernen Körperkulten. Die aktuelle Frage nach der Zukunft der Körper lautet, für welche Fortsetzung der Geschichte der Körper dieses vorläufige Ende ein Anfang wäre. Mit der folgenden Passage aus einem Interview mit einer Frau aus dem afrikanischen Tonga soll noch einmal deutlich werden, wie unterschiedlich Körper wahrnehmen und sich wahrnehmen können: Wir tonganoischen Frauen sind niemals allein schwanger. Wir teilen die Schwangerschaft mit unseren Männern. Wir tragen das Kind aus, der Mann übernimmt das Gefühl, es geht ihm schlecht, er muss sich übergeben. Er hat Schmerzen, wenn das Baby kommt […]. Wenn ein Kind krank ist, wird der Mann sich darum kümmern, er beruhigt es, wenn es weint, er geht in den Busch, um Heilpflanzen zu sammeln. Oft bleibt er zuhause, wenn die Frau arbeiten geht. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb wir so gerne Kinder haben: wir müssen nichts alleine machen, auch nicht in der Schwangerschaft. 294

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II Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang

Die wohl erste soziologisch-historische Schrift, die die Geschichte der Zivilisation als Theorie des gesellschaftlichen Verhältnisses von Körper und Psyche begreift, wobei beide als historisch wandelbare Instanzen aufgefasst werden, ist mit dem Namen Norbert Elias verbunden.1 Elias hat nicht nur die alltäglichen Verhaltensweisen der mittelalterlichen Menschen in den Rang sozialwissenschaftlicher Daten erhoben, die über den Stand und die Entwicklung der Zivilisation Auskunft zu geben vermögen, er hat auch eine bis heute einflussreiche – und umstrittene – Theorie des Zivilisationsprozesses entwickelt.

1 Z IVILISATION Was ist unter dem Begriff »Zivilisation« überhaupt zu verstehen? Nach Elias wurde der Begriff »in der Vergangenheit oft genug in einem halb metaphysischen Sinne gebraucht, und er ist bis heute recht diffus geblieben«2 . An dieser Einschätzung aus den späten 1930er Jahren dürfte sich bis heute wenig geändert haben. Immer noch dominiert ein Verständnis von Zivilisation, das den jeweiligen Stand der Entwicklung einer Gesellschaft an einem absoluten, meist westlich-europäischen Standard misst, und einer bestimmten – meist der eigenen – Gesellschaft einen höheren und anderen – meist fremden – Gesellschaften – einen niedrigeren Stand an Zivilisation zuspricht. Elias vertritt dagegen einen Begriff von Zivilisation, der sich nicht an einem absoluten Maßstab orientiert, sondern an den Entwicklungen

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konkreter Gesellschaften und deren Standards. Danach hängt die Bedeutung dieses Begriffes eng damit zusammen, wann die Menschen einer bestimmten Gesellschaft etwas als »zivilisiert« oder als »unzivilisiert« empfinden. Nicht einmal innerhalb der europäischen Staaten bedeutet Zivilisation dasselbe. Während etwa Franzosen oder Engländer »den Stolz auf die Bedeutung der eigenen Nation, auf den Fortschritt des Abendlandes und der Menschheit« darunter verstehen, würde der Begriff im Deutschen eher »einen Wert zweiten Ranges bezeichnen, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfasst«. Die Bezeichnung, durch die man dort den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, hieße »Kultur«.3 Wenn aber Zivilisation mit den Empfindungen und Wertungen der Menschen zu tun hat, ist sie Teil des gesellschaftlichen Wandels und der mit diesem parallel laufenden Veränderungen der gesellschaftlichen Individuen und Gruppen, der »Soziogenese« also und der mit ihr verbundenen »Psychogenese«, der Veränderung der psychischen Strukturen, Empfindungen und Reaktionsweisen. Kernproblem einer Theorie der Zivilisation ist dann nicht die Bestimmung dessen, was allgemein als zivilisiert oder als nicht zivilisiert zu gelten habe, sondern die Entstehung und Entfaltung der Wertmaßstäbe, der Verhaltensstandards, der spontanen Handlungsmuster, der Reaktionsweisen und der Gefühlslagen im Zusammenhang der sich im Gefüge des gesellschaftlichen Lebens wandelnden Sozio- und Psychostrukturen. Ein wesentliches Charakteristikum dieses Ansatzes liegt in der Betonung der Wechselwirkung zwischen diesen beiden Strukturen. Die »langfristigen Transformationen der Gesellschaftsstrukturen und damit auch der Persönlichkeitsstrukturen«4 sind das Thema der Analyse des Zivilisationsprozesses und des Standes der Zivilisation in einer gegebenen Epoche. Ob es möglich ist, sie »mit den langfristigen gesellschaftlichen Strukturwandlungen, die ebenfalls in eine bestimmte Richtung gehen«5 in Zusammenhang zu bringen, das ist nach Norbert Elias die entscheidende Frage der Zivilisationstheorie. Der Prozess der Zivilisation ist ein Entwicklungsstrom ohne Anfang und ohne Ende. So wirksam Dynamiken der Bewertung, Regulierung und Beeinflussung öffentlichen und privaten Verhaltens der Menschen in wohl allen Epochen der Menschengeschichte waren, so wenig ist es möglich, »unbegrenzt in den anfangslosen Prozess hineinzusteigen. Wo immer man beginnt, ist Bewegung, ist etwas, das vorausging. Für die rück-

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blickende Untersuchung ist es nötig, sich Grenzen zu setzen, möglichst Grenzen, die den Phasen des tatsächlichen Prozesses entsprechen.«6 Die Suche nach Entwicklungszusammenhängen in der Geschichte der Menschen kann also nicht als das Auffinden eines Anfangs, von dem aus dann alles Weitere sich versteht, gedacht werden. Das gilt insbesondere für Fragestellungen, die längerfristige und in ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein wirksame Verhaltensmuster erforschen: »Die Affektäußerungen und das Verhalten in der Gesellschaft gingen von einer Gestalt und einem Standard, der kein Anfang war, nichts, was sich in einem absoluten und unnuancierten Sinne als ›unzivilisiert‹ bezeichnen ließe, zu unserem, den wir durch das Wort ›zivilisiert‹ charakterisieren.«7 Zwar muss sich die Untersuchung solcher Entwicklungen an deren aufeinanderfolgenden Phasen orientieren, sie darf diese aber nicht unter der Hand als eine zielstrebig auf gegenwärtige zivilisatorische Standards gerichtete Entwicklungslogik missverstehen. Es geht vielmehr darum, gegenwärtige zivilisatorische Muster als Phasen von Prozessen zu interpretieren, die in unterschiedlich fernen Vergangenheiten begannen und in unterschiedlich ferne Zukünfte hineinreichen. Insofern er in einer von früheren Entwicklungen beeinflussten Gegenwart existiert, ist der Zivilisationsforscher somit immer auch sein eigener Gegenstand. »Die ›Zivilisation‹, die wir gewöhnlich als ein Besitztum betrachten, das uns, so fertig wie sie uns erscheint, einfach zukommt, ohne zu fragen, wie wir eigentlich dazu gekommen sind, ist ein Prozess oder ein Teil des Prozesses, in dem wir selbst stehen.« Im Unterschied zum Ethnologen, »der sich in eine Welt vertieft, die seiner eigenen sehr fern steht«, bringt der Zivilisationshistoriker z.B. »Normen des Geschmacks und des Abscheus und Tabuvorstellungen mit, die zu hinterfragen er nicht ohne weiteres geneigt ist, weil sie sich in seiner unmittelbaren Umgebung als universelle Werte geltend machen«. Das heißt, dass ihn stets »ein Teil seiner selbst erwartet, dem er eigentlich nicht begegnen wollte«.8 Keinesfalls kann die Zivilisationsgeschichte als ein kontinuierlicher Fortschritt, etwa von primitiver Leiblichkeit zu immer höherer, seelischgeistig bestimmter Verfassung gedacht werden. Bei dem, was wir als »zivilisiert« und »unzivilisiert« einander gegenüberstellen, handelt es sich nicht um einen Gegensatz zwischen »Gutem« und »Schlechtem«, sondern ganz offenbar hat man es hier mit Stufen einer Entwicklungsreihe zu tun, überdies einer Entwicklungsreihe, die weitergeht. Es könnte gut sein, dass den spä-

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ter Kommenden unsere Stufe der Zivilisation, unser Verhalten ähnliche Peinlichkeitsgefühle auslöst, wie uns zuweilen das Verhalten jener, deren Nachkommen wir sind. 9

Eine solche neutrale Haltung verlangt uns einiges ab, weil wir ja Geschöpfe unseres heutigen Standes an zivilisatorischen Standards sind, denen unser psychischer Haushalt entspricht. Es ist notwendig, wenigstens »den Versuch zur Ausschaltung aller jener Peinlichkeits- und Überlegenheitsgefühle, aller jener Wertungen und Zensuren zu machen, die sich mit dem Begriff ›Zivilisation‹ oder ›unzivilisiert‹ verbinden. Unsere Art des Verhaltens ist aus jener, die wir ›unzivilisiert‹ nennen, hervorgegangen.«10 Der Versuch, Zivilisation als ein gesellschaftliches Set von Lebensgewohnheiten und Lebensmöglichkeiten auf seine Herkunft und Entstehung zu befragen, ist nicht nur angesichts der gegenwärtigen Ambivalenz von Fortschritts- und Rückschrittsphantasien von Bedeutung. Heutige Existenz, so scheint es, kommt mit den ihr bewussten Interpretationen und Motivationen des Handelns keinesfalls mehr aus, sie ist angewiesen auf deren unbewusst gewordene Herkünfte, die nicht nur der Erklärung des Gegenwärtigen dienen, sondern Perspektiven und Vorlagen für Zukunft darstellen. Die eine Möglichkeit besteht darin, im Auffinden der zu uns führenden Traditionen Spuren historischer Subjektivität zurückzugewinnen, die nicht aus der Überhöhung moderner Exemplare einer verkappten Massengesellschaft als unverwechselbare Individuen, sondern aus der Selbst-Verständlichkeit geschichtlich gewordener, relativer und begrenzter Existenzweisen resultiert; die andere zielt auf die Befähigung zu einem Verständnis unbegriffener Bereiche gegenwärtiger Existenz aus ihrer Genese. Absicht der Beobachtung des Wandels der Gesellschaften und Psychen ist nicht die beliebige Entlehnung und Neuinszenierung historischer Versatzstücke, sondern die kritisch-reflexive Aneignung eigener Herkünfte als Möglichkeiten des Menschlichen in seinen Vergangenheiten und die Toleranz gegenüber den Zumutungen des Zukünftigen aus der Erfahrung der Vielfalt dieser Möglichkeiten.

2 D AS M ENSCHENGEFLECHT Eine solche Auffassung von Zivilisation stellt eine entschiedene Absage an Denksysteme dar, die den Zusammenhang von Gesellschaft und In-

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dividuum, von Sozialem und Psychischem eindimensional verkürzen: an eine idealistische Philosophie und eine individualistische Psychologie einerseits, die das Individuum als in sich abgekapselten »homo clausus« einer von ihm abgetrennten Gesellschaft gegenüberstellt, und eine kollektivistische Soziologie und eine behavioristische Psychologie andererseits, die das Individuum als bloßes Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse oder äußerer Einflüsse begreift. Elias spricht von einer »existentiellen Gruppenbezogenheit« der Menschen. Der angemessene Gegenstand einer Theorie der Zivilisation ist weder das autonome Individuum noch ein in sich geschlossenes Gesellschaftssystem, sondern die »Figuration«, das konkrete System der Verflechtung lebendiger Menschen unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Elias, dass dieser Begriff ausdrücklich dazu geschaffen ist, die vertrackte Polarisierung der soziologischen Theorien in solche, die das »Individuum« über die »Gesellschaft« und solche, die die »Gesellschaft« über das »Individuum« stellten, zu überwinden […] [und] das Schiff der Soziologie wie der Menschenwissenschaften überhaupt zwischen den Ideologien des Individualismus und des Kollektivismus hindurchzusteuern11 .

Mit seinem Konzept der »Figuration« als ursprünglicher Einheit der Sozio- und Psychogenese menschlicher Gesellschaften versucht Elias die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft ebenso aufzuheben wie die Dichotomie objektiver und subjektiver Erkenntnis. Grunddatum der Zivilisationstheorie ist nicht der einzelne Mensch, sondern die in vielfältigen Beziehungen zu andern lebende soziale Person. An die Stelle des Bildes vom Menschen als einer »geschlossenen Persönlichkeit« […] tritt dann das Bild des Menschen als einer »offenen Persönlichkeit«, die im Verhältnis zu anderen Menschen einen höheren oder geringeren Grad von relativer Autonomie, aber niemals absolute und totale Autonomie besitzt, die in der Tat von Grund auf Zeit ihres Lebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen, von anderen Menschen abhängig ist. Das Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen, sind das, was sie aneinander bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figuration aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen.12

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Nicht der einzelne Mensch, sondern die in Figurationen miteinander kommunizierenden Menschen und die untereinander kommunizierenden Figurationen von Menschen sind das Grunddatum der Soziologie und der Zivilisationstheorie. Da Menschen erst von Natur, dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisierung, durch sozial erweckte Bedürfnisse gegenseitig mehr oder weniger abhängig sind, kommen Menschen, wenn man es einmal so ausdrücken darf, nur als Pluralitäten, nur in Figurationen vor. Das ist der Grund, aus dem es […] nicht besonders fruchtbar ist, wenn man unter einem Menschenbild das Bild von einem einzelnen Menschen versteht. Es ist angemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild ein Bild vieler interdependenter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener Art bilden.13 Das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger, stabiler zu regulieren.14

Die ursprünglich körperlichen Antriebe der Menschen, ihr Hunger, ihre Gier, ihre Leidenschaft, ihre Wut, ihre Ausgelassenheit werden von der Gesellschaftsseite her über die Etablierung allgemeiner Eigenschaftsprofile unterdrückt. Langsicht, das Einkalkulieren umfassender Zusammenhänge, das Wartenkönnen auf den strategisch günstigen Augenblick sind erforderlich. Dem Umbau der Gesellschaft, dem Wandel der zwischenmenschlichen Beziehungen entsprechend, baut sich auch der Affekthaushalt des einzelnen um: Dort wächst die Reihe der Handlungen und die Zahl der Menschen, von denen der einzelne und seine Handlungen beständig abhängen, hier die Gewohnheit zur Sicht über längere Ketten hin.15

In seinem Hauptwerk »Der Prozess der Zivilisation« beschreibt Norbert Elias eine seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit über Jahrhunderte sich erstreckende Zivilisationsbewegung, in deren Verlauf

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Fremdzwänge in Selbstzwänge sich verwandeln, in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, die Regelung des gesamten Triebund Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird16 .

Bislang stärker von außen, von der Kontrolle durch die übergeordneten Autoritäten, bewirkte Verhaltenszwänge verlagern sich nach innen, in die Psychostruktur der gesellschaftlichen Menschen als von ihnen selbst bewirkte Motivationen und Hemmnisse des sozialen Handelns. Es entsteht nicht eine neue Freiheit, sondern ein anders als bisher organisierter Zwang. »Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang«17, so lautet die von Elias entwickelte Formel für die neue gesellschaftliche Verhaltensformierung. Der Wandel des Verhaltens hängt eng mit dem Wandel der Verhältnisse zusammen. Die durch den Wandel der politischen – der Bildung von Staaten – und wirtschaftlichen – z.B. der Entwicklung des Fernhandels – Verhältnisse wachsende Interdependenz der Menschen im gesellschaftlichen Prozess ist die treibende Kraft des Zivilisationsprozesses. Im Laufe der abendländischen Geschichte differenzieren sich die gesellschaftlichen Funktionen unter einem starken Konkurrenzdruck mehr und mehr. Je mehr sie sich differenzieren, desto größer wird die Zahl der Funktionen und damit der Menschen, von denen der Einzelne bei all seinen Verrichtungen, bei den simpelsten und alltäglichsten ebenso wie bei den komplizierteren und selteneren, beständig abhängt. Im Hochmittelalter entsteht eine neue Verteilungsproblematik jener Ressource, die die Grundlage der Subsistenz der mittelalterlichen Oberschicht ausmacht, des Besitzes an Grund und Boden. Wer kein Territorium sein eigen nennt oder nicht imstande ist, es zu verteidigen, ist nicht im Besitz seiner vollen Rechte. Persönliche Autonomie ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, und das wiederum ist gleichbedeutend mit Grundbesitz. Herrschaft ist zu allererst Herrschaft über ein eigenes Territorium, Leibeigene, Frauen und Nachkommen. Im späteren 11. und im 12. Jahrhundert aber gehen die Expansionsmöglichkeiten der vorwiegend agrarisch wirtschaftenden Gesellschaft zur Neige. Der Großteil des verfügbaren Bodens ist verteilt, Eroberungen – etwa im Zuge der Kreuzzüge – sind rar und unsicher. Auf der anderen Seite wächst die Kriegerbevölkerung noch immer. Bis zu zehn

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Söhne sind in den Chroniken der Barone keine Seltenheit. Ihnen allen noch Land zu verschaffen, ist nicht möglich. Es entstehen Standesunterschiede zwischen denen, die noch Herrn über Land und Leute sind, und denen, die genötigt sind, sich in ihre Dienste zu begeben. In einer Atmosphäre zunehmender Konkurrenz sehen sich Kleinere, weniger Mächtige genötigt, sich dem Schutz der Größeren zu unterstellen, diese wiederum müssen zur Verteidigung ihres Territoriums Krieger bei sich einstellen, die sie durch die Zuteilung von Land entlohnen. Auf diese Weise entstehen differenzierte Verhältnisse von Unter- und Überordnung. Die entscheidenden Orte, an denen diese Veränderungen Platz zu greifen beginnen, sind die mittelalterlichen Höfe, jene wachsenden sozialen Zentren, in denen immer mehr in ihrem Rang unterschiedene und sich ihrerseits nochmals von den nichtadeligen Klerikern und Bauern unterscheidende Menschen zusammenleben. Nicht von ungefähr bezeichnet Elias deshalb den Prozess des Erlernens des Gewaltverzichtes als »Verhöflichung der Krieger«. Die gegenüber den kleineren, selbstherrlichen Burgen neue Sozialform des Hofes erfordert zumindest zweierlei: Die Distanz aller zum absolut herrschenden Feudalherren muss in allen Lebensbereichen etabliert und deutlich gemacht werden und ebenso die Distanz der Edelleute unterschiedlichen Ranges untereinander. An den großen Höfen, den zentralen Orten der Einübung in die neuen Verhaltenszwänge, muss jeder wissen, wer zu welcher Clique gehört, wer die Gunst des Königs in einem höheren Maße hat als jemand anderer, wer wie viel Einfluss und Macht hat. Persönliche wie soziale Konflikte dürfen nicht weiter im offenen Kampf gegeneinander entschieden werden, sondern ausschließlich über die Vermittlung zentraler Instanzen, des Grundherrn, der regionalen Herrschaft und letztlich des Königs. Das erfordert bisher ungekannte Fähigkeiten der Zurückhaltung und Rücksichtnahme auf allen Ebenen des Verhaltens. An den Höfen beginnt jene Höf- lichkeit, die heute teils belächelt, teils auch schon wieder nachdrücklich gefordert wird. Alle diese Veränderungen gehen zwar »gewiss nicht auf eine rationale Idee zurück, die vor Jahrhunderten irgendwann einmal einzelne Menschen konzipierten und die dann einer Generation nach der anderen als Zweck des Handelns, als Ziel der Wünsche eingepflanzt wurde«, aber sie sind dennoch nicht nur »ein strukturloser und chaotischer Wechsel«. Vielmehr kann

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diese fundamentale Verflechtung der einzelnen menschlichen Pläne und Handlungen Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. […] [Es ist] diese Verflechtungsordnung, die den Gang des menschlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt. 18

3 D IE V ERHÖFLICHUNG DER K RIEGER Im Zentrum der Veränderungen steht der immer dringlicher abverlangte Verzicht auf die eigenmächtige Ausübung unmittelbarer körperlicher Gewalt und deren »Monopolisierung« bei zentralen staatlichen Instanzen. Eine zunehmend mehrschichtige, aus Menschen mit abgestuften Rechten und Möglichkeiten bestehende Gesellschaft, eine immer kompliziertere, auf der Basis längerer, verzweigterer ökonomischer Vorgänge aufbauende Form des Zusammenlebens verträgt jenes hohe Maß direkten gewaltsamen Zugriffs nicht mehr, das die frühe mittelalterliche Kriegergesellschaft kennzeichnet. Die angestammte Gewalttätigkeit und Gewaltfähigkeit »voller, kontaktbereiter Körper«19 muss in dieser wachsend interdependenten Gesellschaft zunehmend verlernt werden. Ein Grundherr darf »seinem Leibeigenen nicht mehr umstandslos den Schädel einschlagen, wenn ihm danach ist«, sondern muss, »weil der Landesherr die Halsgerichtsbarkeit an sich gezogen hat, mit den gewalttätigen Affekten, die bislang sein souveränes Recht waren, auf den nächsten Hof- und Gerichtstag warten und dort vielleicht auch noch seine Sache in einer gegen ihn schon verselbständigten, kodifizierten Form vortragen«.20 Es müssen Verhaltensweisen geschaffen werden, die es den Männern ermöglichen, »dass nicht jeder beim geringsten Ärger den Tischnachbarn erschlug oder sich der nächsten Frau bemächtigte«21 . Die Entwöhnung adeliger Männer von ihrer angestammten Gewalttätigkeit wird durch die Vergrößerung der Rangunterschiede und die insgesamt wachsende gesellschaftlich-wirtschaftliche Verflechtung unausweichlich. Der Verzicht auf unmittelbare Gewalttätigkeit wird aber nicht mehr mit physischer Gewaltandrohung gegen den Einzelnen durchgesetzt, sondern soll durch die Heranbildung innerer, psychischer Hemmungen im Individuum selbst erreicht werden. Die kurzfristige, affektgeladene

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Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse wird immer weniger gesellschaftsfähig. Selbst der berufsmäßige Krieger schwört im 15. Jahrhundert nicht mehr auf die Lust an der Grausamkeit, sondern auf das Glück der Kameradschaft: Es ist ein fröhliches Ding um den Krieg. Man liebt einander so sehr im Krieg. Sieht man, dass die Sache steht gut und die Eigenen kämpfen Tapfer, dann steigt einem die Träne ins Auge. Eine süße Freude steigt im Herzen auf, im Gefühl, wie redlich und treu man zueinander steht.; und wenn man den Freund sieht, der seinen Leib so tapfer der Gefahr aussetzt […] dann nimmt man sich vor, hinzugehen und zu sterben oder zu leben mit ihm und ihn nie wegen einer Liebe zu verlassen. 22

Den Anforderungen, die das Kriegshandwerk an den Ritter stellt, treten jene gegenüber, die das höfische Leben an ihn stellt. Toute la vertu et perfestion du Gentilhomme, Monseigneur, ne constiste pas à piquer bien un cheval, manier un lance, à se tenir propre son harmois, à s’aider de toutes armes, à se gouverner modestement entre des dames ou à dresser l’amour. 23

Er muss auch seine Pflichten am Hofe beherrschen, den »Dienst an der Tafel der Könige und Prinzen, die Art, seine Sprache abzumessen, genau nach Rang und Stand der Personen, mit denen man spricht, die Haltung der Augen, der Gesten, alles bis zur geringsten Bewegung, bis zum Zwinkern des Auges«24 . Der Kampf um das Prestige und um die Gunst des jeweiligen Herrn kann nicht mehr mit dem Degen ausgefochten werden. Er bedarf der Kenntnis des Beziehungsgeflechtes am Hofe, des Geschicks der Cliquenbildung, der Beherrschung der Intrige – ein Krieg der Worte, nicht der Waffen. Der Hof funktioniert wie eine Börse: Alles das, Gunst, Einfluss, Bedeutung, dieses ganze komplizierte und gefährliche Spiel, bei dem körperliche Gewaltanwendung und unmittelbare Affektausbrüche verboten sind und die Existenz bedrohen, verlangt von jedem Beteiligten eine beständige Langsicht, eine genaue Kenntnis des Anderen und seiner Stellung, seines Kurswertes im Geflecht der höfischen Meinungen. 25

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Mit traditioneller Kriegskunst oder brachialer Gewalt ist hier nicht mehr durchzukommen. Das musste auch der Herzog von Montgomery im Kampf um den Einfluss im Reich Heinrich IV. bitter zur Kenntnis nehmen. Von ungestümer Kampfeslust ergriffen, schlug er die Warnungen seiner Kampfgefährten, zuvor mit Geschützen die Schlachtordnung des Feindes zu erschüttern, in den Wind und stürmte mit seinem prächtig geschmückten Streithengst voran – direkt in den Hagel aus den Musketen der feindlichen Front.26 Verwundet, gefangen und hingerichtet hatte der Herzog nicht mehr die Zeit, jene mühsam zu erwerbende Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs zu erlernen, die als »differt gratification pattern« zum sine qua non bürgerlichen und modernen Lebenserfolgs geworden ist. Der »Foror des Kriegers«, früher ein notwendiger Affekt im Kampf um Prestige und Macht, wird nun zur Ursache der Niederlage. »Der veränderte Aufbau der Gesellschaft bestraft jetzt Affektentladungen und Aktionen ohne entsprechende Langsicht mit dem sicheren Untergang.«27 Die neue Welt des Hofes bedarf zur Durchsetzung der eigenen Interessen ganz anderer Mittel. Der Höfling kalkuliert nicht nur langsichtig und planvoll, er muss jene »höfische Rationalität« beherrschen, die im geduldigen Zuhören, im perfekt platzierten Lob, im geschickten Wahrnehmen der kommunikativen Chancen und im diplomatischen Betreiben der eigenen Interessen besteht. Nicht durch äußeren, sondern durch einen auf sich selbst ausgeübten Zwang soll jeder Einzelne diesem von allen geforderten Verhalten entsprechen, indem er bei sich selbst, über den Aufbau einer dafür geeigneten psychischen Motivation – und das heißt im Wesentlichen über unerwünschte Wünsche blockierende Ängste – hemmende Mechanismen der Kontrolle aufbaut. Wenn »Seele« zuvor die Empfindungsseite des Körpers war, so wird sie nun zur »Psyche«, zur Kontrollinstanz gegen die Unmittelbarkeit körperlicher Impulse. Die Menschen werden psychisiert. Der Psychisierung des Verhaltens entspricht die Psychologisierung des Umgangs der Menschen miteinander; »Und wie sich so Verhalten und Seelenhaushalt des Einzelnen verändern, ändert sich in entsprechender Weise auch die Art, in der ein Mensch den anderen betrachtet; das Bild, das der Mensch vom Menschen hat, wird reicher an Schattierungen, es wird freier von momentanen Emotionen: es ›psychologisiert‹ sich.«28 Besonders im näheren und weiteren Zirkel des Hofes entwickelt sich das, was wir heute wohl eine »psychologische« Betrachtung des Menschen nennen würden, eine genaue Beobachtung des Anderen und seiner selbst über längere Motiva-

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tionsreihen und größere Zusammenhangsketten hin, eben weil hier die Überwachung seiner selbst und die beständige, sorgfältige Beobachtung anderer zu den elementaren Voraussetzungen für die Wahrung der gesellschaftlichen Position gehört. 29

»Geflügelte Raubblicke die flogen da wie dichtes Schneegestöber gewalttätig hin und her«, so wird Gottfried von Straßburg um 1210 in seinem Epos »Tristan und Isolde« diese neue Art der sozialen Beziehungen charakterisieren.30 So wie sie stets bemüht sind, das Verhalten der anderen durch deren Beobachtung einzuschätzen, so sollen sich die Menschen nach dem Willen der Mächtigen auch selbst permanent beobachtet und durchschaut fühlen: Die Blicke des Kaisers reichen, so Reinmar von Zweter31 in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, überall hin. Big Brother is watching you: Der Wald hat Ohren, das Feld Augen; ihr hochadeligen Fürsten, flüstert nicht von dem gewaltigen Kaiser wenn ihr es nicht wagt, vor dem Kaiser leise oder laut zu reden. Seine Ohren hören durch den Wald, seine Augen schweifen über das Feld, seine Überwachung ist vielfältig sein Beobachtungs- und Zuträgersystem ist schneller als eine Windsbraut. 32

Beide »Formen der Langsicht, die Rationalisierung und die Psychologisierung«, machen die neuen Verhaltensanforderungen der Verhöflichung der Krieger aus, die in der Figur des langfristig und planvoll wirtschaftenden Entrepreneurs des bürgerlichen Zeitalters ihre Fortsetzung und in den vernetzten Gefügen moderner Ökonomie, Politik und – nicht zuletzt – privater Beziehungsgeflechte ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben.33 So riskant der kühne Blick auf die gesamte Geschichte der Menschen ist: Es dürfte schwer sein, in ihr jemals stärker zur Kontrolle des eigenen Verhaltens befähigte Menschen zu finden als die Abendländer der Gegenwart.

4 S CHAM UND P EINLICHKEIT Die neuen Verhaltensstandards lassen sich auf zahlreichen Ebenen des Lebens der Menschen nachweisen. Elias selbst hat sie in Bezug auf Essen, Schlafen und Geschlechterbeziehung, vor allem aber an der Eindämmung der körperlichen Gewalttätigkeit, aufgezeigt. Die maßgeblichen

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psychischen Instanzen zur »Dämpfung der Triebe«, die die strengere Verhaltensaufsicht der Einzelnen über sich bewerkstelligen, sind nach Elias neben der »Psychologisierung«, d.h. einer gesteigerten Selbst- und Fremdbeobachtung in Bezug auf die Kontrolle des Verhaltens, die »Rationalisierung«, d.h. eine verstärkte Orientierung des Verhaltens an den neuen Erfordernissen der Interdependenz, vor allem die »Scham«, d.h. die Angst davor, mit dem eigenen Handeln in Widerspruch zu den eigenen inneren Normen, dem »Über-Ich«, und den sozialen Ansprüchen der relevanten Bezugspersonen, insbesondere übergeordneter Personen, zu geraten, und die »Peinlichkeit«, d.h. die Angst, die entsteht, wenn äußere Ereignisse oder Gegebenheiten an die Grenzen gesellschaftlicher Normen und individueller Tabus rühren. »Wer nit wöll sitzen schamrott«, heißt es in Zarneckes »spruch, der ze tische kêrt«, »der schaff vor, was ihm sey not«, der nehme sich nur so viel, wie er braucht. Und dann folgen die bekannten Gebote und Verbote. Damit ist jener Mechanismus direkt angesprochen, der die Bewegung vom unmittelbareren Er- und Ausleben zum kontrollierteren Verhalten in Gang bringt und den Norbert Elias als »Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle«34 bezeichnet. Das Schamgefühl ist nach Elias keine bloß psychische Eigenschaft, sondern eine soziale Reaktion: »eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten anderer«, die man »weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann«.35 Dabei geht es nicht um die physische Überlegenheit der anderen, die Wehrlosigkeit besteht vielmehr darin, dass die Menschen, deren Überlegenheit man fürchtet, sich im Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangapparatur, die in dem Individuum durch Andere, von denen er abhängig war, und die ihm gegenüber daher ein gewisses Maß von Macht und Überlegenheit hatten, herangezüchtet worden ist. 36

Das bewirkt, dass »die Angst, die wir Scham nennen«, eine leise Angst ist, eine, die wir nicht laut herausschreien, sondern die wir lieber verbergen würden. Deckt sie doch den Konflikt auf, »in den sein Verhalten das Individuum mit einem Teil seines Selbst gebracht hat«.37 Durch die zivilisatorische Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge hat sich die Haltung der anderen, Überlegenen, im schamhaften Menschen »zu einer

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Haltung verfestigt, die er automatisch sich selbst gegenüber einnimmt. Das ist es, was ihn gegenüber Überlegenheitsgesten Anderer, die in irgendeiner Hinsicht diesen Automatismus in ihm selbst aktualisieren, so wehrlos macht«38 . Scham ist also nicht, wie etwa Hans Peter Duerr in seiner Kritik am »Mythos vom Zivilisationsprozess« nachzuweisen versucht, ein überkulturell bzw. überzeitlich gleich bleibendes menschliches Grundgefühl, sondern eine soziale und sozial wandelbare Größe. Das heißt nicht, dass es nicht, wie Duerr vor allem in Bezug auf Nacktheit und Sexualität mit vielen Belegen aufzeigt, in vielen Epochen und Kulturen schamhaftes Verhalten, mit Scham belegte Verbote und Tabus gegeben hat, sondern lediglich, dass die Eigenart und die Intensität solcher Gefühle einschneidenden Änderungen unterworfen ist.39 In der Epoche des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, in der der gesellschaftliche Umbau in besonderem Maß die Verinnerlichung neuer sozialer Verhaltensweisen erzwang, tritt die Angst vor Beschämung stärker hervor, und schließlich werden Ängste dieser Art gegenüber anders getönten Ängsten – besonders gegenüber Ängsten vor der körperlichen Bedrohung und Überwältigung durch Andere – um so dominanter, je größere Menschenräume sich befrieden, je stärkere Bedeutung für die Prägung des Menschen die gleichmäßigeren Zwänge erhalten, die in den Menschenräumen an die erste Stelle rücken, wenn die körperliche Gewalt nur noch an ihrem Rande Wache steht. 40

Erst seit sie aufhörte, »Gefahrenzone erster Ordnung zu sein«, ist die gesamte Natur, »Wälder Wiesen und Berge«, von einer angstbesetzten zu einer lustbetonten Umgebung geworden. Erst wenn das Wegenetz, wie die Verflechtung, dichter wird, wenn Raubtiere langsam verschwinden, wenn Wald und Feld aufhören, der Schauplatz ungedämpfter Leidenschaften, wilder Jagden auf Menschen und Tiere, wilder Lust und wilder Angst zu sein, wenn sie statt dessen mehr und mehr durch friedliche Tätigkeiten, durch Erzeugung von Gütern, durch Handel und Verkehr modelliert werden, […] [erst dann werden die Menschen] offen für das, was man die Schönheit der Natur nennt. 41

In ähnlicher Weise hören Anlässe der Gesellung auf, »dadurch eine Gefahrenquelle zu sein, dass Mahl, Tanz und lärmende Freude rasch und häufig

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in Wut, Prügelei und Mord umschlagen«42 . Gefahr droht nun von ganz woanders, nämlich von der Überschreitung jener inneren Verhaltenszwänge, die genau errichtet wurden, um die Befriedung solcher sozialer Szenen zu erreichen. Zur Charakterisierung des Schamgefühls bedient sich Norbert Elias der psychoanalytischen Terminologie Sigmund Freuds. Rationalisierung und Schamangst sind »verschiedene Aspekte der wachsenden Differenzierung zwischen Triebfunktionen und zwischen ›Es‹ und ›Ich‹ oder ›ÜberIch‹«43 . Die beiden letzteren Potentiale bilden »das Zentrum, von dem aus der Mensch teils bewusst, teils auch ganz automatisch und unbewusst sein ›Inneres‹, seine eigenen Triebregungen steuert und reguliert«. Sie haben »eine doppelte Aufgabe: Sie treiben zugleich eine Innenpolitik und eine Außenpolitik, die allerdings nicht immer im Einklang, sondern oft genug im Widerspruch zueinander stehen.«44 Je stärker der Druck der Rationalisierung des Verhaltens und damit die Anforderungen des Über-Ichs werden, desto massiver können die Widersprüche zwischen unzivilisierten Triebimpulsen und anerzogenen Selbstzwängen und damit die Schamgefühle werden: Die Schamgrenze rückt vor. Das »untrennbare Gegenstück zu den Schamgefühlen« bilden die Peinlichkeitsgefühle. Wie diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich die Angst – nach Art eines »bedingten Reflexes« – bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das ÜberIch repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht. 45

Unangemessenes Verhalten von Menschen, unangebrachte Dinge oder unangebrachte Zustände werden zur Quelle von »Unlust, zu Erregern von Peinlichkeitsgefühlen verschiedenen Grades«46. Was damit gemeint ist, lässt sich unter anderem am Beispiel des Umgangs mit Fleisch und tierischer Nahrung zeigen. Abgesehen davon, dass Fleisch bis weit herauf in unsere Zeit stets ein knappes Gut und im Allgemeinen den Reicheren vor-

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behalten war, gibt es eine Entwicklung vom ungezwungenen Umgang mit dem getöteten Tier bis zu dessen immer größerer Unkenntlichmachung. In der Oberschicht der mittelalterlichen Gesellschaft kommt sehr oft das tote Tier oder größere Teile des Tieres als Ganzes auf den Tisch. Nicht nur ganze Fische, ganze Vögel, z.T. mit ihren Federn, sondern auch ganze Hasen, ganze Lämmer und Kalbsviertel erscheinen auf der Tafel, ganz zu schweigen von größerem Wildbret oder den am Spieß gebratenen Schweinen und Ochsen. 47

Das kunstvolle Zerlegen und Austeilen der Tiere am Tisch gehört noch im 17. Jahrhundert zu den besonders wichtigen ehrenvollen Tätigkeiten des Hausherrn, angesehener Gäste oder eines bevorzugten Dieners: Weil des Trincianten Ampt an Fürstlichen Höfen nit das geringste, sondern unter die Fürnembsten gerechnet wird, so soll derselbe entweder vom Adel oder sonsten guten Herkommens, gerades und wohlproportinierten Leibes, guten geraden Armen und leichten Händen sein. […] [Er soll zusehen], dass er unerschrocken sey, damit er durch Zittern des Leibes und Hände nicht Unehre einlege. 48

Wie Jagen, Fechten und Tanzen, so gehörte diese Kunst zu den Fähigkeiten, die ein Mann von Welt zu haben hatte. In dem Maße aber, wie der Anblick des gewaltsam getöteten Tieres nicht mehr als lustvoll, sondern als peinlich empfunden wird, beginnt schon die Erinnerung an das tote Tier, die mit dem Anblick eines Fleischgerichts verbunden ist, Abscheu zu erregen. Man sucht sie zu vermeiden. Aussehen und Geschmack des Fleisches werden so verändert, dass seine tierische Herkunft außer Acht gerät. »Das Zerlegen selbst verschwindet nicht, da das Tier ja zerlegt werden muss, wenn man es isst. Aber das peinlich Gewordene wird hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verlegt. Spezialisten besorgen es im Laden oder in der Küche.« Es zeigt sich, »dass diese Figur des Aussonderns, dieses ›Hinter-die Kulissen-Verlegen‹ des Peinlich gewordenen« charakteristisch »für den ganzen Vorgang dessen ist, was wir ›Zivilisation‹ nennen.«49 Im Zuge dieser Entwicklung von aufeinander bezogenen Prozessen der Sozio- und Psychogenese bildet sich ein neues Verhältnis der gesellschaftlichen Individuen und Kollektive zu ihren Körpern heraus, ein neuer, selbstbeherrschter Körper. In der Interpretation seiner Fundstücke aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Manierenschriften zeigt Elias die

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mühsamen und schwierigen Strategien des Übergangs, mit denen der Wandel des Verhaltens der Menschen vor allem in der Beziehung zu ihren Körpern und deren gewohnten Äußerungsweisen verbunden waren. Sind manche Verrichtungen, wie etwa Ausscheidungen, zunächst nur in geringem Maß mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt und »so selbstverständlich wie Kämmen oder Schuhe anziehen«50, so werden sie mit der Zeit den Erwachsenen zunehmend peinlich und aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Einhaltung der neuen Verhaltenszwänge wird durch die Entwicklung entsprechender Techniken, von Nachttöpfen über Aborte bis zum Wasserklosett, unterstützt. Es ist aber nicht die Technik, die die neuen Zwänge hervorruft, sondern umgekehrt: Die neue Peinlichkeit regt die Erfindung neuer Geräte an, die dem Verbergen des Peinlichen dienlich sind. Es verhielt sich auch damit ähnlich, wie mit der Esstechnik. Der Prozess der seelischen Veränderung, das Vorrücken der Schamgrenze und der Peinlichkeitsschwelle ist nicht von einer Seite, und ganz gewiss nicht aus der Entwicklung der Technik oder der wissenschaftlichen Entdeckungen zu erklären. Im Gegenteil, es wäre nicht sehr schwer, die Soziogenese und Psychogenese dieser Erfindungen und Entdeckungen aufzuzeigen. 51

Mit dem »spezifischen und dauernden Zusammenleben vieler sozial abhängiger Menschen am Hof verstärkt sich der Druck von oben zu einer schärferen Regelung des Triebhaushalts und damit zu größerer Zurückhaltung«52 . Das geforderte Maß an Anpassung ist zugleich ein Gradmesser sozialer Distinktion, die unter den Bedingungen absolutistischer Herrschaft groß ist, unter dem Einfluss wachsender Interdependenz aber kleiner wird. Zunächst gilt die geforderte Zurückhaltung nur gegenüber Höherstehenden oder Gleichgestellten. In Frankreich empfangen noch im 17. Jahrhundert Könige und große Herren besonders bevorzugte Niedrigerstehende bei Gelegenheiten, von denen man später dann in Deutschland fast sprichwörtlich sagte, selbst der Kaiser müsse allein dabei sein; Niedrigerstehende zu empfangen, wenn man sich aus dem Bett erhebt und anzieht oder auch, wenn man zu Bett geht, ist durch eine ganze Periode hindurch ein selbstverständlicher Gebrauch. Und es verrät ganz den gleichen Stand der Schamgefühle, wenn etwa die Freundin Voltaires, die Marquise de Châtelet sich vor ihrem Kammerdiener beim Baden in einer Weise nackt zeigt, die ihn in

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Verlegenheit setzt, während sie ihn mit vollkommener Unbekümmertheit ausschilt, weil er das heiße Wasser nicht ordentlich zuschüttet. 53

Mit zunehmender Abhängigkeit aller von allen verlieren Standesunterschiede an Bedeutung. Wenn im Zuge der wachsenden Arbeitsteilung die Verflechtung der Menschen intensiver wird, werden immer stärker alle von allen, auch die sozial Höherstehenden von den sozial niedriger Rangierenden und Schwächeren, abhängig. Für jene, für die sozial Stärkeren werden diese so weit ihresgleichen, dass sie sich, um es drastisch auszudrücken, selbst vor ihnen vor den sozial Niedrigerstehenden, schämen. Erst damit schließt sich die Rüstung um das Triebleben bis zu jenem Grade, der den Menschen der demokratisch-industriellen Gesellschaft dann allmählich als selbstverständlich erscheint. 54

Die Körperscham angesichts des nackten Körpers erreicht allmählich alle gesellschaftlichen Schichten. Zunächst wird es zu einem peinlichen Verstoß, sich in irgendeiner Form entblößt vor Höherstehenden oder Gleichgestellten zu zeigen; im Verkehr mit Niedrigerstehenden kann es sogar ein Zeichen des Wohlwollens sein. Dann, wenn alle sozial gleicher werden wird es langsam zu einem allgemeinen Verstoß. Die Gesellschaftsbezogenheit der Scham und Peinlichkeit tritt mehr und mehr aus dem Bewusstsein zurück. Gerade weil das gesellschaftliche Gebot, sich nicht entblößt oder bei natürlichen Verrichtungen zu zeigen, nun gegenüber allen Menschen gilt und in dieser Form dem Kinde eingeprägt wird, erscheint es dem Erwachsenen als Gebot seines eigenen Innern und erhält die Form eines mehr oder weniger totalen und automatisch wirkenden Selbstzwanges. 55

Nicht mehr der Hof ist dann der Ort der Umerziehung, sondern die bürgerliche Familie. Erst verhältnismäßig spät, wenn bürgerliche Schichten, also im Verhältnis zu früher, Massenschichten mit relativ vielen sozial Gleichstehenden, zur Oberschicht, zur herrschenden Schicht geworden sind, wird die Familie zur alleinigen oder genauer gesagt, zur primären und vorherrschenden Produktionsstätte des Triebverzichts; erst dann wird die gesellschaftliche Abhängigkeit des Kindes von den Eltern zur frühesten und zu einer besonders wichtigen, besonders

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intensiven Kraftquelle der gesellschaftlich notwendigen Affektregulierung und -modellierung. 56

Die Internalisierung der geforderten Verhaltensstandards erfolgt mit wachsender Bedeutung der bürgerlichen Familie über das ErwachsenenKind-Verhältnis. Die Abhängigkeit zwischen einst Höherstehenden und Niedrigerstehenden hat sich in gewisser Weise auf dieses Verhältnis übertragen. Der Standard, der sich in unserer Phase der Zivilisation herausbildet, ist durch eine mächtige Distanz zwischen dem Verhalten der sog. »Erwachsenen« und der Kinder charakterisiert. Die Kinder müssen in verhältnismäßig wenig Jahren den vorgerückten Stand der Scham und Peinlichkeitsgefühle erreichen, der sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet hat. Ihr Triebleben muß rasch jener strengen Regelung und jener spezifischen Modellierung unterworfen werden, die unseren Gesellschaften das Gepräge gibt, und die sich in der geschichtlichen Entwicklung ganz langsam entwickelte. Die Eltern sind dabei nur die – oft unzulänglichen Instrumente, die primären Exekutoren der Konditionierung, aber durch sie, durch tausend andere Instrumente ist es immer die Gesellschaft als Ganzes, das gesamte Geflecht der Menschen, das seinen Druck auf die heranwachsenden ausübt und sich ihn vollkommener oder unvollkommener zurechtformt. 57

Wie Philippe Ariés58 nimmt auch Elias für das Mittelalter einen geringeren Unterschied zwischen dem Erwachsenen- und dem Kindheitsstatus an. Auch im Mittelalter war es die Gesellschaft als Ganzes, die formte, wenn auch […] die Mechanismen der Modellierung, wenn auch ihre Exekutions- oder Konditionierungsorgane, besonders in der Oberschicht, zum guten Teil andere waren als heute. Vor allem aber war die Regelung der Zurückhaltung, denen das Triebleben der Erwachsenen unterworfen war, erheblich geringer als in der nächsten Phase der Zivilisation, und infolgedessen auch der Unterschied im Verhalten der Erwachsenen und der Kinder. 59

An den Kindern könne man heute noch manches sehen, was den Mittelalterlichen durch die neuen Vorschriften abgewöhnt werden sollte.

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Die Neigungen und Tendenzen, auf deren Bewältigung sich die mittelalterlichen Manierenschriften richten, sind im einzelnen oft die gleichen, die sich auch heute noch oft bei Kindern erkennen lassen. Allerdings werden sie heute so frühzeitig bearbeitet, dass bestimmte »Unsitten«, die in der mittelalterlichen Welt noch ganz geläufig waren, in der heutigen kaum noch im gesellschaftlichen Leben zutage treten.60

Manche Vorschriften, die sich heute an Kinder richten, sind jenen, die sich im Mittelalter an Erwachsene richteten, nicht unähnlich. Auch heute wird dem Kind eingeschärft, nicht sofort nach etwas zu greifen, was auf dem Tisch steht, wenn es Lust dazu hat, und sich nicht zu jucken oder nicht bei Tisch Nase, Ohren, Auge oder andere Teile seines Körpers zu berühren. Das Kind wird gelehrt, nicht mit vollem Mund zu sprechen und zu trinken oder sich nicht auf den Tisch zu »lümmeln« und was dergleichen mehr ist. Ein guter Teil dieser Vorschriften findet sich beispielsweise auch in Tannhäusers »Hofzucht«, aber sie sind hier ganz und gar nicht nur an Kinder, sie sind unzweideutig auch an Erwachsene gerichtet. 61

Insbesondere, was die natürlichen Bedürfnisse betrifft, erscheint Elias diese Parallelität auf der Hand zu liegen: Und das wird noch deutlicher, wenn man die Art betrachtet, in der früher die Erwachsenen ihre natürlichen Bedürfnisse erledigten. Es geschah sehr oft – Beispiele zeigen es – in einer Weise, die man heute gerade Kindern nachzusehen bereit wäre. Man erledigte sie häufig genug, wenn und wo sie einen gerade ankamen. Das Maß von Triebverhaltung und -regelung, das die Erwachsenen voneinander erwarteten, war nicht viel größer als das den Kindern auferlegte. Die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern war, gemessen an der heutigen Distanz, gering.62

Für heutige Kinder gibt es zur Anpassung an das zivilisierte Verhalten keine Alternative mehr: Heute legt sich der Ring von Vorschriften und Regelungen so eng um den Menschen, die Zensur und der Druck des gesellschaftlichen Lebens, die seine Gewohnheiten formen, ist so stark, dass es für den Heranwachsenden nur eine Alternative gibt: sich der gesellschaftlichen geforderten Gestaltung des Verhaltens

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zu unterwerfen oder vom Leben in der »gesitteten Gesellschaft« ausgeschlossen zu bleiben. Ein Kind, das nicht auf den Stand der gesellschaftlich geforderten Affektgestaltung gelangt, gilt in verschiedenen Abstufungen als »krank«; »anormal«, »kriminell« oder auch nur als »unmöglich«, von einer bestimmten Kaste oder Sicht her gesehen, und bleibt dementsprechend von deren Leben ausgeschlossen.63

In der Gegenwart lässt sich, wie auch der entschiedene Elias-Kritiker Hans Peter Duerr betont, zwar eine gewisse Lockerung der Zwänge beobachten. Sie beginnt aber bei einem bereits hohen Niveau der Selbstkontrolle. Es ist nicht uninteressant, zu beobachten, dass nun heute, nachdem dieser Stand des Verhaltens in ganz hohem Maße verfestigt und selbstverständlich geworden ist, vor allem gegenüber dem 19. Jahrhundert eine gewisse Lockerung eintritt, zum mindesten, was das Sprechen von den natürlichen Verrichtungen angeht. Die »Freiheit« die Unbefangenheit, mit der man sagt, was zu sagen ist, und zwar ohne Verlegenheit, ohne das gepresste Lächeln und Gelächter der Tabu-Übertretung, ist in der Nachkriegszeit offenbar größer geworden. 64

Das muss aber keine Aufhebung der zivilisationsgeschichtlich erworbenen Selbstzwänge bedeuten. Es ist vielmehr »nur möglich, weil der Stand der Gewohnheiten, der seelisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge, das Maß der Zurückhaltung des eigenen Trieblebens und des Verhaltens selbst entsprechend dem vorgerückten Peinlichkeitsgefühl zunächst im großen und ganzen gesichert ist. Es ist eine Lockerung im Rahmen des einmal erreichten Standards.«65

5 H ELIOZENTRIK Das erst spät zu wissenschaftlichem Ansehen gelangte Werk über den Prozess der Zivilisation ist vor allem durch die bisher referierten zivilisationsgeschichtlichen Thesen wie die »Verschiebung der Schamgrenze«, die »Hemmung der Angriffslust« oder die »Monopolisierung der Gewalt« bekannt und diskutiert worden. Elias’ grundlegende Bemerkungen zu den Auswirkungen der auf wachsende Verinnerlichung äußerer Verhaltenszwänge gegründeten Konzeption des in sich selbst verschlossenen »homo

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clausus« auf das moderne Wissenschaftsverständnis wurden dagegen seltener rezipiert. In der grundlegenden Einleitung zu seinem zweibändigen Werk äußert Elias die Vermutung, dass die Erschütterung des geozentrischen Weltbildes durch Kopernikus das Menschenbild der modernen Abendländer nachhaltig verändert hat. Es ist offensichtlich, dass diese veränderte Vorstellung der Menschen von der Figuration der Gestirne nicht möglich gewesen wäre ohne eine starke Erschütterung des zuvor herrschenden Bildes der Menschen von sich selbst, ohne das Vermögen der Menschen, sich selbst in einem anderen Lichte zu sehen als zuvor. Primär ist für Menschen überall eine Erfahrungsweise, kraft deren sie selbst im Mittelpunkt des Weltgeschehens stehen, und zwar nicht nur als einzelne, sondern auch als Gruppen. Das geozentrische Weltbild ist der Ausdruck dieser spontanen und unreflektierten Selbstzentriertheit der Menschen, dem man heute noch unzweideutig genug im Denken der Menschen außerhalb der Naturbereiche, also zum Beispiel in den natiozentrischen oder in den um das vereinzelte Individuum zentrierten soziologischen Denkweisen begegnet.66

Die neuen Erkenntnisse bewirkten in der langen Geschichte ihrer Rezeption eine doppelte Wende in Bezug auf das, was Max Scheler die »Stellung des Menschen im Kosmos« nennt: Die radikale Trennung der Subjektivität des Menschen von der Objektivität der Natur und gleichzeitig die Wiedereinsetzung des physikalisch aus dem Zentrum des Kosmos verdrängten Menschen als zentrale Instanz der Erkenntnis und der Kontrolle der Natur. Die unter größtem Widerstreben erfolgte Zurkenntnisnahme der heliozentrischen Kosmologie durch die aus der Mitte der Welt entfernten Menschen war nur möglich, weil gleichzeitig – und wohl auch durch die kopernikanische Sicht mitbedingt – die zivilisatorische Fähigkeit der Selbst- und Gefühlskontrolle bei den Menschen größer wurde. Der äußeren Dislozierung von der Mitte an den Rand des Universums entsprach die Errichtung neuer Instanzen einer inneren Zentrierung. Nun, in der Periode, die wir »Neuzeit« nennen, erreichen die Menschen eine Stufe der Selbstdistanzierung, die es ihnen ermöglicht, das Naturgeschehen gedanklich als einen eigengesetzlichen Zusammenhang zu verarbeiten, der sich ohne Absicht, ohne Zweck und ohne Bestimmung rein mechanisch oder kausal vollzieht, und der einen Sinn und einen Zweck für sie selbst nur dann hat, wenn sie

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in der Lage sind, ihn auf Grund ihrer Sachkenntnis zu kontrollieren und ihm auf diese Weise selbst einen Sinn und einen Zweck zu geben. 67

Die »neuen« Menschen sind noch nicht in der Lage, diesen Wandel ihrer subjektiven Positionierung gegenüber der objektiven Welt als solchen zu erkennen, sich selbst als distanziertere, stärker von innen kontrollierte Individuen wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Erkenntnistheorie dieser Zeit beachtet eher die Voraussetzungen der Erforschung der »objektiven« Gegebenheiten als die damit einhergehenden, ihr vorausgesetzten und durch sie bedingten Veränderungen beim erkennenden Subjekt. Die Distanzierung des »Denkenden« von seinen Objekten im Akt des erkennenden Denkens und die Affektzurückhaltung, die sie erforderte, stellt sich auf dieser Stufe beim Nachdenken darüber zunächst nicht als solche, nicht als ein Akt der Distanzierung dar, sondern als eine tatsächlich vorhandene Distanz, als ein ewiger Zustand der räumlichen Trennung eines scheinbar im »Inneren« des Menschen verschlossenen Denkapparates, eines »Verstandes«, einer »Vernunft«, die durch eine unsichtbare Mauer von den Objekten »draußen« abgetrennt ist. 68

Die Unfähigkeit der neuzeitlichen Menschen, die Dezentrierung in ihr Selbstbild zu integrieren, führte zu einer strikten Trennung zwischen dem eigenen – erkennenden – »Inneren« und der Welt der »äußeren« Dinge, die nach naturwissenschaftlichen Gesetzen funktionieren. Die kopernikanische Wende hatte erkenntnistheoretische Konsequenzen. »Hier liegt einer der Schlüssel, warum das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis die heute wohlvertraute Fassung der klassischen europäischen Erkenntnistheorie annahm.«69 Das als Verhältnis getrennter Tatsachen missverstandene wechselseitige Austauschverhältnis zwischen erkennenden Subjekten und erkannten Objekten wird nicht nur zur Ausschließlichkeit zwischen der erkennenden Vernunft und ihren Gegenständen, sondern auch zwischen dem Innen und Außen überhaupt, dem »Ich« und der »Welt«. Der Akt des gedanklichen Abstandnehmens von den Objekten des Nachdenkens, den jede in höherem Maße gefühlskontrollierte Reflexion einschließt, den insbesondere die wissenschaftliche Denk- und Beobachtungsarbeit verlangt – und der sie zugleich möglich macht – stellt sich in der Selbsterfahrung dieser Stufe als ein tatsächlich existierender Abstand des Denkenden von den Objekten seines

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Denkens dar; und die stärkere Zurückhaltung affektgeladener Impulse gegenüber den Gegenständen des Denkens und Beobachtens, die mit jedem Schritt auf dem Wege der stärkeren gedanklichen Distanzierung Hand in Hand geht, stellt sich in der Selbsterfahrung der Menschen hier als ein tatsächlich existierender Käfig dar, der das »Selbst«, das »Ich« oder je nachdem auch die »Vernunft« und »Existenz« von der Welt »außerhalb« des Individuums ab- und ausschließt.70

Die für unsere Kultur typische auf der Ebene der subjektiven Selbstwahrnehmung stark empfundene Unterscheidung zwischen einer psychischen Innenwelt und einer physischen Außenwelt hat somit ebenso ihre zivilisationsgeschichtlichen Wurzeln wie die auf der Ebene der Erkenntnistheorie stark betonte Gegensätzlichkeit von Objekt und Subjekt, Vernunft und Gefühl. Die analytische Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, in der der Mensch auch sich selbst zum Objekt einer Erkenntnis macht und unabhängig von seiner je konkreten Subjektivität sein Wesen zu erkennen versucht, ist nach Elias Ergebnis einer Psychogenese, die selbst geschichtlich, also nicht wesenhaft ist. Subjekt und Objekt sind keine Elemente einer metaphysischen Statik, sondern dynamische Prozesse der Genese einer Welt- und Selbstkonzeption, die ihre Wurzeln in wandelbaren gesellschaftlichen Strukturen haben und die nachhaltige Folgen für die Konstituierung eines Wissens von der Natur – und von der Natur des Menschen – haben.

6 K RITIK Der »Prozess der Zivilisation« wurde erstmals 1939 in einem kleinen Schweizer Verlag gedruckt, der sich besonders der Publikation von Autoren widmete, die in Deutschland nicht veröffentlichen durften oder wollten. Der Jude Elias hatte zu diesem Zeitpunkt seine Frankfurter Stelle bereits verloren und befand sich im Londoner Exil. Wohl aufgrund dieser äußeren Umstände blieb die Resonanz auf das Buch, das weder nach Deutschland noch in die von Deutschland besetzten Länder exportiert werden konnte, gering.71 Die wenigen frühen Rezensionen bewerten die beiden Bände durchwegs sehr hoch, sie formulieren aber bereits einen Teil jener kritischen Einwände, die an diesem Werk bis heute geäußert werden: Die Unilinearität der Elias’schen Konzeption des Zivilisationsprozesses, die dessen Verlauf einigen wenigen in eine Richtung weisenden Dynami-

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ken unterwerfe; die geringe Beachtung des Einflusses des Christentums und der Kirche; das Zurückgehen der Triebhemmungen in der Gegenwart; eine unpräzise Verwendung psychoanalytischer Begriffe; die Überbetonung des Aspekts der Gewalt und eine Unterbetonung der Sexualität; eine zu geringe Berücksichtigung angeborener Verhaltenseigenschaften und eine zu optimistische Einschätzung der zivilisatorischen Zukunft. Auch nach 1945 war die Entwicklung der deutschen Soziologie, die nicht die Tradition Webers und Mannheims fortsetzen wollte, sondern sich auf die neue amerikanische Soziologie konzentrierte, sehr ungünstig für die Ideen Elias’. Erst das Erscheinen der zweiten Auflage des Zivilisationsprozesses im Jahr 1969 und insbesondere deren 1976 besorgter Nachdruck in dem renommierten deutschen Suhrkamp Verlag sollte der frühen Ahnung Borkenaus Recht geben, dass »kein Student der Soziologie, der an den Grenzbereichen zwischen individueller Psychologie und gesellschaftlicher Struktur interessiert ist« es sich zukünftig leisten kann, »an diesem Buch vorbeizugehen.«72 Die folgenden Hinweise zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias stützen sich auf die Berichte des zweiten Bandes der Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie73, auf die grundlegende Auseinandersetzung Stefan Breuers sowie auf eine grundsätzliche Kritik aus feministischer Sicht. Vor allem aber geht es um das Mammutwerk des Ethnologen Hans Peter Duerr zur Widerlegung des »Mythos vom Zivilisationsprozess«. Im Dezember 1981 veranstaltete die »Arbeitsgruppe Figuration«, eine Gruppe von niederländischen Wissenschaftlern-/innen, die sich die Verbreitung und Weiterführung der Elias-Tradition zur Aufgabe gesetzt hatte, in Amsterdam einen Kongress über Zivilisationsprozesse. Der Bericht über den Kongress, auf dem die Zivilisationstheorie Norbert Elias’ erstmalig »unter Beschuss« kam,74 stellt ein spannendes Stück Wissenschaftsgeschichte dar.75 Die Vorwürfe waren massiv: »ethnozentrisch«, »evolutionistisch«, »rassistisch« – und in dieser Übertriebenheit falsch. »Die vielfache, teils heftige Kritik kam nicht nur von Außerstehenden, sondern, zum Schrecken mancher, von ›Insidern‹, von Leuten, die zur Schule von Elias gezählt wurden und lange als entschiedene Verfechter dieser Theorie aufgetreten waren.«76 Zwei Fragen waren es vor allem, die die Kritiker beschäftigten: »Wie wirklichkeitstreu ist das Bild des westeuropäischen Zivilisationsprozesses, das in Über den Zivilisationsprozess dargestellt wird? Und: Inwieweit ist der Zivilisationsbegriff auf außereuropäische Gesellschaften anwendbar?«77

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Zur ersten Frage gab es Zweifel an der Angemessenheit eines ausschließlich triebtheoretisch formulierten Gewaltbegriffes, der nicht berücksichtige, dass Gewalt sehr oft »eine in hohem Maße kontrollierte, berechnende und als pragmatisch und rational zu bezeichnende Form des Verhaltens« sei, die Voraussicht, Abwägung der Risiken und starken »Selbstzwang« erfordere, ganz gleich ob es sich dabei um die ritterliche Kampfart im 11. Jahrhundert handele, um das ritualisierte Verhalten von Stierkämpfern oder um die Art und Weise, in der Mitglieder relativ gewalttätiger außereuropäischer Gesellschaften einander gewöhnlich nach dem Leben trachten.78

Ferner wurde Elias’ Auffassung einer kontinuierlichen Abschwächung der Angriffslust bezweifelt und seine Unterschätzung der pazifizierenden Wirkung der Kirche und der Klöster sowie seine undifferenzierte Verwendung historischer Quellen bemängelt. Der entscheidende und spektakuläre Frontalangriff gegen Elias aber ging von der zweiten Fragestellung aus. Anton Blok, lange Jahre ein enger wissenschaftlicher Parteigänger Elias’, warf dessen Theorie eine ethnozentrische Unterscheidung zwischen primitiven Wilden und fortschrittlichen Zivilisierten vor, die er in emotionaler Übersteigerung sogar als »rassistisch« bezeichnete.79 Der Begriff Zivilisation sei kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein ideologischer, der die Überlegenheit bestimmter Gesellschaften gegenüber anderen begründen solle. Es gibt keinen allgemeinen Gradmesser für Zivilisierung. Es gibt dementsprechend auch keine primitiven und zivilisierten Gesellschaften. Was es gibt, ist ein Universalidiom der Zivilisierung. Damit wird – sei es auch immer wieder anders formuliert – der Gegensatz zwischen »menschlich« und »tierisch« zum Ausdruck gebracht und der Unterschied zwischen größerer oder geringerer Kontrolle über Körperfunktionen. Mehr Beherrschung und Kontrolle fungiert als Symbol für und Legitimierung von Superiorität und Macht. 80

Eine »einheimische« Kategorie werde unter der Hand zu einer universellen »soziologischen« gemacht, die »Wir«- und die »Sie«-Perspektive durcheinandergebracht und »die Annahme nahegelegt, die Zivilisationsnormen, die sich in Westeuropa entwickelt haben, seien allgemeine Normen, die sich auch auf Gebiete außerhalb Europas anwenden ließen«81 .

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Dies, so Blok, sei aber nicht möglich, »ohne den Bedenklichkeiten des Ethnozentrismus ausgeliefert zu sein«82 . Die Attacke brachte, so Wilterdink, die Teilnehmer »einigermaßen aus der Fassung«83 . Die Frage nach der Universalität der Zivilisationstheorie war gestellt. Die »Anomalien der Zivilisationstheorie«84 waren deutlich geworden: Waren die zentralen Dynamiken des Zivilisationsprozesses wie der »Zwang zum Selbstzwang«, die »Dämpfung der Triebe«, die »Hemmung der Angriffslust«, die »Monopolisierung der Gewalt«, die sie bewirkenden soziogenetischen (die Hierarchisierung des höfischen Lebens, die wachsende gesellschaftliche Interdependenz, die Staatenbildung, die überregionale Wirtschaft) und psychogenetischen (»Rationalisierung«, »Psychologisierung«, das »Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle«) tatsächlich die dominanten, wenn nicht einzigen Schubkräfte des Zivilisationsprozesses? Galten sie nur für einen historischen Zeitraum oder waren sie noch in der Gegenwart wirksam? War die Psyche der Menschen als Widerspruch und Balance zwischen Triebimpulsen und gesellschaftlichen Normen adäquat beschrieben? War die Zivilisationstheorie eine europäische Theorie, oder formulierte sie universelle Gesetze des Zivilisationsprozesses, die von allgemeinmenschlicher Natur waren? War die Zivilisationstheorie eine Fortschrittstheorie oder beschrieb sie wertneutral unterschiedliche Zivilisationsphänomene? Einem Teil der Fragen, die am Kongress aufgeworfen aber nicht beantwortet wurden, ist Stefan Breuer nachgegangen.85 Die Idee einer befriedeten Menschheit als Endstufe der Zivilisation, wie sie Elias bereits im letzten Kapitel seines zweiten Bandes skizziert hatte, kritisiert er als zu naives Verständnis moderner marktwirtschaftlicher Ökonomie. Die Prognose einer weltweiten Pazifizierung durch die weltweite Interdependenz des Handelns und deren subjektiven Niederschlag in den selbstkontrollierten Psychen der Menschen hatte Elias Ende der 1930er Jahre, bereits im Londoner Exil befindlich, gestellt. Aber nicht nur deshalb ist ihr Optimismus verwunderlich. Sie lässt sich auch aus grundsätzlicherer Sicht bezweifeln. Breuer meint, dass Elias die Zustände an den feudalen und absolutistischen Höfen unzulässig in die moderne Industriegesellschaft hinein fortschreibt. War in den vormodernen Gesellschaften einzelmenschliches Verhalten noch im Sinne der zentralen Machteliten zu bestimmen und den Individuen als Selbstzwang und Selbstkontrolle aufzuerlegen, so funktionieren die modernen Gesellschaften nicht mehr in diesem Maße als planbar und steuerbar. Vielmehr »bleibt mit dem nationalen Binnenmarkt und

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dem Weltmarkt eine Dimension des Zufalls, die sich individuellen Handlungskalkülen grundsätzlich entzieht«86. Die moderne Marktwirtschaft – darin habe Elias recht – baue zwar auf dem Prinzip der Gewaltmonopolisierung auf, aber deshalb sei sie noch lange nicht, wie er meint, befriedet. An die Stelle der individuellen und willkürlichen Gewalt von einst tritt der Krieg aller gegen alle in Form der Konkurrenz der Individuen um die je besseren Existenzbedingungen. Zwar werden die gesellschaftlichen Individuen immer stärker voneinander und vom gesellschaftlichen Gesamtsystem abhängig, aber gleichzeitig werden sie als untereinander konkurrierende Produzenten und Konsumenten immer stärker voneinander isoliert. Als Beispiele führt Breuer die Zerfallserscheinungen gerade jener sozialen Institutionen an, die in der Moderne den gesellschaftlichen Rahmen für die interdependenten Menschengeflechte abgeben: der Familie, der sozialen Klassen, letztlich der Öffentlichkeit schlechthin. Elias habe nur das Integrierende, das Befriedende an der modernen Zivilisation gesehen, nicht aber die neuen Zerstörungsund Gewaltpotentiale, die mit ihr verbunden sind. »Die Entwicklung der modernen Gesellschaft […] lässt sich nicht einfach unter dem Gesichtspunkt einer ständigen Ausdehnung der sozialen Verflechtung begreifen, die Konkurrenz nicht bloß als Medium, das die Bildung immer umfassenderer und höherstufiger Aggregate vorantreibt.«87 Vielmehr sei auch das Gegenteil zu beobachten. Soziale Verknüpfungen, die mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden sind, werden dekomponiert, Solidaritätsbeziehungen ausgedünnt oder ganz gesprengt. Marktvergesellschaftung bedeutet Steigerung der Interdependenz und Atomisierung des Sozialen, Vernetzung und Negation aller Bindungen – asoziale Sozialität. Sie forciert die Differenzierungen und zerstört doch zugleich durch die universale Vergleichbarkeit aller Arbeiten im Tauschwert die Bedingungen der Möglichkeit von Differenz. Sie erzwingt eine immer dichter werdende Integration der Gesellschaft und verhindert doch, dass daraus ein gesellschaftliches Subjekt entsteht. Die Integration vollzieht sich hinter dem Rücken der handelnden Individuen und macht sich in einer Form geltend, die unmittelbar betrachtet als das Gegenteil aller Integration erscheint. 88

Man wird dieser Argumentation Breuers Recht geben müssen. Unter den Bedingungen kapitalistischer Ökonomie und marktwirtschaftlicher Konkurrenz kann wachsende Interdependenz zumindest in demselben

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Ausmaß wie Pazifizierung auch gesellschaftlichen Unfrieden, soziale Ungerechtigkeit, ja globale Krisen bedeuten. Elias verlagert den im Zusammenleben der Einzelnen entstehenden Unfrieden aus dem gesellschaftlichen Prozess in die Psyche des Einzelnen und lässt damit eine entscheidende Dynamik dessen, was er richtigerweise als die zivilisierende Wirkung der zunehmenden Menschenverflechtung erkannt hat, außer Acht. Dieselbe Struktur, die gesellschaftlichen Frieden hervorbringen kann und in manchen Epochen zweifellos hervorgebracht hat, kann bei wachsender Konkurrenz auch gesellschaftlichen Unfrieden größten Ausmaßes bewirken. Unter anderem ist hier das enorme Bevölkerungswachstum der beiden Jahrhunderte der Industrialisierung in Betracht zu ziehen, das aus psychisch erlebbarer Interdependenz anonymisierte Abhängigkeit gemacht und diese dadurch um ihre sozialisierende Wirkung gebracht hat. Es bleibt, so gesehen, zwar dabei, dass die längeren Handlungsketten, für Elias eines der Symptome wachsender gesellschaftlicher Interdependenz, dazu beigetragen haben – und auch heute dazu beitragen können – den Menschen zur Einsicht in die Nützlichkeit der Gewaltlosigkeit und die Notwendigkeit der Kooperation zu verhelfen, es kommt aber etwas Entscheidendes hinzu: Die neue ökonomische Ordnung muss von der Mehrheit der Menschen als zumutbar und gerecht empfunden werden können. Hierzu sprechen die Arbeiteraufstände des neunzehnten und die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts eine eindeutige Sprache. Stärkere gesellschaftliche Verflechtung bewirkt nicht eo ipso friedlichere Kooperation. Elias hat dieser Erkenntnis in seiner Befriedungstheorie nicht ausreichend Rechnung getragen. Faktische Kriege, die es in der Geschichte der »befriedeten« Gesellschaften sonder Zahl gab und deren Opfer der Jude Elias selbst und vor allem seine im KZ ermordete Mutter war, konnte er lediglich als Vorboten eines kommenden Weltfriedens sehen. Er hat schlicht nicht zur Kenntnis genommen – oder verdrängt? – dass das Übermaß an Triebkontrolle, das die selbstzwänglerischen Identitäten der neuen Zeiten sich selbst zuzufügen hatten, neue, ganz andere Dynamiken der Gewalttätigkeit hervorrufen konnte und bis zu wahnhaften Genoziden hergerufen hat. Die Bedingungen des gesellschaftlichen Friedens und dessen psychische Voraussetzungen in den Individuen, deren eine Elias mit seiner Interdependenztheorie zutreffend benannt hat, sind nicht ausreichend. Sie qualitativ zu benennen und ihren Zusammenhang zu erforschen, ohne die ihnen möglicherweise inhärenten Umschlagpotentiale in

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das Gegenteil von Frieden zu übergehen, bleibt eine wesentliche Aufgabe zukünftiger Zivilisationstheorie. Ein zweiter Einwand Breuers bezieht sich auf ein unzulängliches Verständnis der psychoanalytischen Strukturtheorie, insbesondere des ÜberIch, das bei Elias nur als Verinnerlichung der gesellschaftlichen Regulative und Normen, als »Abdruck der Gesellschaft im Innern« fungiert.89 Dagegen entstehe das Freud’sche Über-Ich aus der Verdrängung und Verschiebung kindlicher Liebeswunsch- und Feindseligkeitsimpulse gegenüber den Eltern. Zur Lösung der ödipalen Konfliktsituation begeht das Kind einen unbewussten Selbstbetrug: Es verdrängt die real bedrohlichen Eltern und setzt innere, gute Imagines an deren Stelle, mit denen es sich identifiziert. Die vormals gegenüber dem bedrohlichen Vater aggressive Triebenergie wird autoaggressiv: Sie wacht über die Einhaltung der Verdrängung. Die neuen gesellschaftlichen Normen der Zurückhaltung sind kein gewohnheitsmäßiger Überbau, sondern sind auf der Basis stets einsturzgefährdeter Triebverdrängung errichtet. Das Über-Ich ist die psychische Struktur, die vor allem durch das Gewissen und das Schuldgefühl die Stabilität dieser heiklen Balance zwischen den verdrängten Triebimpulsen und den innerpsychischen Repräsentanzen der guten Eltern aufrechterhält. Es ginge also nicht, wie Elias meint, um eine Art friedlicher Gewöhnung und Verinnerlichung neuer Verhaltensanforderungen und -zwänge, sondern um eine äußerst aufwändige und labile Konstruktion menschlicher Psychen zwischen verdrängter Gewalt und erlernter Kultur, wie Freud vor allem im »Unbehagen an der Kultur«90 herausgearbeitet hat. Der Vorgang des erlernten Gewaltverzichts bleibt deshalb stets anfällig für die Wiederkehr des Verdrängten: »Fünf Minuten auf der Autobahn sollten eigentlich genügen, um sich davon zu überzeugen, dass hier nicht die Zivilisation herrscht, sondern das Gesetz des Dschungels.«91 In diesem Punkt freilich ist Breuers Kritik zu pauschal: Elias hat die Fragilität der neuen Balance zwischen Es und Über-Ich erkannt und immer wieder davon gesprochen, wie sehr die neue Anpassungsfähigkeit im Äußeren die innerpsychischen Spannungen verstärkt. Ein Teil der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muss nun der Mensch in sich selbst bewältigen. Die friedlicheren Zwänge, die seine Beziehungen zu anderen auf ihn ausüben, bilden sich in ihm ab; es verfestigt sich eine eigentümliche Gewohnheitsapparatur in ihm, eine spezifisches »Über-Ich«, das beständig seine

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Affekte im Sinne des gesellschaftlichen Aufbaus zu regeln, umzuformen oder zu unterdrücken trachtet. Aber die Triebe, die leidenschaftlichen Affekte, die jetzt nicht mehr unmittelbar in den Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorschein kommen dürfen, kämpfen oft genug nicht weniger heftig in den Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil des Selbst. 92

Differenzierter hat der Elias-Schüler Johan Goudsblom die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Freuds der Psychoanalyse und Elias’ Zivilisationstheorie herausgearbeitet.93 Beiden geht es – bei Freud aus psychologischer, bei Elias zusätzlich aus soziologischer Sicht – um die theoretische Begründung eines konsistenten Menschenbildes, das Bild eines zwar biologisch-evolutionär verankerten Menschen, dessen soziopsychischer Entwicklung aber eine »relative Autonomie«94 zukommt. Diese Entwicklung wird auch bei Freud als »eine ständige Umsetzung von äußerem Zwang in inneren Zwang«95 gedacht. Wie sich dieser Prozess in der Geschichte vollzogen hat, bleibt bei Freud außer Betracht, während es bei Elias den Kern der Zivilisationstheorie ausmacht. Bei Freud wie bei Elias werden individuelle Eigenschaften als sozial verursachte gedacht. Während bei Freud vor allem die Familie als der einflussreiche soziale Raum betrachtet wird, sind es bei Elias die gesellschaftlichen Verhältnisse als ganze, einschließlich der ökonomischen und politischen Faktoren. Die Wirksamkeit unbewusster Antriebe des – bei Freud – vornehmlich individuellen und – bei Elias – vornehmlich sozialen Erlebens und Handelns steht für beide Theorien außer Zweifel. Allerdings hat Elias das individualistische Triebmodell Freuds nicht übernommen. Er sieht die individuellen Antriebe eingebunden in »ebenfalls ›blind‹ wirkende […] zwischenmenschliche Interdependenzen« und »gesellschaftliche ›Verflechtungsmechanismen‹«,96 die bei Freud weitgehend unberücksichtigt bleiben. Endlich geht es Freud wie Elias um die Veranschaulichung und Verifikation der Theorie durch empirische Details, seien es die klinischen Beobachtungen der Psychotherapie oder die Belege historischer Ereignisse und Dokumente. »Freuds Deutung von Träumen und Fehlleistungen ist denn auch methodisch verwandt mit Elias’ Verwendung von Tisch- und Hofzuchten und anderer Anstandsliteratur.«97 Beiden geht es nicht um die Details als solche, sondern um deren Analyse als Elemente einer Entwicklung, einer Veränderung – der Individuen bei Freud, der Individuen in Gesellschaft bei Elias.

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Von professionellen Historikern wird Elias’ unbefangener Umgang mit Quellen nachhaltig kritisiert. Die Einwände reichen von der Bezweiflung der Richtigkeit mancher seiner faktischen Behauptungen, z.B. der besonderen Gewalttätigkeit der mittelalterlichen Männer oder der geringeren körperlichen Zurückhaltung, bis zur Infragestellung seiner zentralen theoretischen Konzepte, ja der Möglichkeit historischer Entwicklungstheorien überhaupt. Elias’ Annäherung an historische Texte und Bilder, von der er selbst sagt, er »berichte« einfach, »was da zu sehen ist«,98 wird insbesondere von professionellen Fachhistorikern-/innen kritisiert. Eine detaillierte und systematische Kritik dieser Vorgangsweise hat Gerd Schwerhoff99 vorgelegt. Schwerhoff bezweifelt grundsätzlich die Möglichkeit, in der Geschichte einheitliche, langfristig wirksame gesellschaftliche Trends oder Veränderungsprozesse theoretisch zu konzipieren und empirisch, d.h. mit konkretem historischen Quellenmaterial, zu belegen. In der Tat ist Elias kein Historiker und er unterzieht seine Quellen nicht jener methodischen Bewertung, die als Quellenkritik zum Handwerk der Historiographie gehört. Teils übernimmt er auch Belege oder deren Interpretation von sekundären Autoren. Gerade das Insistieren auf der Genauigkeit gegen den theoretischen Entwurf zeigt aber auch das Dilemma einer sozialwissenschaftlichen Historiographie – und damit auch einer Theorie der Zivilisationsgeschichte: Wenn im Namen der Lückenhaftigkeit und Heterogenität der Quellen letztlich jegliche Möglichkeit, epochale oder zumindest auf längere Zeiträume und größere Regionen bezogene Entwicklungen konzeptionell zu erfassen und empirisch zu veranschaulichen, bestritten wird, was wäre dann Geschichtswissenschaft mehr als die Katalogisierung von Einzelfakten oder eine Kritik von Geschichtsphilosophien? Für eine historische Sicht auf den Wandel der Zivilisation ist ein derartiger Standpunkt nicht akzeptabel: Geschichte wird nach deren Anspruch als »Gegenwartsgeschichte«, als Vorgeschichte gegenwärtiger gesellschaftlicher und individueller Prozesse und Entwicklungen, betrieben und ist deshalb auf die Suche nach zusammenhängenden Entwicklungen angewiesen. Der Konsequenz, die Gerd Schwerhoff aus seiner Untersuchung der allgemeinen Annahmen und der im Einzelnen von Elias herangezogenen Quellen zieht, wird man nur um den Preis einer Zurückhaltung folgen können, »die es verbietet, Ergebnisse historischer Detailforschung vorbehaltslos als einen Mosaikstein in das Panorama der Zivilisationstheorie einzuordnen«100. Wenn »der Anspruch auf Formulierung einer umfas-

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senden Theorie historischer Prozesse am Ausgang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich fragwürdig geworden ist«101 – welchen Nutzen sollte dann eigentlich noch »historische Detailforschung« haben? Veronika Bennholdt-Thomsen deckt in ihrer feministisch-kritischen Elias-Relektüre einen blinden Fleck der Elias’schen Zivilisationstheorie auf: das Schicksal der Frauen. Diese Frage »stellt Elias sich nicht, noch entwickelt er wirklich einen Begriff von männlichem und weiblichem Sozialcharakter«102 . Tatsächlich trifft für die Frauen nicht nur die Zähmung der männlichen Gewalt nur in beschränktem Ausmaß zu, sie laufen auch Gefahr, Opfer erst durch diesen Zivilisationsprozess hervorgebrachter neuer Gewaltformen zu werden. Bennholdt-Thomsen bezweifelt, dass der Zusammenhang von wachsender gesellschaftlicher Interdependenz, Monopolisierung der Gewaltberechtigung beim Staat und zunehmender privater Gewaltkontrolle auch für »die Ganzheit der Gesellschaft, die ganze Welt, in der wir leben« gilt: »Nein, für Frauen und Kolonisierte gilt sein Bild des gewaltfreien Alltags sicher nicht.« Nur wenn Elias »Mensch gleich Mann und […] gleich weißer Mann setzt«, hat er mit der Behauptung, »die unberechenbare, rohe, körperliche Gewalt sei aus dem Verkehr zwischen Menschen verschwunden, recht«.103 Dass seine Theorie für die ganze Welt Geltung haben solle, hat Elias freilich nicht wirklich beansprucht. Ihm ging es um die Jahrhunderte des Wandels vom ausgehenden Mittelalter bis in die frühe Neuzeit und die daraus resultierenden Entwicklungen der europäischen Zivilisation. Bennholdt-Thommsens in der Sache sehr berechtigte Verweise auf die in manchen außereuropäischen Staaten bestehenden nächtlichen Sperrstunden bzw. von Sperrbezirken für Frauen ohne männliche Begleitung, auf die Tötung von Mädchen in Indien und China sowie die Genitalverstümmelung in arabisch-afrikanischen und islamisch-asiatischen Ländern können deshalb nicht gegen Elias ins Treffen geführt werden. Wohl aber die gewalttätige Unterwerfung der Kolonien durch europäische Mächte, ebenso wie der Holocaust, beides Gewaltphänomene, die der Pazifizierungsthese Elias’ widersprechen. In einem späten Interview hat Elias versucht, diesen Widerspruch mit einem nur für Deutschland zutreffenden Entzivilisierungsprozess zu erklären. Auf die Frage, weshalb Ausschwitz gerade in Deutschland stattgefunden habe, ersucht er, »sagen zu dürfen, dass ich nicht die kurzfristigen Erklärungen vorrätig habe«, sondern nur eine »soziologische Hypothese«. Nur das »Jahrhunderte lange Schicksal der Deutschen« könne das erklären. Der Habitus der Deutschen

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sei »aufs Stärkste durch die traumatische Erfahrung des 30ig-jährigen Krieges mitgeprägt«. Dieser Krieg habe zu einer »ganz starken Entzivilisierungswelle in Deutschland« geführt, wie sich etwa in einer Untersuchung von Trinkgelagen dieser Zeit zeigen lasse. In weiterer Folge hätte die Politik der führenden Mächte Deutschlands, Preußens und Österreichs, die die Ost- bzw. Südflanke des Reiches zu verteidigen hatten, zu einer starken Dominanz der Militärs geführt. Das im Streben nach gesellschaftlicher Hegemonie dem Militär unterlegene Bürgertum versuchte sich zwanghaft die militärischen Attitüden anzueignen, ohne den Ehrenkanon, den der Offiziersadel entwickelt hatte, zu übernehmen. »Da gab es einen Streifen von Grausamkeit, von Machthunger, der ohne das Gegenspiel eines dämpfenden Zwangskanons auftrat.« Noch heute habe »der Kanon des ersten Bürgertums eine Strähne von untergehender [?] Grausamkeit in sich«.104 Schon an diesen weit hergeholten Begründungen zeigt sich, wie schwer sich die Theorie des Zivilisationsprozesses Elias’scher Prägung tut, die Gewaltausbrüche der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen. Zu Recht betont Bennholdt-Thommsen, dass im Frauenalltag in der modernen Gesellschaft die »unmittelbare körperliche Gewalt allgegenwärtig«105 ist. Die nach wie vor an Frauen ausgeübte Gewalt »entspricht ganz jener, von Elias gemeinten archaischen oder vorzivilisatorischen Gewalt zwischen den Menschen, und sie ist ganz wie jene, nach populärem, gegenwärtigem Verständnis einer mangelnden Selbstkontrolle und Affektregulierung der Täter geschuldet«106. Dem Mann ist es erlaubt, den zivilisatorisch erworbenen Mechanismus der Selbstkontrolle gegenüber Frauen auszuschalten, und das ist »nicht trotz der Jahrhunderte des zivilisatorischen Prozesses möglich, sondern ist geradezu Bestandteil desselben«107. Die Gewalttätigkeit wird nicht, wie Elias meint, »kaserniert«, und »aus ihren Speichern, aus den Kasernen, bricht sie nur noch im äußersten Falle, in Kriegszeiten und in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs, unmittelbar in das Leben des Einzelnen ein«.108 Vielmehr wird sie in den Kasernen und ähnlichen Institutionen »produziert, zusätzlich gezüchtet« und »die Kaserne ist überall«.109 Analysen wie jene von Kate Millet110 oder Klaus Theweleit111 lassen es wesentlich plausibler erscheinen, »dass die Gewalt in diesen Männerinstitutionen nicht monopolisiert, also in ihrer ursprünglichen Form einfach gehortet, wird, sondern im Gegenteil, dass Gefühle, Affekte, Triebe in Gewalt umgemünzt werden und sich nur noch gleichsam eruptiv in dieser Form äußern können.«112 Nicht die Gewalttätigkeit, sondern »die Männer sind kaserniert, ihr Körper, ihre Gefühle, ihre Sexua-

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lität«113 . Die Trennung zwischen – guten – staatlichen Gewaltmonopolen und – schlechter, aber zivilisatorisch überholter – privater Gewalttätigkeit ist für Bennholdt-Thommsen ideologisch: Ein »System, ein Jahrhundert, ein Staat kann nicht mörderisch und gewalttig sein, ohne dass Menschen Mörder sind und die Gewalttat ausüben«114 . An der Demokratisierung von Herrschaftsmonopolen sind Männer, Frauen und Kolonisierte nicht in gleicher Weise beteiligt. Die Monopole werden als Herrschaft einer Eliteschicht weißer Männer errichtet. »Der Konsens im modernen Staat, die Vergesellschaftung von Gewalt und Herrschaft zu öffentlichen Monopolen beruht gerade auf der Gewaltausübung auf anderer Ebene: auf der Gewalt gegen Frauen und Kolonialvölker.«115 Unter Einbeziehung dieser Gewaltphänomene, von den bei Elias übergangenen Hexenverfolgungen bis zu der mit Columbus einsetzenden grausamen Unterdrückung eroberter Völker116, entwickelt Bennholdt-Thommsen eine ganz andere Sicht des Zivilisationsprozesses. Der »feudalistische Sozialcharakter« habe in Wahrheit nie aufgehört zu existieren: »Nur heute umfasst er eine immer größere Schicht von Feudalherrn, eine immer größere höfische Gesellschaft oder Aristokratie.«117 An die Stelle der alten Feudalen ist ein »Bund der weißen Männer«118 getreten, oder, nach dem Zerfall der Kolonialreiche, die Herrschaftsschichten ehemals unterdrückter Völker: Der ehemals Kolonisierte wird jetzt selbst Kolonialherr, der Farbige übernimmt nach Jahrhunderten der Knechtschaft und Jahrhunderten des Trainings in den sexistisch militarisierenden und kasernierenden Institutionen der Kolonialmacht die Identität des weißen Mannes. Er wird gewalttätig, kolonialistisch – gegen die Frauen des eigenen Volkes: Frauen als letzte Kolonne oder Frauen, die letzte Domäne. Der ehemalige Sklave schwingt jetzt nach der Manier des Sklavenaufsehers die Peitsche.119

Nur in einem Nebensatz vermerkt Bennholdt-Thommsen die »Unterschiede im Rahmen der breiten Minderheit« der weißen Männer, gar nicht beachtet sie die auch schon Mitte der 1980er Jahre bemerkbaren Erfolge feministischer Bewegung und feministischer Wissenschaft zur Aufklärung der Unterdrückungsgeschichte und zur Anbahnung gesellschaftlicher Gleichberechtigung von Frauen. Dass aber die bis in die Gegenwart anhaltende Gewalt gegen Frauen – übrigens auch Kinder – und Fremde bei Elias nicht angemessen berücksichtigt, wenn nicht schlicht übergan-

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gen wird, ist evident und stellt eine entscheidende Schwachstelle seiner Theorie dar. Elias selbst dürfte das nicht entgangen sein, freilich ohne dass er bereit gewesen wäre, den festen Boden seiner Theorie zu verlassen. In dem oben referierten Interview reagiert er auf den Verweis des Reporters auf das enorme Ausmaß moderner Gewalt mit Unverständnis und mit dem Hinweis, dass der Grad der erreichten Zivilisation friedliches Zusammenleben zwar ermögliche, aber nicht zwingend hervorbringe: Ich bin eigentlich über ihre Frage erstaunt, denn sie scheint zu implizieren, dass Sie Zweifel darüber haben, dass Menschen in der Lage sein können, das Töten abzuschaffen. Ich sage bewusst in der Lage sein können, ich sage nicht in der Lage sein werden oder müssen. Aber dass es Menschen möglich ist, das gegenseitige Töten abzuschaffen, das erscheint mir doch als sehr nahe liegend. Welcher tiefe Pessimismus, welche tiefe Enttäuschung spricht aus Ihrer Frage, als ob das überhaupt nicht möglich sei, dass Menschen das tun können.120

Die Lösung dieser Probleme, so fährt Elias fort, könne nur in der Ausweitung der Perspektive von dem engen nationalstaatlichen Blickwinkel auf die gesamte Menschheit liegen. Diese sei von einer Schiller’schen Sehnsucht – »Seid umschlungen, Millionen …« – zur einzig realistischen Bezugsgröße menschlichen Zusammenlebens geworden. Zur Realisierung dieser Perspektive dehnt Elias seine aus der akribischen Analyse einer Epoche gewonnene Theorie nun doch auf den gesamten Erdkreis aus – und überdehnt sie dabei ins Utopische. Auf der bereits erwähnten Amsterdamer Tagung sprach Elias »mit großem rhetorischen Schwung« zum Thema »Pacification and Civilisation«: »Mit weitausholenden Gesten auf eine große Landkarte hinter sich weisend, zog er große historische Linien von staatenlosen Gesellschaften, über Völkerwanderungen und die darauf folgende Bildung von Städten und Staaten bis hin zu einem erdachten […] nächsten Stadium: einem zukünftigen Weltstaat.«121 Als »my private utopia« bezeichnete Elias diese Zukunftsvision einer Dialektik von Unterdrückung und Befriedung durch die zugleich fürsorgliche und herrschaftliche Funktion von Staaten, wie er sie am Ende des zweiten Bandes über den Zivilisationsprozess bereits angedeutet hatte. Zwar sei diese Stufe noch bei weitem nicht erreicht,122 aber selbst die zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Kriege seien letztlich Vorboten einer friedlichen Weltgesellschaft:

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Man sieht die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von Staatenbünden, von überstaatlichen Einheiten verschiedener Art. Vorspiele von Ausscheidungs- und Vormachtkämpfen über die ganze Erde hin, Voraussetzung für die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen Zentralinstituts der Erde und damit auch für deren Pazifizierung.123

Wenn die zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konflikte überwunden sind, sieht Elias eine Epoche wahrer Zivilisiertheit der Menschen heraufdämmern. Dann erst kann sich die Regelung der Beziehungen von Mensch zu Mensch eher auf jene Gebote oder Verbote beschränken, die notwendig sind, um die hohe Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen aufrechtzuerhalten, und den hohen Lebensstandard, die große Ergiebigkeit der Arbeit, die eine hohe, eine wachsende Aufteilung der Funktionen zur Voraussetzung haben, dann erst die Selbstzwänge auf jene Restriktionen, die nötig sind, damit die Menschen möglichst störungs- und furchtlos miteinander leben, arbeiten und genießen können.124

Die Milderung der Spannungen in den einzelnen Menschen könne nur mit der Milderung der Spannungen zwischen den Menschen und der Widersprüche im gesamten Aufbau des Menschengeflechtes Hand in Hand gehen. Dann erst braucht es nicht mehr die Ausnahme, dann erst kann es die Regel sein, dass der einzelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht seiner Seele findet, das wir so oft mit den großen Worten, wie »Glück« und »Freiheit« beschwören: ein dauerhafteres Gleichgewicht oder gar den Einklang zwischen seinen gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der einen Seite und seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen auf der anderen.125

Erst dann wird man berechtigt sein, von Zivilisierung zu sprechen: Erst wenn der Aufbau der zwischenmenschlichen Beziehungen derart beschaffen ist, wenn die Zusammenarbeit der Menschen, die die Grundlage für die Existenz jedes Einzelnen bildet, derart funktioniert, dass es für alle, die in der reichgegliederten Kette der gemeinsamen Aufgaben Hand in Hand arbeiten, zum mindesten

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möglich ist, dieses Gleichgewicht zu finden, erst dann werden die Menschen mit größerem Recht von sich sagen können, dass sie zivilisiert sind.126

Die massivste Kritik an der Zivilisationstheorie des Norbert Elias hat der Ethnologe Hans Peter Duerr vorgetragen.127 Es kommt selten vor, dass fünf dicke Bände eines wissenschaftlichen Werkes – und eineinhalb Jahrzehnte der wissenschaftlichen Forschung eines Autors – zur Gänze der Widerlegung eines anderen Autors gewidmet sind. Duerrs Eliaskritik wirkt stellenweise polemisch und zynisch, fast verbissen. Akribisch verarbeitet er eine enorme Menge ethnographischen Materials, das er in den Dienst einer einzigen Sache stellt: Norbert Elias’ Theorie der Zivilisation als Mythos zu entlarven. Auch Hans Peter Duerr kritisiert Elias’ Umgang mit mittelalterlichen Quellen von Grund auf, z.B. seine Interpretation der mittelalterlichen Badekultur als Beleg für eine größere Unbefangenheit von körperlichen Verrichtungen in der Öffentlichkeit. Die Szenen, in denen nackte Ritter zu nackten Damen (oder umgekehrt) in den Zuber steigen, seien nicht, wie Elias meint, Alltagsszenen, aus denen sich schließen ließe, dass die »erotische Beziehung zwischen Mann und Frau […] sehr viel unbedeckter« vor sich gehe, und dass sich die »körperlichen Funktionen in der frühen Neuzeit noch nicht hinter verschlossenen Türen, sondern vor aller Augen« abspielte,128 sondern teils allegorische, teils erotische, teils die zu lockeren Sitten anklagende Darstellungen, die gerade nicht den gewöhnlichen Alltag zeigen sollen. Die um 1470 entstandene burgundische Miniatur einer Badestube etwa, die nach Elias zeige, »dass die Menschen des Mittelalters sich nicht schämten, in größerer Anzahl nackt zu baden, und zwar oft genug beide Geschlechter zusammen«129, sei keine gewöhnliche Badestube, sondern ein Badepuff. Die Abbildung soll, wie die beiden im Hintergrund abgebildeten Herren, ein geistlicher Würdenträger und ein weltlicher Fürst, aber auch eindeutig sexuelle Gesten sowie das in ein bereitstehendes Bett sich verfügende Paar, das »im Begriffe ist, das zu vollziehen, was in den Bottichen nur vorbereitet wird«130 zeigen, den Herzog Anton von Burgund warnend oder tadelnd auf die Laster hinweisen, die in seinem Reich eingerissen sind. Duerrs eigene Dokumentation der Quellen ist enorm, sowohl was die Zahl der Quellen als auch was die konkreten Umstände ihrer Entstehung, ihrer Adressaten und ihrer zeitgenössischen Bedeutung betrifft, Eigenheiten, die für die Interpretation höchst relevant sind und bei Elias nicht an-

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nähernd berücksichtigt werden. Duerr schwächt aber die Zugkraft seiner Argumentation dadurch, dass er sie samt und sonders seinem Hauptargument, der Universalität der Körperscham, unterordnet. Dadurch wirkt sie stellenweise bemüht und übertrieben: Ob etwa die auf einer Abbildung sichtbare Tatsache, dass so mancher Ritter »schamhaft die Unterhose anbehielt, wenn er zu seiner [bis an die sichtbaren Schamhaare entblößten! B.R.] Schönen in die Bütte stieg«131, schon den Schluss auf eine generelle »Schamhaftigkeit«132 der mittelalterlichen Ritter erlaubt, ist die Frage. Duerrs Kritik an Elias ist grundsätzlich, polemisch und sie will vernichtend sein. Er lässt kein gutes Haar an Elias’ Theorie und auch nicht an jenen, die diese gegen seine Kritik in Schutz nehmen: »Und niemand lügt soviel als der Entrüstete« wirft er, Nietzsche zitierend, erbost seinen Kritikern an den Kopf.133 Auf gewisse Weise fällt dieser Vorwurf freilich auf ihn selbst zurück. In der fest entschlossenen Verteidigung seiner Generalthese einer universellen Körperscham presst er jeden seiner Gegenbelege bis zum Äußersten in diese Interpretationsrichtung aus und verstößt dadurch immer wieder gerade gegen jenes Prinzip, dessen Verletzung er in mancher Hinsicht zu Recht Elias anlastet: die strenge Verortung der Quellen in den Mentalitäten ihrer Zeit und den konkreten Umständen ihrer Entstehung. Den dritten Band leitet er mit einem ethnologisch-kulturgeschichtlichen Potpourri ein, das entgegen der Ansicht Norbert Elias’ von der zivilisatorischen Wirkung der wachsenden Interdependenz den hohen Grad der Unzivilisiertheit gerade unserer westlichen, vornehmlich der städtischen Gesellschaften belegen soll: Ein grober Pizzawirt nahe dem florentinischen Fiesole, ein Brasilianer, der sich über den ins Leere gehenden Blick der europäischen Städter beschwert, ein Jaunder aus Kamerun, der die Europäer und vor allem die Europäerinnen unhöflich und schamlos findet, Machiavellis Klage aus dem Jahr 1372, dass es unter den Florentinern nur mehr bei denen Eintracht und Freundschaft gebe, »die gemeinsam irgendeine Gemeinheit betreiben«134 , usw. – eine unkritischpolemische Mixtur quer durch Völker und Zeiten. In mancher Hinsicht lässt sich bezweifeln, dass Duerrs Generallinie der Argumentation das Grundprinzip des Elias’schen Arguments überhaupt trifft: Wenn, wofür Duerr einige gewichtige Belege bringen kann, die offenherzigen Badeszenen nicht den Alltag darstellen, sondern besonders lasterhaftes Treiben oder, wie er an anderer Stelle argumentiert, Minneszenen, die das Liebeswerben oder dessen Annahme wiedergeben, dann kommt in ihnen immer noch eine besondere Unverblümtheit der

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dargestellten Körpergesten zum Ausdruck, sei es, was die Situation selbst – wer würde in späteren Zeiten einen Liebesantrag oder gar dessen Zurückweisung in die Badewanne verlegen? – als auch was deren öffentliche Darstellung betrifft: Erst in den letzten Jahren haben sexuelle Bilder wieder einen derartigen Grad an Offenheit erlangt. Die immer wieder eingefügten Hinweise auf die moralische Verächtlichkeit dieser Handlungen oder Darstellungen, die Duerr als Argument für deren Ausnahmecharakter nimmt, sind jedenfalls ab dem 15. Jahrhundert keine Belege gegen sondern für Elias: Hinweise auf die zu dieser Zeit bereits fraglich gewordene unbekümmerte Nacktheit entsprechen Elias’ Theorem vom Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenzen. Zensurierende, allzu schamloses Verhalten verurteilende, verbietende und bestrafende Dokumente sind – und darin besteht der grundsätzliche Irrtum Hans Peter Duerrs – nicht Belege für die Schamhaftigkeit als universelle und unveränderliche Eigenschaft aller Menschen, sondern für eine neue Körperpolitik der herrschenden Schichten, die alle Mühe haben, die neuen Verhaltensstandards auch ihren Untertanen beizubringen. Öffentlicher Tadel und Verbot freizügigen Verhaltens können nicht als Argument für die allgemeine Verbreitung der Körperscham herangezogen werden, im Gegenteil: Sie belegen, dass diese nach Einschätzung einer zunehmend schamhaften Oberschicht in zu geringem Ausmaß vorhanden war. Ähnlich wie Breuer argumentiert Duerr mit dem Hinweis auf die moderne Massengesellschaft gegen Elias’ Theorie von der zivilisatorischen Wirkung der wachsenden Interdependenz. Keinesfalls, so Duerr mit Verweis auf Simmel, Weber und andere, fühlten sich die Menschen veranlasst, »immer häufiger auf immer mehr Menschen Rücksicht zu nehmen«135, bestimmend sei vielmehr die »soziale Kälte«, die »Beziehungslosigkeit«, die »unpersönlichen«, »rein geschäftlichen« Beziehungen, die »unbarmherzige Sachlichkeit moderner Marktmenschen, die einander »not as actors but as buyers and sellers« gegenübertreten. Gerade der hohe Grad äußerlicher Vernetzung würde jene oberflächlichen, kurzfristigen Kontakte herbeiführen, in denen die Menschen nur auf Segmente der anderen treffen, »zu denen sie keinerlei Bindung entwickeln«: »Die immer länger werdenden Interdependenzketten zwischen Individuen, die einander nicht oder nur ganz oberflächlich kennen, die keine persönliche Verantwortung füreinander tragen, bedeuten im psychologischen Sinne eine Ent- und keine Verflechtung der Individuen.«136 Das alles widerlege Elias’ zentrales Entwicklungsprinzip der wachsenden Scham- und Peinlichkeitsschwellen: Sie würden

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angesichts der modernen Anonymität sinken. Moderne Menschen seien »anonyme Glieder zahlloser langer sozialer Interdependenzketten, die, und das nicht erkannt zu haben ist der erste grundlegende Fehler der Eliasschen Zivilisationstheorie, mit zunehmender Anzahl und Länge ihre normierende Kraft verlieren«137. Die Kritik Duerrs an Elias’ Interdependenzthese trifft aber gerade dort nicht, wo seine Fakten zutreffen. Weder lässt sich, das wäre in der Tat gegen Elias’ gelegentliche kühne Ausritte in die Gegenwart einzuwenden, der Prozess wachsender Interdependenzketten am Beginn der Neuzeit mit der ganz anders konstruierten gegenwärtigen Massengesellschaft vergleichen, die bei Duerr und anderen zutreffend als eher anonyme Gesellschaft beschrieben wird. Der Jugendliche, der sich lieber abends eine Frau in der Disco aufreißt, »weil man weiß, am nächsten Tag sieht man sich nicht mehr«138, ist gerade nicht von seinem Aufriss abhängig, so wie es der frühneuzeitliche Liebhaber vom Familienclan der begehrten Frau war, ebenso wenig der moderne Bekenner vor einem medialen »Millionenpublikum« und eben nicht vor jemandem, den man »kennt«139 . Die Menschen, die am Beginn der Neuzeit in immer längeren Handlungsketten miteinander verbunden waren, kannten einander oder sie bestanden darauf, bei der Gelegenheit ihrer Vernetzung einander kennenzulernen. Reisende stellten sich einander vor, ebenso Menschen, die einander in Wirtshäusern oder Hospizen trafen, und schon gar Personen, die miteinander Geschäfte machen wollten. Noch im 18. Jahrhundert konnte man nirgendwo einen Hut kaufen, ohne dass der Hutmacher wusste, wer man ist. Der nochmalige grundsätzliche Wandel von der interdependenten Gesellschaft der Vormoderne zur modernen anonymen Konsumgesellschaft ist in der Tat Aufgabe einer Weiterentwicklung der Zivilisationstheorie, die Elias nicht oder nicht zufriedenstellend geleistet hat. Ihm vorzuwerfen, dass die gegenwärtige Gesellschaft anders funktioniert als die Renaissance, ist dagegen polemisch. Das gilt auch für Duerrs mit hoher Überzeugungskraft vorgetragene Einschätzung der Wildbeutergesellschaften als keineswegs so primitiv oder gewalttätig wie Elias sie gelegentlich darstellt. Elias entwerfe ein Zerrbild der traditionalen Gesellschaften, das man nicht einmal als Karikatur bezeichnen kann, weil es das Wesentliche dieser Gesellschaften nicht nur überzeichnet, sondern völlig unzutreffend darstellt. Steinzeitliche wie heutige Wildbeutergesellschaften seien nicht, wie Elias meint, besonders gewalttätig, sondern besonders friedlich und affektkontrolliert, und sie

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lebten auch nicht unter jenem Dauerstress um Nahrungsversorgung, den dieser annimmt: Die einzelnen Gruppen wahrten flexible Grenzen zueinander, tauschten Geschenke aus und müssten für ihre Versorgung weniger arbeiten als Menschen in sesshaften Gesellschaften. Die berechtigte Kritik an Elias’ Charakterisierung solcher Gesellschaften zum Argument gegen seine Charakterisierung des europäischen Zivilisationsprozesses seit dem Mittelalter umzuschmieden, ist allerdings problematisch. Vorzuwerfen ist Elias, dass er, um seine Theorie sich verändernder zivilisatorischer Standards und wachsender Selbstkontrolle bei wachsender gesellschaftlicher Interdependenz zu illustrieren, irgendwelche ökonomisch primitiven und gewalttätigen Stammesgesellschaften teils frei erfunden, teils höchst oberflächlich auf sie Bezug genommen hat.140 Dass dagegen, wie Duerr berichtet, etwa die !Kung in hohem Maße verhaltenskontrolliert und aggressionsgehemmt sind, »weil jeder von jedem abhängig ist«141, ist eher ein Beweis für als gegen Elias: Hohe Interdependenz des gesellschaftlichen Handelns erzwingt hohe individuelle Verhaltenskontrolle. Nichts anderes hatte Elias behauptet. Duerr geht nicht so weit, Elias als Rassisten zu bezeichnen. Für ihn ist er ein bloß »papierener« Kolonialist, der aber dennoch die Tradition der Europäer fortsetzt, die »aus ihrer ›Überlegenheit‹ die Legitimation, ja die Pflicht ableiteten, die ›Kulturlosen‹ zu ›kultivieren‹, wenn nötig mit Feuer und Schwert«142 . Dieser Vorwurf wird im dritten Band offen ausgesprochen: Kein Punkt meiner bisherigen Kritik an der Eliasschen »Zivilisationstheorie« hat eine vergleichbare Empörung unter den gelehrten Damen und Herren ausgelöst wie die angebliche »Unterstellung« einer papierenen Komplizenschaft des Meisters mit den Theoretikern des Kolonialismus. Schon Elias selber hat mir [in einem Rundfunkinterview, B.R.] vorgeworfen, ich wolle ihn »ins Unrecht setzen und öffentlich beschämen«, indem ich ihn als potentiellen »Kolonialisten« an den Pranger stelle.143

In der Tat sei Elias kein Propagandist eines politischen Kolonialismus. Was ihn und seine Anhänger in die Nähe der Kolonialideologen rückt, ist vielmehr die Tatsache, dass sie die Überlegenheit der westlichen Gesellschaften gegenüber anderen nicht als nur eine technisch militärische, son dern als eine Überlegenheit in der Modellierung der Triebstruktur sehen. Ohne terminologische Kos-

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metik ausgedrückt heißt dies, dass der Okzident die übrige Welt unterwerfen und ausbeuten konnte, weil er die höhere Zivilisation besitzt.144

Diese zivilisatorische Entwicklung von weniger zu mehr Triebkontrolle bezweifelt Duerr grundsätzlich. Seiner Meinung nach hat es lediglich »einen Zivilisationsprozess im Sinne eines Wandels der gesellschaftlichen ›Makrostruktur‹ gegeben, eine Entwicklung der Zivilisation in technischer und materieller Hinsicht, tiefgreifende Umbrüche und Innovationen in Verwaltung, Polizei- und Militärwesen, Arbeitsorganisation, Verkehrswesen, Güterversorgung, Entsorgung usw.«145 . Er bestreitet aber, dass diese Entwicklung eine Intensivierung der sozialen Kontrolle mit sich brachte, und zum anderen, dass sie dem Menschen einen ganz andersartigen »Triebhaushalt« angezüchtet hat, einen neuen »psychischen Habitus«, der sich durch höhere Schamschranken und Peinlichkeitsbarrieren, durch eine Reduktion von Unmittelbarkeit, Spontaneität, Aggressivität und Grausamkeit sowie eine Intensivierung und Stabilisierung von Höflichkeit, »Etikette« und gegenseitiger Rücksichtnahme vom früheren »Habitus« unterscheidet. 146

In Wirklichkeit seien vorneuzeitliche Gesellschaften sozial kontrollierter gewesen als unsere heutigen. Das Zusammenleben auf engem Raum mache ein hohes Maß an Rücksicht aufeinander notwendig und bewirke ein ebenso hohes Maß an Konformitätsdruck und wechselseitiger Überwachung. Duerrs hauptsächlicher Einwand aber bezieht sich auf das von Elias konstatierte Anwachsen der Scham- und Peinlichkeitsschwellen in der europäischen Kultur der Renaissance. Bei allen Einschränkungen beider Seiten – Elias hat gegenüber Duerr mehrfach betont, es ginge ihm nicht um die Entstehung der Scham erst in der Neuzeit, sondern lediglich um deren Ausdehnung und Intensivierung, Duerr dagegen, es ginge ihm nicht um angeborene, unveränderliche Scham, sondern lediglich um den Nachweis der Körperscham als anthropologische Universalie147 – bleiben die Kontrahenten in den Grundsätzen uneins. Während Elias eine kontinuierliche Verschärfung der Verhaltensvorschriften seit dem Beginn der Neuzeit annimmt, spricht sich Duerr aufgrund der Auflösung familialer Strukturen und der wachsenden Verstädterung für eine Lockerung der Sitten ab dem späten Mittelalter aus – gegensätzlicher könnten die Positionen gar nicht sein.

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»Es gehört zum Wesen des Menschen, sich seiner Nacktheit zu schämen, wie immer diese Nacktheit auch historisch definiert sein mag«, schreibt Duerr in der Einleitung zu seinem ersten Band mit Verweis auf seine eigene Scheu »vor zwei sehr forschen Jungfrauen der Ata Kiwan an einem Strand im Solor-Alor-Archipel die nasse Badehose auszuziehen«.148 Mit Berufung auf die Genesis verficht er eine Theorie ererbter, von den Ureltern auf uns gekommener Scham. Die Scham vor der Nacktheit des von der Schlange verführten Paradiespaares dehnt Duerr auf die gesamte Menschheit aus: »Vom Baume des Lebens sind die Mitglieder aller Gesellschaften entfernt.«149 Duerrs Resümee nach zahlreichen Belegen für die Genitalscham aus ebenso zahlreichen Kulturen und Epochen: Wir haben also gesehen, dass allem Anschein nach Nacktheit und Scham nicht nur in der Antike und im Mittelalter, sondern auch in fremden, angeblich primitiven Gesellschaften so eng miteinander verbunden sind, dass vieles für die Wahrheit des biblischen Mythos spricht, nach dem die Scham vor der Entblößung des Genitalberei ches keine historische Zufälligkeit ist, sondern zum Wesen des Menschen gehört.150

Damit würde freilich der Kritik an einem Mythos – vom Zivilisationsprozess – mit dem Hinweis auf einen andern Mythos – den biblischen – zur Wahrheit verholfen. Die Annahme der anthropologischen Universalität der Scham wird dem Kritiker des Zivilisationsprozesses selbst zum Mythos von der Urscham des Menschen, zum interpretativen Generalkontext aller seiner empirischen Bezüge, die ausschließlich auf diesen Aspekt hin ausgewählt und interpretiert, letztlich also doch wieder aus ihren jeweiligen Kontexten herausgerissen werden, so sehr gerade Duerr Elias vorwirft, seine Texte und Bilder nicht aus dem Geist und den Eigenheiten ihrer Zeit zu verstehen. Quer – um nicht zu sagen querfeldein – über alle Zeiten und Kulturen trägt er in bewundernswerter Kleinarbeit Belege für seine These zusammen. Duerr, der nicht müde wird, den gleichwertigen Zivilisationsstand der vormodernen Gesellschaften bis hin zu den Wildbeutergesellschaften hervorzuheben, läuft so Gefahr, selbst ein Jäger und Sammler ethnologischer Einzeldaten zu bleiben, die er anekdotisch, losgelöst von ihren temporären gesellschaftlichen Kontexten interpretiert. Bei diesem Zugang bleibt, streng nach dem Denkmuster der Wesensanthropologie, das Übersehen und Übergehen der je besonderen Äuße-

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rungen des Menschlichen zugunsten eines angenommenen Allgemeinmenschlichen die einzige Möglichkeit. Damit knüpft der Ethnologe Duerr an eine mit gutem Recht aufgegebene Tradition der Ethnologie an, die ihre Hauptanliegen in der Ermittlung des kleinsten gemeinsamen Nenners »des Menschen« sah. Das ist umso bedauerlicher als es gerade die Ethnologie (amerikanischen Zuschnitts) war, die das Moment der Verschiedenheit und Vielfältigkeit der menschlichen Kulturen hervorgehoben hat.151 Wo Duerr seine Methodologie gegen solche Einwände verteidigt,152 wirkt er merkwürdig nervös und aggressiv. Er greift seine Gegner eher auf der logischen als auf der sachlichen Ebene an. Mit der trivialen Feststellung, dass bei aller Verschiedenheit unterschiedlicher Stühle ein Stuhl doch immer als Stuhl erkennbar bleibe, versucht er etwa die Scham als bei aller Unterschiedlichkeit des Schämens als allgemeinmenschliche Eigenschaft zu verteidigen, ohne den Unterschied zwischen Stühlen und Gefühlen in Rechnung zu ziehen. Mit Spannung wartete nach dem Erscheinen von Duerrs erstem Band (1988) alle Welt auf die Reaktion von Norbert Elias. Der ließ sich Zeit und sagte dann – fast nichts. In einer kurzen »Antwort auf Hans Peter Duerr« in der ZEIT153 erklärt er, weshalb dessen Kritik überhaupt möglich ist: weil sie sich auf ein Verständnis von Zivilisation und mit ihr verbundener Begriffe Evolution, Entwicklung, Wachstum als Termini, die Fortschritt bzw. Einteilungen in niedriger und höher unterstellen, stützt – ein Verständnis, das Elias in seinem langen ersten Kapitel gerade kritisiert und begrifflich neu gefasst hatte. Elias betont, nie behauptet zu haben, dass es vor der Neuzeit keine Scham gegeben habe. Er habe lediglich deren Steigerung und wohl auch ihre qualitative Veränderung nachweisen wollen. Er hat auch nicht, wie Duerr ihm vorwirft, behauptet, dass die Menschen der Renaissance sich aus innerer Überzeugung zu zurückhaltenden und höflichen Menschen gewandelt haben, sondern dass sie aufgrund des Wandels der äußeren, gesellschaftlichen Verhältnisse gezwungen waren, sich friedlicher zu verhalten, was zu einer größeren inneren Zerrissenheit zwischen ihren körperlichen Impulsen, den gewohnten Verhaltensweisen und den neuen Verhaltenszwängen führte. Gerade dieser Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Außen und dem Innen individueller Psychen ist das Kernstück und zugleich die theoretische Neuerung in der Zivilisationstheorie nach Elias. Es folgen eine Reihe grundsätzlicher Klarstellungen zu seiner Theorie und deren Illustrationen durch Beispiele. Interessant der Kommentar zur

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Badeszene, in der Elias einen alltäglichen Brauch, Duerr eine Bordellszene sehen wollte: Er berichte einfach, sagt Elias, »was da zu sehen ist« – ein Nebensatz, der einer langen historiographischen Reflexion bedürfte: Sind historische Abbildungen Wiedergaben von Fakten oder von Mentalitäten ihrer damaligen Produzenten und Konsumenten? Hinter dem Nebensätzchen Elias’ verbirgt sich eine Geschichtstheorie, die sein gesamtes Werk prägt: Die Mentalitäten sind die entscheidenden Fakten. Offensichtlich seinerseits verärgert, bemerkt Elias zum Schuss: »Duerrs Äußerungen sind voll lauter Töne. Viel Lärm um nichts.«154 Die Hauptarbeit der Auseinandersetzung überließ Elias seinen Schülern. Sie übernahmen diese Aufgabe engagiert und differenziert, am solidesten wohl Michael Schröter,155 auch er nochmals zum zentralen Problem der Scham: Nicht nur eine kritische Bestätigung der Grundzüge der Elias’schen Zivilisationstheorie, sondern eine differenzierte Weiterentwicklung, die vor allem den Gesichtspunkt der Geschlechterdifferenzierung, einer der blinden Flecke bei Elias, berücksichtigt. Trotz aller dieser Übertriebenheiten, der eigenen Überempfindlichkeit gegenüber Kritik und der merkwürdigen Verbissenheit, mit der Duerr gegen Elias ankämpft, bleibt sein »Mythos vom Zivilisationsprozess« ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über eben diesen Zivilisationsprozess. Auch deshalb, weil dem nicht ethnologisch ausgebildeten Leser ein umfangreicher Schatz an ethnologischem Material zugänglich gemacht wird. Die Hinweise Duerrs auf die Details der Gebräuche und Verhaltensäußerungen höchst unterschiedlicher Völker und Zeiten sind es, die seine Bücher zu einer Fundgrube zivilisatorischer Tatbestände machen. Wenn auch mit einem Ergebnis, dem Duerr auf das heftigste widersprechen würde: als Hinweise auf die Vielfalt und das große Ausmaß des Wandels menschlicher Verhaltensweisen statt auf die penetrante Behauptung anthropologischer Universalien.

III Die Intervention der Disziplinargesellschaft

Wenn schon die gesellschaftliche Entwicklung vor der Industrialisierung eine erweiterte Sicht auf Elias’ Theorie der gesellschaftlichen Verhaltenskontrolle erforderlich macht, so gilt dies umso mehr für die ihr folgenden Epochen. Wie vor allem Michel Foucault nachgewiesen hat, haben die europäischen Gesellschaften bereits im siebzehnten Jahrhundert mit der quasi automatischen Kontrollfunktion der interdependenten Verhältnisse nicht mehr das Auslangen gefunden. Vielmehr entwickelt sich ein gesamtgesellschaftlicher Prozess der Disziplinierung, der die alten Gewaltsysteme durch subtil vernetzte Techniken und Taktiken anonymer Machtkalküle ablöst. Michel Foucaults Theorie zum Zusammenhang zwischen Machtausübung und Körperdisziplinierung1 ist für die Entwicklungsgeschichte der abendländischen Menschen ebenso grundlegend wie Elias’ Theorie zum Prozess der Zivilisation.

1 D IE M IKROPHYSIK DER K ÖRPER Ganze vier Seiten lang zitiert Michel Foucault in seinem Buch »Überwachen und Strafen« die Berichte von Augenzeugen über die Hinrichtung des Robert-François Damiens, eines Vatermörders in Paris, einer der schrecklichsten Turturen, die die an Grausamkeiten nicht arme Geschichte der Gerichtsbarkeit kennt.2 Man schrieb das Jahr 1757. Die dem Delinquenten mit glühenden Zangen und flüssigem Blei zugefügten Martern werden in allen Details geschildert, ebenso die von Pannen begleitete Zerreißung seines Körpers. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, den Körper des De-

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linquenten mit Hilfe von an den Gliedern angespannten Pferden zu zerreißen, entschloss man sich, seine Gelenke durchzuschneiden: Nach zwei oder drei Versuchen zogen die Scharfrichter […] Messer aus ihren Taschen und schnitten die Schenkel vom Rumpf des Körpers ab; die vier Pferde rissen nun mit voller Kraft die Schenkel los: zuerst den von der rechten Seite, dann den anderen; dasselbe wurde mit den Armen gemacht, und zwar an den Schultern und an den Achselhöhlen; man musste das Fleisch beinahe bis zu den Knochen durchschneiden; die Pferde legten sich ins Geschirr und rissen zuerst den rechten und dann den andern los. 3

Der grausamen Hinrichtung stellt Foucault das Reglement eines Jugendgefängnisses in Paris aus dem Jahr 1838 gegenüber, eine minutiöse Zeiteinteilung vom Aufstehen bis zum Zubettgehen, in der jede Aktivität und deren Dauer genauestens festgelegt ist. »Das eine Mal eine Leibesmarter, das andere Mal eine Zeitplanung.«4 – Markierungen des Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit dem Verbrechen und nicht nur mit diesem. Die beiden Episoden stehen für einen radikal veränderten Einsatz des Körpers zur Absicherung der Anpassung der Individuen an die gesellschaftlichen Ordnungen. Wird in einem Fall der ungebärdige Körper vernichtet, so will man im anderen Fall den Körper schonen, »um in ihm etwas zu erreichen, was nicht der Körper selber ist«5 . An zahlreichen gesellschaftlichen Entwicklungen, im Militär, in den Schulen, in den Klöstern, in den Spitälern und immer wieder an den Prozeduren der Bestrafung, zeigt Foucault auf, mit welchen Mitteln den Körpern neue Anpassungs- und Leistungszwänge eingeschrieben werden. Die neue »politische Ökonomie der Körper« ist nicht auf die Gerichtsbarkeit beschränkt, »der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen«.6 Die neuen Zwänge unterscheiden sich von Selbstzwängen im Elias’schen Sinn. Sie sind nicht quasi automatische Folgen der Interdependenzverhältnisse, sondern werden durch ein raffiniertes Gemisch aus äußerer Ordnung, Drill und innerlicher Aufrüstung erst hergestellt. Die neue Art der Machtausübung setzt bei den Körpern an, zielt aber auf die Psychen. Die neuen Strafen richten sich zwar noch auf den Körper: »Selbst wenn sie auf gewaltsame ober blutige Züchtigung verzichten,

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selbst wenn sie die ›milden‹ Methoden der Einsperrung oder Züchtigung verwenden, geht es doch immer über den Körper – um den Körper und seine Kräfte, um deren Nützlichkeit und Gelehrigkeit, um deren Anordnung und Unterwerfung«, aber sie zielen im Umweg über den Körper auf etwas anderes: »auf die geheime Seele der Straffälligen«.7 Nicht die unsterbliche Seele, wie sie die christlichen Philosophen verkündeten, ist die Gefangene des hinfälligen und sündigen Körpers, sondern der Körper gerät immer tiefer unter das Regime gesellschaftlicher Kontrollapparaturen, die letztlich das Denken, Wahrnehmen und Fühlen der Menschen, ihre Seele also, in Beschlag nehmen. Obwohl Foucault selbst sich nie mit Elias auseinandergesetzt hat – und umgekehrt –, sind sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede der beiden Theorien erkennbar. Zwar geht auch Foucault von einer immer stärkeren Vernetzung gesellschaftlicher Prozesse aus, er fasst diese aber nicht als neutrale Interdependenzen, sondern als »Dispositive der Macht«, als immer feinere Netze, die das Handeln der Individuen immer nachhaltiger kontrollieren, auch und gerade dort, wo es als scheinbar freies konstituiert wird. Dadurch wird der bei Elias beinahe von selbst funktionierende »Zwang zum Selbstzwang« als Ergebnis zahl- und lückenloser Akte der Disziplinierung erkennbar, die den Einzelnen immer perfekter, bis in die gewöhnlichsten Bewegungen des Körpers, die kleinsten Regungen der Seele hinein kontrollieren. Diese Zurichtung der Körper kann nicht mehr allein durch Zwang geschehen. »Zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist.« Sie geschieht aber auch nicht von selbst, »sie kann kalkuliert, organisiert, technisch durchdacht, subtil sein, weder Waffen noch Terror gebrauchen und gleichwohl physischer Natur sein«.8 Leitbegriff dieser »Mikrophysik der Körper« ist die Disziplin, etwas gänzlich anderes als das, was eine autoritäre Pädagogik unter diesem Begriff verstand und versteht: die umfassende Kontrolle von Denken, Fühlen und Handeln nicht durch eine einzelne Autorität, sondern durch ein Gefüge von Bedingungen in die die »gelehrigen Körper«9 versetzt werden und unter denen sie zum Funktionieren gebracht werden. Die Disziplinierung bedient sich einer Reihe von Verfahren, die der neuen Strategie der Unterwerfung der Individuen unter die Kalküle der Macht – nicht durch äußerliche Gewaltanwendung, sondern durch die Usurpation der Vermögen der Körper für die Zwecke der Gesellschaft – dienen. Das geschieht einerseits durch die Verteilung der Individuen im

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Raum.10 Diese räumliche Disziplinierung kann auf simple Weise dem klösterlichen Prinzip der Klausur folgen, wie die Einschließung von Landstreichern, die Kaserne, das Internat, die Manufaktur, die Fabrik. »Feiner und geschmeidiger« funktioniert die Raumdisziplinierung über die Parzellierung: »Jedem Individuum seinen Platz und auf jedem Platz ein Individuum.«11 Diese am Prinzip der klösterlichen Zelle orientierte Strategie dient der Bewahrung der Übersicht über alle in einem Kollektiv befindlichen Menschen. »Es geht gegen die ungewissen Verteilungen, gegen ihr diffuses Herumschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung.«12 Räume, die von sich aus verschiedene Funktionen zulassen, werden durch die »Zuweisung von Funktionsstellen«13 optimaler überwachbar und nutzbar im Sinn ihrer gesellschaftlichen Bestimmung. Das gilt für Spitäler, Fabriken, in besonderer Weise aber für Schulen, in denen die Schüler auf altersgleiche Gruppen – Klassen – und die Gruppen in einheitlich ausgestattete Räume – Klassenzimmer – verteilt werden, in denen nicht mehr das ganze Leben, sondern nur mehr eine Tätigkeitsart vorgesehen und möglich ist: der Unterricht.14 Die zweite strukturelle Strategie der Disziplinierung besteht in den Regimen der Zeit und der Kontrolle der Tätigkeiten. Auch hierfür standen die Klöster Pate. Die drei Regulative des klösterlichen Lebens, »Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen«15 finden sich in Werkstätten, Internaten, Spitälern, Erziehungshäusern, Fürsorgeeinrichtungen, Fabriken. »Alle Personen […] die am Morgen zur Arbeit erscheinen«, heißt es etwa im Reglement der Fabrik von Saint-Mur, »waschen sich zuvor die Hände, opfern ihre Arbeit Gott auf, machen das Kreuzzeichen und beginnen dann zu arbeiten.«16 Im Laufe der Zeit wird die Verplanung der Zeit immer genauer und lückenloser, bis hin zur Minutengenauigkeit schulischer Abläufe, zum Verbot jeglichen nicht-betrieblichen Zeitverbrauchs in Fabriken. Komplexe Tätigkeiten werden »zeitlich durchgearbeitet«17, d.h. in ihre einzelnen Elemente (Foucault: »Gesten«) zerlegt, denen Reihenfolgen und Zeitquanten zugeordnet werden können. Letztlich wird der gesamte Körper, seine Haltung und Verfassung mit dieser Ordnung der Gesten »zusammengeschaltet«18, wie etwa in minutiösen Vorschriften zur richtigen Körperhaltung beim Schreiben.19 Dabei wird die angepasste Haltung des Körpers vom handzuhabenden Objekt, von der zu bedienenden Maschine bedingt.20 Maxime der Disziplinargesellschaft ist die »erschöpfende Ausnutzung« der Zeit. »Es geht darum, aus der Zeit immer mehr noch nutzbare Augenblicke

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und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen«.21 Die dritte Technologie der Disziplinierung besteht in der Festlegung von vorgeschrieben Abläufen, z.B. von Bildungs- und Ausbildungsprozessen, die Foucault als »Organisation von Entwicklungen«22 bezeichnet. Dauer, Abfolge der einzelnen Abschnitte, Aufeinanderfolge der einzelnen Lernschritte werden vorgeschrieben. Die Ausbildungszeit wird von der Erwachsenenzeit durch Prüfungen getrennt.23 Insgesamt wird der Körper ein angepasstes Element in maschinenähnlichen Produktionssystemen, in denen er nach der Logik des Systems »zusammengesetzter Kräfte«24 möglichst effektiv funktioniert. Voraussetzung für dieses Funktionieren ist das bedingungslose Befolgen der Anweisungen der Vorgesetzten, des Befehlshabers beim Militär, des Zuchtmeisters im Erziehungshaus, des Lehrers in der Schule. »Der Befehl wird weder erläutert noch gar begründet; er hat allein das gewollte Verhalten auszulösen.«25 Die »gute Abrichtung« der Körper braucht ihre Mittel, die sich von dem, was in aller Pädagogik stets »Zucht« genannt wurde, erheblich unterscheiden. Noch bei Immanuel Kant, dem Philosophen der Mündigkeit, heißt es: Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um […]. Disziplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner Bestimmung der Menschheit abweiche. Sie muss ihn z.E. einschränken, daß er sich nicht wild und unbesonnen in Gefahren begebe. 26

Die neue Disziplin dagegen legt die Kräfte nicht in Ketten, um sie einzuschränken; sie sucht sie allesamt zu verbinden, dass sie vielfältig nutzbar gemacht werden […] sie ist die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt. Es handelt sich nicht um eine triumphierende Gewalt, die aufgrund des Überschwanges an ihre Überlegenheit glaubt, sondern um eine bescheidene und mißtrauische Gewalt, die als eine sparsam kalkulierende, aber beständige Ökonomie funktioniert. 27

Ihre Verfahren sind, verglichen mit den »majestätischen Ritualen der Souveränität oder mit den großen Staatsapparaten […] winzig und unschein-

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bar«. Und doch »sind sie es, die sich allmählich in jene großen Formen einschleichen, ihre Mechanismen umgestalten und ihnen ihre eigenen Prozeduren aufzwingen sollen«.28 Die Methoden der Disziplinierung sind vielfältig. Zum einen ist es der hierarchische, überwachende Blick, der sich wie ein Netz über alle gesellschaftlichen Einrichtungen und Verrichtungen wirft,29 sei es durch »einsichtige« Architekturen oder durch Systeme offiziell installierter Denunzianten, wie sie sich in den Schulen des 18. Jahrhunderts finden: »Die Beobachter müssen jeden notieren, der seine Bank verlässt, der schwätzt, der weder Rosenkranz noch Stundenbücher hat, der sich bei der Messe schlecht benimmt, der sich auf der Straße Unanständigkeiten, Klatschen, Lärmen zuschulden kommen lässt.«30 Zum anderen entstehen innerhalb der Institutionen Systeme »normierender Sanktion«31 , die im Unterschied zu den drakonischen Körperstrafen früherer Jahrhunderte kaum und höchstens leichte körperliche Züchtigungen, eher aber kleine Entziehungen und Demütigungen vorsehen. Dafür aber betrifft diese »Mikro-Justiz«32 alle und jede nur denkbaren Verfehlungen »der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (›falsche‹ Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)«33 . In die gleiche Richtung wie das System der Strafen wirkt ein System der Privilegien, Belohnungen und Auszeichnungen, die auch nach außen sichtbar gemacht werden: unterschiedliche Schulterstücke für die Schüler der École militaire, Silber für die sehr guten, die »Ehrenklasse«, Rot-silber für die guten, rotes Leinen für die mittelmäßigen, braunes für die schlechten. Am Ende der Skala befindet sich die »Schandklasse«, deren Mitglieder von den anderen abgesondert werden und Kleider aus braunem Wollstoff zu tragen haben.34 Diese hierarchisierende Strafjustiz hat eine doppelte Wirkung: sie sortiert die Schüler nach ihren Tauglichkeiten und ihrem Benehmen und somit auch nach dem Gebrauch, den man nach der Schule von ihnen machen wird; zudem übt sie Druck auf sie aus, damit sie sich alle demselben Muster unterwerfen. […] Damit sie sich alle gleichen. 35

Die hierarchische Überwachung und die normierende Sanktion wirken in einem dritten Verfahren zusammen: der Prüfung. Die Bandbreite dieser »winzigen Technik«, in der ein »ganzer Wissensraum und ein ganzer

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Machttyp« steckt,36 reicht weit über das als formelle Prüfung bekannte Ritual hinaus. Sie umfasst die Institution der Visite im Spital und – selbstverständlich – die Schulen, deren Schüler-/innen »einem ständigen Vergleich zwischen dem einzelnen und allen andern« ausgesetzt werden, »der zugleich Messung und Sanktion ist«.37 Die Prüfung bewertet nicht mehr die von den Schülern-/innen erreichte Kompetenz, sondern »sie bestätigt den Übergang der Erkenntnisse vom Lehrer an den Schüler und gleichzeitig erhebt sie am Schüler ein Wissen, das für den Lehrer bestimmt und ihm vorbehalten ist«38 . Das Prüfungswesen erzeugt »ein ununterbrochenes Gesehenwerden«, ein »ständiges Gesehenwerdenkönnen«,39 sie »stellt die Individuen in ein Feld der Überwachung und steckt sie gleichzeitig in ein Netz des Schreibens und der Schrift; sie überhäuft sie mit einer Unmasse von Dokumenten«40. Das Individuum wird zum »Fall, der sowohl Gegenstand für eine Erkenntnis wie auch Zielscheibe für eine Macht ist«41 . Das moderne Individuum ist nicht mehr der Adelige mit seinem Stammbaum, nicht mehr der Held mit seinen großen Taten, sondern der auf seinen Zustand überprüfte Durchschnittsmensch – das Normale nimmt »den Platz des Altehrwürdigen«42 ein. Symbol und effektivste Methode der totalen Überwachung zugleich ist das Panoptikum, die Architektur und Struktur der restlosen Sichtbarmachung des Individuums.43 Das Panoptikum, wie es im 18. Jahrhundert der englische Sozialreformer Jeremy Bentham für Spitäler, Gefängnisse und Laboratorien vorschlägt:44 […] an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turmes gerichtet ist, und eines nach außen, sodass die Zelle von beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. 45

Diese Architektur macht mit dem geringstmöglichen Aufwand die totale Überwachung möglich. Es genügt, »einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen«46. Der Insasse wird permanent gesehen, ohne selbst zu sehen, der Aufseher sieht alles, ohne selbst gesehen zu werden.

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Die panoptische Struktur ist, wenn auch in technisch abgewandelter Form, im modernen Schulbau immer noch aktuell. Beim Studium der Entwicklung der österreichischen Schularchitektur zwischen 1945 und heute stößt man auf Grundrisselemente, die jenen von Gefängnissen des 18. Jahrhunderts verblüffend ähneln: Die Klassenräume sind radial um einen zentralen Stiegen/Liftschacht angeordnet. Die Kommentare, in denen die planenden Architekten ihre Modelle erläutern, legen nahe, dass es sich dabei keineswegs nur um bestimmte Auffassungen von Gebäudeschönheit handelt, sondern um kompakte Philosophien über den gesellschaftlichen Sinn und Zweck des Lernens, das in solchen Schulen stattfinden soll, und die architektonischen und technischen Mittel, es zu erreichen. So betont etwa der Architekt eines 1967 geplanten und 1974 errichteten Musisch-pädagogischen Realgymnasiums in der Nähe von Wien47 die Notwendigkeit, Schulunterricht an die fortschreitende Technisierung anzupassen: Die Zeit, in der wir leben, ist von einem ungeahnten Fortschritt der Technik und vom Zusammenrücken der Welt durch schnellere Interkommunikationsmittel und wirtschaftliche Integration gekennzeichnet. […] So wie die alten Griechen ihre Sklaven hatten und sich deswegen geistig betätigen konnten, so werden wir technische Sklaven haben, die uns zu geistiger Tätigkeit freisetzen. […] Zum Unterschied der genannten raschen Steigerung ist der Wirkungsgrad pädagogischer Arbeit nicht oder nur unwesentlich gestiegen. Gerade dieser aber muss dringend erhöht werden, um mit der Wissenslawine, die uns infolge des raschlebigen Fortschritts zu verschütten droht, fertig zu werden. 48

Aus dieser Sicht ergibt sich für den Architekten die Forderung nach einer Umkehr des Verhältnisses zwischen Schulbauten und der von ihnen beherbergten Lerntechnologie. Letztere wird zum bestimmenden Kriterium für die Gestaltung der Ersteren: »Heute passen sich die neuen Lernmittel noch den alten Schulgebäuden an. Bei neuen Planungsaufgaben werden es die neuen Lernmittel sein, die die Form des neuen Klassenraumes und der ganzen Schule determinieren.«49 Der planende Architekt sagt hier sehr klar aus, dass es ihm nicht um ästhetische Kategorien allgemeiner Art, sondern um ästhetische Entsprechungen zwischen einer bestimmten Kulturauffassung von Lernen und einer von dieser her gedachten Konzeption von Schule und Schulgebäuden geht. Allerdings wird in diesem Kommentar nicht gesagt, weshalb dieser Zusammenhang zwischen der faktischen Gebäudegestaltung und dem postulierten Lernkonzept gerade

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zu der vorliegenden Kreissternform der Anordnung der Klassenräume geführt hat und zu keiner anderen. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass es sich bei der Anordnung der Klassenräume um eine panoptische Struktur handelt, deren Anwendung nicht ausgesagt, möglicherweise gar nicht gewusst wird. Die radial angeordneten Klassenräume sind keine Gefängniszellen und im Zentrum seiner Schule befindet sich kein Kontrollturm, sondern der Ein- und Ausgangsbereich in die Klassenräume. Hinweise auf eine zentralisierende Funktion des Mittelraumes ergeben sich erst, wenn man realisiert, welchem zusätzlichen Zweck diese auf jedem Stockwerk gleich angeordneten Zentralräume dienen: Sie nehmen die von unten nach oben führenden Leitungen zu den diversen Audio-Visionsmitteln auf, die an den den Zentralraum begrenzenden Wänden der Klassenräume platziert sind. Vom Zentralraum aus sollen die verschiedensten audiovisuellen Hilfsmittel in die einzelnen Klassenräume eingespeist werden, da die Effektivierung des Lernens ja vor allem durch den vermehrten Einsatz solcher Lernmittel erreicht werden soll. An der Stelle des Überwachungsturmes befindet sich demnach ein Audiovisions-Kanal, über den die einzelnen Zellen mit optischen und akustischen Inhalten beliefert werden können. Das unterscheidet sich aufs Erste geradezu diametral von der panoptischen Überwachung. Die Monitore dienen ja genau nicht dazu, die Schüler-/innen für jemanden sichtbar zu machen, sondern ihnen Sichtbares zuzuliefern, ihren Blickhorizont zu erweitern, statt den Blick eines Bewachers scharf auf sie einzustellen. Günther Anders illustriert den Charakter moderner Medien, indem er die in den Einzelwohnungen befindlichen Anschlüsse für Medienapparate (Radios, TV-Apparate usw.) als »Kulturwasserhähne« bezeichnet.50 Von einer zentralen Medienquelle werden Millionen Haushalte mit demselben »Wasser« in Form von Nachrichten, Filmen, Serien usw. gespeist. Nur aus der Perspektive des Wohnzimmers lässt sich Medienkonsum als eine Struktur begreifen, in der das Auge des Betrachters auf das Medienbild, sein Ohr auf den Medienton gerichtet ist. Aus der Gesamtperspektive des Mediennetzes ergibt sich die genau umgekehrte Struktur: Zentral produzierte Medieninhalte strömen auf das aufnahmebereite Ohr, auf das geöffnete Auge des Betrachters ein, der – scheinbar aktiver »Hörer« und »Seher« – in Wirklichkeit passiver Empfänger, ein Terminus, der in der Medienwelt bezeichnenderweise sowohl für den Apparat als auch für den medienkonsumierenden Menschen verwendet wird, dieser auf ihn gerichteten Ströme ist. Aus dieser Sichtweise lässt sich die moderne Audiovi-

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sionsschule unter der Bedingung, dass die Bilder und Töne schulischer Medienangebote zentral produziert werden, als Fortsetzung der alten Überwachungsschule mit anderen Mitteln interpretieren. Welche Inhalte in die Zellen der Schulklassen eindringen können, wird durch die Approbation von Schulbüchern und -medien, durch Schulfächer, Lehrpläne und Stundenpläne zentral überwacht. Der Panoptismus, die Effektivierung der Kontrolle bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der Kontrolleure, feiert somit in einer Schularchitektur eine Auferstehung, die sich gerade als sein Gegenteil ausgibt. Moderne Konzeptionen von Schule und Lernen, in deren pädagogischer Legitimation Prinzipien der Disziplinierung und Kontrolle nicht mehr aufscheinen, ähneln in ihren Grundrissen Gefängnissen und Bewahranstalten, in denen »Personen jedweder Art unter Aufsicht gehalten«51 werden können. Dass derartige Zusammenhänge den planenden Architekten und Bürokraten nicht unbedingt bewusst sind, verleiht ihnen erst ihre besondere Triftigkeit: Eine nicht über offengelegte Kalküle, sondern über undurchschaute ästhetisch-technische Routinen ausgeübte Kontrolle kann so als unproblematische Unterstützung der Unterrichts- und Lerninteressen von Lehrern-/innen und Schülern-/innen ausgegeben werden, ihr gegenüber ist kein Widerstand zu erwarten. Die Unterstellung eines nicht bloß zufälligen Zusammenhangs zwischen der Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams und dem Schulbau wird auch durch die Art und Weise unterstützt, wie der Architekt Details seiner Planung beschreibt. Nicht nur versteht Peichl seinen Entwurf als »Schaffung eines übersichtlichen [!] und geordneten Systems«. Er begründet die »Trapezform« der Klassenräume ausdrücklich mit »der Möglichkeit des Einbaus audiovisueller Geräte«52, was neben dem Einbau von für alle Schüler-/innen einsichtigen Monitoren auch jenen von den gesamten Raum überblickenden Videokameras ermöglicht, die diese Räume bis in den letzten Winkel erfassen können. Das wird durch ein Detail verdeutlicht, das sich bei der baulichen Realisierung des Musisch-Pädagogischen Realgymnasiums in Mistelbach ergab. Der Tageszeitung »Kurier« war zu entnehmen, dass aus Einsparungsgründen die audiovisuelle Ausstattung der Schule nur zum Teil verwirklicht werden konnte. Nicht verzichtet worden sei aber auf »so umstrittene Einrichtungen wie die Fernsehüberwachung der Klassen« mit Hilfe von Videokameras, auf jene Funktion also, die der Bentham’schen Panoptik nun auch in der Blickrichtung voll entspricht.53

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Schulprojekte, die solche panoptischen Strukturen auflösen wollen, Versuche, bauliche Voraussetzungen für selbstbestimmtere Formen des Lernens zu schaffen, z.B. durch pavillonartige Architektur, hatten bisher im österreichischen Schulbau wenig Chancen auf Realisierung.54 Es überwiegen die die Parzellierung, die Übersicht und Kontrolle wahrenden Zentralbauten, wenn auch auf den ersten Blick die Ähnlichkeit mit den klassischen Panoptiken nicht so ins Auge fällt wie bei Peichls Gymnasialbau in Mistelbach. Foucaults eingehende Analyse der disziplinierenden Körpertechnologien der nachklassischen Zeit macht eine weitere ergänzende Korrektur der Elias’schen Sicht auf den europäischen Zivilisationsprozess erforderlich. Die Unterordnung der Individuen unter die Zwänge zunehmend zentralistisch verwalteter Gesellschaften hat nicht schon durch die Verlängerung der Handelsketten und die wachsende Interdependenz der Handelnden, ihre vermehrte Abhängigkeit voneinander, einen »gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang« hervorgebracht. Die Zusammenordnung des Verhaltens der Einzelnen und der Anforderungen der gesellschaftlichen Mächte wurde vielmehr durch ein subtiles Gefüge vielfältiger Körperdisziplinen bewerkstelligt, die sich – teils offen, teils unmerklich – der Vermögen der Körper – und über diese der Menschen – bemächtigten und sie für die Zwecke der Gesellschaft in Dienst nahmen. Dieser Prozess ist längst nicht zu Ende. Mit Blick auf die Gegenwart konstatiert Samuel Sieber eine Ambivalenz des zivilisatorischen Status quo zwischen alter Disziplinierung und neuem Schönheitskult, die noch immer in der Arena auftritt, in der die Auseinandersetzung um anbefohlene Unterwerfung und anempfohlenes Glück seit jeher ausgetragen wird: am Körper.55 Sieber zeigt, wie sehr die alten Vorschriften der Körperdisziplin in die neuen Versprechungen einer virtuellen Entbindung der Körper von ihrer schwerfälligen Materialität eingehen: Wo die Kraft der televisionären Übertragung den Körper als fundamentalen Träger der »athletisch-sonnengebräunten« Idealisierung im Blick des Rezipienten und damit im eigenen Körper implementiert, formt sich die Stringenz der modernen Selbstdisziplinierungstechniken, formt sich der Blick, der vergleicht, kontrolliert, der normierend der Ordnung der Dinge verpflichtet ist. 56

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2 W AHNSINN UND V ERNUNF T Ende 1978 führte Michel Foucault ein Gespräch mit dem italienischen Philosophen Ducio Trombadori. In diesem Interview betont er seine kritische Position gegenüber der in der abendländischen Philosophie zentralen Kategorie des Subjekts, die in den Nachkriegsjahren in der französischen Philosophie vor allem durch die Rezeption Hegels, der Phänomenologie und des Existenzialismus Sartre’scher Prägung entwickelt worden war. Dieser Konzeption setzt er die radikale Subjektkritik Batailles, Blanchots und Nietzsches entgegen, »eine Einladung, die Kategorie des Subjekts in Frage zu stellen, seine Suprematie, seine führende Rolle«57. Weder das Sartre’sche Subjekt als Instanz, die »der Welt Sinn gibt«, ihr »Bedeutungen zuschreibt« und »mit sich identisch ist«, noch »der Hegelianismus […] mit seinem Modell durchgängiger Intelligibilität der Geschichte« konnte mehr genügen, und ebensowenig Phänomenologie und Existentialismus, die am Primat des Subjekts und seinem grundlegenden Wert festhielten. Während umgekehrt das Nietze’sche Thema der Diskontinuität, eines Übermenschen, der im Verhältnis zum Menschen ein ganz anderer wäre, und dann bei Bataille das Thema der Grenzerfahrun gen, in denen das Subjekt sich selbst überschreitet, an den Grenzen seiner eigenen Unmöglichkeit sich selbst als Subjekt auflöst, ganz wesentliche Bedeutung hatten.58

Dem unveränderlichen Subjekt der Philosophen stellt Foucault die Geschichtlichkeit nicht nur der Objekte der Erkenntnis, sondern auch ihres Trägers, des Subjekts, entgegen. Letzteres ist nicht länger mehr Descartes res cogitans, der von ihrem Gang nicht beeinflusste Ursprung der Erkenntnis. Erkenntnis wird vielmehr eine »reziproke Genese des Subjekts und des Objekts«59, in der sich beide hervorbringen und verändern. Könnte man eine Wissenschaft nicht letztlich als eine Erfahrung analysieren und auffassen, das heißt als ein Verhältnis, das so beschaffen ist, dass das Subjekt im Zuge dieser Erfahrung verändert wird? Dann wäre es die wissenschaftliche Praxis, die das ideale Subjekt der Wissenschaft und zugleich das Objekt der Erkenntnis konstituiert. Und ließe sich die geschichtliche Wurzel einer Wissenschaft nicht in dieser reziproken Genese des Subjekts und des Objekts finden?60

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Subjekt und Objekt der Erkenntnis wandeln sich in der Geschichte der Bemühung, Wissen über nur eines von ihnen zu erhalten. Historisch-anthropologische Menschenkenntnis führt nicht zu ahistorischen Wahrheiten, sondern zu Einsichten in die wandelbaren Ergebnisse einer Geschichte des Wissens, »in deren Verlauf sich ebensowohl das erkennende Subjekt wie das erkannte Objekt herausbilden«61 . Beispielhaft sichtbar etwa an der Geschichte des Wahnsinns, wie sie Michel Foucault geschrieben hat.62 Auf diesem Wege konnte man beweisen, dass im selben Augenblick, in dem das Objekt Wahnsinn Gestalt annahm, sich zugleich das Subjekt herausbildete, das imstande war, den Wahnsinn zu erkennen. Der Konstruktion des Objekts Wahnsinn entsprach die eines vernünftigen Subjekts, das den Wahnsinn zu erkennen vermochte und das ihn verstand. 63

Diese Wahrheit ist ein Prozess sich wechselseitig konstituierender wandelnder Objektivitäten und Subjektivitäten: Es ging darum, zu verstehen, wie der Wahnsinn in der abendländischen Welt erst vom achtzehnten Jahrhundert an ein präziser Gegenstand der Analyse und der wissenschaftlichen Erforschung werden konnte, während es vorher allenfalls medizinische Traktate gab, die in einigen kurzen Abschnitten die »Krankheiten des Geistes« behandelten.64

Die Ordnung der Erkenntnis, die ein erkennendendes Subjekt von einem zu erkennenden oder erkannten Objekt trennt, und der Begriff der Wahrheit würden damit grundsätzlich verändert: »Es würde daraus folgen, dass es keine Wahrheit gibt«, oder, wie Foucault an anderer Stelle sagt, »eine Geschichte der Wahrheit«65 . Das heißt nicht, dass diese Geschichte irrational und dass diese Wissenschaft trügerisch wäre, sondern im Gegenteil die Präsenz einer realen intelligiblen Geschichte bekräftigt die Präsenz einer Serie kollektiver rationaler Er fahrungen, die einer Gesamtheit präziser, angebbarer Regeln folgen und in deren Verlauf sich ebensowohl das erkennende Subjekt wie das erkannte Objekt herausbilden. 66

Unter einer Geschichte der Wahrheit wäre hier gerade nicht eine Geschichte sich wandelnder Rationalitäten zu verstehen. Die Formulierung versteht sich vielmehr als Kritik an der Geschichtslosigkeit eines Rationalismus,

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der dem humanistischen Projekt einer Genese des vernünftigen Menschen dessen ganze Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu diesem Ziel unterwirft. Foucault fasst dagegen die Geschichte der Wahrheit als Geschichte dessen, was die Menschen über sich und die Welt jeweils für wahr halten und hielten. Auch hier muss man sich vor einem rationalistischen Missverständnis der Formulierung hüten, das als Erbe der Aufklärung sozusagen an jeder Ecke lauert. Das »vernünftige Subjekt«, das den Wahnsinn zu erkennen und zu verstehen vermag, ist im Sinne Foucaults dezidiert nicht der von Natur aus vernunftbegabte Mensch, auf den alles Menschliche hinausliefe, sondern jenes historische Konstrukt, das sich über ein neues Verständnis des Wahnsinns als des anderen der Vernunft konstituierte und deshalb beides hervorbrachte: das Selbstverständnis der Menschen als vernunftbegabte Träger eines freien Willens und die Aussperrung der Wahnsinnigen aus dem Bereich des Menschlichen schlechthin. Diese Dialektik der Erkenntnis ist kein abstraktes Spiel herrschaftsfreier Diskurse, sondern spielt sich im Rahmen konkreter historischer Dynamiken sozialer und individueller Herrschaftssicherung und -legitimation ab. Ich wollte […] zeigen, wie diese Erfahrung – die den Wahnsinn als Objekt und zugleich das Subjekt, das ihn erkennt, konstituiert hat – nur dann voll verstanden werden kann, wenn man sie rigoros mit bestimmten, durchaus bekannten historischen Prozessen in Zusammenhang bringt: mit der Entstehung einer gewissen Normalisierungsgesellschaft und ihren Praktiken der Einschließung; mit einer bestimmten ökonomischen und sozialen Situation, die der Phase der Urbanisierung und der Geburt des Kapitalismus entspricht, und der Existenz einer umherziehenden verstreuten Population, mit der die neuen Anforderungen der Ökonomie und des Staates nicht vereinbar waren. 67

Für diese Dialektik, die eine Wahrheit und das sie erkennende Subjekt zugleich hervorbringt, verwendet Foucault das Wort »Wissen« in Abgrenzung von »Erkenntnis«. Mit »Wissen« ziele ich auf einen Prozess, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade indem es erkennt oder vielmehr bei der Arbeit des Erkennens. Es ist dieser Prozess, der es gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren. Erkenntnis ist die Arbeit, die es erlaubt, die erkennbaren Objekte zu vermehren, ihre Erkennbarkeit zu entwickeln, ihre Rationalität zu verstehen, bei der jedoch das forschende Subjekt unverändert bleibt. 68

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Damit ist die Grundgestalt des Prozesses beschrieben, in dessen Rahmen sich ab dem 18. Jahrhundert jene Wahrheit des Menschen über sich konstituierte, die seitdem fälschlich für dessen Wahrheit schlechthin gehalten wurde. Der Mensch der Gegenwart versteht sich auf der Basis der Konstituierung einer Reihe von Subjektkonzeptionen, die darin bestehen mit der Erkenntnis des Wahnsinns sich als vernünftiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Krankheit sich als lebendiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Ökonomie sich als arbeitendes Subjekt zu konstituieren; in einer bestimmten Beziehung zum Gesetz sich als Individuum zu erkennen. […] Überall dieses Phänomen, dass der Mensch ins Innere seines Wissens eingeht. Ich habe mich vor allem darum bemüht zu verstehen, wie der Mensch bestimmte Grenzerfahrungen in Erkenntnisobjekte verwandelt hat: den Wahnsinn, den Tod, das Verbrechen.69

3 D AS V ERSTUMMEN DER D INGE Die moderne Vorstellung vom Menschen ist eine späte Phase in der Entwicklung der unterschiedlichen Ordnungen des Wissens in der europäischen Geschichte vom ausgehenden Mittelalter bis in die Gegenwart. In dieser Geschichte wurde das Verhältnis der Worte und der Dinge mehrmals grundlegend umgewälzt. Foucault kommt auf drei aufeinanderfolgende Stadien: Die Zeit der Ähnlichkeiten vor dem 16. Jahrhundert, die Zeit der Sprache vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und die Zeit des Menschen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.70

Zeit der Ähnlichkeiten Um die umfassenden Veränderungen, die ab dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts die Organisation des Wissens in der europäischen Kultur betreffen, zu verstehen, muss man sich tief in die ganz andere Vorstellungswelt der vorausgehenden Epoche versenken, in der die Ordnung des Wissens der Menschen durch das Prinzip der Ähnlichkeit von allem mit allem beherrscht wird. Wie ein feingesponnenes Netz aus alles umhüllenden Fäden und alles zusammenhaltenden Kräften breitet sich der Schleier des Gleichen über die gesamte Wirklichkeit. Vier Ähnlichkeiten sind es, die die Welt zusammenhalten:

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Unter convenientia verstehen die Mittelalterlichen und Frühneuzeitlichen die Ähnlichkeit, die aufgrund von Nachbarschaft gegeben ist, gleichzeitig durch sie bedingt und bewirkt. »In der weiten Syntax der Welt gleichen sich die verschiedenen Wesen einander an, die Pflanze kommuniziert mit dem Tier, die Erde mit dem Meer, der Mensch mit seiner ganzen Umgebung. Die Ähnlichkeit erlegt Nachbarschaften auf, die ihrerseits Ähnlichkeiten garantieren.«71 Insofern alle Dinge der Welt in einer Kette von Nachbarschaften miteinander und letztlich mit Gott verbunden sind, bildet durch die Verkettung der Ähnlichkeit und des Raumes, durch die Kraft dieser Konvenienz, die das Ähnliche in Nachbarschaft rückt und die nahe beieinander liegenden Dinge assimiliert, die Welt eine Kette mit sich selbst. In jedem Berührungspunkt beginnt und endet ein Ring, der dem vorangehenden und dem folgenden ähnelt. Von Kreis zu Kreis setzen sich die Ähnlichkeiten fort, halten sie die Extreme in Distanz (Gott und die Materie) und rücken sie so aneinander, dass der Wille des Allmächtigen bis in die verschlafendsten Ecken dringt.72

Diese »immense Kette, gespannt und vibrierend, diese Saite der Konvenienz«73 beschreibt Giambattista della Porta74 in seiner Magia naturalis im Bild des vom Himmel auf die Erde gespannten Seils, das alles mit allem verknüpft, der durchgezogenen Linie, der verbindenden Kette: So sehen wir, dass von der ersten Ursach an gleichsam ein großes Seil gezogen ist herunter biß in die Tieffe, durch welches alles zusammen geknuepffet, und gleichsam zu einem Stücke wird, also dass, wenn die hoechste Krafft ihre Strahlen erscheinen läßt, dieselben auch biß herunter reichen: Gleich wie, wann ein ausgespannter Strich an einem Ort gerueret wird, derselbe gantz durch erzittert, und auch das Übrige sich beweget. Und dieses Band nun kan man wol mit an einander hangenden Ringen und einer Kette vergleichen.75

Eine zweite Form des Ähnlichen ist die aemulatio, eine Vorstellung, nach der jedes Ding seine Entsprechung in einem anderen, ihm zugeordneten, es spiegelnden oder von ihm gespiegelten Ding hat. Eine Welt von Zwillingen, wie Paracelsus schreibt, »die sich vollständig ähneln, ohne dass jemand sagen könnte, welcher von beiden dem anderen seine Ähnlichkeit gegeben hat«76. In einem Text von Oswald Crollius77 heißt es:

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Die Gestirne sind die Matrix aller Gräser, und jeder Stern am Himmel ist lediglich eine geistige Präfiguration eines Grases, so wie er es darstellt, und genau so, wie jedes Gras oder jede Pflanze ein irdischer Stern ist, der den Himmel betrachtet, so ist auch der Stern eine himmlische Pflanze in geistiger Form, die von dem Irdischen allein durch die Materie unterschieden ist.

Eine dritte Ähnlichkeitsform ist die Analogie. Sie ist seit der Antike und dem Mittelalter in Gebrauch, bedeutet aber im sechzehnten Jahrhundert etwas Spezifisches, eine Ähnlichkeit von Vorgängen, Funktionsweisen und Zusammenhängen: »Das Verhältnis etwa der Sterne zum Himmel, an dem sie glänzen, findet sich wieder zwischen Gras und Erde, den Lebenden und der von ihnen bewohnten Kugel, im Verhältnis von Mineralen und Diamanten zu den sie verbergenden Felsen, von Flecken auf der Haut zu dem von ihnen insgeheim markierten Körper.«78 Analogien können sich umkehren, wie etwa jene zwischen Tieren und Pflanzen, in der die Pflanze als ein umgekehrtes Tier betrachtet wird, das seinen Kopf nach unten gerichtet und seinen Mund in die Erde gesteckt hat, oder als aufrechtes Tier, dessen Adern in seinem Stängel zu seinem Kopf verlaufen. Im Zentrum der vielfältigen Analogien steht der Mensch. Er steht in einer Proportion zum Himmel wie zu den Tieren und den Pflanzen, zur Erde, den Metallen, den Stalaktiten oder den Gewittern. Zwischen den Flächen der Welt stehend, hat er Beziehung zum Firmament (sein Gesicht ist für seinen Körper das, was das Gesicht des Himmels für den Äther ist; sein Puls schlägt in seinen Adern, wie die Sterne nach den ihnen eigenen Wegen ihren Lauf nehmen; die sieben Öffnungen bilden in seinem Gesicht, was die sieben Planeten am Himmel sind).79

Alles an ihm gleicht etwas an etwas anderem: »Sein Fleisch ist die Scholle, seine Knochen sind Felsen, seine Adern große Flüsse. Seine Harnblase ist das Meer, und seine sieben wichtigsten Glieder sind die sieben in der Tiefe der Minen verborgenen Metalle.«80 Die Analogien sind kein oberflächliches Spiel mit Ähnlichkeiten, sondern Modelle für den realen Gang der Dinge, so wie etwa ein Gewittersturm als Vorlage für die Apoplexie: Das Gewitter beginnt, wenn die Luft schwer wird und in Wallung gerät, die Krise beginnt in dem Moment, wo die Gedanken schwer und beunruhigend werden.

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Dann häufen sich die Wolken auf, der Bauch schwillt an, der Donner bricht aus, und die Harnblase zerbirst; die Blitze zucken, während die Augen mit furchtbarem Glanz brennen, der Regen fällt, der Mund schäumt, der Schwefel bricht nieder, während die Lebensgeister die Haut zum Platzen bringen. Dann wird das Wetter aber wieder klar und die Vernunft stellt sich beim Kranken wieder ein. 81

Das Gefüge der Ähnlichkeiten wird durch zwei Kräfte zusammengehalten: Die Sympathien sind jene Kräfte, die die Annäherung, das einander Ähnlichwerden der Dinge, bewirken, die Angleichung des verdampfenden Feuers an die Luft, die Tendenz des Schweren zum Boden, des Leichten in die Höhe. Die Sympathie ist die Instanz des Gleichen, die so stark ist, dass sie sich nicht damit begnügt, eine der Formen der Ähnlichkeit zu sein. Sie hat die gefährliche Kraft, zu assimilieren, die Dinge miteinander identisch zu machen, sie zu mischen und in ihrer Identität verschwinden zu lassen, sie also dem fremd zu machen, was sie waren. Die Sympathie transformiert. Sie verändert, aber in Richtung des Identischen, so dass, wenn ihre Kraft nicht ausgeglichen würde, die Welt sich auf einen Punkt reduzierte, auf eine homogene Masse, auf die finstere Gestalt des Gleichen. 82

Die Sympathie bedarf deshalb eines Gegenprinzips, der Antipathie. Diese bewirkt, dass jede Art sich »in ihrem obstinaten Unterschied und ihrer Neigung, in dem zu verharren, was sie ist«83 einschließt, dass »die erdengewechs« einander »hassen und lieben«.84 So entstehen Systematiken von Entsprechungen und Widersprechungen, Feindschaften und Freundschaften, die sich gegenseitig die Waage halten, wie das System der Elemente, aus denen alle elementaren Körper gebildet sind. Das Element Feuer ist heiß und trocken. Es hat also eine Antipathie zu den Eigenschaften des Wassers, das kalt und feucht ist. Die heiße Luft ist feucht, die kalte Erde ist trocken, daraus folgt Antipathie. Um sie in Einklang zu bringen, ist die Luft zwischen Feuer und Wasser gestellt, das Wasser zwischen Erde und Luft. In der Beziehung, dass die Luft warm ist, ist sie dem Feuer benachbart, und ihre Feuchtigkeit verträgt sich mit der des Wassers. Weil ihre Feuchtigkeit gemäßigt ist, mäßigt sie die Wärme des Feuers und erhält von diesem auch die Unterstützung, wie die Luft andererseits durch ihre geringe Wärme die kühle Feuchtigkeit

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des Wassers erwärmt. Die Feuchtigkeit des Wassers wird durch die Hitze der Luft erwärmt und erleichtert die kalte Trockenheit der Erde. 85

Alle diese Ähnlichkeiten blieben aber verborgen, gäbe es nicht Signaturen, durch die »die Ähnlichkeiten in ihrer Verborgenheit […] an der Oberfläche der Dinge signalisiert werden«86. Dan alles was got erschaffen hat dem menschen zu gutem und als sein eigentumb in seine hent geben, will er nit das es verborgen bleib, und ob ers gleich verborgen, so hat ers doch nicht unbezeichnet gelassen mit auswendigen sichtlichen zeichen, das dan ein sondere praedestination gewesen. Zu gleicher weis als einer, der ein schaz eingrebt, in auch nicht unbezeichnet leßt mit auswendigen zeichen, damit er in selbs wider finden könne. 87

Die Bezeichnungen sind durch die Ähnlichkeit mit der Bedeutung lesbar, für die sie ein Zeichen sind. So ähnelt der Same des für das Auge nützlichen Eisenhutes einem Auge und die Schichten der Walnuss jenen Regionen des menschlichen Kopfes, deren Heilung sie förderlich sind. »Die Wunden des Hirnschädels« werden durch die dicke grüne Schale geheilt, die auf den Knochen – auf der Schale – der Frucht liegt, aber die inneren Kopfschmerzen werden durch den Kern selbst bekämpft, »der völlig wie das Gehirn aussieht«.88 Die Dinge sprechen aber nicht von selbst, die Zeichen müssen entziffert werden, die Ähnlichkeit zwischen ihnen und den Dingen will erkannt werden. »Die Welt ist von Zeichen bedeckt, die man entziffern muss, und diese Zeichen, die Ähnlichkeiten und Affinitäten enthüllen, sind selbst nur Formen der Ähnlichkeit. Erkennen heißt also interpretieren: vom sichtbaren Zeichen zu dem dadurch ausgedrückten gehen, das ohne das Zeichen stummes Wort, in den Dingen schlafend bliebe.«89 Die Signatur der Ähnlichkeit ist eine Ähnlichkeit, ist also selbst wieder ein Element der universellen Analogie, die von der durch sie bezeichneten Ähnlichkeit lediglich so viel Abstand hält, dass aus ihr die Analogie noch erkennbar wird: Linien auf der Hand, die einem Sternbild ähneln, eine aufsteigende Falte im Gesicht, die Erhöhung in der sozialen Hierarchie bedeutet. Die Eigenart der Episteme vor dem Ende des 16. Jahrhunderts besteht in der Verankerung der Erkenntnis in den Dingen, in der Ähnlichkeit zwischen der Wirklichkeit und der Wahrnehmung alles Erkennbaren. Die Er-

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kenntnis des Wirklichen ist dem als wirklich Erkannten ähnlich, weil alles mit allem und alles mit Gott zusammenhängt. Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt. Das Gesetz der Zeichen zu suchen, heißt die Dinge zu entdecken, die ähnlich sind. Die Grammatik der Wesen ist ihre Exegese. Die Sprache, die sie sprechen, erzählt nichts anderes als die sie verbindende Syntax. Die Natur der Dinge, ihre Koexistenz, die sie verknüpfende Verkettung, durch die sie kommunizieren, ist nicht von ihrer Ähnlichkeit unterschieden. Diese erscheint nur in dem Netz der Zeichen, das von einem Ende der Welt zum anderen verläuft. 90

In ähnlicher Weise wie die Dinge ist die Sprache ein Zusammenhang zueinander analoger Wortdinge, die ihre Eigenart und ihre Ähnlichkeiten haben, einander anziehen und abstoßen nach den Gesetzen der Sympathie und Antipathie. So sehr mit der Sünde von Babel der ursprüngliche Zusammenhang zwischen den Dingen und der Sprache, die bis dahin »ein absolut sicheres und wahres Zeichen der Dinge war, weil sie ihnen ähnelte«91, zerfallen war, so wenig ist die Sprache »von der Welt getrennt«92 . So wird die Schreibweise mancher Völker von links nach rechts mit der Richtung des Sonnenlaufes, andererseits jene von rechts nach links mit der Bewegung der Planeten in Verbindung gebracht, die Schreibweise der Chinesen und Japaner von oben nach unten andererseits mit der Anordnung des Menschen vom Kopf zum Fuß, die spiralische Schreibweise der Mexikaner mit dem jährlichen Lauf der Sonne. Selbst die Vorstellung der unmittelbaren Einwirkung der Sprache auf die Dinge – in der Kabbala etwa – bleibt in Erinnerung: »Die Erfahrung der Sprache« gehört in dieser Episteme »dem gleichen archäologischen Raster an, wie die Erkenntnis der Natur der Dinge«93 . Die Sprache, »die materielle Schrift der Dinge« und »die nachbarliche Treue und Ähnlichkeit der Interpretation«,94 ist nichts anderes als die unendliche Mühe, die Wahrheit der Dinge aus den Zeichen zu erfahren. Auf diese Weise gibt es drei Ebenen der Sprache: Tatsächlich ist diese zunächst in ihrem rohen und primitiven Sein in der einfachen materiellen Form der Schrift, eines Stigmas auf den Dingen, einer in der Welt verbreiteten Markierung vorhanden, die zu ihren unauslöschlichen Gestalten gehört. In diesem Sinne ist diese Sicht der Sprache einzigartig und absolut. Aber sie lässt sehr schnell zwei andere Formen der Diskurse entstehen, die sie einrahmen. Über ihr den Kommentar […] und unterhalb den Text. 95

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Der Kommentar, jenes Element, das am ehesten dem modernen Verständnis von Sprache vergleichbar ist, zielt in der Welt der Ähnlichkeiten nicht auf ein endgültiges Konstatieren einer dem fortwährenden Diskurs entzogenen Wahrheit. Er stellt vielmehr eine Permanenz der Suche nach der Wahrheit der Dinge dar, deren »Murmeln« über die an ihnen sichtbaren Zeichen hörbar und im permanenten Diskurs interpretierender Rede besprechbar wird. Er ist »völlig auf den rätselhaften, gemurmelten Teil gerichtet, der sich in der kommentierten Sprache verbirgt. Er läßt unterhalb des existierenden Diskurses einen anderen, fundamentaleren und gewissermaßen ›ersteren‹ Diskurs entstehen, den wiederherzustellen er sich zur Aufgabe macht.« Nur wenn unterhalb der Sprache »die Souveränität eines ursprünglichen Textes verläuft«, gibt es einen Kommentar. »Und dieser Text verspricht bei der Begründung des Kommentars diesem gewissermaßen als Belohnung seine endgültige Entdeckung.« Die Sprache des 16. Jahrhunderts wird wahrscheinlich in diesem Spiel festgehalten, in diesem Zwischenraum zwischen dem ersten Text und dem Unendlichen der Interpretation. Man spricht auf dem Untergrund einer Schrift, die mit der Welt eins ist. Man spricht unendlich über sie, und jedes ihrer Zeichen wird seinerseits zur Schrift für neue Diskurse. Jeder Diskurs aber wendet sich an jene erste Schrift, deren Wiederkehr er gleichzeitig verspricht und aufschiebt. 96

Die Sprache bleibt auf der Suche nach der zugrunde liegenden Schrift der Dinge, die zugleich Gottes Wort ist, so fundamental wie Gottes Schrift auf den Tafeln des Sinai. Ihr gegenüber bleibt alles Sprechen ein endloses Interpretieren, ein Diskurs. Über die Dinge muss gewissermaßen alles Mögliche gesagt werden, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass in all den Interpretationen (Ähnlichkeiten) das Richtige (die göttliche Wahrheit der Dinge) enthalten ist. Nicht der systematische oder logische Zusammenhang der Aussagen, sondern die Verankerung der Aussagen in der endlosen Kette der Analogien macht ihre Wahrheit aus.

Zeit der Zeichen Diese Seinsweise der Sprache geht mit dem Ende der Renaissance zu Ende. In der neuen Zeit wird »die Sprache, anstatt als die materielle Schrift der Dinge zu existieren, ihren Raum nur noch in der allgemeinen Herrschaft

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der repräsentativen Zeichen finden«97. Die bisher triadische Sprache wird binär, nicht mehr Sprache eines Zeichens, das seinerseits Zeichen einer Tiefensprache ist und über eine Interpretation zur Sache kommt, sondern nur mehr die »Verbindung eines Bezeichnenden und eines Bezeichneten«98, während das Verhältnis des Zeichens zu beiden außer Acht bleibt. Die Worte sind nicht mehr Kommentare zu den Zeichen der Dinge, sondern selbst die Zeichen für die Dinge, die sie anzeigen, die sie repräsentieren (wörtlich: anwesend machen): Der Stein (Wort) repräsentiert den Stein (Ding) – im Unterschied zu früher: Die Form des Steines ist ein Zeichen für den verborgenen Zusammenhang zwischen Steinen und Gestirnen, und deren – aufgrund ihres Zusammenhanges untereinander und letztlich mit Gott – vielfältigen Einflüssen auf die Menschen. Die Sprache ist nicht mehr eine der Gestalten der Welt oder die Signatur, die seit der Tiefe der Zeit den Dingen auferlegt ist. Die Wahrheit findet ihre Manifestation und ihr Zeichen in der evidenten und deutlichen Wahrnehmung. Es gehört zu den Worten, sie zu übersetzen, wenn sie es können. Sie haben kein Recht mehr ihre Markierung zu sein. Die Sprache zieht sich aus der Mitte der Wesen zurück, um in ihr Zeitalter der Transparenz und der Neutralität einzutreten. 99

Eine »ungeheure Reorganisation der Kultur«100 nennt Foucault, was sich da zu Beginn des 17. Jahrhunderts abspielt: Die tiefe Zusammengehörigkeit der Sprache und der Welt wird dadurch aufgelöst. Der Primat der Schrift wird aufgehoben, und damit verschwindet jene uniforme Schicht, in der sich unendlich das Gesehene und das Gelesene, das Sichtbare und das Aussagbare kreuzten. Die Sachen und die Wörter werden sich trennen. Das Auge wird zum Sehen und nur zum Sehen bestimmt sein; das Ohr lediglich zum Hören. Der Diskurs wird zwar die Aufgabe haben zu sagen, was ist, aber er wird nichts anderes mehr sein, als was er sagt.101

Den Übergang von der Sprache der Dinge zur Zeichensprache repräsentiert Miguel Cervantes tragische Figur des Don Quichote, verfasst zwischen 1605 und 1615. In den Abenteuern des »Ingenioso Hidalgo«, des geistreichen Edelmanns, »enden die alten Spiele der Ähnlichkeiten und der Zeichen«102 . Er muss deshalb ständig beweisen, dass diese Zeichen an den Dingen sind, an Windmühlen, Schafen, überall.

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Seine Taten müssen der Beweis sein. Sie bestehen nicht in einem wirklichen Triumph, weshalb der Sieg im Grunde ohne Bedeutung ist, sondern in der Transformation der Realität in ein Zeichen. In ein Zeichen, dass die Zeichen der Sprache den Dingen selbst noch konform sind. Don Quichote liest die Welt, um die Bücher zu beweisen.103

Die Worte und die Dinge sind am Auseinanderfallen, die Zeichen des Buches – der von den Dingen gelösten Sprache – finden sich nur noch um den Preis der Verrücktheit in den Dingen: Die Schrift hat aufgehört, die Prosa der Welt zu sein. Die Ähnlichkeiten und die Zeichen haben ihre alte Eintracht aufgelöst. Die Ähnlichkeiten täuschen, kehren sich zur Vision und zum Delirium um. Die Dinge bleiben hartnäckig in ihrer ironischen Identität: sie sind nicht mehr das, was sie sind; die Wörter irren im Abenteuer umher, inhaltslos, ohne Ähnlichkeit, die sie füllen könnte. Sie bezeichnen die Dinge nicht mehr, sie schlafen zwischen den Blättern der Bücher, inmitten des Staubes.104

Die Sprache hat ihre Verbindung zur Wirklichkeit verloren, sie entfaltet ihre eigene Wirklichkeit: Die Wahrheit Don Quichotes liegt nicht in der Beziehung der Wörter zur Welt, sondern in jener kleinen und beständigen Beziehung, die die Sprachmarkierungen zueinander weben. Die getäuschte Fiktion der Epen ist zur darstellenden Kraft der Sprache geworden. Die Wörter haben sich über ihre Zeichennatur verschlossen.105

Wenn nicht mehr das Murmeln der Dinge, das die Sprache an deren Zeichen erkennt und ausspricht, das Fundament der Erkenntnis ist, wie wird dann der Wahrheitsgehalt menschlichen Erkennens verstanden werden können? Keinesfalls über die Ähnlichkeiten: Am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, in jener Periode, die man zu Recht oder zu unrecht das Barock genannt hat, hört das Denken auf, sich in dem Element der Ähnlichkeit zu bewegen. Die Ähnlichkeit ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Ort der Konfusion nicht prüft. 106

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Die res cogitans wird sich von der res extensa scheiden. In den ersten Zeilen der Regulae107 sagt Descartes: »Sobald die Menschen irgendeine Ähnlichkeit zwischen den Dingen bemerken, pflegen sie von beiden, mögen diese selbst voneinander verschieden sein, das auszusagen, was sie nur bei einem als wahr erfunden haben.«108 Nach Francis Bacon schafft die Ähnlichkeitsvorstellung Götzenbilder von den Dingen, statt deren empirische Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit zu erkennen: Der menschliche Geist setzt vermöge seiner Natur leicht eine größere Regelmäßigkeit und Gleichheit in den Dingen voraus, als er später findet. Und obgleich in der Natur vieles nur einmal vorkommt oder voller Ungleichheiten ist, so legt der Geist doch den Dingen viel Gleichlaufendes, Übereinstimmendes und Beziehungen bei, die es nicht gibt.109

Beide Philosophen verweisen abstrakt auf eine andere für die Menschen typische Art der Erkenntnisbefähigung, die sie zwar noch als defizient qualifizieren, die aber auf eine dem Menschen eigene Kraft der Vernunft verweist, die fortan die Prozesse des Wissenkönnes bestimmen wird. Der Grundgedanke, der die Konzeption der in den Regulae entwickelten Methodologie bestimmt, ist die Idee der Einheit der menschlichen Vernunft und der daraus resultierenden prinzipiellen Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit alles menschenmöglichen Wissens: Die Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Vernunft sind verbindliches Maß für die Art und den Anspruch jeder Erkenntnisbemühung, und sie begründen das Postulat einer universalen, der Struktur menschlichen Wissens angemessenen Methode, die überall da anwendbar sein soll, wo überhaupt sicheres Wissen zu erhoffen ist, die alle Einzelwissenschaften zu einem einzigen Kontext menschlichen Wissens zusammenschließt. Daraus ergibt sich nach Descartes die Idee »der mathesis als universale Wissenschaft des Maßes und der Ordnung«110, die all das erklären wird, was der Ordnung und dem Maß unterworfen ist. Sie ist nicht auf den Gegenstandsbereich der Mathematik beschränkt und soll doch unter dem Anspruch gleichwertiger Gewissheit und Klarheit stehen. Seit Descartes und Bacon wird die neue Wahrheitsinstanz im Gegenteil der Ähnlichkeit bestehen, in der Feststellung von Gleichheit oder Unterschiedlichkeit durch eine »grausame Vernunft der Identitäten und Differenzen«111 . Nicht mehr die naturwüchsige Ähnlichkeit zwischen den Dingen macht das Maß der Erkenntnis aus, erst das Maß des Vergleiches

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wird zeigen, welches Erkannte mit welchem anderen identisch ist und welche Deduktionen zwischen dem Unterschiedlichen hergestellt werden können. Grundlegendste Handlung dieser neuen Episteme ist die Konstatierung von Unterschieden zwischen den Dingen und die Erstellung von Katalogen geordneter Zusammenhänge, unter ihnen »Tableaus« wie etwa das berühmte Systema naturae des Carl von Linné: In diesem Sinne erlegt die Unterscheidung dem Vergleich die erste fundamentale Suche nach dem Unterschied auf: sich durch die Anschauung eine unterschiedene Repräsentation der Dinge zu geben und klar den notwendigen Übergang von einem Element der Serie zu demjenigen, das ihm unmittelbar folgt, zu erfassen.112

Voraussetzung der Vergleichbarkeit ist die Herstellung gemeinsamer Einheiten zwischen den Dingen, das Messen und die Ordnung der unterschiedlichen Dinge in ununterbrochene Serien einer zugrunde liegenden gemeinsamen Ordnung. »Jede Ähnlichkeit« wird dem Beweis des Vergleichs unterworfen und wird nur noch anerkannt, »wenn die gemeinsame Einheit durch das Maß oder, noch radikaler, durch die Ordnung, durch die Identität und die Serie der Unterschiede gefunden worden ist«113 . Der Vorgang der Erkenntnis wird dadurch abschließbar und Erkenntnis kann zu vollkommener Gewissheit gelangen. Das »Spiel der Ähnlichkeiten« war einst unbegrenzt. Es war stets möglich, neue zu entdecken und die einzige Begrenzung kam aus der Anordnung der Dinge und aus der Endlichkeit einer zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos eingefassten Welt. Jetzt wird eine völlige Aufzählung möglich werden, sei es nun in der Form einer erschöpfenden Bestandsaufnahme aller Elemente, die die ins Auge gefasste Gesamtheit konstituiert, sei es in der Form einer Kategorisierung, die in ihrer Totalität das untersuchte Gebiet gliedert, sei es schließlich in der Form einer Analyse einer bestimmten Zahl von Punkten, die zahlenmäßig ausreichen, wenn man sie aus der ganzen Serie herausnimmt. Der Vergleich kann also eine vollkommene Gewissheit erreichen.114

Die letzte Konsequenz ist, »da Erkennen unterscheiden heißt, dass Geschichte und Wissenschaft voneinander getrennt werden«115 . Wissenschaft ist nach Descartes nicht mehr die in der Geschichte des Denkens aus den Meinungen der Wissenschaftler sich erschließende Annäherung an die

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Wahrheit: »[…] wenn wir auch alle Argumente von Plato und Aristoteles gelesen hätten […], alsdann nämlich hätten wir offenbar nicht Wissenschaft sondern Geschichte gelernt.«116 Das Wesentliche an der Welt besteht nicht mehr darin, dass sie in Gottes Hand ist, sondern dass sie in Ordnung ist. Wenn die Analogien der Dinge untereinander und zu Gott hin und die Zeichen, die zu interpretierende Sprache dieser Dinge, keine Gültigkeit mehr haben, müssen die Zusammenhänge zwischen den Dingen durch den menschlichen Verstand erkannt und bewiesen werden. Letztlich entstehen wieder geordnete Aneinanderreihungen der Elemente der Wirklichkeit. Aber sie stellen nicht mehr die ewige Ordnung der Dinge fest, sondern sie ordnen die Dinge nach den Gesetzen der menschlichen Vernunft. Es beginnt die lange Geschichte einer Veränderung des Zusammenhangs zwischen den Worten und den Dingen, in der »die Zeichen vom ganzen Gewimmel der Welt befreit«117 werden, und sich Zug um Zug »der Mensch« als eine solitäre, von der (Um-)Welt und dem Kosmos unterschiedene Gestalt hervorbringen wird, dasjenige seiend, was er über sich sagt, und nichts anderes.

Zeit des Menschen In den Jahren seit der Renaissance und vorher hatten die Menschen zwar gedacht, aber sie hatten nicht an sich gedacht. Es gab – und das ist verwunderlich genug – keine Konzentration des Denkens auf den Menschen selbst. »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.«118 Was diese weitreichende Behauptung meint, erschließt sich nach Foucault über eine weitere Revolution des Wissens, die sich zugleich auf den Gebieten der Naturwissenschaften, der Ökonomie und der Sprachwissenschaft abgespielt hat. Zusammenfassend besteht die Tendenz dieser Umwälzung darin, dass die Dinge, im Zeitalter der Repräsentation bloße leere Flächen für die Zuschreibung von Bedeutungen, und die Worte über sie, um es plastisch auszudrücken, ein »Eigenleben« entwickeln. Auf dem Gebiet der Grammatik bedeutet das das Zurücknehmen der dem Namen zugeschriebenen Hauptrolle und die Hervorhebung der Bedeutung der Flexionssysteme und des Verbums. Vor allem im Zusammenhang mit der Erforschung des Sanskrit wurde entdeckt, dass die Einheit der Sprachen nicht in den identischen Wortwurzeln zu suchen sei, sondern in der Entsprechung der Felexionssysteme (Ich bin, du bist …), nicht so sehr in dem also, was die Worte sind (repräsentieren), sondern was sie können.

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Die Worte sind nicht mehr bloß Zeichen, die etwas von ihnen Unterschiedenes darstellen, sondern sie tragen ihre Bedeutung mit sich, sie haben den Dingen die Trägerschaft des Wirklichen mit Erfolg entrissen. Die Sprachwissenschaft wandelt sich zur Philologie, zur liebevollen Erkundung des Eigensinns der Wörter, ihrer Zusammenhänge und ihrer Geschichte. Was ein Wort bedeutet, ist nicht mehr die Frage nach dem Objekt, das es bezeichnet, sondern nach der Bedeutung, die es im Lauf seiner Geschichte angenommen hat und in seiner Gegenwart trägt. Nicht mehr das Tableau, sondern die (innere) Organisation der Dinge steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht die Ordnung der Elemente, sondern ihre Beziehungen untereinander. Es ist nicht mehr so wichtig, wie die Dinge aussehen (um sie nach ihren Merkmalen zu ordnen), sondern wie sie funktionieren: in der Sprache die Flexionen, in der Biologie die Funktionskreise lebender Organismen, in der Ökonomie die Gesetze der Arbeit und der Produktion. Nach dem langen Umweg über die sich selbst interpretierenden Zeichen kehrt die Sprache zu den nunmehr vereinzelten Dingen zurück, deren Wesen sie nicht mehr aus den an ihnen sichtbaren Zeichen ihrer Beziehungen zueinander, sondern aus der exklusiven Beschaffenheit ihrer von allen anderen abgeschiedenen Einzigartigkeit zu bestimmen versucht. In Fortentwicklung dieser neuen Episteme beginnen sich die Wissenschaften (die Philologie, die Biologie, die Ökonomie) des Menschen anzunehmen oder, zutreffender gesagt, sie bringen ihn hervor. Während er bis dorthin nur als Denkender vorhanden ist, wird er jetzt zunehmend zum Objekt des Nachdenkens, paradigmatisch ausgesprochen in der vierten Frage, die Immanuel Kant in seiner Logik den drei Grundfragen der Philosophie hinzugefügt hat: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?119 In der klassischen Episteme besetzte der Mensch einen Rang in der Taxonomie der Arten, und ihm diesen Platz zuzuweisen, war Aufgabe der Wissenschaft, hinter der die Frage, wer oder was er denn für sich genommen, nicht im Verhältnis zu den anderen Wirklichkeiten, wirklich sei, ohne Bedeutung blieb. Die Frage, wie er von den anderen Weltdingen unterschieden – und dass er ihnen allen vorgesetzt – sei, war das treibende Anliegen des Denkens des Menschen, das deshalb kein Denken über ihn als solchen sein musste. Die Menschen waren vollauf damit beschäftigt, die Ordnung der Dinge, die sie nach dem Ende der Renaissance selbst übernommen hatten, herzustellen, und sie waren diejenigen, die diese Ordnung erstellten, das genügte.

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Mit der Herausnahme des Menschen aus dem System der unendlichen Analogien hat die moderne Anthropologie die Endlichkeit in die Bestimmung des Menschen hineingenommen. Das bisherige Denken hatte diese Endlichkeit zwar nicht ignoriert, sie aber als die Kehrseite einer postulierten Unendlichkeit verstanden. »Für das Denken des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war es eine Endlichkeit, die den Menschen zwang, in einer animalischen Existenz zu leben, im Schweiße des Angesichts zu arbeiten und in opaken Wörtern zu denken.«120 Er ist aber auf die Unendlichkeit bezogen, ob diese Unendlichkeit »nun als Schöpfung, als Fall, Verbindung der Seele mit dem Körper, Bestimmung innerhalb des unendlichen Seins, besonderer Gesichtspunkt in der Totalität oder Verbindung der Repräsentation mit dem Eindruck begriffen wurde – als der Empirizität des Menschen und der Kenntnis, die er davon erhalten kann«121 . Der Mensch ist endlich, weil Gott unendlich ist, und die Unendlichkeit bleibt, nach einem Leben in Mühsal, seine Bestimmung. Als irdischer, endlicher bleibt er vorläufig, in gewisser Weise nicht der Rede wert. Im modernen Denken dagegen ist die Endlichkeit das Prinzip, das das Denken insgesamt organisiert: »Unsere Kultur [hat] die Schwelle, von der aus wir unsere Modernität erkennen, an dem Tag überschritten, an dem die Endlichkeit in einem unbeendbaren Bezug zu sich selbst gedacht worden ist.« Der moderne Mensch ist »nur als Gestalt der Endlichkeit möglich«.122 Erst darin besteht die Möglichkeit, den Menschen als solchen, für sich zu denken. Die moderne Kultur kann den Menschen denken, weil sie das Endliche von ihm selbst ausgehend denkt. Man begreift unter diesen Bedingungen, dass das klassische Denken und alles Denken, das ihm vorhergegangen ist, vom Geist und vom Körper, vom menschlichen Wesen, von seinem so begrenzten Platz innerhalb des Universums, von allen Grenzen, die seine Erkenntnis oder seine Freiheit bemessen, haben sprechen können, aber dass keine unter ihnen den Menschen je so gekannt hat, wie es dem modernen Wissen gegeben ist. Der »Humanismus« der Renaissance, der »Rationalismus« der klassischen Epoche haben dem Menschen in der Ordnung der Welt wohl einen privilegierten Platz geben können, sie haben jedoch den Menschen nicht denken können.123

Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erst entstehen die Humanwissenschaften, die den Menschen »als dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkennt-

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nis«124 zum Thema des Denkens machen, als ein »gemäß den Gesetzen einer Ökonomie, Philologie und Biologie lebendes, sprechendes und arbeitendes Individuum, das aber in einer Art innerer Verdrehung und Überlappung durch das Spiel jener Gesetze selbst das Recht erhalten hätte, sie zu erkennen und völlig an den Tag zu bringen«125 . Die Erfindung des Menschen beginnt, als das menschliche Wesen innerhalb seines Organismus, innerhalb der Schale seines Kopfes, der Rüstung seiner Glieder und durch das ganze verzweigte System seiner Physiologie zu existieren beginnt, als er im Zentrum einer Arbeit zu existieren beginnt, deren Prinzip ihn beherrscht und deren Produkt ihm entgeht; als er sein Denken in die Falten einer Sprache legt, die so viel älter als er ist, dass er die durch die Insistenz seines Sprechens wiederbelebten Bedeutungen nicht beherrschen kann.126

In einer paradoxalen Dialektik wird das Postulat der Endlichkeit zur Voraussetzung für die die Modernen faszinierende Lebendigkeit und Mächtigkeit eines von der Last seiner kosmischen oder göttlichen Bestimmung befreiten Menschen. »Das Ende der Metaphysik ist nur die negative Seite eines viel komplexeren Ereignisses, das sich im abendländischen Denken vollzogen hat. Dieses Ereignis ist das Auftauchen des Menschen.«127 Der Tod Gottes wird zur Voraussetzung der Inthronisation des Menschen als eines sterblichen Gottes.

4 D AS V ERSCHWINDEN DES M ENSCHEN Es ist dieser »Mensch« der modernen Humanwissenschaften, von dem Foucault Mitte der 1970er Jahre annimmt, dass er verschwindet. Eines ist auf jeden Fall gewiss, der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die europäische Kultur seit dem sechzehnten Jahrhundert –, kann man sicher sein, dass der Mensch eine junge Erfindung ist. Nicht um ihn und um seine Geheimnisse herum hat das Wissen lange Zeit im Dunkeln getappt.128

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Von den sich wandelnden Ordnungen der Dinge hat nur eine einzige, die vor anderthalb Jahrhunderten begonnen hat und sich vielleicht jetzt abschließt, die Gestalt des Menschen erscheinen lassen. Es ist nicht die Befreiung von einer alten Unruhe, der Übergang einer Jahrtausende alten Sorge zu einem lichtvollen Bewusstsein, das Erreichen der Objektivität durch das, was lange Zeit in Glaubensvorstellungen und in Philosophien gefangen war: es war die Wirkung einer Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.129

Die heute verbreitete Art und Weise, über »den« Menschen nachzudenken ist nur eine der Möglichkeiten, dies zu tun, und zwar eine erst seit kurzem – seit dem achtzehnten Jahrhundert – und in einem sehr begrenzten Raum – dem europäischen – übliche. Eine Denkweise, die so wie sie gekommen ist auch wieder verschwinden könnte. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.130

Vor der Wende zum 18. Jahrhundert und außerhalb des europäischen Raumes gab es die Idee einer für alle Menschen und Zeiten gleichermaßen zutreffenden einheitlichen Bestimmung des Menschen nicht, und damit auch keine Anthropologie als allgemeine, ahistorische Reflexion über den Menschen. Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, wahrscheinlich nichts anderes als ein bestimmter Riss in der Ordnung der Dinge, eine Konfiguration auf jeden Fall, die durch die neue Disposition gezeichnet wird, die sie unlängst in der Gelehrsamkeit angenommen hat. Daher stammen alle Schimären neuer Humanismen, alle Leichtigkeiten einer »Anthropologie«, wenn diese als allgemeine Reflexion (halb positivistisch, halb philosophisch) über den Menschen verstanden wird.131

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Was wesensphilosophisch oder theologisch inspirierte Anthropologen als Verlust empfinden mögen, ist für Foucault eine befreiende Perspektive. Indessen gibt es eine Stärkung und eine tiefe Beruhigung, wenn man bedenkt, dass der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und dass er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form angenommen haben wird.

Die Anthropologie der modernen Humanwissenschaften hat die Verbindung der Dinge untereinander (und zu Gott) ebenso zerrissen wie die Verbindung zwischen den Dingen und der Sprache. Die Lebendigkeit des so gedachten Menschen hatte die Isolation vom Ganzen der Wirklichkeit zum Preis. Erkenntnistheoretisch gewendet markiert dies das Grundproblem der Anthropologie, dass sie nämlich stets Erkenntnis des Menschen im Sinne eines Genitivus subjectivus und objectivus ist: Erkenntnis durch den Menschen und Erkenntnis über den Menschen. Insofern versteht sich die Bezweiflung des cartesianischen Cogito bei Foucault gerade nicht als eine skeptische Anthropologisierung des Menschen, sondern als ein Symptom der Widersprüchlichkeit des modernen – des erfundenen – Menschen. Die Erkenntnis des Menschen über sich beansprucht Identität: Der erkannte – transzendentale – Mensch soll das Duplikat des realen – empirischen – Menschen sein. Allerdings: »Weil er empirisch-transzendentale Doublette ist, ist der Mensch auch der Ort des Verkennens, jenes Verkennens, das sein Denken stets dem aussetzt, dass es durch sein eigenes Sein überbordet wird, und das ihm gleichzeitig gestattet, sich von dem ihm Entgehenden aus zu erinnern.«132 Ein von den Erfindungen der Humanwissenschaften nicht eingeengtes Nachdenken der Menschen über sich bleibt. Das »Ungedachte« ist ebenso konstitutiv für den Menschen wie die cartesianische Versuchung, das »Cogito« und das »Ich bin« in eins zu setzen. »Es führt nicht alles Sein der Dinge auf das Denken zurück, ohne das Sein des Denkens bis in die untätigen Bahnen dessen zu verzweigen, was nicht denkt. Diese doppelte dem modernen Cogito eigene Bewegung erklärt, warum das ›Ich denke‹ nicht zur Evidenz des ›Ich bin‹ führt.« 133 Die Überwindung der Ausschließlichkeit zwischen dem Sein des Menschen und dem Sein der Sprache bleibt eine erhoffte Perspektive, sie hat aber in der Geschichte des abendländischen Wissens keine Vorläufer und deshalb vielleicht auch keine Zukunft. »Ist es unsere zukünftige Aufgabe,

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uns zu einer Denkweise vorzuwagen, die bisher unserer Kultur unbekannt ist und die gestatten würde, gleichzeitig (ohne Diskontinuität oder Widerspruch) das Sein des Menschen und das Sein der Sprache zu reflektieren?«, fragt Foucault gegen Ende seines langen Gangs durch die Geschichte des abendländischen Wissens. Und zweifelt: Aber es ist auch möglich, dass das Recht, gleichzeitig das Sein der Sprache und das Sein des Menschen zu denken, für immer ausgeschlossen bleibt. Es kann sein, dass darin eine unauslöschliche Kraft (in der wir genau existieren und sprechen) besteht, so dass man jede Anthropologie, in der die Frage nach dem Sein der Sprache gestellt würde, und jede Auffassung der Sprache oder der Bedeutung, die das Sein des Menschen erreichen, offenbaren und befreien will, zu den Hirngespinsten zählen müsste.134

Am Ende bietet Foucault keine Anthropologie an, kann gar keine anbieten. Der Nachweis galt ja der Einsicht, dass die Frage nach dem Menschen jüngeren historischen Datums ist und erst aufkam, als sich herausstellte, dass die Zeichen der Sprache die Welt nicht restlos unter sich aufteilen konnten, sondern dass die Dinge – und mit ihnen der Mensch als ihre und seine Eigenart bedenkender – ihr eigenes Leben hatten. Dem Dilemma des zugleich sich und das Denken denkenden Denkers dadurch zu entkommen, dass man das jeweils am endlichen Menschen Erkannte als seine unendliche Transzendenz ausgibt, wäre keine Anthropologie, sondern ein »anthropologischer Schlaf«, wie ihn Foucault der heute vorherrschenden Anthropologie zuschreibt.135 Von der sich anbietenden Alternative, die Zwiespältigkeit des sich mit einem unerkannten Erkennen erkennenden Menschen auszuhalten – bis eine andere Art der Menschenerkenntnis am Horizont auftaucht – und damit auch ein anderer »Mensch«, vielleicht ein aus den Diskontinuitäten, den Widersprüchen, dem Scheitern und den Hoffnungen seiner Geschichte zusammengesetzter »Menschlicher« – oder eben das Verschwinden des Menschen auszuhalten, sieht Michel Foucault nur die letztere: »In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raumes, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« 136 In seinem Interview mit Ducio Trombadori präzisiert Foucault nochmals seine Ansage vom »Tod des Menschen«, indem er klarstellt, welcher

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Mensch mit dieser Formulierung gemeint ist und welcher andere gerade nicht: »Wenn ich vom Tod des Menschen spreche, möchte ich allem ein Ende setzen, das dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will.«137 Zu Recht als tot erklärt habe er jede verabsolutierende Beschreibung des Menschen von einer dem Prozess der Entstehung des Wissens übergeordneten Erkenntnis seiner Voraussetzungen her. Zu Unrecht aber habe er das baldige Ende des in der Moderne konstruierten Menschenbildes prophezeit: Als ich in der Ordnung der Dinge diesen Tod als etwas dargestellt habe, das sich in unserer Epoche vollzieht, habe ich mich getäuscht. Ich habe zwei Aspekte miteinander verwechselt. Das erste ist ein eher untergeordnetes Phänomen: die Feststellung, dass in den verschiedenen Humanwissenschaften, die sich entwickelt haben – eine Erfahrung, in die der Mensch seine eigene Subjektivität hineingelegt und zugleich transformiert hat –, der Mensch am Ende seiner langen und verschlungenen Wege niemals sich selbst begegnet ist. Wenn es das Versprechen der Humanwissenschaften war, uns den Menschen zu entdecken, so haben sie es gewiss nicht gehalten; es handelte sich dabei eher um eine allgemeine kulturelle Erfahrung, nämlich die Konstruktion einer neuen Subjektivität, vermittelt durch eine Operation, die das menschliche Subjekt auf ein Erkenntnisobjekt reduziert.138

In der Tat hat sich ja jene allgemeine kulturelle Erfahrung, die mit der Entstehung der Humanwissenschaften verbunden ist, als eine Bemühung ausgegeben, die endgültige Wahrheit über den Menschen zu ermitteln, und sie tut es auf weite Strecken immer noch. Ausdrücklich von der Prophezeiung des Verschwindens nimmt Foucault aber jene Konzeption des Menschen oder des Menschlichen aus, die hinter der notwendigen Skepsis gegenüber verabsolutierten Menschenkonzeptionen auftaucht. Für sie gilt die Ansage vom Tod des Menschen nicht oder in einem ganz anderen Sinn: Sie hat den Tod jeweiliger konkreter Menschenkonzeptionen, soweit sie als Wesenserkenntnisse verstanden werden, zur Voraussetzung, deckt ihn auf und überholt ihn gleichzeitig durch eine historische Anthropologie, die den Begriff des Menschlichen in einer endlosen Folge vergänglicher Erkenntnisse der Menschen über sich vermutet. Der zweite Aspekt, den ich mit dem ersten verwechselt habe, besteht darin, dass die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben, sich selbst zu

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konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und niemals zu etwas kommen, das »der Mensch« wäre. Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekte umgestaltet. Das war es, was ich sagen wollte, als ich undeutlich und vereinfachend vom Tod des Menschen sprach.139

»Ich gebe nichts Grundsätzliches auf«140 folgert Foucault zu Recht. In der Tat: In dem Sinn, dass jemals ein Konstrukt des Menschen das Menschliche schlechthin aussagen könnte – und so verstand und versteht sich ja der Mainstream der europäischen Anthropologie – ist die Rede vom Tod des Menschen aufrechtzuerhalten. Die Methodologie der Erkenntnis der Menschen über sich als komplementären Prozess von Welt- und Selbstkonstituierung zu verstehen, ist für Foucault nicht bloß eine abstrakte Denkanstrengung, sondern als eine Wissenschaft für Praxis, eine kritische Analyse, die zu politischem Handeln führt. Denn: Wem nützte die Befreiung der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant) und die gerade ihretwegen nötig gewordene Emanzipation aus den Zwängen einer ahistorischen Vernunft, wenn sie bloß akademische Übung bliebe. Ich akzeptiere weder die Vorstellung einer Herrschaft noch der Universalität des Gesetzes. Ich bin vielmehr bestrebt, Mechanismen der effektiven Machtausübung zu erfassen; und ich tue es, weil diejenigen, die in diese Machtbeziehungen eingebunden sind, die in diese verwickelt sind, in ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen Machtbeziehungen entkommen können, sie transformieren können, kurz, ihnen nicht mehr unterworfen sein müssen. 141

Seinen eigenen Beitrag sieht Foucault nicht in der Ansage, was zu tun sei, sondern in der Aufdeckung der Bedingungen, unter denen dieses Tun vor sich geht. Und wenn ich nicht sage, was zu tun ist, so nicht, weil ich glaubte, es gäbe nichts zu tun. Im Gegenteil, ich denke, dass es tausend Dinge zu tun, zu erfinden, zu planen gibt von denen, die – in Kenntnis der Machtbeziehungen, in die sie verwickelt sind – beschlossen haben, ihnen zu widerstehen oder ihnen zu entkommen. So gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat eines unbedingten Optimismus. Ich unternehme meine Analysen nicht, um zu sagen: seht, die

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Dinge stehen so und so, ihr sitzt in der Falle. Sondern weil ich meine, dass das, was ich sage, geeignet ist, die Dinge zu ändern. Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt.142

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IV Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung

Der von Norbert Elias als entscheidendes Prinzip moderner europäischer zivilisatorischer Standards entdeckte Anspruch, dass die Einzelnen die Anpassung an gesellschaftliche Verhaltensstandards aus eigenem Antrieb zu leisten haben, den er in die Formel vom »gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang« gegossen hat, besteht in der Gegenwart fort. Die dahin führenden Strategien haben sich aber in erheblichem Ausmaß vermehrt und verfeinert. Erziehung, Unterricht, Ernährung, Gesundheit, Bewegung, Sport, Körper- und nicht zuletzt Psychokultur wurden in einem ungeahnten Ausmaß methodisiert und popularisiert und so zur Anforderung an im Grunde jede/n Einzelne/n gemacht. Diese Anstrengungen werden aber den Menschen nicht mehr als Anpassungszwänge an rigide gesellschaftliche Vorgaben einer allgemeingültigen Moral oder eines geschlossenen Menschenbildes abverlangt, sondern ihnen gegenüber als Ausdruck und Ausfluss individueller Wahl und Freiheit ausgegeben, als Voraussetzung individuellen Glücks. Die dorthin führenden Prozesse werden nicht mehr als Selbstzwang, sondern als Selbstverwirklichung, als Herbeiführung individuellen Lebensglücks, vermittelt. Dass dem so ist, lässt sich an einer Vielzahl von Entwicklungen ablesen, vor allem an der Konstituierung der äußeren Lebensverhältnisse der Individuen durch Akte der Konsumation und an der Formung ihrer inneren Vorstellungswelten durch zugemittelte Text- und Bildwelten. Die Konsumindustrie versucht, den Bedarf an Gütern durch die Indienstnahme innerer Bedürfnisse zu vergrößern, die Medienindustrie die psychischen Wünsche und Ängste als Potentiale zur Vermarktung kollektiver Phantasiewelten zu nutzen.1 Das Wohlverhalten des Einzelnen wird nicht

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mehr durch die Durchsetzung und Verinnerlichung von Normen, sondern durch die Erfüllung von Wünschen erzielt, allerdings nach dem Muster gesellschaftlich-ökonomischer Kalküle, die dem Einzelnen verborgen bleiben. Die neue Formel für das, was Elias »Gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang« genannt hat, lautet: »Gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung«.

1 D AS G LÜCK DER W AREN 1852 eröffnete Aristide Boucicault in Paris ein Geschäft namens »Bon Marché«, das sich von der bis dahin üblichen Form der Geschäfte dadurch unterschied, dass es für alle Menschen ohne Unterschied ihrer gesellschaftlichen Position zugänglich war und nicht mehr nur mit einer Warengruppe, sondern mit einem breiten Spektrum von Waren handelte.2 An dieser neuen Form des Handels mit Waren zeigt sich die ganze Dimension des Wandels. Aus wechselseitiger Interaktion wird genormte Aktion: Der Kunde muss dem Inhaber nicht mehr bekannt sein oder sich mit ihm bekannt machen; an die Stelle der durch ein Gespräch erfolgenden Einigung über den Preis treten feste Warenpreise. Aus Gütern werden Waren: Die Gewinnkalkulation des Besitzers läuft nicht mehr über die möglichst große Spanne beim individuellen Einzelstück, sondern über ein kalkuliertes Verhältnis von kostengünstiger Produktion und Verkauf möglichst vieler gleicher Einzelstücke an beliebige Kunden. Dabei soll die Quantität über zwei Strategien erhöht werden: Die Kunden sollen möglichst viel von jeder einzelnen Ware kaufen und gleichzeitig soll das Angebot an käuflichen Waren möglichst breit gefächert werden. Aus Bedarf werden Bedürfnisse: Boucicaults Handelshaus richtete ein Schaufenster ein, in dem nicht mehr wie bisher bloß Musterwaren ausgestellt waren, sondern die Grundstruktur dessen arrangiert wurde, was wir heute »Werbung« nennen: Es wurden Kochtöpfe vor dem Hintergrund einer verführerischen orientalischen Haremsszenerie präsentiert. Orientalische Welten, die damals in Paris als sehr chic und attraktiv galten, wurden so auf willkürliche Weise als Anreiz zum Kauf von Haushaltsgeräten verwendet, die mit ihnen in so gut wie keinem Zusammenhang standen. Der Bedarf an äußeren Gütern soll durch die Indienstnahme innerer Bedürfnisse vergrößert werden. Das Wohlverhalten des Einzelnen wird nicht mehr durch die Durchsetzung von Normen, sondern durch die Erfüllung von Wünschen erzielt, nach

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der Logik gesellschaftlich-ökonomischer Kalküle, die dem Einzelnen verborgen bleiben. Mit diesen grundsätzlichen Veränderungen geht ein Bedeutungsverlust jener gesellschaftlichen Einrichtungen einher, die bisher den gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang beim Individuum bewirken sollten: Der Erziehung in Familie und Schule sowie aller Systeme moralischer und ideologischer Welt- und Menschenbestimmung. Moralische und ideologische Institutionen der Selbstbeschränkung, des Aufschubs, der langfristigen Lebensplanung geraten in einen unauflöslichen Widerspruch zu Anreizen der Erreichung kurzfristigen Lebensglücks. Das Erscheinungsbild des modernen Verbrauchers ist seit Erich Fromm oft genug beschrieben worden.3 Fromm spricht vom »Marketing-Charakter«, bei dem der »Hang zum Tauschen« den »Hang zum Besitz« ersetzt habe, der nach dem »Prinzip der Nicht-Frustration« lebt, »fortwährend damit beschäftigt ist, Bilder aufzunehmen« und in Wirklichkeit »überhaupt nichts« sieht.4 Der Typus des modernen Konsumenten unterscheidet sich vom leistungsorientierten bürgerlichen Individualisten grundlegend. Er soll seine Triebe nicht mehr unterdrücken, sondern befriedigen, und seine Gesellschaft soll ihn dabei nicht mehr einschränken, sondern unterstützen. Die klassische Freud’sche Trias von Es, Ich und Über-Ich hat sich an ihren beiden Enden grundsätzlich gewandelt. Das Es drängt nicht mehr aus den dunklen Energien ungezügelter Triebe zur Lustbefriedigung, sondern wird mit den Arsenalen subtil ausgewählter Wunschbefriedigungen selbst angezielt, und das Über-Ich verflüchtigt sich in ein weites Land grenzenloser Möglichkeiten. Die Vorstellung eines grenzenlosen Überflusses, die in der modernen Konsumwirtschaft bei den einzelnen Menschen erzeugt wird, ist freilich, wie ökonomische Analysen nachweisen, trügerisch.5 Sie vernachlässigt die hohen Entwicklungskosten auf der Produktionsseite ebenso wie den umfangreichen Organisationsaufwand auf der Konsumptionsseite und die Schadensfolgen für Natur und Umwelt. Die Wunscherfüllungen, die den Menschen versprochen werden, können niemals hergestellt werden, und die Bedürfnisbefriedigungen, die angeboten werden, sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Anders gesagt: Der moderne Konsummensch wird andauernd getäuscht, es muss aber mit allen Mitteln verhindert werden, dass er diese Täuschung durchschaut, weil gerade sie das Vehikel ist, das ihn dazu bringt, nach jeder Ent-Täuschung aufs Neue an die Wahrheit der nächsten Täuschung zu glauben. Moderne Güterproduktion ist notwendigerweise serieller Betrug, moderner Konsum dementsprechend serieller

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Selbstbetrug. Beides bewirkt jene untergründige Angst vor dem endgültigen Verlust des Gegenstandes, der geglaubt werden kann, des Wirklichen also, desjenigen, das im Sinne der eigenen Vorstellungen und Erwartungen wirkt, mit ihnen zur Deckung gebracht werden kann. Das Auseinanderfallen der Wirklichkeit der Wünsche und der erwünschten Wirklichkeiten lässt sich an zwei prominenten Phänomenen der abendländischen Kultur veranschaulichen: an der langen Geschichte des Reisens und an der viel kürzeren des Automobils.

2 D IE E NTFERNUNG DER F ERNE Zur Sozialgeschichte des Tourismus sind in den letzten Jahren nicht wenige Veröffentlichungen auf den Markt gekommen. Sie beschäftigen sich mit Phänomenen wie dem modernen Massentourismus,6 der Entstehungsgeschichte des Tourismus,7 touristischen Literaturgattungen wie dem Reisebericht8 und anderem mehr. Eher selten sind grundlegendere zivilisationsgeschichtliche bzw. gesellschaftstheoretische Analysen des Tourismus, der ja nicht nur ein massenhaftes Zeitphänomen oder ein Wirtschaftsfaktor, sondern als umfassende, alle Bevölkerungs- und Altersgruppen in unterschiedlichen Rollen einbeziehende Lebenspraxis auch eine Kultur- und Sozialisationsinstanz ersten Ranges ist. Hier dominieren einerseits weiträumige Essays wie etwa Hans Magnus Enzensbergers bekannte Beschreibung des Tourismus als »vergebliche Brandung der Ferne«9 oder detailreiche Kultur- und Sozialgeschichten wie Attilo Brillis Geschichte der »Grand Tour« des 17. und 18. Jahrhunderts, als Reisen noch »eine Kunst war«10 und der moderne Tourismus erst begann. An Überlegungen zu einer umfassenderen Einordnung der Geschichte des Tourismus in die Entwicklung der Gesamtkultur herrscht dagegen Mangel.11 Solche Untersuchungen bedürfen der Hinwendung zu Mobilitätspraktiken, die üblicherweise nicht mit dem engeren Fragenkreis des Tourismus verbunden werden. Lang vor den touristischen Formen des Reisens haben sich ja Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen aufgemacht und sehr viel weitere Wege hinter sich gebracht, als man ihnen mit den vergleichsweise primitiven und unsicheren Mitteln des Schiffes und des Wagengespanns – oder schlicht und einfach zu Fuß – zumuten würde. In all diesen Reisen wurden nicht nur Orte gewechselt, sondern Menschen verändert. Die Reisenden haben auf ihren Wegen den Blick auf die Welt, auf

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sich selbst, auf die anderen, ja den Blick der anderen auf sich verändert, und in diesen Blickwechseln einander weit über den Anlass des Reisens hinaus bis in die Gefilde des Alltags, der Politik, der Wissenschaft und Kunst, der Liebe, der Erziehung beeinflusst. Die Wege der Reisenden in die Ferne haben zivilisationsgeschichtlich eine andere Richtung genommen als geographisch: Während die Menschen immer weiter, in immer fremdere Gegenden vorangekommen sind, sind sie, so scheint es, immer mehr bei sich selbst angekommen. Auf den Trampelpfaden des Massentourismus sind sie drauf und dran, die Fremde zu zwingen, zur Kopie ihrer kleinen heimatlichen Welt zu werden. Als sich Cristóbal Colón zu den »Indischen Ländern« einschiffte, wusste er im Unterschied zu Pionieren wie Vasco da Gama oder Magellan, die auf relativ küstennahen Routen oder wenigstens mit bekanntem Ziel gesegelt waren, im Grunde nicht, »ob ihn am Ende des Ozeans nicht doch der Abgrund und damit der Sturz ins Leere erwartete, oder ob er bei dieser Reise nach Westen nicht einen langen Abhang hinunterfahren würde – wir befinden uns ja auf dem Gipfel der Erde –, den man nur schwerlich wieder heraufkommen könnte; kurz, ob die Rückkehr überhaupt noch möglich sein würde«12 . Columbus machte sich auf den Weg in die Radikalität einer Fremde, die für Menschen, denen im Vergleich zu den damaligen Landkarten hochpräzise Globen als Buchstützen dienen, in keiner Weise mehr nachzuvollziehen ist. Am ehesten könnte wohl noch ein Vergleich mit dem ersten Weltraumflug auf die Waghalsigkeit des Abenteuers der Atlantiküberquerung zutreffen. In höchstem Grade befremdlich mutet auch an, was der Entdecker in dieser Fremde sieht: »Der Admiral sagte, er habe am Vortag, als er zum Golfstrom fuhr, drei Sirenen gesehen, die hoch aus dem Meer sprangen, doch sie seien nicht so schön wie sie immer beschrieben wurden, auch wenn sie in gewisser Weise ein menschliches Gesicht hätten«, lautet eine Eintragung im Bordbuch vom 9.1.1493.13 Von »mit Schwänzen versehenen Geschöpfen« berichtet Columbus in einem Brief vom März 1493, von Männern, »die nur einäugig seien«, und solchen, »die eine Hundschnauze hätten«,14 auch von Amazonen und Frauen mit zahlreichen Brüsten ist die Rede. Zweifellos kann der Admiral all das nicht wirklich gesehen haben, aus dem einfachen Grund, dass es all das nicht wirklich gab. Diese sonderbaren Wesen gab es aber woanders: Seit der Antike waren die libri naturales und die Weltkarten voll von solchen Zwitterwesen zwischen Tier und Mensch.15 Der gelernte Seefahrer und wohl beste Navigator seiner Zeit, der

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die Route seiner Schiffe nach dem Stand der Sterne zu bestimmen und »Mondesfinsternisse« vorauszuberechnen weiß16, unterliegt in der Fremde der optischen Täuschung des allzu Einheimischen und »sieht« mit eigenen Augen die Trugbilder, die er im Kopf hat: Bilder, die den Abbildungen seiner Zeit und den Alpträumen seiner blühenden Phantasie entsprechen. Einmal meint Columbus sogar eine Unregelmäßigkeit in der Kugelform der Erde wahrzunehmen, die seiner Vorstellung vom Paradies, von dessen Existenz an irgendeinem Ort der Erde er überzeugt ist, nahekommt: Ich stellte fest, dass die Welt nicht so rund ist, wie sie beschrieben wird, sondern die Form einer Birne hat, die insgesamt ganz rund wäre, außer dort, wo sich der Stiel und damit der höchste Punkt befindet; oder wie ein ganz runder Ball, dem an einer Stelle eine Frauenbrust aufgesetzt wäre, und die Brustwarze wäre dann der höchste und dem Himmel nächste Teil und läge unter dem Äquinoktialkreis in diesem Ozean und im äußersten Osten. Ich glaube, daß sich dort das irdische Paradies befindet, wohin niemand gelangen kann, es sei denn durch Gottes Willen.17

Bartolomé de Las Casas, Begleiter und Biograph des Columbus, bringt in seiner »Historia de las Indias« die bemerkenswerten Sehgewohnheiten des Admirals auf den Begriff: »Es ist erstaunlich, dass dem Menschen, wenn er etwas innig wünscht und einmal fest in seiner Vorstellung verankert hat, unentwegt alles, was er hört und sieht, als Bestätigung erscheint.«18 Der tiefreligiöse Admiral selbst wusste es freilich besser: »Weder Vernunft noch Mathematik noch Weltkarten« hätten ihm bei der Indienreise Nutzen gebracht. »Es ging nur in Erfüllung, was Jesaja vorausgesagt hatte.«19 Columbus erlebte und sah, was in den Schriften stand und seiner Erwartung entsprach, er besaß nicht eine Spur jener ethnologischen Distanz, die die späteren Erforscher fremder Kulturen auszeichnet. Was offenkundig und unleugbar anders war als im heimischen Spanien, bedachte er schulmeisterlich mit dem hispanozentrischen Tadel dessen, der überzeugt war, dass jede Abweichung von der heimatlichen Norm von Übel ist. »Der König und alle seine Volksgenossen liefen vollkommen nackt umher«, trägt er am 16.11.1492 nach einer der ersten Begegnungen mit Indianern in das Bordbuch ein, »einschließlich der Frauen, ohne irgendeine Scham zu zeigen«, und er schließt aus dieser Unschamhaftigkeit, dass sie »Tieren ähneln.«20 Am 12.10.1942 notiert er: »Wenn es dem Allmächtigen gefällt«, »werde ich sechs dieser Männer mit mir nehmen,

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um sie euren Hoheiten vorzuführen und damit sie sprechen lernen«.21 Diese Eintragung ist nicht, wie spätere französische und deutsche Übersetzer meinten, ein Flüchtigkeitsfehler, sodass es eigentlich heißen müsste: »damit sie spanisch sprechen lernen«. Das Gestammel der einheimischen, nackten Menschentiere war für Columbus keine Sprache, sprechen lernen hieß für ihn – Spanisch lernen! Nicht die Andersartigkeit der Fremde und der Fremden zu entdecken ist die Absicht des Admirals, sondern diesen die spanischen Sitten und die christliche Religion aufzuzwingen. Bei den für die Konstituierung der modernen Welt entscheidendsten Reisen wurden keine Blicke gewechselt, sondern den Eroberten die Hinsichten ihrer Entdecker angetan. Christoph Columbus, dessen vier Atlantiküberquerungen wohl die weltgeschichtlich folgenreichsten Reisen aller Zeiten darstellen, steht für den arroganten, herrschaftlichen Typ des Reisenden, der sich die Fremde als Projektion seiner Vorurteile, als Territorium der Kolonisation und als Gegenstand der Ausbeutung unterwirft. Manche seiner Notizen deuten darauf hin, dass er den eigentlichen Zweck seiner Unternehmungen in der Erbeutung von so viel Gold sah, dass die Könige einen Feldzug zur Eroberung Jerusalems hätten finanzieren können. Jedenfalls ließ er sich dies vor der ersten Fahrt zusichern. Da es dazu nicht kam, wurden jedenfalls alle Anstrengungen unternommen, um die Indianer zu frommen Christen zu machen. Bereits bei der zweiten Expedition sind Mönche mit an Bord, die mit ihrer Bekehrung beginnen. Sich der neuen Religion zu widersetzen, bedeutet den Tod: »Kaum hatten sie das Bethaus verlassen, warfen sie die Bilder zu Boden, bedeckten sie mit Erde und schlugen ihr Wasser darüber ab«, berichtet einer der spanischen Biographen Colóns über den Widerstand von Einheimischen gegen die Zwangsmissionierung. »Als Colóns Bruder Bartolomé davon erfährt, beschließt er, sie auf gut christliche Weise zu bestrafen. Als Statthalter des Vicekönigs und Gouverneur der Inseln machte er den Übeltätern den Prozeß und ließ sie, nachdem die Wahrheit erwiesen war, öffentlich verbrennen.« 22 Columbus war nicht, wie eine harmonisierende Schulbuchgeschichte ihn bezeichnet, ein »Entdecker«, sondern, wie die historische Realität zeigt, die er selbst noch in Gang bringt und die seinen Unternehmungen auf dem Fuße folgt, ein Eroberer. »Wenn einmal der Anfang gemacht ist, so werden binnen kurzer Zeit eine Unmenge von Völkern unserm Glauben gewonnen sein, während gleichzeitig Spanien große Gebietsteile und ansehnliche Reichtümer erwerben wird«, resümiert Columbus den christ-

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lichen Kapitalismus23 , oder, an seine Auftraggeber gewandt: »Eure Hoheiten besitzen hier eine andere Welt, wodurch unser heiliger Glaube so große Verbreitung finden kann, und woraus man so viel Gewinn wird ziehen können.«24 »Wir wollen unserem Herrn dafür danken, daß er uns für würdig befunden hat, so viele Reichtümer zu entdecken«: Mit diesen Worten preist der Nachfolger der Kreuzfahrer jedes Mal, »wann immer man ihm Gold oder Dinge von Wert brachte«, kniend in seinem Betzimmer seinen freigiebigen Gott.25 Die Mittel für die Befreiung Jerusalems aus der Gewalt der Barbaren zu beschaffen, ist eine fixe Idee des Admirals und eines der zentralen Motive seiner Unternehmung. »Er hoffe Gold zu finden«, notiert er am 26. Dezember 1492, »und zwar so viel«, dass der König und die Königin noch vor Ablauf von drei Jahren imstande sein würden, zur Eroberung des Heiligen Grabes schreiten zu können. Aus diesem Grunde habe ich Euren Hoheiten gegenüber erklärt, dass der ganze sich aus meinem Unternehmen ergebende Gewinn zur Wiedereroberung Jerusalems verwendet werden müsse. 26

Ihre Hoheiten hätten geruht, Ihre »Befriedigung darüber auszudrücken und zu sagen, dass dieser Plan Ihnen höchst willkommen und ihnen am Herzen gelegen sei, auch ohne den Gewinn, von dem ich sprach«27. Das lässt Columbus auch den Papst wissen: »Dass ich in sieben Jahren fünfzigtausend Mann an Fußvolk und fünftausend Reiter für die Eroberung des Heiligen Grabes unterhalten würde, und in den darauffolgenden fünf Jahren weitere fünfzigtausend Mann Fußvolk und weitere fünftausend Mann Reiter«28, habe er den Königen geschrieben. Letztlich musste er freilich einsehen, dass die Könige seinen Plan nicht ernst nahmen. »Das andere glanzvolle Unternehmen«, schreibt er am 7.7.1503 über Jerusalem, »ruft mit ausgebreiteten Armen; bisher ist es völlig unbeachtet geblieben.«29 Es bleibt ihm nichts als die hilflose Geste einer testamentarischen Verfügung an seinen Sohn, möglichst viel Geld anzusammeln und, wenn schon die Könige den Plan aufgeben würden, sich »allein und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln« aufzumachen. Müßig, zu berichten, dass auch das nicht erfolgt ist. »Colón ahnt nicht, dass die Eroberung sehr bald beginnen soll, doch in einer ganz anderen Richtung, sehr nahe bei den Ländern, die er entdeckt hat, und im übrigen mit sehr viel weniger Kriegsvolk.«30 Als sich herausstellte, dass es von dem versprochenen Gold weniger gab als er seinen Finanziers versprochen hatte, setzte der Admiral auf

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einen anderen Rohstoff: die Menschen, die zu Tausenden als Sklaven nach Spanien gebracht wurden.31 Das Endergebnis ist der »größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit«32 . Die Verluste sind enorm. Ohne ins Detail zu gehen und nur um eine globale Vorstellung zu vermitteln (wenngleich man sich nicht gerade berechtigt fühlt, mit runden Zahlen zu operieren, wenn es dabei um Menschenleben geht), kann man festhalten, dass sich die Erdbevölkerung im Jahre 1500 auf etwa 400 Millionen beläuft, wovon 80 Millionen in Amerika leben. Mitte des 16. Jahrhunderts verbleiben von diesen 80 Millionen noch zehn. Oder wenn man sich auf Mexiko beschränkt: Am Vorabend der Konquista beträgt die Bevölkerung etwa 25 Millionen; im Jahre 1600 ist es noch eine Million. 33

Die westlichen Gesellschaften haben es schwer, sich aus dieser Egozentrik zu lösen. Die mit ihr verbundene Reisehaltung klingt in kulturellen Alltagsverständnissen nach, in denen Touristen als »Herden« oder »Horden« beschrieben werden, die rücksichtslos anderer Menschen Wohnorte »überfallen« und sich dort »breit machen«. Dieser Art Zuschreibung entspricht ein Angebot eroberungsgeeigneter Landstriche an Küsten, Seen, in alpinen Regionen und sogenannten naturbelassenen Erholungsgebieten. Überall dort werden Zonen für das rasche, oberflächliche Eindringen und die vorübergehende Besetzung freigegeben, die durch die Anwesenheit wechselnder touristischer Heere permanent wird. Die Einheimischen schaffen inmitten ihrer Heimaten den Touristen eigene Länder, in denen deren Häuser gebaut, deren Sprache gesprochen, deren Essen gekocht und deren Waren feilgeboten werden. Touristen sind von sich aus Fremde, die Gastfreundschaft suchen. Erst durch die Art und Weise, wie die Gastländer sich ihnen als unbeschränktes Eigentum anbieten und anpassen, werden sie dazu verführt, im Urlaub zu passageren Eroberern und Besatzern zu werden. Wer jemals in einer Tiroler Skihütte – diese Bezeichnung schließt inzwischen gastronomische Großbauten ein, in denen hunderte Gäste nach Liftschluss Platz zum »Fünf-Uhr-Tee«, »Après Ski« oder »Almrausch« finden – versucht hat, sein Bierglas vor einer zu Marschmusik über die Tische trampelnden Schlange von Skiurlaubern zu retten, weiß, was das bedeutet. Wer dieses Vergnügen noch nicht hatte, dem mögen die Hundertschaften gleichförmig dem Almhüttenstil nach gebauten Hotels und Fremdenpensionen im gesamten alpinen Raum Ansichtsmaterial genug sein.

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Touristen werden zu Eroberern, wenn ihre Reiseziele sich ihnen als menschenleere Länder darbieten, die niemandes Heimat mehr sind. Es ist die Durchsetzung der Bilder im Kopf gegen die Bilder der Fremde, die den modernen Urlauber zum unzivilisierten Herdentier macht, und eine bereitwillige Ästhetik der Reklame wie eine ihr entsprechende touristische Realität kommt diesem Terror der Bilder entgegen: »In Bayern geboren, in der Welt zuhause«, hieß jahrelang eine Reklame-Leuchtschrift der »Süddeutschen Zeitung« auf dem Münchner Hauptbahnhof. Lange bevor die Kolonisatoren ihre blutigen Spuren durch fremde Kontinente zogen, durchquerten Ströme von Pilgern Europa von überall her nach Jerusalem, nach Rom, nach Santiago di Compostela. Das Ausmaß dieser Pilgerfahrten kann kaum überschätzt werden. Siebentausend Männer und Frauen sollen im Jahr 1064 an einer einzigen Pilgerreise nach Jerusalem teilgenommen haben, die von deutschen Bischöfen angeführt wurde.34 Der Aufwand, die Kosten und die Anstrengungen solcher Reisen waren beträchtlich. Wer zu Schiff nach Jerusalem wollte, musste zunächst zu Lande quer durch Europa bis Venedig, dort seine Pferde verkaufen oder in Pflege geben und in einer Herberge zuwarten, bis eine ausreichend große Zahl Reisender zusammenkam, der man sich anschließen konnte. Dann schloss er mit einem Schiffseigner einen Vertrag, der die Fahrt, die Verpflegung und allerlei sonstige Dienste umfasste, und bestieg mit bis zu vierhundert Reisenden, einem lebenden Nahrungsvorrat von dutzenden Hammeln, mehreren Ochsen, Kälbern und jeder Menge Geflügel, mit Metzgern, Köchen, Frisören, Schneidern, Ärzten, Geistlichen und ausreichend Bewaffneten eine Galeere, die ihn in sechs Wochen nach Jaffa brachte, von wo es, wiederum zu Lande, nach Jerusalem ging. Wie unsicher der Ausgang solcher Reisen war, zeigt allein die Tatsache, dass die Pilger einen Teil der Reisekosten erst nach sicherer Heimkehr zu entrichten hatten.35 Rom oder das später bedeutendere Santiago de Compostella erreichten die Pilger mit Wagengespannen, sei es privat oder mit der Post, zu Pferd oder – wenn sie nichts von alledem sich leisten konnten – zu Fuß. Dennoch bleiben die großen Wallfahrten bis in das 18. Jahrhundert hinein populär. Allein über Reisen nach Jerusalem gibt es aus der Spätzeit des Pilgertums, zwischen 1648 und 1848, über tausend Berichte und Bücher36 und das Pilgerhospiz »Anima« in Rom beherbergte in einem einzigen Jahr (1675) 10.000 deutsche Pilger.37 Wenn auch nicht alle diese Reisen Pilgerreisen im engsten Sinn gewesen sein mögen, so dienten doch

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viele von ihnen auch diesem Zweck oder hatten Pilgergruppen in der gemischten Reisegesellschaft. Welche Gefahren die Pilger am Ziel ihrer Fahrt erwarteten, davon wussten ihnen erfahrene Leute zu erzählen. Unter Ortskundigen gab es vor allem zur Zeit der Araberherrschaft in Palästina Geschichten genug über die Grausamkeit der unchristlichen Barbaren. Als »geizig und ungerecht«, berichtet ein Jerusalempilger 1766, hätten ihm »die guten Väter« von Ramle, einem Hospiz der Franziskaner unweit von Jaffa, die Statthalter dieses Landes beschrieben, »und die Araber und Bauern als abscheuliche Räuber und Barbaren, die die Pilgrime plünderten und prügelten, wo sie nur solche anträfen. Man erzählte unter andern, dass die Araber einen Franciscaner, der von Ramle nach Jerusalem wollte, in einen Backofen gesteckt hätten. 38

Dass derlei Gerüchten nicht immer Glaube zu schenken war, merkt der Autor freilich auch an: Ich hatte die Araber in anderen Gegenden nicht grausam gefunden und es war mir unbegreiflich, warum die in dieser Gegend so unmenschlich mit den Reisenden verfahren sollten; allein ich hielt es nicht für rathsam, viel zu widersprechen. Auf nähere Erkundung hörte ich auch, daß die erwähnte Geschichte mit dem Franziscaner sich vor etwa 90 Jahren zugetragen habe. 39

Die Anforderungen, die die kirchlichen Vorschriften an die Pilger stellten, wurden im Laufe der Zeit immer höher hinaufgeschraubt. Genügte anfangs noch der Besuch des Petersdomes, um den Jubiläumsablass im Heiligen Jahr zu erlangen, so kamen bald weitere drei römische Kirchen dazu, später nochmals drei und die Kirche vom Heiligen Kreuz zu Jerusalem.40 Was die Menschen vom Mittelalter bis in das 17. Jahrhundert bewegte, diese Strapazen auf sich zu nehmen, ist für moderne Reisende kaum nachzuvollziehen. Die Unmittelbarkeit des Erlebens und die Tiefe der Emotionen, die für die gläubigen Pilger mit der Erreichung der Heiligen Stätten, dem Küssen der Reliquien der Märtyrer und der Erlangung des Ablasses verbunden war, war vor einer Zeit, in der all dies von einer säkularisierten Warte aus relativiert und kritisiert wurde, ungebrochen. Die Mühe steht mit der Attraktivität des Pilgertums in einem Zusammenhang. Das Erreichen der Heiligen Stätten, der Kniefall vor dem Papst, Gottes Stellvertreter auf Erden, die Verzeihung der Sünden und die Verheißung eines glückli-

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chen Jenseits muss nach all den Anstrengungen einen Höhepunkt im stets gefährdeten und nicht selten trostlosen Leben der Damaligen dargestellt haben. Worin aber besteht die Reisehaltung, die über alle religiöse Bedeutung des Pilgertums hinaus bei den Menschen entwickelt wurde? Welches ist – im Unterschied zum vereinnahmenden Blick des Entdeckers/Eroberers – der für den Pilger typische Blick auf sich selbst und auf den anderen? Der Pilger geht – »zieht«, wie es in den alten Berichten heißt – in sich versunken seiner Wege und achtet deshalb der anderen nicht oder nur so weit, als sie der Erreichung seines eigentlichen Zieles dienlich sind, als Reiseorganisatoren und -begleiter, als Inhaber von Gaststätten oder Hospizen. Er beachtet sie nicht wie der Ethnologe als Träger ihrer je eigenen Lebenswelten oder wie der Eroberer im Hinblick auf die von ihnen zu lukrierenden Ressourcen, sondern als im Grunde bedeutungslose Figuren am Rande seiner Wege, durch die er hindurchschreitet wie weiland die Israeliten durch das Rote Meer. Dass der Pilger nicht dazugehört, nicht zum Teil der auf seinen Wegen durchmessenen Lebenswelten wird, ist schon an seinem Äußeren und seinem Verhalten erkennbar. Seit dem 10. Jahrhundert gelten strenge Vorschriften: Ihre Kleidung war beschränkt auf ein einfaches, grobes Gewand, einen breitkrempigen Hut und eine Umhängetasche. Sie waren gehalten zu Fasten, kein Fleisch zu essen und nie mehr als eine Nacht an ein und demselben Ort zu verbringen. Darüber hinaus sollten sie keine Gegenstände aus Eisen benutzen, ihr Haar und ihre Fingernägel wachsen lassen und warme Bäder und weiche Betten meiden. 41

Die für den modernen Urlaubstouristen so charakteristische Missachtung jeglicher nicht seinem Erholungszweck dienlichen physischen und sozialen Umgebung lässt sich als säkulare Entsprechung dieser religiösen Blickverengung des Pilgers deuten. So wie diesem im Verhältnis zum jenseitigen Zweck seiner Reise alles Irdische unbedeutend wird, ist dem Urlauber die irdische Umgebung seines separierten Paradieses gleichgültig.42 Die Fixierung auf das eine Ziel der Reise, die Heilige Stätte, ist für den Pilger charakteristisch. Die Konstituierung von Stätten als »heilig« setzt einen komplexen Prozess der Bedeutungsverlagerung an einen Ort voraus, der für die Heiligen Länder der Pilgerfahrten ebenso zutrifft wie für die Sehenswürdigkeiten des weltlichen Tourismus. »Die Schaffung heiliger Län-

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der unterscheidet sich nur wenig von der Schaffung touristischer Stätten.« Die Verwandlung geht schrittweise vor sich. Als erstes wird die Stätte selbst von all jenen Bezügen befreit, die nicht zum Thema gehören. Dann wird sie »sakralisiert«, d.h. markiert, von der Umgebung getrennt und von ähnlichen Objekten isoliert. Als nächstes werden sie architektonisch »eingerahmt« mit Mauern und Grenzen. Zugangswege werden geschaffen, Gebühren festgesetzt und Wächter aufgestellt. Dann wird die Stätte in Form von Bildern, Modellen, Reliquien, Andenken und Ikonen mechanisch reproduziert, um ihren Ruf weiter zu verbreiten. 43

Zuletzt wird die heilige Stätte besiedelt: Und schließlich folgt die Phase der »sozialen Reproduktion« dieser Stätte, bei der sich – wenn sie erfolgreich verläuft – eine Gemeinschaft um sie herum bildet und sie zu einer autarken ökonomischen Einheit wird. Solange dieser Ort eine heilige Stätte bleibt, wird er immer neue Literatur, Texte, Führer, Zeugnisse, Wunder und Reiseberichte auslösen, auf denen das Publikum die Zeichen der Heiligkeit mit eigenen Augen sehen kann. 44

So gesehen ist »die Errichtung heiliger Stätten wie in der Vergangenheit in Palästina durchaus vergleichbar mit ähnlichen Vorgängen in unserer heutigen Zeit, zum Beispiel der Schaffung von ›Disney-Worlds‹, abgesehen davon, dass den neueren Konstruktionen noch die Weihe des Alters fehlt«45 . Die heiligen Stätten von Jerusalem können auf eine solche Weihe zurückblicken. Bereits im Jahr 326 hatte Helena, Mutter Kaiser Konstantins, Palästina besucht. »Als sie auf den Fußspuren des Heilands in Anbetung verweilt hatte nach dem Wort des Propheten, das da lautet: ›Lasset uns beten an den Stellen, wo sein Fuß gestanden hat‹«, hat sie denen, die ihr in der Anbetung folgen sollten, nicht nur »die Früchte ihrer eigenen Frömmigkeit vermacht«, sondern durch die Errichtung der Grabesbasilika, der Kirchen zu Bethlehem, dem Ort der Geburt, und auf dem Ölberg, dem Ort der Kreuzigung Christi, auch für eine »Verräumlichung des Lebens Christi« gesorgt.46 Wie gründlich die heiligen Orte von Spuren fremder, vor allem religiöser Spuren gereinigt wurden, zeigt sich in der Tatsache, dass Konstantin den über jener Höhle, die letztlich als Grab Christi bezeichnet wurde, stehenden Aphroditetempel nicht nur schleifen, sondern auch »das

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Baumaterial, ja sogar die aufgeschüttete Erde zu einem weit entfernten Ort bringen und dort zerstreuen«47 ließ. Der christliche Kaiser unterschied sich darin in nichts von seinem heidnischen Nachfahren, dem arabischen Kalifen Hakim, der die Grabeskirche 1009 zerstören ließ und ausdrücklich befahl, den Ort dem Erdboden gleichzumachen, damit ihn niemand wiederfinden könne.48 Die Spiritualität der christlichen Religion folgt darin einem sehr alten, in der antiken wie in der germanischen Kultur machtvoll etablierten Muster: der Territorialität. Erst wenn dem Glauben ein Land, dem Jenseits ein Diesseits entspricht, lässt sich den Zweiflern die Hiesigkeit der Transzendenz entgegenhalten: »Solltet ihr Zweifel daran haben, so beweist es eben dieser für alle sichtbare Ort, dass ihr irrt«, predigt der Heilige Kyrill auf Golgatha, und es ist von fundamentaler Bedeutung für die Überzeugungskraft seiner Mission, dass er das »gesegnete Golgatha« den Ort nennen kann, »auf dem wir stehen«.49 Die real existierenden heiligen Orte vermindern die aller religiösen Verkündigung anhaftende Virtualität, sie weisen den Wundern einen Platz und damit einen auch außerreligiösen Wirklichkeitsanspruch zu. Der homo viator, der den heiligen Stätten zustrebende Pilger, kommt freilich nie an, weil sein Ziel letztlich in einer anderen Welt liegt. »Wo immer der Pilger gerade sein mag, es ist nicht da, wo er sein sollte, und nicht dort, wo er zu sein träumt.«50 Der Pilger zieht nicht nur in die Fremde, er ist wie einst Israel auf dem Exodus aus Ägypten, wie Abraham auf dem Weg ins gelobte Land selbst ein peregrinus, ein Fremdling. »Für Pilger in der Zeit liegt die Wahrheit andernorts; der wahre Ort liegt immer ein Stück weit und eine Weile entfernt.«51 Die heikle Dialektik des Pilgertums besteht darin, die radikale Unsicherheit des Auf-dem-Weg-Seins gegen die Garantie der Ankunft an einem gesicherten Ort einzutauschen, sich durch die Pilgerreise ein sicheres Ticket ins Jenseits zu erwerben. Dafür steht das wuchernde Ablasswesen ebenso wie das enorme Ausmaß des Reliquienhandels und -kults. Schon Helena, so die Fama, habe das Kreuz Jesu Christi in Aelia Capitolina, wie Jerusalem zur Zeit ihrer Reise noch hieß, entdeckt, und bereits 347 klagt Kyrill, es gebe so viele Stücke von »echten Kreuz, dass man die ganze Welt damit füllen könne«52 . Damit war der christliche Missionar noch ein Stück respektvoller als der Reformator Martin Luther, der gesagt haben soll, wenn alle Reliquien von der Muttermilch Mariens echt wären, müsse diese eine Kuh gewesen sein. Der Kirche blieb zuletzt nichts anderes übrig, als zu erklären, »dass Reliquien

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sich aufgrund ihrer besonderen heiligen Eigenschaft von selbst vermehren könnten, so wie Christus fünf Fische und zwei Laib Brot vermehrt und damit 5000 Menschen gespeist hatte«53 . Noch heute versuchen sich Touristen mit für das Reiseland typischen Gegenständen auszustatten: einer Uhr aus Luzern, Strickwaren aus Rom, Porzellan aus Heidelberg, Lederwaren aus Florenz, Diamanten aus Amsterdam. Sie versehen sich so mit Zeichen der Wirklichkeit ihres Dort-gewesen-Seins, mit Relikten, Nachweisen ihrer wirklichen Anwesenheit in der Fremde. Auch diese Art modernen Reliquienkultes hat ihre wunderbare Vermehrung gefunden in den unzähligen Souvenirwaren und -geschäften aller Tourismusorte dieser Welt, die stets genaue Nachbildungen des Dortigen zum Mitnehmen in das Hiesige zu sein versprechen, des David aus Florenz, der Madonna von Lourdes, des Pariser Eiffelturms, eines original Beefeaters aus London oder eines Konterfeis des Papstes zu Rom. Über den Mechanismus der Sakralisierung zu »Sehenswürdigkeiten« gelangen so unscheinbare Objekte wie das »Goldene Dachl« zu Innsbruck oder das »Manneken Pis« zu Brüssel weltweit zu überdimensionaler Beachtung. Wenn es gelingt, eine unmittelbare, alles übrige außer Acht lassende Konzentration auf ein Wunschobjekt herzustellen, geht jede Relation zur restlichen Wirklichkeit verloren, und die unscheinbarsten Nichtigkeiten erlangen eine Größe der Bedeutung, die bei nüchterner Betrachtung beinahe lächerlich wirkt. Der moderne Tourismus hat die ganze Welt zur Wunderkammer solcher Merkwürdigkeiten gemacht.54 Nirgends wird das Verlangen nach dem Gleichen, das zugleich dem anderen täuschend ähnlich ist, extensiver befriedigt als in Nordamerika. Umberto Eco hat diese Ersetzung des Fremden durch das Eigene beschrieben, gehe es um William R. Hearsts in die kalifornische Einsamkeit verpflanzte europäische Schlosslandschaft,55 um Leonardos Letztes Abendmahl oder, im Palace of Living Arts in Buena Park, Los Angeles, um Leonardo selbst: »Hier sehen wir Leonardo, wie er eine vor ihm sitzende Dame porträtiert: Es ist die Gioconda, die Mona Lisa höchst persönlich, komplett mit Stuhl und Beinen und Hinterpartie. Leonardo hat neben sich eine Staffelei, und auf dieser Staffelei steht eine zweidimensionale Kopie der Mona Lisa, was will man mehr?«56 Durch die perfekte Kopie soll das Original vollständig ersetzt werden. »Die Philosophie des Palace heißt nicht ›wir geben euch die Reproduktion, damit ihr Lust auf das Original bekommt‹, sondern ›wir geben euch die Reproduktion, damit ihr kein Verlangen nach dem Original habt‹. Damit aber die Reproduktion verlangt wird, muss das Original

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so idolisiert werden, dass es unerreichbar erscheint.«57 Der Zug der Pilger, unterwegs zu den ihren eigenen Bildern entsprechenden Heiligtümern, wird niemals ankommen, weil die Originale, die wirklichen Entsprechungen dieser Bilder, nicht existieren. Die Heiligen Stätten sind verschwunden, untergegangen in der Flut der über sie existierenden Vorstellungen, der an sie gerichteten Wünsche und der von ihnen erwarteten Wunder. Das flüchtige Entzücken bei der Entdeckung der Déjà-vus der verschwundenen Originale ist noch die humanere, friedliche Weise der Bewältigung ihres Verlusts. Es kann jederzeit in die brachiale, kriegerische Eroberung der vermeintlichen Entsprechungen wahnhafter Traumbilder der ersehnten Heiligtümer umkippen. An die 7000 Männer und Frauen waren es, die, angeführt von ihren Bischöfen, zu den größten Pilgerfahrten des 11. Jahrhunderts aus Deutschland nach Jerusalem aufbrachen. So sehr gehörten diese Reisen zu den Erfordernissen eines gottesfürchtigen Lebens, dass sie nachträglich noch in die Lebensgeschichten derer eingefügt wurden, die nie an ihnen teilgenommen hatten, wie in die des großen Karl oder des sagenhaften Königs Artus.58 Solche Massen machten sich zu dieser Zeit in ein Land auf, das seit zwei Jahrhunderten von den Arabern besetzt war, mit einem hohen Risiko also, das für die Pilgerfahrt der Bischöfe auch schlagend wurde: Sie »endete am Karfreitag 1065, zwei Tagesmärsche von Jerusalem entfernt, in einem entsetzlichen Blutbad«59. Ereignisse dieser Art waren Wasser auf die Mühlen jener westlichen Propagandisten, die seit Jahrzehnten die Befreiung Jerusalems aus der Macht der Heiden forderten und die Wiedereroberung des heiligen Landes für den heiligen Gott der Christen. Mit dem von Papst Urban II. beim Konzil von Clermont ausgerufenen ersten Kreuzzug setzt sich das territoriale Moment des Pilgertums gegen das spirituelle durch, der miles Christi gegen den homo viator. Dennoch gleicht die älteste Schilderung dieses Kreuzzuges, die wir haben, verfasst von der byzantinischen Prinzessin Anna Komnena, Tochter des byzantinischen Kaisers, eher der Beschreibung eines gewaltigen Pilgerstroms als eines Heiligen Krieges: Es entstand damals eine Bewegung von Männern und Frauen, wie man sie seit Menschengedenken nicht gesehen hatte: die einfachsten Leute waren von der Sehnsucht erfüllt, am Heiligen Grab zu beten und die Heiligen Stätten zu sehen […]. Alle Straßen wimmelten von Menschen, die von glühender Begeisterung ergriffen waren; in Begleitung der keltischen Soldaten befand sich eine große Men-

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ge Waffenloser, zahlreicher als die Sandkörner und die Sterne, mit Palmzweigen in der Hand und Kreuzen auf der Schulter: Männer, Frauen und Kinder, die ihre Heimat verließen. Bei ihrem Anblick hätte man meinen können, es wären Flüsse, die von überall her zusammen strömten.60

Die Kreuzfahrer hatten keineswegs nur religiöse Motive. Sie dienten auch den Expansionsbestrebungen adeliger Klans angesichts begrenzter Landressourcen im überbevölkerten Europa der Jahrtausendwende. Nichts lässt annehmen, dass diese Expansion sich ohne Lenkung der Kirche, ohne die Verbindung des Glaubens mit dem heiligen Land gerade unmittelbar dorthin gerichtet hätte. Aber nichts macht es auch wahr scheinlich, das ohne den sozialen Druck im Innern des westfränkischen Gebietes, dann auch aller anderen Gebiete der lateinischen Christenheit, Kreuzzüge zustande gekommen wären.61

In bemerkenswerter Offenheit diktiert Graf Stephan von Blois 1098 während der Belagerung von Antiochia einen Brief an seine »liebste und liebenswerteste Gattin, seine Kinder und alle Vasallen seines Geschlechtes«: Durch Gottes Gnade stehen die Dinge zum besten. In diesem Augenblick sind wir mit dem ganzen auserwählten Heer, das Christus mit großer Tapferkeit ausgezeichnet hat, dreiundzwanzig Wochen lang ständig auf das Haus unseres Herrn Jesus Christus zumarschiert. Ihr könnt sicher sein, meine Geliebte, daß ich jetzt zweimal soviel Silber, Gold und andere Reichtümer besitze, als ihr mir übergeben habt.62

In den Kreuzzügen, die auch Eroberungszüge sind, entsteht jene Variante der Pilgerreise, die zum Vorbild der Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der spanischen Konquistadoren werden sollte, und der Kolonisatoren, die ihnen in alle Welt nachfolgten. Dass dies keine bloße Spekulation ist, zeigt sich noch einmal an den Aufzeichnungen jenes Mannes, der den Beginn dieser fatalen Mischung aus Entdeckung und Eroberung einleitet, Christoph Columbus. Und immer noch ist er von der Idee der Wiedergewinnung Jerusalems für die Christen beseelt. Unermüdlich wird er »die Allerdurchlauchtigste Königin Doña Isabella« bitten, »sie möge geloben, alle Reichtümer, die durch seine Entdeckungen den Königen zufielen, dafür aufzuwenden, das Land und das heilige Grab in Jerusalem zurückzugewinnen«.63 Mit der Kolonisation der entdeckten Gebiete ist der peregri-

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nische Anteil an den Kreuzzügen endgültig verschwunden, ersetzt durch das Besitzbestreben kolonialer Herrenrassen gegenüber »primitiven Eingeborenen«. Dieser Besatzungsmentalität voraus aber geht der wirklichkeitsfremde Blick des Pilgers, der die Anwesenheit von seiner geistlichen Intention fremden, weil in ihren eigenen, irdischen Zwecken heimischen Menschen, ignoriert. Das kontaktlose, kommunikationslose, unbeteiligte, das achtlose Durchmessen von Heimaten durch Fremde, das isolierte, egozentrische Verweilen von Fremden in jemandes eigenem Land, konstituiert den Einheimischen als Fremden. Manche für den Massentourismus typische Verhaltensweisen erinnern an diese Tradition. Ein beachtlicher Prozentsatz von »Skiunfällen«, so der zusammenfassende Begriff amtlicher Statistiken, ereignet sich nicht auf der Piste, sondern in den Warteschlangen vor den Liften, zu denen – ausschließlich das Wallfahrtsziel der in den Himmel der Berge führenden Aufstiegshilfe vor den Augen – hunderte Skitouristen drängen, die sich bereits vorher auf den Anfahrtsstraßen ihre motorisierten Gefechte geliefert haben.64 Kolonisatorische Mentalitäten und Handlungsweisen lassen sich im modernen Tourismus beobachten. Es fällt auf, dass Gruppen von Touristen ihre Bewegungszwecke gegen die Bewohner mit einer rücksichtslosen Selbstverständlichkeit durchsetzen. Sie bestehen darauf, dass die Stadt zum Zweck der Besichtigung ihrer »Sehenswürdigkeiten« errichtet wurde, denen gegenüber alles andere Leben der Stadt weder sehens- noch beachtenswert ist. Sie blockieren bedenkenlos die Wege der Bewohner, die an solchen Sehenswürdigkeiten vorbeiführen, ohne Durchlass zu gewähren, und reagieren verwundert bis ärgerlich, wenn diese von einem solchen Gehsteig oder Durchgang nichttouristischen Gebrauch machen wollen. Millionen von Touristen verwandeln Sommer für Sommer Europas Durchfahrtsrouten in laute, schmutzige, träge dahinfließende Verkehrsströme oder brütende Staus und lassen sich weder vom Protest der Anrainer noch von ihren eigenen Erfahrungen mit Hitze, Müdigkeit, Auseinandersetzungen, Unfällen von diesen Strapazen abbringen. Solche für Massentouristen typischen Verhaltensweisen entstammen nicht individuellen Charaktereigenschaften, sondern sie entstehen aus der Art und Weise, wie die westlichen Gesellschaften den »Fremdling« gegenüber dem »Einheimischen« konstituieren: Als prekäre Mischung aus Pilger, Entdecker und Eroberer, als jemand, der sich berechtigt fühlt, die Fremde, die gleichzeitig die Heimat eines anderen ist, seinen begrenzten Zwecken zu unterwerfen, sie vorübergehend zu seiner Heimat zu machen.

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Im 18. Jahrhundert meldet sich eine neue Generation von Entdeckern zu Wort. »Ich glaubte mich in den Garten Eden versetzt«, schreibt LouisAntoine de Bougainville 1767 in das Reisetagebuch seiner Weltumsegelung, als er nach monatelangem vergeblichen Suchen die Insel Tahiti erreicht.65 Wir durchquerten eine weite Rasenebene mit herrlichsten Fruchtbäumen besetzt und von kleinen Flüssen durchschnitten, welche allenthalben eine köstliche Frische verbreiten, ohne die Unannehmlichkeiten, die Feuch tigkeit sonst mit sich bringt. Ein zahlreiches Volk erfreut sich hier der Schätze, die die Natur mit vollen Händen verteilt. Wir fanden Gruppen von Weibern und Männern im Schatten der Fruchtbäume sitzen, welche uns freundschaftlich begrüßten […] Allenthalben herrschte Gastfreiheit, Ruhe, sanfte Freude, und dem Anschein nach waren die Einwohner sehr glücklich.66

Man glaube sich »auf den eleusischen Gefilden«67, in denen, ganz anders als zu Columbus’ Zeiten, Einheimische keine verunstalteten Ungeheuer und nackte Menschen kein Ärgernis sind, sondern Bestätigung paradiesischer Schönheit: Nirgends, so Bougainville, habe er wohlgestaltetere Körper gesehen. Selbst die »Gastfreundschaft«, die »sich hier nicht allein auf die Bewirtung beschränkt; sie boten ihnen auch junge Mädchen an«, wird dem Weltumsegler nicht zum moralischen Skandal, sondern zum Anlass eines ethnologischen Vergleichs: Venus ist hier zugleich die Göttin der Gastfreundschaft, ihr Kult erlaubt keine Geheimnisse und jeder Sinnenrausch ist ein Fest für das ganze Volk. Die Wilden wunderten sich über die Verlegenheit, welche wir bezeugten; unsere Sitten haben eine solche Öffentlichkeit verboten.68

Dennoch ist auch Bougainville kein unbeteiligter empirischer Beobachter, auch er schaut mit dem Blick des Europäers auf die »Wilden« – schon dieser Begriff trägt ganze Welten einer von den ersten Entdeckern bis zur Naturromantik reichenden Eigensicht auf die Fremden mit sich. Was er sieht und erlebt, beschreibt er gern mit Bildern der griechischen Mythologie. So ist ihm eine verführerische Tahitianerin die Liebesgöttin, die sich dem Paris zeigt, während ihn die Männer an Herkules und Mars erinnern – vom Elysium war schon die Rede. Dass es den Tahitianerinnen bzw. ihren Vätern neben aller Gastfreundschaft und paradiesischen Ursprüng-

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lichkeit auch um so begehrte Tauschobjekte wie Eisennägel, Beile, Stoffe usw. ging, bleibt bei einer solchen idealisierenden Betrachtung außer Betracht. Dennoch ist es ein anderer Blick, den der Fremde hier auf die Einheimischen richtet. Wohl vermischen sich auch in seiner Wahrnehmung die Bilder, die er bereits mitbringt, mit denen, die er »sieht«, aber die fremde Wirklichkeit hat in diesem visuellen Diskurs eine Chance, Einfluss auf das Bild von ihr zu nehmen. Sie ist nicht Gegenstand moralischer Zensur, sondern ethnographischer Neugier. Im Unterschied zur »Entdeckung« Amerikas verläuft der Aufenthalt der Europäer in Tahiti im Wesentlichen friedlich. Während zehn Monate vor ihm die Mannschaft des britischen Kapitäns Wallis ein Gemetzel unter den Tahitianern angerichtet hatte, entschloss sich Bougainville zu vorzeitiger Abreise, als es zu ersten Zwischenfällen kam, und begnügte sich, die Insel in einem zeremoniellen Akt zum Eigentum der französischen Krone zu erklären, statt ihr eine fremde Verwaltung aufzuzwingen. Als er sich von diesem »weisen und glücklichen Volk« verabschiedet, wünscht Bougainville den Bewohnern des »wahren Eutopia«, sie mögen nicht zum Objekt der Begehrlichkeit europäischer Kolonisatoren werden: Im übrigen bleibt den Einwohnern nur zu wünschen, die Natur möge ihnen die Gegenstände vorbehalten, die die Begierde der Europäer wecken. Sie brauchen nicht mehr als die Früchte, die die Natur hier im Überfluß hervorbringt, ohne daß es des Ackerbaus bedarf. Alles übrige, das uns anzieht, zöge ihnen nur die Übel des eisernen Zeitalters zu. Adieu, du weises und glückliches Volk; möget ihr immer bleiben was ihr seid. 69

Das ist kein Wunsch eines Eroberers. Nicht die Inbesitznahme, die Zerstörung des Fremden durch das Eigene, ist das Interesse des neuen Reisenden, sondern die Bewunderung, die Erhaltung des Fremden für das eigene Staunen und die Verwunderung der Zuhausegebliebenen: »Gesetzgeber und Philosophen, kommt her und seht hier die Verwirklichung dessen, was selbst eure Phantasie sich nicht hätte erträumen lassen«, kommt Bougainville auf der Rückreise ins Schwärmen. »Ein zahlreiches Volk, das aus schönen Männern und hübschen Frauen besteht, das in Überfluß und Gesundheit lebt, bei dem sich alle Zeichen größter Eintracht finden lassen.«70 Es folgen ganze Kaskaden lobender Beschreibung der »glücklichsten Gesellschaft auf diesem Erdball«. In dem Bemühen, »das angemessen wiederzugeben, was wir gesehen haben«, sieht Bougainville die

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eigentliche, wenn auch nur höchst unvollkommen zu leistende Aufgabe der Reisenden. Diese zumindest in der Intention bestehende Genauigkeit des Hinsehens entspricht nicht dem entrückten Blick des Pilgers, für den jeder Ort nur Durchgangsort ist, keiner auf ihn selbst bedachten Erwähnung wert. Dem neuen Reisenden wird die Fremde zur Heiligen Stätte, zu jenem Ort, wo die Wunder der Andersartigkeit sich ereignen, deren Kunde er verbreiten will. Die Probe besteht die neue Blickweise darin, dass sie trotz allem Enthusiasmus imstande ist, sich selbst in Frage zu stellen. Auf der Rückreise hatte sich – auch hier: welch ein Unterschied zu den Sklaventransporten der spanischen Konquistadoren – den Europäern aus freien Stücken ein tahitianischer Jugendlicher namens Aotourou angeschlossen, der Bougainville von einem anderen Tahiti erzählte: einem Land, in dem es grausam geführte Kriege gab, Streit um Eigentum, sexuelle Unfreiheit, Frauenunterdrückung, Sklaverei, Menschenopfer. Enttäuschung genug für den idealisierenden Europäer, der gemeint hatte: Der Charakter der Nation schien uns sanft und guttätig zu sein. Es schien auf der Insel nirgends innere Kriege zu geben, keinen besondern Hass […] Es hatte den Anschein, als ob die zum Leben unentbehrlichen Dinge allen gehören und keiner etwas sein eigen nennt.71

Bougainville reagiert auf diese Desillusionierung nicht mit dem Starrsinn des Columbus, der auf der Unantastbarkeit seiner Sicht besteht – in einem Fall ging er so weit, Zuwiderredenden Mitreisenden bei Androhung des Zungenabschneidens das Wort zu verbieten –, sondern mit Kritik an sich selbst als einem von denen, die »die Natur gebieterisch ihren Imaginationen unterwerfen«72 . Bougainville gesteht der Fremde zwei Wirklichkeiten zu. Die Außensicht des Fremden und die Innensicht des Bewohners behalten ihre Relevanz, auch wenn sie unvereinbar sind. Damit eröffnet der reisende Romantiker eine neue, bis dahin ungeübte Sphäre der Toleranz des Eigenen gegenüber dem Fremden und umgekehrt: Weder werden Projektionen aus dem Eigenen auf das Fremde diesem als Wirklichkeit vorgeschrieben, noch wird die Wirklichkeit des Fremden den Wunschträumen der neuen irdischen Pilger zur Pflicht gemacht. Vielmehr realisiert der neue Reisende, dass beide, der Einheimische und der Fremde, einen subjektiven Blick auf die Wirklichkeit haben, und dass der Blickwechsel die Faszination und die Humanität des Reisens ausmacht. Bougainville ist

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nicht willens, seine Faszination einer ihr widersprechenden Offenkundigkeit zu opfern, er bleibt bei seinen tiefen Eindrücken: »Die Luft, die man atmet, das Singen, das Tanzen, und die dabei üblichen wollüstigen Gebärden – all das erinnert an die Süße der Liebe und ruft zur Hingabe.«73 Auf der anderen Seite erkennt er: Das »wahre Eutopia« gibt es nicht. Bougainville verweigert sich dem Zwang zur Entscheidung zwischen einer der Sichtweisen: »Wir sehen das Land als einen Freund an, den man mit all seinen Fehlern liebt.«74 Der vormoderne Reisende sucht im Unterschied zum feudalen Eroberer und zum modernen Touristen die Balance zu halten zwischen den eigenen Wünschen und der Wirklichkeit der Fremde. Er durchschreitet das Land nicht mit geschlossenen Augen noch besetzt er bloß Enklaven, die den Ansichten von Reiseprospekten entsprechen, sondern er »sieht das Land«, er sortiert die Anblicke nicht nach seinen Wünschen, sondern liebt das Land »mit all seinen Fehlern«. Der moderne Urlauber dagegen kippt seine Vorverständnisse über alle Orte der Fremde, in denen er sich befindet, und macht sie undurchsichtig für ihr Eigenes. Die Ambivalenz zwischen der Faszination und der Banalität der Fremde haben schon die zeitgenössischen Leser Bougainvilles, darunter so prominente wie der Enzyklopädist Diderot, nicht durchgehalten. Diderot reichte zu den »Voyage autour du monde« ein »Supplement« angeblich nicht veröffentlichter Aufzeichnungen nach. In dieser Schrift fehlen die negativen Seiten Tahitis völlig, sie werden durch eine dem Schutz der guten Wilden vor den bösen Invasoren gewidmete Argumentation ersetzt: »Weint ihr Tahitianer, weint ruhig«, lässt Diderot einen Greis zur Verabschiedung der Fremden sagen, aber weint über die Ankunft und nicht den Abschied der bösen und ehrgeizigen Menschen. Eines Tages werden sie wiederkehren, in der einen Hand das Holzstück, das ihr am Gürtel dieses Mannes dort befestigt seht, und in der anderen Hand das Eisen, das an der Hüfte des anderen dort hängt, um euch in Ketten zulegen, euch abzuschlachten oder euch ihren Ausschweifungen und Lastern zu unterwerfen. Eines Tages werdet ihr ihm dienen, ebenso verdorben, niedrig und unglücklich wie sie.75

Diderots Supplement »enthält den vielleicht schärfsten Angriff, der von einem Vertreter der europäischen Aufklärung gegen den europäischen

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Kolonialismus vorgetragen worden war«76 . »Du bist weder Gott noch Dämon«, spricht, Bougainville zugewandt, der Greis: Wer gibt dir also das Recht, andere zu Sklaven zu machen? Wenn eines Tages ein Tahitianer an eurer Küste landete und in einen eurer Felsen oder die Rinde eines eurer Bäume ritzte: Dieses Land gehört den Bewohnern von Tahiti – was würdest du davon halten? 77

Dass die Erregung Diderots weniger einer konkreten Empathie mit den kolonisierten Wilden entsprang, sondern einen Beitrag zu einer abstraktphilosophischen Debatte darstellte, zeigt der zweite Text des Supplements, angeblich die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen einem Tahitianer und dem Schiffskaplan. Dabei wird Tahiti »nur noch zum Anlass einer allgemeinen Reflexion über den Widerspruch zwischen der Natur des Menschen und der Natur der Gesellschaft«78. Die wahre Erfahrung der Fremde wird zugunsten einer bloß zeit- und kurzweiligen Ablenkung von der Nähe aufgegeben: »Man ziehe den Rock des Landes an, das man besucht, und bewahre den Rock des Landes auf, aus dem man kommt.«79 Nichts wird erobert, aber auch nichts entdeckt, kein Heiligtum wird erreicht. Die Reise erscheint durch den Tourismus, das kurze Verweilen an der Oberfläche, den »Rock« der Fremde ersetzt, den man jederzeit wieder wechseln kann. Immerhin aber ist der aufgeklärte Tourist ein freundlicher Besucher, der weder der Fremde die Sitten der Heimat, noch dieser die Gebräuche der Fremde anziehen will. Gegenüber den mordenden und plündernden Heeren der Kreuzfahrer und der Konquistatoren ein gewaltiger Fortschritt, wenn auch erst ein kleiner offener Spalt in den inbrünstig geschlossen Augen der Pilger. Auch Bougainville hatte bei den Ausschweifungen seines Blickes in die Ferne der Südsee einen heimatlichen Ort im Auge. »Aus diesem Mann werde ich nicht klug«, schreibt Diderot im Supplement, »Bougainville hat eine gewisse Vorliebe für gesellschaftliche Zerstreuungen, er liebt die Frauen, das Theater, delikate Mahlzeiten; er überlässt sich dem Strudel der Welt ebenso bereitwillig wie der Unbeständigkeit des Elements, auf dem er sich hat hin- und herwerfen lassen.«80 Ein Galant-Homme also, aber einer der besonderen Art: Bougainville hatte sich aufgemacht, um eines der großen Rätsel der Geographen seiner Zeit zu lösen: Er wollte den »Südkontinent«, jenen allseits vermuteten aber nie gefundenen Erdteil im Pazifik, entdecken. Tahiti war gar nicht das Ziel seiner Reise, nur deren Endpunkt.

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Über sich selbst schreibt er: »Ich bin Reisender und Seemann, das heißt Lügner und Dummkopf in den Augen jener Klasse bequemer und anmaßender Schriftsteller, die im Schatten ihres Arbeitszimmers über die Welt und über ihre Bewohner philosophieren.«81 Er mokiert sich damit wohl über Kritiker wie Diderot, denen er in der Tat voraus hatte, dass er wirklich in Tahiti gewesen war. Authentizität war aber gewiss nicht sein einziges Motiv. Er gehörte dem Hofadel an, einer im ausklingenden Absolutismus bereits entmachteten und weithin auch nichtsnutzigen Minderheit, die durch allerlei künstliche Attraktionen und Spielereien der Langeweile zu entkommen versuchte. Es war die scheinbar freizügige, in Wirklichkeit aber streng regulierte Scheinwelt der geplanten Schäferspiele und frivolen ländlichen Feste, die Bougainville in seiner Jugend kennengelernt hatte, und es war dies auch die Welt, die er, all ihrer Künstlichkeit, ihrer Maskeraden und ihrer äußeren Zwänge entkleidet, auf Tahiti, dem Land der freien Liebe als natürliche und ursprüngliche wiedergefunden zu haben glaubte. 82

Doch ein Lügner also, wenngleich einer der sich selbst belügt. Keinesfalls aber ein Dummkopf. Einer der vielen, die bis heute das eigene Land verlassen, nicht um es gegen ein anderes zu tauschen, sondern um es anderswo geläutert und gebessert wiederzufinden. Diese »gewollte Selbsttäuschung«83 bringt notwendigerweise mit sich, dass der Reisende nicht bleiben kann. Er beeilt sich, die Wunder der Fremde wie Bougainville aufzuschreiben, wie Gaugin zu malen, wie die Ethnologen zu photographieren, zu filmen, um den Daheimgebliebenen die Kunde von ihnen zu bringen. Der eigentliche Zweck der Reise besteht nicht in der Ankunft, sondern in der Rückkehr, ihr eigentliches Erlebnis ist nicht der Genuss des Aufenthaltes, sondern die Lust am Staunen der nicht Dortgewesenen. Der Reisende darf der Verführung der Fremde nicht erliegen, selbst wenn sie in Gestalt einer hüllenlosen Tahitianerin den Liebreiz der Göttin Venus besitzt: Sie ließ ungeniert ihre Bekleidung fallen und stand vor aller Augen da wie Venus, als sie sich dem phrygischen Hirten zu erkennen gab […]. Durch unsere Sorgfalt gelang es, die Mannschaft zurückzuhalten, wobei es nicht weniger schwerfiel, sich selbst zu beherrschen. 84

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Bougainvilles Tahitianer sind keine unmenschlichen Ungeheuer wie Columbus’ Indianer. Sie gleichen den Menschen, aber sie sind deren schönere, glücklichere, vollkommenere Variation. Um Verwunderung auszulösen, darf das Fremde nicht gänzlich anders sein, sondern muss ein anderes des Gewohnten bleiben, eine Alternative, die das Maß der Verschiedenheit am Üblichen nimmt. Man könnte diese Art der Übertragung – der psychoanalytische Begriff ist hier durchaus angebracht – heimatlicher Enttäuschungen in die Täuschungen der Fremde als »psychische Kolonisierung« bezeichnen, in der kulturelle Identitätskrisen durch die projektive Vereinnahmung fremder Welten ihre Heilung suchen. Dieses psychohygienische Interesse scheint es zu sein, das die romantischen Reisenden des 18. Jahrhunderts zu fremden Kontinenten aufbrechen lässt, und das den Habitus des modernen Reisenden nachhaltig bestimmt hat. Im Kern gilt die Sehnsucht des romantischen Mannes stets einer Frau. Wie aber, wenn die begehrten Ziele reisender Männer selbst zu reisen beginnen? »Wir Weiber sind bestimmt, auf der Stelle zu bleiben«, beklagt sich die Frau des französischen Ornithologen La Vaillant 1790 gegenüber einem Besucher, »aber ihr Männer seid allzumal Kalmücken, die von einem Ort zum andern wandern, um Gott weiß was zu suchen, ohne sich um unsere Unruhe zu kümmern«.85 Das Bild der Frau als ruhender Pol gegenüber dem reisenden Mann ist ein verbreitetes literarisches Motiv. »Bei ihren Reisen bewegen sich die männlichen Helden in der Regel über ein offenes, weites Terrain auf einen stets flüchtigen Horizont zu, der in der einen Richtung ›Heimat‹ und in der anderen ›Fremde‹ heißt. Weibliche Figuren dagegen sind an diesen beiden Polen der Reise angesiedelt und dadurch gekennzeichnet, dass sie im wesentlichen nicht reisen.« Dieser »Blick auf die erstarrte Unruhe des Weiblichen in der Nähe und in der Ferne bestimmt die Perspektive des männlichen Reisenden.« Bilder von Frauen »fungieren als Verlockung und Motiv der Reise, sie provozieren aus verheißungsvoller Ferne männliche Verausgabung und Eroberung«.86 Nicht wenige der Schiffe, auf denen Männer sich aufmachten, fremde Erdteile zu entdecken, trugen verführerische weibliche Gallionsfiguren am Bug. Dagegen erwartete man vom realen »Frauenzimmer« und von der wirklichen »Hausfrau« – schon die Bezeichnungen betonen die Sesshaftigkeit der Betroffenen – ein begrenztes Leben, »keine Neuentdeckungen und keine Erweiterung des eigenen Horizonts nach außen hin«87. Wie in so vielen anderen Bereichen auch bedient sich die männliche Psyche bei

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der weiblichen, baut großspurige männliche Identität sich auf dadurch eingeengter weiblicher auf. Die Ausbeutung des Weiblichen durch das Männliche geht so weit, dass einer gegen sie gerichteten weiblichen Praxis nicht nur die öffentliche Zustimmung verweigert wird – »Weiber taugen wohl zu nichts weniger als zu Entdeckungsreisen«, heißt es 1785 in einem Jugendbuch88 –, sondern sogar die öffentliche Zurkenntnisnahme. Historische Klischees, wie etwa die Vorstellung, »die Herrn seinen allein mit ihrem Gefolge zum Kreuzzug aufgebrochen und hätten ihre Damen, mit dem Keuschheitsgürtel versehen, in ihrer Burg zurückgelassen«89, halten sich hartnäckig. Nichts entspricht weniger den Tatsachen als das: In den meisten Fällen begleiteten die Frauen ihre Männer. Das scheint manchen Historikern so wenig ins Konzept zu passen, dass sie mitfahrenden Frauen unlautere Motive unterstellen: Maragrete von der Provence sei im 13. Jahrhundert nur deshalb mit ihrem Mann gegen Jerusalem gezogen, weil sie ihrer bösen Schweigermutter Bianca entkommen wollte. Was aber wäre dann mit all den anderen Frauen, die desgleichen taten? Lauter böse Schwiegermütter? – »In Wirklichkeit war es ganz selbstverständlich, dass sich Ehepaare gemeinsam auf den Weg machten.«90 Es musste, im Gegenteil, gute Gründe geben, wenn sie das nicht taten: die Verteidigung und Verwaltung der großen Güter in der Heimat, gesundheitliche Gründe. Schwangerschaft etwa schien nicht zu diesen Gründen zu zählen. Einige der Frauen brachen schwanger auf und kamen unterwegs nieder. Frauen sind, entgegen aller Geschichtsklitterung, schon immer gereist: Freydis, eine Wikingerin, die der Sage nach schon im 10. oder 11. Jahrhundert per Schiff Amerika erreichte, die zahllosen Pilgerinnen, von denen nur die wenigsten, wie die Engländerinnen Margery Kempe und Lady Margaret Florentin oder die Schwedin Brigitta, Fürstin von Nericke, schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben. Später, im 17. Jahrhundert, waren es naturwissenschaftlich gebildete Frauen wie die deutsche Maria Sybille Merian oder die schwedische Königin Christine, die sogar auf den Thron verzichtete, um reisen zu können. Dennoch: »Der Topos, dass Frauen zu den Nichtreisenden gehören, zählt zu den Begleiterscheinungen des Reisethemas bis heute.«91 Was allerdings nicht heißt, dass das Reisen der Frauen immer gern gesehen wurde. »Reisen einer exzentrischen Lady«, so nennt Margery Kempe vorsorglich ihren Reisebericht, und entspricht damit einer seit langem gängigen Abwehrform, durch die reisende Frauen »in typisch weibliche

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Rollen gedrängt« werden, à la »reisende Mütter, reisende Ehefrauen, Heilige, Närrinnen oder: sie wurden als Prostituierte angesehen«.92 Der Bogen reicht von den »fahrenden Weibern« zur Zeit des römischen Reiches, die Theodor Hampe zufolge »von der Unzucht lebend, zumeist in buntem, die Sinne anreizendem Aufzuge das Land«93 durchstreifen, »über die »Landsknechtshür«, die Vagantinnen und Prostituierten des späten Mittelalters, »über die breit gereiste Tyrolerin«94 des 18. bis in das 20. Jahrhundert, in dem die moderne Vagantin zur »Tippelschickse«95 wird. Eine andere Strategie bestand darin, reisende Frauen zu vermännlichen. Sie wird nicht nur bis heute von männlichen Autoren betrieben,96 sie dient auch reisenden Frauen als Möglichkeit, mit der gefährlichen Mischung aus Neglegierung und Diffamierung zurechtzukommen. Frauen wie die Spanierin Doña Catalina de Erauso, die amerikanischen Piratinnen Anne Boni und Mary Reed oder Autorinnen wie Sidonia Hedwig Zäunemann, George Sand, Louise Ason oder Mathilde Franziska Annecke trugen »Männerkleider und männlichen Habitus nicht nur aus pragmatischen Gründen oder als Provokation zur Schau, ihre Texte belegen auch, dass sie sich auf Reisen in das Gewand kleideten, in dem Grenzüberschreitung, Freiheit und Horizonterweiterung bislang dahergekommen waren«97. Jeanne Barré, die einzige und nach Bougainville erste Frau, die die Weltumsegelung mitmachte, war eine blinde Passagierin. Aus »Neugier und persönlicher Not« habe sie sich in Männerkleidern auf das Schiff begeben. Ansonsten aber hat sie sich zu Bougainvilles Zufriedenheit höchst weiblich verhalten: arbeitsam, ehrbar und – weinerlich: »Unter Tränen« habe sie nach ihrer Entdeckung gestanden, »ein Mädchen zu sein.«98 Ob sie tatsächlich die erste weltreisende Frau war, löste eine längere internationale Diskussion aus, ein Hinweis darauf, wie ungewöhnlich und exotisch diese Vorstellung noch war und, indem die reisende Frau noch in Männergestalt als Epoche machende Ausnahmeerscheinung propagiert wird, zugleich ein Versuch, die Destabilisierung eines männlichen Frauenbildes zu verhindern. Seit dem 17. Jahrhundert erfreuten sich Bildungsreisen einer wachsenden Popularität, die in der Institution der »Grand Tour« ihren Höhepunkt fand, die bis ins 19. Jahrhundert tausende bildungs- und erlebnishungrige junge Menschen quer durch Europa, vor allem in das klassische Italien, führen sollte.

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Der Reisende, der in diesem langen Zeitraum über die Straßen Europas fährt, ist ein weltlicher Pilger, der den Wegen nachgeht, die das Wissen der Menschheit seit der Antike genommen hat. Sie gelten ihm als Wege der Erkenntnis, ob es sich nun um einen jungen Mann handelt, der soeben seine Studien beendet hat, um einen Lehrling im diplomatischen Dienst, um einen Naturphilosophen oder um einen Kunstsammler. 99

»Eine besondere Rolle ist den weiblichen Reisenden vorbehalten, die mit dem 18. Jahrhundert zu Hauptfiguren dieser kulturellen Gepflogenheit werden und höchstes literarisches Ansehen genießen.«100 Mit dem Wandel der ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse von den feudal-bürgerlichen101 zu den modernen Gesellschaften werden die Männern vorbehaltenen Mobilitätsrechte zu Mobilitätsverpflichtungen beider Geschlechter. Wichtigster Katalysator der geschlechtsspezifischen Demokratisierung des Reisens: der »Rollwagen«, der über ein dichter werdendes Netz einheitlicher Schienenstränge, »in einem gut verschlossenen Käfig«, wie Rousseau meinte, auch den weiteren Transport von Frauen in der für sie erforderlichen »Trägheit und Geruhsamkeit« möglich machte.102 Durch den Wandel der Transportmittel vom Pferderücken zur Kutsche und von dieser zum Rollwagen wurde dem Reisen von Frauen die erste materielle Basis, das Vehikel der weiblichen Erfahrung geschaffen. Mit der Kutsche bahnte sich das Interieur seinen Weg in die Öffentlichkeit, das Haus, die Bühne der Frau, wurde transportabel, und bürgerliche Häuslichkeit, vom Sticken über die Kindererziehung bis hin zur geselligen Konversation, war nun auch unterwegs möglich.103

Mit der zunehmenden Verbreitung dieser rollenden Gehäuse veröffentlichte sich das Bild reisender Frauenzimmer und verschaffte diesem Paradox sein gesellschaftliches Ansehen. Die Diskussion über die Reisefähigkeit von Frauen und die zunehmende Publikation von Texten reisender Autorinnen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt erkennen, dass ihre Perspektive in dem Moment eine allgemeine Bedeutung erlangt, als sich die Relationen von Statik und Dynamik verkehren und die Sesshaftigkeit des modernen Reisens mehr und mehr die Situation aller Reisenden bestimmt.104

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Während ein reisendes »Kammerfräulein« wie Sophie Becker, die sich selbst »zu den Ausnahmen ihres Geschlechts zählte«, dieses Paradox noch dadurch auflöst, dass sie sich auf die eine, die weibliche Seite des Widerspruches schlägt, indem sie sich »nicht auf die Beschreibung der Stadt und ihrer Merkwürdigkeiten« einlässt, sondern ihre »vorzüglichste Aufmerksamkeit […] auf das Innere der Haushaltungen« richtet,105 erfahren sich »Reisende, Männer wie Frauen«, in der »bewegungslosen Enge des Fahrzeuges mehr und mehr als Zuschauer, die sowohl die Ereignisse im Innern – das Kommen und gehen neuer Fahrgäste – wie auch den Wechsel der äußeren Schauplätze erleben«.106 Sie erfahren »die Straße und das, was darauf wandert und was an ihr wohnt« – wie Therese Huber schreibt – als »Theater«.107 Mit der Normalisierung des Reisens in fremde, verführerische Welten zum Allerweltsereignis hat sich der abwesende Blick des Pilgers von der Transzendenz heiliger Stätten der Immanenz der Wohnzimmer zugewandt, auf denen er seinen Zielen zurollt, zufliegt. Internationale Hotelketten, sprachgewandte Bedienungen, angepasste Speisekarten garantieren, dass die Interieurs der Reisenden einander immer ähnlicher werden und sich immer weniger von den heimischen Räumen unterscheiden. Der moderne Tourismus, hat – durch die immer schnellere Bewegung der Transportmittel – die Ferne und – durch die immer perfektere Herstellung künstlich angepasster Räume und Menschen – die Fremde abgeschafft. Dass die westlichen Touristen diese Ambivalenz in ihren Heimaten nicht in ausreichender Zahl aufzubringen vermögen und deshalb die Tourismusindustrie eines der größten Reservoirs für »Gast«-Arbeiter ist, ist nur eines der Symptome, die drastisch auf die Verhäuslichung des Reisens hinweisen: »Fremde«, die nicht mehr fremd sind, verrichten als »Gäste«, die nicht willkommen sind, jene Arbeiten, die den Reisenden aller Länder die Illusion ermöglichen sollen, in der Fremde daheim zu sein. Als Adele von Flandern im 11. Jahrhundert eine lange Pilgerfahrt nach Rom unternahm, verbrachte sie die gesamte Reise in einer Sänfte, deren Vorhänge ständig geschlossen waren.108 Die zivilisatorischen Vorhänge der Sänften, der Kutschen und Eisenbahnwaggons wurden erst geöffnet, als die Blicke aller, der Männer wie der Frauen, der Einheimischen wie der Fremden, sich den Innenwelten zugewandt hatten und jeder Reisende zugleich ein Verweilender, jeder Fremde zugleich ein Hiesiger, jedes andere ein Mehr desselben geworden war. Der moderne Konsumtourismus beruht auf dieser Koinzidenz zwischen Heimat und Fremde. Er setzt

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immer mehr Menschen unter der Garantie in Bewegung, dass der einzige Unterschied zu ihrem Herkunftsort in der Permanenz von Sonnenschein und Frohsinn bestehen wird, und ist somit Teil der kulturellen Depression, die durch den generellen Täuschungscharakter des Konsumismus bewirkt wird: die Erfüllung von Wünschen zum Zweck der Steigerung ihrer Unerfülltheit. Sesshafte Reisende und einheimische Fremde begegnen einander nicht und wechseln deshalb auch keine Blicke. Für eine fremdenfreundliche Reisekultur dagegen müssten zukünftige Touristen an die humanen Potenzen anknüpfen, die die Reisen europäischer Pilger, Entdecker, Romantiker und Frauen vor ihrer jeweiligen Perversion zu Kreuzfahrern, Eroberern, Kolonisatoren in sich bergen. Erst wenn die modernen Touristen das andere des Fremden wieder faszinierend finden, statt es dem gewohnten Eigenen zu unterwerfen, wird ihr Reisen wieder ein Ziel und ihr Ankommen wieder einen Ort haben. In einer Epoche der Bevorzugung des Eigenen vor dem Fremden liegt dieser Ort ausschließlich in der Intimität der Reisenden und im Nirgendwo eines imaginären Außen.

3 D AS A UTOMOBIL Das Automobil ist kein bloßes Gebrauchsgut, sondern es verspricht die Erfüllung unbewusster Wünsche seiner Konsumenten-/innen und verrät deshalb viel über den Wunschhaushalt dieser Menschen insgesamt, es erlaubt einen »Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche«109 . Alltäglich und selbstverständlich gewordene Einstellungen und Umgangsweisen mit dem Automobil – und in abgewandellter Form mit Motorfahrzeugen und motorisiertem Verkehr überhaupt – werden als subtile Momente der Genese moderner Identitäten erkennbar. Was zunächst auffällt, sind eben diese Selbstverständlichkeiten: Das Prinzip der möglichst geradlinigen, schnellen Bewegung; der Kontrast zwischen dem gemütlichen, wohnlichen Innenraum und der aggressiven Panzerung der äußeren Schale (»Stoßstange«); die Ästhetik der »Karosserie«110, deren Zweck neben vielen anderen im Verschwindenlassen des explosiven, öligen und schmutzigen Motorgeschehens besteht; die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Großteil der Autofahrer-/innen in den beispiellosen Zwang der Verkehrsregeln einfügt; die Verlockung zur individuellen Außerkraftsetzung dieser Regeln auf der anderen Seite; die erschreckend hohen Zahlen von Verkehrstoten und Verletzten, die in unse-

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rer lebensbesessenen Gesellschaft nicht wirklich als Problem empfunden werden. Erst in einer innehaltenden Reflexion kann man sich darauf aufmerksam machen, wie eigenartig und befremdlich manche dieser Selbstverständlichkeiten in Wahrheit sind: Das Prinzip der möglichst geradlinigen Bewegung, auf die die Technologie des Autos ausgerichtet ist, hat eine neue kulturelle Bedeutung von »Straße« hervorgebracht, die einen großen Verlust von Beweglichkeit und Kommunikation mit sich brachte: Die Straßen der vormotorisierten Epoche waren Verbindungswege zwischen Feldern, Häusern, Dörfern und Städten, die der Herbeiführung von Gesprächen, Geschäften, dem Austausch von Gütern, dem Transport von Habseligkeiten usw. dienten. Sie verliefen entlang der Grundgrenzen, umgingen Berge und tiefe Täler, so gut es ging, nutzten die Untiefen von Flüssen (»Furten«), kurz: Sie passten sich den Gegebenheiten der Landschaft und den Lebensgewohnheiten der Menschen an. Die Straßen der Vergangenheit waren keinesfalls bloß Verkehrs- und Transportwege, sondern Orte der Begegnung, der Beobachtung, der Meditation, des Verweilens, der Feste und Spiele. Noch die Dorfstraße, die in meiner Kindheit an meinem Elternhaus vorbeiführte, konnte im Sommer zum Ballspielen und im Winter zum Eisstockschießen benutzt werden. Die Wochenendsperre einer Autobahn in Florida zeigte, wie rasch diese Funktion der Straße wiederhergestellt werden kann, wenn sie automobilfrei gemacht wird: Zahlreiche Menschen nutzten die freie Fläche zum Campieren, Tennisspielen, Rollschuhlaufen usw. Die Reiseanleitung des Hermann Künig von Vach aus dem Jahr 1495 trägt den Titel »Die walfahrt und Straß zu sankt Jakob«111 und kann einem die ursprüngliche Bedeutung von »Straße« nicht bloß als Medium des raschen Fortkommens, sondern als Verbindung zwischen Möglichkeiten des Verbleibens, der Rast und Erholung, als Medium von Lebensmöglichkeiten anschaulich vor Augen führen. »Wege und Stege« will Hermann Künig darin beschreiben, »und wie sich jeder Jakobsbruder mit Trinken und Essen versorgen soll« und »wovor jeder Bruder sich in Acht nehmen soll und daß er sich vor Gott und den Leuten brav halten und Gott und Sankt Jakob mit Eifer dienen soll«. Die irdische Straße, recht benützt, ist stets ein Teil des Weges zum letzten himmlischen Ziel: »Das werden Gott und Sankt Jakob ihm vergelten: So wird er von Gott großen Lohn erhalten und nach diesem Leben die himmlische Krone.«112

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Ein kurzer Auszug der letzten Wegstrecke von »Storgeß« (Astorga) bis »Compostell« (Santiago die Compostella) lässt die vielfältigen lokalen Eigentümlichkeiten, die der Wanderer zu beachten hatte, erahnen, ebenso die Notwenigkeit von Kommunikation und Kontakt für ein gedeihliches Weiterkommen: Zuerst sollst du nach dem Weg nach Sancte Maurin [Santa Marina] fragen, und lasse Storgeß drei Meilen auf der linken Seite liegen, dann findest du ein Dorf nach dem anderen, und du bist unter guten Menschen und kommst sicher voran, und man gibt dir Wein und Brot in der Umgebung von Bonforat. In der Stadt liegt eine stattliche Burg. Danach hast du drei Meilen bis Kacafeloß [Cacabelos], dann hast du fünf Meilen bis Willefrancken [Villafranca del Bierzo]; dort trinke den Wein mit Verstand, weil er manchem sein Herz ausbrennt, dass er erlischt wie eine Kerze. Dann empfehle ich, bei dem Bad über eine Brücke zu gehen, so hast du neun Meilen bis zur zerstörten Stadt. Dort findest du ein Spital, das nichts wert ist.113 Nach neun Meilen kommst du dann zu Sankt Jakob, wenn es dir vergönnt ist, in der Stadt Compostell, die seinen Namen hat. Dann freuen sich viele brave Reisegefährten, dass sie wohlbehalten diesen Anblick erleben können, wozu sie auf einem Berg stehen müssen neben einem Kreuz, bei dem ein großer Haufen Steine liegt.114

Die Wahl des Weges bedingt die Auswahl der Begegnungen mit den Menschen zu denen – nicht an ihnen vorbei – sie führt. Die rechte Straße zu benützen heißt unter guten Menschen zu sein und unbeschadet an das Ziel der irdischen Wallfahrt – und letztlich an das himmlische Ziel des irdischen Lebens – zu gelangen. Gehen bedeutet die Unausweichlichkeit solcher Begegnungen, die gut oder schlecht sein können und deshalb gesucht oder vermieden werden sollen. Die eigene oder mitgeteilte Erfahrung ist das entscheidende Wissen, das einem helfen kann, sein Ziel zu erreichen. Automobilisierte Menschen ziehen die Erreichung des Zieles der Er-fahrung115 des Weges vor.

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Die römische via strata, die gepflasterte Straße, von der sich unser heutiger Begriff herleitet, weicht von dieser lebensvollen Bedeutung bereits ab: Sie ist vor allem für die schnelle Fortbewegung des Militärs und den Transport von schwerem Kriegsgerät gedacht. Das Muster der heutigen Straße ist die Autobahn, die möglichst geradlinig, Höhen und Tiefen untertunnelnd oder überbrückend, Gegend und Menschen links und rechts liegen lässt und anstelle lebendiger Begegnung totes, unbetretbares Land in ihrem Umkreis erzeugt. Automobilisierte Menschen sind bereit, Land und Leute ausschließlich dem Verkehr dienenden Straßen zu opfern. Selbst die Kommunikation untereinander ist auf primitive Lichtsignale und hilflose Gesten reduziert. Der Geschwindigkeit zuliebe ist die glatte, glänzende Oberfläche von Autokarosserien in einem Maße empfindlich, das jeder technischen Vernunft widerspricht: Jede festere, im praktischen Verkehr unvermeidliche Berührung dieser Oberfläche führt zu Dellen und Schäden, die mit hohen Reparaturkosten verbunden sind. Wesentlich praktischer wäre eine raue, belastbare Oberfläche oder eine behaarte Oberfläche wie das tierische Fell, die Druckstellen selbsttätig ausgleicht und Beschädigungen leichter reparierbar macht. Autofahren wird als Illusion des Wohnens inszeniert. Der Innenraum des Automobils erzeugt eine illusorische Empfindung über die tatsächliche Befindlichkeit der Fahrer-/innen bzw. der Insassen. Tatsächlich befinden sie sich nicht, wie die Ausstattung und Möblierung vermittelt, in einem gemütlichen Wohnzimmer, aus dessen Fenster sie in die Ferne schauen, sondern im technisch hochgerüsteten Cockpit eines mit hoher Geschwindigkeit bewegten Fahrzeuges, das bei jeder Unachtsamkeit oder falschen Bedienung eine tödliche Kollision verursachen oder in den Tod rasen kann. Um das zu vermeiden, ordnen sich die freien Bürger-/innen einer der massivsten Freiheitsbeschränkungen unter, die in unseren Gesellschaften existiert. Sie fahren und stoppen auf Lichtsignale hin, ordnen sich in Kolonnen ein, beachten erlaubte und verbotene »Fahrbahnen« und »Einbahnen«, ertragen »Umleitungen« und erzwungene Stehzeiten, in denen sie in ihrem Fahrzeug eingeschlossen bleiben. An der unter bestimmten psychischen Bedingungen reduzierten Bereitschaft zur Einhaltung der Verkehrsvorschriften wird deutlich, dass diese nicht selbstverständlich, sondern mühsam ist, mit hohem Einsatz psychischer Selbstkontrolle verbunden. Wenn das Ausmaß dieser Selbstkontrolle durch Alkohol, Stress

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oder Erlebnishunger reduziert ist, wird rücksichtlos gefahren, riskant überholt, die Geschwindigkeit gefährlich erhöht. Durch die Überschreitung der Verkehrsregeln riskieren automobilisierte Menschen eigenes und fremdes Leben. Initiativen zur Verlangsamung und Eindämmung des automobilisierten Verkehrs stoßen dennoch regelmäßig auf den Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung. Jahrhundertelang wurde im heutigen Europa ein hohes Ausmaß an Kindersterblichkeit als göttliche Fügung oder unveränderliches Schicksal hingenommen. Bis in das 18. Jahrhundert überlebten rund 50 Prozent der Kinder die ersten fünf Lebensjahre nicht. Heute sind unsere Gesellschaften zu Recht stolz auf die Reduzierung der Kindersterblichkeit gegen Null und jede Erhöhung um auch nur ein Zehntelprozent ruft die politisch Verantwortlichen auf den Plan und führt zu Gegenmaßnahmen. Dieselbe Gesellschaft scheint sich mit der hohen Zahl von Verkehrstoten als unvermeidliche Folge des automobilen Verkehrs abgefunden zu haben. Die allgemeinste Erklärung dieser Widersprüche besteht darin, dass das Automobil nicht das ist, als was es sich ausgibt: nämlich ein Fahrzeug – ein Werkzeug zum Fahren, ein Verkehrsmittel, ein Mittel, um von da nach dort zu kommen –, sondern das Versprechen der Erfüllung von Wünschen, die mit Mobilität gar nichts zu tun haben. »Weit entfernt, ein bloßes Beförderungsmittel zu sein, kristallisieren sich im Auto Lebensentwürfe und Weltbilder, Bedürfnisse und Hoffnungen, die dem technischen Gerät eine kulturelle Bedeutung aufprägen.«116 Welche Hoffnungen dies sind und aufgrund welcher psychischen Dynamiken sie bewirken, dass die Intensität der Wünsche die Realität der Erfahrung mit dem Automobil permanent und nachhaltig außer Kraft setzen konnte und kann, wird an der Geschichte des Automobils deutlich. Wann immer öffentlich über das Auto gesprochen wird – und das sind zurzeit sehr oft Gespräche zwischen Umweltschützern und Verfechtern des Automobils – fällt sehr rasch das Argument, dass eine moderne Gesellschaft, so gern sie es vielleicht auch täte, auf das Auto schlicht und einfach nicht verzichten kann. Zu dieser Argumentation steht in Widerspruch, dass das Auto von seiner Geburtsstunde an ein Luxusgut für die reichen Schichten der Gesellschaft darstellte. Werbe- und andere Texte, mit denen in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten Automobile einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wurden, argumentieren nicht mit der Notwendigkeit dieses neuen Fahrzeuges als Fortbewegungs- oder

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Transportmittel, sondern ausschließlich mit seiner Eleganz, der gleichmäßigen und ruhigen Bewegung und vor allem seinen Vorteilen gegenüber dem Pferd. Eine »Droschke mit Benzinbetrieb«, vermeldet die Vorarlberger Landeszeitung am 11.3.1893, als der erste »Patent-Motorwagen Benz« in Bregenz auftauchte: Eine Droschke mit Benzinbetrieb ist seit einigen Tagen hier und befindet sich im Privatbesitz des Herrn Eugen v. Zardettl. Das Gefährt ist in der Konstruktion einer eleganten Chaise gleich; der Wagen ruht jedoch vorn nur auf einem Rad, welches wie beim Veloziped behufs Direktion des Fahrzeuges nach links und rechts drehbar ist. Die Zündung des Benzinmotors wird durch Elektrizität bewirkt. Die Fortbewegung des Wagens ist eine gleichmäßige, ruhige und kann zu sehr großer Schnelligkeit gesteigert werden. Diese Neuheit übt einen eigentümlichen Reiz aus: Pferde unnötig, kein Scheuwerden der Rosse, kein Geschirr etc., Vorteile, die noch sehr ins Gewicht fallen werden, wenn solche Fahrzeuge erst billiger sind.117

Das Pferd, bisher neben den eigenen Beinen das hauptsächliche Fortbewegungsmittel, kommt unter Druck. Sein »schwacher, leicht zerbrechlicher, unausbesserbarer, gefährlicher schmutziger Motor«, so der Franzose Baudry de Saunier 1902, sei »zum Verschwinden bestimmt«.118 Seiner Lebendigkeit beraubt und nach Maschinenart beschrieben, erscheint es als Ansammlung von Defiziten. Es lässt sich nicht reparieren, »seine Knochen sind nicht zu löten, und wenn die Köpfe seiner Kolbenstangen, seine Knie, aufgeschlagen sind, kann man dieselben nicht einmal oberflächlich mit irgendeinem Email wieder instand setzen«119 . Das Automobil führt sich als das bessere Zugtier ein, in allen Belangen dem »Hafermotor« überlegen, hymnisch gelobt in einem Reimgedicht auf dem Cannstädter Volksfest von 1897: Ein Daimler ist ein braves Thier, zieht wie ein Ochs, du siehst’s allhier. Er frisst nicht, wenn im Stall er steht, er sauft nur, wenn die Arbeit geht. Er drischt und sägt und pumpt dir auch, wenn’s Moos dir fehlt, was oft der Brauch. Er kriegt nicht Maul- und Klauenseuch,

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er macht dir keinen dummen Streich. Er nimmt im Zorn dich nicht aufs Horn, verzehrt dir nicht dein gutes Korn. Drum kaufe nur ein solches Thier, dann bist versorgt du für und für.

Nicht nur ökonomische Gründe sprechen für das Automobil. Im Vergleich zum Fahren mit der Kutsche oder der Eisenbahn oder im Vergleich zum Reiten ist Autofahren ein wahrer Gesundbrunnen: Das Fahren im M. [Motorwagen, B.R.] wirkt wie jede mechanische Gymnastik eine regere Tätigkeit des gesamten Organismus, besitzt aber den sonstigen gymnastischen Methoden gegenüber bemerkenswerte Vorzüge. Der Zimmergymnastik gegenüber kommt insbes. der frische Luftstrom in Betracht, der in angenehmer Weise Haut- und Lungentätigkeit anregt und damit eine höchst vorteilhafte Entlastung im inneren, mit Blut vielfach übersättigten Organe herbeiführt.120

Autofahren ist gesünder als die Kutsche oder die Eisenbahn: Demgegenüber besteht das Fahren im M. in einem sanften und leichten Dahinschweben, das sich in gleich angenehmer Weise fühlbar macht, wie etwa das Kahnfahren auf stillem Wasser. Die harten Stöße der Straße werden bei der tiefen Schwerpunktlage des Fahrzeuges durch die Pneumatik und Federn fast vollständig aufgenommen, so dass sich nach einer langen Fahrt nicht etwa wie beim Ausstieg aus einer gewöhnlichen Droschke oder einem Eisenbahnwagen das Gefühl der Ungelenkigkeit und Steifigkeit einstellt, sondern das einer angenehmen Ermüdung, wie sie sich etwa nach einer luftigen Klettertour durch gesteigertes Schlaf- und Hungergefühl bemerkbar macht. Mit der wohltuenden Ausspannung durch die landschaftliche Szenerie und der Entlastung der inneren Organe geht Hand in Hand eine höchst vorteilhafte Einwirkung auf die Nerven. 121

Den Zeitgenossen ist vor allem der Vergleich mit den bisher gebräuchlichen Verkehrsmitteln wichtig: der Kutsche, dem Fahrrad, dem Pferd. Sie bescheinigen dem Auto Vorteile auf allen Linien. Diese Sichtweise hat ihren besonderen Grund: Das gesellschaftlich wahrhaft neue Verkehrsmittel dieser Zeit war nämlich keineswegs das Auto, sondern die Eisenbahn. Sie stellte nicht nur Fortschritte bei verschiedenen Annehmlichkeiten dar, sondern bot tatsächlich eine revolutionierend neue Fortbewegungsstruk-

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tur an: die rasche, billige Beförderung von vielen Menschen. Dadurch geriet das Fortbewegungsmonopol der besseren Schichten in Gefahr. Die Kutsche hatte bisher ausgereicht, um die gesellschaftlichen Unterschiede auf dem Gebiet der Fortbewegung auszudrücken und zugleich festzuschreiben. Schon die Kutschen waren ja bei weitem mehr als gewöhnliche Fahrzeuge, ihre oft prächtige und höchst kunstvolle Ausgestaltung spiegelte Reichtum und Macht ihrer Besitzer. Durch die Eisenbahn aber, ein Fahrzeug für jedermann, drohte das Fortbewegungsprivileg der besseren Schichten abhandenzukommen. »Wenn die Eisenbahn eine Kutsche überholte, lachte das Volk hämisch aus den Zugfenstern. Da mussten sich auch die besseren Herrschaften auf die Eisenbahn begeben. Sie waren notgedrungen zu Insassen eines Massentransportmittels geworden.«122 Ein erheblicher Verlust an Freiheit, wie der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum 1902 zu beklagen weiß: Die Freiheit wurde der Schnelligkeit geopfert. Das Eisenbahnbillet wurde nicht nur mit Geld, sondern auch mit der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts für eine gewisse Zeit bezahlt. Wer sich in ein Eisenbahncoupé begibt, begibt sich auf eine Weise seiner Freiheit. Jede Fahrt auf der Eisenbahn ist ein Gefangenentransport; die Wärter nennt man Schaffner, was sie aber nicht immer veranlasst, höflich zu sein: die Gefängnisordnung nennt sich Eisenbahnreglement.123

Für seine Verachtung dieser Karikatur des Reisens kann Bierbaum der Worte gar nicht genug finden: Die Eisenbahn transportiert uns – und das ist der direkte Gegensatz des Reisens. Wir sind zur Passivität verurteilt – und Reisen bedeutet die freieste Aktivität. Reisen ist Ausspannen aus der Regel. Die Eisenbahn spannt uns in den Fahrplan ein, macht uns zu Gefangenen des Reglements, sperrt uns in einen Käfig, den wir nicht einmal öffnen, geschweige denn verlassen dürfen, wenn wir wollen. […] Wer das mit dem Namen Reisen bezeichnen kann, der darf mit demselben Rechte einen Parademarsch als Spaziergang ausgeben. Der ganze Zweck und Gewinn dieser Art, sich verschleppen zu lassen, beruht in der Zurücklegung von Entfernungen […] das alte Klagelied der Studenten »Stumpfsinn, Stumpfsinn, du mein Vergnügen, Stumpfsinn, Stumpfsinn, du meine Lust« wäre ein würdige Hymne darauf.124

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Pünktlichkeit – rechtzeitig zur Abfahrt des Zuges da zu sein, nicht zum selbstbestimmten Zeitpunkt, sondern fahrplanmäßig anzukommen – ist eine Tugend der Armen, der Arbeiter, deren Zeitökonomie fremd- und nicht selbstbestimmt ist. Die Reichen muss Meyers Konversationslexikon erst darauf aufmerksam machen: Die Reisen auf der Eisenbahn erfordern das pünktliche Eintreffen der Reisenden auf dem Bahnhof, da der Dampfwagen auf niemanden wartet; auch müssen die gelösten Fahrbilletts und Gepäckzettel sorgfältig aufbewahrt werden. Nebstdem muß man sich hüten, an Stationen auszusteigen, wo nicht wenigstens fünf bis zehn Minuten angehalten wird, indem der Wagenzug leicht fortgeht und die Reisenden im Stich lässt.125

Um wie viel angenehmer ist das Reisen mit dem Automobil: Eine wollüstige Perspektive: Wir werden nie von der Angst geplagt, dass wir einen Zug versäumen könnten. Wir werden nie nach dem Packträger schreien, nie nachzählen müssen, eins zwei, drei, vier – hat er alles? Herrgott, die Hutschachtel; sind auch die Schirme da? Wir werden nie Gefahr laufen, mit unausstehlichen Menschen in ein Coupé gesperrt zu werden, dessen Fenster auch bei drückender Hitze nicht geöffnet werden dürfen, wenn jemand mitfährt, der an Zug-Angst leidet.126

Das Automobil ist das Versprechen der wiedergewonnen Freiheit: Selbst zu bestimmen über die Zeit und den Raum, ohne sich unter diejenigen mischen zu müssen, denen diese Selbstbestimmung nicht zukommt. Was für die einfachen Leute die erstmals in der Geschichte erschwingliche Möglichkeit schneller Fortbewegung war, kam für die alten Adeligen und die neuen Bürgerlichen einer Degradierung gleich, einer Gleichstellung der zur Herrschaft Berufenen mit denen, deren Fortkommen von ihnen abhängig war. Die Eisenbahn bedeutete für die Bessergestellten eine Nivellierung aller Standesschranken: »Wo jedermann, ob reich ob arm, zum Transportgut geschrumpft ist, da finden Standesdünkel keine Nahrung mehr.«127 »Ganz unanständig« findet es deshalb die Modeschriftstellerin Gräfin Ida Hahn-Hahn für den Menschen, mit der Eisenbahn zu reisen: Er setzt sich dadurch zu einem Warenballen herab und begibt sich seiner Sinne, seiner Unabhängigkeit. Menschliche Rücksichten werden auf einen Warenbal-

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len nicht genommen, man hat sich nur verpflichtet, ihn fortzuschaffen. […] Die Dampfwagenerfindung, sie nivelliert, centralisiert und das sind die beiden fixen Ideen derjenigen, welche sich Liberale nennen. […] Nivelliert werden dann auch alle Schranken, Stände, Genüsse, Bedürfnisse. Für ein Geringes rutscht Greis und Kind, vornehm und gering, reich und arm, Mensch und Vieh auf dem Dampfwagen umher.128

Das war die einmalige Chance des Automobils: der Kutsche, die individueller, bequemer und schneller war als die Eisenbahn. Welche Erlösung für einen Eisenbahnverachter wie Julius Bierbaum. »Wir werden selber bestimmen, ob wir schnell oder langsam fahren«, schreibt er, mit seiner Gemahlin in seinem Adler-Phaeton nach Italien aufbrechend, wo wir anhalten, wo wir ohne Aufenthalt durchfahren wollen. Wir werden ganze Tage lang in frischer, bewegter Luft sein. Wir werden nicht in gräulichen, furchtbaren Höhlen durch die Berge, sondern über die Berge wegfahren. Kurz […] wir werden wirklich reisen und uns nicht transportieren lassen.129

Kein »Kistenmensch« mehr sein zu müssen, das macht für Bierbaum die wiedergewonnene Freiheit des Reisens aus: Der Sinn des Automobils ist Freiheit, Besonnenheit, Selbstzucht, Behagen. In ihm lebt die Reisekutsche mit all ihrer Fülle von Poesie wieder auf, nur unendlich bereichert um die köstlichen Möglichkeiten des intensiveren und gleichzeitig erweiterten Genusses.130

Ähnlich die »Allgemeine Automobil-Zeitung« 1906: Das Automobil, es will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern, und zwar vermöge der Schnelligkeit der Fortbewegung. Der ganze ungeheure Apparat der Eisenbahn, Schienennetz, Bahnhöfe, Signalstationen, Überwachungsdienst und Verwaltungsdienst fällt hier weg, und verhältnismäßig frei waltet der Mensch über Raum und Zeit.131

Der »König Individuum«132 beginnt sich durchzusetzen, eine Tendenz, die die Technikentwicklung bis in die Gegenwart prägt: Auto statt Eisenbahn, Fernsehschrank statt Kino, Waschmaschine statt Waschsalon usw.

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Noch freilich ähnelte das Automobil allzu sehr seinem kutschenförmigen Vorläufer. Seine Konstrukteure hätten »das Pferd noch nicht völlig vergessen«, vermerkt Bierbaum: Sie sehen aus, wie Zugwagen ohne Zugtiere. Ein Laufwagen soll aber Selbstgefühl genug haben, auszusehen wie eine Maschine. Und die kann schön sein. Ich will nicht sagen: schön wie ein Pferd. So was Schönes bringt nur der liebe Gott fertig. […] Organisch aus dem Mechanismus und Chassis heraus muß das wachsen, und dennoch bis in die kleinste Biegung ästhetisch empfunden, aber auch praktisch und bequem sein.133

Das sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch ändern. Der vorher wie im Kofferraum der Kutsche verstaute Motor wandert in die Fronthaube, Heck- und Frontpartie werden ästhetisch aufgewertet, etwa mit Tempelmotiven als Motive der Kühlerfront. Das Auto wurde Zug um Zug mehr zu dem Luxusgerät, als das es gedacht war: als Möglichkeit der Dokumentation sozialer Rangordnung, vorgeführt auf den Straßen vor allen Leuten. »Das Auto brachte zunächst noch keine Revolution in der Mobilität, sondern zuerst eine Revolution in den vorherrschenden Prestigesymbolen.«134 Das ist umso bemerkenswerter, als das Automobil in seinen Anfangszeiten derlei hochgestochene Erwartungen auf keine Weise erfüllte. Beim Start schlug die Kurbel gefährlich zurück, der Motor brüllte, zitterte und stank – kein Gerät für zart besaitete Naturen, eher für Sportsleute mit Mut und Muskelkraft. »Teure Freundin!«, schreibt 1899 ein französischer Adeliger an eine Bekannte, da halte ich mir nun tausend widrigen Umständen zum Trotz seit Monaten solch ein neumodisches Gasolin-Vehikel. Bin nicht unzufrieden, verbringe indes meine Zeit nur zum Teil in der Karosserie, zum größeren Teil aber darunter. Sie werden’s gewiß impossibile finden, Teuerste, aber mich umweht das penetranteste Odeur von Gasolin, welches sich denken lässt. Und gar meine Hände, sie gleichen schwarzen Tatzen. […] Und wie ich gestern aus der Reparature heimkehrte, bitte ich die Gräfin Mantua […] zu einer Spazierfahrt, wobei ihr doch, als ich den Motor ausrücke, vom Rütteln des Leerlaufs das Gebiß in den Schoß fällt. Seitdem schneidet sie mich. Auch vergeben Sie bitte meine schlechte Schrift; seit gestern trage ich nämlich den rechten Arm verbunden, den ich mir beim Anwerfen des Motors prellte – wie ich hörte, ein Mißgeschick, das man in Kauf zu nehmen pflegt.135

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Die ursprünglichen Fahrten galten deshalb auch kaum Reisen im heutigen Sinn, sondern Fernfahrten, Rallyes und Rennen. Auf 25,6 Stundenkilometer im Schnitt kam 1898 der Sieger der ersten deutschen Wettfahrt Berlin – Potsdam – Berlin, zehn Jahre später erreichte die Höchstgeschwindigkeit bereits 100 Stundenkilometer. In seiner Geburtsstunde präsentiert sich das Automobil dem kritischen Blick keineswegs so, wie es sich in den Aussagen der Produzenten und der Zeitgenossen selbst präsentierte. Es ist kein Verkehrsmittel, sondern ein Mittel zur Sicherung von Klassenprivilegien im heraufdämmernden demokratischen Zeitalter und ein Mittel zur Unterscheidung der Klassen am Beginn des industriellen Kapitalismus. Das zeigt sich einige Jahrzehnte später noch einmal, als die weitere Entwicklung der Motoren und Karosserien endlich doch dazu geführt hatte, dass die bereits am Anfang verheißenen Annehmlichkeiten tatsächlich Wirklichkeit waren. Autos dieses Standards sind freilich unermesslich teuer und nunmehr auch in ihrer Ästhetik als Luxusartikel erkennbar – so wie die modisch geschmückten Frauen der Automobilisten, wie ein französischer Autor weiß: Seit das schöne Geschlecht es sich durch den Einstieg von der Seite in den komfortablen Karossen mit Wetterschutz, Polstern und Federung bequem machen kann, ohne sich weder die Haare, noch die Aufmachung in Unordnung zu bringen, seitdem lieben die Frauen das Automobil. […] Das Auto ist für sie etwas, das glänzt, viel Geld kostet und deshalb sehr chic ist. Es erlaubt ihnen einen neuen Luxus, ein neuartiges Mittel, um ein bisschen den Neid der Freundinnen zu erregen, die sich nichts anderes als die Metro oder die Droschke leisten können.136

Die Zielgruppe der Fabrikanten sind freilich nicht die Frauen, sondern die Männer. Für sie »ist entscheidend, dass sie, die Frauen, die Herrn der Schöpfung veranlassen, zahlreiche Wagen zu kaufen«137. In den Anfangszeiten des Automobils prallen die gegensätzlichen Interessen der Automobilisten und jener, die noch zu Fuß oder mit dem Pferdewagen unterwegs sind, frontal aufeinander. Wir Gegenwärtigen sind gewohnt, den Autos auszuweichen. Zum Großteil besorgt das bereits die Planung der Straßen und Wege, die den motorisierten Verkehr rigoros vom nicht motorisierten trennt. Geh-Steige trennen die Mobilität der Fußgänger-/innen von den Fahr-Bahnen der Autofahrer-/innen. Wo sich die Wege kreuzen, werden Schutzzonen in Form von Zebrastreifen oder Fußgängerübergängen errichtet, um das Aufeinandertreffen der unter-

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schiedlich Mobilen zu verhindern. In letzter Zeit wurde diese Trennung der Bahnen durch die Errichtung eigener Fahrradwege noch weiter differenziert. Eine wie massive Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit der Fußgänger dies bedeutet, kann man an deren frühen Klagen über die Gefährlichkeit und Rücksichtslosigkeit der Autofahrer-/innen ermessen – aus Zeiten, in denen die unterschiedlich Mobilen noch ungeregelt und ungeschützt aufeinanderprallten. Aufzeichnungen und Dokumente, die auch auf ein ursprüngliches Selbstbewusstsein und eine Wehrhaftigkeit verweisen, die heutigen Fussgängern abhanden gekommen ist. »Die verlockende Herrschaft über Raum und Zeit« muss »gegen den Zorn des Volkes durchgesetzt werden.«138 Der Automobilist der ersten Stunde, Otto Julius Bierbaum, in seinem Bericht von einer »empfindsamen Reise im Automobil« von Berlin nach Sorrent und zurück: Nie in meinem Leben bin ich so beschimpft worden. Alle deutschen Dialekte waren daran beteiligt und alle Mundarten des Italienischen von Trient bis nach Sorrent – gar nicht zu rechnen die stummen Flüche, als da sind: Fäusteschütteln, Zungen herausstrecken, die Hinterfront zeigen und anderes mehr.139 Besonders gereizt war die Bevölkerung auf dem Land, die sich von dahinrasenden Städtern mit einem Teppich an Geknatter, Gestank und Staub überzogen sah, ganz zu schweigen von dem Dauerproblem der scheuenden Pferde, die, von den fremden Motorungetümen erschreckt, oftmals durchgingen und Fuhrwerke umrissen, unter denen neben der Kartoffelladung oft auch Menschen begraben wurden.140

Potenziert wurden diese Gefahren bei Dunkelheit. »Geblendet von den Scheinwerfern nahm so manches Pferd Reißaus; Hühner blieben, weil im Dunkeln nicht sichtbar, auf der Strecke; und Menschen sprangen, vor der dahinbrausenden Macht flüchtend, in den Straßengarben.«141 Die nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer-/innen beschimpften die »Autler« nicht ohne Grund. Unfälle begleiten das Automobil seit seinen Anfangszeiten. Die Straßen, bisher »bevölkert von Fußgängern, Pferdefuhrwerken, spielenden Kindern und allerlei Federvieh«142 waren durch die Automobile zur tödlichen Gefahr geworden. 2920 Automobilunfälle und 33 Tote durch die »wilden Autler« beklagt der parlamentarische Abgeordnete Graf Cramer bereits 1908, mehrfach akklamiert von seinen Kollegen (»Hört, hört!«; »Sehr richtig!«):

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Und zwar waren es durchweg Luxusautomobile, die diese Unfälle verursachten, Sport- und Vergnügungswagen. Die Automobilisten legen oft eine beispiellose Roheit an den Tag, wenn sie so dahinsausen. Diese Herrn schätzen den Wert ihrer Zeit denn zu hoch ein. Gerade die Landwege sind besonders gefährdet, und die Landbevölkerung ist über die Autler in höchstem Maß verbittert, zumal diese sich, wenn sie etwas angerichtet haben, durch Flucht der Verantwortung zu entziehen belieben.143

Der Abgeordnete weist auf ein Problem hin, das die Ohnmacht sowohl der Bürger-/innen wie auch der Ordnungskräfte gegenüber dem neuen Fortbewegungsmittel betrifft: Die Autos waren zu schnell, nicht nur für die Fußgänger und die Pferdewagen, die ihnen nicht rechtzeitig auszuweichen vermochten, sondern auch für die Polizei. Die Lösung des Problems regt ein verärgerter Pariser Fußgänger an, der um ein Haar von einem Auto überfahren worden war: Sehr geehrter Herr Polizeipräsident, es ist erforderlich, dass Sie schon morgen und nicht erst in sechs Monaten diese Raser verpflichten, eine sichtbare Nummer zu tragen, mit deren Hilfe man sie nach ihrer Flucht wieder auffinden kann.144

Wie groß die Verunsicherung und die Wut der Fußgänger ist, sieht man an der Drohung, die der Briefschreiber seinem Vorschlag anfügt: Und da ihre Polizisten sich für ohnmächtig erklären, habe ich die Ehre, Ihnen zu erklären, dass ich von heute ab mit einem Revolver in der Tasche ausgehen und auf den nächsten verrückten Hund schießen werde, der mit seinem Automobil die Flucht ergreift, nachdem er drauf und dran war, mich und die meinen zu überfahren.145

Der Zorn der nicht Motorisierten bezieht sich nicht bloß auf die Gefährdung durch die Automobilisten. Er gilt auch der Demonstration der herrschaftlichen Überlegenheit der Reichen gegenüber den Ärmeren, der Städter gegenüber der Landbevölkerung, der aufstrebenden Bürgerschicht gegenüber der gewöhnlichen Landbevölkerung und dem Mittelstand. Die Autofahrer waren sich dieser Überlegenheit bewusst und kosteten sie leidlich aus. Auf den staubigen Straßen des Piavetals »jagte Georg, was das der Wagen hergab, und hinter uns breitete sich ein ungeheurer Kegel aus«,

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trägt Rudolf Diesel auf dem Weg auf den staubigen Straßen des Piavetals in sein Tagebuch ein: Wir entsetzten die Fußgänger wie mit einem Gasangriff, ihre Gesichter verzerrten sich und wir ließen sie zurück in einer formlos gewordenen Welt, in der weithin Feld und Baum unter einer trockenen Puderschicht alle Farbe verloren hatten.146

Die Kritik am Automobil bezog sich weithin nur auf die konkreten von ihm ausgehenden Gefahren. Als grundsätzliche Kritik an einem blinden Fortschrittsglauben wurde sie nur vereinzelt formuliert. Auf die Dauer setzten sich die mit dem Auto verbundenen Verheißungen und die mit ihm einhergehenden ökonomischen Interessen durch. Die Gegner wurden als fortschrittsfeindliche Nörgler diffamiert. Den Fußgängern, einst gleichberechtigte Teilhaber am Verkehr, wurde nun »Straßenuntauglichkeit« bescheinigt. Einer der wenigen, die die Enteignung der Fußgänger durch die Autofahrer auf den Begriff bringen, ist der Wiener Pädagoge Michael Freiherr von Pidoll. In einem 1912 veröffentlichten »Protest und Weckruf« geißelt er die Monopolisierung der Straßen durch die Automobilisten und setzt ihr das Recht aller auf deren Benützung entgegen: Woher nimmt der Automobilist das Recht, die Straße, wie er sich rühmt, »zu beherrschen«, die doch keineswegs ihm, sondern der gesamten Bevölkerung gehört, diese auf Schritt und Tritt zu behindern und ihr ein Verhalten zu diktieren, das er nur auf eigenen, privaten Wegen fordern dürfte? Die öffentliche Straße ist nun einmal nicht für den Expreßverkehr bestimmt, sie gehört zum Milieu der Stadt.147

Die einzige Region in Europa, die sich erfolgreich gegen die Übermacht des automobilisierten Verkehrs zur Wehr setzte – und das immerhin 25 Jahre lang –, war der Schweizer Kanton Graubünden. Aufgrund der zahlreichen Unfälle, vor allem von auf den engen Bergstraßen abgestürzten Pferdefuhrwerken, musste von 1900 bis 1925 der Motor an der Kantonsgrenze abgestellt werden und die Automobile wurden gegen Bezahlung von Pferden durch den Kanton gezogen – ein letztes Aufbäumen der echten Pferdestärke gegen ihren motorisierten Untergang. Erst nach der 1922 erfolgten Entscheidung der Berner Regierung, das Durchzugsrecht auf Straßen an sich zu ziehen, setzten sich die Befürworter mit knapper Mehr-

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heit durch. Bis dahin waren Gegner wie Befürworter in insgesamt zehn Volksabstimmungen erbittert gegeneinander angetreten: Das alte stolze Bündnerrecht Des freien Wegs auch für den Knecht Will Herrenlust euch rauben. Ob Herrenlust, ob Bauernrecht Soll gelten für ein ganz Geschlecht Gilt’s morgen zu entscheiden. Drum auf ihr Bauern überall, zur Urne eilt mit lautem Schall Der Freiheit Gut zu wahren.148

Dem Freiheitsrecht der Bauern setzten die Hoteliers die Steuerpflicht des Bürgers gegenüber, die nur durch die Freigabe des Autoverkehrs geleistet werden könne: Bauer, kannst du mehr Steuern zahlen? Nein! Fixbesoldete, könnt ihr mehr Steuern entrichten? Nein! Handwerker, so zahl du mehr Steuern! Nein, ich kann nicht! Hotelier, dann musst du dran glauben! Gern! Wenn ihr mir die Möglichkeit gebt, zu verdienen! Sorgt, dass mehr Verkehr ins Land kommt, dass ich dadurch meine Zinsen zahlen, meine Angestellten recht entlöhnen, Gewerbe und Handel beschäftigen kann, dann kann ich mehr Steuern abliefern! Mehr Verkehr bringt das Auto, darum ein kräftiges Ja! Dem provisorischen Automobilgesetz!149

Die bisher quasi naturwüchsig sich etablierende Ideologie des Automobils zum expliziten politischen Programm im Sinn ihrer völkisch-rassistischen Ideologie auszubauen, blieb den Nationalsozialisten vorbehalten. Adolf Hitler war der erste deutsche Reichskanzler, der eine Automobilausstellung eröffnete. In einer programmatischen Rede prophezeite er eine strahlende Zukunft der Automobilisierung des Reiches: Der Kraftwagen ist neben dem Flugzeug zum genialsten Verkehrsmittel des Menschen geworden. Es kann der Stolz des deutschen Volkes sein zu wissen, dass es an der Entwicklung und am Ausbau dieses großartigen Instruments mit den

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größten Anteil genommen hat. […] So wie das Pferdefuhrwerk einst sich seine Wege schuf, die Eisenbahn den dafür nötigen Schienenweg baute, muss der Kraftverkehr die für ihn erforderlichen Autostraßen erhalten. Wenn man früher die Lebenshöhe von Völkern oft nach der Kilometerzahl von Eisenbahnschienen zu messen versuchte, dann wird man in der Zukunft die Kilometerzahl der für den Kraftverkehr geeigneten Straßen anzulegen haben.150

Die Ankurbelung der Industrie und die Arbeitsbeschaffung im Straßenbau waren nicht die einzigen und vielleicht auch nicht die wichtigsten Beweggründe der Faschisten. Gleichwohl war die Automobilindustrie auch in wirtschaftlicher Hinsicht bedeutsam. An die 120.000 Arbeitskräfte sind ab den 1930er Jahren im Straßen- und Autobahnbau beschäftigt, fast eine Million in der Autoindustrie insgesamt.151 Die »Zumutung, sich die Straßen mit Pferdegespannen, mit Radfahrern und Fußgängern zu teilen«152 , sollte ihr baldiges Ende finden. Hatte die Weimarer Regierung in ihrem Gegenmemorandum noch an der ökonomischen und verkehrspolitischen Sinnhaftigkeit solcher »Nur-Autostraßen« gezweifelt,153 so klang das nun bei den Faschisten ganz anders: Der Widerspruch, der zwischen der technischen Entwicklung des Motors und den infolge der ungenügenden Betreuung in den letzten Jahrzehnten sehr begrenzten Gegebenheiten der Straße bestanden hatte, wird nun beiseite geräumt. Die Straßen des Führers werden sich zu großen Schlagadern des Verkehrs entwickeln, die nicht nur dazu beitragen, das deutsche Volk politisch und wirtschaftlich zu einer stärkeren Einheit zu verschmelzen, sondern auch die letzten Reste partikularistischen Denkens zu beseitigen.154

An der volkserzieherischen Absicht des Autobahnbaues lässt der Generalinspekteur für das Straßenwesen keinen Zweifel: »Durchkreuzungen überwinden wir, unnötige Bindungen sind uns fremd, ausweichen wollen wir nicht. So bauen wir im Dritten Reich Straßen, so erziehen wir die Menschen, so errichten wir das ganze nationalsozialistische Reich.«155 In der Metapher der Schlagadern zeigt sich die völkische Ideologie, die die NSIdeologen mit der neuen Verkehrstechnologie verbanden: Die auseinanderstrebenden deutschen Provinzen zu einem geschlossenen Volkskörper zusammenzuführen – das war das politische Programm hinter der technischen Motorisierung. Es ging nicht um die Straßen der Verkehrsteilnehmer-/innen, sondern um die »Straßen des Führers«. Hymnisch werden

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die neuen Adern des Volkskörpers als »Pyramiden des Tausendjährigen Reichs« gepriesen: Nichts soll sie beengen noch aufhalten in ihrem Schwung, der von Horizont zu Horizont zieht, keine Bahnschranke und keine Kreuzung, keine entgegenkommenden Wagen und kein motorfremder Verkehr; keine winkeligen Ortsdurchfahrten werden ihren glatten Ablauf zerstören und mit ihren Gefahrenpunkten übersäen; makellos und gewaltig wie die nationalsozialistische Revolution selbst durchziehen sie das Land. […] Straßen, wie sie, seit es eine menschliche Kultur gibt, in dieser Größe und Schönheit noch nicht gebaut wurden, der Welt schönste Straßen, der edelste Schmuck der deutschen Landschaften.156

Die Rede Hitlers anlässlich der Berliner Automobilausstellung hatte noch ein Passage enthalten, die die große Masse der Menschen aufhorchen ließ, die »seit langem immer wieder ihr Geld gezählt hatten, ob es nicht wenigstens für einen ›Laubfrosch‹157, gebraucht versteht sich, reichen würde«158. Sie wollte Hitler nicht länger »von der Benutzung eines Verkehrsmittels« ausgeschlossen wissen: Solange das Automobil lediglich ein Verkehrsmittel für besonders bevorzugte Kreise bleibt, ist es ein bitteres Gefühl, von vorneherein Millionen braver, fleißiger und tüchtiger Mitmenschen, denen das Leben ohnehin nur begrenzte Möglichkeiten einräumt, von der Benutzung eines Verkehrsmittels ausgeschlossen zu wissen, das ihnen vor allem an Sonn- und Feiertagen zur Quelle eins bisher unerkannten, freudigen Glücks würde. […] Man muss dem Auto seinen ihm früher nun einmal angehängten klassenbetonenden und damit leider auch klassenspaltenden Charakter nehmen; es darf nicht länger Luxusmittel bleiben, sondern muss zum Gebrauchsmittel werden!159

Die Herabneigung der Faschisten zum kleinen Mann war nicht der Sorge um dessen großes Glück geschuldet, noch ausschließlich der Förderung der Industrie, der »zwangsläufig eine Millionenschicht neuer Käufer«160 erschlossen werden sollten. Der strategische Hintergedanke bestand in der noch stärkeren Bindung der breiten Massen an den nationalsozialistischen Staat durch das Konsumgut schlechthin, das Automobil. Am Beispiel des KdF161 wurde die politische Funktionalisierung des angeblich bloß Verkehrsfunktionen dienenden »Gebrauchsmittels« für alle jene, die seinen Besitz ersehnten, offenkundig. 330.000 Deutsche klebten Woche

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für Woche ihre 5-Mark-Rabattmarken in die KdF-Wagen-Karten, um nach vier Jahren und sieben Monaten das Anrecht auf einen Volkswagen erworben zu haben. »5 Mark die Woche musst du sparen, willst du im eigenen Wagen fahren«, lautete der höchst erfolgreiche Slogan: Insgesamt ging in der Reichskasse ein Betrag von 280 Millionen Mark ein. Juden waren ausgeschlossen, soweit sie ein Auto besaßen, wurde es beschlagnahmt: Ihre staatspolizeiliche Überwachung sei sonst nicht möglich. Tatsächlich erhielt auch kein einziger Reichsdeutscher einen KdF-Wagen. 1940, zur Zeit der Anspruchsberechtigung, wurden statt des angepriesenen Freizeitautos die sogenannten »Kübelwagen«, eine militärische Variante, erzeugt. »Und nicht in Freizeitkleidung, sondern in Uniform machten sich die Deutschen nun auf den Weg in jene Länder, die sie eigentlich als Urlauber besuchen wollten. Ein Volk auf Achse – diese Vision hatte plötzlich militärische Züge angenommen. Aus der privaten Auto-Mobilisierung war die totale Mobilmachung geworden.«162 Jenseits des Ozeans boomte die Autoindustrie seit langem. 1913 begann die »Ford Motor Company« Henry Fords mit der Fließbandproduktion. Bis 1927 stellte Ford 15 Millionen seines »Modell T« her. Die Konkurrenz war groß, allein in Detroit gab es neben Ford vier weitere Autofabriken: Chysler-Dodge, General Motors, Packard und Studebaker. Ford eröffnete der Vermarktung des Automobils eine neue Dimension. Nicht mehr der Luxus für wenige, sondern das Auto als Massenprodukt stand im Zentrum des unternehmerischen Kalküls der Autofabrikanten. 1938 besaß jeder fünfte Amerikaner einen PKW, dagegen nur jeder hundertfünfzigste Deutsche und jeder zweihundertfünfzigste Österreicher. Um diesen Absatz zu erreichen, zahlte Ford seinen Arbeitern um ein Mehrfaches höhere Löhne und unterstellte sie andererseits einer rigiden Verhaltenskontrolle und hohem Leistungsdruck. 1929 besuchte der »rasende« Reporter Erwin E. Kisch die Ford-Werke in Detroit. In seiner berühmten Reportage schildert er mit bittererem Sarkasmus, was Henry Ford unter Organisation von Industriearbeit verstand, z.B. bei der Essensausgabe: Etwa acht Minuten dauert es, ehe man drankommt. Die Mittagspause in den Betrieben mit drei Schichten ist fünfzehn Minuten. Danach müssen die heiße Suppe im Papierbecher, die Brötchen, der Kaffee (der wird aus der Flasche getrunken) und allenfalls ein Apfel binnen sieben Minuten verzehrt werden. Stehend oder auf der Erde kauernd. Bänke und Stühle gibt’s nicht.163

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Tag und Nacht »rollt das Band, an das Menschen geflochten sind«: Ein Griff nach der Kette, Auflegen der Schraubenmutter, ein Griff nach der Kette, Einstecken der Schraube, ein Griff nach der Kette, zwei Hammerschläge, ein Griff nach der Kette, Ansetzen des automatischen Bohrers, Funken stieben, ein Griff nach der Kette, Befestigung der Bleilamelle, Paraffinpappe, eine Hülse, ein Bündel Kerzen, eine Kurbelwelle und immer dazwischen ein Griff nach der Kette, Handbewegung und Ergebnis, Körperhaltung und Einsatz, Mensch und Maschine, immerfort gleich.164

Bei der geringsten Verfehlung droht den Arbeitern eine empfindliche Strafe: Für einen Fehler bei der Arbeit, für ein geringfügiges Vergehen (wäre es nicht geringfügig, so würde ja der Arbeiter ohne weiteres entlassen) wird man »abgelegt«. Auf einen Tag oder länger, bis zu vierzehn Tagen. […] Wer in einen Streit gerät, während der Arbeit einen Schluck Milch trinkt oder sonst wie dem General-Foreman, dem Werkmeister Anlaß gibt, wird laid off. […] Für diesen bedeutet lay off: Hunger samt Frau und Kind, Vorwürfe, unfreiwilliges Herumlungern daheim. […] Bei der Wiedereinstellung wird sein Wochenlohn auf fünfundzwanzig Dollar gekürzt, wodurch der Strafende Nutzen hat. Oft, wie zum Beispiel im Frühjahr 1927, werden Zehntausende »aus betriebstechnischen Gründen« abgelegt, alsbald jedoch wieder aufgenommen, allerdings nicht zu dem längst erworbenen Lohn, sondern für 5 Dollar pro Tag.165

In den 1950er Jahren wird das Auto, einst Symbol des alles umfassenden Tausendjährigen Reichs, zu dessen Gegenteil stilisiert: als Symbol für die Absage an diese fatale Vergangenheit, als Garant für eine neue, ganz andere Zukunft, die aus den Trümmern aufgebaut werden soll, und in der die falschen Versprechungen des faschistischen Staates auf eine patriotische Volksgemeinschaft, auf Arbeit und Wohlstand für alle erst tatsächlich eingelöst werden sollen, das Versprechen auf das Auto als Allgemeingut, als privates Verkehrsmittel für jedermann. Dass auch jetzt noch die gleichen mit dem Auto verbundenen Konnotationen herhalten müssen wie vor dem Faschismus und während des Faschismus, lässt einen tiefen Blick zu auf den geringen Grad an kultureller Veränderung, der im Übergang vom Faschismus zur Zeit des Wiederaufbaus wirklich geschehen ist.166 Hatte nicht schon Adolf Hitler vom Auto als einem Verkehrsmittel gesprochen,

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das seinen massenhaften Benützern vor allem »an Sonn- und Feiertagen zur Quelle eines bisher unbekannten, freudigen Glücks« würde? Die Freiheit lockt, die Freiheit drängt …! Kann man es den Menschen verdenken, daß sie, die seit elf Jahren nur auf diesen Augenblick gewartet haben, dass sie an einem herrlichen Frühjahrsmorgen ihr Fahrzeug aus der Garage holen, es bepacken und dann mit Vollgas abbrausen können? Mit wieviel Sehnsucht und Fernweh hat man in den abgelaufenen elf Jahren an diesen Augenblick gedacht. In diesen elf Jahren, die man uns so grausam gestohlen hat. Elf Jahre, da wir am wirklichen Leben vorbeigelebt haben – als Soldat oder als bombenbedrohter Zuhausegebliebener. Elf überaus schwere Jahre, für manchen unter uns hätten es die »besten« unseres Lebens sein sollen. Sollten wir nicht versuchen, die verlorene Zeit wieder einzuholen? Sollten wir nicht eilen, hasten, um wenigstens noch ein letztes Restchen unserer »guten« Jahre zu erleben?167

Gesamtgesellschaftliche Kalküle lassen sich dem Verhalten der gesellschaftlichen Einzelmenschen und Gruppen nicht einpflanzen, wenn nicht an bestehende, in die Lebenswelt dieser Menschen passende Motivationen und Attraktivitäten angeschlossen werden kann. Die technische Entwicklungsgeschichte geht Hand in Hand mit einer kulturellen Lerngeschichte, die der Technik ihren Sitz im Leben zuweist, aber das technische Produkt auch wieder obsolet werden lassen kann, wenn widerstreitende Erfahrungen Überhand nehmen und das Lebensgefühl einer neuen Epoche sich in ihnen nicht mehr wiederfindet.168

Deren symbolische und ästhetische Entsprechungen finden sich in den öffentlichen Aussagen und Bildern über das Auto und sein Verhältnis zu den Menschen. In den 1950er Jahren ist dieses Verhältnis gekennzeichnet durch den glücklichen Konsumenten. Ein Werbebild von Ford Taunus zeigt einen Familienvater in Nyltest-Hemd und Krawatte, einen Koffer in den Gepäckraum legend. »Seine Frau, in Pepita-Kostüm und Dauerwelle, beobachtet ihn wohlgefällig und hält den kleinen Sohn – mit Fliege am Hals und gebügelter Hose – an ihrer Hand, während sich im Hintergrund die Köpfe der Nachbarn aus den Fenstern des schmucklosen Neubaublocks recken.«169 Persönliches Glück wird mit dem Besitz von Konsumgütern gleichgesetzt und mit der Beachtung, die man sich dadurch bei anderen erwirbt.

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Weil damit sich das gute Leben auf Kaufkraft reduziert, haben die mit den schmalen Brieftaschen das Nachsehen; […] Geldgier, demonstrativer Konsum und Neid, in diesem Dreiertakt wandelte sich – Schicht um Schicht, Ware um Ware – langsam das deutsche Volk in eine Konsumgesellschaft. Das Auto hatte dafür eine Leitfunktion übernommen.170

»Freudig schaffen – froh genießen«, heißt der Slogan, mit dem die Firma Lloyd für ihre Motorroller und Autos wirbt. Erschwingliche Kleinstwagen wie das Goggomobil, die Isetta oder der Messerschmidt Kabinenroller sollen bewirken, dass die neue Konsumideologie jedermann erreichen kann. Zwischen 1960 und 1973 vervierfacht sich in Deutschland die Zahl der PKW, der Zustand der sogenannten »Vollmotorisierung« wird erreicht. Alle bis heute gültigen Mechanismen des Kampfes der einzelnen Produzenten um Marktanteile werden in dieser Zeit entwickelt: Konkurrenz der Marken, Erschließung neuer Käuferschichten, Preispolitik, modische Wechsel bei derselben Marke usw. Jetzt wird erst recht deutlich, dass es endgültig nicht mehr um die funktionale Lösung von Verkehrsproblemen geht, sondern um die Erfüllung der Expansionsbedürfnisse und der Profitinteressen einer nationalen Autoindustrie und ihrer vielfach verzweigten Nebenbetriebe. Diese Wirtschaft erzeugt mit der Zeit ihre eigene Funktionalität, d.h. ohne große soziale Einbußen durch Arbeitslosigkeit, sinkendes Wachstum usw. kann sie nicht mehr reduziert werden. Der Bau von Autostraßen, im Nationalsozialismus noch ein Unterfangen nationaler Aufrüstungspropaganda, wird aufgrund der enorm anwachsenden Zahlen an motorisierten Verkehrsteilnehmern-/innen zu einer verkehrstechnischen Normalität. Natürliche und soziale Gegebenheiten in Stadt und Land werden dem Diktat der geraden Fahrbahn und der Geschwindigkeit unterworfen. Der französische Architekt Le Cobusier schlägt vor, Autobahnen ungehindert über die Unwegsamkeiten der Landschaft und die Siedlungen hinweg zu bauen: Wie, wenn man folgendes machte: Wenn man von Hügel zu Hügel, von Gipfel zu Gipfel eine horizontale Verbindung herstellte, die die übrigen Hauptpunkte berührte? Diese im rechten Winkel zueinander verlaufenden horizontalen Verbindungswege sind die großen Zufahrts- und Durchfahrts-Autobahnen der Stadt. Ihr überfliegt nicht die Stadt mit euren Autos, aber ihr »überrollt« sie. Diese Autobahnen, die ich euch vorschlage, sind riesige Viadukte.171

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In seinem »Manifest der Kraftfahrt« fasst der 1903 als »Deutsche Motorradfahrer-Vereinigung« gegründete ADAC172 die Ideologie des Automobils nochmals zusammen. Mit dem wohl kalkulierten Verweis auf das Auto als »Gebrauchsgegenstand« will der Club der Motorisierten die massenhafte Motorisierung der Gesellschaft befördern: Das Automobil ist ein Gebrauchsgegenstand für jedermann zur Befriedigung von Alltagsbedürfnissen, wie sie in einer freien Welt zur fortschrittlichen Gestaltung unseres Lebens gehören. Die Jahre, in denen das Automobil ein Attribut von Reichtum und Luxus war, sind seit langem vorüber. (§1) Die Sozial- und Wirtschaftspolitik […] betrachtet den Kraftverkehr nicht nur als Motor der modernen Wirtschaft sondern sie sieht in gleicher Weise den privaten Besitz und Betrieb eines Automobils als beabsichtigten und jedem Bürger zugebilligten Wohlstandanteil. Die weitere Steigerung der Motorisierung ist deshalb […] ausdrücklich erklärter Wille des Staates. […] Diese Forderung [des Autos für jedermann, B.R.] gehört in der heutigen Industriegesellschaft zu den wichtigsten Maßstäben des allgemeinen Lebensstandards. Dies gilt umso mehr, als das »Haus auf Rädern« ganz allgemein einer der ersten Schritte zur Vermögensbildung breiter Volkskreise ist. (§2) In allen Bekenntnissen zur Wohlstandförderung wird das Automobil als alltäglicher Gebrauchsgegenstand bezeichnet, dessen freie Benutzung wie das Radiogerät, der Waschautomat, der Kühlschrank oder die Nähmaschine jedem zu ermöglichen ist. (§8)

Der Staat müsse nicht nur die Voraussetzungen für die Anschaffung, sondern auch jene »für seinen sinnvollen Gebrauch« schaffen. Für die Kritiker des Massenverkehrs hat der ADAC kein Verständnis. Stattdessen beschwört er nostalgisch eine hoffnungslos verlorene, idyllische Vergangenheit kommunikativer Verkehrsverhältnisse zwischen aneinander vorbei- oder einander hinterherfahrenden Autofahrern-/innen. Es ist billig, wenn nicht gar heuchlerisch, immer wieder von der »Schlacht« oder »dem Mord auf den Straßen« zu sprechen, wenn man es in unverständlicher Verkennung der Tatsachen unterlässt, die Straße wieder zu einem Feld humaner Begegnung zu machen. (§4)

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Die enormen Mittel für den Straßenbau will der ADAC nicht den Autofahrer-/innen allein auflasten. Sie sind von der gesamten Gemeinschaft zu tragen. Andererseits dürfen die Beiträge der Kraftfahrer keinesfalls für andere Zwecke verwendet werden. Die Bereitstellung eines ausreichenden Straßennetzes in Stadt und Land verlangt den Einsatz ungewöhnlich großer Geldmittel. Die Straße ist eine Leistung für die Gemeinschaft. Dennoch ist der Kraftfahrer bereit, dass er für den Straßenbau einen besonderen Beitrag erbringen muss. Der Kraftfahrer ist keine Klasse für sich, er repräsentiert durch die fortschreitende Motorisierung bereits die Masse des Volkes und […] darf sich deshalb auch gegen Sonderpflichten, auch solche steuerlicher Art verwahren (§9)

Zu guter Letzt setzt sich aber auch beim ADAC das Pathos der Idealisierung des Automobils als Gipfelpunkt menschlichen Erfindungsgeistes und gesellschaftlichen Fortschritts durch: Es ist vielmehr einer der bedeutendsten Aufträge der Politik, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es für alle zu einem Segen des technischen Fortschritts wird und dabei seiner schönsten Aufgabe zu dienen vermag: die freundschaftlichen Beziehungen der Menschen und der Völker untereinander zu ebnen und zu vertiefen. […] Die Menschheit hat Jahrtausende gebraucht, bis sie sich durch den Motor der Fron schwerster und vielfach sklavischer Arbeit befreien konnte. Das 20. Jahrhundert ist dabei, diese Entwicklung für Milliarden von Menschen voranzutreiben und im Sinne unserer großen geschichtlichen Entwicklung die Tore zu einem neuen Zeitalter aufzustoßen. Das Automobil ist Symbol und Werkzeug dieses Strebens der Menschheit zu neuen Zielen, die nur auf neuen Straßen erreicht werden können. (§10)

In der Art und Weise, wie der ADAC – ein privater Verein – dem Staat seine Pflichten aufzählt, ja gelegentlich wie der Staat selbst spricht, belegt, wie selbstbewusst und mächtig die Autolobby inzwischen geworden ist. Sie verlangt nicht weniger als die Umordnung von Wirtschaft und Staat im Sinne ihrer Zwecke, die sie unter anderem als den Sinn des Lebens der Einzelnen und als Bestimmung der ganzen Welt erklärt. Die immer weiter steigende Masse an motorisierten Verkehrsteilnehmern-/innen und die für sie geforderte Infrastruktur wird jeder denkbaren Kritik entzogen und

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auf beinahe sakrale Weise zum unhinterfragbaren Maß des Fortschritts, des Wohlstandes, des Glücks der Menschheit schlechthin erhoben. Wenn schon nicht das enthusiastische Pathos, so hat sich doch vieles, wenn nicht alles aus der kurzen Geschichte des Automobils bis in dessen immer problematischere Gegenwart erhalten. Das Auto ist zum unverzichtbaren Bestandteil der Identität des Großteils der Menschen geworden. Daran konnte bisher weder die noch sehr junge und mit geringem Erfolg geführte Diskussion über gesundheitliche Schäden und Umweltschäden noch die jüngste Finanzkrise etwas ändern. Für seine Anschaffung nehmen die Menschen teure Kredite auf, seine Beschädigung oder sein Verlust kann sie in eine tiefe existentielle Krise stürzen. Dass es besser ist, schneller zu sein als bedächtig und langsam, besser, der Stärkere zu sein als nachzugeben und auszuweichen, und dass beides Eigenschaften wahrer Männlichkeit sind, hat sich seit der Faszination der ersten Autorennen auf den gesamten Bereich des Sports und letztlich bis in die Mikroorganisationen der Alltagswelt übertragen. Noch heute werden Autos gebaut und beworben, die doppelt so schnell fahren können als sie fahren dürfen, und sie werden aus diesem Grund gekauft: Nicht um den Rausch der – verbotenen – Geschwindigkeit real zu erleben, sondern um den Wunsch nach Überholung, Überlegenheit und Stärke als erfüllbar zu imaginieren. Geschwindigkeit ist die eine, Komfort die andere Faszination des Automobils. Nicht teuren, unnützen Luxus wie die Adeligen bevorzugten die Bürgerlichen des 19. Jahrhunderts, sondern nützliche Bequemlichkeit, eine behagliche, abgeschirmte, wohnliche Einrichtung der Privaträume, und sie nannten diesen neuen Wohnstil »Komfort«. Dieses neue Lebensgefühl der Geborgenheit auf das Kraftpaket des Automobils zu übertragen, also zugleich regressiv sich einzuhausen und aggressiv sich durchzusetzen, dieses Versprechen, den im Geschäft angespannten Körper und Geist im gemütlichen Heim und im komfortablen Wagen zu beruhigen und zu entlasten, übte einen besonderen Reiz auf die neue gesellschaftliche Führungsschicht aus: »My car is my castle.«173 Autos erhalten einen »wohnzimmergleichen Innenraum, bei dem weder Stereoeinbauten noch die farbliche Abstimmung der Ausstattung fehlen, aus dem Dompteur eines Benzinungeheuers ist der umsorgte Insasse einer Komfortmaschine geworden«174 . Je länger und vor allem je zahlreicher das Automobil in Gebrauch ist, desto mehr enttäuscht es allerdings die mit ihm verbundenen Wünsche: Geschwindigkeit wird beschränkt, Straßen werden zu Stauräumen, ag-

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gressives Fahren führt in den Tod, Komfort hat mit Sicherheitsgurten und Handyverbot und – sowieso – mühsamer Parkplatzsuche seine Grenzen. In krassem Gegensatz zur »freien Fahrt für freie Bürger« befindet sich etwa, was sich Sommer für Sommer auf der Brenner-Autobahn abspielt. Stundenlange Staus erwarten dort die »Zugvögel in den Süden«, Mitte der 1980er Jahr abgebildet auf riesigen Plakaten: »Die Zugvögel wissen schon, warum sie solche Routen fliegen.« Dennoch kommt es zu keiner Reduzierung des motorisierten Verkehrs und auch nicht zu einer sinkenden Attraktivität des Wunschobjektes Automobil. Aufgrund der Umweltprobleme, der Proteste gegen den Bau von Straßen und der Zunahme der Radfahrer meinte Wolfgang Sachs 1990 noch einen »Bruch in der Begeisterungsgeschichte des Autos«175 wahrzunehmen. Diese Diagnose kommt wohl zu früh. Die Anzahl der Automobilisten hat sich in den letzten zwanzig Jahren verzehnfacht, das Auto ist geblieben, was es immer war: Illusion der Geschwindigkeit und Stärke, Prestigeobjekt, Liebesobjekt, Symbol für individuelle Freiheit und Beweglichkeit. Und es ist zusätzlich geworden, was es nicht schon immer war: ein Fahrzeug für Frauen – Fiat Panda: »Eine Auto wie ein Freund« – für Familien und Kinder, Reiche und Ärmere, Stadt und Überland – kein mögliches Marktsegment, keine mögliche Käufer-/innenschicht, die der Produktentwicklung, dem Marketing und der Werbung entkommen würde. Nicht nur ist das Auto zu einem nicht mehr wegzudenkenden Wirtschaftszweig geworden, es hat sich in der Zwischenzeit auch tatsächlich zu einem Verkehrsmittel entwickelt. Aus der Möglichkeit, rasch weite Distanzen zu überbrücken, ist eine Notwendigkeit geworden. Die kulturellen Konnotationen, mit denen das Auto in seiner Geburtsstunde ausgestattet wurde, haften ihm trotz seines inzwischen respektablen Alters von zweihundert Jahren und trotz vieler Veränderungen auch heute noch an. Unbeschadet aller Diskussionen über Umweltschäden, Unfälle und Tote, Staus und Lärm wird von der Seite der Produzenten ein Image des Autos als Medium der Zugehörigkeit zu den besseren, schnelleren, moderneren Menschen aufrechterhalten. Dabei ist mitgesagt, dass dieses Image auch von den Konsumenten weiterhin geschätzt und honoriert wird. Werbung ist ja eine ästhetische Sprache ohne Moral: Sie nützt möglichst alle vorhandenen gesellschaftlichen Wünsche zur Stiftung von Kaufakten. Sie bringt zutage, was es an erkannten und unerkannten Wünschen und Ängsten in einer Gesellschaft eben gibt. Sie kultiviert und ad-

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ressiert diese Sehnsüchte der Menschen und fabriziert Kaufwünsche aus ihnen. Die Kindheit des Autos ist in seiner heutigen öffentlichen Präsentation noch vorhanden, die tatsächlichen Erfahrungen im Umgang mit ihm, die mittlerweile Erfahrungen mit Kontrolle, Einordnung, ökonomischer Überforderung, Bewegungsbehinderung, körperlicher Inaktivität usw. sind, vermochten bisher gegen die intensiven Wünsche nach jenen Erfahrungen, die das Auto lediglich verspricht, aber nicht hält, wenig auszurichten. Diese Anhänglichkeit an die mit dem Auto verbundenen Wünsche funktioniert nicht so, dass es zu einer beeinträchtigten Wahrnehmung der tatsächlichen Erfahrung käme, etwa dass städtische Autofahrer das Maß der Bewegungseinschränkung – z.B. den dramatischen Verlust der Freiheit, stehen bleiben zu können oder das Auto verlassen zu können – nicht wahrhaben würden. Tatsächlich schimpfen Automobilisten ja bei jeder Gelegenheit über die entsetzlichen Verkehrsverhältnisse, die Dummheit der anderen Verkehrsteilnehmer, die Sturheit der Polizei, die Unbeholfenheit der Radfahrer und Fußgänger. Dennoch halten sie die Integrität ihres Autos als Potenz der unbegrenzten individuell freien Beweglichkeit aufrecht. Das Auto bleibt auch in einer immer stärker geregelten Welt und Verkehrswelt für seine Lenker jenes technische Wundermittel, mit dem sich die Wünsche nach unbegrenzter Freiheit weiterhin verbinden lassen, weil es über die dazu notwendigen technischen Möglichkeiten immer noch und immer mehr verfügt, auch wenn deren reale Entsprechungen immer weniger existieren. Die kulturelle Bedeutung des Autos besteht also gerade darin, dass es, im Unterschied zur Arbeits- und Familienwelt, die Möglichkeiten und Voraussetzungen der mit ihm verbundenen Wunscherfüllungen symbolisch zur Verfügung stellt und dadurch eine Simulation real nicht durchsetzbarer Freiheitsträume ermöglicht. Fast scheint es, dass dieser Mechanismus umso besser funktioniert, je mehr die mit dem Auto verbundenen Möglichkeiten im Widerspruch zu der mit ihm erfahrenen Wirklichkeit stehen. Je weniger sie mehr ihre Träume von individueller Ungebundenheit in die Tat umsetzen können, desto mehr wissen es die Bürger der Autogesellschaft zu schätzen, dass diese Träume weiterhin ungehemmt in die Technik und die Ästhetik des Autos übersetzt werden können. Sichtbar wird dieser Widerspruch nur dort, wo Ungezügeltheit und Geschwindigkeitsrausch von Autofahrern als reale Möglichkeiten der Selbstverwirklichung praktiziert werden. Dort sind die Konsequenzen katastrophal. Das naive Ausleben gesellschaftlich

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zugleich angebotener und verhinderter Wünsche führt zur physischen Verstümmelung oder Vernichtung jener Menschen, die die Widersprüchlichkeit der sozialen Ordnungen dieser Gesellschaft nicht erkennen oder nicht anerkennen. »Wunsch und Objekt«, meint Sachs, »sind nicht auf ewig miteinander verheiratet; sie können in Konflikt geraten und auseinanderdriften, bis ihr Verhältnis zerrüttet ist. Die Wünsche ziehen sich zurück, wenn sie auf Dauer enttäuscht und von gegenläufigen Erfahrungen untergraben werden.«176 Da, wie man sieht, sich die Wünsche nicht zurückgezogen haben, obwohl sich die gegenläufigen Erfahrungen häufen, wird man sich nach einer anderen Regel für den Zusammenhang zwischen Wünschen und Erfahrungen umsehen müssen. Es scheint, dass moderne Menschen so zwingend an ihre Wünsche gebunden sind, dass sie gegen ihre Erfahrungen auf diesen Wünschen bestehen. Das bedeutet, dass die Wünsche die eigentliche objektive Wirklichkeit darstellen, der gegenüber die Erfahrung bloß subjektiv, zweitrangig zu werden droht. Gestützt werden diese prekären Identitäten durch Waren wie das Automobil, dessen Beschaffenheit und Ästhetik durch seine wachsende Dysfunktionalität nicht erschüttert wird. Es scheint so etwas wie eine Dankbarkeit moderner Konsumenten gegenüber den offenkundig falschen Versprechungen moderner Produkte zu geben, weil diese zumindest die Berechtigung der eigenen, wider alle Erfahrung bewahrten Wünsche bestätigen. Roland Barthes hat die Autos als die gotischen Kathedralen der Neuzeit bezeichnet, eine Realabstraktion unserer Kultur, wie Peter Czerwinski sagen würde.177 Automobile sind wie manche andere Kathedralen des Konsums – Fernsehgeräte etwa, Computer oder Handys und ihre Abkömmlinge – gegenständlich wahrnehmbare Materialisierungen tiefer Sehnsüchte, die die Erfüllung eines Jenseits des wirklichen Lebens versprechen – die letzten Zeugen für die Wahrheit unserer Wünsche.

4 D ER M Y THOS DER B ILDER Moderne Publikumsmedien178 legitimieren sich nicht wie ihre älteren Vorläufer an der Richtigkeit oder Wichtigkeit ihrer Lehre, sondern als Dienstleistung für ihr Publikum, und konstituieren sich so als weitere Möglichkeit zu dessen Selbstverwirklichung. In Wahrheit verwirklichen freilich die Mediennutzer auch hier nicht sich selbst, sondern die ökonomischen

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und politischen Zwecke der Medien nach Maximierung ihrer Konsumentenzahlen und zur Simulation einer demokratischen Öffentlichkeit. Wie moderne Medien zur Aufrechterhaltung ihres Mythos verfahren, soll im Folgenden am Medium Fernsehen gezeigt werden. Bruno Bettelheim führt die besondere Besorgnis der Öffentlichkeit über den Schaden, den Medien und unter ihnen besonders das Fernsehen bei Kindern anrichten könnten, darauf zurück, dass »historisch gesehen, jeweils das jüngste Medium moralisch unter Druck gerät«. In seiner Kindheit sei es das Kino, in seiner Jugend der Comic gewesen und heute sei es eben das Fernsehen.179 Erkundungen in Bezug auf noch ältere Mediensorten geben Bettelheim recht. So galt etwa gedruckter Lesestoff weit über die Erfindung des Buchdrucks hinaus als äußerst gefährlich: »Est virgo hec penna, meretrix est stampificata«,180 so formulierte der venezianische Dominikanermönch Filippo da Strata im 15. Jahrhundert das Lob der Schreibfeder und die Verdammnis der Hure Buchdruck. Letzterer korrumpiert, »in schlampigen Editionen auf den Markt geworfen«, nach Meinung der Kirchenmänner »den Geist durch Verbreitung unmoralischer und heterodoxer Texte, die sich der Kontrolle durch die Kirchenbehörden entziehen« und er zerstört »die Bildung selbst, befleckt sie, weil er sie den Ungebildeten öffnet«.181 . Insbesondere die sehnsüchtige Hingabe der Frauen an das Lesen von Liebesromanen galt Männern als »Inbegriff von trägem Müßiggang, sinnlichem Vergnügen und heimlicher Intimität«182 . Angesichts der heutigen Situation, in der sich alle Welt um die Rettung des gedruckten Wortes vor der Flüchtigkeit der laufenden Bilder bemüht, wirken derartige Zensuren anachronistisch. Der Hauptabteilungsleiter Kultur des ORF Wolfgang Lorenz versucht sich dem Verdacht, durch Fernsehen komme das Lesen außer Übung, mit dem Kunstgriff zu entziehen, »dass man nicht nur Bücher, sondern auch Fernsehen lesen können muss«183 . Mit diesem Argument befindet sich der Medienvertreter bereits im Bereich der Medienmythen. Deren eine Tendenz besteht in apologetischen Diskursen ja darin, ihre ansonsten als revolutionär neu und alles Bisherige weit in den Schatten stellenden Produktionen als eigentlich bloß eine Fortsetzung des Gewohnten mit anderen Mitteln auszugeben. Nichts Neues vor dem Bildschirm, nichts anderes als ein etwas anderes Lesen, ein Lesen von Bildern, die übrigens, so der Hauptabteilungsleiter in die Tiefe der Urgeschichte blickend, allem Lesen voraus waren, weil »vor der Schrift anderes da war: Der Ton (›Am Anfang war das Wort‹) und das Bild. Mit beidem arbeitet das Fernsehen. Es hat eine Schrift, die älter als die Schrift

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ist, und die, weil sie nur in einem neuen Medium möglich ist, von vielen nicht als solche begriffen wird.«184 Der Medienprofi folgt damit einem Muster der Fälschung, das in der Geschichte der Technik immer wieder dazu gedient hat, die Angst vor Neuem dadurch zu besänftigen, dass man es als ein bloß äußerlich verändertes Altes ausgab. So wurde das Flugzeug als »Luftschiff«, die elektrisch erhitzte Kochplatte als »Herd«185 , die Antriebskraft des Automobils als »Pferdestärke« (PS), der Laserdruck als Schrift und wie wir gesehen haben das Fernsehen als Buch ausgegeben. Diese Tendenz dauert an. Das inzwischen selbst zu gewohnter und damit »guter« Technik avancierte Auto muss nun seinerseits wieder zur Verklärung neuer angstmachender Techniken beitragen, etwa wenn elektronische Netze der Informationsübertragung gegenüber zukünftigen Nutzern als »Datenautobahnen« ausgegeben werden. Die mythische Struktur moderner Publikumsmedien hat Roland Barthes in einem theoretischen Essay,186 der seine Beschreibungen von »Alltagsmythen« abschließt, herausgearbeitet. Der Unterschied zwischen Mythos und Sprache besteht danach in der Hinterlegung einer zweiten »Bedeutung« hinter den »Sinn« einer Aussage. Ein Titelbild von »Paris Match« etwa, auf dem »ein junger Neger in französischer Uniform, den Blick erhoben und auf eine Falte der Trikolore gerichtet«187 erscheint, hinterlegt die offensichtliche Bedeutung (farbiger Soldat erweist den französischen militärischen Gruß) mit einer zweiten, einer Metabedeutung (Frankreich ist ein großes Imperium, dessen Söhne ungeachtet ihrer Hautfarbe treu unter seiner Fahne dienen). Beim »Lesen« des Mythos können die beiden Bedeutungen wieder zerlegt werden. Solche Arten des Lesens »zerstören den Mythos, entweder indem sie seine Intentionen zur Schau stellen oder indem sie ihn demaskieren«188 . In dieser Weise dekonstruktiv verhalten sich Leser-/innen, die durchschauen, dass eine – und welche – Metabedeutung im Spiel ist. Barthes nennt diese Lesart »entmystifizierend«. Ebenso verhält sich aber auch ein Redakteur, der darüber nachdenkt, mit welchem Bild oder Text man Leser-/innen vermitteln könnte, dass Frankreich ein großes Imperium ist usw. Diese Lesart des Mythos nennt Barthes »zynisch«, weil sie die Mythisierung durchschaut, sie aber gegenüber den Lesern-/innen undurchschaubar zu machen beabsichtigt.

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Wirksam im Sinne der Übernahme seiner Bedeutung als Wahrheit wird ein Mythos nur in einer dritten Lesart, die Barthes »dynamisch« nennt: [Wenn ich] das Bedeutende des Mythos als ein unentwirrbares Ganzes von Sinn [= der ersten, sprachlichen Bedeutung, B.R.] und Form [= der zweiten, mythischen Bedeutung, B.R.] ins Auge fasse, empfange ich eine doppeldeutige Bedeutung: ich antworte auf den konstitutiven Mechanismus des Mythos, ich werde der Leser des Mythos; der grüßende Neger ist weder ein Beispiel noch Symbol und noch weniger Alibi, er ist die Präsenz der französischen Imperialität.189

Die dynamische Lesart »verbraucht (wohl besser: gebraucht, B.R.) den Mythos nach den Zwecken seiner Struktur, der Leser erlebt den Mythos in der Art einer wahren und zugleich irrealen Geschichte«190. Um nicht dekonstruiert zu werden, verwandeln Mythen Geschichte, d.h. die Bedingungen ihrer Entstehung und der Entstehung ihrer Bedeutungen, in Natur, in der die Wahrheit des Mythos ewige Gültigkeit hat. »Das eigentliche Prinzip des Mythos«191 ist es, »historische Intention als Natur zu gründen, Zufall als Ewigkeit«.192 Statt als ein System von Bedeutungen, das er ist, will der Mythos als ein System von Fakten gelesen werden, das er gerade nicht ist, aber vorgeben will zu sein: »Der Mythos wird als ein Faktensystem gelesen, während er doch nur ein semiologisches System darstellt«193, er wird »durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge bestimmt«194 . Barthes veranschaulicht die Naturalisierung von Geschichte unter anderem am Beispiel einer Zeitungsnachricht über sinkende Gemüsepreise, die in Wahrheit auf das saisonal steigende Angebot zurückgehen, von »France Soir« aber als Nachweis der Handlungsfähigkeit der französischen Regierung mythisiert werden, oder an der Pariser Ausstellung »La grande famille des hommes« als einer dem »Adamismus« einer geschichtslosen condito humana verfallenen Ästhetisierung des Menschen. Der Mythos ist, »gestohlene Sprache«195, ein »Parasit«196. »Der Mythos kann alles erreichen, alles korrumpieren«, er »ist eine Sprache, die nicht sterben will, er entreißt dem Sinn, von dem er sich nährt, hinterlistig Dauer, er ruft in ihm einen künstlichen Aufschub hervor, in dem er sich behaglich einrichtet, er macht aus ihm einen sprechenden Kadaver.«197 Das durch und durch fiktive Fernsehen mythisiert sich zynisch als wahre Wirklichkeit, und zwar so, dass eine entmythologisierende Lesart

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extrem erschwert, und eine dynamische Lesart im Sinne der Konstruktion des Mythos nahegelegt wird. Das Medium selbst kreiert, verbreitet und naturalisiert diesen genehmen Mythos über sich. McLuhans berühmt gewordener Satz: »The medium is the message«, der aussagt, dass die eigentliche Medienwirkung nicht über die Inhalte, sondern über die durch sie geschaffenen Kommunikationsverhältnisse läuft, erhält durch die Selbstinszenierung der Medien eine zusätzliche Akzentuierung: Das Medium ist nicht nur seine eigene Botschaft, es ist auch sein eigener Inhalt. Die beiden hauptsächlichen Inhalte des Fernsehmythos, die in der Gesamtliturgie dieses Mediums und in zahllosen Teilritualen beständig gefeiert werden, sind seine tatsächliche Ubiquität und seine vorgebliche Realistik. Fernsehen berichtet nicht nur von überall her, es kommt auch überall hin. In einem Staat wie Österreich oder jedem anderen durchschnittlich industrialisierten Land ist es unmöglich, fernsehfrei zu leben. Der eigene heroische Fernsehverzicht wäre hierzu jedenfalls keine geeignete Maßnahme. Man dürfte dann schon die eigene Wohnung nicht mehr verlassen, müsste Fernsehprogrammseiten und -kritiken in Tageszeitungen geflissentlich überschlagen und auch dem Friseur noch verbieten, die nach bereitwilliger Mitentrüstung heischende Frage zu stellen: »Na hams’ des gestern g’sehn?«. Technische Termini wie »Erschließung«, »Reichweite«, »Quote«, »Einschaltziffer« u.Ä. haben sich als meist unhinterfragte Erfolgskriterien einer totalen Fernsehgesellschaft etabliert, die sich anschickt, das Leben der Menschen rund um die Uhr zu »bewirklichen«. Das Um- oder Abschalten, von Medienkritikern wie Medienmachern als Appell – oder als Alibi – eingeführter Verweis auf die Macht der Zuschauer über das Medium, versuchen die Medienfabrikanten auf jede mögliche Weise zu verhindern. Während Zeitungsherausgeber ihre Konsumenten ja nur dazu bringen müssen, die Zeitung zu kaufen, und nicht, sie auch zu lesen, müssen TV-Anbieter in der Konkurrenz um Einschaltquoten und Werbegelder ihre Zuschauer dazu bringen, einzuschalten und eingeschaltet zu lassen. Sie unternehmen daher alles nur Denkbare, um der Katastrophe schlechthin zu entgehen, dem Abschalten. Dieser Tatsache verdankt sich nicht nur das Einfügen von Werbespots in Spielfilme, sondern auch zahlreiche Tricks, deren eigentlichen Zweck die Medienkonsumenten meist gar nicht mitbekommen: etwa das Verschleifen von Text und Musik, den übergangslosen Wechsel der Bilder ohne dazwischengefügte Textansagen bei Nachrichtensendungen, die forcierte Werbung für

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die eigenen mittlerweile schon annähernd vierundzwanzigstündigen Programme oder die zunehmende Parallelisierung der Sendezeiten und Sendungstypen zwischen den konkurrierenden Anbietern. Ebenso konsequent umgibt sich das Medium Fernsehen mit einer Aura der Authentizität, der objektiven und ungeschminkten Darstellung dessen, was wirklich passiert ist, und das nicht nur in den Sendungen des »Reality-TV«, die neben dem Markenzeichen »Wirklichkeit« auch noch jenes der Außerordentlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Seine Realistik inszeniert das Fernsehen nicht nur mehrmals täglich in den Nachrichten, in denen stets betont wird, dass »live«, unmittelbar vom »Tatort« oder direkt »aus dem Kampfgebiet« – wenn irgend möglich mit Geschützlärm im Hintergrund – berichtet wird.198 Stets schwingt dabei die Botschaft mit, dass das Fernsehen für seine Konsumenten überall dort wirklich anwesend ist, wo es etwas zu sehen, zu berichten, zu übermitteln gibt, dass es tatsächlich omnipräsent ist, »unübersehbar, unüberhörbar«, wie etwa der ORF für sein Medium wirbt. In Umkehrung des tatsächlichen technischen Vorgangs der Fernübermittlung von Bildern gibt das Medium vor, seinen Zuschauer direktest- und nächstmöglich an den Ort des Geschehens zu versetzten.199 »Bei uns sitzen sie in der ersten Reihe«, lautete ein Werbeslogan des ZDF. Fernsehen ist Nahsehen. Es ermöglicht die Teilnahme an Realitäten, die sonst selbst denen verborgen bleiben, die sich am Ort des Geschehens befinden. Selbstverständlich ist es niemals die ungeschminkte Wirklichkeit, die auf den Bildschirm kommt, gerade das nicht. Die ungeschminkte Wirklichkeit hat Pausen, lässt warten, gibt nicht überallhin den Blick frei. Die Kamera zoomt, rafft, schneidet, komponiert neu – bis eine Art Wirklichkeitstheater entsteht, das wie die Wirklichkeit aussieht, aber schneller, spannender, actionreicher ist als sie: Fernsehen ist nicht bloß wirklichkeitstreu, es liefert die bessere, die perfektere, die komplettere, die wirklichere Wirklichkeit, die im Vergleich zur alltäglichen, außermedialen wirklichkeitsnähere Erfahrung: »Wo man’s erfährt«, heißt es im TV-Magazin »Kurier«. Printmedien aller Art wirken inzwischen dort, wo sie Fernsehen analysieren oder auch kritisieren, an dessen Strategien der Herstellung einer mythischen Äquivalenz zwischen medialer Fiktion und außermedialer Realität mit. In dem folgenden Text der Gewerkschaftszeitung »Solidarität«200 etwa ist auf keine Weise mehr zu entschlüsseln, ob alte Menschen zu Recht oder zu Unrecht Angst vor steigender Kriminalität haben. Unter

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dem Bild einer ängstlich aus einem Fenster blickenden älteren Frau steht dort zu lesen: Wir leben in einer blutrünstigen Welt: Jede Minute wird ein Mensch ermordet. Erschossen, erschlagen, vergiftet. Dieser Mord multipliziert sich mit den Schlagzeilen der Presse. Und vermischt sich mit erfundenen Morden. Auch die Fernsehkommissare wollen leben: Ständig schleichen Mörder ums Haus. Das alles ergibt ein beunruhigendes Bild. Wir haben Angst. Auch am Tatort Österreich.

In »America’s Most Wanted«, seit 1988 bei FOX ausgestrahlt und damit die am längsten laufende Sendung in der Geschichte des Fernsehens, werden nach dem Vorbild von »Aktenzeichen XY« Verbrechensszenen brutal und aggressiv nachgestellt und wie Krimis inszeniert, wobei die Opfer, soweit sie noch am Leben sind, selbst als Darsteller auftreten. Dabei wird gezielt offengelassen, wieweit die Inszenierung der Realität entspricht oder fiktive Inszenierung ist: »Die Morde sind echt, die Schwerverletzten, das Blut, die Rettungsleute sind es auch. […] Flimmern bald reale Verbrechen statt erfundener Szenen über unsere Bildschirme? […] Heute Vision, morgen Wirklichkeit. Oder eben beides.«201 – »Wir wollen Menschen fangen«, rechtfertigt ein FBI-Sprecher die raffinierte Vermengung von Unterhaltung und Verbrechen, »es stört uns nicht, wenn die Zuschauer gleichzeitig unterhalten werden.« Die beiden Filme »Dave« und »Forest Gump« spielen auf unterschiedliche Weise mit der Ambivalenz von Fiktion und Realität. Während bei »Dave« die gesamte Kulisse hundertprozentig der Realität entspricht202 und echte Senatoren und Journalisten sowie Arnold Schwarzenegger als sie selbst im Film auftreten, wird in »Forest Gump« der Filmheld so perfekt in unterschiedliche Dokumentaraufnahmen hineinkopiert, dass für die Betrachter die perfekte Illusion etwa einer tatsächlichen Ehrung für Verdienste um den Vietnamkrieg durch L.B. Johnson zustande kommt, bei der der Titelheld dem Präsidenten seinen verwundeten Hintern zeigt. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Ob in ein- und derselben Nummer des SPIEGEL203 der reale Kopf des durch einen »Todesschuss« (Titelschlagzeile) gestorbenen RAF-Mitglieds Grams und dessen lebender Kopf als Ziel hinter einer Schießscheibe nach Muster des Tatort-Trailers auftaucht oder eine – fingierte? – KURIER-Leserin sich beschwert, dass »kein Dallas-Star an Miss Ellies Grab« gewesen sei, es geht immer um dasselbe: um die »Alchimie der Bilder«204 , die mythische Verwandlung von Fiktion in Realität.

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Diese Alchimie der Bilder ist in einem bedeutend höherem Maße gelungen, als eine durch und durch mediatisierte Gesellschaft noch wahrhat. Der nach wie vor aussagekräftigste Beleg hiefür ist das sogenannte »Geiseldrama von Gladbeck«. In dieser norddeutschen Stadt hatten 1988 zwei Bankräuber zwei Bankangestellte und zeitweilig einen ganzen Autobus als Geiseln genommen und der Polizei eine Verfolgungsjagd durch Teile Deutschlands bis über die holländische Grenze geliefert. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang: Die Gangsterjagd spielte sich vor den Augen der Fernsehöffentlichkeit ab. »Zwei Bankräuber aus dem Ruhrgebiet«, so DER SPIEGEL, »setzten das öffentlichste Verbrechen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte in Szene.«205 Diese Interpretation des Geschehens ist streng nach Barthes’ Analyse mythisch: DER SPIEGEL stiehlt den beiden Räubern den ursprünglichen Sinn ihrer Untat – und noch schlimmer: den Opfern den ursprünglichen Un-Sinn ihres Todes – und verleiht dem verübten Verbrechen eine neue Bedeutung als Inszenierung eines Verbrechenstheaters für das Publikum. Eben dieses Publikum hat diesen Mythos in seiner zweiten Bedeutung für wahr gehalten und sich in unterschiedlichen Rollen an der Inszenierung beteiligt, ohne die Gefahr zu beachten, in die es sich dabei selbst oder andere in der Realität hinter der Inszenierung brachte: Selbst als die Verbrecher bereits eine Geisel brutal umgebracht hatten, umringten noch hunderte Zuschauer den Bus. Dutzende Privatautos folgten dem Verfolgungskonvoi, Journalisten betätigten sich als Kuriere, Reporter interviewten die Geiselnehmer, Amateurfunker übermittelten ihnen die Entschlüsselung des Polizeicodes, Photographen ersuchten die Gangster, mit ihrer Geisel für ein Foto zu posieren: Handlungsweisen, die nur verständlich sind, wenn man annimmt, dass sich die Beteiligten in der – extrem gefährlichen – außermedialen Realität so verhielten, als würde es sich bloß um deren mediale Aufführung handeln, die ja gleichzeitig inszeniert wurde. Gewiss hätte dieses »bireal« wahrnehmende Publikum206 auf Anfrage zwischen dem realen Verbrechensverlauf und dem medialen »Geiseldrama« unterscheiden können. Das Eigentliche an der durch das Fernsehen hervorgerufenen birealen Wahrnehmungsweise besteht nicht in der kognitiven Ununterscheidbarkeit der beiden Wirklichkeitsansprüche. Vielmehr gleichen sich, vermittelt durch die Allgegenwart und die Wirklichkeitstreue des Mediums, die durch die außermediale Realität hervorgerufenen Wahrnehmungsmodi, Emotionen und Handlungsimpulse denjenigen an, die bei den gewohnheitsmäßigen Betrachtern medialer In-

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szenierungen bestimmter Ereignisse wie Verbrechen, Liebesbeziehungen, Krieg, Familie, Politik usw. hervorgerufenen werden. Vormediale Wahrnehmungsweisen und Handlungsimpulse wie Furcht, Flucht, Gegenwehr, Abscheu usw. gehen verloren und werden durch mediale wie Spannung, Voyeurismus, Erlebnisintensität, Angstlust usw. abgelöst. Die psychischen Entsprechungen der beiden unterschiedlichen Realitäten werden so identisch, die Wirklichkeit außerhalb des Mediums wird zur Bühne, auf der die im Medium gelernten Drehbücher aufgeführt werden können. Verschiedene Zeitungen kommentierten die Geiselnahme von Gladbeck ähnlich wie einen Film über das Verbrechen: »Hätte ein Drehbuchautor dies als Film ersonnen, er hätte sich lächerlich gemacht.«207 Konsequent übertitelte der STERN208 das Unhappy-End des Dramas, bei dem eine zweite Geisel ums Leben kam, in Analogie zu einem bekannten Western: »High Noon auf der Autobahn.« Der dramatische Rammversuch der Polizei wäre freilich nicht nötig gewesen, wenn diese durch die Mediatisierung der Verfolgungsjagd nicht bereits zu sehr unter öffentlichem Erfolgdruck gestanden hätte, um die Verbrecher noch ziehen lassen zu können, wie sie es als Voraussetzung der Freilassung der Geiseln verlangten. Ein ähnlich massives Beispiel für die Mythisierungskapazität des Fernsehens ist die Berichterstattung über den Golfkrieg, den ein amerikanischer Journalist zu Recht als die »Schlacht der Lügen« bezeichnet hat.209 Dem Mythos der Wirklichkeitstreue des Fernsehens wurde in so hohem Maße geglaubt, dass die Verfälschung der Kriegsberichterstattung – in Österreich unter dem Western-Motiv »Entscheidung am Golf« aufgeführt – erst nach Beendigung des Krieges Zug um Zug an den Tag kam.210 Unwahrheiten, die das Medium als Wahrheiten ausgibt, kann, wenn überhaupt, nur mehr mit äußerster Anstrengung wirksam widersprochen werden. Obwohl etwa in Österreich seit Jahren die Kriminalitätsrate insgesamt und auch die Rate der Jugendkriminalität rückläufig ist, verbreiten Medien aller Art das Gegenteil. Eine Horrormeldung über dramatisch steigende Gewalt an Schulen, von Jugendlichen, von Kindern usw. jagt die andere. Die Übernahme dieser »medialen Wandersage«211 durch die Öffentlichkeit ist inzwischen so nachhaltig gelungen, dass die gegenteilige Wahrheit nicht nur kaum in einem Medium unterzubringen ist, sondern auch kaum mehr von jemandem geglaubt wird. Rechtsgerichtete Kräfte in Polizei und Justiz haben inzwischen ihre Strategie darauf eingestellt. Sie manipulieren selbst die Kriminalitätszahlen nach oben, um die personelle und materielle Ausstattung der Sicherheitskräfte zu erreichen.212

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Alles in allem ist die Mythisierung des Fernsehens als Quelle zutreffender und objektiver Botschaften von der Wirklichkeit weitgehend gelungen. DIE ZEIT213 berichtet von einem Experiment amerikanischer Psychologen: Rund hundert Versuchspersonen wurden im Abstand von drei Jahren gefragt, woher sie erstmals vom Challenger-Unglück erfahren hätten. Bei der zweiten Befragung antworteten doppelt so viele Personen, dass sie davon durch das Fernsehen erfahren hätten. Die Interpretation der ZEIT: »Wahrscheinlich haben die Probanden die schrecklichen Szenen später immer wieder auf dem Bildschirm gesehen, bis diese sozusagen Ereignischarakter hatten. Außerdem hat sich wohl der Glaube verfestigt, dass wir Schreckliches gewöhnlich aus dem Fernsehen erfahren.«214 Fernsehen ist im Bewusstsein des Publikums so präsent, dass es andere Quellen der Wirklichkeitserfahrung im Bewusstsein der Medienkonsumenten überblendet und auslöscht. Für den gegenteiligen Prozess indessen, Medienbotschaften zu dekonstruieren, indem deren mythische Konstruktion durchschaut und der Sinn der Ereignisse vor dem mythischen Diebstahl wiederhergestellt wird, ist außer höchst marginalen Zugeständnissen einer Selbstkontrolle der Medien und einer weitgehend selbst mythischen, weil moralisch-heroisch argumentierenden und ihre eigene pädagogische Potenz bei weitem überschätzende Medienpädagogik215 weit und breit wenig zu bemerken. Seit Roland Barthes’ bahnbrechender Befreiung der Mythentheorie aus den Fesseln einer überwunden geglaubten Formenanalyse ferner Vergangenheiten haben sich bisher vor allem die Techniken der Mythisierung und deren dynamische Lesarten perfektioniert. Die Verfahren der Entmythologisierung, der »Aussöhnung des Wirklichen und des Menschen«216 lassen dagegen auf sich warten.

V Gegenwartsgeschichte

Von den Vorhaben der Historie ist die Folgerung von Rückschlüssen aus der Vergangenheit für die Gegenwart die schwierigste. Der allgemeinste Horizont, um den die Fragen nach einer Methodologie der Anwendung historischer Forschung auf Probleme der Gegenwart kreisen, lässt sich in eine scheinbar recht einfache Frage kleiden: Wie kommt man von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück – und weshalb soll man sich diese Mühe machen? Nur auf den ersten Blick wirkt diese Frage einfach. Bereits auf den zweiten enthält sie eine Reihe weiterer Fragen, in denen die hinter ihr steckende Komplexität sichtbar wird: Weshalb eigentlich ist es notwendig oder sinnvoll, von der Gegenwart in die Vergangenheit zu gehen? Weshalb muss es eine über die gegebene Erinnerung hinausgehende Historiographie geben, die das Erinnerte bestätigt oder korrigiert, Vergessenes ins Bewusstsein zurückholt, solchermaßen wiedergewonnene Vergangenheit als Modell für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln oder als Warnung vor einer Wiederholung der Geschichte einstuft oder faktische Berufungen auf »die Geschichte« als legitim oder als willkürlich bewertet? Wie, andererseits, ist das Verhältnis zwischen dem Gewesenen und dem Bestehenden? Lässt sich, und wie lässt sich, das eine aus dem anderen erklären, oder gibt das eine bloß die Filter für die Wahrnehmung des anderen ab? Können wir unsere Geschichte originalgetreu rekonstruieren oder konstruieren wir stets Vergangenheiten, die zu unseren Gegenwarten passen? Ist Geschichte eine Last, ein Auftrag, eine Ermunterung oder bloß die vom Fortschritt der Zeit überholte Vorzeit? Geht es nur um die oberflächliche Befriedigung eines Gefühls, irgendwo hergekommen zu sein?

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Schon in frühester Zeit und auf allen Stufen der Zivilisationsentwicklung gehört die Suche nach den Ursprüngen zu den fundamentalen Beschäftigungen des Menschen. Im Allgemeinen wird dies Bedürfnis, das eigene Spiegelbild in den tiefen Wassern der Vergangenheit wiederzufinden, mit recht mäßigem Aufwand befriedigt. Zwar wollen alle gebildeten Menschen unserer Zeit gerade so wie ihre Vorfahren wissen, woher sie kom men, da sie schon nicht wissen, wohin sie gehen, doch in der Regel genügen schon wenige Hinweise auf die Vergangenheit der Großaffen, um die meisten von ihnen zu beruhigen.1

Vergangenes Wissen wird regelmäßig von einem neuen, angeblich »besseren« Wissen überholt, das das alte durch adäquatere Problemerfassung und geeignetere Methoden zu übertreffen vorgibt. Das überholte, das jeweils »vor-letzte Wissen« wird »nicht nur vergessen, sondern offenbar so exkommuniziert, dass es dem Status der Nichtexistenz gleichkommt«.2 Dieter Lenzen nennt diesen Vorgang »Annullierungsmechanismus« oder »Wissensvernichtung«, ein »permanenter Prozess der Geschichtsvernichtung, der durch positivistische Geschichtsschreibung und Museumsgründungen nicht kompensierbar ist«. Das alte Wissen, das »Antiquum« wird im psychoanalytischen Sinn abgewehrt oder nach kurzer Trauerarbeit als erledigt betrachtet. Stattdessen plädiert Lenzen dafür, »an den Beständen festzuhalten und dennoch weiterzugehen«3. Angemessenes Wissen über den Menschen lässt sich nicht durch die Korrektur des jeweils älteren durch das jeweils neuere Wissen hervorbringen, sondern durch den achtsamen Umgang mit dem in ihrer Geschichte je hervorgebrachten Wissen der Menschen über sich. Die gängigen Paradigmen historiographischer Epistemologie zur Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart neigen dazu, entweder einer optimistischen Forschungslogik zu folgen oder einer pessimistisch-apokalyptischen Untergangslogik. Der Fortschrittslogik liegt ein lineares Zeitmodell zugrunde, das auf ein positives Ende zusteuert. Vergangenheit wird als überholt, Gegenwart als aktuell und aus der eigenen Problemlösungskapazität bewältigbar, Zukunft als prognostizierbar und aufgrund dieser Prognosen beherrschbar konzipiert. In dieser strengen Form kann diese Fortschrittslogik freilich heute, nach zwei Weltkriegen, nach den nicht mehr wegzuleugnenden Schadensfolgen des Fortschritts in Bezug auf die Umwelt, angesichts der vielen kaum zu lösenden Zukunftsprobleme usw. kaum mehr offen vertreten werden. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass nicht hinter so manchen theoretischen, praktischen und politischen

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Denkmodellen noch eine solche Logik steckt, auch wenn sie nicht mehr in dieser Eindeutigkeit artikuliert wird. Tatsächlich dürfte diese Konstruktion in der westlichen Welt noch immer ein höchst einflussreiches Denk- und Handlungsmodell sein. Fortschritt meint auch das Fortschreiten, das SichEntfernen von bisheriger Erfahrung und überkommenem Wissen, das überholt sei und überholt werden müsse. »Das hieße Geschichtsschreibung aus dem Interesse an der Vernichtung von Geschichte.«4 Eine apokalyptisch-pessimistische Geschichtsphilosophie entspricht dem Fortschrittsmodell mit einer entscheidenden Ausnahme: Sie befürchtet ein negatives Ende der Geschichte. Anstelle eines optimistischen Ausgangs des linear konzipierten Zeitverlaufs wird ein katastrophaler angenommen. Aufgrund der vielen beängstigenden Zukunftsprognosen gewinnen apokalyptische Denkmodelle derzeit wohl an Einfluss. Wenn auch aus einem anderen Grund, sind die Konsequenzen dieses Modells für den Umgang mit Geschichte dieselben wie beim Fortschrittsmodell: Geschichtsvernichtung, diesmal nicht wegen der Überlegenheit des gegenwärtigen Wissens, sondern wegen der Sinnlosigkeit jeglichen Wissens. Zwischen diesen beiden Extremen hält sich die Idee, dass die Menschen imstande seien – oder doch sein sollten – aus der Geschichte zu lernen. Dieses Denkmodell nimmt das Ende der Geschichte weder im positiven noch im negativen Sinn vorweg, es wird weder ein abstrakter Fortschritt noch eine abstrakte Katastrophe als Ziel der Menschengeschichte angenommen, diese Frage wird vielmehr offen- bzw. weggelassen. Insofern die Gegenwart Fehlentwicklungen der Vergangenheit wiederholt oder insofern in der Vergangenheit Entwicklungen zu finden sind, die zur Lösung von Gegenwartsproblemen beitragen können, soll Vergangenes als Warnung oder Vorbild für gegenwärtige Entwicklungen genommen werden. Zukunft wird als machbare Größe gedacht, deren Gelingen gerade von der Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, abhängig ist. Dieses Modell nimmt also die Brüchigkeit der modernen Fortschrittslogik bereits wahr, hält aber an der grundsätzlichen Möglichkeit des Fortschritts fest, sofern die Menschen bereit sind, die Irrtümer der Vergangenheit einzubekennen und auf deren Errungenschaften aufzubauen. Die »Hoffnung einer Wiederherstellung des Vergangenen« wäre freilich entweder »naiv […] oder nostalgisch oder beides«.5 Die Beendigung der Wissensvernichtung durch »Wissenshege«6 erfordert eine Reflexion über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die über die gegenwärtig dominierenden Logiken des Fort-

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schritts oder Untergangs ebenso hinausgeht wie über die Hypostasierung der Geschichte als Lehrmeisterin der Zukunft. Es gehe, so Lenzen, »um eine (historiographisch zu sichernde) Melancholie, die ihre Anlässe in der Vorwegnahme der Nachgeschichte von etwas findet«7. Dieses von Lenzen mit Bezug auf Mattenklott8 und Benjamin9 entwickelte Modell entzieht sich sowohl der Linearität der Zeit als auch dem Dualismus von fortschrittlich oder apokalyptisch. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erweist sich als zu stark vereinfachendes Schema der Zeiterfahrung. Jeder dieser scheinbar abgeschlossenen Zeitmodi verweist auf grundsätzlich nicht abgeschlossene und abschließbare Handlungs- und Wahrnehmungsweisen menschlicher Existenz. Jede Vergangenheit war einmal Gegenwart und jede Gegenwart wird einmal Vergangenheit sein. In jeder dieser vergangenen oder gegenwärtigen Gegenwarten wurde oder wird eine Vergangenheit erinnert und eine Zukunft erwartet. Mit anderen Worten: Niemals ist etwas endgültig vergangen oder endgültig zukünftig; keine Gegenwart ist jemals ohne Zusammenhang mit der Gegenwart vor und nach ihr; Gegenwart konstituiert sich als erinnerte Vergangenheit, gegenwärtige Erfahrung und erwartete Zukunft. Alle diese drei Modi der Erfahrung sind gegenwärtig, so sehr sie erinnertes Vergangenes und erwartetes Zukünftiges enthalten. Eine melancholische Historiographie reflektiert die Differenz zwischen erwarteter Zukunft und erinnerter Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart. In der Gegenwart erwartete Zukunft trifft niemals so ein, wie sie erwartet wird, und in der Gegenwart erinnerte Vergangenheit wird so als Epoche nicht eingelöster Zukunftserwartungen erkennbar. Es gibt stets einen Überschuss an Hoffnungen und Befürchtungen, auf die sich die Melancholie als »Treue der Schwermut zum Ungewordenen«10 richtet. Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Geschichte also, meint Lenzen, dürfte die Trauerarbeit um die verlorenen Hoffnungen und – so füge ich hinzu – die Erleichterung bezüglich der nicht eingetroffenen Befürchtungen nicht vergessen oder verdrängen, sondern »das vergangene Antiquum für seine Realisierung in der Zukunft retten«11 . Die Geschichte hat etwas Visionäres und zugleich etwas Revisionäres. »Die melancholisch sich zum Antiquum, zum alten Wissen, zu den überholten Methoden und zu den überlebten Haltungen sich zurückbeugende Bewegung entspringt der Treue zum Niemalswerdenden.«12 Insofern Zukunftserwartungen niemals so eingelöst werden, wie sie erhofft werden, kann der Lebensmut der Menschen nur auf dieser

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Treue, d.h. der Bewahrung der Hoffnung auf das Niemalswerdende, gebaut werden. Nur wenn keine Gegenwart je fälschlich als komplette Einlösung von an sie in der Vergangenheit gerichteten Erwartungen ausgegeben wird, bleibt Zukunft möglich: als Raum, in dem noch eingelöst werden kann, was sich bisher als unerfüllbar erwiesen hat. »Die Vergangenheit« (als Träger unserer uneingelösten Zukunftshoffnungen, B.R.), sagt Benjamin, habe Anspruch auf unsere »schwache messianische Kraft«, die Überlieferung dürfe nicht vom Konformismus (der jeweiligen Gegenwart, B.R.) überwältigt werden.13 Ein melancholisches Geschichtsverständnis ist der Versuch, die Gegenwart in der Schwebe zwischen vergangenen Zukunftshoffnungen und zukünftigen Vergangenheitsbewältigungen zu halten und auf diese Weise die Hoffbarkeit der Zukunft aufrechtzuerhalten. Für die Historiographie bedeutet dies eine gegenwartsbezogene Annäherung an die Vergangenheit als Trägerin uneingelöster Zukunftshoffnungen, die vor allem anderen nach dem Vergessenen, Ausgeschlossenen, Verdrängten zu fragen hat, weil sich darin die verlorenen Hoffnungen – und Bedrohungen – der Zukunft verbergen. Nicht aus der Geschichte zu lernen, die ein für alle Mal erkannte Geschichte als Antwort unseren Fragen anzugleichen, ist das Ziel der Bemühungen, sondern unsere heutigen Fragen als Anspielungen auf vergessene geschichtliche Antworten zu verstehen. Vergangenheit als verflossenes Leben und versiegtes Wissen von und über Menschen wird nicht als solche, sondern als Hinterlassenschaft von in der jeweiligen Gegenwart uneingelösten und für die Zukunft aufzubewahrenden Lebenshoffnungen und Lebensängsten zum Gegenstand einer als Gegenwartsgeschichte verstandenen anthropologischen Historiographie. Einem im Wortsinn relativistischen, d.h. auf dem beziehungsreichen Zusammenhang zwischen den Zeiten eher als auf einer kausalen Bedingung des Gegenwärtigen durch das Vergangene und des Zukünftgen durch das Gegenwärtige beruhenden Geschichtsbegriff entspricht eine Auffassung der Repräsentation des Gewesenen in der Erkenntnis der Gegenwärtigen, welche die originalgetreue Überlieferung einstiger Tatsachen methodologisch in Frage stellt. Wie Lenzen an einem Vergleich historiographischer Repräsentationsansprüche zeigt, überwiegen in der Geschichte der Geschichtsschreibung jene Epochen, in denen »die Polarität zwischen Ereignis und Erzählung, zwischen Realität und Fiktivität«14 zugunsten des jeweils Letzteren der Begriffspaare entschieden wurde, bei weitem. Für die Antiken, deren Geschichte heutige Historiker untere Be-

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achtung einer möglichst genauen Rekonstruktion der Tatsachen zu schreiben versuchen, war diese Art historischer Wahrheit kein erstes Anliegen. Aristoteles und Cicero begründeten die Faktentreue der historischen Überlieferung nicht mit dem höheren Wahrheitsanspruch, sondern mit ihrer größeren Überzeugungskraft, der römische Rhetoriklehrer Quintilian15 gab der Überzeugungskraft sogar den Vorrang vor der Wahrheit. Und selbst der griechische Rhetoriker Lukian,16 der auf der strengen Wahrhaftigkeit des Dargestellten bestand, betrachtete diese nicht als Wert für sich, sondern als didaktisches Erfordernis, weil nur so die Geschichte zur Lehrmeisterin des Lebens werden könne. Das war im Mittelalter nicht viel anders. Erst mit dem Rationalismus Descartes tritt die wahrheitsgetreue Erforschung der historischen Fakten in den Vordergrund. Damit beginnt die Auseinandersetzung um die beiden »großen Zugehensweisen auf die Geschichte«17, die wahrheitsgetreue Nachbildung der Geschehnisse und ihre dichterische Nacherzählung, wenn nicht Nacherfindung. Der Kern dieser Debatte besteht darin, dass sie nicht um zwei Alternativen geführt wird, zwischen denen man sich so oder so entscheiden könnte. Vielmehr wird die Forderung nach originalgetreuer Repräsentation vergangener Ereignisse methodologisch bezweifelt. Die Möglichkeit einer objektiven, von jeder subjektiven Deutung befreiten Interpretation menschlicher Handlungen besteht nicht einmal zum Zeitpunkt des Geschehens. Schon gar nicht ist es möglich, sie in späteren Zeiten von der Subjektivität sowohl der historischen als auch der historiographierenden Subjekte zu befreien. Narrativität, als Element der Konstruktion der Sinnhaftigkeit von Geschichten und Geschichte, und Fiktion als Element der Erfindung des Vergangenen mit den Mitteln des Gegenwärtigen sind vielmehr »in jeder geschichtlichen Erfahrung schon immer am Werk«18. Aufgrund der positivistischen Verengung des modernen Denkens neigen wir dazu, die grundsätzliche Fiktivität der Wahrheit, wenn nicht als falsche Unterstellung, als Defekt menschlichen Erkenntnisvermögens anzusehen. Nichts aber wäre unmenschlicher als eine objektive Erkenntnis. Erst die grundsätzliche Subjektivität aller menschlichen Wahrheit macht zwischenmenschliche Kommunikation über unterschiedliche Wahrheitsansprüche möglich und notwendig. In einer Welt objektiver Fakten gäbe es nichts zu reden. Menschliches Zusammenleben beruht konstitutiv auf der Fähigkeit, zu deuten und zu irren. Konsequenterweise plädiert Lenzen dafür, die Poetik der Historiographie nicht als bedauerliches Übel, sondern als methodologisches Prinzip zu verstehen, »den fiktionalen Gehalt

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der historischen Rede nicht zu verheimlichen oder als reines Darstellungsproblem zu verschleiern, sondern das Maß der Fiktionalität von anderen Kriterien abhängig zu machen«. Als solche Kriterien benennt er »die Problematisierung vertrauter Fragestellungen« und die Fähigkeit, »die Künstlichkeit der Menschentatsachen bemerkbar zu machen«.19 Ein positivistischer Wahrheitsbegriff des bloßen »Feststellens, was ist« ist nicht nur in der modernen Kultur einer unendlichen, von keiner natürlichen oder künstlichen Intelligenz mehr einholbaren Zahl von Fakten und Faktizitätsansprüchen unangemessen, sondern im Blick auf die aller Wahrheitssuche innewohnenden Prozesse der Bedeutungsbildung und der Beziehungsstiftung selbst fiktiv. Die »Fakten«, die der Geschichtswissenschaftler oder der Anthropologe findet, sind stets Fiktionen, ob es sich um einen prähistorischen Knochenfund, eine frühe Felszeichnung, eine mittelalterliche Stiftungsurkunde, ein barockes Deckenfresko, ein intimes bürgerliches Tagebuch oder eine moderne Bevölkerungsstatistik handelt. Stets geht es um Versuche, die Wechselfälle und Zufälle menschlicher Lebensprozesse auf irgendeine Art und Weise in Ordnung zu bringen, zu legitimieren oder zu kritisieren. Stets steckt ein ausgesprochenes oder ein unausgesprochenes Interesse hinter der Interpretation auch noch so »objektiver« Fakten. Der archimedische Punkt, jener feste Ort, von dem aus die Erde bewegt werden kann, wird auch in der Geschichte der Menschen nicht gefunden werden können. Wie weit jede Art von Historiographie einer »Poetik der Geschichte« verhaftet ist, hat der amerikanische Theoretiker der Geschichtswissenschaft Hayden White in seiner Theorie der »Metahistory« systematisch gezeigt. Seine Aufsatzsammlung »Tropics of Discourse« erhielt in der deutschen Übersetzung den treffenden Titel: »Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen«. Klio ist, wie sich Kenner der griechischen Mythologie erinnern werden, die Muse der Geschichtsschreibung.20 Die Provokation der Einsicht in die Fiktivität der Geschichte, so Lenzen in einem anderen Zusammenhang, besteht darin, aus der Auffassung, dass positivistische Historiographie nicht mehr möglich sei, die Konsequenz zu ziehen, dieses auch gar nicht zu versuchen, sondern Geschichte ex post gezielt zu fingieren. Dies wäre die extremste Fassung einer möglichen Konsequenz der Diskussion über das Verhältnis von Realität und Fiktionalität in der Historiographiedebatte der Geschichtswissenschaften. 21

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So weit wird die hier intendierte Methodologie einer historischen Anthropologie nicht gehen. Vielmehr soll der grundsätzlichen Fiktionalität aller gegenwärtig denkbaren Erkenntnisse von und über Menschen dadurch Rechnung getragen werden, dass eben diese Fiktionen als ihr eigentlicher Gegenstand bestimmt werden: Gegenstand historisch anthropologischer Erkenntnisbemühungen ist nicht die objektive Faktizität vergangener Ereignisse, sondern deren je subjektive Repräsentation durch Menschen unterschiedlicher Lebensumstände, Auffassungsweisen und Erkenntnisinteressen. Menschliche Geschichte kann nur als erzählte Geschichte erforscht und nur als nacherzählte Geschichte tradiert werden. Die folgenden Annäherungen an auf unterschiedliche Vergangenheiten bezügliche Gegenwartsgeschichten greifen das grassierende Dilemma zwischen Fortschrittsglaube und Untergangsängsten nochmals auf und an. Dietmar Kampers ebenso tiefgreifender wie pessimistischer Gegenwartsanalyse wird eine aus der Geschichte der Angst entwickelte Rehabilitierung der Furcht gegenübergestellt. Zuletzt wird auf eine Megastruktur verwiesen, von der mit gutem Grund behauptet werden kann, dass sie für viele der in diesem Buch behandelten Phänomene und Entwicklungen einen einflussreichen Hintergrund abgibt: die Sehnsucht und Verpflichtung der Menschen zu immer größerer Vervollkommnung ihrer selbst, ihrer Beziehungen und Handlungen, ihrer Welt. Nicht in der Erfüllung dieser Vollkommenheitsverpflichtung, sondern in der Absage an sie, im Aushalten statt Ausschalten des Unvollkommenen wird die Chance einer menschlicheren Zukunft der abendländischen Menschen gesehen.

1 J ENSEITS DES M ENSCHEN Eine übliche Annäherung an das Anliegen der Menschenbeschreibung lautet z.B. wie folgt: Die Zeit ist in mehrfacher Hinsicht reif, sich auf ein allgemeines Menschenbild zu besinnen, will den Gesellschaften nicht die Orientierung, ihren Wissenschaften die Sinnhaftigkeit abhanden kommen. Was frühere, im Nachhinein als dunkel oder hell bewertete Zeiten vermocht haben, sich immer wieder ihres Menschenbildes gegenwärtig zu werden und so mit Hilfe von Kultur und Sittlichkeit die Gossennatur des Menschen zu überwinden, geht im augenblicklichen Wust aus Kulturverlust und Alltagsüberformung unter. 22

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Ähnlich lautende Belege einer Beschwörung des Allgemeinmenschlichen zur Rettung der Menschheit gehören seit langem zu den Standardformulierungen der Wissenschaftsdisziplin, die sich den Namen »Anthropologie« gegeben hat. In der jüngsten Zeit sind derart entschlossene Aufforderungen, sich zur Rettung der Menschlichkeit auf das Wesen des Menschen zu besinnen, selten geworden. Die hochtrabende Hoffnung, das Menschliche könne aus einer allgemeingültigen Beschreibung dessen abgeleitet werden, was der Mensch ist und immer schon war, schwindet. Gegen sie spricht die länger werdende Liste von abgetanen Wesensbestimmungen des Menschlichen ebenso wie die große Zahl gleichzeitig existierender Menschenkonstruktionen in verschiedenen Kulturen, Ideologien, Religionen, Philosophien, Theorien und privaten Lebensweisheiten. Zu größter Vorsicht mahnt auch das ungeheure Ausmaß an Ausgrenzung, Verfolgung, Leid und Tod, das im Namen der Verteidigung allein richtiger Wahrheiten über den Menschen angerichtet oder durch sie ins Recht gesetzt worden ist: Sklavenhaltung und Imperialismus in der Antike, das Martyrium der Christen, die Verfolgung der Juden, die Ausrottung indigener Bevölkerungen, die Grausamkeit der Kolonisatoren, Glaubenskriege und Fundamentalismus der Religionen, die Herrenideologie der Faschisten, Rassenverfolgung und Genozid, Verachtung und Unterdrückung von Frauen, Kindern, Behinderten, Fremden – unzählig sind die Beispiele für Verfolgung, Vernichtung, Krieg und Gewalt, die im Namen allein wahrer Menschenbilder begangen, durch sie mitverursacht oder legitimiert wurden. Nach zwei weltumspannenden Kriegen und der unfassbaren Unmenschlichkeit des Holocaust lässt sich die Frage nach den Menschen nicht mehr in der Hoffnung stellen, die ruhmreiche Vorgeschichte des Geschlechtes der Menschen als Fortschrittsgeschichte in die Zukunft fortzuschreiben. Die Frage nach dem Menschen entsteht vielmehr aus der Beunruhigung der Menschen über sich selbst, aus ihrer Ratlosigkeit, aus der Unsicherheit darüber, was ihre Bestimmung und ihr Schicksal ist, wer sie sind und wohin sie gehen. Der Berliner historische Anthropologe Dietmar Kamper setzt an die Stelle der euphorischen Anthropologie des Fortschritts eine skeptische Analyse der Lage der gegenwärtigen Menschen und nimmt in die Frage nach den Menschen die Möglichkeit ihrer eigenen Beteiligung an einem ungewollten, aber zugleich unabwendbaren Unheil der Menschheit auf. Zentrale in den gegenwärtigen europäischen Gesellschaften laufende Ent-

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wicklungen folgen der Tendenz zu einer »transhumanen Expansion«. Die heutige Generation von Menschen schicke sich an, das Menschliche zu überschreiten: »Die nur halbwegs zivilisierte Menschheit« habe »den Raum der Geschichte bereits verlassen« und sei dabei, »etwas Ungeheures anzuzetteln.«23 Versuchsweise nimmt Kamper an, dass seit einiger Zeit, offenbar mit Zwangsläufigkeit, halb absichtlich, halb unbewusst eine »transhumane Expansion« stattfindet; das soll heißen: eine mehrfache Überspannung menschlicher Maßstäbe, eine Verlagerung fundamentaler Interessen auf ein »Jenseits« des Menschen, eine Betonung und Bevorzugung solcher Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bisher als »unmenschlich« galten. 24

Eine derartige Überschreitung des Menschlichen sieht Kamper in einer Reihe von modernen gesellschaftlichen Entwicklungen. An verschiedenen und verschiedenartigen Fronten, zum Beispiel in der Gentechnologie, in der Erkundung und Durchführung der fertilisatio in vitro, in der Computerisierung der Arbeit, in der Intensivierung der Ausbeutung be grenzter Ressourcen, in der permanenten Erschöpfung der menschlichen Bedürfnisse, in der vorzeitigen Ruinierung der menschlichen Seelen, überhaupt im Hass auf alles was wächst […], werden zur Zeit Anstalten getroffen, die irreversible Prozesse auslösen sollen. 25

Den von Kamper angeführten Beispielen transhumaner Expansion sind die folgenden Grundmotive gemeinsam: • Bisher als vom Menschen unbeherrschbare, als ihm vorgegeben erachtete Bereiche werden zum Gegenstand menschlicher Beeinflussung gemacht, menschlicher Steuerungsabsicht unterworfen. • In keinem der Fälle können die Menschen sagen, ob das Ergebnis ihres Handelns in weiterem Fortschritt oder in einer Katastrophe bestehen wird. In einigen Fällen, wie etwa der immer umfassenderen Unterwerfung der natürlichen Ressourcen unter wirtschaftlich-technische Gebrauchsweisen, wird die drohende Katastrophe bereits als sehr wahrscheinlich angenommen. • Aus der Befürchtung, teilweise bereits der Erwartung der Katastrophe resultiert keine wesentliche Änderung des Handelns. Die Grundausrichtung des Weitermachens, des Fortschreitens, und die Zwangsvor-

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stellung des Nicht-Aufhören-Könnens bewirken die Weiterführung von Prozessen, die zugleich als möglicherweise zerstörerisch eingeschätzt werden. Die Möglichkeit der Katastrophe wird nicht als Gefahr, sondern als Thrill wahrgenommen. »Der jeweilige ›point of no return‹ erscheint dabei nicht mehr als Warnboje, sondern umgekehrt als Signal unwiderstehlicher Attraktivität.«26 Es scheint, dass die Menschen zugleich immer stärker danach streben, immer mehr Bereiche ihrem planenden Zugriff unterzuordnen, und zugleich immer inkompetenter werden, die möglichen katastrophalen Folgen ihres Handelns unter Kontrolle zu bringen. »Indem die Menschen etwas tun, was sie wollen, tun sie zugleich etwas, was sie nicht wollen.«27 Oder wie Christoph Wulf es ausdrückt: »Die Humanisierung der Welt scheint auch die Gefahr ihrer Zerstörung zu vergrößern.«28 Der machtvolle Anspruch, die gesamte Natur, einschließlich des Natürlichen am Menschen selbst, nach dem Muster eigenmächtiger Zwecksetzungen, Bedürfnisse und Vorstellungen zu beherrschen, gerät in eine entscheidende Krise. Es entsteht der Gesamteindruck eines automatischen Geschehens, eines »blinden Funktionierens und ununterbrochenen Weitermachens«29, das gerade dort die Regie übernimmt, wo die menschliche Handlungsmacht das in ihrer Sicht willkürliche Walten einer ungebärdigen Natur abgelöst hatte. Dabei zieht Kamper eine Reihe von heute weithin diskutierten Hinweisen auf die Expansion des Humanen ins Extra- und Inhumane gar nicht heran. Ein höchst aktueller Beispielfall für transhumane Expansion ist das, was euphemistisch »friedliche Nutzung der Atomkraft« genannt wird. Eine Technologie, mit der sehenden Auges die Produktion jahrtausendelang strahlender Abfälle riskiert wird, ohne dass eine technische Bewältigung dieser tödlichen Gefahr wirklich in Sicht ist, von der völlig außer Acht gelassenen politisch-sozialen Komponente gar nicht zu reden. Die Gleichzeitigkeit von Behauptung und Leugnung der Katastrophe zeigt sich auch an der Art und Weise, wie die Klimaveränderung diskutiert wird: Einerseits wird – je nach angewandter Theorie – die erste vom Menschen selbst veranstaltete Eiszeit oder eine durch ihn herbeigeführte irdische Wärmehölle vorausgesagt und nach dramatischen Maßnahmen gerufen, andererseits wird gesagt, es habe derartige Schwankungen schon immer gegeben und es könne alles so bleiben, wie es ist. In ähnlicher Weise rat- und tatlos wird das Problem der wachsenden Weltbevölkerung abgehandelt. Von der Bezeichnung einer konkreten so-

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zialen Kollektivität, den Einwohnern eines Landes, einer Region oder eines Kontinents hat sich der Begriff »Bevölkerung« Zug um Zug zunächst zu einer der Politik nicht mehr vorgegebenen, sondern durch sie gezielt beeinflussbaren Größe entwickelt, bis schließlich zu einem variablen Element beliebiger sozialökonomischer Kalküle.30 Die enormen Zahlenprognosen der Bevölkerungsstatistiker erzeugen den Schauder vor dem Untergang einer überfüllten Erde.31 Wachstumsstatistiken klären weder über die ungleiche Verteilung der Bevölkerungslast auf der Erde auf, noch über deren Ursachen und schon gar nicht über zukünftige Entwicklungen und deren mögliche Beeinflussung. Europäisch-westliche Forschung und Politik wollen das Problem, das unter anderem eines des enormen Ressourcenverbrauchs gerade im Westen und Norden ist, vor allem durch Geburtenbeschränkung in den Dritte-Welt-Ländern lösen.32 Vor allem die Frauen sollen zur Verhütung des Bevölkerungswachstums für die Verhütung von Kindern oder, noch besser, für die Beendigung ihrer Fruchtbarkeit sorgen. Klammheimliche Hoffnungen auf dezimierende Effekte der Immunkrankheit Aids sind ebenso wenig mehr tabu wie makabre Vergleiche: Selbst der tägliche Abwurf einer Atombombe des Hiroshima-Typs könne das Problem nicht lösen, den täglich 90.000 Toten würden 250.000 Geburten gegenüberstehen.33 Auch sonst ist viel von Bomben die Rede: von der »B(evölkerungs)-Bombe« ebenso wie von der tickenden »Zeitbombe Mensch«.34 Die Rede von der Bedrohung der Menschheit durch ihr unbremsbares Wachstum erfüllt nicht nur die Funktion der Warnung und der Aufforderung zu ernsthaftem Nachdenken. Sie bedient auch das lustvolle Gruseln vor den Horrorszenarios doch nicht ganz ernstgenommener Untergänge.35 Inzwischen ist die Rede von der »Risikogesellschaft«36 zur Allerweltsweisheit, Katastrophen sind beinahe vertraut geworden. Die drohenden realen Katastrophen lösen »Erlebniskatastrophen« aus: Ängste, die nicht die drohenden Gefahren selbst betreffen, sondern die Abwehr von Gefühlen der Wehrlosigkeit und der Mitschuld betreiben.37 Nicht nur gemeinsames Handeln, sondern jegliche in der Öffentlichkeit gelebte Gemeinschaftlichkeit droht am Ende der Moderne zu verschwinden. Stattdessen hat sich eine »Tyrannei der Intimität«38 herausgebildet, die den Verlust der Öffentlichkeit durch eine Intensivierung der Innerlichkeit zu kompensieren sucht. Beide Tendenzen, ein lähmender Katastrophismus und ein Eremitismus der Innerlichkeit, werden überformt von einer dritten, dem Konsu-

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mismus. Der Aufstieg des industriellen Zeitalters wäre ohne die massenhafte Produktion und Konsumtion von Waren nicht denkbar. Dazu aber ist die Umwandlung von Bedarf in – immer mehr – Bedürfnisse die Voraussetzung. Erst als es gelingt, die Dinge so weit von ihren Bedeutungen zu lösen, dass Produkte wegen willkürlich mit ihnen assoziierter Wünsche gekauft werden, ist jener Prozess warenförmiger Bedürfnisproduktion angebahnt, der die permanente Erschöpfung menschlicher Bedürfnisse psychisch möglich und ökonomisch nutzbar macht. Nicht für tatsächliche Bedürfnisse von Konsumenten werden Produkte entwickelt, sondern entwickelte Produkte werden auf ihre Wünschbarkeit getestet.39 Die entscheidende Wahrheit über den gegenwärtigen Menschen, so Kamper, »liegt darin, dass eine Ereigniskette, vor der alle Angst haben, nicht unterbrochen werden kann«40. Der angemessenste Denkansatz einer zeitgemäßen Anthropologie sei deshalb das »Denken der Katastrophe«, d.h. das Anerkennen der Katastrophe als real zu befürchtende Zukunft, statt sie mit der Geste der Überlegenheit zu verleugnen und gleichzeitig von ihr als irrealer Bedrohung fasziniert zu sein. Nach den großen Errungenschaften der Technik und der Wissenschaften in den Jahrhunderten der Moderne haben wir uns daran gewöhnt, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften als eine – wenn auch durch gelegentliche Rückschritte unterbrochene – Fortschrittsgeschichte aufzufassen. Soziologen beschreiben den europäischen Zivilisationsprozess als wachsende Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung: Äußerliche, von der unbeherrschbaren Natur ausgehende Bedrohungen werden durch soziale Kooperation und Technik, unbeherrschte Triebe durch innere intellektuelle und psychische Vermögen des moralischen, vernünftigen und verantwortlichen Subjekts unter Kontrolle gebracht. Den Menschen sei es gelungen, sich immer weiter von ihrer ursprünglich stark instinkt- und triebgesteuerten Verfassung, in der das soziale Leben weitgehend durch Gewalt geregelt wurde, zu befreien, und zu einem hohen Maß an Selbstkontrolle, Rationalität und sozialer Kompetenz fortzuschreiten. Gerade jene Entwicklungen, die diesen Fortschritt herbeigeführt haben, tragen aber auch die Tendenzen in sich, ihn wieder in sein Gegenteil umzukehren. Das Geschehen der transhumanen Expansion löscht Errungenschaften der Zivilisation, soweit sie den einzelnen Menschen betreffen, rigoros aus. Obwohl sie selbst als Gipfel einer Technologie der Seele erscheint, übt sie keinerlei Rück-

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sicht. Sie lässt sich nähren von den Kräften der Innerlichkeit, ist jedoch selbst reine Äußerlichkeit. Es hat den Anschein als ob historische Investitionen zurückfließen würden in einen Hort von Apparaturen und Maschinen, dessen Zeit erst kommen wird. 41

Apparate sind Teil der Gesamtkultur und verändern sie. Alltagsmenschen versuchen, die neuen Technologien mit Hilfe anthropomorpher Mythen zu sich in Beziehung zu setzen, während Marketingstrategien sich genau auf diese mythischen Arten der Aneignung beziehen und sie ihrerseits mit Bedürfnisbotschaften ansteuern. Dadurch ergeben sich grundlegende Veränderungen im Gefüge des Systems Gesellschaft-Individuum, die durch die Art der Ästhetisierung und Vermarktung eher verdeckt als aufgedeckt werden.42 Besonders deutlich offenbart sich die vermeintliche »Vermenschlichung« der Maschinen, die in Wahrheit eine Maschinisierung der Menschen ist, an den Experimenten zur Erzeugung Künstlicher Intelligenz, die auch dann reale Auswirkungen haben, wenn sie eine grandiose Übertreibung sind: Irreale Vorstellungen sind in ihren Folgen äußerst real.43 Die Entmenschlichung der Technik als Folge der Vermenschlichung der Maschinen ist nicht neu, wie man etwa an der Geschichte der Mühlen im 13. Jahrhundert sieht.44 In hymnischen Tönen preisen die Mönche der Zisterzienser Abtei von Clairvaux das Wirken der Kraft des Wassers, wie es durch die Abtei fließt, »zuerst durch die Mühle, wo es sehr willkommen ist«, dann in das nächste Gebäude, »wo es den großen Kessel füllt und sich von Feuer kochen lässt«, dann zu den Walken und zur Gerberei – so fließt das Wasser durch die Abtei »und wird überall ob seiner guten Dienste gesegnet«, denn wie viele Pferderücken und Männerarme würde die Mühsal zerschlagen, von der uns der Fluß großzügig ohne unser Zutun enthebt? Wie könnten wir ohne ihn unsere Kleidung verfertigen, unsere Nahrung bereiten? Für all die Arbeit, die er für uns leistet, erwartet er keinen Lohn, als dass wir ihn danach frei ziehen lassen. 45

In weniger als zweihundert Jahren gelang es einem noch feudal etablierten Kapitalismus, aus den Segnungen des sprudelnden Wassers eine Geißel des Volkes zu machen, die zu Hunger, Krieg und Verfolgung führte. Mächtige Äbte und reiche Feudalherrn ließen die privaten Mühlen schleifen und

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zwangen die Besitzer, ihr Getreide gegen Geld oder Abgaben auf ihren Mühlen mahlen zu lassen. Aufgrund der Konkurrenz zwischen Flussmühlen, die sich gegenseitig das Wasser abgruben, kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, sodass letztlich die Vasallen nach dem Verlust der Mühlen auch noch den Verlust ihres Lebens im Kriegsdienst für jene Herrn zu gewärtigen hatten. Fähigkeiten, die sich die modernen Menschen in langen Jahrhunderten der Selbstkontrolle und durch die teils gewaltsamen, teils subtilen Techniken der Fremdkontrolle erworben haben, die sich in zivilisatorischen Errungenschaften wie Erziehung, Lernen, Hygiene, Gesundheitsvorsorge, Medizin, Psychotherapie, Justiz, Technik und Industrie institutionalisiert haben, drohen sich gegen sie selbst zu wenden: Die Fähigkeit, momentane Bedürfnisse zugunsten längerfristiger Ziele aufzuschieben, die Bereitschaft, sich in größere Pläne einzuordnen und sich zweckdienlichen Herrschaftsverhältnissen unterzuordnen, das Streben nach persönlichem Glück und die Anerkennung einer allgemeinen Moral, die Sehnsucht danach, lieben zu können und geliebt zu werden und der Wunsch nach Selbstverwirklichung: Alle diese innerlichen Fähigkeiten des modernen Vernunft- und Gefühlsmenschen droht eine neue Art unmenschlichen Handelns für sich zu nutzen, die im Namen übergeordneter nationaler, globaler, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, technischer und weltanschaulicher Ziele das Gesetz des Handelns übernimmt, indem es die Grundlagen der Zivilisation zugleich ausnützt und aushöhlt. In den Prozess der Zivilisation habe, so Kamper, eine »externe Logik eingegriffen, um ein Begehren zu konstituieren, das sich verausgabt und schließlich jene Kräfte wachsen läßt, welche die transhumane Expansion betreiben«46. Die bisherige Zivilisationsgeschichte, die als Überwindung der Natur durch den Menschen gelesen werden möchte, würde so als »listiges Täuschungsmanöver« erkennbar, »welches die betroffenen Menschen derart überfordert hat, dass sie nun als Natur in Person Rache üben und durch ›Rückzahlung‹ zugefügter Schmerzen den Boden für die Entstehung neuartiger Ungeheuer bereiten«.47 Was erklärt werden müsse, »ist die menschliche Anfälligkeit für ein anonymes automatisches Geschehen, ist das unterschwellige Einverständnis mit dem Verlust des ›Humanum‹, ist die stillschweigende Entscheidung für eine Karriere des ›Un-Menschlichen‹, die letztlich auch den, der dafür ist, in Mitleidenschaft zieht und vernichtet«48 .

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Dietmar Kamper widerspricht Norbert Elias, indem er ihm recht gibt. Ausgehend von seiner Annahme einer transhumanen Expansion, die das Scheitern des Zivilisationsprozesses offenkundig macht und seine Errungenschaften als unerkannte Betreiber einer unmenschlichen Übermenschlichkeit ausweist, äußert er Bedenken am zivilisatorischen Optimismus des Norbert Elias, indem er dessen Kritik an der Unzulänglichkeit einer Soziologie aufgreift, die den Menschen als »homo clausus« denkt: als ein »Ich«, dessen Inneres »ein von allen anderen Menschen und Dingen ›draußen‹ Abgeschlossenes ist«49 . Kamper stellt diese Argumentation auf den Kopf: Das Bild des »homo clausus« sei eine jener Einbildungen, die auf eine untergründige, durch die rationalisierende Gewalt der Sprache unterdrückte Wirklichkeit verweisen. Indem man wie Elias solche Bilder identifiziert und als intellektuelle Verirrungen kritisiert, schafft man die hinter ihnen verborgene Realität nicht aus der Welt. Die »Macht der Bilder« hängt nicht von ihrer Richtigkeit ab. »Auch ein falsches Bild kann Realität setzen«.50 Es könnte sein, dass der »homo clausus« nicht ein unzutreffendes Bild des Menschen, sondern die Realität des total selbstkontrollierten Menschen beschreibt, der durch nichts mehr aus der Fassung zu bringen ist, außer durch den Entzug der diese Innerlichkeit garantierenden Imaginationen. Die Vertreibung der Menschen aus dem geozentrischen Paradies, nach Elias eine der Wurzeln des Rückzugs der Menschen in ihr eigenes Inneres, könnte nicht nur eine falsche Vorstellung der Menschen über sich, sie könnte falsche Menschen hervorgebracht haben. Die Anonymität des Fortschritts in die Katastrophe entsteht aus der Schwierigkeit, eine moderne Fortschrittssprache als ihr Symptom wahrzuhaben. Das zeigt sich an neuen Begriffen in Wissenschaft und Alltagsleben, die als Synonyme des Fortschritts gelten, in Wahrheit aber der Logik transhumaner Expansion entstammen. So gilt etwa das Prinzip der »Selbstreferentialität« – in der Systemtheorie der »Umstand, dass die Wirkungen eines Systems zugleich neue Ursachen desselben sein können, also über Rückkoppelungen produktiv gemacht werden«51 – nicht nur in vielen Wissenschaften als Errungenschaft, sie gerät zunehmend in den Rang einer generellen Konzeption menschlicher Existenz. »In Verbindung mit der These der ›Autopoiesis‹, einer Art Selbsterschaffung des Lebendigen, ist die Theorie der Selbstreferenz aus den Human- und Sozialwissenschaften nicht mehr wegzudenken.«52 Im Hinblick auf transhumane Expansion müsse man sich, so Kamper, aber fragen, ob darin wirklich eine Errungenschaft zu sehen sei.

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Hier legt sich vielmehr ein anderer Gedanke nahe: ob in der genannten Form der Komplexitätssteigerung nicht eine unfreiwillige Mimesis an die höhere Maschine vorkommt, die das menschliche Leben in seinen Verläufen derart prägt, dass es schließlich durch eine externe, maschinenmäßige Logik übernommen werden kann. – Die Menschen selbst würden dann eine solche Übernahme als Entlastung empfinden, die ihnen Mühe und Zeit spart – und das Nachdenken darüber, wie weit sie durch Externalisierung produzierter Innerlichkeit aufs Neue enteignet sind. 53

In der Tat finden sich in Wissenschaft, Politik und Alltag Argumentationsmuster, in denen das jeweilige Handeln oder Nicht-Handeln mit der Unvermeidlichkeit der Systematik der laufenden Prozesse begründet wird. Jeder Versuch, die Logik des Ablaufenden zu beeinspruchen, wird als Unterstützung und Verstärkung des Bestehenden umgedeutet oder aufgrund der unterstellten Unvermeidlichkeit des Laufenden als unmöglich qualifiziert. Unabhängig von der Bewertung der jeweiligen politischen Entscheidungen in der Sache, denen man je nach Beurteilung zustimmen mag oder nicht, versuchen politisch Verantwortliche ihr Handeln als zwingendes, einzig mögliches zu begründen. Die lange Weigerung, in den serbisch-kroatisch-bosnischen Krieg einzugreifen, begründeten etwa die europäischen Staaten mit der Charakterisierung der Massaker und ethnischen Vertreibungen als ein unbeeinflussbares Geschehen, in dem jeder mögliche Eingriff die grausamen Vorgänge nur noch verschärfen würde. Als sie letztlich im Kosovo doch militärisch in den Konflikt eingriffen, bezeichneten sie wiederum dieses Eingreifen als unvermeidlich, weil die Unterlassung kriegerischer Bombardements die Vertreibungen und Massaker verschärfen würde. Politisches Handeln wird in der Öffentlichkeit nicht aus einsichtigen Abwägungen und tatsächlichen Interessen begründet, sondern aus einer Logik sich selbst verstärkender Systeme, in denen ein bestimmtes Verhalten entweder zwingend geboten oder zwingend abgeraten erscheint, aus einer Moral der Notwendigkeit, des Durchhaltens, der letzten, unausweichlichen Möglichkeit: Wie oft ist in den Tagen der Nato-Intervention im Kosovo das Wort von der »ultima ratio« gefallen! Die laufende amerikanische Intervention im Irak zeigt, dass solche selbstreferentiellen Legitimationen selbst dann aufrecht bleiben, wenn ihre Unrichtigkeit offenkundig wird. Keine der vorgeblichen Begründungen der Unausweichlichkeit dieses Krieges hat sich als zutreffend erwiesen: Der Irak war nachweisbar nicht in das Terrorattentat des 11. Septem-

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ber verwickelt, es wurden dort keine Massenvernichtungswaffen gefunden und es gab keine akute Bedrohung irgendeines Landes durch den Irak. Dennoch blieb die amerikanische Version, dass dieser Krieg unvermeidlich und erfolgreich war, mit nunmehr neuen Argumenten – Beseitigung des Diktators Hussein, Verhinderung möglicher Waffenproduktion, Schaffung der Voraussetzung für demokratische Entwicklung etc. – aufrecht. Auf ähnliche Weise betonten österreichische Politiker im Vorfeld der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, man könne trotz zugegebener Nachteile – Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz, Souveränitätsverlust, Probleme der Landwirtschaft – den Beitritt nicht vermeiden, weil jedes Nicht-Handeln diese Probleme verschärfen würde. Die negativen Folgen einer Entscheidung werden zum zwingenden Grund, diese Entscheidung zu fällen. Aus denselben Gründen gelten das Klimaproblem, die Energiekrise, die Krise praktisch aller etablierten sozialen Systeme und Institutionen als so schwer zu beheben, weil durch die Veränderung einzelner Elemente innerhalb dieser Systeme lediglich eine Krise des Gesamtsystems bewirkt werden könne. Ein besonders augenfälliger Beleg für diese Logik politischen (Nicht-) Handelns ist der inzwischen weltweit praktizierte Emissionsrechtehandel: Unternehmen in Industriestaaten mit zu viel Treibhausgasen sollen umweltfreundliche Projekte in Entwicklungsländern dadurch fördern, dass sie diesen Schadstoffzertifikate abkaufen. In der Praxis bewirkt dieser »Kuhhandel statt Klimaschutz«54 , dass etwa das extrem schädliche Treibhausgas HFKW-23, das bei der Herstellung von Kältemitteln für Kühlschränke und Klimaanlagen entsteht, exakt in den Mengen hergestellt wird, in denen es, zu niedrigsten Kosten entsorgt, in Form von Zertifikaten mit hohem Gewinn vermarktbar ist. Die entsprechenden Fabriken werden nicht modernisiert, um die Entstehung dieses Treibgases zu vermindern, und es werden sogar neue Fabriken gebaut, nur um am Verkauf der Emissionsrechte zu verdienen. Der Effekt: Mehr Klimazerstörung durch eine zum Schutz des Klimas eingeführte Maßnahme. »Wo mit den Mitteln des Marktes Klimaschutz betrieben werden soll, dominiert schon seit Längerem der Markt über den Schutz des Klimas.«55 In der Systematik politischen Redens und Handelns werden von Politik und Medien geschürte Ängste – z.B. vor kriminellen Ausländern – zu Ursachen entsprechender Maßnahmen – z.B. der Erlassung ausländerfeindlicher Gesetze – die ihrerseits wieder ausländerfeindliche Vorgänge, z.B. Beamtenwillkür oder Menschenschmuggel, bewirken. Das politische

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System gerät selbst angesichts offener Verstöße gegen die von ihm vertretenen Prinzipien nicht außer sich. Politische Überzeugungen haben einen geringeren Stellenwert als Prozentwerte in Meinungsumfragen und Stimmenzahlen bei Wahlen. Politik unternimmt nicht mehr den Versuch, für humane Ziele Mehrheiten zu bilden, vielmehr wird sie zunehmend zur Vollstreckerin gegebener Mehrheiten für populäre Ziele. Auf diese Weise entsteht ein Automatismus der Verstärkung inhumaner gesellschaftlicher Tendenzen. Staatliche Politik, die sich in der Öffentlichkeit gerne als Politik für die Menschen ausgibt, wird zum transhuman expandierenden System. In ganz ähnlicher Weise begründen die Massenmedien ihre auf die Vermehrung von Nutzerquoten gerichtete Programmpolitik mit der je größeren Zahl der Nutzer ihrer Programme. »Ein Massenmedium muss ein Massenpublikum haben, sonst ist es kein Massenmedium«, so die simple Programmformel des ehemaligen österreichischen ORF-Generalintendanten Gerhard Weiss im Interview.56 In besonderer Weise wird die Selbstreferentialität politischer Rhetorik in der gegenwärtigen »Finanzkrise« deutlich. Die Milliardengelder, die maroden Banken und verschuldeten Staaten kreditiert werden, werden mit dem ansonsten drohenden vernichtenden Angriff der »Märkte« begründet. Diese fungieren dabei wie eine dem gesellschaftlichen Geschehen entzogene Suprastruktur, vor deren Auswirkungen man sich lediglich schützen, deren Wirken man aber nicht beeinflussen kann. Direkte Einflussnahmen auf die Aktivitäten der »Märkte«, etwa durch die Kontrolle von Hedge-Fonds, die Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten von Banken, ein Verbot von Leerkäufen, Handel mit Krediten und Rückversicherungen, werden als untaugliche Mittel dargestellt, weil sie den Kapitalzufluss für die Betriebe beeinträchtigen würden. Also borgen sich die Staaten bei den Banken, die sie eben mit viel Geld vor dem Bankrott gerettet haben, zu hohen Zinsen Geld, das sie Staaten als Kredite geben, die bei den selben Banken bereits so hoch verschuldet sind, dass diese ihnen kein Geld mehr geben, und verschulden sich auf diese Weise bei diesen Banken – und so weiter im immer gleichen System.57 Ebenso wird in verbreiteter Wirtschaftspolitik und Konsumwerbung exzessives Konsumieren als zwingend notwendig propagiert. Der Staat »dürfe« den Bürgern das Geld nicht aus der Tasche ziehen, Politik »müsse« die Kaufkraft der Konsumenten erhalten, der Erwerb eines bestimmten Konsumgutes sei ein unaufschiebbares Muss – »Rufen Sie Jetzt an!« –, ebenso wie die Wahl einer bestimmten politischen Partei oder Person

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– »Jetzt erst recht!« –. Kein politisches Programm, keine politische Forderung, die sich nicht als einzige sinnvolle Möglichkeit ausgibt – und deshalb jede andere als in das Chaos, die Katastrophe führendes Unheil diffamiert. Anzeichen der transhumanen Expansion werden auf diese Weise nicht wahr- oder nicht ernst genommen. Mehr noch: sie bewirken eine weitere Beschleunigung dieser Tendenz: »Der Rückstau von Resten an den Grenzen der menschlichen Macht wird längst nicht mehr durch Nachlassen der Anstrengung, sondern durch ihre Intensivierung bewältigt.«58 Das Überhandnehmen des motorisierten Verkehrs führt zur Begradigung und Verbreiterung der Straßen und damit zu mehr Verkehr, der Verlust an Autonomie durch die Vergrößerung der Wirtschaftsräume zu einer noch stärkeren Vergrößerung, die Auflösung der Erfahrung und Erfahrbarkeit der Dinge durch die unbändig einströmenden Bilderfluten zu noch mehr Medien. Statt den Vorzeichen einer andauernden Überschreitung der eigenen Möglichkeiten Glauben zu schenken, wird ein unverdrossener Optimismus mobilisiert, der mit der Verleugnung oder Verdrängung, manchmal auch der Glorifizierung transhumaner Vorgänge verbunden ist. Das Geschehen transhumaner Expansion hinterlässt in vieler Hinsicht den Eindruck einer Maschine, die sich gegenüber ihrem Schöpfer verselbständigt hat. Die modernen elektronischen Maschinen der Telekommunikation unterscheiden sich aber grundsätzlich von ihren mechanischen Vorläufern. Bei den Apparaten, die gegenwärtig ihren Siegeszug antreten, geht es nicht mehr um Erweiterungen, Verlänge rungen und Verfeinerungen des menschlichen Körpers. Die herkömmliche Anthropologie der Technik, die am Modell des »L’Homme Machine« festhält und einer Instrumentalisierung bzw. Bewaffnung des Menschen, so weit er »res extensa« ist, das Wort redet, versagt angesichts der laufenden Maschinisierung der »res cogitans«, wie sie in der Veräußerung der Symbolfunktion menschlichen Geistes sich abspielt. 59

Durch die Verlagerung in den Wirkungsbereich von »Denk- und Rechenmaschinen«60 riskiert das menschliche Denk- und Vorstellungsvermögen jene interpretative und kommunikative Flexibilität, die gerade das Menschliche an diesem Denken ausmacht: Die Symbolfunktion der Zeichen, Begriffe und Aussagen. Über die Bedeutungen der Zeichen, die in kommunikativen Akten entstehen und sich laufend verändern, ist menschliches Handeln notwendig an die Kommunikation unter Menschen gebunden

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und damit der Egoismus des Einzelnen an den Austausch in der Gruppe. Nicht so die digitale Denkmaschine. Sie arbeitet mit eindeutigen Begriffen, deren Bedeutung nicht mehr vom Ergebnis einer über sie stattfindenden Kommunikation abhängig gemacht wird, und sie trifft eindeutige Entscheidungen, die jenen Spielraum für individuelle und gruppenspezifische Färbungen und Abweichungen, der für zwischenmenschliche Kommunikation unerlässlich ist, nicht zulassen. Gegen diese Tendenz zur Maschinisierung ginge es um die Wiederherstellung der Authentizität der Subjekte. Damit ist mehr gemeint als das Erlernen einer Selbstrhetorik in gruppendynamischen Empfindsamkeitsübungen: das Vertrauen, die Wirklichkeit auf der Basis der eigenen Annahmen wahrzuhaben. Die gegenwärtige Kultur der Kommunikation tendiert dazu, Persönliches zu entwerten und das erwünschte Allgemeine als Persönliches auszugeben. Die Erfahrung einer persönlichen Existenz im Alltag dagegen umschließt immer zweierlei: die Erfahrung der eigenen Einzigartigkeit und die Erfahrung der Vermittelbarkeit des eigenen Lebens. Diese Erfahrungen sind in einer Kultur nur dann für viele Menschen verfügbar, wenn zentrale und häufig wiederholte Vorgänge so geartet sind, dass sie sie voraussetzen. Dagegen steht eine Tendenz zunehmender Automatisierung und Deinteraktivierung vom Einsteigen in die Straßenbahn bis zum Geldabheben beim Bankomat und zum Medienkonsum. In keinem der Fälle ist mehr Interaktion mit einem lebendigen Menschen gefragt, sondern angemessenes Verhalten gegenüber einer Maschine. Es kommt zu einer Entpersönlichung des alltäglichen Lebens, die nicht – und das wäre zu fordern – durch eine Verpersönlichung des politischen kompensiert wird. In einer Zeitungswerbung für Badewannen wird im Slogan die Frage gestellt: »Welcher Typ in welche Wanne?« Abgebildet sind sechs Gesäße, und die Betrachter sollen entscheiden, welches dieser Gesäße am besten in eine der ebenfalls abgebildeten sechs Badewannen passt. Entscheiden sie richtig, winkt der Gewinn »Ihrer individuellen Badewanne«. Unterschlagen wird bei dieser raffinierten Individualisierung des Wannenbades, dass es sich nicht um die vorgegebene große Freiheit handelt, sondern um eine Beschränkung auf exakt jene sechs Typen, die durch die industriell produzierten und genormten Wannen erreicht wird. Den individuellen Badenden, die bisher die Freiheit hatten, in jede beliebige Wanne zu steigen, wird nun zugemutet, sich für eine – die richtige – der sechs Möglichkeiten zu entscheiden. Die anderen fünf – und alle anderen – kommen für sie/

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ihn nicht mehr in Frage. Während die Aufhebung der Beschränkung auf eine Wanne vorgetäuscht wird, wird eben diese Beschränkung auf eine bestimmte Wanne propagiert. »Individualität in Stahl/Email« ist die Werbeeinschaltung geradezu verräterisch untertitelt. Die Bezwingung der Langsamkeit, die Kontrolle über die Zeit, ist eine weitere Schubkraft in Richtung einer Selbstmächtigkeit, die in Wahrheit eine Selbstentmachtung ist. Zeit, bislang außer Reichweite jeder Beeinflussung durch den todgeweihten Menschen, wird zur letzten Bastion, die er bezwingen will. Chronokratie ist angesagt. In ihr scheint die angestrebte Selbstmächtigkeit der Menschheit ihre alles entscheidende Erfüllung zu finden. Erst wer Zeit wirklich hat, kann sich Herr und Meister nennen. Darin liegt ihre unerhörte Provokation. Jahrhunderte der Raumbesetzung schwinden dahin vor dieser Herausforderung, Zeit endlich in Regie nehmen zu können. 61

Chronokratie äußert sich am augenfälligsten in der zunehmenden Unterwerfung tendenziell aller Menschen unter das Diktat einer linearen, in knapp zugemessene Portionen unterteilten Zeit, der alle Handlungsformen angepasst werden. Wie lange sie dauern darf, ist die Frage, die jeder Handlung vorangestellt wird, ohne Rücksicht auf in ihr sich ergebende Dynamiken der Verzögerung oder der Beschleunigung. Je kürzer etwas dauert, je schneller etwas zu Ende ist, desto besser. Geschwindigkeit ist ein Gut an sich, unabhängig von den konkreten Umständen. Digitales Denken ist schnelles Denken, das in Nanosekunden62 gemessen wird. Nicht nur ist die an den Rhythmen der Natur orientierte zyklische Zeit einer an den Uhren gemessenen linearen gewichen, es hat sich das Verhältnis von Zeit und Tätigkeit umgekehrt. Nicht mehr die innere Dynamik der Handlung bestimmt das Ausmaß der Zeit, die sie benötigt, sondern das vorgegebene Ausmaß der Zeit bestimmt die Dynamik möglicher Handlungen. Auf der anderen Seite lässt sich eine wachsende »Langeweile bei pausenlos betriebener Kurzweil« beobachten. »Eine Klippe besonderer Art ist die mit der Entqualifizierung einhergehende Sinnlosigkeit zeitlicher Erfahrungen, die durch Wiederholung nicht etwa schwindet, sondern zunimmt. Die Frage erhebt sich: Wie halten die Menschen auf Dauer qualitätslose Zeitkreise aus, die nur durch Zeitstrecken und Zeitpunkte ohne jeglichen Inhalt unterbrochen werden?«63 Auffälligste Erscheinung dieser zeitintensiven Langeweile sind die Serien der Soap-Operas im Fernsehen,

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die ihren Zuschauern-/innen für die verlässliche Wiederholung der immer gleichen Charaktere und Handlungsverläufe bürgen und zugleich die erträumte Erhöhung des eigenen unspektakulären Lebens und dessen sichere unveränderte Fortsetzung versprechen. In den Publikumsmedien lassen sich bereits handfestere Übernahmen der Zeitregie beobachten, z.B. dadurch, dass Ereignisse der realen Zeit in die Regiepläne künstlich hergestellter Medienzeit eingepasst werden, sei es, dass sie filmisch kopiert und damit beliebig terminisierbar werden oder dass sie bereits in der Realität zur passenden Medienzeit inszeniert werden. Die Beendigung des ersten Golfkrieges wurde um Stunden verzögert, damit der amerikanische Präsident den Sieg seiner Truppen zur besten Fernsehzeit verkünden konnte. Dass dadurch auch das Hinschlachten einer bereits besiegten Armee und der aus Kuweit flüchtenden irakischen Zivilisten verlängert wurde, fiel nicht ins Gewicht. Die Explosion der Challenger, die der gesamten Besatzung das Leben kostete, wäre vermieden worden, wenn den technischen Abläufen nicht eine Medienzeit übergestülpt worden wäre: Techniker hatten auf eine Verschiebung des Starts gedrängt, weil es Hinweise auf einen möglichen Defekt der Trägerrakete gab. Das Weiße Haus aber drängte auf die Einhaltung des Zeitplans, weil eine große Fernsehrede Ronald Reagans bereits fix mit den TV-Anstalten terminisiert war, deren Teil der erfolgreiche Start der Rakete zum ersten Weltraumflug einer Frau sein sollte. »Geschichte kann nur noch unter dem Zusatz einer passierenden Selbstvernichtung der Menschheit gedacht werden. Und dazu braucht man die Bombe nicht einmal zu bemühen.«64 – Mit Aussagen wie dieser hat sich Dietmar Kamper den Vorwurf einer extrem pessimistischen Sichtweise zugezogen. »Oft ist mir das Argument entgegengehalten worden, man dürfe das Schreckliche nicht denken, um es nicht zu befördern. Es gebe eine Kollaboration mit dem schlimmen Wirklichen allein dadurch, dass man versteht.«65 Es gebe aber keine Alternative. »Andererseits gibt es für den, der sich eingelassen hat, keine Wahl. Er kann das, was er zu denken hat, nicht nicht denken. Außerdem relativiert sich jedes eingesehene Verhängnis mit der Zeit. Es hat weitere Einsichten in petto. Man darf nur nicht zu früh mit dem Denken aufhören.«66 Der Zusammenhang zwischen dem Denken der Katastrophe und der Wirklichkeit der Katastrophe folgt nicht einer einfachen Logik von Ursache und Wirkung. Die Angst vor der Katastrophe, so Kamper in einem Interview, hat weniger mit der Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens und mehr

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mit dem Zustand unserer modernen Psychen zu tun: Wir haben den Tod verdrängt und deshalb haben unsere Ängste ihren Ort verloren. Sie sind gespenstische Ungeheuer geworden, die wir nicht loswerden. Gleichzeitig sind sie als Träger der Erinnerung an das Verdrängte unsere letzte Hoffnung. Das Theorem der Transhumanen Expansion folgt einer gegenteiligen Logik: nicht das Denken der Katastrophe trägt dazu bei, sie herbeizuführen, sondern ihre Verdrängung.

2 D IE W IEDERBELEBUNG DER F URCHT Die abendländische Geschichte ist nicht nur durch eine allmähliche Verdrängung des Todes charakterisiert, sondern auch durch eine ebensolche der Furcht. Die Geschichte der Furcht ist eine Geschichte ihrer Verleugnung, Verhöhnung und Vertreibung aus dem Bereich der erwünschten Verhaltensweisen. Die Zukunft, so verkündeten die Moralisten von der Antike bis zur Aufklärung, gehöre den Tapferen. Gegen die gleichwohl hartnäckig sich haltenden Ängste führten sie einen wütenden Feldzug. Die Geschichte liefert unzählige Beispiele dafür, dass es eine Schande ist, sich zu fürchten. Tapferkeit und Feigheit wurde dabei so auf die Bevölkerung verteilt, dass man den höheren Schichten, den Rittern, dem Adel, den Bürgern die Tapferkeit, dem gemeinen Volk aber die Mutlosigkeit zuteilte. »Niedere Geburt verrät sich durch Furcht«, schreibt Vergil,67 weshalb man, wie das Gros der Machthaber über die Jahrhunderte betonte, die niederen Schichten in Abhängigkeit halten müsse. Mit der Demokratisierung des Risikos ist diese Aufteilung obsolet geworden. Die Welt lässt sich nicht mehr in unterschiedliche Sicherheitszonen einteilen. Es scheint, dass politisch Verantwortliche mehrheitlich dazu tendieren, der Demokratisierung der Bedrohung durch eine Demokratisierung des Heldentums zu begegnen. Würden wir nur mutig und entschlossen genug den bisherigen Weg weitergehen, könnten wir der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen Einhalt gebieten. Immer noch fühlt sich ein elitärer ökonomischer Adel dazu berufen, die Ängste der ökologischen Plebs zu zerstreuen. Die heutigen Helden aber sind um nichts weniger tragisch als Miguel Cervantes »Ingenioso Hidalgo Don Quichote de la Mancha«68. Als dieser sich anschickt, sich mutig in die Schlacht zwischen den Armeen des Pentapolin und des Alifaron zu werfen, versucht ihn sein bauernschlauer Knappe Sancho Pansa erfolglos

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darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei den feindlichen Heerscharen um Schafherden handelt. Worauf ihm der Ritter ohne Furcht und Tadel antwortet: »Die Furcht macht’s bei dir […], dass du weder recht siehst noch hörst.«69 In Wahrheit hatte dem Ritter sein eigener Tapferkeitswahn den Blick auf die Realität verstellt. Der in aller Öffentlichkeit zur Schau getragene Mut macht’s, dass die modernen Don Quichotes die ökologischen Warnsignale für Windmühlen halten. Was Brigitte Vollmerg und Thomas Leithäuser in Gesprächen mit verschiedenen Berufsgruppen über »Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis«70 zutage förderten, läuft auf die Formel hinaus, die Kriegsgefahr könne nicht so groß sein, sonst müsste man ganz anders leben. Der bereits auf die Verdrängung berechtigter Ängste abgestellte Lebensmut wird als Beweis dafür genommen, dass die verdrängten Ängste nicht real sein können. Das Grelle, alle Gefühle und Reaktionen in Beschlag Nehmende der Angst verleitet dazu, vor allem nach naheliegenden Ursachen zu suchen: nach aktuellen Auslösern, offenkundigen Stressoren im gesellschaftlichen Prozess, lebensgeschichtlichen Dispositionen. Ferner liegende Ursprünge der Angst gelten dagegen als bestenfalls historisch interessant, aber für die gegenwärtige Angstproblematik und ihre Bewältigung als weniger bedeutsam. In der Tat, was sollte man aus den Ängsten um die gedeihliche Entwicklung von Kindern, wie sie etwa Gottfried Lammert 1869 für den deutschen Raum gesammelt hat, für heutige Ängste lernen können? Damit die Hexen nicht kommen und das Kind gegen einen Wechselbalg oder Kielkropf, ein krankes, schwächliches Kind austauschen, muss nach einem besonders in München kreisenden Wahne die Nachgeburt mit Papier wohl zugebunden drei Tage lang unter dem Bette der Wöchnerin stehen bleiben und dann in fließendes Wasser geschüttet werden. Zu gleicher Zeit muss Nachts beständig ein Licht (besser drei) brennen. In Forchheim steckt man zu gleichen Zwecken ein Messer in den Thürpfosten oder stellt einen Besen verkehrt hinter die Thüre. Bisweilen legt Nachts, nach dem in Oberpfalz herrschenden Wahne, der böse Feind, wenn die Mutter schläft, neben ihr Kind noch ein zweites, vollkommen ähnliches. Greift die Mutter beim Erwachen nach dem rechten Kinde, so ist’s gut und die Butte verschwindet. Erwischt sie den Wechselbalg, so ist’s um ihr Kind geschehen. Das unterschobene bleibt klein, krüppelhaft, elend und fexig.71

Im Alltag unserer Vorfahren war die Angst allgegenwärtig. In allen Winkeln der Kinderstube, bei allen Tätigkeiten des Alltags, überall lauerte die

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Verwünschung, die Verhexung, das Böse und die Angst vor ihm. Es gehe, meint Lammer, um einen »Wahn«. Mangelnde Einsicht in die tatsächlichen Ursachen von Krankheit und Tod machen die Menschen empfänglich für die Erfindung dämonischer, irrationaler Ursachen für alltägliches Unheil. Sind aber diese Ängste mit der rationalen Erkenntnis der realen Ursachen von Kinderkrankheiten oder Entwicklungshemmungen verschwunden? Wie verhält sich die Angst vor dem Wechselbalg zu modernen Wünschen, das eigene Kind möge unverwechselbar anders als andere Kinder sein, ausgeglichener, aufgeweckter, sanfter, aggressiver – je nachdem? Kleine, besonders Wickelkinder können nicht bloß ausgewechselt, sondern »verschrieen« werden, und zwar von jedem Menschen. Sagt jemand, besonders ein altes Weib, öfter zu dem Kinde »Das ist ein schönes, hübsches, starkes Kind«, dann ist es beschrieen; es nimmt ab, und muss ständig gähnen.72

Wie steht es um die besondere Empfindlichkeit mancher Eltern gegenüber der Art, wie andere – Großeltern, Verwandte, Besucher – ihr Kind behandeln, und wie verhält sie sich zur überlieferten Angst vor dem »Verschreien«? Was ist mit den Ängsten um die richtige Entwicklung der Kinder, ihre richtige Erziehung, ihre Gesundheit, ihre berufliche Zukunft, die Sorge der Eltern, stets den rechten Griff zu tun und ihre Neigung, angesichts des Versagens von Kindern zu fragen: »Was habe ich falsch gemacht?«. Das immer weitere Vorrücken rationaler Einsichten hat, so scheint es, die Ängste nicht abgeschafft, sie nicht einmal auf das rational begründbare Maß eingedämmt. Als ob die Angst eine Hydra wäre: So oft man ihr den Kopf abschlägt, so oft wächst ihr – an derselben oder einer anderen Stelle – ein neuer. Die Wurzeln der Angst sind tiefer, als ihre jeweils gegenwärtige Gestalt erkennen lässt, es gibt eine auf uns Heutige zulaufende Geschichte der Angst. Wir können die Ängste der Gegenwart nicht angemessen verstehen, wenn wir uns über den Wandel der Angst in der Geschichte der Beziehungen unter Menschen und in Gesellschaften nicht angemessen verständigt haben. Eine Geschichte der Angst liegt in einem umfassenden Sinn noch nicht 73 vor. Norbert Elias versucht, den Unterschied der Selbstkontrollapparatur, der Vermittlung also zwischen den psychischen Antrieben der Individuen und gesellschaftlichen Anforderungen zwischen mittelalterlichen und modernen Menschen, herauszuarbeiten.

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Früher, in der Kriegergesellschaft, konnte der Einzelne Gewalt üben, wenn er stark genug dazu war; er konnte seinen Neigungen in vielen Richtungen offen nachgehen, die inzwischen mit gesellschaftlichen Verboten belegt und unauslebbar geworden sind. Aber er bezahlte die größere Chance zur unmittelbaren Lust mit einer größeren Chance der offenliegenden und unmittelbaren Furcht; die mittelalterlichen Höllenvorstellungen lassen uns man ches davon ahnen, wie stark und intensiv bei diesem Aufbau der Beziehungen zwischen Mensch und Mensch diese Furcht in dem Einzelnen war.74

Elias spricht von Furcht, nicht von Angst. Dieser Terminus steht für eine besondere Kompetenz, über die vermutlich die Heutigen, kleine Kinder ausgenommen, nicht mehr in dieser Form verfügen: Angesichts von – oftmals tödlicher – Gefahr uneingeschränkt handlungsfähig zu bleiben, ja sogar in besonderer Weise zu rascher Beseitigung der Gefahr – oder rascher Flucht vor ihr – imstande zu sein. Diese Kompetenz hat also zwei Seiten. Die eine besteht darin, bestimmte Handlungen, z.B. ein Liebesabenteuer oder einen Zweikampf, auszuführen, obwohl man sich der Gefahr, der man sich dadurch aussetzt, bewusst ist, die andere in einer nüchternen Einschätzung, wann man einer Gefahr nicht mehr gewachsen ist, und es deshalb keine Schande ist, vor ihr zurückzuweichen. Menschen des Mittelalters hatten wenig Veranlassung, ihr alltägliches Handeln auf die Vermeidung von Gefahr, Krankheit und Tod einzustellen, da diese Bedrohungen schlechterdings nicht zu vermeiden waren. Jederzeit konnten sie in ein Handgemenge, einen Tumult, eine kriegerische Auseinandersetzung, eine kleinere oder größere Naturkatastrophe oder Epidemie geraten, ohne dass sie die Möglichkeit hatten, einem solchen Schicksal weitsichtig auszuweichen, ihm durch eine kontrollierte Lebensführung zu entgehen. Sie bedurften deshalb eines entwickelteren Verhaltensrepertoires, um auf die konkrete Bedrohung zu reagieren: mit Furcht. Einem Verhalten, das sie befähigte, der Gefahr zu begegnen, wenn sie da war. Sich zu verteidigen, zu verbergen, die Flucht zu ergreifen, einen Zauber anzuwenden oder einen Heiligen anzurufen – wobei man wissen musste, welcher gerade der Zuständige war. Im Unterschied zu den mittelalterlichen sind moderne Menschen in hohem Maße selbstkontrolliert und vermögen sich vorausschauender auf mögliche Gefahren einzustellen. Gleichzeitig haben sie aber an Intensität momentaner Empfindung und deshalb auch an Reaktionsfähigkeit in aktueller Gefahr verloren.

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Später, wenn die Fließbänder, die durch das Dasein des Einzelnen laufen, länger und differenzierter werden, lernt das Individuum, sich gleichmäßiger zu beherrschen; der einzelne Mensch ist nun weniger der Gefangene seiner Leidenschaften als zuvor. Aber wie er nun stärker als früher durch seine funktionelle Abhängigkeit von der Tätigkeit einer immer größeren Zahl von Menschen gebunden ist, so ist er auch in seinem Verhalten, in der Chance zur unmittelbaren Befriedigung seiner Neigungen und Triebe unvergleichlich viel beschränkter als früher. Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- und lustloser, mindestens, was die unmittelbare Äußerung des Lustverlangens angeht.75

Die ängstlichen Menschen der Moderne unterscheiden sich von den fürchtigen des Mittelalters dadurch, dass ihnen der Eindruck vermittelt wird, die Gesellschaft würde dafür sorgen, Gefahren von ihnen abzuhalten. So wie die Gewalt hat der Staat auch den Schutz vor Gewalt zu seinem Monopol gemacht. Diese Zusicherung hält der moderne Staat selbst dort aufrecht, wo er auf keine Weise imstande oder willens ist, sie auch tatsächlich einzulösen, etwa im motorisierten Verkehr, durch den in Österreich jährlich ein größeres Dorf und in Deutschland eine kleinere Stadt ausgerottet wird. Dennoch dokumentiert die öffentliche Hand durch Verkehrsgesetze, Signalregelungen, Fahrbahnen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Verkehrskontrollen beständig ihr Bemühen um die »Sicherheit« der Verkehrsteilnehmer. Auf eine paradoxe Weise garantiert die Gesellschaft die Abwendung von Gefahr nur dann, wenn der Einzelne selbst dafür sorgt, sich ihr nicht auszusetzen. Die Einzelnen können nicht mehr durch ihr eigenes, aktives Handeln der Gefahr entgehen, sondern nur durch die perfektere Anpassung dieses Handelns an vorgegebene Verhaltensregeln. Sie können die Regeln ihres Verhaltens nicht bestimmen, sondern sich nur psychisch befähigen, sie besser einzuhalten. Um innerhalb der gesellschaftlichen Sicherheitsvorkehrungen wirklich sicher zu sein, müssen sie sich ein hohes Maß an Verhaltenskontrolle auferlegen. Verschärft wird das Dilemma moderner Ängste durch die Tatsache, dass sich die Verheißung von einem durch konsumistische Äußerlichkeit und mediale Innerlichkeit erreichbaren Glück der Einzelnen gleichzeitig als mögliche Ursache allgemeinen Unglücks herausstellt. Dieselben Mechanismen, die das Individuum der Moderne in ein neues Verhältnis zu sich selbst und zur Gesellschaft gebracht haben, bewirken, dass ihm gleichzeitig und ständig vor Augen geführt wird, zu welchem globalen Disaster, z.B. für das Klima der Erde, sein Glücksstreben führen kann.

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Konsum und Medien führen den Menschen nicht nur ihre grenzenlosen Möglichkeiten vor Augen, sondern auch deren grundsätzliche und möglicherweise endgültige Begrenzung: das Drohgespenst einer Zukunft, die – je glücklicher die Gegenwart ist, desto mehr – zukünftige glückliche Gegenwarten gefährdet. Insofern sie sich dem Prinzip der maximalen Quantität von Nutzern unterwerfen, sind die modernen Konsum- und Medienwelten nicht auf die langfristig ihrer Logik dienliche Selektion an Botschaften begrenzbar. Sie produzieren und transportieren nicht nur käufliche Waren und schöne Bilder, sondern ein komplexes Konglomerat von untereinander widersprüchlichen Botschaften: Botschaften der Glücksverheißung, aber ebenso angsterzeugende Botschaften, insofern dadurch Publikum angezogen werden kann, sowie – als Untermenge dieser Angstbotschaften – Informationen über stattfindende oder zu befürchtende globale Katastrophen. Das moderne Subjekt erfährt sich so dank der modernen Konsum- und Medienindustrie zugleich als das potentiell glücklichste und das potentiell am meisten bedrohte. Es verfügt, wie wohl keines seiner geschichtlichen Vorgänger, zugleich über unbegrenzte Gegenwartshoffnungen und ein unbegrenztes Wissen über gegenwärtige und vor allem zukünftige Gefahren. In der Geschichte der Angst ergibt sich eine Abfolge von einander ablösenden Angstformen: Die Gegenwartsfurcht der Mittelalterlichen und eine mit ihr verbundene jenseitige Zukunftsangst vor der drohenden Hölle; die Gegenwartsgläubigkeit der Modernen und eine mit ihr verbundene Gegenwartsangst vor dem drohenden Selbst- und Weltverlust; das Zukunftswissen der Postmodernen und eine mit ihm verbundene diesseitige Zukunftsangst vor dem drohenden Untergang. Die Termini Gegenwartsgläubigkeit und Zukunftswissen mögen fürs Erste irritieren. Weshalb sollten wir gegenüber der unmittelbar einsichtigen Gegenwart auf unsicheren Glauben angewiesen sein, gegenüber der ungewissen Zukunft aber über sicheres Wissen verfügen? Verständlich wird diese Unterscheidung erst, wenn man in Betracht zieht, dass die individuelle Glückshoffnung moderner Konsummenschen das Risiko der Täuschung birgt, während ihnen globale Zukunftssorge als objektive Information vermittelt wird. So viele Anstrengungen unsere hochorganisierten Marktgesellschaften unternehmen, den Glauben der Menschen an die Gegenwart gegen ihre Erfahrung zu bestärken, so sehr sind sie andererseits bemüht, ihnen den Eindruck zu machen, man könne die Zukunft zumindest der nächsten Generationen vorauswissen. Auf beklemmende Weise erfahren die

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Menschen zudem, dass jene, die die düsteren Prognosen als übertriebene Hirngespinste ausgeben, durch das tatsächliche Eintreten von Katastrophen (Tschernobyl) oder deren eindeutige Vorboten (Ozonloch, Erderwärmung) Lügen gestraft werden. In dieser Dualität von schwankendem Gegenwartsglauben und festem Zukunftswissen besteht das Zentrum der modernen Angst: im Dämmern der Einsicht, dass das trügerische Glück der Gegenwart gleichzeitig als sicheres Unglück in der Zukunft behauptet werden kann und weit und breit niemand zu sehen ist, der dieser fatalen Entwicklung ein Ende setzt. Überlegungen zur Bewältigung dieser Angst müssten bei dieser Gestalt des modernen Menschen ansetzen, jener tragischen Figur des in der Pestgrube erwachten lieben Augustin, der gegen jede Vernunft fortfährt, seine Fröhlichkeit durchzuhalten, und dadurch gerettet wird. Die Rehabilitierung der Furcht könnte eine Denkmöglichkeit sein, den fatalen Teufelskreis zwischen der Leugnung der Katastrophe und der Faszination von ihr zu durchbrechen, das Zulassen der Furcht ein anthropologischer Wegführer durch die Skylla des unvermeidlichen Unheils und die Charybdis des unaufhaltsamen Fortschreitens. Nachdem übertriebener Mut und Tatendrang uns dort und da bereits an den Rand von Katastrophen gebracht haben, gibt es keinen Grund mehr, die Furcht als Feigheit zu verspotten. Den Menschen steht das Recht zu, sich zu fürchten, und das Recht, dass ihre Befürchtungen politische Entscheidungen beeinflussen. Die politische Maxime, um bestimmte Vorhaben – die Errichtung von Atomkraftwerken wie die Gentechnologie – durchzusetzen, müsse man den Menschen nur ihre irrationalen Ängste nehmen, ist fatal. Das rasche Durchziehen politischer Maßnahmen, noch bevor auf sie bezogene Angstpotentiale wirksam werden können, ist in dem Maße inhuman, als die Furcht eine menschliche Überlebensnotwendigkeit ist. Abwarten dagegen lohnt sich. Bis 1925 hat sich der Schweizer Kanton Graubünden dem Transitverkehr mit Automobilen widersetzt.76 Keine Rede davon, dass die Schweiz heute ein rückständigeres Land wäre als irgendein anderes europäisches Land. Aber sie ist ein Stück weniger durch den Autoverkehr zerstört als die anderen. Die Furcht ist das Heilmittel gegen die Angst. Hinter den Ängsten die verdrängten Befürchtungen aufzuspüren, wäre die hoffnungsvolle Anstrengung gegen die Ambivalenz von Glück und Angst, eine Neufassung der biblischen Botschaft von der Furchtlosigkeit: »Fürchtet euch nicht«, mit diesem Satz wird Jesus in den Evangelien mehrmals zitiert. Die Botschaft der Zukunft hieße dagegen: »Ängstigt euch nicht – aber fürchtet

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euch!«. Die Zukunft gehört den Furchtsamen. Wie aber sollte ein unter Berücksichtigung der Furcht sich entwickelndes Leben aussehen, wie könnte angesichts des drohenden Untergangs sinnvolles, d.h. auf menschliches Glück, Befriedigung von Wünschen, Verringerung von Ängsten, Hilfe in Krisen gerichtetes Handeln noch begründet und geleistet werden? Hierzu erscheint es lohnend, sich noch einmal auf Peter Czerwinkis Unterscheidung zwischen syntaktischen und parataktischen Logiken zu beziehen. Begriffssysteme tendieren dazu, sich mit den von ihnen bezeichneten Tatsachen auf eine Art und Weise zu verbinden, als wären sie diese selbst, und sich dadurch unkritisierbar zu machen. Dies trifft insbesondere für die grundlegende Denkform der Moderne zu, die man als syntaktische bezeichnen könnte: Aus wenigen grundsätzlichen Annahmen werden feste Philosophien über den einzig möglichen Gang der Welt und das einzig in ihr mögliche richtige Handeln abgeleitet, die gegenüber dem tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse und den wirklichen Erfahrungen der Menschen immun werden. Diese Form des Denkens bezieht sich sowohl auf jene Entwicklungen in Wirtschaft, Politik und Kultur, die im Namen des angeblich unaufhaltsamen Fortschritts vorgeben, die Welt zu verbessern, als auch auf die apokalyptischen Weissagungen des daraus angeblich unausweichlich hervorgehenden Untergangs. Da sie ihren Wahrheitsanspruch nicht aus den Erfahrungsprozessen, sondern aus der Übereinstimmung mit den durch sie bestätigten Doktrinen ableiten, sind solche syntaktischen Behauptungssysteme nur durch den tatsächlichen Eintritt oder das tatsächliche Ausbleiben ihrer Voraussagen widerlegbar, durch das offenkundige Eintreten von Katastrophen oder deren offenkundiges Ausbleiben. Erst wenn die wirkliche Wirklichkeit, die niemals begrifflich und zur Gänze, sondern stets nur durch Erfahrung und bruchstückhaft erkannt werden kann, zusammenbricht, nehmen syntaktische Konstruktionen der Wirklichkeit sie zur Kenntnis. Bis dahin interpretieren sie alle Ereignisse im Sinne ihrer Logik. Syntaktische Systeme sind auf gefährliche Weise unbelehrbar. Für sie gilt das Prinzip: »Wir wollen weitermarschieren, wenn alles zusammenfällt«. Wie Lügen, die als Wahrheiten ausgegeben werden, sind sie durch den versuchten Nachweis ihrer Unrichtigkeit nicht zu widerlegen. Vielmehr wird der Kritiker als Lügner wahrgenommen. Die gegenwärtige Situation scheint in hohem Maße syntaktisch geladen zu sein. Viele für die Gesellschaften wie für die Einzelnen zentrale Handlungsbereiche folgen relativ geschlossenen Syntaktiken. Seit der

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europäischen Aufklärung hat sich ein Prozess der Syntaktisierung gebildet, in dem sich zwei Traditionen des Denkens und des ihm folgenden Handelns, beide für sich genommen nützlich und heilsam, auf eine fatale Weise miteinander verbünden: die Ablöse religiöser, mythischer Denkund mit ihnen verbundener dynastischer, naturmythischer oder gottköniglicher Herrschaftssysteme durch auf Vernunft und Einsicht begründete Erkenntnis und Politik, und ein streng auf den Zweck einer jeweiligen Unternehmung begrenztes, naturwissenschaftliches, technisches, ökonomisches Denken und Handeln. Das Credo der abendländischen Lebensphilosophie besteht seitdem darin, dass die Ursachen- und Wirkungssysteme aller relevanten Wirklichkeiten mit Hilfe vernünftiger Erkenntnisse durchschaut werden können und dass privates und gesellschaftliches Handeln auf diese Erkenntnisse gegründet werden können. Die neugewonnene Rationalität des Handelns wurde so auf die von den jeweiligen Führungsschichten definierten Zwecke des Handelns eingeengt. Anstelle des von den Philosophen erträumten Kantischen freien und mündigen Vernunftmenschen entstand der funktionale, zweckrational handelnde und behandelte Mensch. Die Verabsolutierung einer zweckrationalen Ethik hat die Bildung menschlicher Erkenntnis und die Entstehung menschlichen Handelns aus der Fülle unterschiedlichster partieller Lebensvollzüge, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wünsche und Ängste torpediert, die niemals unter den Hut einer für alle verbindlichen Syntax gebracht werden können und sollen, sondern als parataktische, nicht auf einen von vornherein gegebenen Gesamtsinn verpflichtete, im unverbundenen Nebeneinander belassene autonome Erfahrungsbestandteile in jene Prozesse der Verständigung, Verhandlung, Auseinandersetzung, Dissens- und Konsensbildung unter den Menschen eingehen sollen, aus denen privates und gesellschaftliches Handeln erst entsteht. Eine parataktische Logik würde neben und gegen die alles beherrschende Vernunft des Fortschritts den Austausch der noch ungeordneten, widersprüchlichen Erfahrungen der Existenz der Einzelnen und Gruppen stellen. Wie die gegenwärtigen Krisen zeigen, nehmen Vernunftordnungen, die die Anfälligkeit der Menschen für Wahnhaftes in das Reich einer überwunden geglaubten Vorgeschichte verdrängen, selbst wahnhafte Züge an. In der Tat sind in keiner Epoche der Geschichte so viele Menschenleben und so viele natürliche Ressourcen im Namen irgendwelcher Wahnsysteme, die sich als Vernunftsysteme ausgaben und ausgeben, vernichtet

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worden wie im Zeitalter der Vernunft. Parataktische Diskurse dürfen in einer Epoche, in der nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass die großen syntaktischen Logiken nolens volens zum Untergang führen, nicht mehr auf diese Logiken verpflichtet werden. Das künftige Zeitalter würde aus dieser Sicht ein Zeitalter der Freiheit des vernünftig/unvernünftigen Denkens und Handelns sein müssen und dennoch kein Zeitalter der Willkür werden. Die Grenzen der Unvernunft und der Vernunft sowie die Übereinkünfte für zukünftiges Handeln würden sich in der Intensivierung der privaten und öffentlichen Kommunikation und Interaktion finden, in der alle ohne Einschränkung sagen, was sie denken und was sie wollen, und hören, was die anderen sagen und wahrnehmen, was sie tun, und in eine Auseinandersetzung über all dieses Reden und Tun eintreten, die zur Zusammensetzung der divergierenden Beiträge zu verständiger Rede und vereinbartem Handeln führen kann. Was nottut, ist eine dramatische Vermehrung des Besprechbaren, der Vereinbarung Bedürftigen. Kommunikative Kompetenz nicht bloß als philosophisches Theorem oder als moralischer Imperativ, sondern als gesellschaftliche Existenzvoraussetzung. Woran es fehlt, ist nicht das Ausmaß des Redens und schon gar nicht das Ausmaß des Schauens – beides hat sich gegenüber früheren Kulturepochen enorm vermehrt –, sondern das Ausmaß des durch das Schauen Erfahrbaren und durch das Reden Beeinflussbaren. Wirklichkeit ist das von Menschen Bewirkte und dasjenige, das sich darin als das vor ihrem Wirken und unabhängig von ihm bereits Bestehende herausstellt. Dasjenige, über das man, wie Villem Flusser einmal gemeint hat, im wahrsten Sinne des Wortes »darüberfällt«, wenn man seine Existenz nicht anerkennt. Genau diese Sorte von Wirklichkeit ist am Verschwinden. Die Bewegungen unserer Körper werden in Bahnen – Fahrbahnen, Laufbahnen, Radwegen, Fußgängerübergängen, Sitzplätzen, Schwimmbecken usw. – geführt, sodass sie entweder gar nicht oder in Form von Karambolagen aneinandergeraten. Unseren Vorstellungswelten stellt sich nichts entgegen, sondern sie werden versorgt. »Which world do you want?«, lautet das Motto der ersten englischen Firma zur Erzeugung und Vermarktung virtueller Realität. Die Wirklichkeit soll grenzenlos flexibel werden. Der Empfänger dieser Wirklichkeit bewegt sich nicht mehr. Er sitzt und »bewegt« mit einem elektronischen Handschuh das Bild, das er über eine an seinem Kopf befestigte Bildschirmapparatur »sieht«. Von der Außenwelt ist er völlig abgeschlossen. Die Befreiung des Blicks würde zuallererst die Wiedereinführung der Realität bedeuten, die Wiederzulas-

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sung der Materialität der Körper und des Widerstandes der Dinge, die Inschutznahme des Konkreten vor dem Abstrakten. Die Wiedergewinnung einer weithin verlorenen Angewiesenheit der wirklichen Menschen aufeinander, in der zwischenmenschliche Begegnungen wieder durch den Austausch von Berührungen, in der die Botschaften der Sprache wieder durch das Wechseln von Worten, und die Wirkungen der Bilder durch die Einbildungen der Betrachter zustande kommen. Unsere Epoche verfügt als erste über die technischen Kommunikationssysteme, die einen solchen Austausch über die Grenzen der Face-toface-Begegnung hinaus ermöglichen können. Moderne Medientechnologie kann räumliche Distanzen, Sprachbarrieren, Wirtschaftsblockaden und politische Verwerfungen überwinden, um einen unbegrenzten Austausch unter Menschen zu ermöglichen. Die Apparaturen sind dieselben, wie sie vornehmlich zur Produktion und Verteilung industriell gefertigter Massenwaren genutzt werden. Der Idee des »global village« (McLuhan), das zugleich ein unbegrenzter Markt für industrielle Kulturwaren ist, hat diese Technologie bislang die Utopie einer interkorporativen, interkommunikativen und intervisuellen Gesellschaft geopfert, die erstmals die Chance hätte, den abgerissenen Faden der zivilisatorischen Indienstnahme von Bildern an der Stelle wieder aufzunehmen, wo er sich seit dem Übergang von der alten zur modernen Welt unmerklich in den Labyrinthen zunehmend selbstreferentieller Mediensysteme verlaufen hat.

3 E POCHEN DES W ANDELS »In der Rocktasche« der Riesen, wie Hans Peter Duerr sagen würde, und unter Bedachtnahme auf deren kritische Sichtung und Ergänzung lässt sich gegen Ende dieser Überlegungen der Versuch unternehmen, die Epochen der europäischen Psycho- und Soziogenese zu benennen und in eine Reihenfolge zu bringen. An Elias’ groß angelegtem Wurf zur zivilisatorischen Heranbildung des europäischen Menschen bleiben die temporär und regional eingegrenzte Zivilisationsdynamik der Verinnerlichung von Verhaltenskontrolle und der Monopolisierung von Gewalt unwiderlegt und ein unveräußerlicher Ausgangspunkt zivilisationstheoretischer Überlegungen, wenn sie auch nach berechtigter Kritik der Historiker an seiner Quellenbenützung sozusagen einer Runderneuerung ihrer empirischen Fundierung bedarf, die dort und da bereits geschehen oder im Gange ist.77

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Zu korrigieren und nachzutragen ist dagegen die weitere Entwicklung dieses Neuanfangs über die Geschichte der Disziplinargesellschaft zur Überflussgesellschaft der Gegenwart. Mit diesen Modifikationen treten mächtige Gegentendenzen an die Seite der von Elias ermittelten zivilisatorischen Sozio- und Psychodynamiken: Rasches Glück versus geduldige Langsicht; Körperkult, Voyeurismus und medialer Öffentlichkeitszwang versus Scham und Peinlichkeit; dramatische Übersteigerung von Gewaltphantasien und wahnhafte Gewaltausbrüche versus gesellschaftliche Gewaltkontrolle. Elias hat damit Recht, dass die Heranbildung des modernen Menschen einen durch soziale Veränderungen erzwungenen Prozess zunehmender Verlagerung der Kontrollinstanzen in das Innere seines psychischen Apparates darstellt. Er ist aber in mehrfacher Hinsicht zu optimistisch. Einerseits hat die Tabuisierung der privaten Gewalt weite Bereiche unberührt gelassen, insbesondere die Gewalt gegenüber Frauen, Kindern, körperlich oder geistig Behinderten und Fremden. Andererseits haben die modernen Staaten, die die Strafgewalt und die Erziehungsgewalt bei sich monopolisiert haben, selbst neue Formen der Gewalt und Unterwerfung hervorgebracht: die radikale Unterordnung aller Bürger unter die Maßstäbe ihrer Ökonomie und Politik, ohne darauf zu achten, ob die hiefür notwendigen inneren Motivationsstrukturen bereits ausgebildet sind oder nicht, und die Ausbeutung der neuen psychischen Selbstzwangapparaturen für die Zwecke nationalistischer Politik und marktorientierter Ökonomie, je nach Bedarf als Krieg oder Friede, Sparsamkeit und Fleiß oder Konsumorientierung und Vergnügungssucht. Elias hat, zweitens, die Qualität der inneren Umformung der Menschen auf ihrem Weg in die abendländische Moderne zu stark vereinfacht. Sie war eben nicht ein Vorgang bloßen Lernens oder stiller Gewöhnung, sondern ein Vorgang innerer Unterdrückung und Verdrängung gewaltsamer Impulse, deren Kontrolle eine bleibende Aufgabe der modernen Gesellschaften ist, weil sie nie gänzlich verlernt worden sind. Diese inneren Widersprüche hat Elias zwar immer wieder betont, ohne ihnen aber einen grundsätzlichen Stellenwert in der abendländischen Psychostruktur einzuräumen. Elias hat, drittens, dem Wandel vom Selbstzwang der Menschen zu ihrer Disziplinierung durch die gesellschaftlichen Machtapparate, wie ihn Michel Foucault beschrieben hat, zu wenig Beachtung geschenkt. Auch die Disziplinargesellschaft stellt aber nicht die letzte Entwicklung der euro-

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päischen Sozio- und Psychogenese dar. Selbstzwang und Selbstdisziplin gehen in der Gegenwart moderner Konsum- und Mediengesellschaften in der vermeintlichen Freiheit erzwungener Selbstverwirklichung auf. Die Sozio- und Psychogenese der europäischen Menschen seit dem Beginn der Neuzeit lässt sich nach diesen Einschränkungen bzw. Erweiterungen als Epochenfolge auffassen, die durch mehrere umfassende Dynamiken der Gesellschafts- und Menschenveränderung bestimmt wird: • eine Dynamik des Wandels von stärker konkret-körperlich zu stärker abstrakt-psychisch bestimmten Figurationen, mit der ein Wandel von material zu sprachlich dominierten Erfahrungs- und Wissensformen einhergeht (vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit, etwa das 16. Jahrhundert): die Epoche des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang; • eine auf sie folgende Dynamik der Durchsetzung und Stabilisierung der Selbstkontrolle durch Ausweitung und gezielten Einsatz von Körperund Psychotechniken der Disziplinierung (vom 17. bis zum 19. Jahrhundert): die Epoche der Disziplinierung; • und eine Dynamik der Verwandlung gesellschaftlicher Verhaltenszwänge in Selbstverwirklichungszwänge in der Gegenwart: die Epoche des gesellschaftlichen Zwangs zur Selbstverwirklichung. Die in die Gegenwart und Zukunft reichenden Prognosen des Norbert Elias erscheinen aus dieser Sicht eher als wünschenswerte Utopien der abendländischen Zivilisation denn als deren gültige Beschreibung. Utopien, so könnte man sagen, die durch die faktische Entwicklung versäumt wurden. Hierin hat die pessimistische Analyse Dietmar Kampers ihren Ort: Statt der Etablierung geduldiger, auf der Interaktivität und der Freiwilligkeit der gesellschaftlichen Individuen beruhender Lernprozesse haben die abendländischen Oberschichten allemal auf offene oder subtile Gewalt gesetzt und die Menschen deshalb um die Früchte jenes Fortschritts gebracht, zu dessen Herbeiführung all die Opfer gebracht wurden. Angesichts immer stärkerer »Zwänge zur Langsicht« und damit verbundener Notwendigkeiten kurzfristigen Triebverzichts hat der abendländischen Zivilisation der nötige Langmut gefehlt, das Tempo der Veränderung den – langsamen! – Möglichkeiten komplizierter menschlicher Individual- und Gruppenstrukturen anzupassen. Der Prozess der Zivilisation steuert nicht, wie Elias hoffte, logisch auf ein gutes Ende zu, sondern er ist radikal offen. Er kann die friedensstiftenden Menschenverflechtungen ebenso fortführen

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wie er sie durch eine einseitig ökonomistische, konsumistische und egozentrische Orientierungen zerstören kann. Der moderne Kult des zum persönlichen Lebensglück verhaltenen Individuums ist trügerisch und brüchig und die Verwirklichung des Selbst bleibt subtil der Übernahme gesellschaftlicher Vorgaben unterworfen. Die Wegstrecken von der Selbstdisziplinierung zur Selbstverwirklichung sind kurz und sie können immer auch rückwärts gegangen werden, ohne dass die Betroffenen das wahrhaben. Moderner Körperkult kann die asketische Form einer Fitnessdisziplin annehmen, die Befreiung der Sexualität kann zur revolutionären oder konsumistischen Pflicht, selbstbezogene Innerlichkeit zur »Tyrannei der Intimität«78 werden.

4 A BSCHIED VOM VOLLKOMMENEN M ENSCHEN Im Jahr 1994 veröffentlichten Dietmar Kamper und Christoph Wulf einen Sammelband mit dem Titel »Anthropologie nach den Tode des Menschen«. Untertitel: »Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit«.79 Thema der Beiträge ist die Kritik an einer Anthropologie, die der Ideologie der permanenten Vervollkommnung des Menschen als Inbegriff der Humanität verpflichtet ist. Vier Jahre später erschien der Katalogband der Ausstellung »Prometheus. Menschen. Bilder. Visionen«. Tenor der Bilder und Texte auch hier »das Ideal des vollkommenen Lebens […], das Ansinnen, paradiesische Zustände, wie immer sie aussehen mögen, wiederherzustellen«80. Jede Gesellschaft und Zeit »will ihre Zustände überschreiten und propagiert neue Leitbilder, neue Menschenideale, mit Hilfe derer das Leben besser als mit anderen zu meistern ist und die mehr menschliches, subjektives Glück verheißen. Die entsprechenden Phantasien kennen keine Grenzen.«81 Unterschiedlich in der Bewertung – als unmenschlich Kamper/Wulf, als typisch menschlich van Dülmen – sind sich die Autoren in Bezug auf den Konstruktcharakter dieser Vervollkommnungsphantasien einig. Menschenbilder und Schöpfungsträume sind zwar stets nur Konstruktionen von Menschen, und reflektieren selten unmittelbar das Alltagsleben, aber als Mythen, Sehnsüchte und Phantasien beherrschen sie die Vorstellungen und schreiben als solche auch Geschichte und Zukunft fest. Insofern ist der Mensch eine Erfindung des Menschen. 82

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Der Grund, weshalb die europäischen Wissenschaften sich mit der Gestalt des Menschen zu befassen begannen – und diesen Menschen auf diese Weise »erfanden« – bestand nicht in einer Wissbegier nach genauerer Selbsterkenntnis, sondern in einer Hoffnung oder auch einem Wahn: dass dieser Mensch es sei, der dazu berufen ist, die Welt zu vervollkommnen, indem er sich selbst vervollkommnet. Menschen – nicht erst der Moderne aber vor allem auch dieser – tendieren dazu, sich mit den Wunschvorstellungen von sich zu verwechseln. Das Programm einer in die Zukunft gerichteten und nach grandiosen Programmatiken wie etwa einer weltumspannenden Emanzipation, Rationalität oder Naturbeherrschung vorweggenommenen Menschheitsentwicklung gibt sich als Beschreibung der Beschaffenheit der bestehenden Menschen und aller denkbaren Menschen überhaupt aus und erklärt so fälschlich seinen gesellschaftshistorischen Ursprung in einer bestimmten Epoche und an einem begrenzten Ort als den Ursprung des Menschen schlechthin – aller jemals irgendwann lebenden Menschen also – und als die Welt der Menschen schlechthin – aller jemals irgendwo lebenden Menschen also. »Die Welt hat Menschen nötiger als ›Humanisten‹«, schreibt dagegen George Devereux83, und nennt einen Humanisten den, der »im Namen der Menschheit die Menschen vor sich selber retten wollte«84 . Auf der Tagesordnung steht die Entschleierung dieses Humanismus als absichtsvolle Verwechslung »des« Menschen mit der Wunschvorstellung vom bürgerlichen Menschen. »Die Rede von dem Menschen und der Anspruch, ihn global verkörpern zu können, beginnt erst mit dem Bürgertum und seinen spezifischen Abstraktionsleistungen.«85 Diese Vereinnahmung ist nicht nur inhaltlich – in Bezug auf die Einseitigkeit des bürgerlichen Menschenbildes – zu kritisieren, sondern grundsätzlich. Schon die Vereinheitlichung aller Menschen als solche stellt einen ideologischen Übergriff dar, der sich als wissenschaftliches Wissen ausgibt: »Den« Menschen gibt es nicht. Mit dem programmatischen bürgerlichen Humanismusanspruch geht eine pädagogisierende Grundintention einher, in der eine idealisierte menschliche »Natur« als Ausgang und Ziel der Erziehung des Menschen zu seiner eigentlichen Bestimmung fungiert. Die praktische Vermittlung von Natur und Kultur wird seit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft als Erziehung bestimmt. Die theoretischen Protagonisten dieser Gesellschaft von Kant bis Rousseau sind sich darin einig, dass die Beziehung der Generationen eine im Grunde pädagogische sei, in der es darauf ankomme,

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durch Überwachung, Kultivierung, Moralisierung und Disziplinierung die Vollkommenheit der Natur des Menschen herzustellen. Die Maßstäbe dieser Vollkommenheit werden wiederum aus der Natur abgeleitet. In diesem zirkulären Verhältnis ist Kultur die organisierte Herstellung des natürlichen Menschen, Pädagogik das Mittel, dieser Natur zum Durchbruch zu verhelfen. In seiner »Anthropologie in pragmatischer Ansicht« drängt Immanuel Kant »auf eine zukünftige Vervollkommnung des Menschen«.86 In seinen Vorlesungen »Über Pädagogik« formuliert er den Zusammenhang von Natur, Kultur und Pädagogik. Die Idee, dass die Vervollkommnung durch Erziehung immer perfekter erreicht werden könnte, »entzückt« den nüchternen Philosophen der Vernunft: Vielleicht, dass die Erziehung immer besser werden, und dass die folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. […] Es ist entzückend, sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und dass man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. 87

Auch wenn für Kant die Anteile von »Natur« und »Erziehung« an der Menschwerdung des Menschen nicht unterscheidbar sind, so stellt er doch klar, dass auch die Natur des Menschen nur durch Erziehung zum Tragen kommt: »Da die Erziehung aber den Menschen einiges lehrt, teils einiges auch nur bei ihm entwickelt: so kann man nicht wissen, wie weit bei ihm die Naturanlagen gehen.«88 Es ist nicht die Natur des Menschen, die sich entwickelt, sondern die Erziehung, die die Natur des Menschen »bei ihm entwickelt«. Aufgrund des Bedarfes jeglicher Erziehungslehre an legitimierenden Grundsätzen war gerade die Pädagogik verallgemeinerten Menschenbildern gegenüber nicht nur in einer unkritischen Weise aufgeschlossen, sie verstand sich in weiten Teilen selbst als Sachwalterin einer allgemeinen Menschennatur, die durch Erziehung zur Geltung zu bringen sei. Pädagogische Theorie und Praxis ist zumindest seit der Aufklärung durch eine prekäre Engsicht auf den Menschen – auf das Kind vor allem – gekennzeichnet, die diesen und dieses vor allem und bisweilen ausschließlich unter der Perspektive der Erziehung wahrnimmt. Die bedeutsamste Folge dieses Erziehungsabsolutismus besteht in der Konstruktion des

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Erziehungshandelns als eigener, von anderen zwischenmenschlichen Handlungsformen per se unterschiedener Handlungsform. Der Einsatz der Pädagogik ist seit der Aufklärung und deren Vorläufern von einem gelegentlich bis ins Wahnhafte sich steigernden Erziehungseifer geprägt, der das Kind in seiner lebendigen Wirklichkeit durch das pädagogische Wunschkind ersetzt. Der »Traum der Erziehung« gerät dadurch in Gefahr, zum Albtraum zu werden.89 Statt dem pädagogischen Handeln die Erfahrung und das Wissen um das Menschenmögliche aus der Geschichte der Menschen zur Verfügung zu stellen, will eine auf den pädagogischen Aspekt verkürzte Anthropologie »Menschenunmögliches als Orientierung für pädagogisches Handeln festlegen«90. Die Bestimmung des Menschen als homo educandus und homo educabilis, als erziehungsbedürftigen und erziehungsfähigen Menschen, stellt, so selbstverständlich und gängig diese Annahme auch für Pädagogische Anthropologen sein mag,91 eine Reduzierung von homo auf den homo paedagogicus dar. Ein historisches Verständnis des Menschen entzieht einer so verstandenen Pädagogik die Voraussetzungen: Pädagogische Anthropologie ist konstruktive Anthropologie, d.h. sie geht nicht davon aus, das »Wesen« des Menschen in anthropologischer Forschung und Reflexion erfassen zu können. Stattdessen begreift sie, dass ihr Verständnis vom Menschen von den jeweiligen Voraussetzungen abhängt, historisch bedingt ist und als Konstruktion zu begreifen ist.92

In seinem ersten Versuch, pädagogische Anthropologie als eine historische zu schreiben, verweist Christoph Wulf universalistische Anthropologien in das Reich der Fiktionen und Phantasmen. Der Anspruch pädagogischer Anthropologie, Aussagen über den Menschen bzw. das Kind oder den Erzieher zu machen, wurde nicht und kann prinzipiell nicht eingelöst werden. Derartige universalistische Ansprüche bedürfen historischer, ethnologischer und epistemischer Relativierung; andernfalls erscheinen sie als unzulässige Fiktionen und Phantasmen mit Macht- und Herrschaftsansprüchen. 93

Für die Pädagogik erscheint mit Blick auf die Geschichtlichkeit und Kulturgebundenheit von Kindheit und Erziehung ein »historical turn« unausweichlich. Es ist an der Zeit, Friedrich Schleiermachers Abkehr von jegli-

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cher Wesenspädagogik als Rahmenbedingung pädagogischer Theorie und Praxis ernst zu nehmen: Wenn es also steht um die anthropologischen Voraussetzungen, und auch das ethische Ziel infolge verschiedener Systeme nicht ein durchaus entscheidendes ist: welchen Grad an Allgemeinheit kann wohl unsere Theorie haben? Wird es möglich sein, eine allgemein gültige Pädagogik aufzustellen, d.h. für alle Zeiten und Räume? Diese Frage müssen wir verneinen. 94

Damit ist einer deduktiven, auf einer Anthropologie des Menschen aufbauenden Pädagogischen Anthropologie der Weg versperrt, die Ziele und Verfahren pädagogischen Handelns noch von einer allgemeinen conditio humana ableiten möchte. In seiner »Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« entwirft Kant eine Vision der Menschengeschichte als Erfüllung eines geheimen Plans der Natur, ihre vollkommenen Anlagen in einer vollkommenen Welt zur Geltung zu bringen. Man kann die Geschichte der Menschengattung als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann. 95

Diese Programmatik einer vollkommenen Menschheit hat eine Kehrseite. Sie sagt stets auch den Ausschluss und die Verleugnung alles dessen aus, was am Menschen nicht verbesserungsfähig erscheint. Festgeschrieben wurde eine mit den Zielen des Bürgertums verbundene Norm des perfektiblen Menschen. Als weniger wertvoll angesehen wurden Vorstellungen und Normen vom Menschen, die zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen entwickelt worden waren. Nur als Vorformen des zu immer größerer Vervollkommnung fähigen Menschen gerieten sie in den Blick. Das Fremde und das Wilde, die Gewalt und der Wahnsinn, die Hinfälligkeit und die Sterblichkeit hatten keinen Raum in den einseitig auf Vervollkommnung des Menschen und der Gattung orientierten Hauptströmungen bürgerlicher Anthropologie. Das zentrale Ziel lag in der Steigerung der Selbst kontrolle des jeglicher Konkretheit verlustigen Men-

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schen: bloße Form ohne Inhalt, Bild des Menschen als Spiegel der abstrakten Verhältnisse. 96

Erst die wachsende Einsicht in die vom Vollkommenheitsideal verstellten Exterritorien des ganz und gar Unvollkommenen, das Wahrhaben der durch den Fortschrittsglauben heraufbeschworenen Verunmöglichungsund Zerstörungspotentiale vermag die Gefährdungen und Grenzen eines unverbesserlichen Humanismus der Menschenverbesserung zu verdeutlichen. Erst nach dem Brüchig-Werden der bestimmenden bürgerlichen Anthropologie, mit dem Zerfall der Eindeutig keit der so lange als Fortschritt begriffenen zivilisatorischen Entwicklung, mit dem Wissen um den möglichen Umschlag von Rationalität in Mythos wird die Unverbesserlichkeit des Menschen in der gegenwärtigen Anthropologie gleichwertig mit der Perfektibilität zum Thema. Viele zivilisatorische Entwicklungen, die sich lange dem Programm der Vervollkommnung einzuschreiben schienen, zeigen ihre Ambivalenz bzw. ihren antinomischen Charakter. Viele Schritte in Richtung auf Vervollkommnung lösen Entwicklungen aus, die eher auf die Unverbesserlichkeit des Menschen verweisen. 97

Diese Einsicht gibt Anlass zum Zweifel an den mit dem Projekt des Humanismus verbundenen Emanzipationsansprüchen: Die Frage ist aufgetaucht, ob die Fortschritte der Zivilisation unter dem Zeichen einer abstrakten Anthropologie noch in einem sinnvollen Verhältnis zum Aufwand stehen. Es ist an der Zeit, eine Bilanz insofern zu versuchen, als einerseits das genannte Ziel nicht aufgegeben werden kann, sich andererseits aber – auch innerhalb der Wissenschaften selbst – die Stimmen mehren, dass die Mittel, um zum Zweck zu gelangen, erschöpft sind. 98

Voraussetzung einer solchen Bilanz ist die Herauslösung der humanistischen Ansprüche aus einem vorherrschenden Menschenverständnis, das Ausscheren aus dem wahnhaften Zirkel einer Vervollkommnung der menschlichen Natur nach dem Maßstab, der wiederum von dieser Natur in der Art, wie die Perfektionisten sie beschreiben, festgelegt wird. Zu verstehen, wie es zur Verwechslung »der« Menschen mit »dem« Menschen gekommen ist, zur täuschend echten Ineinssetzung aller konkreten Menschen aller Zeiten und Orte mit dem zu einer bestimmten Zeit und an

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einem bestimmten Ort entstandenen Entwurf von ihnen, könnte die Perspektive zu einem anderen, an »den« Menschen statt an »dem« Menschen orientierten Humanismus eröffnen. Das Ziel wäre gerade nicht die endgültige Beantwortung der Frage nach dem Eigentlichen und Unterscheidenden des Menschen, sondern deren Offenhalten vor dem Horizont des erst im Rückblick auf die Möglichkeiten der Menschen erfassbaren Menschlichen: die Wendung des Benjamin’schen Engels in beide Richtungen, in die Geschichte und in die Zukunft der Menschen.

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Anmerkungen

E INLEITUNG 1 | Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982 [1964], 17 2 | Ebd., 19 3 | Ebd., 17f. 4 | Feuerbach, Ludwig: Grundlagen der Philosophie der Zukunft. Zürich u.a.: Verlag des literarischen Comptoirs 1843, § 51 5 | MEW, Bd. 3,. Berlin: Dietz 1969 [1845], 34 6 | Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. MEW, Bd. 3. Berlin: Dietz 1969 [1845], 6 7 | Begründer und wesentlicher Vertreter dieser Richtung ist der Berliner historische Soziologe Dietmar Kamper. Vgl. Kamper, Dietmar: Geschichte und menschliche Natur. München: Hanser 1973 [im Folgenden: Kamper, Geschichte]; zur Einführung siehe: Rathmayr, Bernhard: Anthropologie, historisch-kritische. In: Hierdeis, Helmwart/Hug, Theo (Hg.): Taschenbuch der Pädagogik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 1996, 50-68 8 | Kamper, Geschichte, 26 9 | Ebd. 10 | Ebd., 33 11 | Köhler, Oskar: Versuch einer historischen Anthropologie. In: Saeculum 1974, 129ff. 12 | Martin Heidegger, zit.n. Kamper, Geschichte, 35f. 13 | Lenzen, Dieter A.: Melancholie, Fiktion und Historizität. In: Gebauer, Günther u.a.: Historische Anthropologie. Reinbek: Rowohlt 1989, 13-48, hier 22 [im Folgenden: Lenzen, Melancholie] 14 | Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Gesammelte Schriften, Bd. I/2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, 449

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S ELBSTZWANG UND S ELBST VERWIRKLICHUNG

15 | Kamper, Dietmar: Tod des Körpers – Leben der Sprache. Reinbek: Rowohlt 1989, 49-81 [im Folgenden: Kamper: Tod des Körpers] 16 | Rougemont, Denis de: Die Liebe und das Abendland. Zürich: Diogenes 1987 [1939], 140 17 | Vgl. Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München: Matthes & Seitz 1983; White, Hayden: Metahistory. Frankfurt a.M.: Fischer 1991. Ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart: Klett 1991 18 | Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1982 [1976] 19 | Kamper, Tod des Körpers, 65 20 | Lenzen, Melancholie 21 | Band 1: Wolf, Maria A./Rathmayr, Bernhard/Peskoller, Helga (Hg.): Konglomerationen – Produktion von Sicherheiten im Alltag. Bielefeld: transcript 2009 22 | Foucault, Michel: Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 [1966], 462 23 | Peskoller, Helga/Ralser, Michaela/Wolf, Maria A. (Hg.): Texturen von Freiheit. Innsbruck: University Press 2007

I S YMP TOME DES W ANDELS 1 | Vgl. Morin, Edgar: Das Rätsel des Humanen. München/Zürich: Piper 1973; Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 2 | Seit Luigi Luca Cavalli-Sforza und anderen wissen wir, dass Rassen im naturwissenschaftlichen Sinn nicht existieren. Die bekannten äußerlich sichtbaren Körpermerkmale der Größe, der Hautfarbe oder der Schädelform machen keine maßgeblichen Unterschiede im Gesamtgenom von Menschen aus. Dieses kann zwischen Angehörigen unterschiedlicher Hautfarbe identischer sein als in einer Gruppe z.B. Weißer (Cavalli-Sforza, Luigi L.: Verschieden und doch gleich. München: Droemer Knaur 1994). 3 | Sandgruber, Roman: Bittersüße Genüsse. Wien/Köln/Graz: Böhlau 1986; Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988; Payer, Peter: Der Gestank von Wien. Wien: Döcker 1997 4 | Löneke, Regina/Spieker, Irene (Hg.): Reinliche Leiber – Schmutzige Geschäfte. Göttingen: Wallstein 21996 5 | Thiele, Erika: Geschichte der Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Augsburg: Weltbild 71990; Hollander, Anne: Anzug und Eros. München: dtv 1997;

A NMERKUNGEN : S YMPTOME DES W ANDELS

Lehnert, Gertrud: Mode, Weiblichkeit und Modernität. Dortmund: Ed. Ebersbach 1998 6 | Ehalt, Hubert Ch. (Hg.): Sport zwischen Disziplinierung und neuen sozialen Bewegungen. Wien: Böhlau 1993; Bruckmüller, Ernst (Hg.): Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs. Wien: ÖBV 1998; Wesp, Gabriela: Frisch, fröhlich, Frau. Frankfurt a.M.: Helmer 1998 7 | Mette, A./Winter, I.: Geschichte der Medizin. Berlin: Verlag Volk und Gesundheit 1968; Lüth, P.: Von der stummen zur sprechenden Medizin. Frankfurt a.M./ New York: Campus 1986; Kathan, Bernhard: Das Elend der ärztlichen Kunst. Wien: Döcker 1999 8 | Ariés, Philippe: Geschichte des Todes. München: dtv 1982; ders.: Studien zur Geschichte des Todes. München: dtv 1982 9 | Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1992; Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; Wolf, Maria u.a. (Hg.): Körper – Schmerz. Innsbruck: Studia 1999 10 | Peters, Edward: Folter. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991; Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; Schild, Wolfgang: Verstümmelung des menschlichen Körpers. In: Dülmen, Richard van: Erfindung des Menschen. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1998, 261-281 11 | Dülmen, Richard van: Das Schauspiel des Todes. In: Ders./Schindler, Norbert (Hg.): Volkskultur. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1984, 203-245 12 | Zit.n. Kamper, Dietmar: Körper. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Weinheim u.a.: Beltz 1999, 408 13 | Vgl. ebd., 407 14 | Eine gute Zusammenfassung des abendländischen Teils der Geschichte der Körpermedizin bietet am Beispiel der Schmerzbehandlung: Hüper, Christa: Schmerz als Krankheit. Frankfurt a.M.: Mabuse 1994 15 | Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 16 | Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, 61 17 | Ebd. 18 | Editorial. In: Psychologie & Gesellschaftskritik Nr. 89/90 (1999), Heft 1/2, 5ff. 19 | Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 [1936, im Folgenden: Elias, Prozess] 20 | Zit.n. ebd., Bd. 1, 195 21 | Zit.n. ebd., 209

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22 | Zit.n. ebd., 208 23 | Zit.n. ebd., 115 24 | Ebd., 143 25 | Ebd. 26 | Ebd., 143f. 27 | ... »mittels kleiner goldener Gabeln mit zwei Zinken« 28 | Aus: S.A. Caban’s »Meures intimes du temps passé«, zit.n. Elias, Prozess, Bd.1, 87 29 | Die Gabel galt im Mittelalter als Teufelswerkzeug und ihre Verwendung war mit dem Kirchenbann belegt. Hildegard von Bingen etwa verurteilte die Benutzung der Gabel statt der Finger als teuflisches Instrument zur Verhöhnung und Verärgerung Gottes. Tatsächlich ist die in römischer Zeit noch als neutrales Esswerkzeug in Gebrauch befindliche zweizackige Gabel auf den mittelalterlichen Höllendarstellungen vor allem in den Händen von Teufeln zum Aufspießen der Verdammten in Verwendung. 30 | Hugo v. St. Victor: De institutione novitiarum; Petrus Alphonsi: Disciplina clericalis; Johannes v. Garland Morale scholarium 31 | Elias, Prozess, Bd.1, 76f. 32 | Ebd., 79 33 | Ebd., 169 34 | Zit.n. ebd., 165 35 | Ebd., 166 36 | Tannhäuser, zit.n. ebd., 168 37 | Elias, Prozess, Bd.1, 167 38 | Zit.n. Elias, Prozess, Bd.1, 110ff. 39 | Zit.n. ebd. 40 | »Disch-Zucht«, 1538, zit.n. Kleinspehn, Thomas: Warum sind wir so unersättlich? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, 52f. [im Folgenden: Kleinspehn, Unersättlich] 41 | Zit.n. ebd., 51 42 | Kleinspehn, Unersättlich 43 | Zit.n. ebd. 44 | Ebd. 45 | Czerwinski, Peter: Heroen haben kein Unbewusstes. In: Jüttemann, Gert: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Weinheim: Beltz 1986, 239-272, hier 247 [im Folgenden: Czerwinski, Heroen] 46 | Zit.n. Kleinspehn, Unersättlich, 50, Hervorhebungen B.R. 47 | Ebd., 52, Hervorhebungen B.R.

A NMERKUNGEN : S YMPTOME DES W ANDELS

48 | Zit.n. ebd., 52 49 | Zit.n. ebd. 50 | Ebd. 51 | Ebd., 57 52 | Zit.n. ebd. 53 | Ebd., 61 54 | Vgl. Rathmayr, Bernhard: Die Rückkehr der Gewalt. Wiesbaden: Quelle & Meyer 1996a [im Folgenden: Rathmayr, Rück kehr] 55 | Sebastian Franck, »Weltbuch«, 1533, zit.n. Kleinspehn, Unersättlich, 65 56 | Kleinspehn, Unersättlich, 69 57 | 2. Hälfte 16. Jahrhundert 58 | Zit.n. ebd., 54 59 | Kleinspehn, Unersättlich, 55 60 | Zit.n. Elias, Prozess, Bd.1, 174 61 | Zit.n. ebd., 177 62 | Zit.n. ebd. 63 | Zit.n. ebd., 176f. 64 | ... »sich sogleich an seinen Begleiter wendet und es ihm zeigt«, zit.n. Elias, Prozess. Bd. 1, 177 65 | Zit.n. ebd.: »Noch weniger geziemt es sich, jemand anderem eine stinkende Sache zum Riechen zu reichen, was dennoch manche zu tun pflegen, und sie zu bedrängen, indem sie diese stark stinkende Angelegenheit anderen an die Nase halten und sagen: Sei so gut und rieche, wie sehr dies stinkt. Stattdessen müsste man eher sagen: Weil es stinkt, sollst du nicht daran riechen.« 66 | Ebd., 193 67 | ... »der uriniert oder seinen Leib erleichtert«, zit.n. ebd., 183 68 | Zit.n. ebd., 184f. 69 | Ebd., 184 70 | Ebd., 185; dass die Beziehung der Menschen zu ihren Exkrementen keinesfalls beliebig ist, zeigt noch im 19. Jahrhundert der erhebliche Widerstand gegen die Einführung von Kanalisationssystemen in zahlreichen europäischen Städten. Es wolle »jeder Herr und König sein und bleiben auf seinem Misthaufen«, beklagt etwa 1871 der Medizinarat J. Bockendahl in Kiel. Siehe Gleichmann, Peter R.: Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen. In: Gleichmann: Materialien, 254277, hier 269 71 | Zit.n. Elias, Prozess, Bd.1, 219 72 | Ebd., 222 73 | Ebd.

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74 | Ebd., 223 75 | Ebd. 76 | Vgl. Rossiaud, Jacques: Dame Venus. München: C.H. Beck 1989; Ballhaus, Alexander: Liebe und Sex im Mittelalter. Bergisch-Gladbach: Gustav Lübbe 2009 77 | Zit.n. Elias, Bd. 1, 187 78 | Fuchs, E.: Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde. und 3 Ergänzungsbde. München: Albert Langen 1909-1912. Hier: Bd 1, 154f.; die »Illustrierte Sittengeschichte« ist auch in einer von Th. Huonker besorgten 6-bdg. Taschenbuchausgabe zugänglich: Frankfurt a.M.: Fischer 1988, 155 [im Folgenden: Fuchs, Sittengeschichte] 79 | Ebd. 80 | Ebd., 153 81 | Ebd. 82 | Ebd. 83 | Ebd., 161 84 | Pierre de Bourdeille/Seigneur die Brantôme: Vies des dames galantes et des dames illustres, 1665, zit.n. ebd., 161f. 85 | Vergil, Georgica 3, V. 242-244 86 | Ebd., 3, 250 87 | Vgl. Binder, G.: Amor omnibus idem: Liebeswahn als Konstante in Vergils Dichtung. In. Effe, Bernd/Glei, Reinhold (Hg.): Genie und Wahnsinn in der Antike. Trier: WTV 2000 88 | Ovid, Ars amatoria 2, 477 89 | Ebd., 1, 10 90 | Xenophon, Oikonomikos, X, 7, zit.n. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt a.M. 1986, 206. [im Folgenden: Foucault, Lüste] 91 | Ebd. 92 | Ebd., 207f. 93 | Ebd. 94 | Demosthenes: Gegen Neaera, 122, zit.n. ebd., 183 95 | Ebd., 208 96 | Ebd., 210 97 | Ebd., 189 98 | Ebd. 99 | Ebd. 100 | Ebd., 185 101 | Platon, Gorgias, 491 d, zit.n. ebd., 85. 102 | Platon, Politeia, 507 a,b

A NMERKUNGEN : S YMPTOME DES W ANDELS

103 | Politika, zit.n. ebd., 189 104 | Isokrates, Rede an Nikokles. Sämtliche Werke, Bd. 1. Stuttgart: Hiersemann 1993, 25 105 | Ebd., 36 106 | Ebd., 38 107 | Ebd. 108 | Laertios, Diogenes: De clarorum philosphorum vitis, dogmatibus et apophtegmatibus, lib. II, 8, 75, zit.n. Foucault, Lüste, 94 109 | Winkler, John J.: Der gefesselte Eros. Essen: Magnus 2002 [1990], 36 110 | de Rougemont, Denis: Die Liebe und das Abendland. Zürich: Diogenes 1987 [1972], 69 111 | Ebd. 112 | Foucault, Lüste, 31 113 | Die Tage der Enthaltsamkeit, die die christliche Sexualmoral vorschrieb, waren von beträchtlicher Zahl: Sonntag, Mittwoch und Freitag sowie alle Festund Fasttage (das waren im 8. Jahrhundert 273, im 16. Jahrhundert immer noch 120-140 Tage im Jahr), die Zeiten der »Unreinheit« der Frauen, d.s. die Tage der Menstruation, die ersten vierzig Tage nach der Entbindung, die Zeit der Schwangerschaft und die Stillzeit. Verstöße dagegen waren bis ins Hochmittalter eine schwere Sünde. »Der Wanderprediger Bertold von Regensburg (1220-1272) zog durch die Lande und verkündigte warnend, dass an solchen Tagen wie auch sonst in Sünde gezeugte Kinder mit schweren körperlichen Defekten geboren würden.« (Schenk, Herrad: Freie Liebe – wilde Ehe. München: C.H. Beck 1987, 56). Mit der Zeit nahmen die Vorschriften den Charakter von Empfehlungen an. 114 | Foucault, Lüste, 315 115 | Ebd., 93 f. 116 | De sacramento matrimonii, 3 Bde. 117 | C. Plinius Secundus: Naturalis historiae liber VIII, 5, 13 118 | Franz von Sales, Introduction à la vie dévote , III, 39. Zit.n. Foucault, Lüste, 26 119 | Hieronymus: Adversus Jovinianum I, 49, zit nach Flandrin, Jean-Louis: Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft: Von der kirchlichen Lehre zum realen Verhalten. In: Ariés, Philippe/Béjin, André/Foucault, Michel u.a.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1992 [1984], 147-164 120 | Benedicti, 1584, zit.n. ebd., 155 121 | Brantôme: Das Leben der galanten Damen, zit.n. ebd., 156 122 | Zit.n. ebd., 161

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123 | 2 Kor 12,17 124 | Czerwinski, Heroen 125 | Ebd., 240 126 | Ebd. 127 | Czerwinski, Peter: Der Glanz der Abstraktion. Frankfurt a.M.New York: Campus 1989, 27 [im Folgenden: Czerwinski, Abstraktion] 128 | Czerwinski, Heroen, 239 129 | Ebd. 130 | Ebd., 241 131 | Ebd. 132 | Ebd., 242 133 | Vgl. de Rougemont, Denis: Die Liebe und das Abendland. Zürich: Diogenes 1987; Rathmayr, Bernhard: Geschichte der Liebe. Hagen: FernUniversität 1994 [im Folgenden: de Rougemont, Abendland; Rathmayr, Liebe] 134 | de Rougemont, Liebe, 86 135 | Cingria, Charles-A.: Ieu oc tan. In: Mesures, Nr. 2, 1937. Zit.n. ebd., 87 136 | Elias, Prozess, Bd. 2, 90 137 | Ebd., 90f. 138 | Kamper, Dietmar: Der Verlust des Anderen. In: Ziehe, Thomas/KnödlerBunte, Eberhard: Der sexuelle Körper, ausgeträumt? Berlin: Verlag Ästhetik und Kommunikation 1984, 222 [im Folgenden: Kamper, Verlust] 139 | Alle zitierten Liedtexte aus de Rougemont, Abendland, 103ff. 140 | Elias, Prozess Bd.2, 114 141 | Bédier, Joseph: Tristan und Isolde. Deutsch von Josef Binding. Frankfurt a.M.: insel taschenbuch 1979, zit.n. Johnson, Robert A.: Traumvorstellung Liebe. Der Irrtum des Abendlandes. München: Knaur 1983, 17 [im Folgenden: Johnson, Traumvorstellung] 142 | Ebd., 190 143 | Vida Guilhems, zit.n.: Die Trobadors. Leben und Lieder. Bremen: Carl Schürmann 31985, 216f. 144 | Ebd., 217 145 | Ebd., 218; das Grab der Liebenden soll man, dem Hörensagen nach, in Perpignan noch heute besichtigen können 146 | Freud, Sigmund: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, 1912. Studienausgabe. Frankfurt a.M.: S. Fischer 81969, Bd. V, 197-209, hier 202 147 | Kamper, Verlust, 222 148 | Johnson, Traumvorstellung, Untertitel

A NMERKUNGEN : S YMPTOME DES W ANDELS

149 | Duby, George: Ritter, Frau und Priester. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 54ff. 150 | Nelli, Rewards. In: Feher, Michel (Hg.): Fragments for a History of the Human Body, Part 2, New York: Zone 1989, 218-235, hier 220 [im Folgenden: Nelli, Rewards] 151 | Bernard de Ventador: Languan vei per mei la landa, st. 5, zit.n. ebd., 221 152 | Véran, Jules: Les poétesses provençales du Moyen Age et de nos jours. Paris: Quillet 1946, 163, zit.n. Nelli, Rewards, 226 153 | weiblicher Troubadour 154 | Ebd., 226f. 155 | de Rougemont, Abendland, 46 u.ö. 156 | Ebd., 322 157 | Ariés, Philippe: Liebe in der Ehe. In: Ders./Béjin, André/Foucault, Michel u.a.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1992 [1984] 158 | Goreau, Angeline: Zwei Engländerinnen des 17. Jahrhunderts. In: Ariés/ Béjin/Foucault u.a., a.a.O., 130-146, hier 130 [im Folgenden: Goreau, Zwei Engländerinnen] 159 | Ebd. 160 | »Sylvias Complaint of her Sex’s Umhappiness«, 1688, zit.n. Goreau, Zwei Engländerinnen, 134 161 | Ebd. 162 | Aus dem Tagebuch der Mabel Loomis-Todd, zit.n. Gay, Peter: Erziehung der Sinne. München: C.H. Beck 1986, 84 [im Folgenden: Gay, Sinne] 163 | Ebd., 88 164 | Ebd. 165 | Ebd., 89 166 | Ebd., 90 167 | Ebd., 91 168 | Ebd., 92 169 | Ebd., 94 170 | Wie ihre historische Vorläuferin, die romantische Liebe der Troubadure, bleibt auch die Romantik bürgerlicher Frauen ein irrealer Wunschtraum, der in der Realität nicht standhält. David Todd entpuppt sich als veritabler Schürzenjäger, Mabel beginnt ein Verhältnis mit Austin Dickinson, einem hoch angesehenen Amherster Bürger, den sie wie einen Gott verehrt, all das unter Wahrung des bürgerlichen Anstands nach außen: Wenn der Liebhaber seine Frau besucht, zieht sich David diskret zurück, und meldet seine Wiederkehr, indem er eine vereinbar-

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te Melodie pfeift. Seine letzten Jahre beendet David Todd in einer Irrenanstalt. Das alles erfährt man aus den Lebenserinnerungen der Tochter des Paares, Millicent Todd, die unter dieser Verlogenheit sehr gelitten hat. 171 | Gay, Sinne, 100 172 | Grotjahn, M.: Freuds Briefwechsel. In: Eicke, D. (Hg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Freud und die Folgen. Zürich 1976, 35-146, hier 39 173 | Ebd. 174 | Ebd. 175 | Ebd. 176 | 1908, Studienausgabe, Bd. IX, 9-32 177 | Vgl.: Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 41984; Schenk, Herrad: Freie Liebe – wilde Ehe. München: C.H. Beck 1987; Schmidt, Gunter: Das große Der Die Das. Reinbek: Rowohlt 1988; ders.: Das neue Der Die Das. Gießen: Psychosozial-Verlag 22005; Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990; Rathmayr, Bernhard: Geschichte der Liebe. Hagen: FernUniversität 1992; Wolf, Maria: »Quasi irrsinnig«. Pfaffenweiler: Centaurus 1995; Rath, Wolfgang: Liebe. München: Wilhelm Goldmann 1998; Klotter, Christoph (Hg.): Liebesvorstellungen im 20. Jahrhundert. Gießen: Psychsozial-Verlag 1999; Sigusch, Volkmar: Neosexualtäten. Frankfurt a.M./New York 2005 178 | Ovid, Ars amatoria 1, 35 179 | Loux, Francoise: Das Kind und sein Körper in der Volksmedizin. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1991; siehe auch: Ottmüller, Ute: Speihkinder – Gedeihkinder. Tübingen: edition diskord 1991; Imhof, Arthur: Der Mensch und sein Körper. München: Beck 1983 180 | »Rothaarige Menschen und langhaarige Hunde sollten besser sterben als geboren werden«; »Wer Rotbärtige oder Schwarzhaarige totschlägt, tut nur seine Pflicht« 181 | »Schönes Schaf, schwächliches Lamm« 182 | de Mause, Lloyd (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, 58 [im Folgenen: de Mause, Kinder] 183 | »Das Stillen lässt die Frauen verwelken, die Liebe macht sie wieder gesund« 184 | de Mause, Kinder, 59 185 | »Ein Kind, das nicht schreit, saugt nicht« 186 | François Mauriceau, frz. Arzt und Geburtshelfer, 17. Jahrhundert, zit.n. Snyders, Georges: Die große Wende der Pädagogik. Paderborn: Schöningh 1971, 29

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187 | »Es ist besser, sein Kind rotzig zu lassen, als ihm die Nase abzureißen« 188 | Imhof, Arthur: Der Mensch und sein Körper: von der Antike bis heute. München: Beck 1983, 19ff. 189 | Erst in der jüngsten Vergangenheit hat Papst Benedikt XVI. den limbus puerorum als inexistent erklärt und den ungetauften Kindern die unmittelbare Aufnahme in den Himmel eröffnet. Angesichts der jahrhundertelangen Ängste der Menschen eine späte Entscheidung der katholischen Kirche. 190 | Arnold, Kind, 51 191 | Ebd., 48f. 192 | Berthold von Freiburg, um 1350, zit.n. Arnold, Kind, 49 193 | Zit.n. ebd, 49 194 | Ebd., 48 195 | Ebd. 196 | Ebd. 197 | Das »Recht über Leben und Tod« 198 | de Mause, Kinder, 47 199 | Ebd., 48 200 | Ebd., 57 201 | Ebd. 202 | Ebd., 52 203 | Arnold, Kind, 44 204 | wörtlich: Milch- oder Stillsäule 205 | Arnold, Kind, 44 206 | Tacitus, Germania , 78 n.u.Z.,. zit.n. ebd., 43 207 | Arnold, Kind, 44 208 | Ebd., 46 209 | Frankfurt a.M.: S. Fischer 1987, 19 210 | Ebd. 211 | Sinngemäße Zusammenfassung verschiedener Äußerungen Dieter Lenzens 212 | Süßmuth, Rita: Kind und Jugendlicher. In: Speck, Josef (Hg.): Handbuch pädagogischer Grundbegriffe., Bd. 1. München: Kösel 1970, 599f. 213 | Ariés, Philippe: Geschichte der Kindheit. München: Hanser 1975 [1960, im Folgenden: Ariés, Kindheit] 214 | de Mause, Kinder 215 | Ariés, Kindheit, 46 216 | Ebd., 560 217 | Ebd., 562 218 | Ebd., 98

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219 | Ebd., 562 220 | de Mause, Kinder, 12 221 | Ariés, Kindheit, 54 222 | Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 16 2006 [1983] 223 | Badinter, Elisabeth: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München u.a.: Piper 41999 [1981] 224 | Ariés, Kindheit, 552 225 | Ebd. 226 | Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik. Frankfurt a.M.: Ullstein 6 1993 [1977] 227 | Comenius, Johan A.: Große Didaktik. Hg. von Andreas Flitner. Stuttgart: Klett-Cotta 51982 [1638] 228 | Locke, John: Some Thoughts Concerning Education. London 1693 229 | Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Werkausgabe, Bd XII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1803], 699 230 | Salzmann an Campe, zit.n. Glantschnig, Helga: Liebe als Dressur. Frankfurt a.M./New York: Campe 1987, 118 231 | Herder, zit.n. ebd., 119 232 | Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes. Weinheim, Basel 1992 [1900] 233 | Ebd., 488 234 | Berg, Christa: Kinderwelten zwischen fürsorglicher Belagerung und SelbstBehauptung. In: Reiß, Gunter (Hg.): Schule und Stadt. Weinheim und München: Juventa 1995, 27-46 235 | Muchembled, Robert: Die Erfindung des modernen Menschen. Reinbek: Rowohlt 1990, 201f. 236 | Elias, Prozess, Bd. 1, 266 237 | Zit.n. ebd.: »Ich sage euch, dass ich so lange keine Lust am Essen, Trinken und Schlafen haben werde, bis ich wieder schreien höre: ›Vorwärts!‹ von zwei Seiten und die Pferde ohne Reiter im Schatten wiehern höre und ›Hilfe! Hilfe!‹ schreien höre und bis ich sie über die großen und kleinen Gruben am Feld fallen sehe und die Toten, die Flanken aufgerissen vom Holz der bannergeschmückten Lanzen« 238 | Zit.n. ebd., 267: »Ich werde jeden gefangenen Ritter beschimpfen und ihm die Nase und die Ohren abschneiden. Ist er ein Bote oder ein Kaufmann, wird man ihm die Beine oder die Arme lähmen« 239 | Zit.n. Elias, Prozess, Bd. 1, 267f. 240 | Ebd., 268f.

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241 | Ebd. 269 242 | Ebd, 181f. 243 | Wertheimer, Jürgen (Hg.): Ästhetik der Gewalt. Frankfurt a.M.: Fischer 1985 [im Folgenden: Wertheimer, Gewalt] 244 | Zit.n. ebd., 23 245 | Zit.n. ebd. 246 | Zit.n. ebd, 24 247 | Zit.n. ebd., 25 248 | Zit.n. ebd., 249 | Zit.n. ebd., 25f. 250 | Zit.n. ebd., 28; Auf flehentliches Bitten seines Vaters Priamos, König von Troja, wird sich Achill letztlich erweichen lassen und den Leichnam Hektors zur ehrenvollen Bestattung freigeben: Im väterlichen Prinzip zeigt sich eine gesellschaftliche Übereinkunft, die, selbst auf Gewalt aufgebaut, anderen Gewaltformen überlegen ist. 251 | Wertheimer, Gewalt, 31 252 | Ebd., 32 253 | Ebd., 33 254 | Ebd., 36 255 | Römischer Kaiser, 79-81 256 | ~ 40-100 257 | Zit.n. Neumeister, Christian: Das antike Rom. München: C.H. Beck 1991, 255 258 | Zit.n. ebd., 256 259 | Zit.n. ebd. 260 | Röm. Philosoph, 1-65 261 | Ebd., 263 262 | Röm. Schriftsteller, ~ 60-140 263 | Veyne, Paul: Brot und Spiele. München: dtv 1994 [1976] 264 | Wertheimer, Gewalt, 126 265 | Ebd., 130 266 | Ebd., 179 267 | Rathmayr, Bernhard: Geschichte der Liebe. Hagen: FernUniversität 1992 268 | Wertheimer, Gewalt 269 | Vgl. Rathmayr, Bernhard: Leidensgeschichten. In: Wolf, Maria u.a. (Hg.): Körper – Schmerz. Innsbruck: Studia Universitätsverlag 1998, 15-35 270 | Ital. Maler, 1362-1422: Fresken in der Chiesa di San Gimignano 271 | Ital. Maler, 1485-1567: Martyrium der Hl. Agathe

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272 | Wertheimer, Gewalt, 189 273 | Ebd., 151 274 | Ital. Staatsmann, 1469-1527 275 | Wertheimer, Gewalt, 157 276 | Weisse, Conrad F.: Der erziehrische Wert einer Hinrichtung, 1791. Zit.n. Rutschky, Schwarze Pädagogik, 7 277 | Ebd. 278 | Ebd., 8 279 | Ebd. 280 | Ebd., 9 281 | Ebd., 7 282 | Arasse, Daniel: Die Guillotine. Reinbeck b. Hamburg 1988, Untertitel [im Folgenden: Arasse, Guillotine] 283 | Arasse, Guillotine, 11f. 284 | Ebd., 12 285 | Ebd. 286 | Ebd., 18f. 287 | Ebd., 20f. 288 | Ebd., 23 289 | Ebd., 27 290 | Siehe Kap. II 291 | Siehe Kap. III 292 | Siehe Kap. IV 293 | Sieber, Samuel: Disziplinierungstechniken und moderner Körperkult. In: Psychologie & Gesellschaftskritik Nr. 89/90, 1999, Heft 1/2, 53-78, hier 74 294 | Meiser, Ute: Zur kulturellen Bedeutung des Vaters. In: dies./Albrecht, Friedrich: Krankheit, Behinderung und Kultur. Frankfurt a.M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1997, 69

II G ESELLSCHAF TLICHER Z WANG ZUM S ELBST Z WANG 1 | Elias wurde 1897 in Breslau als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie geboren, studierte zunächst Medizin, dann Philosophie in Breslau (Dissertation: Idee und Individuum) und dann Soziologie in Heidelberg, zuletzt in Frankfurt, wo Karl Mannheim zu seinen Lehrern gehörte. Seine fertige Habilitationsschrift über »Die höfische Gesellschaft« fiel bereits dem Nationalsozialismus zum Opfer. Das »verjudete« Frankfurter Institut für Soziologie wurde geschlossen, das Habilita-

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tionsverfahren abgebrochen. Elias flüchtete 1933 nach Paris, 1935 weiter nach England, wo er bis 1975 blieb, zunächst sich in verschiedenen Stellungen durchschlagend, seit 1954 als Lecturer of Sociology an der University of Leicester. Vergeblich versuchte er seine Eltern zu überreden, ihm zu folgen. Sein Vater starb, seine Mutter kam im KZ um. Nach einer Gastprofessur an der University of Ghana arbeitete er als Privatgelehrter und Gastprofessor an verschiedenen deutschen Universitäten und vor allem in Amsterdam, wo er am 1. August 1990 starb. 2 | Elias, Prozess, Bd. 1, X 3 | Ebd., 2f. 4 | Ebd., VIII 5 | Ebd., IX 6 | Ebd., 75 7 | Ebd., 74 8 | Muchembled, Robert: Die Erfindung des modernen Menschen. Reinbek: Rowohlt 1990, 211 9 | Elias: Prozess, Bd. 1, 75 10 | Ebd., 74 11 | Elias, Norbert: Notizen zum Lebenslauf. In: Gleichmann, Peter/Johan Goudsblom/Korte,Hermann: Materialien zu Norbert Elias’ Zvilisationstheorie 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 7-82, hier 63 12 | Elias, Prozess, Bd. 1, LXVIII 13 | Ebd. 14 | Ebd., 316f. 15 | Ebd., 374 16 | Elias, Prozess, Bd. 2, 313 17 | Ebd., 312-341 18 | Ebd., 314 19 | Czerwinski, Heroen, 264 20 | Ebd., 265 21 | Czerwinski, Abstraktion, 27 22 | Elias, Prozess, Bd. 1, 270 23 | Jean du Pyrat: Galatée ou la maniere et fasson comme le gentilhomme se doit gouverner en toute comagnie, 1562, zit.n. ebd., 299: »Die ganze Vollkommenheit eines Edelmannes besteht nicht nur darin, ein Pferd im Zaum zu halten, eine Lanze zu führen, sich gut in seinem Harnisch zu halten und auf alle Waffen zu verstehen, noch auch sich gerade noch zur Not zu beherrschen, wenn er unter Frauen ist, oder in der Liebe seinen Mann zu stellen.« 24 | Ebd.

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25 | Ebd., Bd. 2, 299 26 | Elias, Prozess, Bd. 2, 381f., nach Ranke, Französische Geschichte, Bd. 10, Kap. 3 27 | Ebd., 383 28 | Ebd., 372 29 | Ebd., 374 30 | Czerwinski, Heroen, 248 31 | Czerwinski, Abstraktion, 182 32 | Czerwinski, Heroen, 248 33 | In bemerkenswerter Weitsicht hat Elias zur genaueren Erforschung dieser psychischen Vorgänge einen neuen Wissenschaftszweig gefordert, »den es noch nicht gibt« und den er als »historische Psychologie« bezeichnet. Darin sollten die bislang in getrennten Disziplinen wirkenden Historiker und Psychologen zusammenarbeiten. (Prozess, Bd. 2, 385) Die inzwischen entstandenen Disziplinen der Historischen Anthropologie und der Psychohistorie geben Elias Recht, leider auch bezüglich der nach wie vor bestehenden großen Skepsis der Fachpsychologen-/innen gegenüber historischer Relativierung ihrer als ungeschichtlich gedachten Psychostrukturen und der ebenso großen Reserven von Fachhistorikern-/innen gegenüber psychologischen Deutungen geschichtlicher Prozesse und Persönlichkeiten. 34 | Elias, Prozess, Bd. 2, 398ff. 35 | Ebd., 397 36 | Ebd., 397f. 37 | Ebd., 397 38 | Ebd. 39 | Zur Kontroverse Elias-Duerr siehe Kap. II, 6 40 | Elias, Prozess, Bd. 2, 399 41 | Ebd., 404f. 42 | Ebd. 43 | So eindeutig sich Norbert Elias auf theoretische Ansätze Sigmund Freuds bezieht, so wenig explizit hat er sich mit der psychoanalytischen Theorie auseinandergesetzt. In einer Anmerkung zum ersten Band des Zivilisationsprozesses erklärt er diesen Umstand wie folgt: »Es braucht dabei kaum gesagt zu werden, aber es mag hier einmal ausdrücklich hervorgehoben werden, wieviel diese Untersuchung den vorausgehenden Forschungen Freuds und der psycho-analytischen Schule verdankt. Die Beziehungen sind für jeden Kenner des psycho-analytischen Schrifttums klar, und es schien unnötig, an einzelnen Punkten darauf hinzuweisen, zumal sich das nicht ohne ausführlichere Auseinandersetzung hätte

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tun lassen. Die nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen dem ganzen Ansatz Freuds und der hier vorliegenden Untersuchung sind ebenfalls hier explicite nicht hervorgehoben worden, besonders da sich vielleicht über sie nach einiger Diskussion ohne allzu große Schwierigkeiten ein Ein verständnis herstellen ließe. Es erschien wichtiger, ein Gedankengebäude möglichst klar und anschaulich aufzubauen, als an dieser oder jener Stelle eine Auseinandersetzung zu führen.« (Ebd., 324, Anm. 77) Aufgrund der wenigen Passgen, in denen Elias auf die psychoanalytische Theorie Bezug nimmt, kann man diese Zurückhaltung nur bedauern. So kritisiert er etwa brillant eine als unveränderliche Voraussetzung menschlicher Psychostruktur verstandene natürliche Triebausstattung und stellt ihr den Wandel der psychischen Instanzen und der Beziehung »zwischen diesen, teils miteinander ringenden, teils miteinander kooperierenden Funktionsschichten der psychischen Selbststeuerung« im Zivilisationsprozess gegenüber: »Im Laufe dieses Prozesses wird, um es schlagwortartig zu sagen, das Bewusstsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewusstseinsdurchlässig.« (Prozess, Bd. 2, 389f.) 44 | Elias, Prozess, Bd. 2, 400 45 | Ebd., 403 46 | Ebd., 404f. 47 | Elias, Prozess, Bd. 1, 159 48 | Ebd., 160 49 | Ebd. 163; ob die heute in allen Medien entgegengesetzt laufende Tendenz, die Kulissen vor allem Peinlichen wieder wegzuziehen, und es auf offener Bühne, am laufenden Bildschirm zu zeigen, bereits eine zivilisatorische Wende markiert, erscheint mir noch nicht ausgemacht. Entstehen doch gleichzeitig neue Peinlichkeiten, etwa des Zeigens von Armut, Behinderung, Arbeitslosigkeit und – immer noch – der Abweichung von der sexuellen Norm. Vor allem aber: Medien zeigen keinesfalls die »nackte«, d.h. unbearbeitete Realität, sondern bereiten sie in einer nach erwarteten Publikumsattraktivitäten ästhetisierten und somit bereits psychisierten Form auf. So könnte die Tendenz, Peinlichkeitsschwellen zu überschreiten, auch bloß dem Wunsch nach solchen Tabubrüchen entspringen, der durchaus noch mit der überkommenen zivilisatorischen Funktion von Scham und Peinlichkeit erklärbar wäre. 50 | Elias, Prozess, Bd. 1, 184 51 | Elias, Prozess, Bd. 1, 189 52 | Ebd., 186 53 | Elias, Prozess, Bd. 1, 322, Anm. 68: »Es scheniert sie nicht, sich unbekleidet vor einem Lakai sehen zu lassen; sie betrachtet ihn nicht als Mann im Ver-

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gleich zu sich selbst als Weibe«, heißt es über die Marquise de Châtelet, die Freundin Voltaires. 54 | Ebd. 55 | Ebd., 189 56 | Ebd., 186f. 57 | Ebd., 190f. 58 | Ariés, Kindheit 59 | Elias, Prozess, Bd. 1, 191 60 | Ebd. 61 | Ebd., 191 62 | Ebd., 191f. 63 | Ebd., 192 64 | Ebd. 190 65 | Ebd. 66 | Ebd., XLIIIf. 67 | Ebd., LX 68 | Ebd. 69 | Ebd., LX 70 | Ebd., LXf. 71 | Zur Rezeptionsgeschichte siehe Goudsblom, Johan: Aufnahme und Kritik der Arbeiten von Norbert Elias in England, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich. In: Gleichmann, Peter/Goudsblom, Johan/Korte, Hermann: Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21982, 17-85 [im Folgenden: Gleichmann, Materialien] 72 | Borkenau, Franz: Rezension zu Norbert Elias’ Zivilisationsprozess. In: Sociological Review 30, 1938, 308-311 und 31; 1939, 450-452, zit.n. Goodsblom, Johan: Aufnahme und Kritk der Arbeiten von Norbert Elias in England, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich. In: Gleichmann, Materialien, 23 73 | Gleichmann, Peter/Goudsbom, Johan/Korte, Hermann (Hg.): Macht und Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 280-304 [im Folgenden: Gleichmann, Macht] 74 | Ebd., 285 75 | Siehe: Wilterdink, Nico: Die Zivilisationstheorie im Kreuzfeuer der Diskussion. In: Gleichmann, Macht, 280-304 76 | Ebd., 281 77 | Ebd., 284 78 | Ebd., 285 79 | Ebd., 290

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80 | Ebd., 287f. 81 | Ebd. 82 | Ebd., 288 83 | Ebd., 291 84 | Ebd., 292 85 | Breuer, Stefan: Die Gesellschaft des Verschwindens. Hamburg: Junius 2 1993 [im Folgenden: Breuer, Verschwinden] 86 | Ebd., 21 87 | Ebd., 25 88 | Ebd. 89 | Elias schätzt den Einfluss Freuds auf seine Theorie hoch ein. In einem Brief an Johan Goudsblom schreibt er: »Ich glaube, daß wahrscheinlich Freuds Ideen mein Denken mehr beeinflusst haben als diejenigen irgendwelcher theoretischen Soziologen.« (Goudsblom, Johan: Aufnahme und Kritik der Arbeiten von Norbert Elias in England, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich. In: Gleichmann, Peter u.a. (Hg.): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21982, 17-100, hier 73) Andererseits glaubt Elias, »dass ich meine Fähigkeit über den Prozess der Zivilisation zu schreiben eher der Tatsache verdanke, dass meine Kenntnis der Bücher, die heute als Standardwerke einer soziologischen Ahnenreihe angesehen werden, zu jener Zeit, als ich das Buch schrieb, ausgesprochen mangelhaft war« (Prozess, Bd. 1, 324). Das heißt wohl, dass sich die Fähigkeit, eine eigene Theorie zu konzipieren, zu dem Bemühen, die Theorien anderer zu rezipieren, in einem gewissen Widerspruch befindet. 90 | Freud, Sigmund: Das Unbehagen an der Kultur. In: Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. IX. Frankfurt a.M.: Fischer 1974, 191-244 91 | Breuer, Verschwinden, 39 92 | Elias, Prozess, Bd. 2, 330f. 93 | Goudsblom, Johan: Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias: das Verhältnis zu Hiuzinga, Weber und Freud. In: Gleichmann, Macht, 129-147 94 | Ebd., 138 95 | Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Gesammelte Werke, Bd. XV, Frankfurt a.M.: Fischer 1969, zit.n. Goudsblom, ebd., 139 96 | Ebd., 140 97 | Ebd. 98 | Elias zit.n. Duerr, Mythos, Bd. 2, 275 99 | Schwerhoff, Gerd: Zivilisationsprozess und Geschichtswissenschaft. In: Historische Zeitschrift 1998, 561-605 [im Folgenden: Schwerhoff, Zi vilisationsprozess] 100 | Ebd., 603

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101 | Ebd., 604 102 | Bennholdt-Thomsen, Veronika: Zivilisation, moderner Staat und Gewalt. In: beiträge zur feministischeh theorie und praxis (Unser Staat?), Heft 13/1985, 2335, hier 23 [im Folgenden: Bennholdt-Thomsen, Zivilisation] 103 | Ebd., 26 104 | Zeugen des Jahrhunderts. Norbert Elias im Gespräch mit Hans-Christian Huf. ORF 1987 105 | Bennholdt-Thomsen, Zivilisation, 25 106 | Ebd. 107 | Ebd. 108 | Elias, Prozess, Bd. 2, 325 109 | Bennholdt-Thommsen, Zivilisation, 28 110 | Millet, Kate: Sexus und Herrschaft. München: DTV 1974 111 | Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2 Bde. Reinbek: Rowohlt 1980 112 | Bennholdt-Thomsen, Zivilisation, 28f. 113 | Ebd., 28 114 | Ebd., 31 115 | Ebd. 116 | Vgl. Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 117 | Bennholdt-Thomsen, Zivilisation, 32 118 | Ebd. 119 | Ebd., 32f. 120 | aus: Zeugen des Jahrhunderts. Norbert Elias im Gespräch mit Hans-Christian Huf. ORF 1987 121 | Wilterdink, Noco: Die Zivilisationstheorie im Kreuzfeuer der Diskussion. In: Gleichmann, Macht, 280-304, hier 282f. 122 | »Wir sind die späten Barbaren.« So Elias in einem Interview über die gegenwärtigen Menschen, die zukünftige Generationen für erst rudimentär zivilisiert halten werden. (DER SPIEGEL, Nr. 21/1988, 183-186, hier 183) 123 | Elias, Prozess, Bd. 2, 452 124 | Ebd., 453f. 125 | Ebd. 126 | Ebd. 127 | Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozess. Bd. 1 (1988): Nacktheit und Scham; Bd. 2, 1990: Intimität; Bd. 3, 1993: Obszönität und Gewalt; Bd. 4, 1997: Der erotische Leib; Band 5, 2002: Die Tatsachen des Lebens. Alle: Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994-2002. [im Folgenden: Duerr, Mythos]

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128 | Duerr, Mythos, Bd. 1, 34f. 129 | Elias, Prozess, Bd. 1, 319 130 | Duerr, Mythos, Bd. 1, 48, ähnlich wieder Bd. 2, 270ff. 131 | Ebd., Bd. 4, 25 132 | Ebd., Bd. 4, 24 133 | Ebd., Bd. 4, 354 134 | Ebd., Bd. 3, 14 135 | Wouters, C.: »Duerr und Elias«: Scham und Gewalt im Zivilisationsprozessen. In: Zeitschrift für Sexualforschung 1994, zit.n. Duerr, Mythos, Bd. 4, 12 136 | Duerr, Mythos, Bd. 3, 15 137 | Ebd., 17 138 | Mythos, Bd. 4, 16 139 | Ebd. 140 | Elias betont allerdings mehrfach, dass es ihm nicht um eine Klassifizierung unterschiedlicher Zivilisationsgrade als »besser« oder »schlechter« geht. Meist setzt er deshalb »primitiv« in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um ein Werturteil handelt. (Z.B. Prozess, Bd. 1, 405 u.ö.) 141 | Duerr, Mythos, Bd. 4, 19 142 | Ebd., 9 143 | Duerr, Mythos, Bd. 4, 11 144 | Duerr, Mythos, Bd. 3, 12 145 | Duerr, Mythos, Bd. 4, 26 146 | Ebd., 26 147 | u.a. Duerr, Mythos, Bd. 3, 15ff. 148 | Duerr, Mythos, Bd. 1, 12: Der Grund dafür sei gerade die hohe Interdependenz in einem vormodernen Dorf gewesen, »weil ich damit rechnen musste, dass andernfalls eine halbe Stunde später das ganze Dorf über dieses Ereignis unterrichtet gewesen wäre«. Ein Ausmaß an sozialer Kontrolle und wechselseitiger Verhaltensüberwachung, das Elias für die modernen Gesellschaften annehme, für die es genau nicht mehr gilt: »Mich jedoch an einem mitteleuropäischen Strand vor einheimischen jungen Mädchen umzuziehen, hätte mir vermutlich geringere Probleme bereitet.« 149 | Ebd. 150 | Duerr, Mythos, Bd. 1, 335; Ariane Barth ist in ihrer Rezension des ersten Bandes, »Nacktheit und Scham«, kritisch, hat aber letztlich doch viel übrig für Duerrs zentrale These einer anthropologischen Scham. (»Anders als Leute sich sonst ansehen«. SPIEGEL-Redakteurin Ariane Barr über Hans Peter Duerr: »Nacktheit und Scham«. In: DER SPIEGEL, Nr. 12, 1988, 214-220)

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151 | Vgl. Benedict, Ruth: Urformen der Kultur. Reinbek: Rowohlt 1955 [1937]; Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983 152 | z.B. Mythos, Bd. 3, 19ff. 153 | Elias, Norbert: Was ich unter Zivilisation verstehe. In: DIE ZEIT Nr. 15, 17.6.1988, 37f. Der Stellungnahme war eine Kontroverse in der ZEIT vorausgegangen: Greiner, Ulrich: Nackt sind wir alle. Über den sinnlosen Kampf des Ethnologen Hans Peter Duerr gegen den Soziologen Norbert Elias. Nr. 21, 20.5.1988; Duerr, Hans Peter: In der Rocktasche eines Riesen. Eine Erwiderung auf Ulrich Greiners Polemik: »Ist die Theorie vom Prozess der Zivilisation erledigt?«. Nr. 22, 27.5.1988. 154 | Ebd., 38 155 | Schröter, Michael: Scham im Zivilisationsprozess. In: Korte, Hermann (Hg.): Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 42-85; Ferner: Wouters, Cas: Duerr und Elias. Scham und Gewalt in Zivilisationsprozessen. In: Zeitschrift für Sexualforschung 7 (1994), 203-216; Trefzer, Rudolf: Vergeblicher Versuch einer Demontage, o.O, o.J.

III D IE I NTERVENTION DER D ISZIPLINARGESELLSCHAF T 1 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1975] [im Folgenden: Foucault, Überwachen] 2 | Vgl. Schild, Wolfgang: Geschichte der Gerichtsbarkeit. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 1980; Dülmen, Richard van: Das Schauspiel des Todes. In: Ders./Schindler, Norbert (Hg.): Volkskultur. Frankfurt a.M.: Fischer TB 224-232 3 | Foucault, Michel: Überwachen, 11 4 | Ebd., 14 5 | Ebd., 18 6 | Ebd., 37 7 | Ebd., 36 8 | Ebd., 36 9 | Ebd., 173ff. 10 | Ebd., 181-192 11 | Ebd., 183 12 | Ebd. 13 | Ebd., 184ff. 14 | Welche Revolution die Vereinheitlichung der Altersgruppen und der Unterrichtsräume in der europäischen Kultur des 17. Jahrhunderts darstellt, schildert

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anschaulich Ariés, Kindheit; Ein Beispiel für die Reduzierung der Schüler auf die Zwecke des Unterrichts ist die sogenannte »Trapp-Ehler’sche Schulbank« der gleichnamigen Pädagogen des 18. Jahrhunderts: ein rundum abgeschlossener Kasten mit einem schrägen Pult, auf den spitze, mit Filz überzogene Nägel die Schüler daran hindern sollten, im Unterricht etwas anderes zu tun als dem auf dem Pult liegenden Buch und den Anweisungen des Lehrers zu folgen. (Rutschky, Katharina [Hg.]: Schwarze Pädagogik. Frankfurt a.M.: Ullstein 61993, 500-509. [im Folgenden: Rutschky, Schwarze Pädagogik]); wie weit von solchen Entwicklungen nicht nur die Schule, sondern die gesamte Erziehungskultur betroffen ist, zeigen: Zinnecker, Jürgen: Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. In: Behnken, Imbke (Hg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozess der Zivilisation. Opladen: Leske+Budrich 1990, 142-162 und Zeiher, Helga: Die vielen Räume der Kinder. In: Preuss-Lausitz, Ulf u.a.: Kriegskinder, Konsumkinder, Kriesenkinder. Weinheim und Basel: Beltz 1983, 176-195 15 | Foucault, Überwachen, 192 16 | Zit.n. ebd. 17 | Ebd., 194f. 18 | Ebd., 195f. 19 | Ebd., 196; vgl. auch die detaillierten Definitionen des deutschen Turnpädagogen Adolf Spiess für das richtige »Stehen, Gehen, Hüpfen, Springen« oder »Fersenheben« (siehe Rutschky, Schwarze Pädagogik, 487-493), sowie die Anleitung Daniel G.M. Schrebers zum Treppensteigen (ebd., 477-479) und dessen Apparate zur geraden und »gesunden« Körperhaltung (ebd., Abb. 25-27; 29). 20 | Foucault verdeutlicht diese »instrumentelle Codierung« des Körpers (Überwachen, 197) u.a. an den Vorschriften zur Handhabung des Gewehrs. In der modernen Maschinen- und Konsumwelt hat sie einerseits eine hohe Selbstverständlichkeit erreicht, z.B. bei den verschiedenen Gerätesportarten (Turnen, Tanz, Schifahren, etc.), andererseits treten bereits – allerdings stets rückfallgefährdete – Gegenbewegungen auf, z.B. Snowboard, Streetball, Disco, etc. 21 | Foucault, Überwachen, 198 22 | Ebd., 202-209 23 | Auch hierfür ist die Geschichte der Schule ein anschaulicher Beleg. Während Bildungskarrieren bis zum 17. Jahrhundert von vielen Unterbrechungen, Zufällen und Sprüngen gekennzeichnet sind, entwickeln sich in der Folge durchorganisierte Schulsysteme, die die Dauer und Abfolge der einzelnen Stufen unabänderlch festlegen und die Absolvierung der jeweils vorgeordneten Phase zur Voraussetzung der Absolvierung der nächsten machen. Eine Bildungsgeschichte wie jene des nachmaligen Universitätsprofessors, Thomas Platter, wäre dann nicht mehr

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denkbar: Bis zum 18. Lebensjahr war der 1499 in Wallis geborene Thomas Platter zusammen mit seinem Vetter und anderen Kommilitonen von einer Stadt zur anderen, von einer Schule zur anderen, von einem Lehrer zum anderen gereist und konnte immer noch nicht lesen und schreiben. 1529 finden wir ihn dann nach einer Lernzeit bei dem Basler Humanisten Beatus Rhenanus als Professor für Hebräisch an der Universität Basel. 24 | Foucault, Überwachen, 209-219 25 | Ebd, 214 26 | Über Pädagogik. Werkausgabe 1977, Bd. IX, 697 27 | Foucault, Überwachen, 220 28 | Ebd. 29 | Ebd., 220-229 30 | Ebd., 227 31 | Ebd., 229-238 32 | Ebd., 230 33 | Ebd.; Das Schreckgespenst der Aufklärungspädagogen schlechthin ist die Masturbation. Der »Philanthrop« Johann H. Campe empfielt gegen dieses »schändliche Laster« die »Infibulation«: einen über die Eichel gespannten Kupferdraht, den er einschließlich einer Zeichnung detailliert beschreibt: »Jedes umgebogene Ende b umklammert das Stückchen Vorhaut über dem eingebohrten Loch. Die Krümmung a in der Mitte kommt gerade vor den Ausgang der Röhre, drückt da nicht, sondern mehr auf den Seiten der Eichel, wo sie auch mehr ertragen kann.« Die Sinnhaftigkeit eines solchen Instruments steht für Campe außer Zweifel: »Der Nutzen eines solchen Ringes ist dreifach. Erstlich macht er die Selbstschändung schlechterdings unmöglich; zweitens verhindert er auch die bloße Erektion durch den Schmerz, der in dem nämlichen Augenblick, da dieselbe sich ereignen will, alle wollüstigen Empfindungen sogleich unterdrückt: und hierdurch wird er drittens ein vollkommen sicheres Verwahrungsmittel auch gegen alle unwillkürlichen Schwächungen im Schlaf.« (Zit.n. Rutschky, Schwarze Pädagogik, 318f.) Der Pädagoge bedauert lediglich, »daß dieses allersicherste Mittel nur bei der einen Hälfte unserer Jugend, nämlich bei Knaben, aber nicht bei Kindern des andern Geschlechts eine Anwendung finden kann« (zit.n. ebd., 320). 34 | Foucault, Überwachen, 234; In diesem Verfahren kommt das bis heute bestehende System der Ziffernnoten noch ungeschminkt zum Ausdruck. Bewertet wird nicht die individuelle Leistung der Schüler-/innen, sondern ihre Position in der Rangreihe der Schüler-/innen der Klasse. 35 | Ebd., 235

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36 | Ebd., 238 37 | Ebd., 240 38 | Ebd., 241; während die mittelalterliche Meisterprüfung für einen Schmied noch darin bestand, dass der Kandidat in der Lage sein musste, nach zweimaligem Vorbeireiten eines Pferdes »in nur zwei Hitzen« vier passende Hufeisen zu schmieden (vgl. Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Wetzlar: Büchse der Pandora 1982, 44), beziehen sich moderne Prüfungen vor allem auf den Nachweis der Kenntnis des unterrichteten Lernstoffes, eine Prüfungsideologie, die durch die wieder kompetenzorientierten Prüfungsverfahren, etwa des PISATests, in die Krise kommt. 39 | Ebd., 241 40 | Ebd., 243; durch moderne Technologien wie Radar, Videoüberwachung oder Datenspeicherung hat sich dieser Effekt ins Unermessliche gesteigert. 41 | Ebd., 246; vgl. Ralser, Michaela: Das Subjekt der Normalität. München: Wilhelm Fink 2010 42 | Foucault, Überwachen, 249 43 | Ebd., 251-292 44 | Bentham, Jeremy: Panopticon; or, The Inspection-House: Containig The Idea of a New Principle of Construction Applicable to any Sort of Establishment, in which Persons of any Description are to be Kept under Inspection […]. In: The Panopticon Writings. Hg. von Miran Božovi. London/New York 1995, 31-95 [im Folgenden: Bentham, Panopticon] 45 | Ebd., 257 46 | Ebd. 47 | Mistelbach an der Zaya, Kleinstadt in Niederösterreich 48 | Peichl, Gustav: Musisch-Pädagogisches Realgymnasium Mistelbach, o.O., o.J., 35 49 | Ebd. 50 | Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bde. München: C.H. Beck 1988 51 | Bentham, Panopticon, Titel 52 | Peichl, a.a.O. 53 | KURIER, 31.12.1971. Jeremy Bentham war eine solche Perfektion seines Ideals von der totalen Überwachung noch versagt geblieben. In der ersten Version des Panopticons hatte er auch eine akustische Überwachung vorgesehen, die durch von den einzelnen Zellen zum Zentralturm führende Hörrohre verwirklicht werden sollte. Er verzichtete aber schließlich darauf, weil er keine technische Möglichkeit fand, diese Abhöranlage asymmetrisch zu gestalten. Bei ihrer

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Installierung hätten zwar die Aufseher die Häftlinge gehört, aber unvermeidlicherweise auch diese die Aufseher. – Weiteren Presseberichten ist zu entnehmen, dass aufgrund von Protesten der Lehrer-/innen von der zentralen Überwachung durch Videokameras wieder Abstand genommen werden musste. Aus demselben Grund mussten die in der Hauptschule Weiz (Steiermark) in durchsichtigem Glas ausgeführen Wände der Klassenzimmer durch Ziegelwände ersetzt werden. 54 | Österreichisches Institut für Schul- und Sportstättenbau (Hg.): Schulbau in Österreich von 1945 bis heute. Horn-Wien 1982 55 | Sieber, Samuel: Disziplinierungstechnologien und moderner Körperkult. In: Psychologie & Gesellschaftskritik, Nr. 98/99, 1999, 53-78 56 | Ebd., 76 57 | Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, 36 [im Folgenden: Foucault, Erfahrungstier] 58 | Ebd., 37 59 | Ebd., 47f. 60 | Ebd., 48 61 | Ebd. 62 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968 63 | Foucault, Erfahrungstier, 8f. 64 | Ebd. 65 | Ebd., 46 66 | Ebd., 48 67 | Ebd., 52f. 68 | Ebd., 52 69 | Ebd., 52f. 70 | Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 [1966, im Folgenden: Foucault, Ordnung] 71 | Ebd., 47 72 | Ebd. 73 | Ebd. 74 | Neapolitanischer Schriftsteller, 1535-1615 75 | Porta, zit.n. ebd., 48 76 | Paracelsus: Liber Primarium. Paris 1913, 3, zit.n. ebd., 49 77 | Oswald Crollius: Traité des signatures. In: La Royale Chymie de Crollius. Lyon 1624, 18, zit.n. ebd., 50 78 | Foucault, Ordnung, 51

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79 | Ebd., 52 80 | Ebd. 81 | Ebd., 53 82 | Ebd., 54 83 | Ebd. 84 | Cardano, Girolamo: Offenbarung der Natur und natürlicher Dingen auch mancherley subtiler Würckungen, 1559, zit.n. ebd. 85 | Annotations au Grand Miroir du Monde de Duchesne, zit.n. Foucault, Ordnung, 55 86 | Foucault, Ordnung, 56 87 | Paracelsus: Natura rerum, zit.n. ebd., 57 88 | Oswald Crollius: Traité des signatures, zit.n. ebd., 58 89 | Foucault, Ordnung, 63 90 | Ebd., 60 91 | Ebd., 67 92 | Ebd., 68 93 | Ebd., 74 94 | Ebd., 75 95 | Ebd. 96 | Ebd., 73 97 | Ebd., 74 98 | Ebd. 99 | Ebd. 100 | Ebd., 76 101 | Ebd. 102 | Ebd., 78 103 | Ebd., 79 104 | Ebd., 79f. 105 | Ebd., 80 106 | Ebd., 84 107 | Regulae ad directionem ingenii, 1628, zit.n. ebd., 83 108 | Zit.n. ebd., 83 109 | Franz Baco’s neues Organon, 1870, zit.n. ebd., 84 110 | Ebd., 90 111 | Ebd., 81 112 | Ebd. 113 | Ebd., 88 114 | Ebd.

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115 | Descartes, Regulae, zit.n.ebd., 89 116 | Ebd. 117 | Ebd., 102 118 | Ebd., 373 119 | Kant, Immanuel: Logik. Werkausgabe 1977 [1800], Bd. VI, 2, 447f. 120 | Ebd., 382 121 | Ebd. 122 | Ebd., 384 123 | Ebd. 124 | Ebd., 375 125 | Ebd. 126 | Ebd., 384 127 | Ebd. 128 | Ebd., 462 129 | Ebd. 130 | Ebd. 131 | Ebd., 26 132 | Ebd., 389 133 | Ebd. 134 | Ebd. 135 | Ebd., 410f. 136 | Ebd., 412 137 | Foucault, Erfahrungstier, 84 138 | Ebd., 84f. 139 | Ebd., 85 140 | Ebd. 141 | Ebd., 117 142 | Ebd.

IV G ESELLSCHAF TLICHER Z WANG ZUR S ELBST VERWIRKLICHUNG 1 | Vgl. Rathmayr, Rückkehr 2 | Vgl. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 142004 [1986], 167ff. 3 | Fromm, Erich: Der moderne Mensch und seine Zukunft. Frankfurt a.M. 1960. In recht ähnlicher Form wurden, häufig mit einem kulturpessimistisch moralisie-

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renden Unterton, derartige Einschätzungen von Daniel Bell, Allan Bloom oder Christopher Lasch vorgetragen: Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt. Frankfurt a.M. 1979; Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. München 1982; Bloom, Allan: Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Hamburg 1988 4 | Fromm, Erich: Der moderne Mensch und seine Zukunft. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 81977, 124 5 | z.B. Hirsch, Fred.: Die sozialen Grenzen des Wachstums. Reinbek: Rowohlt 1980; Kucmics, Helmut.: Der Preis der Zivilisation. Frankfurt a.M./New York 1989 6 | Keitz, Christine: Reisen als Leitbild. München: dtv 1997 7 | Kramer, Dieter: Aspekte der Kulturgeschichte des Tourismus. In: Zeitschrift für Volkskunde 78, 1982, 49-81; Bausinger, Hermann/Beyrer, Klaus/Korff, Gottfried (Hg.): Reisekultur. München: C.H. Beck 1991; Ertzdorff, Xenia von (Hg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1992; Leed, Eric J.: Die Erfahrung der Ferne. Frankfurt a.M. u.a.: Campus 1993; Ohler, Norbert: Reisen im Mittelalter. Zürich: Artemis und Winkler 1999 8 | Brenner, Peter (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 9 | Enzensberger, Hans Magnus: Vergebliche Brandung der Ferne. In: Merkur 12, 1958, 701-720 10 | Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war. Berlin: Wagenbach 1997 11 | Eine Ausnahme stellt der von Hermann Bausinger, Karl Beyrer und Gottfried Korff 1991 herausgegebene Sammelband »Reisekultur« dar, der detailreiche historische Schilderungen mit kritischen zivilisationstheoretischen Ansätzen verbindet. 12 | Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 214 [im Folgenden: Todorov: Eroberung] 13 | Ebd., 24 14 | Ebd. 15 | Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 18 16 | Am Abend des 29. Februar 1504 macht sich Columbus die Einwohner Jamaikas dadurch gefügig, dass er, wissend, dass an diesem Tag eine Mondesfinsternis zu erwarten ist, damit droht, ihnen den Mond zu stehlen. (Todorov, Eroberung, 29) 17 | Carta a los reyes, 31.8.1498, zit.n. ebd., 25 18 | Todorov, Eroberung, 31 19 | Vorrede zum »Libro de las Profécias«, zit.n. ebd., 25 20 | Zit.n. ebd., 47f.

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21 | Zit.n. ebd., 25 22 | Zit.n. ebd., 58 23 | Bordbuch, 31.8.1498, zit.n. ebd., 59 24 | Carta a los reyos, 31.8.1498, zit.n. ebd. 25 | Zur selben Zeit, als die Entdecker ihren Finanziers große Reichtümer versprachen, verschärfte sich in der spätmittelalterlich/frühneuzeitlichen Gesellschaft die Abwehr gegenüber einer ganz anderen Gruppe von Reisenden, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erheblich zugenommen hatte: den Armen. »Angst erzeugte weniger die Armut des Bettlers als die Tatsache, dass er nicht arbeitete, ständig unterwegs war und dass man ihn nicht kannte. Die Menschen wussten nicht mehr, mit wem sie es zu tun hatten.« (Mollat, Michel: Ende der Barmherzigkeit? In: 1492. Die Welt zur Zeit des Kolumbus. München 1992, 293-301, hier 293) Der noch über das gesamte 15. Jahrhundert anhaltenden Kritik an der Armut entsprechen ähnlich phantastische Bilder von Unmenschen, wie sie Columbus auf seinen Fahrten zu sehen vermeinte. Christine de Pisan, der es wohl kaum an sozialem Gewissen mangelte, beschreibt »Herrn Ungeschlacht«, den Mann von »Frau Armut«, als groben, schwarzhaarigen Gesellen mit abstoßendem Gesicht: »Ich glaube wirklich, daß nie zuvor eine so häßliche Kreatur entstanden war.« (Zit.n. ebd., 299) »Mit solchen Leuten soll man wenig Mitleid haben«, heißt es im »Chemin de Poverté et Richesse«, und: »Wenn es ihnen schlecht geht, so ist das nur rechtens«. (Zit.n. ebd.). Die Ähnlichkeit mit modernen Argumenten der Armenverachtung ist offenkundig, so sehr sich Formen und Orte der Armut geändert haben: Als vorbildliche Stadt, in der er keinen einzigen Bettler gesehen habe, führt ein Zeitgenosse Kairo an. 26 | Todorov, Eroberung, 19 27 | Ebd. 28 | Brief an den Papst, Februar 1502, zit.n. ebd., 20 29 | Zit.n. ebd. 30 | Ebd. 31 | Mit welcher unerbittlichen Grausamkeit noch unter der Befehlsführung des Columbus selbst der Sklaventransport vorgenommen wurde, zeigt einer der wenigen Augenzeugenberichte: »Als unsere Karavellen [...] zur Abfahrt nach Spanien bereit waren, versammelten wir in unserer Niederlassung eintausendsechshundert männliche und weibliche Personen von diesen In dianern und am 17. Februar 1495 verluden wir fünfhundertfünfzig Seelen der besten Männer und Weiber auf unsere Karavellen. Für die übrigen ließ man in der Gegend bekanntmachen, daß jeder, der es wollte, davon so viele nehmen konnte, wie ihm beliebte; und dies geschah dann auch. Und als sich jeder versorgt hatte, blieben immer noch etwa

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vierhundert, denen man die Erlaubnis gab, zu gehen, wohin sie wollten. Unter ihnen waren auch Frauen mit Säuglingen an der Brust. Da sie Angst hatten, man könne sie wieder einfangen, und um uns leichter zu entkommen, ließen sie ihre Kinder irgendwo auf der Erde liegen und rannten in wilder Flucht davon; manche flohen so weit, daß sie sich sieben oder acht Tagreisen von unserer Niederlassung auf Isabella befanden, hinter den Bergen und jenseits riesiger Flüsse; deshalb wird man sie nur noch unter großen Mühen einfangen können« (Michele de Cuneo, Brief an Annari, zit.n. Todorov, Eroberung, 62) Noch schrecklicher als das Schicksal der Vertriebenen war jenes derer, die auf die Schiffe gezwungen worden waren: »Doch als wir die Gewässer vor den spanischen Küsten erreichten, starben etwa zweihundert von ihnen. Wir warfen sie ins Meer.« Und später: »Wir luden alle Sklaven aus, von denen die Hälfte krank war.« (Ebd., 63) 32 | Todorov, Eroberung, 3 33 | Ebd., 161 34 | Leed, Eric J.: Die Erfahrung der Ferne. Frankfurt u.a.: Campus 1993, 163 [im Folgenden: Leed, Ferne] 35 | Herbers, Klaus: Unterwegs zu heiligen Stätten. München: Beck 1991, 24 [im Folgenden: Herbers, Unterwegs] 36 | Ebd., 23 37 | Ebd., 26 38 | Niebuhr, Carsten: Reisebeschreibung nach Arabien und den umliegenden Ländern. 3 Bde. Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt: 1968 [1837], hier Bd. 3, 42 39 | Ebd. 40 | Herbers, Unterwegs, 31 41 | Leed, Ferne, 163 42 | Eine Gruppe gutgelaunter bayrischer Urlauber und Urlauberinnen, unterwegs zu ihrer Urlaubsdestination in Kreta: Sie führen, sagten sie, nach »Rebdübon«. Damit meinten sie das venezianisch-muslimische Städtchen Rétimnon an der Nordküste der Insel, dessen Namen sie sich nur notdürftig gemerkt hatten. Später nach ihren Erlebnissen im Urlaub gefragt – Ob sie Knossos gesehen hätten und das archäologische Museum von Heraklion oder die Samaria-Schlucht? – waren sie verwundert: Sie hätten in ihrem Club (zehn Minuten Fußweg von Rétimnon entfernte Hotelanlage) ja so weit alles gehabt, Swimmingpool, Strand, Fitness, Tennis, und Klimaanlage, versteht sich, weshalb hätten sie da in dieser Affenhitze in den Ruinen herumsteigen sollen? – Und Rebdübon? Nein. Nicht viel los, hätten ihre Urlaubsbekannten aus Hannover gesagt, voll von Touristen ... 43 | Leed, Ferne, 159

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44 | Ebd. 45 | Ebd, 158 46 | Palestine Pilgrim’s Text Society 1971, 160 47 | Ebd. 48 | Pernoud, Régine: Frauen zur Zeit der Kreuzzüge. Freiburg u.a.: Herder 1995, 158 [im Folgenden: Pernoud: Frauen] 49 | Ebd., 160 50 | Baumann, Zygmunt: Flaneur, Spieler, Touristen. Hamburg: Hamburger Ed. 1977, 136 51 | Ebd. 52 | Lee, Ferne, 161 53 | Ebd., 162 54 | Für Reisende aus den USA, mit denen ich mehrere Sommer hindurch im Bus durch Europa tourte (»If this is Tuesday it must be Belgium«), bestand die Welt ausschließlich aus solchen touristischen Erhebungen in einem Meer der Außerachtlassung: Big Ben, der Kölner, Mainzer, Straßburger Dom, der Campanile von Venedig, der schiefe Turm von Pisa, der Petersdom, Pompeji, die blaue Grotte, die Villa Axel Muntes. Durch den Rest der Landschaften fuhren sie wie entrückte Pilger, zumeist aufgrund der Strapazen und der Eintönigkeit der Busreise schlafend. 55 | Randolph William Hearst erwarb »stückweise oder im Ganzen europäische Schlösser, Abteien und Klöster, ließ sie demontieren und Stein für Stein nummerieren, über den Ozean expedieren und hier auf dem Zauberhügel wieder zusammenbauen, inmitten frei lebender wilder Tiere« (Eco, Umberto: Über Gott und die Welt. München, dtv 72002, 57). 56 | Ebd., 53 57 | Ebd., 54 58 | Lee, Ferne, 63 59 | Pernoud, Frauen, 22 60 | Ebd., 14 61 | Elias, Prozess, Bd. 2, 50 62 | Ebd., 31 63 | Las Casas »Historisa de las Indias«, zit.n. Tododorv, Eroberung, 20f. 64 | Er solle gefälligst Platz machen, antwortete ein Skitourist einem Einheimischen, der sich über sein rücksichtsloses Drängen beschwerte, denn »ohne unser Geld könntet’s ihr nicht einmal einen Lift bauen«. Beobachtet am »Christlum-Lift« bei Maurach am Achensee.

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65 | de Bougainville, Louis A.: Reisen um die Welt. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2002 [1771] 66 | Kohl, Karl-H., Entzauberter Blick. Frankfurt/M.: Qumran Verlag 1983, 209 [im Folgenden: Kohl, Blick] 67 | Ebd., 211 68 | Ebd., 214 69 | Ebd., 211 70 | Ebd. 71 | Ebd., 220 72 | Ebd., 221 73 | Ebd., 222 74 | Ebd. 75 | Ebd., 229 76 | Ebd. 77 | Ebd. 78 | Ebd., 235 79 | Ebd., 237 80 | Ebd., 203 81 | Ebd. 82 | Ebd., 219 83 | Kamper, Tod des Körpers, 73ff. 84 | Kohl, Blick, 213 85 | Pelz, Annegret: Reisen Frauen anders? In: Bausinger/Beyer/Korff (Hg.): Reisekultur. München: C.H. Beck 1991, 174-178, hier 174 [im Folgenden: Pelz, Reisen] 86 | Ebd. 87 | Ebd., 175 88 | Panzer, Bärbel: Die Reisebeschreibung als Gattung der philanthropischen Jugendliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1983, 261 89 | Pernoud, Frauen, 16 90 | Ebd. 91 | Pelz, Reisen,174 92 | Ebd. 93 | Theodor Hampe 1902, zit.n. ebd., 195 94 | Le Pensif 1744, zit.n. ebd. 95 | Ostwald 1901, ebd.,175f.

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96 | Bei Leed, Ferne etwa verweist die erste Seitenangabe beim Stichwort »Frauen« (S. 325) auf das Kapitel »Der Mann auf Reisen«, die zweite auf Frauen als Tauschobjekte und »Erotische Aspekte der Ankunft«, die dritte auf die »sesshafte Frau«, die vierte auf die Lasterhaftigkeit weiblicher Pilger und die letzte auf die »Rolle« [der Frau] »bei der Ankunft« [des Mannes]. 97 | Pelz, Reisen, 176 98 | Ebd., 177 99 | Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war. Berlin: Wagenbach 1997, 8 100 | Ebd. 101 | Dieser zwei scheinbar unvereinbare Gesellschaftsformen zusammenfügende Terminus wird hier als Kürzel für die Tatsache verwendet, dass das Bürgertum seine Vorherrschaft nicht nur durch die bürgerlichen Revolutionen, sondern ebenso durch die Kopie der feudalen Standesgesellschaft als moderne Klassengesellschaft erreicht hat. Vgl. hierzu: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 [1983] 102 | Émile, zit.n. Pelz, Reisen, 177 103 | Pelz, Reisen, ebd. 104 | Ebd., 178 105 | Schwarz, Sophie: Briefe einer Curländerin. Berlin 1791, zit.n. ebd., 178 106 | Ebd. 107 | Huber, Therese: Bemerkungen über Holland. Leipzig 1811, zit.n. ebd. 108 | Duby, George/Barthelemy, Dominique: Französische Adelshaushalte im Feudalzeitalter. In: Ariés, Philippe/Duby, George: Geschichte des privaten Lebens. Bd. 2. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, 91 109 | Sachs, Wolfgang: Die Liebe zum Automobil. Reinbek: rororo 1990. Untertitel [im Folgenden: Sachs, Automobil] 110 | Abgeleitet vom französischen »carosse«, was soviel heißt wie »Prunkfahrzeug«. 111 | Als Faksimile herausgegeben von: Herbers, Klaus/Plötz, Robert: Die Strass zu Sankt Jakob. Kevelarer: Thorbecke 2004 112 | Ebd., 36/37 113 | Unter einem »Spital« des 15. Jahrhundert darf man sich nicht ein heutiges Krankenhaus vorstellen. Die Bezeichnung leitet sich vom lat. hospitalium her, was soviel wie Gastzimmer (von hospes: Fremdling; hostes: Gast) bedeutet, eine Gaststätte, in der Fremde, Pilger, später Arme und Kranke unterkommen konnten. 114 | Herbers/Plötz, Die Strass zu Sankt Jakob, 90-94

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115 | Etwas »er-fahren« heißt: die Kenntnis von etwas durch das Hinfahren, Hindurchfahren erlangen. 116 | Sachs, Automobil, 109 117 | Zit.n. ebd., 13 118 | Zit.n. ebd., 14 119 | Zit.n. ebd., 15 120 | Zit.n. ebd. 121 | Zit.n. ebd. 122 | Ebd., 17 123 | Bierbaum, Otto J.: Yankeedoodlefahrt und andere Reisegeschichten. München 1910, zit.n. ebd., 18 124 | Ebd. 125 | Meyers Konversationslexikon, 1850, zit.n. ebd. 111 126 | Bierbaum, Otto J.: Eine empfindsame Reise mit dem Automobil. München 1903, zit.n. Sachs, Automobil, 111 [im Folgenden: Bierbaum, Reise] 127 | Sachs, Automobil, 18 128 | 1841, zit.n. ebd., 115 129 | Bierbaum, Reise, zit.n. ebd. 113 130 | Ebd. 131 | Allgemeine Automobilzeitung, 1906, Nr. 17, S. 33, zit.n. Sachs, Automobil, 19 132 | Sachs, Automobil, 116 133 | Bierbaum, Reise, zit.n. ebd., 20 134 | Sachs, Auomobil, 21f. 135 | Zit.n. ebd., 151 136 | Zit.n. ebd., 52 137 | Ebd. 138 | Ebd., 23 139 | Bierbaum, Reise, zit.n. ebd. 140 | Ebd., 26 141 | Ebd. 142 | Ebd., 24 143 | Ebd., 24ff. 144 | Offener Brief an den Polzeipräsidenten von Paris, erschienen in »Le Journal« 1896, zit.n. Sachs, Automobil, 24 145 | Ebd. 146 | Bierbaum, Reise, zit.n.ebd., 26

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147 | Pidoll, Michael Freiher von: Der heutige Automobilismus. Wien 1912. Zit.n.: Payer, Peter. »Das Stadtbild von Wien ist traurig verändert«. In: Wiener Geschichtsblätter, Nr. 4, 1998, 221-232. Siehe auch Sachs, Automobil, 27 148 | Aufruf zur Volksabstimmung 1910, zit.n. Sachs: Automobil, 34 149 | Aufruf zur Volksabstimmung 1923, zit.n. ebd., 33 150 | Adolf Hitler, Rede zur Eröffnung der Autoausstellung »Der Wille zur Motorisierung«, Berlin 1933. Zit.n. ebd., 63 151 | Diese Zahlen verbergen allerdings die katastrophalen Arbeitsbedingungen ebenso wie den Einsatz von Zwangsarbeiter-/innen und Kriegsgefangenen. Statt der in Aussicht gestellten 20.000 Kilometer wurden letztlich nur 3818,7 Kilometer gebaut. 1941 wurde der Autobahnbau eingestellt. Auch der militärische Nutzen der Pisten erwies sich als gering: Der dünne Betonbelag war für Kettenfahrzeug nicht geeignet, die hellen Fahrbahnen stellten leichte Ziel für Fliegerangriffe dar und mussten teilweise geschwärzt werden. Marianne Enigl (siehe Anm. 155) bezeichnet die Erfolgsstory vom NS-Autobahnbau deshalb als »Mythos«. 152 | Memorandum des Vereins zur Vorberitung der Autostraße »HansestädteFrankfurt-Basel«, 1925, zit.n. Sachs, Automobil, 65 153 | »Autostraßen ohne Autos und ohne eine breite in den Wohlstand hineinwachsende Mittelschicht sind genauso inproduktiv wie Kieshaufen«, zit.n. Sachs, Automobil, 66 154 | Die Straße, 1936, Nr. 1, S. 8, zit.n. Sachs: Automobil, 67 155 | Fritz Todt, Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, anlässlich der Eröffnung der ersten 1000 Kilometer Autobahn. Zit.n. Enigl, Marianne: 3819,7 Kilometer Mythos. In: PROFIL, Nr. 30, 2010, 40 [im Folgenden: Enigl, Mythos] 156 | Bade, Wilfried W.: Das Auto erobert die Welt. Berlin: Adermann 1938, 316f., zit.n. Sachs, Automobil, 68 157 | So wurde im Volksmund der seit 1924 gebaute Opel 4 PS genannt, das erste am Fließband hergestellte Auto in Deutschland: klein, grün, mit einer Spitzengeschwindigkeit von 60 km/h und als Auto für den kleinen Mann gedacht. Der Laubfrosch kostete am Anfang 4500 Rentenmark, immerhin der Gegenwert eines Eigenheims. Erst nach 100.000 Exemplaren war er 1930 um 1990 Reichsmark erhältlich. 158 | Sachs, Automobil, 72 159 | Hitler, Adolf: Rede zur Eröffnung der Autoausstellung in Berlin, 1933, zit.n. ebd., 72 160 | Völkischer Beobachter 1934, zit.n. ebd., 76 161 | »Kraft durch Freude«, NS-Freizeitorganisation

A NMERKUNGEN : G ESELLSCHAFTLICHER Z WANG ZUR S ELBST VERWIRKLICHUNG

162 | Sachs, Automobil, 79 163 | Kisch, Erwin E.: Bei Ford in Detroit. In: Ders.: Paradies Amerika. Berlin: Reiss 1930, 299-308 164 | Ebd. 165 | Ebd. 166 | Wie sehr »die 50-er Jahre sich als Fortsetzung der Nazi-Zeit mit marktwirtschaftlichen Mitteln« (Sachs, Automobil, 83) verstanden, wird an nichts anderem so deutlich wie daran, dass die Produktion des Volkswagens und die mit diesem Namen verbundene Ideologie der Versorgung aller Bürger mit Autos wieder aufgenommen wird. Die betrogenen Erwartungen der Menschen sollen nunmehr erfüllt werden. 167 | Aus: Das Auto, 1950, H. 9, 289, zit.n. Sachs: Automobil, 81 168 | Sachs, Automobil, 109 169 | Sachs, Automobil, 83 170 | Ebd. 171 | Le Corbusier: Festsellungen zu Architektur und Städtebau, 1929. In: Bauwelt Fundament, Bd. 12. Birkhäuser 22000, siehe Graphik in: Sachs, Automobil, 105 172 | Seit 1911: »Allgemeiner Deutscher Automobil-Club«: »Manifest der Kraftfahrt« zit.n. Sachs, Automobil, 94ff. 173 | Ebd., 159 174 | Ebd., 161 175 | Ebd., 204 176 | Ebd. 177 | Czerwinski versteht darunter eine materielle, konkret-sinnlich wahrnehmbare Repräsentation abstrakter gesellschaftlich-kultureller Sinnorientierungen. Vgl. seine Ausführungen zur gotischen Kathedrale: Czerwinski, Abstraktion, 43f., Anm. 27 178 | Ich verwende diesen Terminus an Stelle des gebräuchlichen Begriffs »Massenmedien«, der fälschlich eine einheitliche Masse von Mediennutzern-/innen unterstellt. Vgl. Rathmayr, Rückkehr 179 | Bettelheim, Bruno: Eines Kindes Garten ist die Fantasie. In: Salzburger Nachrichten, 26.8.1989, I-V 180 | »Eine Jungfrau ist die Feder, eine Hure die Druckmaschine« 181 | Chartier, Roger: Praktiken des Lesens. In: Aries, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Rennaissance zur Aufklärung. Frankfurt a.M: S. Fischer 1986, 115-165, hier 127 182 | Ebd., 149

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183 | Lorenz, Wolfgang: Begrüßung. In: Bischof, Ulrike (Hg.): Konfliktfeld Fernsehn – Lesen. Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag 1995, 6-9 184 | Ebd., 8 185 | Während die Bezeichnung »Luftschiff« inzwischen durch den militärischen Terminus »Flugzeug« ersetzt wurde, ist die Bezeichnung »Herd« inzwischen so sehr zum Synonym des Gas- bzw. Elektroherdes geworden, dass die usprüngliche Bedeutung als Feuerstelle bzw. Glutherd nicht mehr assoziiert wird. 186 | Barthes, Mythen, 85ff. 187 | Ebd., 95 188 | Ebd., 111 189 | Ebd. 190 | Ebd. 191 | Ebd., 113 192 | Ebd., 130 193 | Ebd., 115 194 | Ebd., 130 195 | Ebd., 115 196 | Ebd., 117 197 | Ebd. 198 | Dass auch Geschützlärm bisweilen »Lärm um nichts« sein kann, musste Robert Hochner, Starnachrichtensprecher des ORF, während eines Berichtes über den serbisch-bosnischen Krieg erfahren. Als er angesichts des hörbaren Kriegslärms die Korrespondentin aufforderte, sich in Sicherheit zu bringen, beschied ihm diese erstaunt, hier sei alles ruhig: Der Schlachtenlärm kam, was der Nachrichtensprecher nicht wusste, vom Tonband. 199 | Einen Hinweis dieser Umkehrung stellt die Bezeichnung »Fernseher« dar: Sie wurde zuerst nicht für den TV-Apparat, sondern für das Fernrohr verwendet, durch das das Objekt zum Seher herangezogen wird und nicht der Seher scheinbar zum Ort des Geschehens. 200 | Nr. 21, 1988 201 | DER SPIEGEL, Nr. 24, 1988 202 | Während die »Echtheit« des Filmplots leicht durchschaubar war, war dies bei anderen, mit dem Film verbundenen Medien nicht mehr so klar. Eine in Österreich zur Einführung des Films aufgelegte »Tageszeitung« informierte über die aufwändigen Bemühungen zur Erzielung einer hundertprozentigen Authentizität: »So wurde fast die ganze Inneneinrichtung handgefertigt nachgebaut. Berühmte Gemälde wurden dupliziert, Statuen gemeißelt, Sessel angefertigt. Der Schreib-

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tisch des Präsidenten wurde originalgetreu rekonstruiert und mit dem echten Präsidententelefon des Weißem Hauses versehen.« 203 | Nr. 27, 1993 204 | Rathmayr, Rückkehr, 66f. 205 | Nr. 34, 1988, 16, 66ff. 206 | Ich benütze diesen Ausdruck für die mythische Wahrnehmungsform, in der etwas »in der Art einer wahren und zugleich irrealen Geschichte« (Barthes, Mythen, 111) erlebt wird. 207 | Stuttgarter Zeitung 208 | 1.9.1988, 106 209 | McArthur, John R.: Die Schlacht der Lügen. München: dtv 1993 210 | Die als Krankenschwester ausgegebene Tochter des kuweitischen Botschafters in den USA gab sich im US-Senat fälschlich als Augenzeugin der Ermordung von Brutkasten-Babys durch irakische Soldaten in Kuweit aus und bewirkte dadurch die erforderliche Mehrheit für den Krieg. 211 | Greszik, Bettina/Hering, Frank/Euler, Harald A.: Gewalt in Schulen. In: Zeitschrift für Pädagogik 41, 1995, 265-284 212 | Rathmayr, Bernhard: Je mehr desto besser. In: PROFIL Nr. 39, 23.9.1996 b, 112f. 213 | Nr. 39, 1993, 50 214 | Ebd. 215 | Zu Medienkontrolle vgl. Rathmayr, Rückkehr, 149-156; zu Medienerziehung ebd., 141-149 216 | Barthes, Mythen, 151

V G EGENWARTSGESCHICHTE 1 | Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Frankfrut: Suhrkamp 1980, 13 2 | Lenzen, Dieter A.: Melancholie, Fiktion und Historizität. In: Gebauer, Gunter u.a. (Hg.): Historische Anthropologie. Reinbek: Rowohlt 1989, 18 [im Folgenden: Lenzen, Melancholie] 3 | Ebd., 22 4 | Ebd., 24 5 | Ebd., 22 6 | Ebd., 15 7 | Ebd., 22

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8 | Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Königstein/T.: Athenäum 1985 9 | Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Gesammelte Schriften, Bd. 1.2. Frankfurt a.M. 1974 [im Folgenden: Benjamin, Geschichte] 10 | Lenzen, Melancholie, 22 11 | Ebd. 12 | Ebd., 23 13 | Benjamin, Geschichte, 694 14 | Lenzen, Melancholie, 26 15 | ~30-96 16 | ~120-180 17 | Lenzen, Melancholie, 27 18 | Ebd., 30 19 | Ebd., 31 20 | White, Hayden: Metahistory. Frankfurt a.M.: Fischer 1991; ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart: Klett-Cotta 1991 21 | Lenzen, Dieter: Warum pädagogische Historiographietheorie? In: Benner, Dietrich/Lenzen, Dieter/Otto, Hans Uwe (Hg.): Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise. Weinheim/Basel: Beltz 1992, 175-186 22 | Karg, Hans H.: Allgemeine Anthropologie. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1988 23 | Kamper, Tod des Körpers, 51 24 | Ebd., 52 25 | Ebd. 26 | Ebd. 27 | Ebd., 51 28 | Wulf, Christoph: Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/ Basel: Beltz 1994, 15 29 | Kamper, Tod, 52 30 | Duden, Barbara: Bevölkerung. In: Sachs, Wolfgang (Hg.): Wie im Westen so auf Erden. Reinbek: Rowohlt 1993, 71-88 31 | Macho, Thomas: So viele Menschen. In: Sloterdjik, Peter (Hg.): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Zukunft, Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 29-64 32 | Als der deutsche Innenminister Kanter beim Weltbevölkerungskongress in Kairo, wo er eine drastische Senkung der Geburtenrate forderte, gefragt wurde, wie er dann seine eigenen fünf Kinder rechtfertigen könne, antwortete er: diese

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Forderung richte sich natürlich nur an die Entwicklungsländer. (Kruse, Kuno: Wer ist zu viel auf der Erde? DIE ZEIT, Nr. 17, 1992, 17-20) 33 | Britische Ärztezeitschrift 34 | Schöps, Hans J.: In jeder Sekunde fünf Menschen mehr. In: SPIEGEL SPEZIAL Nr. 4, 1993, 138-147 35 | Wernicke, Christian: Brot und Pille. In: DIE ZEIT Nr. 26, 94, 3 36 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 37 | Die wirkliche Katastrophe sind wir selbst. Gespräch mit Sigrun Preuss. In: Psychologie heute 1994, H. 5, 27f. 38 | Sennett, Verfall, Untertitel 39 | In Haßloch, einer deutschen Stadt, deren Bevölkerungsprofil in etwa dem der gesamten Bundesrepublik entspricht, erhalten Testfamilien einen Gratisfernseher und eine Gratisillustrierte, wenn sie sich bereiterklären, alle ihre Kassenbons im Supermarkt abzugeben. Der Zweck der Übung: Fernsehspots und Illustrierte enthalten eingeschleuste Werbebotschaften für Produkte, deren Marktchancen auf diese Weise getestet werden sollen (PROFIL, Nr. 48, 1990, 91-94). 40 | Kamper, Tod des Körpers, 53 41 | Ebd., 52f. 42 | Steinhardt, Gerhard: Computer-Mythen. In: Psychologie und Gesellschaftskritik, H. 3/4, 1993, 43-78 43 | Sesink, Werner: Menschliche und künstliche Intelligenz. Stuttgart: KlettCotta 1993. Mit dreieinhalb Millionen Dollar Kosten pro Jahr versuchen Computerwissenschaftler, ein künstliches Gehirn herzustellen. Acht Milliarden Informationseinheiten hat der Computer Mitte der 1990er Jahre gespeichert, zwischen denen er eigenständig Verknüpfungen herstellt. Sein Wissen entspricht etwa dem eines 14-jährigen Menschen. Andeutungen über den Zweck dieses Unterfangens bleiben vage, Beurteilungen kontroversiell. Die Faszination an der Herstellung elektronischer Intelligenz und das unverdrossene Weitermachen an einem im Grunde aussichtslosen Unterfangen scheinen nahe beieinander zu sein. Immerhin: In der Programmsprache kann man mit »Cyc« sprechen. (Bei Laune halten. Interview mit dem Rechnersystem Cyc über sein Wissen. In: DER SPIEGEL, Nr. 33, 1994, 169) 44 | Gimpel, Jean: Die industrielle Revolution des Mittelalters. Zürich und München: Artemis 1991 45 | Zit.n. ebd. 46 | Kamper, Tod des Körpers, 53 47 | Ebd.

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48 | Ebd. 49 | Ebd., 59 50 | Ebd. 51 | Ebd., 53f. 52 | Ebd., 54 53 | Ebd.; eine Ausformung dieser Tendenz ist die sogenannte »Chaos-Theorie«, die im Unterschied der in ihrer Bezeichnung unterstellten Theoretisierung der Unordnung die gesetzesmäßige Erschließung noch der absolut unvorhersehbaren Zusammenhänge und Prozesse beschreibt. 54 | DIE ZEIT Nr. 34, 19.8.2010, 37 55 | Ebd. 56 | ORF 1, Abendjournal, 12.10.1998 57 | Nur mehr 5 Prozent der gegenwärtigen Geldflüsse betreffen klassische Ware-für-Geld-Geschäfte, 95 Prozent bereits Geld-für-Geld-Geschäfte. Wie wenig allerdings die vorgebliche Ohnmacht des Staates gegenüber dem Finanzmarkt grundsätzlich zutrifft, zeigt sich an der Entstehungsgeschichte der Aktienmärkte in den USA. Das erste Aktiengesetz legte fest, dass niemand Anteile von mehr als einer Firma kaufen durfte und dass diese Firma das Recht auf Rückkauf dieser Anteile nach zehn Jahren behielt. 58 | Kamper, Tod des Körpers, 55 59 | Ebd., 54 60 | Ebd. 61 | Kamper, Tod des Körpers, 55 62 | eine Nanosekunde = eine Milliardstel Sekunde. Zur Kritik der Beschleunigung siehe Virilio, Paul: Geschwindgkeit und Politik. Berlin. Merve-Verlag 1980; Rifkin, Jeremy: Uhrwerk Universum. München: Kindelr 1988 63 | Ebd. 64 | Ebd., 56 65 | Ebd., 79, Anm. 17 66 | Ebd. 67 | Vergil, Äneis 4,13 68 | Der »geistreiche Edelmann Don Quichote de la Mancha« 69 | Delumeau, Jacques: Angst im Abendland. Bd. 1. Reinbek: Rowohlt 1985, 14 70 | Vollmerg, Birgit/Vollmerg, Ute/Leithäuser, Thomas: Kriegsängste und Sicherheitsbedürfnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1985 71 | Lammert, Gottfried: Volksmedizin und medizinischer Aberglaube. Regensburg: Sonntag 1981 [1869], zit.n. Ottmüller, : Speihkinder – Gedeihkinder. Tübingen: edition discord 1991, 92f.

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72 | Ebd. 73 | Bislang am umfassendsten: Delumeau, Jacques: Angst im Abendland. 2 Bde. Reinbek: Rowohlt 1985; siehe auch: Duby, George: Unseren Ängsten auf der Spur. Köln: DuMont 1996 74 | Elias,: Prozess, Bd. 2, 329 75 | Ebd., 330; jüngstes tragisches Beispiel für den Verlust der Furcht ist die Tsunami-Katastrophe von 2005. Auf vielen Aufnahmen sieht man Touristen, die schaulustig der Welle entgegengehen, statt vor ihr zu flüchten. Malaysische Fischer hatten sich dagegen aufgrund des eigenartigen Verhaltens der Fische früh genug in die höher gelegenen Gebiete zurückgezogen. Von Tilly Smith, einem 10-jährigen Mädchen, wird berichtet, sie habe im Erdkundeunterricht gelernt, was ein Tsunami ist, die Zeichen gelernt, und ihre Mutter wie hundert andere Urlauber im Hotel gewarnt. Sollte diese Schilderung keine rührselige Zeitungsente sein, würde sie darauf hindeuten, dass sich Kinder eher noch als Erwachsene die Gabe des Fürchtens bewahrt haben. 76 | Siehe oben, Kap. II, 6 77 | Vgl. u.a. die 2 Bde. der »Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie«. Vorbildlich in dieser Hinsicht z.B. Schröter, Michael: »Wo zwei zusammenkommen in aufrechter Ehe ...« Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp1985 78 | Sennett, Verfall, Untertitel 79 | Kamper, Dietmar (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 [im Folgenden: Kamper, Anthropologie] 80 | Dülmen, Richard van (Hg.): Die Erfindung des Menschen. Wien u.a.: Böhlau 1998, 15 81 | Ebd. 82 | Ebd. 83 | Devereux, George: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31992, 21 84 | Ebd. 85 | Kamper, Anthropologie, 7 86 | Ebd., 8 87 | Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Werkausgabe, Bd. XII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 [1803], 700 88 | Ebd., 699 89 | Wulf, Christoph: Anthropologie der Erziehung. Weinheim/Basel: Beltz 2001, 13ff.

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90 | Meyer-Drawe 2000, 148, Meyer-Drawe, Käte: Die Not der Lebenskunst. Phänomenologische Überlegungen zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse – fünf Überlegungen. In: Dietrich, Cornelie (Hg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim, München: Juventa 2000, 147-154, zit.n. Kubitza, Thorsten: Identität – Verkörperung – Bildung. Bielefeld: transkript 2005, 310 91 | Vgl. Zirfas, Jörg: Pädagogik und Anthropologie. Stuttgart: Kohlhammer 2004, 9: »Der pädagogischen Anthropologie kam und kommt es dabei immer auf die Beschreibung von zwei Momenten an: auf die Erziehungsbedürftigkeit (homo educandus) und auf die Erziehungsfähigkeit (homo educabilis) des Menschen. Denn nur, wenn der Mensch erziehungsbedürftig ist, soll er auch erzogen werden, und nur dann, wenn er erziehungsfähig ist, kann er auch erzogen werden.« 92 | Ebd., 17 93 | Wulf, Christoph: Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/ Basel 1994, 12 94 | Schleiermacher, Friedrich E.D.: Theorie der Erziehung. In: Ders.: Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn 21964 [1862], 51 95 | Zit.n. Kamper, Dietmar: Die »Natürlichkeit« des Gesellschaftlichen. In: Ders.: Dekonstruktionen. Marburg 1979, 116-123, hier 117 96 | Kamper, Anthropologie, 10f. 97 | Ebd., 7 98 | Ebd.

Literatur

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Bausinger, Hermann/Beyrer, Klaus/Korff, Gottfried (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München: C.H. Beck 1991 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1979 Benedict, Ruth: Urformen der Kultur. Reinbek: Rowohlt 1955 [1937] Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Gesammelte Schriften, Bd I/2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974 Bennholdt-Thomsen, Veronika: Zivilisation, moderner Staat und Gewalt. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis (Unser Staat?), Heft 13, 1985, 23-35 Berg, Christa: Kinderwelten zwischen fürsorglicher Belagerung und Selbst-Behauptung. In: Reiß, Gunter (Hg.): Schule und Stadt. Weinheim und München: Juventa 1995, 27-46 Bettelheim, Bruno: Eines Kindes Garten ist die Fantasie. In: Salzburger Nachrichten, 26.8.1989, I-V Bierbaum, Otto J.: Eine empfindsame Reise mit dem Automobil. Von Berlin nach Sorrent und zurück an d. Rhein. In Briefen an Freunde geschildert. Berlin: Rütten & Loenig 1992 [1903] Binder, G.: Amor omnibus idem: Liebeswahn als Konstante in Vergils Dichtung. In. Effe, Bernd/Glei, Reinhold (Hg.): Genie und Wahnsinn in der Antike. Konzepte psychischer »Normalität« und »Abnormität« im Altertum. Trier: WTV 2000 Bischof, Ulrike (Hg.): Konfliktfeld Fernsehen – Lesen. Kindermedien zwischen Kunstanspruch und Kommerz. Wien: Österreichischer Kunstund Kulturverlag 1995, 6-9 Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora 1982 Bloom, Allan: Der Niedergang des amerikanischen Geistes. Ein Plädoyer für die Erneuerung der westlichen Kultur. Hamburg: Hoffmann und Campe 1988 Borkenau, Franz: Rezension zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. In: Sociological Review 30 (1938), 308-311 und 31 (1939), 450-452

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Bougainville, Louis A. de: Reisen um die Welt, welche mit der Fregatte La Boudeuse und dem Fleutschiff L’Etoile in den Jahren 1767, 1768 und 1769 gemacht wurden. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2002 [1771] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 [1983] Brenner, Peter (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die »Grand Tour«. Berlin: Wagenbach 1997 Breuer, Stephan: Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Hamburg: Junius 21993 Bruckmüller, Ernst (Hg.): Turnen und Sport in der Geschichte Österreichs. Wien: ÖBV 1998 Cavalli-Sforza, Luigi L.: Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage. München: Droemer Knaur 1994 Chartier, R.: Praktiken des Lesens. In: Aries, Philippe/Chartier, R. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991 Comenius, Johan A.: Große Didaktik. Hg. von Andreas Flitner. Stuttgart: Klett-Cotta 51982 [1638] Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 Czerwinski, Peter: Heroen haben kein Unbewusstes. In: Jüttemann, Gert: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Weinheim: Beltz 1986, 239-275 Ders.: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen der Reflexivität im Mittelalter. Frankfurt a.M./New York: Campus 1989 Delumeau, Jacques: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde. Reinbek: Rowohlt 1985 [1978] deMause, Lloyd (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 [1974] Devereux, George: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31992 de Rougemont, Denis: Die Liebe und das Abendland. Zürich: Diogenes 1987 [1939] Diderot, Denis: Supplement au voyage de Bougainville. Hg. v. H. Dieckmann. Genève et Lille 1955 [1772-1776]

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