Credo und Spera: Bausteine zu einer kritischen Welterkenntnis und autonomen Lebensführung denkender Männer und Frauen [Reprint 2022 ed.] 9783112681749

150 101 16MB

German Pages 235 [244] Year 1907

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Credo und Spera: Bausteine zu einer kritischen Welterkenntnis und autonomen Lebensführung denkender Männer und Frauen [Reprint 2022 ed.]
 9783112681749

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Kants philosophische Tat und ihre Bedeutung für unsere Zeit
2. Schiller, der Denker im Dichter
3. Die Logik im täglichen Leben
4. Die Bildung des Charakters und Gemütes
5. Über geschlechtliche Sittlichkeit
6. Selbstbekenntnisse eines Studenten
7. Wissenschaft und Religion oder Wiffen und Glauben1
8. Die Psychadentheorie
9. Das Seelenleben der Pflanzen
10. Vom Himmel

Citation preview

Fritz Schultze-Dresden

Credo und Spera Bausteine zu einer kritischen Welterkenntnis und autonomen Lebensführung denkender Männer und Frauen

Verlag von Veit & Comp. in Leipzig 1906

Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig

PSYCHOLOGIE DER NATURVÖLKER ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE CHARAKTERISTIK

DES NATURMENSCHEN IN INTELLEKTUELLER, AESTHETISCHER, ETHISCHER UND RELIGIÖSER BEZIEHUNG. Eine natürliche Schöpfungsgeschichte des menschlichen Vorstellens, Wollens) und Glaubens von

Dr. Fritz Schultze, Geh. Hofrat, ordentl. Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule zu Dresden.

gr. 8.

1900. geh. 10 JL

GRUNDLINIEN DER

LOGIK IN SCHEMATISCHER DARSTELLUNG von

Dr. Fritz Schultze, Geh. Hofrat, ordentl. Professor der Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hochschule zu Dresden.

Roy. 8.

1902.

kart. 1 JC 40 /$.

Fritz Schultze-Dresden

Credo und Spera Bausteine zu einer kritischen Welterkenntnis und autonomen Lebensführung denkender Männer und Frauen

Verlag von Veit & Comp. in Leipzig 1906

Druck von Gottfr. Pätz, Naumburg a. S.

Inhalt Seite

Einleitung............................................................................................................ 1 Kanis philosophische Tat und ihre Bedeutung für unsere Zeit .... 6 Schiller, der Denker im Dichter...........................................................................27 Die Logik im täglichen Leben............................................................................... 40 Die Bildung des Charakters und Gemütes....................................................... 64 Über geschlechtliche Sittlichkeit................................................................................94 Selbstbekenntnisse eines Studenten.................................................................... 116 Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben.................................. 132 Die Psychadentheorie. Eine neue Weltanschauung und naturalistische An­ sterblichkeitslehre ...................................................................................162 Das Seelenleben der Pflanzen......................................................................... 184 Vom Limmel ...................................................................................................... 217 1. Der Limmel und die Entstehung des Monotheismus........................217 2. Der Limmel und das Problem der Apperception............................ 227 a) Das Problem der Apperception..................................................... 227 b) Versuch einer Lösung desProblems.................................................. 230

Einleitung Qst^arum habe ich diesem Buche den Titel „Credo und Spera" gegeben? 3m zweiten Teile seiner gewaltigen dramatischen Dichtung „Aber unsere Kraft" verleiht Björnstjerne Björnson diese Namen

den beiden Kindern, in denen er den Anfang und das Heranwachsen einer zukünftigen, reiferen, glücklicheren Menschheit dargestellt wissen will:

der Knabe Credo verkörpert den festen Glauben an die

Möglichkeit einer neuen Menschheit und seine Schwester Spera die sichere Hoffnung auf ihre endliche Verwirklichung. Dieser Glaube und diese Hoffnung bilden auch das Leit­

motiv des vorliegenden Buches, und daher trägt es den Namen der Kinder der Zukunft, der Idealgestalten einer neuen Zeit, an deren Nähe es glaubt, und deren Anbruch es hofft — Credo und Spera.

In der Schlußszene des letzten Aktes seines Dramas läßt Björnson seine Geisteskinder ihre fantasievollen, doch nicht fantastischen Zukunfts­ träume verkünden. Credo will technische Erfindungswunder von un­ geahnter Neuheit und unerhörtem Folgenreichtum verrichten, um die Menschen durch Erleichterung der äußeren Lebenslage glücklicher zu machen. Aber er ist sich bewußt, daß die wahre Erneuerung im inneren Leben, in der Gesinnung des Menschen, in seinem Charakter, in seiner geistigen Welt anheben muß; daß erst eine geistige Wieder­ geburt des Menschen, die Klarheit des Erkennens und die Reinheit des Wollens ihm den „Simmel auf Erden" aufbauen kann. Daher

sagt Credo: „In den Schulen muß es anfangen, denn in den Schulen sollen sie lernen, für einander zu leben." Schulen bedürfen der Lehrer und der Bücher. Ein Lehrer und ein Schulbuch, ein Lehrerbuch und Schülerbuch für solche Zukunfts­ schulen, wie Credo sie wünscht, möchte das vorliegende Werk sein; Schultze, Credo und Spera

1

Einleitung

2

es möchte auch, wie Rahe! (die Verkörperung der fürsorgenden und verzeihenden Liebe in jenem Drama) sagt, „eine Botschaft von der ewigen Erneuerung" bringen.

Denn alle Menschen sehnen sich „nach

dem, was besser ist. Das ist das beste Zeugnis, daß wir ein größeres Glück zu erwarten haben," sagt Credo. An der Äeraufführung dieses Glückes will auch dieses Buch arbeiten. Es faßt zwar nicht die äußere Lebenslage des Menschen und ihre materielle und technische Verbesserung ins Auge, denn für diese wird heute von anderer Seite bereits fast allzuviel und zu ausschließlich gesorgt — wohl aber das, was tiefer reicht und alle Grundlage bildet: den geistigen Menschen, seine Mängel, sein Zweifeln, Ringen und Streben, seine Verbesserung, seine Erhöhung zum Idealmenschen der Zukunft. Was der Verfasser

im eigenen, heißen Entwicklungskampfe an sich selbst erfuhr, das ist nichts anderes, als was die ringende Menschheit von heute fort­ während an sich selbst als Ganzem erlebt, denn auch hier gilt der Parallelismus zwischen der Entwicklung des Einzelnen und des ganzen Geschlechts. Daher lebt er der Hoffnung, daß, was ihm nach langem

Sehnen und Suchen endlich zur Beruhigung gereichte, auch vielen anderen den ersehnten Seelenfrieden und das wahre innere Glück ge­ währen könne, welche beide jedoch nur eine nach gründlichem Zweifel errungene kritische Welterkenntnis und eine nach starken Versuchungen mit größter (nicht über unsere Kraft gehender) Energie erkämpfte, autonome, ethisch-ästhetische Lebensführung zu verbürgen vermag. Auf solche Welterkenntnis und solche Lebensführung zielt überall dieses Buch ab mit seinem verheißungsvollen und zukunftsfrohen

Credo und Spera! Dem flüchtigen Beschauer mag beim ersten Anblick der Inhalt dieses Werkes als ein bunt zusammengewürfeltes Vielerlei erscheinen. Zehn verschiedene Stücke, zehn verschiedene Überschriften, zehn ver­ schiedene Wege!

And doch führen sie alle zu demselben Ziele.

Das

geistige Band, das die Teile verknüpft, fehlt nicht; dasselbe Grund­

muster ist in alle sonst noch so verschiedenen Gewebe eingewirkt; aus allen Instrumenten dieses geistigen Orchesters ertönt dasselbe Haupt­

motiv, das schon bekannte, sich immer von neuem durcharbeitende, siegesmutige und erfüllungsgewisse Credo und Spera!

Wer sich zum kritischen Erkennen erheben will, für den gibt es seit dem Jahre 1781 nur einen Weg: er heißt — Immanuel Kant!

Darum steht Kants geistige Riesengestalt als Pförtner und Türhüter an der Schwelle dieses Buches, und ich möchte, ein Wort Platos

Einleitung

3

parodierend, sagen: Kein Kants Ankundiger trete hier ein! Nicht als ob wir, kritisch gesinnt, wie wir sein wollen, uns unkritisch der Autorität selbst eines Kant blindlings unterwerfen wollten und sollten — wohl aber müssen wir uns mit dem kritischen Geiste Kants erfüllen, wenn wir irgend einen erfolgreichen Schritt auf der Bahn des Er­ kennens zurücklegen wollen. Daher behandelt das erste Stück „Kants philosophische Tat und ihre Bedeutung für unsere Zeit." Kant heißt

unser erkenntnistheoretisches Credo und Spera. Als ebenbürtigen, aber ganz eigenartigen Geistesheros gesellen wir Kant Friedrich Schiller zu, denn der Zusammenhang beider ist unmittelbar und organisch gegeben. Schiller ist nicht bloß Kants genialster Schüler gewesen, sondern er war auch der erfolgreichste Fortbildner der Kantischen Ethik und Ästhetik. Äat uns Kant den

Weg zum Wissen gebahnt, so hat Schiller das höchste Ideal mensch­ licher Kultur für alle Zeiten aufgestellt in seinem Begriff des ästhe­ tischen Menschen und des ästhetischen Staates, wie das dem Leser aus dem zweiten Stück des Werkes „Schiller, der Denker im Dichter" klar werden wird. Es ist nicht Zufall, sondern die Absicht des Ver­ fassers, Schiller hier unmittelbar auf Kant folgen zu lassen. Auch

darin drückt sich das Glaubensbekenntnis des Verfassers aus: Der Philosoph Schiller gehört zu seinem ethisch-ästhetischen Credo und Spera. Welche Stellung aber Goethe als dritter Menschheits­ erzieher im Bunde mit Kant und Schiller einnimmt, wird ebenfalls aus dem Aufsatz über Schiller zur Genüge erhellen. Mit den drei Namen Kant, Schiller und Goethe sind die Träger höchster deutscher Kultur bezeichnet. Wie weit aber ist die Menschheit von diesen strahlenden Gipfeln entfernt! Welch ungeheurer Abstand

trennt die Wirklichkeit von den Idealen, die sich in jenen drei Licht­

gestalten verkörpert haben! Diese Kluft deutlich vor Augen zu führen, zugleich aber auch die Mittel zu ihrer allmählichen Äberbrückung und zur Annäherung an jene höchsten Maßstäbe aufzuweisen, dazu dienen die folgenden Stücke. Die Abhandlung „Die Logik im täglichen Leben" erläutert mit Ernst und Scherz die Fehlerhaftigkeit des alltäglichen menschlichen Denkens; auf die Verbesserung der

ethischen Mängel zielt „Die Bildung des Charatters und des Gemüts"; eine Erweiterung desselben Themas bildet die Rede „über geschlecht­ liche Sittlichkeit".

Die „Selbstbekenntnisse eines Studenten" zeigen einen ernst angelegten, modernen Jüngling in seinem Zweifeln am Alten und in 1*

4

Einleitung

seinem Ringen nach einer widerspruchsfreien und haltbaren Welt­ anschauung; sie bilden den Übergang zu den vier letzten Stücken des Buches, in denen sich nunmehr ein Neues und Positives dem Leser darbietet. Eine endgültige Auseinandersetzung mit der Religion ver­ sucht der Aufsatz „Wissen und Glauben". Daran reiht sich ergänzend und vollendend das Stück, auf welches der Verfasser das größte Gewicht legt und das in seinen Augen den Höhepunkt der ganzen Sammlung bildet: „Die Psychadentheorie. Eine neue Weltanschauung und naturalistische ünsterblichkeitslehre." In dieser Psychadentheorie vermeint der Verfasser tatsächlich der Menschheit eine neue Welt­ anschauung und Lebensauffassung geschaffen zu haben, die seine eigene und selbständige Philosophie Ist und die Grundlage seines später zu veröffentlichenden philosophischen Systems bildet. Wie sich endlich vom Standpunkte der Psychadentheorie die Naturbetrachtung zu gestalten habe, das soll in dem neunten Stücke „Das Seelenleben der Pflanzen" als an einem Musterbeispiel dar­ getan werden, während der letzte Abschnitt „Vom Simmel" ein be­ deutsames religionsgeschichtliches und ein wichtiges psychologisches Problem zu lösen versucht. Mit einziger Ausnahme des Vortrages „Die Logik im täglichen Leben" sind sämtliche Teile dieses Buches früher schon einmal gedruckt und veröffentlicht worden. Sie waren gewissermaßen disiecta membra philosophi, die hier aus ihrer Zerstreuung wieder zu einem einheitlichen Korpus verbunden werden. Das erste, zweite, sechste und siebente Stück erschien in Zeitschriften: der Kantvortrag (freilich in verkürzter Form) in der wissenschaftlichen Sonntagsbeilage des Dresdner Anzeigers vom 14. Februar 1904, die Schillerrede in der Schillernummer der­ selben Zeitung vom 9. Mai 1905; die „Selbstbekenntnisse eines Studenten" wurden zuerst in der von Friedrich Dittes in Wien herausgegebenen Zeitschrift „Pädagogium" (III. Jahrgang, Seft 7) anonym veröffentlicht. Der Vortrag „über geschlechtliche Sittlichkeit" erlebte im Verlage von 3. G. Wallmann in Leipzig bereits drei Auf­ lagen, wurde aber für diese Sammlung dem Verfasser von der ge­ nannten Verlagsbuchhandlung wieder freundlichst zur Verfügung gestellt. Die fünf noch übrigen Stücke sind Kapitel aus früher er­ schienenen größeren wissenschaftlichen Werken des Verfassers. Die Abhandlung „Die Bildung des Charakters und Gemütes" steht als 10. Kapitel in des Verfassers pädagogischem Werke „Deutsche Er­ ziehung" (Leipzig, 1893). Der Essay „Wissen und Glauben" bildet

Einleitung

das Schlußkapitel des 2. Bandes seines Werkes

5 „Philosophie der

Naturwissenschaft" (Leipzig, 1881/82). Die Darstellung der Psychadentheorie ist dem letzten Kapitel des Werkes „Nervensystem und Seele oder allgemeine Grundzüge der physiologischen Psychologie" (Leipzig, 1892) entnommen; der Abschnitt „Das Seelenleben der Pflanzen" findet sich als Endkapitel in des Verfassers Werk „Das Seelenleben

der Tiere und Pflanzen" (Leipzig, 1897); das Stück „Vom Limmel" stammt aus seinem Buche „Psychologie der Naturvölker" (Leipzig, 1900). Die berechtigte Frage, warum diese Stücke aus früheren Werken hier wiederholt werden, will ich ehrlich beantworten. Be­ kanntlich werden wissenschaftliche Werke vom größeren Publikum so gut wie gar nicht gelesen. Es ist aber nicht wünschenswert, daß wichtige Wahrheiten hinter den Mauern der gelehrten Zunft verborgen und gleichsam gefangen gehalten werden — sie sollen vielmehr auf offenem Felde im Hellen Sonnenlichte erscheinen, von allen gesehen und von vielen erkannt und als geistiger Besitz ausgenommen werden —

sonst bleibt die gerühmte Weiterentwicklung der Menschheit eine leere Phrase. Daher muß sich auch der Philosoph dem Rate des Theater­ direktors in Goethes Faust bequemen: „Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Was hilft's, wenn ihr ein Ganzes dargebracht! Das Publikum wird es euch doch zerstücken" —

knüpft sich doch wenigstens an die Befolgung dieses Rates die von demselben ausgesprochene tröstende Eröffnung: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus, und jeder geht zufrieden aus dem Laus."

Mögen also die genannten fünf Stücke aus früheren Werken

des Verfassers als Proben betrachtet werden, die, wenn sie vom Leser als schmackhaft befunden worden sind, ihn dazu reizen, jene größeren Werke selbst in die Land zu nehmen und sich im ganzen Laufe umzusehen.

Vielleicht geht dann des Verfassers Herzenswunsch

in Erfüllung, in einem langen Leben nicht vergebens gedacht und

geschrieben zu haben, sondern auch als einer von denen erkannt zu werden, die zu den Quellen der Wahrheit und zu den Bächen des Lebens führen. Leise entringt sich des Verfassers Brust der Seufzer: Credo und Spera! Möchten sich auch die Leser als Seelenverwandte der Björnsonschen Zukunftskinder erweisen und sich mit unerschütterlicher Festigkeit ebenfalls bekennen zu dem zukunftssichern Credo und Spera,

Credo und Spera, Credo und Spera!

1

Kants philosophische Tat und ihre Bedeutung für unsere Zeit Festrede, gehalten zur Feier des hundertsten Todestages Kants (12. Februar 1904) in der Aula der Technischen Hochschule zu Dresden am Abend des 10. Februar 1904.

en Äauptschmuck der gotischen Kapelle, die auf Anregung der Königsberger Kant-Gesellschaft als Ruhestätte Kants am Dom in Königsberg angebaut wurde, bildet die Büste Kants. Die Wand hinter ihr ist mit einer gemalten Wiedergabe von Raffaels Philosophen­ bilde der „Schule von Athen" bedeckt; auf der gegenüberliegenden

Wand aber leuchten dem Beschauer die berühmten Worte Kants aus seiner Kritik der praktischen Vernunft entgegen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der

bestirnte Äimmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Dieser Ausspruch Kants belehrt uns wie kein anderer über den Llniversalismus seiner Philosophie, über ihren Natur und Geistes­ welt zugleich allseitig umspannenden Inhalt. Denn Kants Gedanken­ kreis umfaßt sowohl die ganze grenzenlose sichtbare Welt des Stoffes,

als auch die gesamte unendliche unsichtbare Welt des Geistes. In ersterer Beziehung auf die materielle Welt ist seine Philosophie

Realismus, Idealismus.

in letzterer Beziehung auf

die geistige Welt ist sie

Welcher Art ist aber dieser Realismus und dieser Idealismus?

Ich zerlege alle philosophischen Systeme in zwei große Gruppen, in die Systeme der Schwäche und die Systeme der Kraft. Die Systeme der Schwäche sind alle irgendwie einseitig materialistisch gearteten, welche bei aller sonstigen Verschiedenheit dieses gemeinsam haben, daß sie den Menschen als ein wertloses Objekt allein der

7

Kants philosophische Tat

stofflichen Welt, als ein bedeutungsloses Nichts unter Nichtsen be­

trachten; daß sie ihm jede höhere Würde absprechen, ihm dadurch den Antrieb zum höchsten geistigen und sittlichen Aufschwung rauben und somit schwächend auf seinen Willen einwirken.

Die Systeme der Kraft sind alle irgendwie idealistisch gearteten, welche bei aller sonstigen Verschiedenheit dieses gemeinsam haben, daß sie den Menschen als ein wertvolles Subjett einer geistigen Welt bettachten; daß sie ihm die höchste Würde einer geistigen Persönlich­

keit zusprechen und, indem sie von ihm die energischste geistige und sittliche Erhebung fordern, ihm auch die Kraft, den Mut und den Antrieb zu diesem Aufschwünge verleihen. Die Systeme der Schwäche betrachten den Menschen nur quanti­ tativ; die Systeme der Kraft dagegen betrachten ihn vorzugsweise qualitativ. Bei rein quantitativer Betrachtung ist es leicht, den Menschen zu einem bedeutungslosen Nichts herabzudrücken.

Da ist das räumlich

grenzenlose Weltall, dem gegenüber unsere Erde wie ein Staubkorn erscheint. And auf diesem Staubkorn wimmeln wie mittoskopische

Infusorien — die Menschen!

Ein Nichts und weniger als ein Nichts!

Wie kann dieses Nichts den Äochmut besitzen, sich für Etwas zu halten! Zu dem entgegengesetzten Ergebnis gelangt die qualitative Be­ trachtung. nicht sein.

Solch ein völliges Nichts kann der Mensch wohl doch Nicht passiv verhält er sich gegenüber dem unendlichen All.

Mit seinem Geiste vermag er das Aniversum, wenn auch nur teil­

weise, zu erfassen; er bildet sich eine Idee des Ganzen, erforscht die Gesetze im Weltgeschehen, beherrscht im hohen Grade die Kräfte der Natur, berechnet voraus den Lauf der Gestirne und formt manch

wunderbar kunstvolles Werk zum praktischen Gebrauche und zur geistigen Erhebung. Ist das ein Nichts? Könnte das ein Nichts?

In seiner innersten Tiefe findet er ein Sittengesetz, das sich aus dem Sinnlichen nicht ableiten läßt. And dieses Gesetz stellt ihm Auf­ gaben, die weit über die Grenzen seines sinnlichen Wesens hinaus­ liegen; zeichnet ihm ein Ideal der Vollkommenheit vor, das empirisch gar nicht existiert und dem gemäß er doch streben soll und wirklich strebt, sich selbst und die menschlichen Verhältnisse in Gesellschaft, Staat und Geschichte verbessernd zu gestalten.

Ist das ein Nichts?

Könnte das ein Nichts? And wenn diese Eigenschaften allen Menschen gemeinsam zukommen.

8

Kants philosophische Tat

so findet sich in jedem besonderen Menschen noch ein Neues, ein ganz Anerklärliches. Jeder Mensch ist verschieden von jedem anderen; jeder ist eine Individualität für sich.

Woher diese?

Sie ist eine

Tatsache, aber eine durchaus nicht ableitbare, erklärbare. Der qualitativ denkende Leibniz erhebt daher die Individualität zum Arprinzip des

Weltalls überhaupt, während der quantitativ denkende Spinoza ihr gänzlich ratlos gegenübersteht. In jeder Individualität tritt uns ein Arsprüngliches, ein neuer Anfang, ein Selbständiges und Spontanes und insofern ein durch nichts anderes Bestimmtes, ein Freies entgegen, welches seinerseits aber alles andere im Menschen bestimmt, wie denn dieser individuelle Argrund das ganze Fühlen, Denken, Wollen und Sandeln des Menschen prädestiniert und innerlich nicht umgeändert werden kann, so sehr auch äußerlich der Mensch zu irgend einem

Tun gezwungen werde. Dieser dunkle, unbewußte, alles Bewußte bestimmende, individuelle Argrund, dieses Ding-an-sich jeder Per­

sönlichkeit, diese unsere Schicksalspotenz, diese Psychade, wie ich es nenne, — ist sie ein Nichts? Könnte alles das, was sie bewirkt, ein Nichts? Welcher Art Kants Realismus und Idealismus sei? Das war die Frage, von der ich ausging. And nun antworte ich: Kants Philosophie gehört nicht zu den Systemen der Schwäche, sondern zu

denen der Kraft. Seine Betrachtung ist nicht die einseitig quantitative, sondern die vorzugsweise qualitative; seine Weltanschauung ist nicht die materialistische, wohl aber die realistische, denn so sehr Kant Geistesidealist ist: sein Idealismus schließt die Natur und ihre Betrachtung nicht aus, sondern ein — sein Idealismus ist keine auf zerflatternden Wolken schwebende Schwarmgeisterei, sondern eine auf festem Antergrund ruhende, wohlfundamentierte Wirklichkeitsphilosophie — die organische Verbindung von Idealismus und Realismus —

der echte kritische Realidealismus, wie er sie selbst genannt hat. Kant als Realist ist Naturforscher im größten Stil, ein Natur­

durchdenker ersten Ranges, insofern auch der ernsteste Verfechter und Anwender der quantitativen, das heißt der mechanischen Natur­ betrachtung, aber wohlgemerkt, kein Materialist, denn er ist sich genau der Grenze bewußt und bestimmt diese Grenze kritisch exakt, bis wohin

die mechanisch-quantitative Naturbetrachtung reicht und wo sie aufhört Doch

und die qualitative Betrachtung mit Notwendigkeit einsetzt.

darüber später! Auge fassen!

Jetzt heißt es zunächst den Naturforscher Kant ins

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

9

Allerdings wurde diese Seite seines Wesens in seiner Zeit nicht in demselben Maße gewürdigt wie seine philosophische Bedeutung,

teils weil er mit seinen naturwissenschaftlichen Anschauungen den Mitlebenden vorauseilte, teils weil das Interesse dafür noch nicht so

allgemein verbreitet war wie heute. Kant ist in der neueren Zeit einer der ersten gewesen, der den bahnbrechenden Begriff der „Entwicklung", den Lessing zuerst mit dem größten Erfolge auf die Erscheinungen der menschlichen Geschichte anwendete, auf die Vorgänge der Natur übertragen hat. In seinem berühmten, Friedrich dem

Großen gewidmeten Werke, „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Äimmels" vom Jahre 1755 stellt er jene großartige Hypothese von der rein mechanischen Entstehung unseres Planetensystems aus einem ursprünglichen, von West nach Ost sich bewegenden Gasballe

auf, welche einige Jahre später, 1761, auch Lambert in seinen „Kos­ mologischen Briefen" verfocht, bis sie, durch Laplace und Äerschel rechnungsmäßig begründet, als Kant-Laplacesche Theorie zum un­

verlierbaren Besitz der wissenschaftlichen Astronomie erhoben wurde. Aber Kant überträgt den Gedanken der Entwicklung auch auf die organische Natur und ist schon vor mehr als hundert Jahren zu ähnlichen Anschauungen gelangt, wie heute die Descendenztheorie: daß nämlich die jetzt lebenden Organismen das Ergebnis einer all­ mählichen Auseinanderentwicklung von niedrigen Arorganismen her bilden. Den Entwurf zu dieser „wahren Geschichte" der Natur, wie Kant sie fordert, enthält klar und deutlich der berühmte Paragraph 80 seiner „Kritik der Arteilskraft" vom Jahre 1790. Aber Kant zeichnete

nicht nur das Bild einer Entwicklungsgeschichte der Organismen in allgemeinen Amriffen, sondern er suchte sich auch schon die besonderen Arsachen und Gesetze klarzumachen, nach welchen z. B., wie er sagt,

„gewisse Waffertiere sich nach und nach zu Sumpftieren und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landtieren ausbildeten". In dieser

Beziehung hat er in seiner Schrift über die Menschenrassen vom Jahre 1755 die heute nach Darwin genannten Prinzipien der An­ passung und Vererbung ohne jeden Zweifel deutlich ausgesprochen.

In derselben Schrift, ebenso wie in seinen Vorlesungen und seinem Werke über „Physische Geographie", durch das er ein Mitbegründer der heutigen wissenschaftlichen Erdkunde wurde, hat er auch das Prinzip der Zuchtwahl oder Selektion und seine Wirkung hinsichtlich der .Her­ vorbringung neuer Rassen klar erkannt. And endlich fehlt in seinem Werke „Pragmatische Anthropologie" auch die „Zwietracht als das

10

Kanis philosophische Tat

Mittel zur Perfektionierung", d. h. das Analogon zu dem heute so viel genannten „Kampf ums Dasein" nicht.

Auch den Menschen, sofern er ein natürlicher Organismus ist, betrachtet Kant auf gleichem Fuße mit allen übrigen Naturwesen und räumt ihm, ganz im Sinne der heutigen Descendenztheorie, seiner Leiblichkeit nach keine Ausnahmestellung ein.

Aber nicht bloß diese allgemeinen Grundzüge einer natürlichen Entwicklung der unorganischen wie der organischen Natur hat Kant ausgestellt — er war auch, wie schon vor Jahren der verstorbene Astrophysiker Zöllner in seinem damals Aufsehen erregenden Werke „über die Natur der Kometen" nachgewiesen hat, der Vorausentdecker einzelner Naturgesetze (wie z. B. des, später nach Dove genannten, Drehungsgesehes der Winde), welche die spätere Naturwissenschaft noch einmal zu entdecken sich die Mühe machen mußte, weil sie in törichter Abneigung gegen die Philosophie, wie Zöllner sie den Natur­ forschern vorwirft, das Studium der Werke Kants versäumte. And endlich darf nicht vergessen werden, daß es bei dem heutigen Stande der Energetik immer mehr den Anschein gewinnt, als ob auch Kants, in seinem Werke „Metaphysische Anfangsgründe der Natur­ wissenschaft" vom Jahre 1786 dargelegte dynamische Naturerklärung, die sich zwar der Atomistik schroff entgegenstellt, indem sie die ver­ schiedenen Aggregatzustände nur aus den quantitativen Verhältnissen der Kräfte der Attraktion und Repulsion abgeleitet wissen will; die gleichwohl aber hinsichtlich der Arsachen der Veränderung das mecha­ nistische Erklärungsprinzip streng festhält — ich sage, es gewinnt immer mehr den Anschein, als ob auch diese dynamische Naturerklärung Kants endlich zum Siege gelangen werde. So sehr hatte Kant recht, wenn er im Jahre 1797 den prophetischen Ausspruch tat: „Nach hundert Jahren wird man meine Schriften erst recht verstehen und dann meine Bücher aufs neue studieren und gelten lassen."

Trotz dieser seiner unbestreitbaren Größe als bahnbrechender Naturdurchdenker liegt die eigentliche Wucht des Wirkens Kants doch auf philosophischem Gebiete.

Sechs große Äaupt- und Grundfragen sind es, welche von jeher den philosophierenden Geist bewegt haben: 1. Die erkenntnistheoretische Frage: Was ist wahr? 2. Die moralische: Was ist gut? 3. Die religiöse: Was ist heilig?

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

11

4. Die rechtsphilosophische: Was ist Aufgabe und Ziel der Rechtsentwicklung in Staat und Geschichte? 5. Die teleologische: Gibt es Zweckursachen in der Natur oder geschieht alles nur nach mechanischen Gründen? 6. Die ästhetische: Was ist schön? Vor Kant und bis auf Kant sind diese Fragen stets in zwie­ facher und zwar konträr entgegengesetzter Weise beantwortet worden. Zwei Extreme standen sich gegenüber: der autoritative Dogmatismus einerseits und der skeptische Nihilismus andererseits. Der autori­ tative Dogmatismus beantwortete jene Fragen absolut bejahend, der skeptische Nihilismus absolut verneinend; jener sagte: Alles! — dieser: Nichts! 1. In Beziehung auf die erkenntnistheoretische Frage behauptete der Dogmatismus: Unsere autoritativ begründete wissenschaftliche Erkenntnis ist die absolut wahre. Dagegen der skeptische Nihilismus: Es gibt überhaupt nichts objektiv Wahres, sondern nur subjektive Meinungen. 2. In Beziehung auf die moralische Frage behauptete der erstere: Unsere autoritativ begründete Moral ist die absolut gute. Dem widersetzt sich der letztere: Es gibt überhaupt kein absolut Gutes; es herrscht nur das subjektive Belieben und der persönliche Nutzen. 3. In Beziehung auf die religiöse Frage behauptete der Dogma­ tismus : Unsere autoritativ begründete Religion ist die allein heilige. Der skeptische Nihilismus antwortete hohnlächelnd: Es gibt überhaupt nichts heiliges; aller religiöse Glaube ist nur leere Ein­ bildung. 4. Die Rechtsfrage entschied der Dogmatismus mit der Be­ hauptung : Unsere autoritativ begründeten Rechtssatzungen bilden das allein mögliche Recht. Das bestritt die Gegenpartei mit dem Satze: Es gibt überhaupt kein objektives Recht; was so genannt wird, sind nur die Ausflüsse des egoistischen Interesses der herrschenden Macht. 5. hinsichtlich der teleologischen Frage meinte der Dogmatismus: Unsere autoritativ gestützte Zweckbetrachtung der Natur ist die allein richtige.

Kants philosophische Tat

12

Lind ihm erwiderte der Nihilismus: Es gibt überhaupt keine Zwecke in der Natur, sondern nur mechanische Arsachen.

6. Der Dogmatismus Behauptung ab:

tat das

ästhetische Problem mit der

Unsere autoritativ begründeten ästhetischen Regeln sind die allein geltenden Normen des Schönen.

Der Widerspruch des Gegenpartes lautete: Es gibt überhaupt keine objektiven Gesetze des Schönen, sondern nur individuellen Geschmack

und rein persönliches Gefallen. So standen vor und bis auf Kant den sechs dogmatischen Thesen

die sechs nihilistischen Antithesen schroff und unvermittelt gegenüber.

Nun liegt den sechs Thesen des autoritativen Dogmatismus gleich­

mäßig die folgende Voraussetzung zugrunde: Der Mensch hat sich in seinem Erkennen, Wollen, Glauben und Fühlen widerstandslos der Autorität einer außer ihm stehenden und

ihn absolut beherrschenden Macht, sei es Gottes oder der Kirche oder des Staates, d. h. also einem fremden Selbste, einer Fremdherrschaft zu unterwerfen. Dem absoluten Despotismus einer allmächtigen Autorität unterliegt hier der Mensch völlig willenlos und unfrei. Der Standpunkt des konsequenten Dogmatismus ist also der Standpuntt des absoluten geistigen Despotismus, der geistigen Unfreiheit

und Knechtschaft.

Ebenso gleichmäßig liegt den sechs Antithesen des skeptischen Nihilismus die gerade entgegengesetzte Annahme zugrunde: Der Mensch har sich in seinem Erkennen, Wollen, Glauben und

Fühlen gar keiner Autorität, Fremdherrschaft und Macht eines außer ihm stehenden Selbstes zu unterwerfen, sondern jeder Einzelne hat

das Recht, sich als den Einzigen und die Eingebungen und Launen seines individuellen Selbstes als den allein bestimmenden Maßstab aller Dinge und Verhältnisse zu betrachten und kann somit unbeschränkt individuell erkennen, wollen, handeln, glauben und fühlen, wie es ihm

beliebt. Auf der einen Seite also absoluter Despotismus, Unfreiheit und Knechtschaft — auf der anderen absolute Anarchie, Zügellosigkeit und Willkür!

Ein Drittes gibt es nicht!

so hieß es vor und bis auf Kant.

Das war nun die ungeheure und die folgenschwerste philosophische Tat Kants, daß er das von beiden entgegengesetzten Exttemen

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

13

geleugnete Dritte entdeckte und damit jene Gegensätze wenigstens für die überwand, welche stark genug sind, seinem Geistesfluge zu folgen, denn für schwächere Geiste gelten jene Extreme auch

heute noch und werden auch in Zukunft noch lange ihre Geltung bewahren. Aber dieses Dritte durfte nicht bestehen in einem schwächlichen Ausgleich zwischen den beiden unversöhnbaren Gegensätzen; nicht in den Halbheiten eines schon oftmals vor Kant versuchten Eklektizismus,

der von jedem Teile etwas nahm und damit Anvereinbares zu trübem Tranke vermischte. Das Dritte konnte nicht ein Sowohl — als auch sein — sondern mußte sich als ein entschiedenes Weder — noch!

über beide konträre Gegensätze zu einem noch nicht dagewesenen, jenen

beiden konttadittorisch entgegengesetzten, neuen Prinzip erheben. Welches war dieses Dritte, dieses neue Prinzip? Ster liegt der Angelpunkt der ganzen Kantischen Philosophie! Kant entdeckte, daß der Geistesbau des Menschen sozusagen aus

zwei Stockwerken besteht: aus dem unteren Stockwerke des individuellen Selbstes, worin das zügellose Ich des nur seinen eigenen, selbst­ süchtigen Trieben folgenden individuellen Menschen haust; ferner aus

dem sich über dem ersten erhebenden oberen Stockwerke, das bei allen entwickelten Menschen gleichartig ein überindividuelles allgemeines Selbst umschließt. Dieses höhere,

allen

sonst noch so verschiedenen Individuen

gleicharttg gemeinsame, überindividuelle Selbst stellt sich der Zügel­ losigkeit und Willkür des individuellen Selbstes entgegen als

das die allgemeingültigen und notwendigen Gesetze enthaltende und gebende allgemeinmenschliche Gattungsselbst; als ein für alle Individuen maßgebendes, allgemeingültiges Menschheitsselbst. In jedem entwickelten Menschen ist also zweierlei: erstens das besondere Selbst des Individuums oder das individuelle Ich; zweitens darüber und dazu noch das allen gemeinsame Menschheits-Ich, die Gattungs­ vernunft, im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Vernunft schlechtweg bezeichnet. Der Gesetzgebung dieses Menschheits-Ichs oder dieser Gattungsvernunft im Denken, Wollen und Fühlen soll das individuelle

Ich sich unterwerfen: es soll folgen den allgemeingültigen logischen Denkgesetzen, den allgemeingültigen sittlichen Willensgesetzen, den all­ gemeingültigen ästhetischen Normen des Gefühles.

Das Individuum

soll, aber es muß nicht, im Gegenteil! es widersetzt sich häufig genug den Geboten jenes höheren Gattungsselbstes. Aber ttotz dieser

14

Kants philosophische Tat

Empörung kann es das höhere Gattungsselbst nicht vom Throne stoßen. Selbst nach scheinbarem Siege wildester Anarchie des indi­ viduellen Ichs bricht sich doch zuletzt die allgemeinmenschliche Gattungs­ vernunft wieder Bahn und gelangt zur allein segensreichen Herrschaft. Denn diese allgemeingültige und notwendige höhere Gesetzgebung liegt nun einmal unvertilgbar im menschlichen Geisteswesen. Woher sie stamme? ob sie auf einen übernatürlichen Ursprung

Hinweise? ob sie sich allmählich und natürlich entwickelt habe, wie die Evolutionisten meinen? diese Fragen beschäftigen uns jetzt nicht. Genug, daß diese höhere Gesetzgebung im menschlichen Geisteswesen unzweifelhaft angelegt ist! Diese höhere Gesetzgebung ist unabtrennbar vom menschlichen Geiste; sie ist ihm wesentlich; sie macht den höheren und bedeutsameren Teil seines Ichs aus; sie ist somit sein Eigen, seine eigene Gesetz­ gebung, keine ihm von außen kommende, ihm aufgezwungene, fremde Vergewaltigung. Wenn sich also der Mensch dieser seiner eigenen Vernunftgesetzgebung aus eigenem Antriebe unterordnet, so unterliegt

er nicht der Zwangsherrschaft eines ihm fremden Despoten, noch folgt er zügellos seinen wilden Trieben, sondern er gehorcht sich selbst, seinem innersten Wesen, seiner wahren, nur höheren Natur, seiner

eigenen, allerdings zugleich allgemeinmenschlichen höheren Vernunft. So ist er kein knirschend frohnender Knecht, noch ein wahnwitzig gesetzlos Rasender, sondern ein sich selbst vernünftig beherrschender, selbst lenkender Freiherr im höchsten Sinne des Wortes! Da herrscht jetzt weder fremder Despotismus, noch individualistische Anarchie, sondern die wahre Selbstgesetzgebung des Geistes, die Gesetzmäßigkeit der jeder

Individualität eigenen Menschheitsvernunft.

Sowohl die Leteronomie,

die Herrschaft des fremden Gesetzes, als auch die Anarchie, das Fehlen jedes Gesetzes, wird aufgehoben; die allein zu erstrebende

Autonomie, die Selbstgesetzgebung der allgemeingeltenden, überindivi­ duellen, menschlichen Vernunft ist begründet. Seinem eigensten, innersten Vernunftwesen als alleiniger Autorität folgend, ist nun der Mensch gesetzmäßig und frei zugleich, und eben in dieser autonomen Gesetzmäßigkeit und gesetzmäßigen Autonomie der menschlichen Ver­ nunft oder, was dasselbe sagt, in dieser freien Gesetzmäßigkeit und

gesetzmäßigen Freiheit des menschlichen Geistes auf allen Gebieten des Denkens, Wollens und Fühlens ist nun von Kant das gesuchte, höhere Dritte gefunden, das neue Prinzip entdeckt. Das innerste Wesen dieser überindividuellen, menschlichen Gattungs-

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

15

Vernunft muß also erforscht; alle darin liegenden, das menschliche Geisteswesen fundamental konstituierenden Eigengesetze und Eigen­ normen müssen unzweifelhaft festgestellt werden. Ist dies geschehen, so werden wir genau wissen, was wir auf Grund unserer eigenen Geistesnatur im Gebiete des Erkennens, Wollens und Fühlens wirklich leisten und erreichen können.

Wir werden uns somit vor bloßer Ein­

bildung, vor Wahn und Selbsttäuschung hüten können; wir werden die Grenzen des Gebietes unseres menschlichen Wissens, Wollens und

Könnens nicht überschreiten, aber innerhalb dieser Grenzen um so Festeres und Dauerhafteres begründen können. Eben diese Selbst­ erforschung und damit diese Selbstgesehgebung und damit diese Selbst­

begrenzung des menschlichen Geistes bildet den eigentlichen Kern von Kants Philosophie, die er deshalb mit Recht als die kritische Philo­

sophie bezeichnet hat. Kants berühmter Kritizismus ist jener gesuchte dritte Standpunkt, der sich gleich hoch erhebt über den autoritativen Dogmatismus und den skeptischen Nihilismus; nicht, wie schon gesagt, als ein Sowohl — als auch, sondern als ein beide Gegensätze gleichmäßig aus­ schließendes Weder — noch! Latte der Dogmatismus das „Alles", der Nihilismus das „Nichts" als höchstes Ergebnis verkündet, so

entscheidet Kants Kritizismus: Weder Alles, noch Nichts, sondern Einiges! aber ein ganz Anderes, als jene beiden; und zwar nicht etwa ein Beliebiges, sondern ein ganz Bestimmtes, nämlich gerade Dieses, welches genau aus den Gesetzen und dem Wesen des Menschen­ geistes folgt und welches Kant in schärfster Begrenzung festzustellen sucht. Auch Kants Philosophie ist einerseits Skeptizismus, aber dieser Skeptizismus ist nur gewendet gegen die zu überwindenden Richtungen

des Alles und des Nichts, gegen Dogmatismus und Nihilismus; er ist nicht der Zweifel an allem, der Zweifel um des Zweifels willen, der jedes positive Ergebnis verabscheut; — im Gegenteil, Kant stellt

neue Ergebnisse kritisch unzweifelhaft fest, und eben deshalb erhebt sich dieser Kantische Skeptizismus zum Kantischen Kritizismus.

Diese neuen Ergebnisse sind geschöpft aus der Tiefe des mensch­ lichen Subjekts. Daher ist dieser Kritizismus zugleich Subjektivismus. Aber das Subjekt, um welches es sich hier handelt, ist nicht das

lediglich individuelle Subjekt des einzelnen Menschen, aus dem eben die Anarchie des Nihilismus hervorwächst, sondern das Subjekt ist

das überindividuelle, allgemeine Menschheitssubjekt mit seinen für alle geltenden, notwendigen und somit objektiven Gesetzen.

Indem Kants

16

Kanis philosophische Tat

Kritizismus eben diese allgemeingültigen objektiven Gesetze dem über­ individuellen Menschheitssubjekt entnimmt, wird sein Subjektivismus zum kritischen Objektivismus und durchbricht damit durchaus und völlig die Schranken eines bloß individuellen Subjektivismus mit dessen alles Objektive leugnenden Tendenzen. Im Gegenteil führt Kants kritischer Subjektivismus überall auf objektive, über und außer den Menschen stehende Mächte, auf „Dinge an sich", wie er sie nennt, und auf ihre in ihnen liegende, sei es stoffliche, sei es geistige, Ge­ setzmäßigkeit. Das Ergebnis dieses kritischen Subjektivismus ist daher überall der kritisch begründete d. h. subjektiv wie objektiv zugleich notwendige Vernunftsglaube nicht bloß an eine gesetzmäßige physische Wellordnung, sondern erst recht an eine gesetzmäßige geistige, intelligible Weltordnung, oder mit anderen Worten ausgedrückt: der notwendige Vernunftglaube nicht bloß an eine gesetzmäßige natürliche, sondern erst recht an eine gesetzmäßige göttliche Welt. Lier sind wir nun an den Punkt gelangt, wo sich die weltund kulturgeschichtliche Stellung der Kantischen Philosophie klar er­ messen und begreifen läßt. Im vorchristlichen, griechisch-römischen Altertum überwiegt das Sinnliche noch durchaus das Geistige; das individuelle Selbst mit seiner egoistischen Zügellosigkeit noch durchaus das überindividuelle Gattungsselbst mit seinen notwendigen Vernunftforderungen. Erst im Christentum wird voll und ganz das Geistige über das Sinnliche, der Geist über das Fleisch gestellt. Aber im Mittelalter tritt das Gesetz des Geistes dem Menschen in der Form einer fremden, äußeren, despotischen Macht entgegen, deren autoritative Trägerin die Kirche ist. Das Geistige waltet jetzt als Übernatürlich-Geistliches, welches

allem Natürlichem und Natürlich-Geistigem das Recht der Existenz abspricht und es als Sündliches zu unterdrücken strebt. Die Kirche befiehlt das Denken, Wollen und Glauben und raubt dem natürlichen Subjekt jede individuelle Freiheit. Aber von der großen Zeit der Renaissance und Reformation an beginnt das Individuum sich auf­ zubäumen gegen diese Knechtschaft und Fremdherrschaft. Das mensch­ liche Subjekt fordert seine Freiheit im Denken, Wollen und Glauben. Aber noch nicht gelehrt und nicht gewöhnt, sich selbst zu lenken, artet sein Freiheitsdrang in Zügellosigkeit aus. Auf den Despotismus folgt die Revolution und die Anarchie, auf den Dogmatismus der Nihilismus, nicht bloß auf theoretischem Gebiete, sondern mit blutigem Schrecken auch auf praktisch-politischem. Die ganze neuere Geschichte

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

17

gibt Zeugnis für diesen Wandel, und unsere eigene Zeit hallt wieder vom tobenden Kampfe zwischen den Anhängern des alten autoritativen Dogmatismus und den nach ihrer Vernichtung lechzenden Vorkämpfern einer zügellosen anarchisch-nihilistischen Irrlehre. Hier gibt es nur einen wirklichen Ausweg — den Weg zum Äöheren — zum Dritten

— der Weg heißt Kant!

Zurück zur alten dogmatischen Knechtschaft

kann der moderne Geist weder im Erkennen, noch im Wollen, noch im Glauben!

Aber ebenso wenig darf die individuelle Zügellosigkeit

bestehen bleiben, die zur Zerstörung jeder objektiven Autorität — und damit zum Chaos, zum Kriege aller gegen alle führt. Eine Autorität muß bleiben, aber diese Autorität sei keine despotische Gewaltherrschaft,

die jede Freiheit vernichtet — die Freiheit selbst sei keine zügellose Willkür, die jede Ordnung aufhebt — die Autorität sei die in jedem

Menschen liegende innere Macht der menschlichen Gattungsvernunft, deren Gesetze dem Menschen natürlich sind, sodaß die Unterwerfung unter dieses eigene Selbst und seine Gesetze nicht Unfreiheit, sondern Selbstherrschaft, d. h. Freiheit und Gesetzmäßigkeit zugleich bedeutet. Aus dem Grundwesen der eigenen menschlichen Gattungsvernunst, als unserer wahren, innerlichen, eigenen, freien und notwendigen Autorität, müssen die allein maßgebenden Gesetze und Ziele unseres

Denkens, Wollens, Glaubens und Fühlens abgeleitet werden; und

diese zu erkennen und damit auch sie anzuerkennen, muß jeder Mensch von Kindheit an gelehrt und erzogen werden. Dann herrscht ver­ nünftige Freiheit und Gesetzmäßigkeit zugleich. — Ebensoweit entfernt vom Dogmatismus wie vom Nihilismus, wird dann das Reich der

kritischen Vernunstherrschaft aus Erden begründet. Nicht Rom, nicht Anarchie, sondern Vernunstherrschaft, die als autonome Gesetzmäßig­ keit Freiheit und Notwendigkeit zugleich in sich besaßt — so lautet Kants neues Evangelium, das zu verwirklichen die Ausgabe des nächsten Jahrtausends ist. So ist Kants kritische Philosophie ver­ tiefter und konsequent bis an seine letzten und höchsten Ziele weiter geführter Protestantismus und daher ost genug und von vielen als eine Religion der Zukunft bezeichnet. Die Fremdherrschaft des autoritativen Dogmatismus ist die Zuchtrute und das Erziehungs­

mittel für das unmündige Kind und den Knaben. Der überschäumende Jüngling reißt sich vom Zwange los und verfällt in nihilistische Zügel­ losigkeit — aber der reif gewordene Mann erkennt und anerkennt die Gesetze der Menschheitsvernunst in sich und wird frei, indem er sich

ihnen willig unterwirft. Schultze, Credo und Spera

Der größte Teil auch der sogen. Kultur2

18

Kants philosophische Tat

Menschheit steht heute noch auf der Stufe des Knaben und des Jünglings — und daher blüht überall heute noch das eine oder das andre Extrem, der Dogmatismus oder der Nihilismus. Aber die Menschheit wird einmal zum reifen Mannesalter heranwachsen, und dann, aber auch dann erst wird die Zeit der philosophischen Welt­ herrschaft Kants gekommen sein, wenn auch nicht dem Buchstaben,

so doch dem Geiste nach. Alle Einzeluntersuchungen Kants behandeln dasselbe Grundproblem, das sich in folgender, sich stets wiederholender Äaupt- und Kardinalfrage Kants ausdrücken läßt: Gibt es ein allen Menschen gemeinsames, daher für alle verpflichtendes, also allgemeingültiges und notwendiges, theoretisches, moralisches, religiöses und ästhetisches Grundbewußtsein, und welche für alle menschlichen Individuen ver­ bindlichen Gesetze folgen aus ihm? Diese Frage beantwortet Kant mit Ja und sucht nun durch eine genaue, kritische, sogen, transzendentale, in Wahrheit psychologische Analyse den Inhalt dieses Grundbewußt­ seins festzustellen, Hinsichtlich dieser psychologischen Ergründung und

Begründung kann und muß man heute vielfach andere Wege ein­ schlagen, als der große Meister wandelte. Aber das ist Nebensache — die Hauptsache und das Bleibende ist dies: Das wahre Wesen des menschlichen Erkennens, Wollens und Fühlens hat Kant durch­ schaut wie kein andrer vor ihm; und auf der Grundlage dieser Ein­ sicht hat er die höchsten Ziele aller menschlichen, individuellen wie

allgemeinen Entwicklung in so vollendeter Weise vor Augen gestellt, daß kein anderer Philosoph darüber hinaus kann und die Mensch­ heit für alle Zeiten an ihrer Verwirklichung zu arbeiten haben wird.1 In seiner theoretischen Philosophie (Kritik der reinen Vernunft

1781) untersucht Kant die Grundlagen, die Tragweite und die Grenzen des menschlichen Erkennens und kommt zu dem Ergebnisse, daß der

Mensch infolge der eigentümlichen Organisation seines Geistes hin­ sichtlich seines Erkennens auf diese zeitliche, räumliche und natürlich­ kausale Erfahrungswelt eingeschränkt sei; daß alles, was darüber hinausliegt, (das Gebiet der „Dinge an sich") wohl ein Gegenstand

eines in sich gut begründeten Glaubens, nie aber eines exakten Wissens sei; daß deshalb alle Dogmen jeder Art von Metaphysik unbewiesene und unbeweisbare Annahmen seien, die auf den von ihnen bisher be-

1 Vergl. zu dem Folgenden die Darstellung der Kantischen Philosophie, welche Vers, in seinem Werke „Der Zeitgeist in Deutschland" (Verlag Lermes, Berlin und Leipzig) S. 19—32 gegeben hat.

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

19

anspruchten Vorzug der sichersten, höchsten und wertvollsten Erkenntnis kein Recht besitzen; daß sie wohl eine vielfach phantastische Welt erdichteter Begriffe im Kopfe des Menschen, nicht aber die wahre Welt der Wirklichkeit darstellen, weil sie alle auf der falschen onto­ logischen Voraussetzung beruhen, daß, was logisch notwendig gedacht werde, auch real notwendig existieren müsse, während doch menschliches logisches Denken und reales natürliches Sein sich gar nicht zu decken brauchen. Durch diese Kritik hat Kant für alle Zeiten jede dog­ matische Metaphysik und metaphysische Dogmatik, insofern sie mehr als ein bloßer Glaube sein will, also als Wissenschaft, unmöglich gemacht und sich eben damit den Namen des Alleszermalmers ver­ dient, während er andrerseits, indem er alle wahre Erkenntnis auf das fruchtbare Gebiet der wirklichen Erfahrungswelt einschränkte, erst recht den Grund zu einer in sich unantastbaren, gediegenen, natürlichen Wissenschaft legte. Eben hierin besteht auch der empiristische und realistische Charakter der Kantischen Philosophie. In seiner praktischen Philosophie, welche die Moral-, Religions-, Rechts-, Staats-, Geschichts- und Kulturphilosophie umfaßt und den idealistischen Oberbau zu jenem erkenntnis-theoretischen, empirisch­ realistischen Unterbau bilder, findet Kant durch eine tiefgründige Zer­ gliederung des menschlichen Willens als dessen wertvollsten inneren Kern den Begriff des Guten (das Sittengesetz, den kategorischen Imperativ, der sich im Gewissen offenbart), durch welchen deni Menschen auf Grund seines eigenen inneren Wesens, nicht durch einen äußeren Zwang, also autonom, die Beherrschung des sinnlich-natürlichen durch den sittlich geistigen Menschen zur Pflicht gemacht wird. Die Entwicklung des Individuums hat demnach kein höheres Ziel als die Herausbildung dieses wahrhaft sittlichen Charakters. Allein in diesem, nicht in irgend einem Äußerlichen, besteht die eigentliche Menschen­ würde, seine wahre, d. h. innere sittliche Freiheit. Allein diese echte sittliche Gesinnung bildet auch den eigentlich wertvollen Kern, Inhalt und Ziel jeder wahren Religion. Dogmen und Kultusgebräuche werden zum bloßen Fetisch-, Götzen- und After­ dienst, wo sie in irgend einer Religion zur Hauptsache gemacht werden, während sie doch nur dann und insofern Wert haben, als sie zur Be­ förderung echter, innerer sittlicher Gesinnung dienen. Allein in dieser Gesinnung, und was aus ihr hervorgeht, nicht in äußerlichen Hand­ lungen, die ja alle bei bösester Gesinnung aus bloßer Leuchelei voll­ führt werden können, besteht die wahre „Religion innerhalb der 2*

Kants philosophische Tat

20

Grenzen der bloßen Vernunft."

Nicht aus trügerischen, sichtbaren

Anterwürfigkeitsdiensten, sondern aus der Verstellung dieser innerlichen,

an sich unsichtbaren Gesinnung erwächst des Menschen wahre Wieder­ geburt. Die, welche diese echte, innere sittliche Gesinnung in sich zur

Herrschaft erhoben haben, bilden die wahre, die unsichtbare Kirche, im Gegensatz zu einer in wertlosen Äußerlichkeiten ausgehenden, sicht­ baren Kirche.

Der Kern des wahren Glaubens ist der Glaube an das sittliche Ideal, d. h. an den endlichen Sieg des Guten über das Böse; der Glaube an die Möglichkeit, Notwendigkeit und schließliche Verwirk­ lichung der Herrschaft des Guten in der gesamten Welt, d. h. der Glaube an eine sittliche Weltordnung. Diese kann aber nur unter

der Bedingung bestehen, daß das Gute eine wirklich existierende und die ganze Welt durchdringende, also göttliche Kraft ist, d. h. nur unter der Bedingung, daß es eine Gottheit gibt. Der Glaube an das Gute, an eine sittliche, zweckmäßige Weltordnung und Welt­

entwicklung schließt also den Glauben an Gott notwendig in sich, zugleich aber auch den Glauben an die Möglichkeit einer sittlichen Entwicklung und Vollendung des Menschen. Diese Möglichkeit fordert aber wiederum den Glauben an die sittliche Freiheit, ohne welche der Mensch zur bloßen Naturnotwendigkeit des zwangsmäßigen, also an sich wertlosen Sandelns verurteilt sein würde. Da aber kein Mensch in seinem irdischen Leben diese sittliche Vollendung erreicht, so fordert

der Glaube an die sittliche Weltordnung zugleich auch den Glauben an ein Leben des innersten Wesenskernes des Menschen über den Tod hinaus.

Diese sich auf die Existenz des Sittengesetzes in uns begründenden Forderungen der sittlichen Freiheit, der sittlichen Weltordnung, Gottes und der Ansterblichkeit — diese „Postulate der prattischen Vernunft" bilden die einzigen notwendigen Glaubenssätze einer „Religion innerhalb

der Grenzen der bloßen Vernunft" und den einzigen wahrhaft wert­ vollen und für alle Zeiten bleibenden Kern und Inhalt jeder hoch­ entwickelten Religion, insbesondere auch des echten Christentums. Das Ziel aller religiösen Entwicklung muß die allgemeine Verbreitung und

Annahme dieser Vernunftreligion und die Gründung und Anerkennung dieser unsichtbaren Kirche der reinen Gesinnung, d. i. des Reiches Gottes auf Erden sein. Alle geistig-sittliche Entwicklung der Menschheit soll vom Natur-

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

21

zustande zum Kulturzustande führen, d. h. von Anvernunft, Ansittlich­ keit und Anfteiheit zur Vernünftigkeit, Sittlichkeit und Freiheit, d. h. zur Verwirklichung wahrer Menschenwürde, die eben darin besteht. And das gilt nicht bloß für den Einzelnen, sondern bildet auch das höchste und letzte Ziel für die Entwicklung der Gesellschaft, des Staates und der Staaten untereinander. Das höchste natürliche und unan­ tastbare Recht eines jeden Menschen ist die Bewahrung seiner sitt­ lichen Freiheit und Menschenwürde, und alles positive Recht muß sich der Anerkennung und Verwirklichung dieses natürlichen Rechtes in Beziehung auf alle Menschen mehr und mehr anzunähern suchen, d. h. das bloß sinnliche Recht der Gewalt muß zum sittlichen Rechte der Freiheit und Menschenwürde werden. Demgemäß muß sich der unfreie Despotenstaat überall nach und nach in den freien Rechts­ staat verwandeln. Alle freien Rechtsstaaten aber müssen untereinander wirklich in den Rechtszustand eintreten, d. h. sie müssen dem Natur­ zustände des Krieges entsagen und ihre Streitigkeiten durch ein von dem Bunde aller Staaten in seiner Macht garantiertes, internationales Schiedsgericht schlichten lassen. Sittlichkeit und Menschenwürde ftrdern also, auf das Verhältnis der Völker und Staaten angewandt, die Idee des ewigen Friedens als den höchsten Leitbegriff der politischen Entwicklung aller Staaten. Kants ästhetische Philosophie ist die Philosophie des Gefühls. Gefühlsurteile sind rein subjektiv und betrachten daher alles unter dem Gesichtspunkte des subjektiv Zweckmäßigen oder Anzweckmäßigen. Sie beziehen sich entweder auf den Inhalt, d. h. die stoffliche Be­ schaffenheit der Dinge, woraus die teleologische Naturbettachtung hervorgeht, oder auf die Form der Dinge in Natur und Kunst, woraus die Schönheitsbetrachtung oder die Ästhetik im engeren Sinne

erwächst. Der teleologischen Betrachtung steht die mechanische gegenüber, und diese letztere ist auch nach Aant die allein berechtigte im Gebiete der unorganischen Natur. Ja, selbst in der Welt der Organismen ist jeder einzelne Vorgang stets rein mechanisch zu erklären. Gleichwohl kann der Organismus als Ganzes, die lebendige Organisation, d. h. das Leben, auch heute noch, mechanisch nicht verstanden und abgeleitet werden. Die zweckmäßige Organisation und das Leben ist vielmehr der Grenzbegriff der mechanischen Erklärungsweise. And wenn aus einem ersten Arorganismus auch alle folgenden mechanisch abgeleitet werden könnten, so wäre doch dieser erste Arorganismus wegen der

22

Kanis philosophische Tat

in ihm vorhandenen zweckmäßigen Anlage, sich zu höheren Organismen zu entwickeln, selbst nicht mechanisch zu erklären. And wenn wir endlich in Beziehung auf das Weltganze auch alle folgenden Welt­ zustände mechanisch auf einen ersten zurückgeführt hätten, so könnten wir doch diesen ersten eben wegen seiner zweckmäßigen Anlage, alle übrigen aus sich hervorzubringen, wiederum nicht mechanisch erklären, sondern wären genötigt, für ihn ein erstes, zweckmäßig schöpferisches d. h. intelligentes, göttliches Arprinzip vorauszusetzen. Somit behält eine kritisch genau begrenzte Teleologie auch gegenüber und neben der mechanischen Welterklärung ihr gutes und unbestreitbares Recht. Lind hier ist nun der Punkt erreicht, wo die verschiedenen Fäden des Kantischen Philosophierens sich zu einem letzten, abschließenden Knoten verknüpfen. Kants theoretische Philosophie beschränkte uns auf die rein mechanisch-kausale sinnliche Erscheinungswelt. Die Schranken dieser letzteren durchbrach die praktische Philosophie und lehrte uns, auf Grund des Sittengesetzes an geistig-sittliche Zwecke, an eine moralisch­ göttliche Weltordnung glauben, d. h. an eine höhere, geistige, intelligible Welt. Jetzt führt uns auch die teleologische Naturbetrachtung in ihrer kritisch berechtigten Gestalt auf Naturzwecke hin, die, nach der Analogie geistiger Zwecke gedacht, wie fremde Gäste aus einer Welt des Geistes, die Welt des Mechanismus bewohnen und be­ leben. Im geistigen Zweckbegriff stimmen also Moral und Natur­ teleologie völlig zusammen. In der moralischen sowohl, als in der natürlichen Welt erscheint das Sinnlich-Mechanische untergeordnet dem Geistig-Zweckvollen, und diese Tatsache begründet für uns das gute Recht zu glauben, daß sich über dem Reiche der Notwendigkeit ein Reich geistiger Zwecke und geistiger Freiheit erhebt, kurz, daß es eine nach freien, geistig-sittlichen Zwecken geordnete Welt Gottes gibt, der als Glieder auch wir Menschen angehören, insofern wir geistig­ sittliche Wesen sind. Diese Erkenntnis ist zwar keine nach mathematisch­ physikalischer Art, wohl aber die Überzeugung eines kritisch berechtigten und vernunftnotwendigen Glaubens. In den Organismen schafft die Natur lebendige Kunstwerke, die Vorbilder aller Kunst. Natur und Kunst weisen daher stets auf­ einander hin. So subjektiv und individuell nun auch alle Geschmacks-, d. h. Gefühlsurteile in der Kunst sein mögen, so gibt es nach Kant gleichwohl auch notwendige und allgemeingültige Gefühlszustände, aus welchen die Beurteilung eines Gegenstandes als schön oder als er-

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

23

haben erwächst. Denn das Schöne oder Erhabene ist nicht an den Dingen selbst, sondern nur in unserer gefühlsmäßigen Vorstellung von den Dingen.

Diesen Gefühlszustand analysiert Kant in all seinen

Beziehungen und findet, daß er besteht in einer eigentümlichen Gleich­ gewichtslage von Sinnlichkeit und Verstand in Beziehung auf das

Schöne, und in Beziehung auf das Erhabene in einer eigentümlichen Wechselbeziehung zwischen unserem menschlichen, sinnlich-natürlichen und übersinnlich-moralischen Wesen.

Die Wirkung der Kantischen Philosophie, entsprechend dem Universalismus ihres Gedankengehaltes, war eine universale, zunächst in Deutschland, später auch in den übrigen Kulturländern.

Sogar an katholischen Universitäten und Lehranstalten, wie in Würzburg, Mainz, Ingolstadt, Bamberg, Dillingen, Salzburg u. a., wurde sie

öffentlich oder privatim vorgetragen; ja, sie regte selbst in Mönchs­ klöstern, z. B. in Münnerstädt in Franken, die Geister zu lebhaftem Nachdenken auf. Es würde zu weit führen, im Einzelnen zu zeigen, wie sie zugleich Altes zerstörte und Neues aufbaute. Oder soll ich

Zeugnisse von Zeitgenossen reden lassen, welche den überwältigenden und hinreißenden Eindruck bestätigen, den Kants Werke bei allen Denkenden hervorriefen? Zeugnisse ersten Ranges aus dem Munde

Schillers, des genialsten Kantianers, durch dessen Werke Kants Ge­ danken auch heute noch fortwährend ins Volk strömen; oder Goethes oder Wilhelm von Humboldts oder Schopenhauers oder Jean Pauls, der in Begeisterung an einen Freund schrieb: „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal!" Oder Zeugnisse zweiten Ranges, wie das des Philosophen Reinhold

oder des Berliner Arztes Erhard oder des dänisch-deutschen Dichters und Philosophen Baggesen, der gesteht, daß er nach Christus keinen

so hoch verehre wie Kant? Die Ausbreitung der Kantischen Philo­ sophie über ganz Deutschland schildert Varnhagen in seiner Ausgabe der Denkwürdigkeiten des eben genannten Erhard: „Alsbald wendet sich nun die Macht der mit der Fackel der Kritik erleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Beispiel, Botschaft dringt sie nach allen

Seiten vor: alle Gebildeten, Strebenden gleichsam eine neue Religion, die sich sammlung liefert in dieser Beziehung Proben; hier ist die Kantische Philosophie

nehmen daran teil; es ist ausbreitet. Unsere Brief­ bedeutende Zeugnisse und in Handlung und Wirksam­

keit; wir sehen sie als Gegenstand der höchsten Beziehungen und Be­ dürfnisse eines weiten Menschenkreises von Königsberg über ganz

24

Kants philosophische Tat

Deutschland bis nach Hamburg und Kopenhagen und bis nach Wien

und Triest ausstrahlen." — Lind seine Feuerprobe bestand der durch Kants Philiosophie erzeugte neue Geist einer wahrhaft tiefen ethischen Weltanschauung auf den Schlachtfeldern der Freiheitskriege, denn man hat mit Recht gesagt, daß der kategorische Imperativ Kants auf die Fahnen der Freiheitskämpfer geschrieben gewesen sei. Leider sollte diese Wirkung zunächst nicht von allzu langer Dauer

Wie damals in der Poesie die romantischen Dichter sich gegen die Klassiker Schiller und Goethe erhoben und von ihnen abfielen, so sein.

erhoben sich auch die romantischen Philosophen gegen Kant und fielen von seinem Klassizismus ab. Diese romantische Wendung bedeutete den Abfall von strenger Kritik zu schwärmender Phantastik; vom Objektivismus zum Sub­ jektivismus; vom Kritizismus zurück zum skeptischen Nihilismus; von logisch strengen Beweisen zu bloßen assoziativen Analogieschlüssen, gleichviel ob diese romantisch-philosophischen Weltgedichte in mehr

poetischem Gewände, wie bei Schelling, oder in begrifflicher Einkleidung, wie bei Hegel, die Gemüter berauschten. Es lag im Geiste der Metternich'schen Reaktionsperiode, die nichts duldete, was nach kritischer Aufklärung schmeckte, begründet, daß Hegels System, diese

bewunderungswürdig kunstvolle „Rationalisierung der Romantik", zur Alleinherrschaft gelangte; es war das absolute Gegenteil der Philo­ sophie Kants.

Herbarts Philosophie, in welcher der kritische Geist Kants, wenn auch in anderer Form, weiterlebte, konnte daneben nicht aufkommen. Indes — auch der romantische Rausch verflog! Was aber zurückblieb, war die Nüchternheit des traurigsten und trostlosesten,

plattesten, unphilosophischen Materialismus, ausgehend von Feuerbach, getragen und begünstigt von einer triumphierenden Naturwissenschaft, sich entfaltend zu einer mächtigen, auch heute noch flutenden Strömung und endlich einmündend in den von prachtvoll farbigen Giftpflanzen schimmernden Sumpf des modernen Nihilismus mit seiner Weisheit

letztem Schluß: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!" Was Wunder, daß sich gegen diesen alles zersetzenden Nihilismus

mit Niesenstärke wieder erhob das entgegengesetzte Extrem des alten Dogmatismus! Hier kann nur Eines wahrhaft retten! die entschiedene Erhebung über diese Gegensätze, aber nicht in der Form des Sowohl — als auch, sondern nur in der Form des Weder — noch! die Erhebung

und ihre Bedeutung für unsere Zeit

25

zu dem höheren Dritten, die Rückkehr zu dem Geiste Kants! Das ist die Aufgabe, zu deren Lösung die geistige Entwicklung der Mensch­

heit gebieterisch hindrängt, eine Aufgabe, die freilich nicht schon das Jahrhundert, sondern nur ein Jahrtausend zu lösen vermag. Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Rückkehr zum Geiste Kants gelangt auch in weiteren Kreisen heute immer mehr zum Durchbruch, nachdem in der Philosophie diese Überzeugung schon seit

mehr als 30 Jahren Wurzel gefaßt und die darauf abzielende Philosophenschule der Neukantianer hervorgetrieben hat. Nicht auf den Buchstaben des großen Denkers wollen wir schwören, wohl aber

seinen Geist in uns zu neuem Leben erwecken! Man redet heute soviel von einer „Not des modernen Bewußt­ seins," daß man im Chaos der Ansichten und des Zweifels nicht aus noch ein wisse und nichts habe, woran man sich halten könne. And doch ist in dieser grenzenlosen geistigen Zersplitterung und Verwirrung, in der wir heute tatsächlich leben, der neue Einheitspunkt längst gegeben — es ist kein anderer als der alte, gleichwohl ewig junge — er heißt Immanuel Kant! Man sammle sich also in Kant! In ihm besinne man sich wieder aus die wie der Polarstern unverrückbaren,

höchsten Sttebeziele menschlicher Entwicklung.

Vor allem kehre man

aus dem Elend unserer heutigen sittlichen Verwilderung wieder zurück zu Kants echt ethischer Weltanschauung, aus dem zügellosen Sub­

jektivismus zu dem kritischen Objektivismus, und die Not des modernen Bewußtseins wird weichen einer zielbewußten, ruhig schaffenden Arbeits­ freudigkeit, die, gleich weit entfernt vom aufreizenden Nihilismus und

vom einlullenden Dogmatismus, dem menschlichen Geiste eine sichere, gesunde und lichte Wohnstätte bereiten wird in dem echten Real­ idealismus Immanuel Kants. And so schließe ich denn mit der großartigen Charakteristik, welche

Wilhelm von Lumboldt Kant und seiner Philosophie gewidmet hat: „Kant unternahm und vollbrachte das größte Werk, das vielleicht je die philosophierende Vernunft einem einzelnen Manne zu danken hat. Er prüfte und sichtete das ganze philosophische Verfahren auf einem

Wege, auf dem er notwendig den Philosophieen aller Zeiten und aller Nationen begegnen mußte; er maß, begrenzte und ebnete den

Boden desselben, zerstörte die darauf angelegten Truggebäude und stellte nach Vollendung dieser Arbeiten Grundlagen fest, in welchen die philosophische Analyse mit dem durch die früheren Systeme oft

irregeleiteten und übertäubten natürlichen Menschensinn zusammentraf.

Kants philosophische Tat

26

Er führte im wahrsten Sinne des Wortes die Philosophie in die

Tiefe der menschlichen Brust zurück.

Alles, was den großen Denker

bezeichnet, besaß er in vollendetem Maße und vereinigte in sich, was sich sonst zu widerstreben scheint, Tiefe und Schärfe, eine vielleicht nie übertroffene Dialektik und das philosophische Genie, welches die Fäden eines weitläufigen Ideengewebes nach allen Richtungen hin ausspinnt und alle vermittelst der Einheit der Idee zusammenhält. Von den

Spuren, die man in seinen Schriften von seinem Gefühl und seinem Äerzen antrifft, hat schon Schiller richtig bemerkt, daß der hohe

philosophische Beruf beide Eigenschaften des scharfen Denkens und des tiefen Empfindens erfordert. Nichts, weder in der Natur noch im Gebiete des Wissens, läßt ihn gleichgültig; alles zieht er in seinen Kreis. Denn Größe und Macht der Phantasie stehen in Kant der

Schärfe und Tiefe des Denkens unmittelbar zur Seite.

Dreierlei

bleibt, wenn man den Ruhm, den Kant seiner Nation, den Nutzen, den er dem spekulativen Denken verliehen hat, bestimmen will, un­ verkennbar gewiß: Einiges, was er zertrümmert hat, wird sich nie

wieder erheben; Einiges, was er begründet hat, wird nie wieder untergehen; und was das Wichtigste ist, so hat er eine Reform ge­

stiftet, wie

die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens keine

ähnliche aufweist."

Schiller, der Denker im Dichter Festrede, gehalten zur Feier des hundertsten Todestages Schillers (9. Mai 1905) am Abend des 8. Mai 1905 im Gewerbehause zu Dresden.

ls am 10. November 1859, so weit die deutsche Zunge klingt, Schillers hundertster Geburtstag gefeiert wurde, da hatte der Name Schiller eine politische Bedeutung. In jenen Tagen traurigster Reaktion sah man in Schiller den begeisterten Vorkämpfer für die hohen Güter, die das deutsche Volk damals vergeblich erstrebte — den Vorkämpfer für die heilige Idee eines einigen und freien Vater­

landes. Sein Name bezeichnete in idealer Verhüllung ein politisches Sehnsuchtsprogramm, das in realer Offenkundigkeit auszusprechen damals niemand sich getrauen durfte. Keule, nach fast 46 Jahren, am hundertsten Todestage des Dichterfürsten, hat das deutsche Volk erreicht, was ihm damals

versagt blieb. Ohne jede politische Nebenbeziehung und deshalb um so zutreffender können wir daher heute die Größe Schillers, des Menschen und des Künstlers, bewundern und seinen Charakter und

seine Schöpfungen lediglich vom ethisch-ästhetischen Standpunkte aus würdigen. Diese „reine Betrachtung" gereicht nur zum Vorteile Schillers, denn seine Person und seine Werke erscheinen um so einzig­

artiger, je mehr wir sie nur aus sich selbst beurteilen, je weniger wir einen ihnen ftemden Maßstab anlegen. Drei große geistige Berufe waren in der einen Person Schillers verbunden: der Historiker, der Philosoph und der Dichter. Der Historiker Schiller war ein Diener des Dichters Schiller, denn der

Dichter bedurfte für seine historischen Dramen

Studien.

Schiller schreibt

der geschichtlichen

„Die Geschichte des Abfalls der ver­

einigten Niederlande" und im Zusammenhang damit seinen „Don Carlos", oder „Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" und in

Schiller, der Denker im Dichter

28

Verbindung damit seine „Wallenstein-Trilogie". Ganz anders erscheint das Verhältnis des Dichters und des Philosophen in ihm — nicht ist hier der eine dem anderen untergeordnet, sondern beide sind neben­ geordnet — denn Schiller war ein ebenso großer Philosoph wie Dichter; ja, diese beiden stehen nicht bloß beziehungslos und gleich­

gültig nebeneinander, sie sind vielmehr zur innigsten Einheit ver­ schmolzen.

Eben darin

besteht

die

völlige Anvergleichlichkeit und

Einzigkeit Schillers — eben darin bildet er einen in der gesamten Weltliteratur nur einmal vorkommenden, alleinigen Typus, daß er der philosophische Dichter und der Dichterphilosoph ist, in dem Sinne, daß bei ihm der abstrakte philosophische Gedanke die vollendetste

konkret-anschauliche Verkörperung gewinnt und die anschauliche Wirk­ lichkeit, die er bietet, von der philosophischen Idee innigst beseelt und vollkommen durchleuchtet ist. Wer den Dichter Schiller in seiner

ursprünglichen Größe verstehen will, der muß auch den Philosophen Schiller erkennen, wie umgekehrt der Philosoph Schiller zu seinem Verständnis stets den Dichter voraussetzt. Darum sei es mir zur

Feier der unsterblichen Manen Schillers vergönnt, in knappen Zügen

den Denker im Dichter zu zeichnen. Die philosophische Entwicklung Schillers zerfällt in zwei deutlich

getrennte Abschnitte. Epochemachend wurde für den Denker Schiller sein Studium der Werke unseres größten deutschen Philosophen, Immanuel Kants.

Wir unterscheiden daher in seiner philosophischen

Entwicklung 1. die vorkantische Zeit, die etwa bis zum Jahre 1787 reicht, und 2. die kantische Zeit, die den Rest seines Lebens ausfüllt. Auf der hohen Karlsschule, der Militärakademie Karl Eugens, Herzogs von Württemberg, wo Schiller acht Jahre, von 1773—1780, zuerst Rechtswissenschaft, dann Medizin studieren mußte, war den philosophischen Fächern nach dem Willen des Herzogs, der nach dem

Saus und Braus seiner ausschweifenden Jugend im Alter selbst in

Philosophie dilettierte, ein unverhältnismäßig großer Raum gewährt, jöier lernte der junge Schiller einerseits die damals in Deutschland

herrschende Leibnizisch - Wölfische strengere Schulphilosophie kennen, andererseits die freiere, sogenannte Popularphilosophie, die haupt­ sächlich praktische Menschenkenntnis und Sittenlehre übermittelte.

Daneben übten die Werke Rousseaus einen berauschenden Einfluß

auf ihn aus und erweckten in ihm eine überschwellende Begeisterung für Natur und Freiheit.

Schiller, der Denker im Dichter

29

Schillers wissenschaftliche Erstlingsschrift führte den Titel: „Philo­ sophie der Physiologie". Lier tritt in der gleich am Anfang voran­ gestellten allgemeinen Welt- und Lebensauffassung der Philosoph schon bedeutsam zu tage; aber zugleich meldet sich der Dichter, denn schon jetzt zeigt sich Schiller beherrscht von der „Kunstidee", die das Leit­ motiv seines ganzen Lebens, Denkens und Dichtens ist und bleibt. Im Sinne dieser Idee faßt er die ganze Welt als ein göttliches Kunstwerk auf; dieses zu erkennen, ist die höchste Bestimmung des Menschen; in der Erfüllung dieses Endzweckes besteht des Menschen Vollkommenheit und damit Glückseligkeit; diese Vollendung des Menschen kann aber nur in einem harmonischen Weltzustande erreicht werden, in welchem jeder in wahrer Menschenliebe die Vervollkommnung des andern zu befördern strebt. Der junge Philosoph untersucht auch das Verhältnis von Seele und Körper, von Geist und Materie und weist, mit einigen anderen metaphysischen Lehren, hier jede materialistische Fassung dieses Verhältnisses energisch zurück. Von früher Kindheit an hegte der Jüngling Schiller den Wunsch, als Theologe und Prediger die Menschheit zu echter Gottes- und Menschenliebe zu führen. Gegen seinen Willen wurde er Zögling der Militärakademie und mußte sich dem Studium der Medizin widmen. Während der religiöse Trieb seiner Seele ihn zum Geistigen, übersinnlichen. Ewigen, Göttlichen erhob, lenkte ihn sein medizinisches Studium auf die Erscheinungen in der stofflichen Welt und zeigte ihm das Vergängliche und die Kräfte der Zerstörung und Vernichtung in Krankheit, Alter und Tod. Aus dieser seiner Iugendgeschichte erklärt sich, daß sein Inneres bald von dem Kampfe zweier wider­ streitender Weltanschauungen ergriffen und erschüttert wurde. Im tiefsten Grunde seiner Seele hielt er den Glauben fest an eine harmonisch zweckmäßige Weltordnung, deren Lenker und Leiter ihm der Gott der Liebe war. Dagegen stritt aber sein scharfer Verstand mit den Waffen der materialistischen Lehre und ließ ihn die Welt nur als einen öden stofflichen Mechanismus fassen, in welchem keine anderen Mächte herrschen, als die des Entstehens und Vergehens, des flüchtigen Daseins und der raschen Verwesung, und aus deren Betrachtung bei ihm nur eine rein pessimistische Lebensauffassung hervorgehen konnte. In diesem Kampfe eines religiös-theosophischen Idealismus mit einem atheistischen Materialismus schwantt er lange hin und her; ja, infolge der unglücklichen Lebenslage, in welcher der zur höchsten Geistesfreiheit veranlagte, aber unter das militärische Joch der Karls-

30

Schiller, der Denker im Dichter

schule und unter den despotischen Willen seines Äerzogs gebeugte Jüngling vielfach der Verzweiflung und dem Lebensüberdrufse nahe war, scheint sich der mit leidenschaftlichem Feuer philosophisch grübelnde junge Dichter oftmals ganz und gar der Nachtansicht des Materialismus und Pessimismus zuzuneigen, bis zuletzt doch immer wieder die Tages­

ansicht eines optimistisch gesinnten Idealismus in seiner starken Seele zum Durchbruch und zum Siege gelangt. Dieser Sturm und Drang seines Innenlebens, dieses ungewisse

Schwanken zwischen extremen negativen und positiven Weltanschauungen

spiegelt sich deutlich einerseits in seinen sechs Lauraliedern wieder, die, an eine erdichtete Geliebte gerichtet, den ganzen gärenden Inhalt seines damaligen Seelenzustandes bald in himmelhoch jauchzender Lust, bald in zum Tode betrübter Verstimmung zum Ausdruck bringen; anderer­

seits offenbart er diese Seelenkämpfe in den hochtragischen Todes­ gedichten, ebenfalls sechs an Zahl, in denen die schroffe Betonung der Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen und Menschlichen vielfach in unvermittelten Gegensätzen mit dem erhebenden Äinweis auf das Göttliche und dem festen Glauben an die Ewigkeit des

menschlichen Wesenskernes abwechselt. In der Form eines Zwie­ gespräches hat er diesen Gegensatz in einem kleinen Prosawerke „Der

Spaziergang unter den Linden" lebendig dargestellt; auch seine drei

ersten Dramen, Räuber, Fiesco und Kabale und Liebe, sind voll solcher entgegengesetzter philosophischer „Selbstbekenntnisse", die uns die Unentschiedenheit und die Zweifel seines Innern verraten. In seiner zweiten philosophischen Schrift „Über den Zusammen­ hang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" vom Jahre 1780 behandelt Schiller ebenfalls das Grundproblem des Ver­

hältnisses von Geist und Materie. Sowohl den einseitigen Spiritualis­ mus als auch den bloßen Materialismus weist der jugendliche Denker von sich und erklärt es für das ratsamste, „das Gleichgewicht zwischen beiden Lehrmeinungen zu halten, um die Mittellinie der Wahrheit desto gewisser zu treffen." Mit einem Ausblick auf die Ansterblichkeit der Seele und die Möglichkeit ihrer Wiederverkörperung im Sinne

der Seelenwanderung schließt Schiller die Abhandlung, die ihn offenbar auf dem Wege zeigt, eine Versöhnung zwischen den in ihm streitenden Gegensätzen anzubahnen. Der Mediziner un5 der Theologe in Schiller

stehen hier im Begriffe, in dem Philosophen Schiller ihren Einigungs­ punkt zu finden. Am 17. September 1782 floh Schiller ans Stuttgart und entzog

Schiller, der Denker im Dichter

31

sich damit dem unerträglichen Despotismus seines Herzogs, der ihn nicht nur ein Jahr länger als nötig im Zwange der Karlsschule fest­ gehalten und ihm darauf nur die geringe Stelle eines Feldschers gegeben, sondern ihn endlich auch durch das Verbot, fernerhin literarisch tätig zu sein, zum Äußersten getrieben hatte. Obgleich nun Schiller

mit seinen Erstlingsdramen am Mannheimer Theater die größten Erfolge erzielte, gestalteten sich doch seine Lebensverhältnifse in den nächsten drei Jahren sowohl in materieller wie in ideeller Beziehung

höchst unerquicklich.

In diesen Bedrängnissen kam ihm die Einladung

seiner ihm bis dahin unbekannten Leipziger Verehrer wie eine Er­ lösung. Es waren CH. Gottfr. Körner und Ferd. Luber nebst ihren

Bräuten, den Schwestern Minna und Dorothea Stock, die dem Dichter aus der Ferne in schwärmerischen Briefen huldigten und damit den Grund zu jener innigen Freundschaft, besonders zwischen Körner und Schiller, legten, die eine große Epoche in Schillers Leben

bedeutete und seiner geistigen Entwicklung die heilsamste Llnterstühung lieh. Denn nicht nur ideelle Liebe brachten ihm die Freunde entgegen,

sondern der begüterte Körner war es auch, der Schiller, als dieser Ende April 1785 zu den Freunden nach Leipzig übersiedelte, für die

nächsten Jahre jeder Sorge um den materiellen Erwerb mit be­

wunderungswürdigem Edelsinn enthob, sodaß Schiller sich unein­ geschränkt seinen geistigen Aufgaben widmen konnte. Welch ein neues Leben, welche Heiterkeit und Frische in seine Seele damit einzog, zeigt das um diese Zeit ebenfalls in Dresden gedichtete Lied an die Freude: „Freude, schöner Götterfunken!" Inzwischen war Körner zum Oberkonsistorialrat in Dresden ernannt, und die fast zwei Jahre,

die Schiller nun vom September 1785 bis zum Juli 1787 in Körners Lause in Dresden oder in seinem Loschwiher Weinberge verbrachte, rechnete Schiller selbst zu der glücklichsten Zeit seines Lebens. Nun erst überwindet

er völlig und für immer jene finsteren

Mächte des Materialismus, Atheismus und Pessimismus, die seinen Geist gequält und verdüstert hatten — nun befreit er sich von allem beengenden Egoismus, der das eigene Selbst zum Mittelpunkt der

Weltbetrachtung macht und mit dem Weltlauf hadert, wenn dieser den Wünschen des Eigendünkels zuwider geht — nun bewahrheitet

sich an ihm sein eigenes Wort: „Denn wer den Sinn aufs Ganze hält gerichtet. Dem ist der Streit in seiner Brust geschlichtet" —

(Äuldigung der Künste.)

34

Schiller, der Denker im Dichter

denn nun gewinnt er für immer jenen höchsten Idealismus objektiver

Weltbetrachtung, der das Ganze dem eigenen Ich voranstellt und seine höchste Befriedigung in der Liebe zur Menschheit, in der Auf­ opferung für die Zwecke des Ganzen, in der Eingebung an das Vaterland und der Förderung echter Freiheit findet — nun erst wird er zu dem großen Künstler, der diese erhabenen Ideale seinem Volke lebendig vor Augen zu führen als seine höchste Aufgabe erkennt und ihr treu bleibt bis zu seinem leider viel zu frühen Tode. Diese abschließende Umwälzung, die sich infolge seiner glücklich veränderten Lebenslage in Dresden an ihm vollzieht, spricht sich klar und deutlich in den Werken aus, welche in dieser Dresdener Zeit entstehen. Da ist zunächst die überaus herrliche und tiefsinnige Freund­

schaftsode, die seine neue Weltanschauung wiederspiegelt: Liebe ist es, die die ganze Schöpfung durchdringt; es ist derselbe Trieb, der im großen die Himmelskörper und im kleinen die Menschen in Freund­ schaft harmonisch aneinander kettet. Die Gottheit selbst ist dieser alles vereinigende, universelle Liebestrieb. Am seiner Liebe zu genügen, um selbst lieben zu können, schuf Gott die Welt und die übrigen Geisteswesen als „sel'ge Spiegel seiner Seligkeit." „Tote Gruppen sind wir — wenn wir Haffen, Götter — wenn wir liebend uns umfassen! Lechzen nach dem süßen Feffelzwang — Aufwärts durch die tausendfachen Stufen Zahlenloser Geister, die nicht schufen. Waltet göttlich dieser Drang."

Dieselben Grundgedanken entwickelt Schiller ausführlicher in seinen zu gleicher Zeit geschriebenen „Philosophischen Briefen." Der jüngere Freund, Julius, Schiller selbst, unterbreitet darin seine Gottes­

philosophie oder Theosophie, wie er sie nennt, dem Arteil des älteren Freundes Rafael, mit welchem Körner gemeint war. Liebe — Auf­

opferung — Gottheit — das sind ihm hier gleichbedeutende Begriffe; sie sind das Gegenteil jedes Egoismus. „Liebe," sagte er, „zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaates, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung." And nun schildert er in diesem Zusammenhang einen

Mann, „mit dem Hellen, umfassenden Sonnenblick des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe," einen Mann, der die höchsten Ideale der Freiheit und Menschenwürde nicht für Lohn und Vorteil, sondern um der Mensch-

Schiller, der Denker im Dichter

33

heit willen zu verwirklichen strebt und, sich aus reiner Menschenliebe aufopfernd, den Tod erleidet — kurz, er schildert den Charakter, den

er eben um dieselbe Zeit in seinem Posa verkörpert, der er insofern selbst war, als er ihm alle die Ideale in den Mund legt, die Schiller jetzt als die höchsten erkannt hatte und mit deren dichterischer Aus­ gestaltung er von nun an alle seine Werke erfüllte.

Der Denker im Dichter hat die materialistischen, atheistischen und pessimistischen Wirrungen jetzt völlig überwunden; er ist ihrer Lerr geworden und schaut nun auf sie herab wie auf vergangene Erlebnisse,

die zwar nicht vergessen sind, ihn aber nicht mehr anfechten.

Am so

objektiver und sachlicher kann er sie nun zur Darstellung bringen, und das hat er in dem sogenannten „Philosophischen Gespräch" getan, in seinem spannenden und psychologisch feinen Roman „Der Geisterseher",

der aus derselben Zeit stammt. Im zweiten Teil dieses weit ausgesponnenen und inhaltsschweren Gesprächs legt Schiller dem Leiden des Romans, dem Prinzen, einen bedeutungsreichen Ausspruch in den Mund, der die weisheitsvolle

Erkenntnis enthält, zu welcher der Dichter sich durchgerungen hat und die er nun in seinem ferneren Leben energisch verwirklicht: daß nämlich

das wahre Glück des Menschen nicht im Sinnentaumel und der Selbstbetäubung, sondern in der Selbstbetätigung bestehe, die zugleich seine wahre Moralität sei. Am sich aber wahrhaft selbst betätigen zu können, muß man sein wahres Selbst, sein innerstes Wesen, seinen eigentlichen Beruf, kurz, seine Selbstbestimmung erkannt haben. Zu dieser Selbst­ erkenntnis und damit Selbstbestimmung hat Schiller sich jetzt empor­ geschwungen : er hat seinen Beruf in vollster Klarheit erkannt. Sein

Beruf ist die Kunst, seine Bestimmung die des Künstlers, seine Selbst­ betätigung von nun an nichts anderes als reine Künstlerschaft, aber nicht im selbstsüchtigen Eigeninteresse, sondern im Dienste der Mensch­ heit, zu ihrer Erziehung und Veredlung.

Das ist die Ausgabe, die

er von nun an nicht bloß sich selbst, sondern damit auch der Kunst und den Künstlern überhaupt mit vollem Bewußtsein stellt, und eben aus dieser vertieften Einsicht in den Wert und den Zweck echter Kunst

erklärt sich die Entstehung jenes ideenreichen, eigen- und einzigartigen Gedichtes „Die Künstler," mit dem Schiller diese seine erste geistige Entwicklungsperiode abschließt. Die Kunst war von jeher und soll für immer die Erzieherin der Menschheit sein, das ist der Laupt- und Grundgedanke dieser Dichtung. Die Werke der Kunst, insbesondere

der Poesie, gingen der wissenschaftlichen Erkenntnis voran. Schultze, Credo und Spcra

3

Durch

34

Schiller, der Denker im Dichter

das Schöne lernte die Menschheit das Gute und das Wahre kennen —

und auch Sittlichkeit und Wahrheit errreichcn erst dann ihre Vollendung, wenn sie sich mit der Schönheit verbündet, das heißt eine künstlerische Form gewonnen haben. Selbst das Ziel des praktischen Lebens ist,

künstlerisch schöne Formen anzunehmen; und eben dieses Kulturideal der künstlerischen Gestaltung aller Lebensverhältnifse zu verwirklichen, bildet die höchste erzieherische Aufgabe der wahren Kunst und des echten

Künstlers. „Der Menschheit Würde ist in eure Land gegeben. Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"

Erst in Jena, wo Schiller von 1789 bis 1799 zuerst als Professor der Geschichte, später als Professor der Philosophie lebte, lernte er die Kantische Philosophie kennen. Er liest zuerst einige kleinere Schriften

Kants, von denen er „außerordentlich befriedigt" ist; darauf vertieft er sich in Kants Ästhetik, über die er an Körner schreibt: „Sie reißt mich hin durch ihren lichtvollen und geistreichen Inhalt und hat mir

das größte Vergnügen beigebracht, mich nach und nach in Kants ganze Philosophie hineinzuarbeiten." Ebenso meldet er dem Freunde, als er den ersten Teil von Kants Religionsphilosophie gelesen hat: „Die Schrift hat mich hingerissen, und ich kann die übrigen Bogen kaum erwarten." Es dauert nicht lange, so hat sich Schillers der ganzen Kantischen Philosophie bemächtigt, und diese hat sich Schiller be­ mächtigt.

Es ist kein Wunder, daß beide in engster Seelenverwandt­

schaft sich magisch anzogen. Kants Philosophie gibt uns die tiefsten und zugleich die erhabensten Einsichten in das Wesen des mensch­ lichen Erkennens, Wollens und Fühlens und die tiefsten und er­ habensten Aufschlüsse über die höchsten Entwicklungsziele der Mensch­ heit. Tiefe und Erhabenheit — das sind aber auch die beiden Laupt-

dimensionen des Schillerschen Geistes. War das Schöne im allge­ meinen die Welt, in der er lebte, so war das Erhabene im besonderen sein eigentümlichster Genius, der ihn über alles Niedrige und Anwerte immerfort zu den lichten Äöhen des reinsten Idealismus emporhob,

weshalb in diesem Sinne Goethe von ihm wahrheitsgemäß rühmen konnte: „And hinter ihm im wesenlosen Scheine Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine."

So paßte die Tiefe und Erhabenheit des Kantischen Denkens

genau zu dem gleichen Zuge des Schillerschen Geistes; ja, was man

Schiller, der Denker im Dichter

35

von abstrakten Gedankengebilden, wie den Kantischen, am wenigsten

erwarten sollte, das pries der Dichter an ihnen; er fand nach seinen eigenen Worten: daß „die neue Philosophie gegen die Leibnizische

nicht bloß einen weit größeren Charakter habe, sondern daß sie sogar viel poetischer fei." Von nun an ist Schiller Kantianer;1 von nun an lesen wir Schillersche Verse und erhalten darin vielfach Kantische Gedanken. Das ist aber nicht etwa so zu verstehen, als ob Schiller die Kantische Philosophie nur passiv in sich ausgenommen und in Poesie übersetzt

habe; er erhebt sich vielmehr auf den Kantischen Grundlagen als ein

durchaus origineller Denker, der die Kantische Philosophie an zwei der wichtigsten Punkte durchaus selbständig weitergeführt hat. So­ wohl Kants Ethik als auch seine Ästhetik haben erst durch ihn ihre volle Vereinigung und einen befriedigenden Abschluß gefunden. Schillers ethisch-ästhetischer Idealismus, die eigentliche Signatur der Geistes­

richtung unserer Klassiker, bedeutet nichts mehr und nichts weniger

als die naturgemäße und notwendige Fortbildung der Kantischen Philosophie im Gebiete der Ethik und der Ästhetik. Schillers philo­ sophische Schriften sollten deshalb den Gegenstand des höchsten all­

gemeinen Interesses bilden, da sie erst den wahren Schlüssel nicht bloß zu seinen poetischen Werken, sondern zum Verständnis der klassischen

Dichtung

überhaupt bieten.

Zu diesen philosophischen

Schriften, die alle aus des Dichters letzter und reifster Lebensperiode stammen, gehören, außer einer Reihe kleinerer, aber bedeutsamer Ab­

handlungen, vor allem die beiden ästhetischen Meisterwerke: „Die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" und die bahn­

brechende Untersuchung „über naive und sentimentalische Dichtung." In all diesen philosophischen Schriften herrscht wiederum die „Kunstidee"; sie war der bewegende Grundgedanke all seiner Spekulationen

in seiner ersten Entwicklungsperiode; sie bleibt auch das beständige Motiv und Thema seines Philosophierens auf Kantischer Basis: die nämlichen Ideen von der Erziehung der Menschheit durch die Kunst, die er in seinem Gedichte „Die Künstler" keimartig ausgesprochen hatte, sind es, die er nun in erweiterter und tiefer begründeter Gestalt auch in seinen „Briesen über die ästhetische Erziehung" zu vollendeter

Reife gebracht hat. 1 Vergl. zu dem Folgenden die Darstellung der Schillerschen Philosophie in des Verfassers Werk „Der Zeitgeist in Deutschland" (Leipzig 1894) S. 58—74. 3*

36

Schiller, der Denker im Dichter

Kants ganze Philosophie geht darauf hinaus, den rohen, sinnlich­ natürlichen Menschen zum entwickelten, geistig-sittlichen Menschen zu

erheben. Das ist der Inhalt sämtlicher Kantischer Kulturideale. Genau dieselbe Aufgabe stellt sich überall Schiller. Wie ist diese erzieherische Aufgabe zu lösen? Das hauptsächlichste Erziehungs­ und Bildungsmittel im Sinne Schillers ist die Kunst.

Der sinnliche

Mensch soll durch den ästhetischen hindurch zum moralischen erhoben werden oder, verallgemeinert und auf die ganze Gesellschaft und den

Staat bezogen: der bloße physische Notstaat der im Naturzustände

lebenden, sinnlichen Gesellschaft soll durch den ästhetischen Staat der Bildung vermittelst der Kunst zum moralischen Kulturstaate entwickelt werden; oder ganz kurz ausgedrückt: der sinnliche Mensch soll durch das Schöne zum Guten erzogen werden. Wenn in dieser erzieherischen Stufenfolge der ästhetische Mensch

noch nicht als der vollendete erscheint, insofern er noch erzogen wird, so erhält nun aber endlich der Begriff des ästhetischen Menschen bei Schiller eine noch höhere und abschließende Bedeutung, womit der Dichterphilosoph (ich sage nicht zu viel!) den obersten Leitbegriff aller höchsten Kultur überhaupt aufgestellt hat. Der „ästhetische Mensch" Schillers ist nicht etwa der Künstler,

der leider oft weit vom ästhetischen Menschen entfernt ist, sondern der Mensch selbst als vollendeter Mensch; der Mensch als geistig­ sittliches, lebendiges Kunstwerk; der Mensch, in welchem alle Kräfte und Anlagen seines Wesens sich voll und ganz in unverkümmerter

Harmonie mit sich selbst und der Welt entfaltet hätten. In ihm wäre der natürlich-sinnliche Mensch nicht weniger zu seinem Rechte getätigt, als der geistig-sittliche; in ihm wäre der logische Verstand

zu schärfster Klarheit, der sittliche Wille zu echter Würde, das ästhetische Gefühl zu feinstem Geschmacke gediehen. Aufgehoben wäre in ihm der Gegensatz zwischen sittlicher Pflicht und sinnlicher Neigung, denn das natürliche Triebleben wäre so veredelt, daß es den Forde­

rungen des Sittengesetzes nie widerspräche, und so sehr wäre das Sittengesetz in Fleisch und Blut übergegangen, daß der Mensch nicht mehr der widerwillige Knecht des Gesetzes wäre, vielmehr das Sitten­ gesetz zum Naturgesetz seines Willens erhoben hätte. Hier wäre der

logische Verstand ästhetisch verschönt, die herbe Sittlichkeit durch schöne Form gemildert und das ästhetische Gefühl durch jene beiden vor Zügellosigkeit bewahrt. Ein solcher Mensch wäre das Ideal der Persönlichkeit, ein Kunstwerk von Mensch, der wahrhaft schöne oder

Schiller, der Denker im Dichter

37

der ästhetische Mensch im Sinne Schillers, und eine Gesellschaft solcher

Menschen bildete die Darstellung der Menschheit in ihrer schönftmöglichen Erscheinung oder den ästhetischen Staat, den Schillers

ethisch-ästhetischer Humanismus somit als das nicht mehr zu über­ treffende höchste Bildungs- und Kulturideal in wahrhaft schöpferischer Ideenfolge uns allen zum ewigen Vorbilde

in seinen ästhetischen

Briefen aufgestellt hat. Die Macht der ästhetischen Erziehung hatte niemand tiefer und erfolgreicher an sich erfahren, als Schiller selbst; nur durch sie wurden nach und nach die schroffen Gegensätze, welche in seinem Wesen lagen, zur Einheit ausgeglichen. Friedrich Schiller war von ebenso scharfem,

logischem Verstände, als von phantasievollster Anschauungskraft; von

ebenso nüchternem, praktischem Arteile, wie von mystischer Gefühls­ tiefe; in seinem Charakter lag ebensowohl die höchste Sittenstrenge, als die naivste kindliche Natürlichkeit; auf der einen Seite der Rigoris­ mus eines Asketen, auf der anderen die künstlerisch freie und schöne Lebensauffassung des Genies; auf der einen Seite geistig wie sittlich eine wunderbare Kraft, sein Selbst im Zaume zu halten, auf der anderen die Fähigkeit, es mit geistsprühendem Äberschwang ins An­

Sollen wir diese beiden Gegensätze mit zwei großen Namen bezeichnen, so stellt sich das ästhetisch-künstlerische endliche zu erweitern.

Element typisch in Goethe, das philosophisch-sittliche vorbildlich in Kant dar. And diese beiden Geister waren in der Tat die Pole in Schillers Bildung, von denen er zuerst gleichmäßig weit entfernt war, um später von beiden gleichmäßig stark und für immer angezogen zu werden, so daß er selbst nicht etwa die Summe von beiden (das wäre zu viel für einen Sterblichen), wohl aber die mittlere Proportionale beider, das heißt die ausgleichende Mitte zwischen beiden, darstellt.

Das ist die Gleichung, aus der sich Schillers ganzes Wesen ab­ leiten läßt. Aber keineswegs war diese Proportionalität in ihm von Anfang

an und mit einem Schlage fertig vorhanden — sie war erst das letzte und reifste Ergebnis seiner ganzen großen Wesensentwicklung, und er erreichte sie erst in seinem bedeutsamsten Lebensabschnitte in Jena und Weimar.

Während Kant und Goethe bei einheitlicherer

Anlage jeder seinen Weg von Anfang an mit Naturnotwendigkeit und deshalb, wenn auch nicht ohne innere Kämpfe, doch ohne inneren Wesenszwiespalt wandelten, wurde Schiller zuerst aus einem Extrem in das andere geworfen.

Der ganze ungestüme Gärungsdrang seiner

38

Schiller, der Denker im Dichter

Jugend erklärt sich daraus,': jetzt reißt ihn seine künstlerische Genialität

bis zum Wilden und Geschmacklosen

fort;

jetzt lenken ihn seine

historischen und philosophischen Antersuchungen fast ganz aus seiner dichterischen Bahn heraus. Aber diese geniale Seele sollte nur von

den entgegengesetzten Mächten

angegriffen

werden,

um

beide

im

Kampfe zu besiegen und zu beherrschen. Die hohen philosophisch­ sittlichen Ideale bleiben, aber sie stellen sich in dichterischer Form

dar; mehr und mehr ringen die ethischen Ideen nach ästhetischer Aus­ gestaltung, bis endlich in seinen vollendetsten Werken die philosophische Idee und die dichterische Anschauung so innig verschmolzen sind, daß

daraus jene staunenswerte Einheit der beiden scheinbar unvereinbaren Gegensätze entspringt, in der Schiller absolut einzig in seiner Art und deshalb auch unnachahmbar dasteht. Der „ästetische Mensch" Schillers ist das neue Kulturideal und Bildungsevangelium aller höchsten menschlichen Zukunftsentwicklung. Es ist die Aufgabe des Künstlers und insbesondere des Dichters, in seinen Werken immerfort auf dieses unverrückbare Ziel menschlicher Vollkommenheit hinzuweisen. Er kann diese Aufgabe in zweifacher Form lösen, als Idealist oder als Realist. Der Idealist weist in

seinen Werken auf die neuen Kulturideale hin, erklärt und verklärt sie und erweckt dadurch in den Menschen die Sehnsucht nach ihrer

Verwirklichung; der Realist hat das ersehnte Ideal des Kultur und Natur zugleich verwirklichenden ästhetischen Menschen in seinen Werken,

wie in seiner Person schon hergestellt; er bringt das Ideal bereits fertig und vollendet im eigenen Sein, wie in künstlerischen Schöpfungen zur lebensvollen Anschauung. Der große Idealist nähert sich dem Ziele an, der große Realist hat es erreicht; jener schaut die neue Aufgabe noch als ein fernes Ideal, diesem ist es bereits reale Wirk­ lichkeit geworden. Wer erkennte nicht, daß Schiller in dieser Unter­ scheidung, die er selbst aufstellt, mit dem großen Realisten Goethe, mit dem großen Idealisten — sich selbst meint? And hier ist nun der Punkt gekommen, wo wir die drei großen

Säulen unserer höchsten deutschen Geisteskultur vor uns errichtet sehen: auf der einen Seite Kant, auf der anderen Goethe und in der Mitte Schiller — von dem und von dessen Werken aus sich deshalb der Übergang sowohl zur Abstraktion des philosophischen Gedankens,

als auch zur konkreten Anschauung künstlerischer Verkörperung gleich­ mäßig vollziehen läßt. Wie drei verschiedene Töne zum Akkord zu­

sammenklingen, so stimmen diese drei Geister zur harmonischen Einheit

Schiller, der Denker im Dichter

39

dessen zusammen, was wir mit Emphase die höchste deutsche Bildung nennen.

Die großen idealen Strebeziele unserer Kultur — Kant

entdeckt und beschreibt sie, Schiller verklärt und erstrebt sie, Goethe

verwirklicht und lebt sie! Das ist Schillers Stellung im Geistesleben der deutschen Nation; immerfort erweckt er sein Volk zu den edelsten Aufgaben und Zielen.

Aber ich werfe an diesem ernsten Gedenktage die ernste Frage auf: Hat dieses Volk dem idealsten seiner Dichter Treue gehalten? Ist sein Wandel des großen Denkers des Schönen und Erhabenen würdig geblieben? Ich scheue mich, die Antwort zu geben, denn sie könnte für Anzählige nur verneinend ausfallen. Wie viele kennen denn

Schiller überhaupt nur einigermaßen noch, geschweige denn wirklich und gründlich? Wohl seinen Namen kennen sie und dieses und jenes Gedicht, aber nicht seine universale Bedeutung; nicht, daß Schiller eine Welt ist, eine Geisteswelt von einziger Art und ureigenem Werte, die man in heißem Ringen sich erobern muß. Wohl müssen

wir heute die wehmütige Trauerklage anstimmen, daß Schiller seinem Volke und seinem Wirken so früh entrissen wurde und daß so viele seiner großartigen Entwürfe unvollendet zurückgelassen sind, aber dieser Trauer steht erhebend die freudige Gewißheit gegenüber, daß das, was er uns gab, von so umfassendem Inhalt ist, daß, es in sich aufzunehmen und sich damit zu durchdringen, ein gutes Stück des Lebens füllen kann. Denn was Schiller in der „Huldigung der Künste" von seiner geliebten Poesie sagt, gilt im vollsten Maße

von ihm selber: „Mich HM kein Band, mich fesselt keine Schranke, Frei schwing' ich mich durch alle Räume fort. Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, And mein geflügelt Werkzeug ist das Wort. Was sich bewegt im Simmet und auf Erden, Was die Natur tief im Verborg'nen schafft. Muß mir entschleiert und entsiegelt werden. Denn nichts beschränkt die freie Dichterkrast!"

3

Die Logik im täglichen Leben Vortrag, gehalten am Abend des 4. November 1903 in der Aula der Technischen Lochschule zu Dresden.

iele schätzen die Logik gering und glauben, ohne Kenntnis der logischen Gesetze fehlerfrei denken zu können. Sie berufen sich auf Mephistos ironische Verspottung der Logik im Faust.

Sie be­

denken nicht, daß Mephisto spricht und daß er seine Satire gegen alle Wissenschaften richtet. Wenn es auch wahr ist, daß ein Genie

ohne bewußte Kenntnis der logischen Gesetze richtig denken kann, so

ist es doch ebenso wahr, daß die meisten Menschen keine Genies sind und also auch das Ausnahmerecht des Genies nicht für sich in An­ spruch nehmen können. Eine gewisse prattische Logik erkennt zwar jedermann an, denn die Erfahrung lehrt oft genug, daß man ohne Nichtigkeit im Denken

selbst im gewöhnlichen Leben nicht auskommen kann. Diese praktische Logik aber, meint man, besitze der gesunde Menschenverstand schon von Natur. Man weist auf den Ausspruch des Schäfers Kans Bendix hin: „Was ihr euch, Gelehrte, für Geld nicht erwerbt, Das hab' ich von meiner Frau Mutter geerbt."

Im übrigen lerne man ja genug Logik aus Grammatik, Mathematik und Naturwissenschaft. Wozu also noch ein besonderes Studium der logischen Wissenschaft?! Große Meistes im Denken haben die entgegengesetzte Ansicht vertreten.

Am von Plato, Aristoteles und den Stoikern im Altertum

ganz zu schweigen, singen unter den Neueren sowohl Bacon als Leibniz als Kerbart der Logik ein warmes Loblied und wissen den Nutzen, den sie ihrem Geiste gebracht hat, nicht genug zu preisen. Denn sowie man zwar eine Sprache auch ohne alle Kenntnis der Grammatik

Die Logik im täglichen Leben

41

geläufig sprechen, aber ihr Wesen doch nur durch ein genaues Studium ihrer Gesetze ergründen kann, so kommt man auch zur vollen Klarheit

über die Gesetze des richtigen und falschen Denkens erst durch das Studium der Logik, da sie die einzige Wissenschaft ist, die über das Denken denken lehrt. Wie sich die Mathematik zur Naturwissenschaft, so verhält sich

die Logik zu allen Wissenschaften. Ja, sie hat auch zu den Künsten ein intimes Verhältnis: man frage sich doch, ob ein aller Denkrichtig­ keit entbehrendes oder widersprechendes Kunstwerk auch nur einen Augenblick erträglich sei.

In Mathematik, Naturwissenschaft und Technik rächt sich jeder Denkfehler sogleich in falschen Endergebnissen und widerspruchsvollen Anmöglichkeiten.

Ebenso im praktischen Leben!

Hätte ich aus meiner früheren

Lebenslage alle Folgerungen richtig gezogen und danach gehandelt, so hätte ich mich in der späteren vor Versäumnis und Schaden schützen

können.

Die Menschen Pflegen auch ihr selbstverschuldetes Anglück

dem Schicksal in die Schuhe zu schieben, während sie es in Wahrheit ihrer Anüberlegtheit und Gedankenlosigkeit zuschreiben sollten. Man redet von einer Logik der Tatsachen, gegen die der Mensch

nichts vermöge. Aber die Logik der Tatsachen ist nur die genaue Folge von Arsachen und Wirkungen. Hätten wir diese in unserem Geiste richtig vorausgesehen, d. h. hätten wir logisch richtig gedacht, so hätten wir (wenn auch nicht in den Fällen, die überhaupt nicht in unserer Macht liegen, so doch in vielen Fällen unseres Lebens, in

denen wir selbst die Schmiede unseres Glückes oder Anglückes sind), so hätten wir der Logik der Tatsachen eine andere Wendung durch

die Logik der Gedanken geben können und wären ihrer Anerbittlichkeit nicht zum Opfer gefallen. Das haben vor allem die stoischen Philo­ sophen erkannt und anerkannt und daher den Gebrauch der Logik

sogar zu einer sittlich notwendigen Pflicht erhoben. So hängt denn auch im täglichen Leben jeder mit Vorbedacht herbeigeführte Erfolg, der nicht ein bloßer Zufall ist, von der Logik unseres Denkens ab, welche, wenn sie wahr ist, sich mit der Logik

des Geschehens deckt. Das vergessen die Menschen, denken unlogisch, handeln unzweckmäßig und geraten in Schwierigkeiten. — Sogar da, wo der Mensch unverschuldet von einem unvorhersehbaren Anglück betroffen wurde, wird der klar Denkende, d. h. der Besonnene sich rascher zu helfen wissen, als der unklare Kopf.

Die Logik im täglichen Leben

42

Trotz aller dieser unleugbaren Vorteile, die sie bietet, ist in Wirklichkeit der Logik im täglichen Leben doch nur ein sehr schmales Plätzchen eingeräumt, und nicht zum wenigsten stammen daher die

manchmal schier unbegreiflichen Torheiten, in die wir die Menschen rennen sehen. Wollen wir die untergeordnete Rolle verstehen, welche

die Logik im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Werte im gewöhnlichen Leben spielt, so müssen wir uns auf eine kurze psychologische Be­

trachtung einlassen und uns darüber klar werden, welche Stellung die Logik in unserem Seelenleben einnimmt. Das erste Grundelement all unseres seelischen Geschehens sind die Gefühle, rein innerliche Zustände unseres Eigenwesens, die nur in unserem Subjekte wurzeln, nicht im Objekte, wohl aber durch die

äußeren Objekte in unserem Subjekte angeregt werden. Solche innerliche Zustände, deren Gesamtheit wir unter dem Namen der Gemüts­

bewegungen begreifen, sind alle Gefühle des Gefallens oder Mißfallens (fei es auf sinnlichem, intellektuellem, ästhetischem oder ethischem Gebiete), die sich steigern können von den leisesten Regungen des Behagens oder Mißbehagens durch alle Grade der Freude und des Schmerzes bis zum höchsten Jubel oder zur tiefsten Verzweiflung, wobei die erregenden Arsachen so verschieden sind, als die bunte Welt und das

vielgestaltige Menschenleben sie nur darbieten können. Alle diese Gefühle zeigen die drei Äauptrichtungen der Lust oder Anlust, der Erregung oder Beruhigung, der Spannung oder Lösung, wobei diese drei Richtungen in jedem besonderen Gefühle sehr ver­ schiedene Mischungen eingehen können. Bei genauerer Analyse zeigt sich, daß alle unsere Gefühle oder Gemütsbewegungen nichts anderes sind als Zustände unseres Willens.

Wird unser Wille in seinem Streben befriedigt, so entsteht Lust; bleibt er unbefriedigt, Anlust. Anser Wille kann hochgradig erregt werden oder sich beruhigen. Rach großer Spannung tritt wieder

Lösung ein.

So steigert sich unsere Willensenergie vom dunkeln Trieb

und ihm gemäßen leisen Gefühl zur starken Begierde und ihr ent­ sprechenden flüchtigen Affekte bis zur unzerstörbar beständigen Neigung

oder Abneigung, d. h. einem dauernden positiven oder negativen Interesse, dem als Gefühle die starke, bleibende Leidenschaft, z. B. der Liebe oder des Äaffes, zur Seite steht.

Anser Wille erstrebt in seinem natürlichen, unerzogenen Arzustande

selbstsüchtig und rücksichtslos sein Ziel und entwickelt dabei im wirbelnden Durcheinander das ganze wilde Leer seiner Gemütsbewegungen. Da

Die Logik im täglichen Leben

43

ist von logischer Ordnung keine Rede! Unser Wille und unsere Gefühle bilden vielmehr, sei es in brutaler Wildheit, sei es in zarter

Verfeinerung, das Reich des Ungezügelten, Ungeordneten, Unbedachten, das Gegenteil aller Logik, das Reich des Alogischen und Antilogischen, wie Schopenhauer richtig erkannt hat. Nun lebt und handelt aber die ungeheure Mehrheit der Menschen

nur in und aus dem Gefühle. Was sie regiert, ist nicht die klar und deutlich überlegende Vernunft, sondern dunkele Triebe, flüchtige Begierden und zähe Leidenschaften, und so erhellt schon daraus, wie ungeheuer beschränkt die Herrschaft ist, welche die Logik im Leben der natürlichen Menschheit ausübt. Das zweite Äauptelement unseres Seelenlebens bilden die Sinnes­

empfindungen, welche durch äußere oder innere, physikalische, chemische oder physiologische Reize in unseren Sinnesorganen und Nerven

hervorgerufen werden und von den rein subjektiven Gefühlen genau zu unterscheiden sind. Diese Sinnesempfindungen verschmelzen zu

Vorstellungen, diese zu Vorstellungsreihen,

die sich untereinander

unendlich mannigfach verflechten. Diese Verschmelzung und Ver­ flechtung geht aber zunächst ganz unbewußt und rein mechanisch vor sich — wir sagen: die Vorstellungselemente und die Vorstellungen assoziieren sich rein zufällig nach den sogenannten Affoziationsgesetzen.

Dieses zufällige Zusammenwürfeln erleben wir z. B. im Traum, der wirr und sprunghaft nichts von logischer Ordnung zeigt, noch sich an die Logik der Tatsachen, d. h. an die Gesetze der Möglichkeit und

Wirklichkeit bindet.

Nun ist es aber gar keine Frage, daß bei der

ungeheuersten Mehrzahl der Menschen die Vorstellungsverbindungen rein assoziativ ablaufen. Die meisten Menschen führen auch im Wachen eine Art seelischen Traumlebens, und es liegt also auf der

Äand, daß auch dieses ganze den allergrößten Teil menschlicher Vor­ stellungsfähigkeit umfassende Gebiet des assoziativen Vorstellens der Herrschaft der Logik nicht untersteht.

Weder im Bereiche der Gemütsbewegungen noch im Felde des assoziativen Vorstellens waltet die Logik. Welches Gebiet bleibt denn da überhaupt noch für sie übrig? Vorstellens!

Das Gebiet des apperzeptiven

Das apperzeptive Vorstellen ist das Denken im eigent­

lichen Sinne des Wortes — das zielbewußte, forschende, entdeckende, erfindende, auflösende (analysierende) oder zusammenfügende (synthesierende, komponierende) Denken — das durch den besonderen Zweck streng gebundene, auf das eine Ziel unentwegt gerichtete, durch Form

Die Logik im täglichen Leben

44

und Stoff des geistigen Vorsatzes in seinen einzelnen Schritten genau bestimmte Denken, dem jedes Abweichen vom Wege durch die nicht

bloß unwillkürlich erregte, passive Aufmerksamkeit, sondern durch die wachsame, sich genau an die Denkgesetze bindende, willkürliche oder aktive oder apperzeptive Aufmerksamkeit verübelt wird. Wer eine mathematische Aufgabe lösen, eine Maschine konstruieren, eine chemische Untersuchung anstellen, ein dramatisches oder episches Gedicht ver­ fassen, eine Bildsäule meißeln, eine Symphonie komponieren, ein kaufmännisches Unternehmen ausführen, ein richterliches Urteil fällen, den Staat regieren will — der muß unklare Gefühle, träumerische Assoziationen fliehen und dem apperzeptiven Denken das Szepter

reichen.

Dieses apperzeptive Denken der selbstbewußten, überlegenden,

vorausschauenden, bildenden und schöpferischen Vernunft ist das Gebiet, auf welchem ohne strenge Logik in dem formalen Aufbau der Ge­ danken bei aller Verschiedenheit des Inhalts kein Erfolg zu erringen ist. Sn dem engbegrenzten und schwer zugänglichen Lochgebirgslande des apperzeptiven Denkens soll die Logik herrschen. Denn Wahrheit ist die höchste Forderung an unser Denken, wie Güte an unser Wollen. Die Anerkennung einer Wahrheit, z. B. der, daß 2x2 — 4 ist, hängt aber weder von unserem Gefühle oder Willen, noch von Über­

redung, äußerem Zwang oder bloß autoritativem Glauben, sondern

lediglich von unserer eigenen, inneren Einsicht ab, d. h. sobald wir den Sinn einer Wahrheit verstanden und ihre Gründe begriffen haben, so leuchtet sie uns mit innerer Notwendigkeit als wahr ein, und wir können gar nicht anders, als sie für wahr halten, ebenso wie wir ihr Gegenteil notwendig für falsch erklären müssen. Dieses innere Ein­

leuchten des Wahren infolge der Einsicht in die richtigen Gründe ist eine nicht weiter ableitbare psychische ürtatsache unseres Geistes. Logisch apperzipieren oder logisch wahr denken heißt mithin allseitig begründete, widerspruchsfreie und daher völlig einleuchtende Urteile

fällen.

Unlogisch apperzipieren oder falsch denken heißt das Gegen­

teil, also: unbegründete oder mangelhaft begründete, sich widersprechende und daher nicht einleuchtende Urteile fällen. Sch sagte: im Gebiete des apperzeptiven Vorstellens soll die Logik herrschen.

Aber wenn dies auch der intellektuelle kategorische

Smperativ befiehlt, so wird ihm doch selbst in seinem ureigenen und angestammten Reiche keineswegs immer gehorcht, denn auch hier werden, wie bekannt, oft genug falsche Urteile gefällt, sodaß die Logik selbst auf ihrem eigenen Grund und Boden nicht einmal ihre unum-

Die Logik im täglichen Leben

45

schränkte Gewalt behaupten kann. Das unlogische Denken wird hier sowohl durch objektive als durch subjektive Arsachen veranlaßt. Ob­ jektive Arsachen sind unzureichende Kenntnis der Tatsachen, geschichtlich überlieferte Lehren und daraus entspringende hartnäckig behauptete Vorurteile, Befangenheit in hergebrachten Sitten und Anschauungen auf Grund der zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit. Selbst an sich gute Köpfe werden durch diese objektiven Fesseln an logisch richtigem, unbefangenem Denken oft genug verhindert; wie viel mehr die schwachen Geister, bei denen noch subjektive, psychologische Hemmungen hinzutreten, wie Anaufmerksamkeit, Flüchtigkeit, Angründ­ lichkeit, Äbereilung, oder gar Faulheit und angeborene Dummheit, völlig zu geschweigen von den teuflisch gearteten Seelen, die aus selbstsüchtigem Interesse und bösem Willen das Wahre mit Absicht nicht aufkommen lassen wollen. Auch Nervosität und Neurasthenie bilden größte Hindernisse des logischen Denkens, wie umgekehrt im logischen Denken ein starkes Schutzmittel gegen die Jrrgänge eines überreizten und geschwächten Gehirns zu finden ist.1 1 In dem Werk von Dr. I. Marcinowski „Nervosität und Weltanschauung" (Verlag Otto Salle, Berlin) wird die Nervosität als Gefühlskonflikt und die Wichtigkeit der angewandten Logik für die Genesung des Neurasthenikers zu­ treffend beleuchtet. Es heißt da u. a.: „Die Nervosität ist eine Störung des seelischen Gleichgewichts, die dadurch zustande kommt, daß das Gefühlsleben bei weitem an Intensität überwiegt und die verstandesmäßige Verarbeitung von Eindrücken allzusehr in den Hintergrund tritt. Nicht als ob der Neu­ rastheniker nun allemal ein „unlogischer" Mensch sei; . . . aber die Eindrücke werden beim Nervösen allzu gefühlsmäßig verarbeitet und die entsprechenden Anschauungen darauf gebildet, ehe die Logik überhaupt dazu kommt, ihre Ansicht darüber zu äußern, den Eindruck zu kritisieren und sich an seiner Verarbeitung zu Arteilen zu beteiligen . . . Am der nervösen Anlage zum Trotz gesund und glücklich bleiben zu können, ist es nötig, daß dem Überschwang der Gefühle eine gute Dosis Logik beigemischt bleibt und nicht immer erst hinterher verzapft wird, wenn es bereits zu spät und durch irgendwelch reine gefühlsmäßige Verarbeitung äußerer oder innerer Neizwellen bereits Vorstellungen und Arteile geschaffen werden, die dann schwer richtig zu stellen sind . . . Diese Form der Arteilsbildung ist dem Kinde am meisten eigen, welches noch kein kritisches Vermögen hat — dem reifen Manne dagegen am wenigsten, weil der im all­ gemeinen die geschulteste Logik besitzt — während die weibliche Art zu urteilen den oben gekennzeichneten Fehler am leichtesten bewahrt... es kommt nur darauf an, die zur Verfügung stehende Logik zur Arbeit mit heranzuziehen und richtig zu benutzen." (Was hier von der Arteilsbildung des Kindes gesagt ist, gilt übrigens auch von der des sog. „Wilden", vergl. Fritz Schultze, Psychologie der Naturvölker. Entwicklungspsychologische Charakteristik des Naturmenschen

46

Die Logik im täglichen Leben

Schon diese allgemeine psychologische Darlegung hat gezeigt, wie viel Hindernisse in unserem Seelenleben sich dem logischen Denken entgegenstellen; wie selten also unser tägliches Leben sich der Führung

der Logik anvertraut.

Diese leidige Tatsache wird nun aber um so

erschreckender zum Bewußtsein gelangen, wenn wir jetzt die einzelnen Hauptbestandteile des logischen Denkens: Begriffe, Arteile und Schlüsse

kursorisch an uns vorüberziehen lassen und dabei bemerken, wie leicht­ fertig das gewöhnliche Vorstellen des täglichen Lebens mit diesen

bedeutsamen Funktionen des Denkens umzuspringen pflegt.

Dabei

wird sich ergeben, daß wir uns im intellektuellen Gebiete ähnlich ver­ halten wie im moralischen. Wie wir sehr wohl auf Grund unseres Gewissens fühlen, was wir tun sollten, aber trotzdem das Gegenteil vollbringen, so fühlen wir häufig genug in einer Art von intellektuellem Gewissen, daß wir unlogisch denken, und beharren doch eigensinnig

bei unserem einmal gefaßten, unbegründeten Arteile.

Der logisch vollkommen durchgebildete oder der apperzeptive Begriff ist ein solcher, der hinsichtlich seines Inhaltes, d. h. seinen Merkmalen nach durchaus eindeutig bestimmt ist, also über seine Be­ deutung nicht den leisesten Zweifel zuläßt. Ein derartig eindeutig bestimmter, allen logischen Anforderungen vollkommen genügender Begriff ist z. B. der geometrische Begriff des Kreises: „Kreis ist eine ebene, geschloffene Linie, deren sämtliche Punkte von einem Punkte gleichen Abstand haben." Keines dieser Merkmale darf fehlen, kein anderes braucht hinzugefügt zu werden. Die Bedeutung des Begriffs ist so klar erfaßt, daß das Wesen des Kreises mit diesen Merkmalen unzweifelhaft und unmißverständlich beschrieben ist.

Von solcher eindeutigen Bestimmtheit sind die Begriffe des täglichen Lebens weit entfernt. Sie sind vielmehr schwankend und

fließend, unbestimmt und vieldeutig.

Solche fließende Begriffe nennen

wir daher auch nicht logische, sondern psychische — nicht apperzeptive, sondern assoziative, weil sie lediglich durch Assoziation mechanisch und

zufällig, nicht durch Apperzeption absichtlich und zielbewußt aufgebaut

sind. Kreis nennt der gewöhnliche Mann jeden rundlichen, ebenen Raum. In meiner Vaterstadt gibt es einen Platz, der Kreis genannt, Anter dem Begriff „Vogel" befaßt der Landmann auch Fledermaus und Schmetterling, aber nicht das Äuhn, denn dieses der viereckig ist.

in intellektueller, ästhetischer, ethischer und religiöser Beziehung. Eine natürliche Schöpstingsgeschichte des menschlichen Vorstellens, Wollens und Glaubens. Leipzig, Veit u. Komp. 1300).

Die Logik im täglichen Leben

47

gehört zum Vieh. And nun überlege man sich einmal, wie vieldeutig solche Begriffe des täglichen Lebens sind wie: Gras, Blume, Fisch, Nock, anständiger Mensch, Recht, Tugend; wie jeder etwas anderes darunter versteht, und man wird zugeben, daß diese Begriffe von logischer Schärfe und Präzision himmelweit entfernt sind. Während der geometrische Begriff „Kreis" stets denselben Inhalt besitzt, ob er von einer Person zu verschiedenen Zeiten oder von verschiedenen

Personen zu gleicher Zeit deutlich vorgestellt wird, hat bei dem Begriff „anständiger Mensch" oder „Recht" oder „Tugend" niemand eine klar bestimmte Vorstellung, was sich sogleich verrät, sobald wir jemanden veranlassen, eine genaue Definition davon aufzustellen. Einige vergebliche Anstrengungen führen dem Gefragten die Schwierig­ keit einer streng begrifflichen Definition sogleich zu Gemüte, und er

sucht an einem Beispiele zu veranschaulichen, was er ungefähr, gefühls­ mäßig mit dem Worte „Recht" oder „Tugend" bezeichnet. Sprachlich stellen sich die logischen Begriffe in den sogenannten

Termini dar, d. h. in eindeutig die Begriffe bezeichnenden, wissenschaft­ lichen Ausdrücken. So weit die psychischen Begriffe entfernt sind von den logischen, so wenig decken sich daher auch die Wörter des täglichen Lebens mit streng wissenschaftlich begrenzten Termini. Viele solche

Alltagswörter sind einer scharfen begrifflichen Fixierung überhaupt

nicht fähig. Was ist z. B. Blume, Stein, höflich, stattlich, unbe­ holfen? Was ist „stehen", „liegen"? was das Allerweltswort „machen" ? Steht oder liegt ein Kaus auf dem darunter befindlichen Boden? Trotzdem sind diese Wörter nützlich und unentbehrlich; sie

deuten an, und das genügt für das praktische Leben, weil die un­ mittelbar vorliegende Anschauung fast stets erklärend und jeden Zweifel beseitigend Hinzutritt. Daher, daß die meisten Menschen nur schwankende, vieldeutige psychische Begriffe und mehrdeutige Wörter gebrauchen, bei denen

jeder sich etwas anderes vorstellt, rühren die ewigen Mißverständnisse und Streitigkeiten. Von selbst gebietet sich daher die Notwendigkeit der schriftlichen Fixierung und des schriftlichen Verkehrs bei allen wichtigen Vorkommnissen, wie im Geschäfts- und Rechtsleben und in der Wissenschaft. Jeder logische Begriff muß sich selbst völlig gleich sein. Er

darf keine inneren Widersprüche enthalten. Das fordert das oberste Denkgesetz der Einerleiheit und des Widerspruchs, d. h. das Gebot der Widerspruchslosigkeit oder des in unserem Denken zu vermeidenden

Die Logik im täglichen Leben

48

Widerspruchs. Friedrich der Große schreibt einmal: „Welch schöne Grundregeln sind die des Widerspruchs und des zureichenden Grundes.

Sie verbreiten Licht und Klarheit in unserer Seele; auf ihnen gründe

ich meine Arteile . . . Das sind die Lände und Füße meiner Ver­ nunft; ohne sie wäre sie lahm, und ich ginge umher wie der große Laufe, auf den Krücken des Aberglaubens und des Irrtums." — Sind nun die psychischen Begriffe des täglichen Lebens schwankend

und unbestimmt, so sind sie nicht weniger häufig auch voll von inneren Widersprüchen, die manchmal versteckter liegen, manchmal offen zu

Tage treten und trotzdem vom gewöhnlichen Bewußtsein übersehen werden. Ohne zu stutzen, lesen viele in einer Todesanzeige über den Satz hin: „er verstarb im vollendeten 60. Lebensjahre." Latte der Verstorbene das 60. Lebensjahr vollendet, so starb er nicht mehr im 60. Lebensjahre, sondern im beginnenden 61. Lauptsächlich in den sogenannten Determinationen oder den einen

Begriff näher bestimmenden Zusatzmerkmalen wird vielfach gegen das Gebiet des zu vermeidenden Widerspruchs gesündigt. Der Titel „Reitender Förster" ist insofern berechtigt, als das Berittensein den

Vorzug einer höheren amtlichen Stellung ausmacht. „Frau reitende Försterin" wirkt bereits komisch, da die Frau Försterin sich höchstens

im bildlichen Sinne einmal aufs hohe Pferd setzt.

Die Bezeichnung

„reitendes Forsthaus" aber erkennt jeder als Gipfel der Anlogik, und doch stand sie früher geschrieben zu lesen an einem Forsthaus in der Nähe des Oybin. In dieselbe Klasse gehört das „baumwollene Waarenhaus" und der „lederne Landschuhmacher", aber auch der­ artige oft gebrauchte übertreibende Ausdrücke wie z. B. „wahnsinnige Litze."

Sich

ebenso

„messingenes

logisch

widersprechend

Bügeleisen",

„Spihkugel",

erscheinen Bildungen wie „Goldplombe",

„Wachs­

zündhölzchen" (woran weder Wachs noch Lolz zu finden ist) oder „Limonade" für Getränke, die gar nicht aus dem Limone (--Zitrone), sondern z. B. aus Limbeersaft bereitet sind, oder (da Quarantäne

ursprünglich einen Zeitraum von 40 Tagen bedeutet) eine „6 tägige Quarantäne" oder die „neun Stadtviertel." Indessen solche miß­ bräuchliche Ausdrücke oder Katachresen, wie sie die alten Grammatiker

nannten, kommen in allen Sprachen vor, reden doch selbst die Philo­ logen von einer „präpositio postposita" d. h. von einem „nachgesetzten Vorworte", wie sie z. B. bei Sophokles nicht selten sind. Diese

Katachresen erklären sich aus der geschichtlichen Entwicklung des durch

Die Logik im täglichen Leben

49

sie bezeichneten Gegenstandes und sind daher gerechtfertigt, obgleich sie an sich einen logischen Widerspruch, eine sogenannte contradictio in adiecto, enthalten. Bei streng logischer Beurteilung müßte man sogar solche Be­ zeichnungen als falsch verwerfen, wie „abgebranntes Laus", „verlorenes Vermögen" oder „toter Mensch", da dies alles ja gar kein Laus oder Vermögen oder Mensch mehr ist. Indes wenn diese Zusätze sprachlich auch den logischen Determinationen gleichen, so sind sie logisch doch insofern davon verschieden, als sie nicht ein Merkmal des Dinges, sondern eine Veränderung, ja sogar eine Negation des Dinges bedeuten und deshalb Modifikationen genannt werden. Trotzdem bleibt natürlich die folgende Inschrift an einem Laufe unter allen Umständen unsinnig: „Erbaut 1724, abgebrannt 1860, wiederaufgebaut 1861", da das 1724 erbaute und später abgebrannte Laus und das 1861 neu erbaute Laus ja gar nicht dasselbe Laus sind. Der logisch richtige Begriff stellt sich dar in einer logisch richtigen Definition. Schon oben wies ich darauf hin, daß es seine großen Schwierigkeiten habe, die richtige Definition eines Begriffes zu geben. Man hilft fich daher im gewöhnlichen Leben mit annähernden Er­ klärungsversuchen, indem man den Begriff durch charakteristische Beispiele, oder durch eine einzelne Anschauung, oder durch Lervorhebung einiger hauptsächlicher Eigenschaften oder durch Aufzählung seiner am meisten hervortretenden Arten und Individuen, oder durch Betonung seiner Äbereinstimmungen und Unterschiede im Vergleich zu anderen Begriffen deutlich zu machen versucht. Richtig zu definieren ist überhaupt eine große Kunst. Eine richtige Definition setzt die umfassendste Kenntnis eines Gegenstandes und aller seiner Beziehungen voraus, z. B. die folgende Definition des Begriffs „Maschine": „Maschine ist eine künstliche Verbindung widerstandsfähiger Körper, durch welche Naturkräfte gezwungen werden können, bestimmte Orts­ veränderungen molarer oder molekularer Art zu bewirken," — oder die technologische Definition vom Ton der Töpfer: „Ton ist für die technische Wissenschaft jedes Material mineralischer Lerkunft, welches durch Aufnahme einer gewissen Wassermenge einen zur Lerstellung hinreichenden Bildsamkeitsgrad erlangt, den es durch Austrocknen vorübergehend, durch Brennen im Feuer dauernd verliert." — Solche Definitionen sind nur auf der Löhe weitspannender wissenschaftlicher Kenntnis möglich; sie sind gewissermaßen die Lösung eines Rätsels. Ich gebe das Rätsel auf: Was ist eine Maschine? Was ist Ton? Schultze, Credo und Spera

4

50

Die Logik im täglichen Leben

Die sehr schwierige Lösung des Rätsels ist die richtige Definition, wie denn umgekehrt jedes Rätsel in seinen einzelnen Angaben eine mit Absicht vieldeutige Definition eines Gegenstandes enthält. Die Kunst der Rätsellösung besteht darin, aus den vieldeutigen definierenden Merkmalen das definierte Ding richtig zu erschließen. Wie schwer das Definieren ist, wird ersichtlich, wenn man ver­ sucht, ein alltägliches Ding wie Tisch zu definieren. Ich bin mit meinen Studenten in logischen Übungen nach langen Versuchen endlich

zu folgender Erklärung gekommen:

„Tisch ist ein Gerät, bestehend aus einer wagerechten oder annähernd wagerechten Platte, welche in einer solchen Äöhe über dem Boden ruhend befestigt ist, daß der Mensch bequem daran hantieren kann." Die Logik zählt eine Menge von Fehlern im Definieren auf. Sie kann fie vollständig aufzählen, weil der gewöhnliche Mensch bei seinen Erklärungen fast niemals richtig verfährt, sondern meistens Verstöße begeht. Die richtige Definition soll z. B. nur die wesent­ lichen, keine unwesentlichen Merkmale enthalten; gleichwohl definiert ein Schüler den Elephanten folgendermaßen: „Ein Elephant ist ein Tier, welches trinkt, indem es Wasser mit dem Rüssel aufsaugt und

dann in den Nachen spritzt." — Eine Definition darf nicht dasselbe durch dasselbe erklären; trotzdem sagt einer: „Lächerlich ist, worüber man lachen kann." In derselben tautologischen Art erklärt Onkel Bräsig: „Die große Armut kommt von der großen Powerteh." — Eine Definition soll bejahende Merkmale angeben, nicht verneinende, da diese nicht sagen, was ein Ding ist, sondern nur, was es nicht ist. Gleichwohl definiert ein Schüler: „Salz ist das, was das Essen schlecht schmecken macht, wenn keins dran ist." Oder ein anderer: „Stecknadeln sind, was Leuten schon oft das Leben gerettet hat, wenn sie keine verschluckt haben." — Ebenso wenig geben bloß bildliche Ausdrücke eine zu­

treffende Definition, und doch werden gerade solche bildlichen Er­ klärungen von phantasievollen Köpfen gern angewendet. 3. B.: „Gott ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Ümfang nirgends ist" — oder: „Äumor besitzen heißt einen Thron errungen haben und diesen zum Spielplatz verwandeln können." — Auch folgende Definitionen sind nur geistreiche Bilder und witzige Gleichnisse, die wohl eine Be­ ziehung des Gegenstandes, aber nicht sein Wesen beleuchten: „Tortur ist (nach Lichtenberg) die geschärfte sokratische Methode." — „Malerei ist stumme Poesie, Poesie redende Malerei." „Architektur ist ge­ frorene Musik." — Was im gewissenlosen Verdrehen die künstliche

Die Logik im täglichen Leben

51

Spitzbubenlogik leistet, zeigt die Definition des hartgesottenen Sünders, des Prozeßbauern Sepp, der sich den Eid so zurecht legt: „Eid ist, was, wenn i' schwör, hab' f g'wonna; wenn der andere schwört, hat er g'wonna." — Am komischsten wirken endlich solche Definitionen,

in denen jeder einzelne darin enthaltene Begriff in einem andern als dem ihm zukommenden Sinne gebraucht ist. Ein Probestück solcher Begriffsentgleisung

liefert die Erklärung, welche der alte General

Wrangel vom Parademarsch gab: „Der Parademarsch besteht nicht nur aus der Sitzsamkeit der Losen, der Weißheit des Lederzeugs und der Aufrichtigkeit der Gewehre, sondern vor allem im Linblick auf mir." Begriffe müssen nicht bloß definiert, sondern auch klassifiziert, d. h. richtig geordnet und eingeteilt werden. Auf dieser dem Wesen der Begriffe genau entsprechenden Ordnung und Einteilung beruht die Klarheit in unserem Geiste. Wissenschaftliche Übersichtlichkeit

entsteht erst durch scharfe systematische Klassifikation.

Wie man in

einer noch so großen Bibliothek jedes Buch sogleich zur Land haben kann, weil alle Bücher genau klassifiziert und systematisch geordnet sind, während es unauffindbar wäre, wenn sie alle in einem wirren

Laufen durcheinander lägen — so verhält es sich auch mit den Ge­ danken in unserem Geiste. Zn einem wohldisziplinierten Kopfe herrscht systematische Ordnung und Einteilung und daher Übersichtlich­

keit und Klarheit. Zeder Gedanke kann daher sogleich gefunden und theoretisch und praktisch verwertet werden. Eben darauf beruht das vom Laien angestaunte Gedächtnis des Fachgelehrten und die Leichtig­ keit seines Gedankenganges und seiner Rede auf seinem Arbeitsgebiete. Diese Ordnung fehlt dem logisch nicht erzogenen Geiste; kraus und

ohne Zusammenhang wirbeln die Vorstellungen durcheinander, und dem wirren Vorstellen entspricht naturgemäß auch die Inkonsequenz im Tun und Lassen.

Die Kunst der logischen Gedankenordnung und

-einteilung ist den meisten Menschen fremd.

Da teilt der eine die

Taten der alten Leiden ein in nützliche und berühmte, als ob es nicht auch schändliche und berüchtigte gäbe und nützliche nicht auch berühmt und berühmte nicht auch nützlich sein könnten. Der andere teilt die Menschen ein in lasterhafte und tugendhafte oder in Fleischeffer und Pflanzenesser, als ob nicht die meisten Menschen zu beiden Klassen gehörten; der dritte die Weißen in Christen, Protestanten und Juden; der vierte in Notabilitäten, Reserveoffiziere, Professoren und sonstige; alle mit demselben Rechte, mit dem der berühmte Kapuziner Abraham 4*

52

Die Logik im täglichen Leben

a Santa Clara die Peter einteilte in den heiligen Peter, den Trompeter und den Salpeter. Faßt man das bisher über die Begriffe Gesagte zusammen, daß nämlich die Mehrzahl der Menschen statt eindeutig bestimmter logischer

Begriffe vieldeutig zerfließende psychische, statt scharf abgegrenzter Termini mißverständlich verschwommene Ausdrücke gebraucht; daß ferner die Begriffe weder richtig definiert, noch in geordneter Weise klassifiziert werden, so begreift man, daß es dem ungeschulten Geiste

notwendig schwer fällt, einen inhaltreichen Gedanken und den ihn aussagenden Satz klar und widerspruchslos zu formen. Sowohl die

mündlichen, als erst recht die schriftlichen Darstellungen des gemeinen Mannes fallen daher meistens sehr konfus aus. handelt es sich um einen kurzen Brief, eine kleine Rede oder einen einfachen Aufsatz, so

fehlt vielfach jede folgerichtige Anordnung oder Disposition. Das Widersprechende ist verknüpft, das Zusammmengehörige getrennt. Was zuerst kommen sollte, steht zuletzt; was in die Mitte treten sollte, bildet den Anfang, und die Flucht der Vorstellungen irrt ab vom hundertsten ins Tausendste, ganz abgesehen von dem schon früher Behandelten, daß Begriffe und Wörter selbst mißverstanden und

mißverständlich gebraucht werden. So wimmeln naturgemäß zumal die schriftlichen Kundgebungen des gemeinen Mannes von den komischsten Wendungen. Nur aus dem Zusammenhang des Ganzen versteht man, was er will, denn vielfach spricht und schreibt er genau das Gegenteil von dem, was er meint. Ein Arteil besteht in der Verknüpfung von Begriffen; ebenso

die aus Arteilen gezogenen Folgerungen und

Schlüsse.

Wo die

Begriffe logisch mangelhaft sind, können die darauf gebauten Arteile, Folgerungen und Schlüsse den logischen Anforderungen unmöglich

genügen. Daher gibt es im täglichen Leben nur sehr wenig Arteile, die logisch nicht anfechtbar wären. Wie verfährt der logisch geschulte Geist im Arteilen, Folgern und Schließen? Der logisch wohldisziplinierte Denker beschränkt sich mit seinen Arteilen auf das, was er wirklich versteht, auf sein von ihm beherrschtes Gebiet, und in bezug auf alles andere bekennt er frei­

mütig : „Ich weiß nicht genügend Bescheid, ich kann also nicht darüber

urteilen" — oder er gibt, wenn er doch eine Aussage wagt, seinem Arteile die vorsichtige Form einer bloß wahrscheinlichen Meinung, für die er nicht einstehen wolle, die man von einem Sachverständigen nochmals prüfen lassen möge.

Er zweifelt also grundsätzlich an der

Die Logik im täglichen Leben

53

Richtigkeit seiner Arteile im Sinne der alten griechischen Skeptiker, welche die

oder die Zurückhaltung des Arteils in allen Fällen,

wo man nicht unumstößlich gewiß sei, empfahlen. Man kann überzeugt sein: je häufiger ein Mensch mit Ernst das Wort „wahrscheinlich" in seinen Aussagen anwendet, um so zuverlässiger ist sein Arteil, wenn er es einmal als gewiß hinstellt; und umgekehrt: je unfehl­ barer er seine Meinungen als gewiß behauptet, um so sicherer ist

er dem Irrtum unterworfen. Dieses letztere ist aber das Verhalten und der Zustand des logisch ungeschulten Menschen: er urteilt

über alles und noch viel mehr mit hartnäckiger Verstocktheit, er läßt sich kaum je vom Gegenteil überzeugen; sich selbst zu bezweifeln, liegt ihm fern; seine Anwifsenheit bekennen und sein Arteil zurückhalten zu sollen,

erscheint ihm als eine Herabwürdigung seines eingebildeten

Wertes. Aus dieser Dummdreistigkeit im Behaupten entsteht jenes ebenso kecke als ekelhafte Gequatsch, das man oftmals von Angebildeten

anhören muß, ja, nicht selten auch von Gebildeten, wenn sie sich auf ein ihnen fremdes Gebiet begeben, jenes stumpfsinnige Salbadern über Menschenleben, Wissenschaft und Kunst, ein Gebräu aus überlieferter Allerweltsweisheit, angelernten und abergläubisch festgehaltenen Vor­ urteilen und hie und da aufgeschnappten, unverdauten Brocken, ver­ panscht mit eigenem Ansinnsbrei und Einbildungswust, und doch alles vorgetragen mit dem Brustton unerschütterlicher Äberzeugung und der Anmaßung vollwissender Autorität.

Dem an reinliche Geisteskost

Gewöhnten wird übel dabei, und er flieht lieber in seine eigene Ge­ dankenwelt oder zu einem bewährten Buche, als daß er sich Zeit und Stimmung durch solch geisttötendes Geschwätz verderben ließe. Diese bei vielen chronische Geisteskrankheit des Blech- und An­ sinnkohlens kann in akuter Form sogar logisch geschulte und ihrem Fache urteilsfähige Männer überfallen, nämlich dann, wenn in ihnen, z. B. in erregten Versammlungen, nicht Zeit zu reiflicher Äberlegung

bleibt und die Litze des Affektes sie Vorstellungen und Worte in chaotischer Anordnung unkritisch hervorsprudeln läßt. Auf solche katarrhalische Seelenversassung bezieht sich das abfällige Wort Solons über die Athener: „Die Einzelnen haben Verstand; versammelt haben

sie keinen" — und das ihm nachgebildete ätzende Epigramm Schillers: „Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig ; Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus." Der logisch geschulte Denker sucht seine Arteile einwandfrei zu

beweisen.

Entweder leitet er ein neues Arteil aus einem bereits als

54

Die Logik im täglichen Leben

sicher bewiesenen älteren ab (das deduktive Beweisverfahren), oder er erhärtet den allgemeinen Satz, den er aufstellt, nach allen Regeln der Induktion, d. h. auf Grund allseitig geprüfter Erfahrungstatsachen. Der gemeine Mann deduziert auch, aber er prüft nicht die Vorder­

sätze, aus denen er ab leitet; diese stehen ihm auf Grund seines un­ kritischen Anfehlbarkeitsdünkels subjektiv ungeprüft fest. Natürlich: so falsch seine Voraussetzungen, so falsch sind auch seine Folgerungen und Schlüffe. Aber dieses deduktive Verfahren ist im gewöhnlichen Leben nicht so verbreitet wie das induktive, d. h. wie die Berufung auf die Erfahrung und die Ableitung allgemeiner Arteile aus ver­ meintlichen Erfahrungstatsachen. Wie oft hört man jemanden zur Bekräftigung seiner Behauptungen versichern: „Das weiß ich aus Erfahrung" — und zur Widerlegung des anderen hinzufügen: „Sie besitzen keine Erfahrung!" — Ja, wenn es nur echte, wirklich bewiesene Erfahrungen wären, auf die man sich beruft! Wie vorsichtig und vielseitig prüft der exakte Naturforscher die Tatsachen, ehe er sich erkühnt, auch nur einen einzigen Satz als sicher hinzustellen! And wie rasch ist der Alltagsmensch mit seinem Erfahrungsurteil fertig! er

hat es erlebt, folglich ist es so — wobei er vielfach von der falschen Maxime „Post hoc, ergo propter hoc“ mißleitet wird. Welcher Wert aber diesem Erleben, diesem Selbstgehört- und Selbstgesehen­

haben zukommt, erläutert jede Vernehmung von Zeugen, wo von hundert Personen jede dasselbe Ereignis erlebt hat und doch jede den Vorgang anders schildert — ist doch diese auffallende Verschieden­

heit der individuellen Auffassung neuerdings sogar experimentell ge­ prüft und diese Antersuchung der „Aussage" im kriminalistischen Interesse verwertet worden. Der Naturforscher bedarf der Beobachtung und der experimentellen Behandlung zahlreicher Einzelfälle, ehe er die in einer Gruppe von Erscheinungen herrschende, ursächliche Beziehung feststellen und zu

einem wissenschaftlichen Arteil, dem sogenannten Gesetz, verdichten kann. Wie langwierig und mühsam ist sein Weg von der Erfahrung einer Tatsache zu seinem wissenschaftlichen Kausalurteile über dieselbe!

And wie voreilig erschließt der gewöhnliche Mensch aus einem einzigen Falle sogleich ein allgemeines Arteil! Ein Fall beweist noch gar

nicht einen allgemeinen Satz. Sogar die noch so große, bloße Zahl der Fälle beweist an sich nichts. Am induktiv zu beweisen, muß man entweder alle Fälle der in Frage stehenden Erscheinung kennen, oder, da diese sogenannte vollständige Induktion meistens unmöglich ist, so

Die Logik im täglichen Leben

55

kommt es bei der sogenannten unvollständigen Induktion vor allem darauf an, daß eine ursächlich notwendige Beziehung zwischen einer Erscheinung A und einer andern B zweifellos nachgewiesen wird. Ist

dieser ursächliche Zusammenhang auch nur in einem Falle mit vollster Gewißheit erkannt, so schließt man mit Recht, daß er auch in allen anderen gleichartigen Fällen Vorkommen werde. An solche vorsichtige

Induktion, die außerdem noch die Feuerprobe des Experimentes zu bestehen hat, denkt man im gewöhnlichen Leben nicht. Vielmehr schließt man hier schon von einem einzelnen Falle oder einigen Fällen

sogleich auf das Ganze.

Man macht es allgemein wie jener Eng­

länder, der, als er bei seiner ersten Ankunft in Deutschland in einem Hamburger Hotel zwei rothaarige Kellner fand, in sein Tagebuch schrieb: „In Deutschland haben die Kellner rote Haare." And nicht bloß, daß man von einigen auf alle, vom Teil auf

das Ganze schließt (ein Schluß, der höchstens auf eine Möglichkeit, nie auf eine Wirklichkeit oder gar Notwendigkeit geht) — man schließt allgemein auch nach bloßer Ähnlichkeit in sogenannten Analogieschlüssen

von einem Einzelnen auf ein anderes Einzelnes. Weil man einen freundlichen Dresdener kennen gelernt hat, setzt man ohne weiteres voraus, alle Dresdener müßten freundliche Leute sein, während es ohne Zweifel auch Grobiane in Dresden gibt. And weil man einen oder einige schnottrige Berliner getroffen hat, bildet man sich das Vorurteil, alle Berliner müßten schnottrige Maulhelden sein. Be­ sonders Frauen begehen diesen logischen Fehler, vom Einzelnen auf Einzelne mit Gewißheit zu schließen, sehr häufig, weil sie mehr gefühls­ mäßig nach allgemeinen Ähnlichkeiten, als verstandesmäßig nach logischen Regeln urteilen. Eine Frau hat als junges Mädchen eine liebenswürdige Französin zur Lehrerin gehabt; deshalb überträgt sie

ihre Sympathie auf alle Franzosen. An einem Manne gefällt ihr sein Schnurrbart nicht; deshalb verwirft sie den ganzen Mann. Auf diese Weise entstehen aus oberflächlicher Induktion und aus bloßen Analogieschlüssen im gewöhnlichen Leben eine Menge von allgemeinen und allgemein anerkannten Arteilen oder Gemeinplätzen, die, ohne Prüfung hingenommen, wie geflügelte Worte von Mund zu Mund gehen und doch falsch sind: Sprichwötter wie: „Einmal ist keinmal"; Wetterregeln, wie die, daß bei Vollmond schönes Wetter sein müsse; Aberglauben, wie der, daß gewisse Tage oder Zahlen unheilvoll seien, kurz, Vorutteile aller Art, von denen das Geistes­ leben der meisten Menschen wimmelt. Schon Bacon hat dieses falsche

Die Logik im täglichen Leben

56

Verfahren, allgemeine Arteile zu gewinnen und daraus falsche Folgerungen

und Schlüsse zu ziehen, ohne im geringsten die gegenteiligen Tat­ sachen zu beachten, durch eine launige Erzählung verspottet. An einer Küste Italiens stand ein Tempel des Meergottes Neptun. Ein Priester wies einen Fremden, der das Heiligtum besuchte, auf die Fülle der Weihgeschenke der Seefahrer hin, die in Sturmesnot dem Gotte ein Gelübde getan und von ihm gerettet waren. Nachdrucks­ voll fügte der Priester hinzu: „Erkennst du nun die Macht unseres

Gottes?" — Aber der Fremdling erwiderte: „Wo sind denn die Namen derer verzeichnet, die trotz ihres Gelübdes im Sturme unter­ gingen?" — Alles, was seiner vorgefaßten Meinung ungünstig ist,

übergeht der logisch nicht geschulte Mensch; er will nur Beweise für

seine Meinung, aber nicht die Gegenbeweise hören; er vergißt, daß erst dann ein Erfahrungsbeweis stichhaltig ist, wenn nicht bloß die bejahenden, sondern auch die verneinenden Fälle in Rechnung gezogen sind. Aber diese Probe zu machen, scheuen sich die meisten instinktiv, weil sie damit Gefahr laufen, die behagliche Ruhe ihres Gewohnheits­ glaubens mit der quälenden Anruhe des Zweifels zu vertauschen. Der Sang zur Bequemlichkeit, die vis inertiae der Seele, läßt auch auf geistigem Gebiete die meisten Menschen stets bei ihren alten, wenn auch noch so unlogischen Denkzuständen beharren. Alles Beweisen geschieht durch Arteilen, Folgern und Schließen.

Sind diese einzelnen Beweisglieder morsch, so ist auch der ganze Beweis hinfällig. Wirklich streng logische Beweise werden daher

im gewöhnlichen Leben fast nie, weder der Form noch dem Inhalt nach geführt; und versucht der gemeine Mann einmal, auf logische Art einen Beweis zu liefern, so bringt er nur ein windschiefes Zerr­

bild zustande. So der erste Totengräber in Shakespeares Samlet. Die Frage ist, ob Ophelia sich vorsätzlich das Leben genommen habe. Der erste Totengräber bejaht diesen Satz und beweist ihn seinem Gehilfen folgendermaßen: (Obersatz:) „Wenn ich mich wissentlich ertränke, so beweist das

eine Wandlung."

(Antersatz:) „And eine Handlung hat drei Stücke, sie besteht in Sandeln, Tun und Verrichten." (Schlußsatz:) „Ergo hat sie sich wissentlich ertränkt." In Wahrheit fehlt hier gänzlich der Antersatz des beweisenden

Schlusses nebst dem verbindenden Mittelbegriff, wenn er auch scheinbar gegeben wird. Denn der biedere Meister Totengräber sagt nur:

Die Logik im täglichen Leben

57

„Wenn ich mich wissentlich ertränke, so handle ich," und fügt ohne jedes logische Bindeglied mit einem sogenannten Sprung im Beweisen

(saltus in concludendo) hinzu: „Folglich hat Ophelia sich wissentlich ertränkt." — Als deshalb der Gehilfe bedenklich einwendet: „Ei hört doch, Gevatter Schaufler", beweist der Meister von neuem ebenso unsinnig wie vorher. Er sagt mit breitem Redeschwall: (Obersatz:) „Lier steht das Wasser: gut! Lier steht der Mensch: gut! Wenn der Mensch zu diesem Wasser geht und sich selbst ertränkt, so bleibt's dabei, er mag wollen oder nicht, daß er hingeht. Merkt euch das! Aber wenn das Wasser zu ihm kommt und ihn ertränkt, so ertränkt er sich nicht selber." Man erwartet nun nach dieser Einleitung, die den Obersatz bildet,

als Antersatz die Aussage: „Ophelia ist zum Wasser gegangen" und als Schlußsatz die Behauptung, die der Totengräber ja eigentlich beweisen will: „Ergo hat sie sich wissentlich ertränkt" — aber Ge­ danken und Worte gehen mit dem biederen Schaufler durch; und er endet genau mit dem Gegenteil dessen, was er eigentlich beweisen

wollte: „Ergo, wer an seinem eigenen Tode nicht schuld ist," (beginnt er und nun müßte er logisch richtig fortfahren: „hat sich nicht vorsätzlich das Leben genommen," aber er schließt:) „Ergo, wer an seinem eigenen Tode nicht schuld ist, verkürzt sein eigenes Leben

nicht" — das soll heißen: „der hat sich nicht vorsätzlich das Leben genommen", heißt aber in Wirklichkeit wiederum gerade das Gegenteil davon, nämlich „der lebt noch", denn wer sein Leben nicht verkürzt,

besitzt ja das Leben noch und unterliegt folglich gar nicht der Frage, ob er sich wissentlich das Leben genommen habe oder nicht. Derartige Rattenkönige von rein assoziativ, unsinnig verflochtenen

Vorstellungsreihen allen Ernstes als Beweise vorgebracht, kann man aus Volksmunde nicht selten erleben, denn sobald der gemeine Mann das Gebiet der sichtbaren Tatsachen verläßt und sich ins luftige Reich der Begriffe erhebt, verliert er den festen Boden unter den Füßen,

und es packt ihn ein geistiger Schwindel, in dem er alles verdreht und durcheinander wirft. And wie er selbst alle Fehler im Beweisen, welche die Logik registriert hat, ahnungslos begeht, so läßt er sich auch durch Schein­ beweise sehr leicht hinters Licht führen, da ihm der Scharfblick fehlt,

sich die Mängel im Beweise klar zu machen. Daher bemerkt er auch das Sophistische in vielen Scheinbeweisen nicht und ist nicht imstande.

58

Die Logik im täglichen Leben

sich gegen einen Beweis zu wehren und ihn zu entkräften, selbst wenn er deutlich sieht, daß die Tatsachen dem Beweise widersprechen. Er steht solchen sophistischen Scheinbeweisen ebenso ratlos, wie einem Taschenspielerkunststück gegenüber. Als Probe diene folgender Beweis,

daß eine Katze drei Schwänze hat. Obersatz: Keine Katze hat zwei Schwänze. Antersatz: Eine Katze hat um einen Schwanz mehr als keine Katze. Schlußsatz: Folglich hat eine Katze drei Schwänze. Am ein anderes Beispiel zu nehmen, so merken die wenigsten, daß der Satz: „Keine Regel ohne Ausnahme" sich selbst widerspricht. Denn wenn er gilt, muß er selbst auch eine Ausnahme zulasten, mithin

gibt es doch mindestens eine Regel ohne Ausnahme, und der Sah hebt sich also selbst auf. Richt alle durchschauen sogleich das Sophisma in dem folgenden Beweise, daß mit zunehmendem Alter die Lebensjahre immer kürzer zu werden scheinen. Beweis: Das 30. Lebensjahr ist 1/-M, das

40. ‘/.io des Lebens usw., 1/M ist aber kleiner als y80; folglich sind

die späteren Lebensjahre kürzer als die früheren und müssen demnach auch kürzer als jene erscheinen. Wer die große Menge zu irgend einem Ziele führen will, hat

deshalb auch gar nicht nötig, mit streng logischen Beweisen vor sie hinzutreten; er kommt im allgemeinen viel weiter mit Scheinbeweisen, wenn sie nur Gefühle, Affekte, Begierden und Leidenschaften, kurz, die innersten, zumal selbstsüchtigen Triebe der Menschen in Bewegung Dieses Rezept ist allen denen wohlbekannt, die unmittelbar praktisch auf die Menschheit einwirken wollen, sei es zu arglistigen, sei es zu heilsamen Zwecken. Der verschlagene Volks­ redner, der kluge Politiker, der findige Verteidiger, der erfahrene Er­ zu setzen geeignet sind.

zieher oder Seelsorger, sie alle wenden in den meisten Fällen das

sogenannte Argumentum ad hominem an, d. h. die rein menschliche oder psychologische Beweisart, indem sie, vielfach direkt antilogisch, nur subjektiv-psychologisch wirkende Überredungskünste gebrauchen, die vorzugsweise in einem Appell an die menschlichen Interessen und Gefühle bestehen. In Shakespeares Julius Cäsar hat Brutus in

streng logischer Form die Ermordung Cäsars gerechtfertigt und das Volk damit versöhnt. Da führt Antonius in seiner Leichenrede seine schlau berechneten Argumenta ad hominem, d. h. die Psychologie gegen die Logik ins Feld, und seine listige Sophistik verwandelt in kürzester Frist die vorher gewonnene ruhige Überzeugung des Volkes

59

Die Logik im täglichen Leben

in völlig umschlagende Wut und Empörung gegen Cäsars Mörder. Auch die berühmte Allegorie des Menenius Agrippa vom Magen in seiner Rede an die römischen Plebejer besteht in einem solchen

psychologisch wirksamen Argumentum ad hominem, und ebenso ent­ halten die Reden der Fabrikanten auf dem Kongreß in Äolgers Schlosse im zweiten Teil von Björnsons „Über die Kraft" fast nur solche

subjektive und ganz egoistische Interessenbeweise.

Wir wissen

alle,

daß im persönlichen Verkehr ein gefühlvolles oder ein den Eigennutz erweckendes Überreden mehr vermag, als ein noch so gründliches, aber trocken logisches Überzeugen, und wir wenden daher bewußt oder un­ bewußt dieses Mittel der rein menschlichen, psychologischen Beweisart

häufig genug an. Alle meine Darlegungen haben das Ergebnis geliefert, daß die ungeheure Mehrzahl der Menschen unendlich viel mehr durch Interessen und Gefühle als durch logische Vernunft bestimmt und gelenkt wird. Treffend sagt Goethe: „Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft populär werde. Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden,

aber nicht Vernunft. Sie wird immer nur im Besitz einzelner Vor­ züglicher sein." So spielt denn die logische Vernunft und die ver­ nünftige Logik im gewöhnlichen Leben nur eine sehr untergeordnete Rolle: sie herrscht weder im Gebiete der naturstarken Gefühle und des sich selbst überlassenen Willens, noch im bloß assoziativen Vor­

stellen, sondern nur im apperzeptiven Denken und auch hier nur im wirklich ernsten, zielbewußten Denkprozeffe. Wenn es so ist, ist es deshalb gut so? Soll es so sein? Soll es so bleiben ? Das ist eine ganz andere Frage, die entschieden mit Rein! beantwortet werden muß. Im Gegenteil sollten wenigstens alle gebildeten Menschen in ihrem Denken und Tun mit bewußter Absichtlichkeit der Logik einen

viel größeren Einsiuß zugestehen, als es tatsächlich der Fall ist. Daß der wissenschaftliche Theoretiker sich in seinen Forschungen überall den Gesetzen der Logik zu unterwerfen hat, steht unbestritten fest.

Ein unlogischer Mathematiker wäre undenkbar.

Aber auch der

wissenschaftliche Praktiker kommt ohne logische Schulung und ohne stete genaue Anwendung der Logik nicht vom Fleck. Was wäre ein Jurist, der nicht mit logischer Schärfe den ihm vorliegenden Fall

unter das ihn betreffende Gesetz richtig subsumierte und sein Arteil daraus richtig deduzierte?

Oder ein Mediziner, der aus den be­

obachteten Symptomen die Arsache derselben, d. h. den eigentlichen Krankheitserreger nicht richtig induzierte?

Ebenso

logisch deduktiv

60

Die Logik im täglichen Leben

und induktiv hat der Fabrikant, der Großkaufmann, der Bankier, der Politiker zu verfahren, wenn sie Erfolg ernten wollen. Wie ich schon früher gesagt habe, muß alles praktische Landein, wenn es glatt und anstandlos verlaufen soll, planmäßig, d. h. aber nichts anderes als mit klarer logischer Überlegung und Beurteilung aller möglichen

Ümstände begonnen und durchgeführt werden. Selbst im Gebiete der Kunst ist die Bedeutung der Logik eine weit größere, als man sich gewöhnlich vorstellt. Wenn auch die Idee zu jedem echten Kunstwerk aus der unergründlichen Tiefe des genialen Gefühls geboren wird, so bedarf doch ihre Ausführung und Gestaltung der zielbewußten Überlegungen, der klaren Unterscheidungen, des kritischen Ürteilens, kurz, des logisch apperzeptiven Denkens. Aus logisch ungezügelten Gefühlen entspringen nur traumverworrene Schwärmereien, keine in all ihren Teilen ebenmäßig durchsichtigen und in ihrem Aufbau folgerichtigen Kunstwerke, ebenso wie aus logisch nicht beherrschten Vorstellungsassoziationen wohl nebelhaft zerfließende Phantastereien, aber keine fest und einheitlich in sich geschlossene Kunst­ formen hervorgehen können. So unentbehrlich als Grundlage aller Kunst starke Gefühle und reichliche, in anschaulicher Erinnerung auf­ gespeicherte Vorstellungsassoziationen ohne Zweifel sind, so neigen diese doch an sich leicht dem unschönen Übermaß zu und empfangen

ihre harmonische Begrenzung und ihre festen ümrisse, ohne die kein echtes Kunstwerk möglich ist, erst durch die abwägende und zügelnde logische Vernunft. Mit Recht hat in diesem Sinne Lebbel gesagt: „Das Schöne entsteht, sobald die Phantasie Verstand bekommt." Was wir Genie nennen, ist die seltene Einheit tiefsten Gefühles, reichsten Vorstellens und klarsten logischen Denkens, ein wunderbarer Drei­ klang, der uns aus Goethes Wesen und Werken einzigartig entgegen­ tönt, denn Goethes logische Verstandsschärfe hielt seiner mystischen Gefühlstiefe völlig die Wage. Echter ästhetischer Geschmack ist die genaue, organische Verbindung von feinstem, unbewußt wirkendem Gefühle und schärfstem, bewußt kritisierendem logischem ürteil. Über­ wiegt einer der beiden Bestandteile, so entartet der Geschmack entweder in unklar dämmrige Gefühlsduselei oder in gefühlsleere, kaltsinnige Nüchternheit. Große Dichterwerke sind stets Muster nicht bloß sinnlicher An­ schaulichkeit, sondern auch logischer Durchsichtigkeit und Folgerichtig­ keit; ja, oft tritt die Logik so deutlich in ihnen hervor, daß der poetische Gedanke sich sogar in das streng formale Gewand der Logik

Die Logik im täglichen Leben

61

kleidet. Ein solch strenger Syllogismus findet sich z. B. in Shake­ speares Richard III (Akt 1, Szene 2). Die Königin-Witwe Anna

spricht den Obersatz des Schlusses aus: „Das wildeste Tier kennt doch des Mitleids Regung", und Richard Gloster fügt sogleich den Anter- und den Schlußsatz

hinzu: „Ich kenne keins und bin daher kein Tier" — ein streng logischer Schluß in der zweiten Schlußfigur nach dem Schlußmodus Baroco. And die Wirkung dieses logischen Syllogis­ mus ist um so bedeutsamer, als jeder Äörer auf Grund unserer an­ geborenen logischen Vernunft unwillkürlich sogleich weiter schließt: „Sondern schlimmer als ein wildes Tier, nämlich ein Teufel" —

in welchem Sinne auch Anna sofort erwidert: „O Wunder, wenn ein Teufel Wahrheit spricht!" Rur das Kunstwerk, dem ein festes logisches Knochengerüst zugrunde liegt, d. h. das nirgends gegen die Folgerichtigkeit der tat­ sächlichen wie gedanklichen Entwicklung verstößt, kann Anspruch darauf machen (ein wertvoller Inhalt vorausgesetzt), jede Moderichtung zu überdauern und für alle Zeiten verständlich zu sein. Alle Werke,

die nur ein verworrenes Gefühlsleben in phantastischen Vorstellungs­ assoziationen widerspiegeln, können diesen Anspruch nicht erheben und werden deshalb auch schnell vergessen, da solche Gefühlskatarakte und Vorstellungslabyrinthe nur von individueller und momentaner Be­ deutung sind, mithin auch nur individuell und momentan von wenigen ähnlich verworren Fühlenden und Vorstellenden genossen, also von

späteren anders Fühlenden und anders Vorstellenden gar nicht mehr verstanden, viel weniger gewürdigt werden können. Rur der logisch unanfechtbare Gedanke und das wahrhaft allgemein menschliche Gefühl bleiben zu allen Zeiten dieselben und werden daher auch noch in spätester Zukunft verstanden und ästhetisch gewertet. Diese feste logische

Grundform

und

der

allgemein

menschliche

Gefühlsinhalt

unterscheidet das klassische Werk von dem amöbenhaftschleimtier­ artig zerrinnenden romantischen. Daher die Romantiker aller Zeiten wie Kometen wohl die Zeitgenossen blenden, nach kurzem aber ver­

schwinden; während die Klassiker den stetig leuchtenden Sonnen gleichen,

die den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschlechtern aus gleichmäßiger, unversiegbarer Kraftfülle Licht und Wärme spenden. And das gilt nicht bloß von der Poesie, sondern von aller Kunst,

von Musik, Malerei, Plastik und Architektur.

Alles in Form und

62

Die Logik im täglichen Leben

Stoff unlogisch Zerfließende zerfließt rasch wieder nach kurzem Schein­ leben, während der sachlich und gedanklich, d. h. logisch fest krystallisierte, geistige Inhalt Gestalt und Wirkung für ewige Zeiten bewahrt. Wie unser ästhetisches Schaffen und Genießen, so hängt endlich auch Wert und Inhalt unseres sittlichen Lebens im hohen Grade von unserem lebendig in uns wirkenden logischen Denken ab.

Was

einer festen sittlichen Gestaltung unseres handelns, d. h. der Bildung eines starken und wertvollen Charakters am hinderlichsten im Wege

steht, das sind unsere unklaren und ungezügelten Gefühle, Begierden und Leidenschaften, die, als tausend wechselnde Triebfedern jeden Augenblick in uns auftauchend, unserem Wollen und Sandeln eine

fortwährend veränderte Richtung geben.

Wenn es nun auch irrtümlich

wäre, zu meinen, daß unser Charakter in seinem Grundwesen allein von unserem Denken abhinge; wenn es vielmehr sicher ist, daß der Grundkern unseres Charakters durch zahllose außer unserer Macht stehende Einflüsse bestimmt und insofern uns gegeben und angeboren ist, so ist es doch andererseits nicht weniger wahr, daß die erzieherische Entwicklung unseres angeborenen Charakters (nicht bloß in Form der Kindererziehung, sondern erst recht in der der Selbsterziehung des Erwachsenen) sich in weitem Umfange unter der Einwirkung unseres

Vorstellens und Denkens vollzieht. Je weiter seinem Umfange nach unser Vorstellungsleben sich ausdehnt, je wertvoller sich unsere Gedankenwelt ihrem Inhalte nach gestaltet, um so zahlreichere und wertvollere Ziele kann unser Wollen und Sandeln sich stecken. Je logisch folgerichtiger aber unser Sinnen und Planen sich vollzieht, um so planmäßiger vollzieht sich auch unser inneres Wollen und unser äußeres Sandeln. Der wertvolle Gedankeninhalt setzt uns wertvolle Ziele; die logisch zweckmäßig geordnete Gedankenform ge­

staltet auch unsere Methode, diese Ziele zu erreichen, zu einer logisch geordneten und zweckmäßigen. In dem Maße aber, als Wert und Ordnung unserer Gedankenwelt in uns zunehmen, werden wertlose, ja schädliche Gefühle und Triebe zurückgedrängt. Wir lernen unsere Affekte beherrschen, zweckwidrige Begierden unterdrücken und gefähr­ liche Leidenschaften im Keime ersticken. So unterliegt es keinem

Zweifel, daß die logisch-intellektuelle Entwicklung unseres Denkens auch auf die sittliche Entwicklung unseres Willens den günstigsten Einfluß ausübt, und daß, wie im Verlauf der Geschichte bei dem ganzen Menschengeschlecht, so auch in der Entwicklung des Einzelnen

sich der ethische Charakter im allgemeinen um so wertvoller gestaltet.

Die Logik im täglichen Leben

63

als er unter den zügelnden und leitenden Einfluß der intellektuellen Vernunft gelangt. Schon Spinoza lehrt, daß klares logisches Denken das heilsamste Schutzmittel gegen trübende Affekte und unentbehrliche Vorbedingung für ein lauteres sittliches handeln sei. Die Vor­ herrschaft unbewußter, wilder Triebe bei nächtigem Dunkel des In­ tellekts ist die Signatur des zügellosen und daher unfreien Natur­ menschen, während die milde und starke Herrschaft der in der Seele aufgegangenen, logisch-intellektuellen Sonne den mühsam errungenen Vorzug und das eifrig zu wahrende Vorrecht des sich selbst zügelnden

und insofern freien Kulturmenschen bedeutet. Denn frei sein heißt der Vernunft gehorchen, hat Leibniz mit Recht als seinen Grundsatz

ausgesprochen. Wenn starke Gefühle den frischen Wind bilden, mit dem unser leidenschaftlich strebender Wille die Segel unseres Lebensschiffes bläht und es im raschen Laufe vorwärts treibt — so ist das dem Schiffer unschätzbare, wenn auch von den Fahrgästen wenig beachtete Steuer­ ruder, durch das unser vorsichtig ausschauender Geist das oft bedrohte Fahrzeug durch Sturm und Klippen lenkt, unter allen Amständen

unsere logische Vernunft.

Die Bildung des Charakters und Gemütes lle Erziehung findet ihr höchstes Ziel in der Bildung des Charakters, d. h. eines Willens, der unter allen Umständen derselbe bleibt. Der Charakter muß aber ein sittlicher, d. h. ein von sittlichen Grundsätzen bestimmter Wille sein. Es genügt jedoch nicht, daß der Charakter nur ganz unbewußt und rein mechanisch die sitt­ lichen Gesetze verwirkliche; der wahrhafte Charakter muß vielmehr das vollste Bewußtsein seiner selbst, seines Inhalts und seiner Willens­ richtung, die auf eigenster Einsicht in ihr Wesen und ihren Wert be­ ruhende, unerschütterliche Überzeugung von der Richtigkeit der sittlichen Grundsätze und das aus eigenstem Triebe hervorgehende (autonome) Streben, sie zu verwirklichen, besitzen; sonst würde es leicht sein, ihn durch Überredung, Verlockung oder Zwang von ihnen abzulenken. Er

muß daher die sittlichen Grundsätze genau klar und deutlich kennen. Aber das bloße Wissen genügt noch nicht; mancher kennt das Gute und tut doch das Böse. Die Hauptsache ist, daß er die Sittengesetze wirklich betätige und nach ihnen handle. Handeln lernen nach sitt­ lichen Grundsätzen, aus eigner Einsicht und freiem Willen muß also der Zögling, um ein sittlicher Charakter zu werden. Was tragen nun die pädagogische Regierung der Kinder und der Anterricht zur Erreichung dieses Zieles bei? Mittelbar arbeitet auch die pädägogische Regierung insofern an der Charakterbildung, als sie ein geordnetes Leben, die Vorbedingung zu einem charaktervollen Wandel, herzustellen sucht. Unmittelbar aber trägt sie nichts zur Charakterbildung bei, denn weder Körperpsiege, noch Beschäftigungen, noch Gewaltmaß­ regeln, die Hauptmittel der pädagogischen Regierung der Kinder, lehren an sich schon sittliche Grundsätze, noch bewirken sie, daß der Zögling aus 1 Diese Abhandlung ist dem Werke des Verfassers „Deutsche Erziehung" (Leipzig, Verlag Äermes 1893,332 S.) entnommen, dessen zehntes Kapitel sie bildet.

Die Bildung des Charakters und Gemütes

65

eigner Einsicht und eignem Antriebe sittliche Taten vollbringe, höchstens liegt schon in Achtung und Liebe eine auf Charakterbildung hinwirkende Kraft, vorausgesetzt nämlich, daß die Person, der man Achtung und Liebe zollt, selbst ein wahrhaft sittlicher Charakter ist. Aber es kann z. B. auch der Sohn eines Näuberhauptmanns seinen Vater achten und lieben, und dieser jenen völlig mit den Mitteln der pädagogischen Regierung, durch Körperpflege, Beschäftigungen und Gewaltmaßregeln liebevoll, doch ganz im Sinne seiner räuberischen Zwecke leiten, ohne daß dabei der Sohn ein sittlicher Charakter würde. Sittliche Charakterbildung ist also durch die Regierung allein noch keineswegs gegeben und verbürgt. In höherem, ja in sehr hohem Grade wirft der Unterricht für die Charakterbildung, doch auch er nur mittelbar, in­ sofern er die sittlichen ^Grundsätze lehrt und erläutert. Aber die praktische Charakterbildung erfordert Betätigung, Äbung, Handlung.

Die sittliche Theorie kann jemand vollständig kennen und beherrschen, ohne sie im geringsten zu verwirklichen. Zu Regierung und Unterricht muß deshalb notwendig ergänzend noch ein Drittes hinzutreten, die Charakterbildung, d. h. die besondre pädagogische Kunst, welche mit Ein- und Absicht die Umstände schafft und die Veranlassungen herbeisührt, unter denen der Zögling Gelegenheit findet, sich in sittlichen Handlungen praktisch zu üben und sich zu einem vollbewußten, un­ erschütterlichen, sittlichen Charakter zu entwickeln. Äber die Bildung des Charakters darf aber die des Gemütes nicht vernachlässigt werden. Wir werden vielfach einen ehrenwerten Mann, wie ihn z. B. Ibsen in seinem Brand geschildert hat, wegen seines festen, sittlichen Charakters bewundern, und doch können wir ihn nicht lieben. Denn er ist streng und hart gegen sich und andre; Verstand und Wille sind in ihm überstark entwickelt, aber es fehlt ihm das, was wir Gemüt nennen, das menschliche, weiche, mitfühlende Herz. Unter Gemüt verstehen wir die Fähigkeit, sein eignes Ich und seine selbstsüchtigen Interessen zurücktreten zu lassen, sich in die Lage andrer und in ihre Bestrebungen hineinversenken und an ihren Freuden und Leiden innig teilnehmen zu können. Wer das nicht vermag, ist gemütlos; wer es uns gegenüber versteht, den nennen wir gemütvoll. Eine Gesellschaft von Menschen, die kein Herz und kein Verständnis für unsre Interessen, noch den Willen und die Fähigkeit, darauf einzugehen, besitzt, ist ungemütlich. Dem Charakter das Gemüt hinzufügen, heißt erst den Menschen vollenden. Das Gemüt ist der warme Sonnenschein, der sich auf die rauhen Felsen Schultze, Credo und Spera

5

66

Die Bildung des Charakters und Gemütes

des Charakters legt, sie erwärmt und mit lieblichem Pflanzenwuchs

Gemüt ohne Charakter bedeutet einen Schwächling, ein geistiges Weichtier; Charakter ohne Gemüt einen Starrkopf, ein ver­ steinertes Lerz; Charakter und Gemüt den gefühlswarmen, liebevollen und darum wahrhaft liebenswürdigen Menschen. Allein aus dieser bekleidet.

Verbindung von Charakter und Gemüt entspringt die rastlos tätige und erfolgreich wirkende Menschenliebe. Diese Verbindung im Kinde herzustellen, neben und mit dem Charakter zugleich sein gemütvolles Fühlen zu pflegen, darauf muß also die Erziehung im höchsten Maße bedacht sein, wenn sie den Zögling dem Ideale der Persönlichkeit annähern will. Dazu trägt nun die Regierung in Körperpflege, Beschäftigung und Gewaltmaßregeln offenbar nichts bei; essen und

trinken, arbeiten und spielen, Schläge austeilen oder empfangen können die gemütsrohesten Menschen, ohne dadurch gemütvoll zu werden. Wohl aber kann Achtung und Liebe auf die Entwicklung des Ge­ mütes im Zögling einen Einfluß ausüben, wenn nämlich die geachtete

und geliebte Person selbst gemütvoll ist und handelt, und der Zögling ihr darin nacheifert. Ist und handelt aber die zum Vorbild erwählte Person selbst herzenskalt, so kann sie erst recht den Keim des Ge­ mütes im Zögling ersticken und lediglich selbstsüchtige Begierden in ihm erwecken. Der erziehende Unterricht soll zwar im Gegensatz zum bloßen Fachunterricht die Interessen des Gemütes, wie wir später

sehen werden, überall pflegen und stärken; indessen er bleibt immer nur theoretischer Natur; ein gemütvolles praktisches Landein verbürgt

er nicht. So muß denn gegenüber der Regierung und dem Unterricht die Pflege des Gemüts einen besondern Teil der Charakterbildung ausmachen, und diese hat also nicht bloß die schon oben dargelegte Aufgabe, den Zögling im sittlichen, sondern zugleich ihn im gemütvollen Landein zu üben und zu kräftigen.

Der starke sittliche Charakter schlägt unentwegt stets dieselbe Willensrichtung ein. Wer weiß aber, ob er im Besitz eines solchen Charatters ist? Wie kann man sich dessen versichern? Schopenhauer sagt einmal ebenso wahr als bissig, ein jeder Mensch mache erst im Laufe seines Lebens seine eigne Bekanntschaft, und manchmal sei

diese nicht gerade angenehm. Was jemand ist, das erfährt er nur durch die Beschaffenheit und die Folgen seines eignen Landelns im Laufe der Jahre, im Widerstreit gegen die Welt, in der Reibung

mit ihr.

So kann auch der Zögling sich über sein eignes Wesen

nur durch sein praktisches Landein und dessen Erfolge oder Mißerfolge

Die Bildung des Charakters und Gemütes

67

ins Klare setzen; nur daran kann er erkennen, was er ist und nicht ist; nur dadurch kann er seine Fehler durchschauen und sie verbessern lernen. Seine Antüchtigkeit wie Tüchtigkeit zeigt und ergibt sich nur im Landein. Mißlingt ihm sein sittlicher Vorsatz, so wird er dadurch auf seine Schwächen aufmerksam gemacht und zu neuen, sorgsamer vorbereiteten Versuchen angespornt. Gelingt ihm seine sittliche Ab­ sicht, so wird er dadurch in seinen Entschlüssen ermutigt und zu neuen Taten aufgemuntert. Wiederholt erfolgreiches Landein kräftigt also und stählt den Charakter, wie umgekehrt fortwährende Mißerfolge entmutigend und lähmend wirken. Die Kunst der Charakterbildung hat also ein großes Interesse nicht bloß daran, daß der Zögling sich fortgesetzt in sittlichen Landlungen übe, sondern auch daran, daß ihm sein Landein wirklich gelinge. Sie muß mithin die Amstände, unter denen das Kind lebt, mit Absicht so gestalten, daß dem Zögling un­ unterbrochen Gelegenheit geboten wird, in wahrhaft sittlichem Geiste mit teilnehmendem Gemüte, mit verständiger Überlegung, aus eigner

Einsicht und freier Selbstbestimmung mit gutem Erfolge praktisch so zu handeln, daß er seine sittliche Willenskraft erprobe, sie durch häufiges Gelingen seines Vorhabens stärke und sich so endlich zu einem vollbewußten sittlichen Charakter emporschwinge. Alles kommt dabei auf das Landein und die Tat an; bloßes Wissen und prahlerische Worte haben keinen sittlichen Wert. Die erste Bedingung zu einem ersprießlichen Wachstum des Charakters und Gemütes im Kinde ist, daß in dem Kreise, in dem es lebt, also vor allem in der Familie und im Lause, Friede und Freude herrsche. Aus eigenstem Antriebe, aus innerstem Interesse, nicht gezwungen und geschoben, sondern frei, gern und willig muß der Zögling sittlich handeln, wenn dieses Landein für die Beurteilung, Erprobung und Entfaltung seines Charakters Wert haben soll. Die praktisch-sittlichen Aufgaben, die ihm gestellt werden oder die er sich selbst stellt, muß er mit Lust und Freude ergreifen; er darf nicht in steter Furcht und mit Zittern und Zagen ans Werk gehen. Diese freudige Stimmung soll chm daher nicht genommen oder auf die Dauer getrübt werden. Das geschieht aber da, wo dem Kinde fort­ während mit Lieblosigkeit und Lärte begegnet wird; wo es nichts hört, als unwirsches Brummen, mürrisches Tadeln und ungerechtes Zanken; wo es in steter Angst vor der üblen Laune der Mutter, der Roheit des Vaters, der Aneinigkeit der Geschwister kein frisches Wort zu reden und keinen harmlos-muntere» Scherz zu treiben wagt. 5*

68

Die Bildung des Charakters und Gemütes

Da werden die Kinder scheu, mutlos und argwöhnisch. Weil Lieb­ losigkeit lieblos macht, nistet sich Laß und Feindschaft in ihrem Lerzen ein; ihr Gemüt empfängt keine Nahrung, seine seinen Fühlsäden, unsanft berührt, verkümmern und sterben ab; die Willenskraft, weder durch guten Rat angeregt, noch durch ein lobendes Wort ermuntert, erlahmt und auf die traurig verbrachte Jugend folgt ein erbitterter Lebenslauf. Wir haben als Erzieher die sittliche Pflicht, den Kindern ihr Dasein so angenehm wie möglich zu gestalten. Nicht etwa sollen wir ihnen den Pfad so sehr glätten und ebnen, daß sie alle Lindernisse aus dem Wege geräumt fänden und von Schwierigkeiten überhaupt keinen Begriff erhielten. Das wäre eine schlechte Vorbereitung auf die Mühen des erwachsenen Lebens. Im Gegenteil werden wir ihnen manche harte Nuß zu knacken geben, aber jede anstrengende Aufgabe, die wir ihnen zur Stählung ihrer Kraft darbieten, muß gleichwohl von ihnen mit größter Frische und Freudigkeit ergriffen und über­ wunden werden. Dafür haben wir Sorge zu tragen, daß diese mutige und vertrauensvolle Stimmung in den Kindern nie erlösche. Deshalb darf aber im Lause die Sonne des Friedens niemals untergehen. Ihr warmer Schein bewirkt jene ebenmäßige und ruhige Freude, die sich nicht in lautem Toben, sondern in jener dauernden, zufriedenen Gemütsverfassung bekundet, welche die sicherste Vorbedingung für das Gelingen eines jeden guten Werkes ist. Diese Sonne scheint aber nur dann im Lause, wenn ohne Leuchelei und in Wahrheit Vater und Mutter in Frieden und Freude verbunden zu einander stehen. Die Einigkeit der Eltern ist die erste und allernotwendigste Voraus­ setzung jeder erfolgreichen Charakter- und Gemütsbildung der Kinder. Wo zwischen ihnen offner Zwist oder mühsam versteckte Feindseligkeit waltet, da liegt tiefer Schalten, in dem kein zartes Gemütspflänzchen mehr gedeiht, über dem ganzen Lause, da wissen die Kinder nicht ein noch aus. Sollen sie die Partei des Vaters gegen die Mutter oder die der Mutter gegen den Vater ergreifen? Die schlimmsten Zweifel steigen in ihnen auf, ihrem Gemüte wird die Ruhe, ihrem Geiste die Leiterkeit, ihrem Willen die Festigkeit, ihrem Glauben die Sicherheit geraubt. Die Seele des Kindes wird verpestet und vergiftet, statt geläutert und gestählt zu werden. Wahrer Friede und Freude wohnt nur in dem Lause, in welchem zugleich eine echte sittliche Lebenslust weht. Diesen feinen Äther, der sich nicht in salbungsvollen Predigten, ja überhaupt nicht in vielen Worten, sondern nur in dem Benehmen der Familienglieder und ihren

Die Bildung des Charakters und Gemütes

69

Handlungen bemerkbar macht, muß das Kind vom ersten Tage seines erwachenden Bewußtseins an unaufhörlich einatmen; an ihn muß es sich so gewöhnen, daß er ihm unentbehrlich, daß ihm die Stickluft der Ansittlichkeit unerträglich wird. Mit diesem Ozon muß wie mit reiner Bergluft seine sittliche Lunge sich füllen, darin muß sein ganzer geistiger Organismus sich gesund baden. Wieder muß dieser sittliche Hauch, der alles im Hause durchdringt, zuerst und vor allem von den Eltern ausströmen. Peinlich müssen sie sich hüten, in Worten

und Taten ein schlechtes Beispiel zu geben.

Ich kenne Häuser, in

denen der Vater bei Tische anstandslos und mit Behagen schlüpfrige Geschichten erzählt, die seine Kinder niemals hören sollten; in denen

Vater und Mutter vor den Augen der Kinder Dinge tun, welche

die Kinder niemals sehen sollten. Wer kann sich da wundern, wenn die Verderbtheit der Eltern sich auf die Kinder verpflanzt, wenn diese dasselbe tun, was sie an den Eltern erblicken!

Aber nicht bloß

äußerer Schein, sondern wirklich und wurzelecht muß der sittliche Geist des Hauses sein. Ich kenne genug Familien, in denen der äußere Anstand mit um so kleinlicherer Ängstlichkeit gewahrt wird,

als die innere Gesinnung eine durchaus gemeine und verworfene ist. Alle kennen und durchschauen sich, alle spielen Komödie, alle benutzen

die gesellschaftliche Wohlanständigkeit als Deckmantel für ihre innere Schamlosigkeit; keiner gebraucht vor dem andern je ein zweideutiges Wort, im Gegenteil man entsetzt sich und errötet bei der leisesten

Anzüglichkeit; man verfolgt jeden freieren Ausdruck mit (Entrüstung. Aber heimlich scheut man sich nicht, jedem erdenklichen Laster mit Zunge und Hand zu fröhnen. Solche Häuser sind die Brutstätten

der Heuchelei.

Kein Wunder, daß schon die Kinder in ihnen als

Tartuffes heranwachsen! Die Selbstsucht ist die Wurzel aller Laster. Daraus entspringen alle Antugenden, wie Anverträglichkeit, Neid, Haß, Herzenskälte,

Zwietracht und Streit.

Das beste Gegenmittel, um die Ichsucht

soviel wie möglich zu ersticken, ist die Entwicklung des Gemeinschafts­ gefühls. Dieses heranzubilden, muß deshalb die Erziehung in Haus

und Schule mit aller Kraft bemüht sein.

Ihr Kinder habt euch

gegenseitig zu helfen und zu dienen, ihr habt euch zu »ertrugen und zu lieben, ihr habt nicht bloß jeder an sich, sondern jeder an alle zu denken! Aber es darf bei Worten nicht sein Bewenden haben; die Rücksichtnahme auf die andern muß praktisch geübt und in die Tat

umgesetzt werden.

Zanksüchtige Kinder müssen in geeigneter Weise

70

Die Bildung des Charakters und Gemütes

muß gerade das entzogen werden, was sie in gewinnsüchtiger Weise sich angeeignet haben. bestraft werden;

eigennützigen Kindern

Kein Kind darf den Inhalt der Zuckerdüte oder der Schokoladen­ schachtel, die es zum Geschenk erhielt, allein für sich aufessen: in jedem Falle muß alles ausnahmslos unter alle verteilt werden. Das Kind, welches sich nicht freiwillig dazu entschließt, muß dazu gewungen werden, bis es die Pflicht der Freigebigkeit gelernt hat. Immer müssen auch darin die Eltern mit ihrem Beispiel vorangehen. Auch

der Vater darf seine Leckerbissen nicht gefräßig für sich verschlingen und damit Gier in der Seele der lüsternen Kindern erwecken, sondern allen gern von allem mitteilen, und sei es auch nur ein Läppchen. Die Familie verzehrt bei Tische keinen Kuchen, keine Frucht, sie trinkt

keine Feiertagsbowle, ohne daß nicht auch das Gesinde seinen, wenn auch gemessenen Anteil erhielte. Wenn diese stete Berücksichtigung aller stehende Sitte im Lause ist, so wird der Geist der Gemein­ nützigkeit, Opserwilligkeit, Barmherzigkeit und Menschenliebe dem Kinde unverlierbar eingeimpft, Lerrschte dieser Geist in allen Läufern, hätte man von jeher in allen Familien die Kinder in diesem Sinne erzogen, so gäbe es keinen Klaffenhaß zwischen Reichen und Armen; so wäre die soziale Frage nie entstanden, weil sie jeden Tag praktisch von allen an allen gelöst würde. Im Gemeinschaftsgefühl wurzeln

also die höchsten Tugenden.

Wer sich unverbrüchlich mit seinen

Angehörigen verbunden weiß, wer ihnen gegenüber seine Selbstsucht unterdrückt und Liebe gegen sie walten läßt, der überträgt dieses Gefühl auch auf weitere Kreise: auf seine Freunde, seine Gemeinde,

sein Volk, sein ganzes Vaterland. An dem geweihten Feuer der Treue, welches auf dem häuslichen Lerde brennt, entzündet sich auch

die heilige Flamme der Vaterlandsliebe; wo aber jenes Feuer nicht glüht, entlodert auch diese Flamme nicht. Die Lebensführung eines sittlichen Charakters läßt sich nicht denken ohne die größte Ordnung in Zeiteinteilung, Sachen und wirt­

schaftlichen Verhältnissen. Ordnung in allen diesen Beziehungen regieren daher das Laus der Charakterbildung. Pünktlichkeit bis auf die Minute vermehrt den kostbaren und gering bemessenen Schatz der Zeit, beseitigt manchen Anstoß zur Anzufriedenheit und dient der Gesundheit. Mit seltenen, und dann wohlbegründeten, unvermeid­

lichen Ausnahmen müssen die Kinder zur genau bestimmten Stunde zu

Bette gehen und aufstehen; nicht bloß in der Schule, sondern ebenso im Lause müssen alle Laupttätigkeiten sich nach der Ahr richten.

Die Bildung des Charakters und Gemütes

71

Vor allem muß die Essenszeit für gewöhnlich unwandelbar festgesetzt sein. Wie schlimm sind die Kinder daran, welche um zwei Ahr zur Schule müssen, aber heute erst um halb, morgen erst um dreiviertel zwei ihr Mahl erhalten, das sie nun hastig und unbekömmlich hinunter­ schlingen, während sie es um ein Ahr mit Behagen, Genuß und Vorteil hätten verzehren können! Mit vollem Magen eilen sie in die Klasse, um sich hier entweder der Verdauung hinzugeben und nicht auszupassen, oder aufzupassen und durch geistige Anspannung die Verdauung zu beeinträchtigen, deren täglich wiederholte Störung die Ernährung schädigt und den Körper des Kindes zugrunde richtet. In allen Sachen, Kleidern, Büchern, Spielzeug usw. kann die Pein­ lichkeit der Ordnung, mit der sich die äußerste Sauberkeit zu ver­ knüpfen hat, nie zu weit getrieben werden. Lier darf und soll man pedantisch sein. Wer immer nicht weiß, wohin er dies oder das gelegt hat, und seinen Tag mit ewigem Suchen verbringt, dem werde ich nie ein wichtiges Geschäft anvertrauen. Man mr«ß seine Sachen im Dunkeln finden können. Ein Mädchen zumal, das nachlässig in ihren Kleidern und unreinlich an Länden und Füßen ist, heirate man nicht; sie paßt nicht zur Lausfrau, Gattin und Mutter und richtet Wirtschaft und Mann zugrunde. Denn gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse müssen alle nach der Schnur gehen. Sämtliche Waren, die man einkauft, Kleider, Schuhe, Nahrungsmittel usw., so einfach sie sein mögen, seien von der gediegensten Beschaffenheit; in jedem Falle ist das Beste, wenn es auch teurer ist als das Schlechte, das Billigste, denn der gute Stoff hält länger und die gute Speise nährt besser. Man gewöhne die Kinder nicht an Üppigkeit und Aufwand,

wohl aber an das in jedem Falle Gediegene. Schund kaufe man nie, und lehre es die Kinder als stets zu teuer bezahlt verachten. Jede noch so einfache Speise sei sorgfältig und schmackhaft zube­ reitet; ein an sich gutes Nahrungsmittel schlecht zubereiten, sodaß es die Tischgenoffen stehen lassen, heißt Stoff vergeuden. Die Küche ist der Magen des Laufes und wie dieser sorgfältig zu psiegen. Die Frau, welche weder Zeit noch Interesse für die Küche hat, richtet Laus und Familie zugrunde, wie die Vernachlässigung des Magens den Organismus. Eine Kochschule sollte deshalb jedes Mädchen besuchen, dem im Lause die Gelegenheit, wirtschaftlich kochen zu lernen, nicht geboten ist, und zumal für die ärmere Bevölkerung sollten gute Kochschulen überall errichtet werden. Das Wirtschafts­ buch muß mit kaufmännischer Genauigkeit geführt und alle Rechnungen

72

Die Bildung des Charakters und Gemütes

regelmäßig auf den Tag bezahlt werden. Man eröffne den er­ wachsenden Kindern sobald wie möglich einen Einblick in die Ein­ nahmen und Ausgaben des Lauses; man lasse sie teilnehmen an der Abwägung beider gegeneinander und den damit verknüpften Sorgen,

damit sie sich bei Zeiten an Wirtschaftlichkeit gewöhnen, denn der wirtschaftliche Mensch hängt mit dem sittlichen eng zusammen. Wer

in seinen äußeren Verhältnissen herunterkommt, sinkt leicht und meistens auch innerlich. Müßiggang ist aller Laster Anfang und darf sich im Lause der

Charakterbildung in keiner Form unter keinerlei Vorwand einnisten. Alle Familienmitglieder leben in ununterbrochener, geregelter Tätig­ keit, an welche die Kinder schon in frühester Jugend so sehr zu ge­

wöhnen sind, daß ihnen Antätigkeit als Anglück, Fleiß als Genuß erscheint. Es darf nie ein Augenblick eintreten, in welchem die Kinder träge dahindämmern- dürften.

Sie müssen sich unausgesetzt

beschäftigen, wenn nicht mit Arbeit, so doch mit Spielen.

muß ihnen als Schmach und Schande gelten.

Faulheit

Besonders Empor­

kömmlingskinder meinen oftmals und werden darin von ihren protzenden Eltern bestärkt, daß Nichtstun vornehm sei, und Vornehme, eben als solche, nichts täten. Denen sollte nötigenfalls eingebläut werden, daß Arbeit adelt, und der Adligste von allen, der Kaiser, arbeitet. Er hat ani wenigsten Zeit, müßig zu sein.

Nur wer arbeitet, hat

ein Recht zu leben; von der Pflicht der Tätigkeit entbinden allein

Krankheit und Alter.

Es gibt kein größeres Verderben für die

Seele, als z. B. dem gesunden, aber trägen Töchterlein zu gestatten, auf weichem Sofa hingestreckt, die Stunden zu verträumen. Alle

sinnlichen

Triebe

erwachen,

alle

geistigen

Kräfte

erschlaffen

Müßiggang; er ist der eigentliche „böse Feind" des Charakters.

Lause der echten Erziehung

im Im

findet Längematte und Schaukelstuhl

keinen Platz. Arbeit ist Pflicht, an deren pünktlichste Erfüllung die Kinder

fortgesetzt gewöhnt werden müssen.

Schon der Anterricht beschäftigt

sie; da sie aber geistig nicht überbürdet werden sollen, so bleibt ihnen noch Zeit genug, die nicht bloß mit Spielen, sondern nun auch be­ sonders mit praktischer Tätigkeit im Dienste der Familie auszufüllen ist.

Solche häusliche Arbeiten müssen die Eltern den Kindern nicht

bloß gelegentlich oder vorübergehend, sondern als dauernde kleine Ämter auferlegen, die sie täglich sorgfältig zu verwalten haben. Das zwölfjährige Mädchen deckt regelmäßig den Tisch, die Schwester be-

Die Bildung des Charakters und Gemütes

73

gießt die Blumen, der erwachsene Bruder sprengt Nasen und Sträucher im Garten, der kleinere holt zur bestimmten Stunde Briefe und Zeitungen von der Post, und was dergleichen mehr ist. Zn jedem

geordneten Saushalte gibt es Arbeit genug, um alle Kinder ent­ sprechend anzustellen und mit kleinen Ämtern zu versehen. Köstliche erzieherische Weisheit hat betreffs dieses Punktes Goethe in der zweiten seiner Episteln niedergelegt: Die Mädchen sind gut und machen sich gerne Was zu schaffen. Da gib nur dem einen die Schlüssel zum Keller, Daß es die Weine des Vaters besorge, sobald sie, vom Winzer Oder vom Kaufmann geliefert, die weiten Gewölbe bereichern. Manches zu schaffen hat ein Mädchen, die vielen Gefäße, Leere Fässer und Flaschen in reinlicher Ordnung zu halten. Dann betrachtet sie oft des schäumenden Mostes Bewegung, Gießt das Fehlende zu, damit die wallenden Blasen Leicht die Öffnung des Fasses erreichen, trinkbar und Helle Endlich der edelste Saft sich künftigen Jahren vollende. Anermüdet ist sie alsdann, zu füllen, zu schöpfen, Daß stets geistig der Trank und rein die Tafel belebe. Laß der andern die Küche zum Reich; da gibt es, wahrhaftig! Arbeit genug, das tägliche Mahl, durch Sommer und Winter, Schmackhaft stets zu bereiten und ohne Beschwerde des Beutels. Denn im Frühjahr sorget sie schon, im Lose die Küchlein Bald zu erziehen und bald die schnatternden Enten zu füttern. Alles, was ihr die Jahreszeit gibt, das bringt sie bei Zeiten Dir aus den Tisch und weiß mit jeglichem Tage die Speisen Klug zu wechseln und, reist nur eben der Sommer die Früchte, Denkt sie an Vorrat schon für den Winter. Im kühlen Gewölbe Gärt ihr der kräftige Kohl und reifen im Essig die Gurken; Aber die lustige Kammer bewahrt ihr die Gaben Pomonens. Gerne nimmt sie das Lob vom Vater und allen Geschwistern And mißlingt ihr etwas, dann ist's ein größeres Anglück, Als wenn Dir ein Schuldner entläuft und den Wechsel zurückläßt. Immer ist so das Mädchen beschäftigt und reifet im Stillen Häuslicher Tugend entgegen, den klugen Mann zu beglücken. Wünscht sie dann endlich zu lesen, so wählt sie gewißlich ein Kochbuch, Deren Hunderte schon die eifrigen Pressen uns gaben.

Eine Schwester besorget den Garten, der schwerlich zur Wildnis, Deine Wohnung romantisch und feucht zu umgeben, verdammt ist, Sondern in zierliche Beete geteilt, als Vorhof der Küche, Nützliche Kräuter ernährt und jugendbeglückende Früchte. Patriarchalisch erzeuge so selbst dir ein kleines, gedrängtes Königreich und bevölkre dein Hgus mit treuem Gesinde.

74

Die Bildung des Charakters und Gemütes Last du der Töchter noch mehr, die lieber sitzen und stille Weibliche Arbeit verrichten, da ist's noch bester; die Nadel Nuht im Jahre nicht leicht; denn, noch so häuslich im Lause, Mögen sie öffentlich gern als müßige Damen erscheinen. Wie sich das Nähen und Flicken vermehrt, das Waschen und Bügeln, Hundertfältig, seitdem in weißer, arkadischer Lülle Sich das Mädchen gefällt, mit langen Röcken und Schleppen Gassen kehret und Gärten, und Staub erreget im Tanzsaal. Wahrlich! wären mir nur der Mädchen ein Dutzend im Lause, Niemals wär' ich verlegen um Arbeit.

So wird dem Kinde die unermüdliche Tätigkeit zur zweiten Natur, und was das Kind zu tun gelernt hat, wird der Erwachsene nicht lassen. Selbstverständlich richten sich die praktischen Aufgaben, die wir den Kindern stellen, oder die Familienämter, die wir ihnen übertragen, nach dem Lebensalter und der körperlichen und geistigen Entwicklungsstufe. Von großer Wichtigkeit ist aber dabei, daß, so geringfügig auch Aufgaben und Ämter anfangs sein mögen, wir sie

in dem Maße umfassender und bedeutsamer gestalten, als die Kinder heranwachsen. Stets muß der Erzieher im Auge behalten, daß es nicht sein Zweck ist, Sklaven zu züchten, sondern die Kinder zu der­ selben Freiheit und Selbständigkeit hinzuführen, welche wir Erwachsenen uns wünschen. Das Kind muß deshalb lernen, so früh wie möglich auf eignen Füßen zu stehen. Wenn ein kleines Mädchen alles, wie es sich ausdrückte, „alleine" tun wollte, so war dieser Vorbote späterer Anabhängigkeit mit verständnisvoller Freude zu begrüßen, und er erwies sich in dem Falle, welchen ich meine, auch nicht als trügerisch. Ganz falsch wäre es gewesen, das Kind nicht, was es nur konnte, allein tun zu lassen. Wie töricht von der Mutter, wenn sie ihren großen sechzehnjährigen Jungen noch jeden Morgen wäscht und ankleidet und ihn damit geradezu in Anbeholfenheit übt! Wie unüber­ legt, wenn dem Kinde fortwährend gesagt wird: „Du kannst das nicht, ich will es tun!" usw. Im Gegenteil, man traue doch den Kindern etwas zu, man ermuntere sie zum eignen selbständigen Handeln, man mache ihnen Mut zum Können. Selbst ist der Mann! Selbst sei aber auch die Frau! Selbst sei auch das Kind, wo und soweit es es nur immer möglich! Du sollst, also kannst du! Das ist weiser gesprochen als: Du kannst nicht, also sollst du nicht! Man lasse die Kinder sich versuchen, selbst auf die Gefahr eines kleinen Mißerfolgs und Schadens hin. Solche geringen Verluste müssen im Betriebs­ kapital der Charatterbildung von vornherein mit in Rechnung gestellt

Die Bildung des Charakters und Gemütes

werden; der spätere Gewinn erseht sie hundertfach.

75

Darum verwende

man die Kinder, je größer und reifer sie werden, zu um so bedeuten­ deren Tätigkeiten! Dadurch entwickeln wir sie zu selbständigen Charak­ teren, denn „es wächst der Mensch mit seinen höh'ren Zwecken." Mein sechsjähriger Junge möchte gern den Brief, den ich geschrieben habe, in den Kasten stecken. Er hat es vorher noch nicht getan; es ist ein wichtiger Brief; ich trage Bedenken, ihn ihm anzuvertrauen.

Doch möchte ich mich auch seinem Tätigkeitstriebe nicht hemmend in den Weg stellen. Ich gebe ihm also den Brief, aber ich begleite den

Knaben bis an die nächste Straßenecke, von wo aus ich den Brief­ kasten erblicken kann. Der Bube läuft hin und entledigt sich seines Auftrages zu meiner vollen Zufriedenheit. So beaufsichtige ich ihn mehrere Male, bis ich die Überzeugung gewonnen habe, daß er seine

Sache gut macht, und ihm nun anstandslos die Briefe zur Be­ sorgung übergebe. Ein andres Mal will er gern etwas vom Kauf­ mann holen.

Die Mutter ist besorgt, ihm die zehn Pfennige anzu­

vertrauen; er könnte sie verlieren. Aber zehn Pfennige kann man schon daran wagen. Der Junge bringt richtig die verlangte Ware, nicht einmal, sondern viele Male im Laufe der Zeit. So übergebe ich ihm, der inzwischen zehn Jahre alt geworden ist, getrost zehn Mark, um eine Rechnung zu bezahlen. Er entledigt sich der Aufgabe fehlerlos;

er hat große Freude am Gelingen, die größte an dem Vertrauen, das ich ihm schenke, und aufmerksam und zuverlässig, wie er ist, kann ich ihn zu immer wichtigeren Aufträgen verwenden und ihn so auf das selbständige und verantwortungsvolle Landein seines erwachsenen Lebens immer mehr vorbereiten. Mit Absicht habe ich soeben Beispiele erwähnt, in denen es sich um Geld handelte. Denn in vielen Familien wird eines, was

doch so belangreich ist, gänzlich vernachlässigt, daß nämlich die Kinder mit Geld umzugehen lernen. Weil das Geld in der Welt eine der größten Rollen spielt und sein Besitz für den Menschen

ebenso sittenverderbend als segensreich sein kann, so gehört es zur Charakterbildung, die Kinder recht bald an den vernünftigen Ge­ brauch des Geldes zu gewöhnen. Zu dem Zwecke dient ein kleines Taschengeld, etwa zehn Pfennige jede Woche, ein sog. Sonntags­ groschen, oder fünfzig Pfennige den Monat bei einem Knaben oder Mädchen von zehn bis zwölf Jahren. Es kommt nicht auf die

Löhe der Summe an; es kann bei kleinern Kindern noch viel weniger sein, nur daß die Kinder überhaupt etwas in der Land haben.

Zu

76

Die Bildung des Charakters und Gemütes

warnen ist. aber vor dem Zuviel. Einem Knaben von zwölf Jahren drei Mark Taschengeld monatlich geben, ist zu reichlich; er hat ja im Grunde keine notwendigen Ausgaben, da er fehle Verpflegung im Lause findet und alles Nötige für ihn bezahlt wird. So weiß er dann mit den drei Mark nichts Vernünftiges anzufangen und vernascht oder gibt sie für unnütze Dinge aus. Zuviel also verführt zum Miß­ brauch des Geldes, zur Verschwendung. Den Kindern gar kein Taschengeld reichen, hat meistens sehr ungünstige Folgen. Auch das Kind hat schon den Trieb, etwas zu besitzen, zumal einige von den glänzenden Münzen, die ihm bei den Großen in die Augen stechen, und seien es nur wenige Pfennige. Es hat ferner kleine Gelüste, sich einmal einen Apfel bei der Obstfrau oder ein Stück Kuchen beim Zuckerbäcker zu kaufen. Ich habe wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Kinder, denen kein Taschengeld zu Gebote stand, ihren Eltern oder Kameraden Geld stahlen. Es empfiehlt sich auch nicht, den Kindern nur gelegentlich und nach Laune etwas zu beliebiger Ver­ wendung zu schenken. Wie gewonnen, so zerronnen, heißt es: das Geschenkte wird unnütz vertan. Das Zweckmäßigste ist vielmehr, ihnen ein bestimmtes, kleines Taschengeld auf eine gewisse Zeit auszusehen, und zwar unter der Bedingung, daß es nicht beliebig, sondern zu festen Zwecken verwendet, daß darüber Buch geführt und all­ monatlich Rechnung abgelegt werde. Von dem Gelde muß z. B. der Bedarf an Federn und Bleistiften gedeckt werden, oder es muß davon die Straßenbahn bezahlt werden, wenn der Knabe, der seinen weiten Schulweg für gewöhnlich zu Fuße zurücklegt, diese bei Regen­ wetter oder Litze zu benutzen gezwungen ist. Das konfirmierte Mädchen, welches monatlich bereits über drei bis fünf Mark verfügt, hat davon ihren kleinen Putz, Landschuhe, Theater, Geburtstagsge­ schenke usw. zu bestreiten. Auch kann man noch eine besondere Be­ lohnung auf Ersparnisse sehen. Wer am Ende des Vierteljahres etwas übrig hat, dem wird sein Erspartes verdoppelt, unter der Be­ dingung, daß das Ganze dann auf der Sparkasse angelegt werde. Man kann sicher sein, daß, sowie das Kind in dieser Weise weniger zum Eigentümer, als zum Verwalter einer kleinen Summe ernannt ist, es anfängt, sparsam zu werden und mit dem Gelde zu rechnen. Es lernt dann den verhältnismäßig geringen Wert des Geldes aus eigner Erfahrung kennen und sich vor Verschwendung und überflüssigen Ausgaben hüten. Selbst im rechtmäßigen Besitze eines kleinen Schatzes und mit seiner möglichsten Ausnutzung beschäftigt, wird es dann auch

Die Bildung des Charakters und Gemütes

77

abgehalten, die Schande eines Diebstahls auf sich zu laden. Der Junge kommt nach Äause und erzählt mir, daß er einem Bettler zehn Pfennige geschenkt habe. Ich sage ihm: „Das hast du gut gemacht, denn man darf nicht geizig sein, sondern muß mildtätig auch andern

Aber da du nur sehr wenig Geld besitzest, so wäre es mit drei Pfennigen auch getan gewesen, denn die Freigebigkeit muß sich nach dem Vernrögen richten, sonst verarmt von dem feinigen zukommen lassen.

selbst der Reiche und ist nicht mehr imstande, Wohltaten zu erweisen." So wird das Kind durch seinen kleinen Besitz an Geld nicht bloß zur Sparsamkeit, sondern auch zur vernünftigen Freigebigkeit erzogen, die als Gegengewicht gegen den Geiz dient; es lernt also, das Geld überhaupt vernünftig verwenden. Ein junger Mann kam auf die Universität. Seine Eltern hatten ihm wohl dann und wann Geld geschenkt, ihn aber nie durch Verwaltung eines Taschengeldes in die Kunst eingeweiht, den Mammon zu beherrschen. Die Summe, welche für einen Monat reichen sollte, schien ihm unerschöpflich; im frohen Genuß seiner studentischen Freiheit gab er für sich und andre aus,

ohne zu rechnen, um sich zu seinem Schrecken am Schluß der ersten Woche auch am Ende seiner Barschaft zu finden. Ich wurde mit einem jungen Lord befreundet, der sich längere Zeit in Deutschland aufhielt. Er stammte aus einer der vornehmsten und begütertsten englischen Adelsfamilien. Sein Vater hatte ihm erlaubt, so viel Geld zu verbrauchen, als er wollte, unter der Bedingung, daß er jede Ausgabe genau anschreibe und seinem Vater später auf Ehrenwort

versichere, daß er weder einen Pfennig vergessen, noch eine falsche

Angabe in seinem Rechnungsbuche gemacht habe. Wenn dann eine bestimmte Summe am Schluß eines Jahres nicht überschritten sei, so solle ihm nach Ablauf der Reise eine Belohnung von fünfhundert Pfund zuteil werden.

Der alte Lord hatte richtig vorausgesehen,

welche Wirkung dies Verfahren auf den späteren Erben und Ver­ walter großer Reichtümer üben würde: der junge Mann ließ es sich gut gehen, aber mit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Selbstbe­ herrschung überschritt er niemals die Summe, die er sich selbst aus freien Stücken monatlich ausgesetzt hatte. Eines Tages klagte er mir ganz verzweifelt, seine Rechnung stimme nicht um drei Pfennige; vergeblich habe er sich schon den ganzen Morgen besonnen, wo und

wann er sie ausgegeben habe; ich möchte ihm helfen, den Fehler zu finden. Wir waren fast immer zusammen: so kannte ich seine Aus­

gaben ziemlich genau.

Wir gingen die

letzte Woche Stunde für

78

Die Bildung des Charakters und Gemütes

Stunde durch, aber es dauerte mehrere Tage, bis wir mit unzweifel­ hafter Sicherheit die Verwendung der fehlenden Pfennige feststellen konnten. Meine Freude an dem endlichen Gelingen war nicht minder groß als die des jungen Mannes, den sein Vater durch den sonst so verderblichen Mammon nicht bloß zur Wirtschaftlichkeit, sondern auch zur Gewissenhaftigkeit erzog.

Die Charakterbildung geht nicht bloß darauf aus, das Gute im Menschen zu entwickeln; ebenso sehr muß sie es sich angelegen sein lassen, das Böse in ihm zu unterdrücken, welches häufig genug und oftmals zu unsrer größten Überraschung ganz plötzlich und unerwartet in unsern Kindern zum Durch- und Ausbruch kommt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir zuerst und vor allem verhüten, daß in unsern Zöglingen falsche Begierden entstehen. Diese sind von richtigen, aus notwendigen Bedürfnissen hervorgehenden Begehrungen wohl zu unterscheiden. Wenn ein Kind hungert und zu essen, oder friert und sich zu wärmen wünscht, so sind das berechtigte Be­ gehrungen, die befriedigt werden müssen. Wenn wir aber einem Kinde gestatten, gefräßig zu sein, oder unregelmäßig und außer der Zeit zu naschen; wenn wir seine Lüsternheit nach Süßigkeiten im Übermaße und in gesundheitsschädlicher Weise kitzeln, so reizen wir es zu falschen Begierden an. Kleiden wir unser Kind nicht bloß gut und praktisch und meinetwegen auch schön, sondern erwecken wir seine Eitelkeit dadurch, daß wir es zum Gecken und Modenarren züchten, so erregen wir eine falsche Begierde in ihm. Unvorsichtige Eltern bewundern in Gegenwart ihres Kindes und vor seinen dafür mehr als empfänglichen Ohren seine Schönheit oder seine Talente immer und immer wieder. Das gerühmte Wunderkind wird eingebildet und selbst­ gefällig ; falsche Begierden steigen in ihm auf, und man braucht nicht zu staunen, wenn endlich das gepriesene Genie sich auf seinen billig erworbenen Lorbeeren ausruht, ehe es noch Taten vollbracht hat. Das Kind hat ein Recht auf Vergnügen, und kindliche Erholungen, wie Springen nnd Laufen, Spielen und Scherzen sollen ihm unbe­ nommen bleiben. Wenn man aber Kinder bereits in Konzerte und Theatervorstellungen, für die sie noch gar kein Verständnis haben, oder nach Rom in die vatikanischen Sammlungen oder bis spät in die Nacht auf den Tanzboden und in die Kneipe mitnimmt, so heißt das, die Kinder vor der Zeit an die Vergnügungen der Erwachsenen gewöhnen und sie durch Erweckung falscher Begierden zu den greisen-

Die Bildung des Charakters und Gemütes

79

haften Knaben erziehen, die auf den Straßen als mattwankende, weltsatte Gigerl den Ekel der Vernünftigen erregen.

Begeisterung für alles Gute und Schöne im Zögling zu ent­ flammen, entspricht dem Ziele der Charakterbildung; alle leiden­ schaftlichen Aufwallungen aber, deren rauchende Lohe den Verstand benebelt, die Besonnenheit trübt und den Willen zu rascher und wirrer Tat hinreißt, stehen im vollen Widerspruch zu ihrer hohen

Aufgabe, und der Erzieher muß alles aufbieten, sie nicht emporlodern jedem Menschen wohnen Leidenschaften, warum auch aus dem Kinde hervorbrechen? Der Er­ wachsene zügelt die {einigen aus Furcht vor Nachteilen oder durch vernünftige Überlegung. Das Kind wird weder durch Rücksichten,

zu lassen. In sollen sie nicht

noch durch Vernunft im Zaume gehalten.

Was wundern wir uns,

wenn erst recht in ihm, sei es auch noch so unerwartet, Ünbändigkeit, Trotz, Jähzorn, Wut und Grausamkeit alle Banden zu sprengen

scheinen! Der sonst so sanfte Knabe wird mit einem Male durch ein bloßes Wort, durch einen kleinen Verweis, der ihn aus irgend einem oft gar nicht erkennbaren Grunde empfindlich getroffen hat, so erregt, daß er aufspringt, die Tür hinter sich zuschlägt und in kochender Wut seine Lefte zerreißt oder, was ihm gerade unter die Lände kommt, zertrümmert. Was sollen wir hier tun? Wie sollen wir ihm ent­ gegentreten?

Wir sollen mit absichtlich und willenskräftig bewahrter

Ruhe und mit sanftem Zureden seine Wallung beschwichtigen, nicht aber durch eigne Leidenschaftlichkeit und harte Scheltworte oder ver­ letzende Stichelreden noch Öl ins Feuer gießen. Das tun leider oft

genug die Erwachsenen dem Zorn der Kinder gegenüber. Die tollen Gebärden des kleinen Wüterichs machen ihnen Spaß, sie höhnen und

spotten und treiben das Kind zu solcher Verzweiflung, daß es sich vergißt, mit Länden und Füßen um sich schlägt und kaum zu bändigen ist. Der Vater denkt nicht daran, daß er selbst erst den Jungen in

diesen Zustand versetzt hat, er wird selbst zornig, Wut steht zuletzt gegen Wut, in roher Weise wird der schwächere Knabe überwältigt, und Abscheu und Laß nistet sich nach solcher Szene unausrottbar in

seinem Lerzen ein.

Was nützt uns nun der Triumph, das schwächere

Kind unter unsre Kniee gebeugt zu haben? Da wir ja von vorn­ herein wissen, daß wir stärker sind, als der Junge, so hätten wir uns diese unwürdige Erprobung unsrer Muskelkraft und den ttotz unsres Sieges damit verbundenen Ärger besser erspart, umsomehr, als der

Erfolg nicht der Anstrengung entspricht, well wir den Jungen wohl

80

Die Bildung des Charakters und Gemütes

äußerlich bändigen, ihn aber innerlich in seiner Gesinnung uns doch nicht unterwerfen konnten. Der tolle Junge ist in diesem Augenblicke

ein kleiner Verrückter, den man durch Roheit nicht noch rasender machen, sondern durch ruhige und sanfte Behandlung zum normalen Zustande zurückführen muß. Was man in einem solchen Augenblick sagen soll, das hat schon der Kaiser unter den Stoikern und der Stoiker unter den Kaisern, Mark Aurel (161—180 n. Chr.) unübertrefflich schön in seinen „Meditationen" auch zu Nutz und Frommen aller zornigen Erziehern ausgesprochen: „Ein liebevolles Gemüt," heißt es da,' „wenn seine Liebe wirklich echt und ungeheuchelt ist, kann durch

nichts überwunden werden. Auch dein allerärgster Feind kann dir nichts anhaben, wenn du auf deiner Liebe zu ihm beharrst, wenn du bei Gelegenheit ihn ermahnst und gerade, wenn er im Begriff ist, dir

wehzutun, ihm freundlich zusprichst: nicht doch, Lieber; wir sind zu etwas andrem geboren; mir schadest du ja nicht, du schadest dir selber Kind! — wenn du ihm so in sanfter Weise und alles wohlerwogen

zeigst, daß sich dies so verhalte, und daß nicht einmal die Tiere so verfahren, die in Kerden beisammen leben. Freilich muß dies alles

ohne Ironie geschehen, nicht mit dem versteckten Wunsche, ihn zu demütigen, sondern aus reiner Liebe und ohne das Gefühl erlittener Kränkung, auch nicht im Schulmeisterton oder im Beisein eines andern,

sondern mit ihm allein, selbst wenn andre gegenwärtig wären . . . . Sanftmut und Milde — das ist das echt Menschliche und Männ­ liche; hierin liegt Kraft und Tapferkeit und Stärke, nicht im Zorn

und in dem unwilligen Wesen. Denn je näher etwas an die völlige Leidenschaftslosigkeit grenzt, desto näher kommt es wirklicher Macht. Lind wie die Traurigkeit ein Zeichen von Schwäche, so auch der Zorn. In beiden sind wir verwundete, geschlagene Leute." Man verfahre so einige Male nach diesem Kaiserwort, und man wird sehen, daß

das Kind sich seines unbändigen Benehmens zu schämen und sich zu beherrschen anfängt.

Zu den leidenschaftlichen Wallungen, die man nicht erregen darf, gehören auch Furcht und Angst. Streng verbiete man es den Dienst­

boten, das kleine Kind mit dem schwarzen Manne, mit Äexen und Gespenstern oder welche Vorstellung sonst herhalten muß, fürchten zu machen. Ganz abgesehen davon, daß der Erwachsene dabei lügt und die Saat des Aberglaubens zum Schaden der geistigen Entwicklung 1 Mark Aurels Meditationen. Aus dem Griechischen von F. C. Schneider. 3. Ausl. Breslau 1875. Buch XI. Kap. 16. S. 145.

Die Bildung des Charakters und Gemütes

81

des Kindes in seine Seele streut, ist es Nicht bloß grausam, dem Kinde durch Wahnvorstellungen Qualen zu bereiten, die es beim Alleinsein oder im Dunkeln widerstandslos überfallen, sondern es ist auch insofern höchst unpraktisch, als die Kinder dann nie mehr allein oder im Dunkeln sein wollen, und die Erwachsenen somit mehr in Anspruch genommen werden, als unbedingt nötig ist. Auch im Dunkeln müssen Kinder allein ruhig bleiben und willig einschlafen. Die dunkle Stube darf für sie nichts grauenvolles haben. Sehr falsch ist es auch, den Kindern Widerwillen und Abscheu vor an sich ganz unschädlichen Tieren einzuflößen. Die Mutter, welche Käfer, Raupen, Frösche usw. unbefangen in die Land nimmt und ihre Eigenschaften den Kindern erklärt, erweist einen guten Dienst sowohl den Tieren, die sie vor dem, aus dem Abscheu der Allwissenheit entspringenden grausamen Vernichtungsdrange zu schützen lehrt, als auch den Kindern, denen sie Kenntnis, Achtung und Bewunderung der Geschöpfe der göttlichen Natur beibringt. Daß man endlich die Kinder nicht durch übermäßige Drohung in phantastische Angst versehen darf, die sie zu verzweifelten Handlungen verleiten, ist bereits früher von mir dargelegt worden. Nie unterdrücke man endlich eine falsche Begierde oder eine verwerfliche Leidenschaft durch die Erweckung einer andern, ebenso verwerflichen! Das Kind ist ungezogen. Da sagt die Mutter: „Wenn du artig bist, bekommst du ein Stück Kuchen." Die sinnliche Begierde nach einem süßen Genusse wird erregt, und nicht aus innrer Willigkeit, sondern eines äußren Vorteils wegen ist das Kind ruhig. So wird die eine Begierde durch die andre erstickt. Das ist falsch, denn das Kind hat gut zu sein um des Guten, nicht um eines Ge­ winnes willen, nicht um Lohn, sondern aus Pflicht. Es schuldet uns seine Artigkeit, und wir haben diese weder zu erbetteln noch zu erkaufen. Muß ich einen Menschen durch Geld zu einer guten Tat bewegen, so kann ich ihn durch Geld auch zu einer schlechten Tat verführen. Wer seine Tugend von dem durch sie zu erzielenden Vor­ teil abhängig macht, der wird ihr rasch entsagen, sobald sie sich mit Nachteilen verknüpft zeigt. Es heißt das Gegenteil eines Charakters, ein im Winde schwankendes Rohr erziehen, wenn wir das Kind ge­ wöhnen, nur in Rücksicht auf äußere Vorteile seine sittliche Pflicht zu erfüllen. Ist das Kind heute artig, weil es ein Stück Kuchen bekommt, so ist es morgen unartig, um ein Stück Kuchen zu kriegen, und übermorgen bleibt es unartig, trotzdem es eines erhält. Gemeine Begierden und Leidenschaften werden durch schlüpfrige Schultze, Credo und Speca 6

82

Die Bildung des Charakters und Gemütes

Vorstellungen erweckt; diese entspringen einer verdorbenen und zügel­ losen Phantasie. Anheilbar angesteckt und verseucht wird daher die Vorstellungswelt des Zöglings durch schlechte Lesestoffe in Büchern und Zeitungen und durch den entsittlichenden Einfluß einer ideallosen Schaubühne. Vor solcher Vergiftung seiner Phantasie hüte man daher das Kind mit Argusaugen. Täglich kommen Zeitungen mannig­ facher Art in die Käufer und fast unvermeidlich auch in die Künde der Kinder. Schon der kleine A-B-C-Schütze steckt zuerst aus Nach­

ahmung und Neugier, später aus Gewohnheit die Nase in das Tage­ blatt oder die Wochenschrift.

Da werden unzüchtige Dinge offen

und schamlos besprochen, die besser überhaupt nicht in die allgemeine Öffentlichkeit kämen, von denen das Kind zu Kaus nichts sieht und

hört, mit denen es aber auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege bekannt wird. Die Mutter liest einen Roman von Zola. Warum soll denn die Tochter das Buch nicht öffnen, das die Mutter in die Kand

nimmt? Sie beginnt zu blättern; sie liest, zuerst verdutzt, entsetzt, entrüstet; aber bald gerät sie in eine ungewohnte heiße Erregung; die Sinne werden aus dem Schlafe ihrer Anschuld aufgerüttelt; die Erinnerung an das Gelesene läßt' sie nicht los; die Phantasie malt heimlich die verführerischen Bilder weiter aus; verlockend schleichen sie sich in ihre Träume ein; ungeahnte, wonnige Reize durchzucken den Organismus; der Geschlechtstrieb erwacht viel zu früh mit un­ bändiger Keftigkeit und verleitet zu versteckten Kandlungen, die wir

nur andeuten, nicht nennen können, an denen aber manch junges Wesen männlichen und weiblichen Geschlechts geistig und körperlich unrettbar zugrunde geht. Ze später der Geschlechtsttieb in dem jungen Menschen erwacht, um so segensreicher ist es für seine seelische und leibliche Gesundheit. Eltern und Erzieher können in diesem Puntte nicht vorsichtig und aufmerksam genug sein, jede Versuchung von ihren Kindern solange wie möglich fern zu halten. Körperliche Reize, wie sie von zu fettem Effen, bei zu wenig Bewegung und zumal vielem Sitzen oder von zu weichen und zu warmen Betten und

langem in den Tag hinein Schlafen ausgehen, sind leichter zu beseitigen und trotz ihrer Schädlichkeit weniger bedenklich, als geistige Ver­ führungen, wie sie der Schundliteratur entquillen, die übrigens nicht bloß die Kolportageromane, sondern auch manches als vornehm geltende Blatt umfaßt. Romane sollte ein junger Mensch unter

zwanzig Jahren überhaupt nicht lesen, es seien denn wenige als klassisch anerkannte, geschichtliche und sittlich unanstößige. Die Gefahr

Die Bildung des Charakters und Gemütes

83

liegt darin, daß die Annatürlichkeiten und Gesetzlosigkeiten in dem

phantastischen Landein eines männlichen oder weiblichen Nomanhelden von dem jungen, noch weltunkundigen und urteilslosen Leser für die natürlichen und höchst interessanten, wahren Gesetze des menschlichen Lebens genommen werden, nach denen er selbst ebenso abenteuerlich und auffällig sein Tun und Lassen einzurichten trachtet. Was nicht sein soll, was jedem Sittengesetze Lohn spricht, was lediglich der

Verfassers entspringt, der die abge­ stumpften Nerven eines blasierten Publikums um jeden Preis in überreizten Phantasie eines

prickelnde, wollüstige Erregung versetzen möchte, das ist es, was der junge Mensch mit Begierde einsaugt, wodurch er in seiner Reinheit besudelt, versumpft und verpestet wird, und woran er oft genug zu­

grunde geht. Es ist noch eine verhältnismäßig harmlose Wirkung, wenn das Lesen von Indianerromanen einige unreife Bürschchen zur Plünderung der väterlichen Kasse und zum Versuche der Auswande­ rung nach Amerika veranlaßt, — der Telegraph erwischt sie noch zur rechten Zeit in Lamburg oder Bremen, und die Behörde schickt sie

unter Bedeckung den Eltern wieder zu.

Wie viel Anheil aber bereits

die moderne, besonders aus Norwegen stammende pessimistisch-natura­ listische Literatur angerichtet hat, das wird zwar nicht mit statistischen Zahlen berechnet und bekannt gemacht, aber gleichwohl entgeht es dem aufmerksamen Beobachter unsrer Sittenzustände nicht. Man mag z. B. das Talent Ibsens, die Schatten- und Nachtseiten der

menschlichen Gesellschaft aufzudecken und nackt und unverhüllt darzu­

stellen, anerkennen und bewundern: wenn seine Anhänger ihn als Moralisten preisen; wenn sie meinen, daß durch solche Entkleidungen auch nur ein Mensch von seinem rücksichtslos selbstsüchtigen Landein

abgeschreckt und gebessert würde; wenn sie der Ansicht sind, daß durch die Schilderung der Ideallosigkeit die Sehnsucht nach dem Ideal in dem einzelnen erweckt und ein idealer Gesellschaftszustand geboren werden könne, so befinden sie sich auf dem holprigsten aller Lolzwege.

Ein Mensch von gemeiner Gesinnung wird durch das Gemeine sym­ pathisch berührt und angezogen, nicht abgeschreckt und gebessert. Noch nie ist der Teufel durch Beelzebub ausgetrieben worden. Ein Mensch

von edler Gesinnung wird durch den Anblick des Gemeinen zwar angewidert, aber nicht besser, als er schon ist. Will man bessern, muß man das Gute in seiner Vollendung und seinem Werte vorführen; dadurch fühlt sich der Edle in seiner Gesinnung bestärkt und gehoben,

der Böse in seinem Gewissen beunruhigt und erschüttert, woraus auch 6*

84

Die Bildung des Charakters und Gemütes

in ihm eine Abwendung vom Schlechten und eine Einwendung zum Guten entstehen kann. Die Gewöhnung an das Gute schließt eine Entwöhnung vom Bösen, die Gewöhnung an das Schlechte aber keine Einwendung zum Guten in sich. Ich habe gelegentlich der Auf­ führung Ibsen'scher Stücke cynische Lebemänner, die aus ihrer ge­ meinen Gesinnung deshalb kein Lehl machten, weil sie sie allen Menschen zuschrieben und edle Charaktere nur für Schein und für sehr kluge Leuchter erklärten, sagen hören: „So ist die Welt und die menschliche Gesellschaft, wie sie in den „Gespenstern", der „Wildente", „Rosmersholm", „Nora" u. a. geschildert wird. Sie ist so, weil sie nicht anders sein kann. So wie wir sind, müssen wir sein. Es ist besser, das endlich klar zu erkennen und sich vor jedem Menschen ausnahmslos zu hüten, als in dummer Vertrauensseligkeit von ihm betrogen zu werden, oder an die Möglichkeit einer idealen Tugend zu glauben und in vergeblichem Streben danach sich das bischen realen Weltgenuß zu verkümmern, das man haben kann, wenn man nur mit schlauer Vorsicht, sonst aber rücksichtslos seinem Egoismus folgt." Nicht gebessert durch Ibsen, sondern nur bestärkt wurden diese hart­ gesottenen Schandherzen in ihrer ideallos pessimistischen Weltauffassung und ihrer zielvoll egoistischen Lebensführung. Welche Einwirkung diese Dramen aber auf junge Menschen hervorbrachten, davon kann ich besonders ein sprechendes Beispiel erzählen. Ich kannte einige junge, heißblütige und temperamentvolle Mädchen über zwanzig Jahre, die schon einige Enttäuschungen in der Liebe erfahren hatten und unter dem Einfluß des herrschenden Pessimismus und auf Grund eigner, wie sie meinten, sehr gereifter Erfahrung die Welt für ein elendes Machwerk aus Schmutz und Lüge erklärten und besonders die Männer theoretisch haßten, so sehr sie sich praktisch zu ihnen hingezogen fühlten. Sie schwärmten für Ibsen, in dessen Werken sie die vollste Be­ stätigung ihrer Ansichten fanden. Zitate aus den Gespenstern, der Wildente u. a. waren ihre Stich- und Schlagworte. Sie kamen zu dem Schlüsse, daß, da die Gesellschaft unverbesserlich ekelhaft und die Männer elende Wichte seien, ein entschlossenes Mädchen nichts besseres tun könne, als sich zu emanzipieren, auf eigne Füße zu stellen und zumal die Männer ebenso an der Nase zu führen, wie diese sie angeführt hätten. Demgemäß lebten sie um so freier, als sie, fern von ihren Eltern, sich selbst überlassen waren. Sie hatten ihre eigne Wohnung, speisten im Wirtshaus, schlenderten in auffallender Kleidung durch die Straßen und schauten jedem Manne keck ins Gesicht. Den

Die Bildung des Charakters und Gemütes

85

Glauben an alles Edle hatten sie verloren, aber von der notwendigen und unabsehbaren Herrschaft des Gemeinen waren sie überzeugt und hatten für alles nur höhnende und wegwerfende Ausdrücke im Munde. Sim ihre Feinde, die Männer, in ihrer ganzen Nichtswürdigkeit ent­ larven zu können, mußten sie sich doch mit ihnen einlaffen. Das taten sie denn auch im sichern Vertrauen auf ihre emanzipierte, selbstbewußte' Kraft. Was soll ich weitläufig werden? Es genügt zu sagen, daß nach kurzer Zeit die eine ihren Fall durch einen freiwilligen Tod im Wasser büßte, während die andre verkommen wäre, wenn sich ihre Eltern nicht noch zur rechten Zeit ihrer angenommen hätten. Für den Zögling und die Jugend überhaupt ist von Schrift- und Bühnen­ werken nur das Beste, d. h. in diesem Falle das als klassisch Erprobte gut genug. Sorgfältig überwache man daher Lesestoff und Theater­ besuch der Schüler. Nur das Schönste und Edelste aus dem Schrift­ tum der verschiedenen Völker soll ihnen zugänglich gemacht werden, nicht was der kurzlebige Tagesgeschmack und die flüchtige Zeitströmung an kraftlosen oder auch giftigen Eintagsfliegen erzeugt. Der gebildete, charakterfeste und urteilsreife Erwachsene mag sich die Auswürfe der Modeliteratur anschauen; er sieht in ihnen „Zeichen der Zeit," die er an ihren Früchten erkennt, und richtet seine Kritik gegen sie; aber die Jugend wird von diesem Sumpfe verschlungen, wenn wir sie darin waten lassen. Wenn das Kind in einem Sause aufwächst, in dem Friede und Freude waltet und echt sittliche Luft weht, in dem das Gemeinschafts­ gefühl gepflegt wird und alle Familienmitglieder in geordneter Weise fortgesetzt ihre Aufgaben pflichtgetreu erfüllen; in welchem es selbst zu einer sich allmählich erweiternden, verantwortlichen Tätigkeit an- und von bösen Begierden, Leidenschaften und Phantasieverderbnis abge­ halten wird, gewöhnt es sich ganz von selbst und unbewußt an ein richtiges, sittliches Fühlen, Wollen und Sandeln. Aber der selbstbe­ wußte Charakter darf, wie bereits oben erklärt ist, nicht bei dem bloßen unbewußten, rein mechanischen und gewohnheitsmäßigen Sandeln stehen bleiben, sondern muß vielmehr die unbewußte sittliche Gewohnheit zur klarbewußten Überzeugung erheben. Die unbewußte Gewöhnung der Kinder an das Gute und Schöne, mit der sich gleichzeitig der Abscheu gegen das Schlechte und Süßliche verbündet, ist der erste, treffliche und notwendige Anfang der Charakterbildung, aber erst der Erwerb klarster Einsicht in den Wert des Sittengesetzes und das zielvoll bewußte praktische Sandeln auf Grund dieser unerschütterlichen Überzeugung

86

Die Bildung des Charakters und Gemütes

vollendet sie. So müssen denn die Erwachsenen im Lause, besonders aber der Unterricht in Schule und Kirche dem Zögling zu dieser be­ wußten Einsicht verhelfen. Auch die Eltern sollen es nicht verschmähen, mit den Kindern häufig über sittliche Grundsätze zu reden; sie sollen ihnen zumal die Gesichtspunkte, nach denen sie selbst ihr Leben sittlich gestalten, klarlegen und die Irrtümer des Kindes zu verbessern suchen. Gleichwohl kann das immer nur gelegentlich und bruchstücksweise ge­ schehen; den eigentlichen Zusammenhang der sittlichen Lehren und ihre ursächliche Begründung zu geben, ist vor allem die Aufgabe des systematischen und methodischen Anterrichts. Lier tritt es deutlich zu Tage, daß die Schule nicht bloß für die Entwicklung des theoretischen Verstandes, sondern ebenso sehr auch für die Bildung des bewußten sittlichen Charakters die unentbehrliche Ergänzung und Lülfsanstalt der Familienerziehung bildet. Diese letztere wirkt mehr durch Beispiel und Vorbild unbewußt auf das Gefühl; jene dagegen durch kunstvoll gruppierte, klar erfaßte Vorstellungsreihen auf das bewußte Denken. Beides ist gleich wichtig und unentbehrlich, denn der Verstand ohne den Arquell des Gefühls ist ebenso nüchtern und unfruchtbar, als das Gefühl ohne die Leuchte des Verstandes leicht auf phantastische Irr­ wege gerät. Der Anterricht unterstützt die Charakterbildung besonders in vier­ facher Linsicht. Er befreit erstens vom Irrtum, der Quelle alles Aber­ glaubens und Wahnhandelns. Auch im sittlichen Sinne kann richtig nur handeln, wer die Dinge der Welt richtig erkennt und beurteilt. Wahre Erkenntnis und richtiges Arteil zu schaffen, ist aber die Auf­ gabe des Anterrichts. Er lehrt zweitens die Mittel kennen, durch welche der Mensch seinen Zweck erreicht. Auch die sittlichen Zwecke sind ohne die genaue Kenntnis der natürlichen Mittel und ihrer prak­ tischen Anwendung nicht zu verwirklichen. Drittens erhebt er den Menschen über das Gewöhnliche und Alltägliche. Indem er aus allen Gebieten nur das Beste und Schönste wählt, führt er den Zögling in die Welt des Ideals ein und schafft in seinem Geiste eine Fülle erhabener Vorstellungen, die veredelnd auf das Fühlen, Denken und Wollen einwirken, dem Menschen Geschmack für alles Treffliche einsiößen und ihn umsomehr vom Gemeinen zurückhalten. Es tritt aber noch ein viertes hinzu. Wenn bei einem nicht in solcher Weise unter­ richteten, ungebildeten Menschen einmal die äußeren Stützen des Lebens zusammenbrechen; wenn er verarmt oder die Not des Daseins ihn in irgend einer andern Form überfällt, so sinkt er damit fast immer auch

Die Bildung des Charakters und Gemütes

87

innerlich an Geist, Willen und Gemüt haltlos zusammen und verfällt der Verzweiflung selbst bis zum Wahnsinn und Selbstmord. Wer dagegen eine reiche Geisteswelt sein eigen nennt, findet in ihren Gedankenreihen kräftige Bausteine, Pfeiler und Säulen, die Verstand und Willen mächtig stützen, wenn auch alle äußeren Lebensverhältnifse krachen und

wanken. Ihrem reichen Schatze kann er stets neue Pläne und Ziele und die Mittel, sie zu verwirklichen, entnehmen. Sein Mut bleibt ungebrochen, und von neuem richtet er sich auf, wenn er auch gebeugt

oder zu Boden geschleudert war.

Nach dem Kampfe mit den widrigen

Geschicken der Außenwelt siüchtet er sich in sein Inneres, trinkt aus den idealen Quellen der Werke großer Geister und verschafft sich bei aller äußerer Entbehrung eine Lust, die, tausendmal süßer als jeder sinnliche Genuß, ihn die äußere Not leicht ertragen, ja vergeffen macht und ihm bald wieder starke Schwingen zu frischem Fluge wachsen läßt. Hierin liegt auch der hohe Segen echter Religiosität und eines, vor allem auf praktische Betätigung der Sittlichkeit und Menschen­

liebe abzielenden, guten Religionsunterrichtes, daß sie den Menschen innerlich ideal erheben und dadurch vor Verzweiflung schützen. Aber nicht bloß die Charakterbildung hat der erziehende Unter­

richt zu begünstigen; er hat auch mit begeisterter Eingebung die Interessen des Gemütes zu pflegen. Ich will jetzt nicht davon reden, wie diese Forderung auch durch die Methode des Unterrichts zu er­ füllen ist, sondern hier auf die Kunst Hinweisen als den Anterrichts-

gegenstand, der am tiefsten von allen auf die Entwicklung des Gemütes einzuwirken berufen ist. Wie die Kunst ihren Arsprung im Gefühl hat, so ist sie auch das Mittel, durch welches die tiefste und mächtigste Wirkung auf das Gefühl hervorgerufen wird. Die Kunst ist daher einer der mächtigsten Hebel echter Herzensbildung und die „ästhetische

Erziehung des Menschen" eine der höchsten Aufgaben der Pädagogik. Wahre Kunst hat die nächste Beziehung zur Sittlichkeit; sie ist keusch und unschuldig wie diese. zum

Guten.

In ihrer

Das wahrhaft Schöne ist die Vorstufe „interesselosen, reinen Betrachtung" der

Dinge entzückt und begeistert sie uns, erhebt uns über die selbstsüchtigen Regungen unseres kleinlichen Ichs in die höchsten Sphären der selbst­ vergessenen Anschauung, in der alles ideallos Gemeine verschwindet, und wir im Innersten gereinigt, geläutert und verwandelt werden. Indem sie in uns die Liebe für alles Schöne und Herrliche entzündet, erweckt sie zugleich den Abscheu gegen alles Häßliche und Gemeine.

So bringt sie uns durch das ästhetisch Reine auch der sittlichen Rein-

88

Die Bildung des Charakters und Gemütes

heil nahe, und die Anbetung des Schönen führt zum Gottesdienst des Guten. So ist sie in ihrer Wirkung der Religion verwandt, welche ebenfalls in der Bildung des Gemütes eine ihrer höchsten Aufgaben findet, daher sich auch im Kultus die Religion vielfach mit

der Kunst verbündet, um mit ihrer Silfe eine desto tiefere Einwirkung auf das menschliche Gemüt zu erzielen. Also darf die Erziehung sich der Kunst nicht entfremden, sondern muß in ihr die hehre Freundin erblicken, deren erhabene Anmut selbst die rohesten Gemüter bezaubert und bändigt, sie für den Ernst des Sittengesetzes empfänglich macht, indem sie seine strengen Befehle in die lieblichsten Formen kleidet,

und so den Menschen spielend leicht und doch sicher und fest zu den himmlischen Höhen der sittlichen Wahrheit emporleitet. Mit richtigem Verständnis ihres Wertes sollte daher die Schule die Kunst auf einen

hohen Thron setzen und ihr wie einer Königin huldigen. Zu welcher Armseligkeit würde der Anterricht veröden, wenn nicht Dichter gelesen und gelernt, Bildwerke angeschaut und gezeichnet, Musik gehört und geübt würde?

Starr und steif einfrierend, würde die Phantasie

zeugungsunfähig werden, und auf allen geistigen Gebieten Anfrucht­ barkeit eintreten, denn ausnahmslos alle, selbst Mathematik und Logik, bedürfen der Einbildungskraft, wenn auch nur das geringste Reue geschaffen werden soll. Serz und Gemüt aber würden alles süßen

Trostes und jeder schmeichelnden Erquickung nach bitterer Erdenmühe beraubt, wenn nicht die weichen Wellen des Schönen von Zeit zu Zeit leis und linde über sie hinwogten und jihnen den Straßen­ staub des Alltagslebens abspülten. Gerade deshalb genügt es aber

nicht, daß nur in wenigen Schulstunden die Kunst gepflegt werde, sie

sollte vielmehr auch und erst recht zum täglichen Gottesdienste im Saufe der Charakter- und Gemütsbildung gehören. Wo sich in den Kindern nur eine Spur von Talent zu irgend einer künstlerischen Tätigkeit zeigt, da sollten die Eltern sich bemühen, den schwachen Funken zur Hellen Flamme anzublasen. Richt als ob wir aus allen

unsern Kindern Künstler machen sollten! Das verbietet sich von selbst, denn die wenigsten haben hinreichende Anlagen dazu. Aber den Sinn für das, sei es nun dichterisch oder bildnerisch oder musikalisch Schöne sollte man in allen im Interesse ihrer Menschlichkeit zu erwecken und zu pflegen suchen, denn abgesehen davon, daß wir durch die Be­ schäftigung mit der Kunst unsre Kinder über die Langeweile mancher

Stunde hinwegheben und sie von manchen Torheiten abziehen, glaube ich, daß man einen Menschen, der für gar keine Kunsteinwirkung

Die Bildung bei Charakters und Gemütes

89

irgend welcher Art empfänglich ist, wenn es einen solchen gibt, im Verdacht haben darf, der gefühlskälteste, gemütsroheste und allem

Schlechten widerstandslos hingegebene Bösewicht zu sein, oder wenig­ stens die Anlage in sich zu tragen, es zu werden. Äußere, pädagogisch günstige, häusliche Verhältnisse, legen un­ bewußt im Kinde den Grund zur Charakter- und Gemütsbildung;

durch den Anterricht erlangt der Zögling selbst das klare Bewußtsein über Inhalt und Zwecke des sittlichen Willens. Aber in Wahrheit kann kein Mensch von außen zum Charakter gemacht werden; er muß

sich innerlich selbst dazu machen durch den festen Entschluß, im Sinne des Sittengesetzes zu handeln, und durch die stetige praktische Aus­ führung desselben. So muß auch der Zögling selbständig aus eigner Einsicht den festen Vorsatz fassen, charaktervoll zu handeln und nicht

bloß bei der guten Absicht stehen bleiben, sondern ihn immerfort und ausnahmslos zur Tat erheben. Zu dieser Entschließung kann der junge Mensch wohl durch den Erzieher angeregt werden; sie fassen und in Taten umsetzen kann aber nur er selbst. Diese Entschließung ist der erste innere Vorgang, als zweiter tritt hinzu die fortgesetzte innere Selbstprüfung, ob man auch wirklich seinem Vorsatze getreu handle und wandle.

Auch zu dieser Selbstkritik kann der Zögling

angeregt werden; sie wahrhaftig und gewissenhaft zur Ausführung bringen kann wiederum nur er selbst. Die erfolgreiche Selbstprüfung erfordert nämlich diese beiden: Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit. Die meisten entschließen sich wohl zur Selbstprüfung, aber Wahr­

haftigkeit fehlt ihnen dabei. Sie besteht in dem rücksichtslos richtigen und schonungslos richtenden Arteil, das wir über unser Tun und Lassen und unser inneres Wesen im Denken und Wollen fällen. Merkwürdig, wie gern der Mensch aus Selbstsucht nicht bloß andre, sondern aus Eitelkeit noch mehr sich selbst belügt! Er sieht bei andern zwar das Böse, das sie gedacht und getan haben, mit dem Scharf­ blick eines Falken; gegen sich selbst hat er aber nur das geblendete

Auge der Eule, und weiß all sein Tun und Lassen zu entschuldigen und zu beschönigen. Nichts gibt es, was die Erziehung ernster und

strenger im Kinde bekämpfen muß, als die Lüge, denn sie, zur Ge­

wohnheit geworden, verdreht nicht bloß jedes Arteil, daß man keinem

Worte mehr trauen darf, sondern mißleitet auch unausgesetzt den Willen, daß man sich auf keine Handlung mehr verlassen kann. So ist der gewohnheitsmäßige Lügner theoretisch wie praktisch ein Falsch­

münzer.

Viele Kinder haben einen unbegreiflichen Hang zum Lügen

90

Die Bildung des Charakters und Gemütes

und damit die Anlage zum Schwindler und Lochstapler in spe, wie ihn, seine Entwicklung und endliches Schicksal Ibsen in seinem „Peer Gynt" mit harten Farben gemalt hat. Andre Kinder lügen zunächst nur aus Notwehr. Sie sind z. B. wiederholt faul gewesen, haben schlechte Arbeiten geliefert, ihr eignes Ehrgefühl ist verletzt, sie möchten sich rechtfertigen und wieder groß und angesehen dastehen, wie früher; sie suchen nach Entschuldigungen und da sie den wahren Grund ver­ bergen müssen, so erdichten sie eine vorgebliche Arsache nach der andern. Aber das ist die logische Notwendigkeit in der Entwicklung der Lüge, daß jede neue Lüge zwanzig andre Lilsslügen bedarf, um sich einiger­ maßen glaubhaft zu machen, und daß dadurch endlich die Anwahr­ scheinlichkeit so ungeheuerlich wächst, daß ihre Anmöglichkeit der Wirk­ lichkeit gegenüber endlich dem blödesten Auge einleuchtet. Das erkennt auch der Lügner, und nun greift er in seiner Verzweiflung zu Land­ lungen, um seinen Worten den Schein der Wahrheit zu verleihen: er fälscht z. B. Arkunden und Waren, erregt Feindschaften, steckt Läufer in Brand u. dgl. m. Darum darf der Erzieher der Lüge keine Gnade gewähren; ihr gegenüber muß er erbarmungslos strafen; sie ist das Gift des Charakters und Gemütes und muß mit Messer, Brenneisen und Gegengiften ausgetrieben werden, wo sie sich zeigt. Je schärfer man sie sogleich beim ersten Auftreten bekämpft, um so größer die Loffnung, sie ausrotten zu können. Wo sie schon wuchert, wird man des Ankrauts kaum noch Lerr, und die beste Saat wird von ihm erstickt. Wahrhaftig zu sein und ohne Scheu, wenn auch mit Erbeben, in den Spiegel des „Erkenne dich selbst" hineinzu­ schauen, das muß also der Erzieher im Interesse der Charakterbildung am eifrigsten lehren und der Zögling am gründlichsten lernen. Er muß einsehen und es sich zur festen Äberzeugung erheben, daß die

Wahrheit zuletzt immer einen Erfolg, die Lüge schließlich immer einen Mißerfolg davonträgt. Ein guter Schüler kam eines Morgens statt um acht Ahr erst um neun in die Schule. Leimlich wollte er sich in die Klasse schleichen, aber auf der Treppe begegnete ihm der Rektor, bei dem er die versäumte Stunde gehabt hätte. „Wo kommen wir her?" fragte dieser. Einen Augenblick durchschoß den Jüngling die Versuchung, sich durch eine Lüge vor der Strafe zu schützen. Aber dann errötend und sich vor sich selber schämend, platzte er doch mit der Wahrheit heraus: „Ich habe die Zeit verschlafen." — „Für heute geschenkt, aber nicht zum zweiten Mal vorkommen," erwiderte der Rektor in seiner lakonischen Art und ging davon. Das war auch

Die Bildung des Charakters und Gemütes

91

ein Wendepunkt in dem Leben dieses Jünglings: er hatte, wenn auch nur in einem geringfügigen Falle, den Erfolg der Wahrheit gesehen: es war ihm Verzeihung zu teil geworden; seinem Lehrer war er herzlich dankbar und faßte eine innige Liebe zu ihm. Oft erinnerte er sich in Augenblicken, wo die Versuchung, einen Fehltritt durch eine Ausflucht zu beschönigen, an ihn herantrat, dieser Morgenstunde und sprach und handelte von da an — Wahrheit. Lügen ist ein Zeichen von Feigheit und Schwäche zugleich. Ein junger Mann, dem ich Vorwürfe wegen seiner Antätigkeit machte, antwortete mir: „Das ist einmal ein Mangel meines Wesens, ein Fehler in meiner Natur, gegen den ich nichts tun kann; es liegt in meinem Charakter." — „So ändern Sie Ihren Charakter, und überwinden Sie den Fehler Ihrer Natur!" erwiderte ich ihm. Wer sich selbst damit belügt, daß er Willensschwäche für sein natürliches Recht hält, wird allerdings nie zum charaktervollen Äandeln gelangen. Zur Wahrhaftigkeit muß aber zweitens noch die Gewissenhaftig­ keit treten. Wahrhaftig sind manche gegen sich, mit Grauen erblicken sie die finstern Abgründe ihrer Seele und geraten darüber in tränen­ reiche Verzweiflung; reuig und zerknirscht beschließen sie, sich zu bessern, aber es bleibt bei dem Vorsatze. Es fehlt ihnen die Gewissenhaftig­ keit, die auf Grund des richtig Erkannten die gefaßten Entschlüsse mit festem Willen auch gegen die eigne Neigung pflichtgemäß zur Ausführung bringt. Wahrhaftigkeit ist nur erst theoretische Erkenntnis, Gewissenhaftigkeit ist praktische Wandlung; jene muß zwar vorangehen, aber diese ist erst die Feuerprobe des Charakters, und erst dem ge­ wissenhaften Zögling können wir das Vertrauen schenken, daß nicht bloß wir, sondern nunmehr auch er selbst an seiner Charakterbildung arbeitet. Die wahrhaftige und gewissenhafte Selbstprüfung, durch welche der bloß unbewußt und gewohnheitsmäßig auf das Sittliche gerichtete Wille zum vollbewußten, sittlich handelnden (der heteronome oder ob­ jektive zum autonomen oder subjektiven) Charakter wird, braucht nicht zu bestimmten Zeiten, etwa jeden Abend oder am Ende jeder Woche, angestellt zu werden. Wird die Selbstprüfung zu einer Gewohnheit, wie die alltäglichen Wandlungen, so sinkt sie selbst leicht zu einer ge­ wöhnlichen Alltagshandlung herab, die sich dann nicht mit Ernst und Tiefe vollzieht und keine Spuren hinterläßt. Sie soll auch nicht wie eine Schulaufgabe befohlen werden, wie es bei den Iesuitenzöglingen der Fall ist. Denn dann wird sie entweder widerwillig und un-

92

Die Bildung des Charakters und Gemütes

gründlich vorgenommen, oder der Zögling dichtet sich in spitzfindiger Klügelei und mit dem bloßen Scheine der Zerknirschung zumal Ge­ dankensünden an, über welche er die vorgegebene tiefe Reue gar nicht

empfindet, und die er nur ersinnt und heuchelt, um sich bei seinen Oberen in ein vorteilhaftes Licht zu setzen. Die richtige Stunde zur erfolgreichen Selbstprüfung kommt bei jedem oft genug und ungesucht von selbst, wenn er ein Anrecht begangen hat und die Lohe der Scham ihm darüber ins Antlitz schlägt. Stellt er in diesen Augenblicken, entsetzt über sich selbst und im Innersten erschüttert, die Selbstprüfung

an, dann wird sie zum Wendepunkt in seinem Leben und aus der inneren Einkehr folgt dann auch Abkehr und Äinkehr, jene vom Bösen, diese zum Guten.

Die Charakter- und Gemütsbildung vollzieht sich nicht in wenigen kurzen Jahren und findet ihren Abschluß nicht mit dem Ende der Schulzeit. Sie ist die schwerste Aufgabe, die dem Menschen gestellt werden kann, und die in vollendeter Weise auch von dem Erwachsenen

nicht gelöst wird. Keiner gelangt zur sittlichen Vollkommenheit; wir müssen zufrieden sein, wenn wir uns wenigstens auf dem Wege be­ finden.

Es ist kein leichter Pfad.

Immer wieder straucheln wir,

immer wieder steigen in uns Begierden und Leidenschaften mit dämo­ nischer Gewalt auf, immer wieder müssen wir in uns selbst den Kampf

mit uns selbst aufnehmen. Nicht bloß dem Kinde und dem Zögling, sondern auch und erst recht dem Erwachsenen ist also immerfort die Pflicht der Arbeit am Charakter aufgegeben.

Sogenannten „schönen

Seelen," die ohne Mühe und heißen Kampf mit sich vorbildliche Charaktere geworden sein sollen, traue ich nicht. Sie sind Treibhaus­

pflanzen, die so lange gedeihen, als das Glasdach sie schützt, die aber widerstandslos zusammenbrechen, sobald der rauhe Nordwind des Lebens sie packt und schüttelt. Nur wer mit seinen Begierden und

Leidenschaften und mit den Versuchungen der Welt heiß rang und sie besiegte, hat damit den Beweis seiner innern sittlichen Kraft ge­ liefert. And gleichwohl darf auch er nicht einen Augenblick sich in

selbstgefällige Sicherheit einwiegen, sondern stetig auf der Wacht seiner selbst und der Welt sein.

Alle großen Männer und Frauen, die

durch echte Tugend vorbildlich geworden sind, waren es nicht ohne weiteres und von Natur, sondern durch harten Kampf erst haben sie den Sieg davongetragen. „Es bildet ein Talent sich in der Stille,

doch ein Charaker sich im Strom der Welt."

Die Erkenntnis aber,

daß auch wir weit entfernt vom hohen Ziele und niemals vollendet

Die Bildung des Charakters und Gemütes

93

zuverlässig sind, muß uns milde gegen unsre Kinder und ihre Ver­ gehen stimmen, und uns dazu führen, daß wir den Stab unsrer not­ wendigen Strenge in die weiche Land jener echten sittlichen Liebe legen, von deren Geist alle erzieherische Tätigkeit durchdrungen, über­ wacht und geleitet werden soll. Niemals aber vergesse man in der Erziehung, daß tausendmal mehr als alle gelehrten Kenntnisse und

alle künstlerischen Fertigkeiten die lautere sittliche Gesinnung und das liebevolle Gemüt wert ist. Es steht nicht geschrieben: Selig sind die Wissenden! — auch nicht: Selig sind die Könnenden! — sondern einzig und allein: Selig sind, die reines Äerzens sind!

5

Über geschlechtliche Sittlichkeit Ein Vortrag, der Studentenschaft der K. Technischen Hochschule zu Dresden gehalten am 12. Mai 1897 und allen Deutschen Studenten gewidmet?

eine Herren Kommilitonen! Es wird Ihnen bekannt geworden sein, daß in letzterer Zeit an verschiedenen Universitäten, z. B. in Breslau, Studentenversammlungen zu dem Zwecke abgehalten worden sind, die akademische Jugend auf gewisse sittliche Gefahren, die ihr drohen, hinzuweisen und sie davor zu warnen. Als von feiten des hiesigen Vereins zur Hebung der Sittlichkeit die Aufforderung an mich gelangte, an unserer technischen Kochschule eine ähnliche Versammlung zu veran­

stalten, erklärte ich mich in dem Bewußtsein, einer ernsten sittlichen Psiicht damit zu genügen, gern dazu bereit, und die sympathische Zustimmung, welche mir von Rektor und Senat entgegengebracht wurde, bewies mir, daß unsere leitenden Organe meine Gefühle teilten

und billigten. Wenn ich, meine Herren, heute vor Ihnen insbesondere über die

geschlechtliche Sittlichkeit sprechen werde, so handelt es sich hier keines­ wegs um eine Bevormundung oder eine Beeinträchtigung Ihrer per­ sönlichen und akademischen Freiheit oder um irgend welchen Zwang. Es muß jedem selbst überlassen bleiben, ob er das Sittengesetz in seinen Willen aufnimmt oder nicht, denn eine erzwungene Sittlichkeit

hat keinen Wert. Ich will hier auch keine Anklage weder gegen den Einzelnen noch gegen die Gesamtheit erheben, sondern der Sprüche eingedenk bleiben: 1 Dieser Vortrag ist zuerst im Verlage von 55. G. Wallmann in Leip­ zig (1898 in 3. Ausl.) erschienen und dort für sich zu beziehen (Preis 30 Pf.) Der Vortrag ist auch von 55. I. Nordin ins Schwedische übersetzt unter dem Sitel: Om sexuell sedlighet. Föredrag für unga man. Stockholm. Hälsovännens förlag, 1900.

Über geschlechtliche Sittlichkeit

95

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!" und: „Wer sich frei von Schuld fühlet, hebe den ersten Stein auf!" Es soll hier

vielmehr der Grundsatz des alten römischen Rechtes gelten: Quisque praesumitur bonus, donec probetur contrarium, ein jeder wird so lange für gut gehalten, als nicht das Gegenteil bewiesen ist, nur daß

ich den Spruch dahin abändere: quisque praesumitur purus, donec

probetur contrarium, ein jeder soll so lange für rein gehalten werden, als nicht das Gegenteil bewiesen ist — und so will ich mir denn vor­ stellen, daß ich hier vor lauter reinen Jünglingen rede. Wozu dann

überhaupt reden? werden Sie mir einwenden. Weil auch der Reine fallen kann, der bereits Gefallene aber durch meine Worte vielleicht gewarnt und vor neuem Falle in Zukunft bewahrt wird. Wir leben in einem Zeitalter des ethischen Materialismus. Wo ist der strenge sittliche Ernst eines Kant und eines Fichte geblieben? Wer, selbst unter den Gebildeten, denkt heute noch an den kategorischen

Imperativ, von dem man doch sagt, daß die Freiheitskämpfer von 1813 ihn auf ihre Fahnen geschrieben hätten? Ja, wer selbst die uns näher liegende große Zeit von 1870—71 mit Bewußtsein erlebt hat, den müssen heute viele Zeichen des seitdem eingetretenen offen­ baren Verfalls in unserem Volke mit banger Besorgnis erfüllen.

Unsere Großväter und Urgroßväter haben uns durch drei beneidens­ werte Eigenschaften auf die Äöhe geführt, auf welcher wir Deutsche heute stehen. Sie legten erstens ein großes Gewicht auf eine reiche

allgemeine Bildung, welche Ideale anerkennt und zu verwirklichen strebt. Sie waren zweitens ausgeprägte Sondernaturen, welche das Recht der freien individuellen Entwicklung für sich in Anspruch nahmen, und deren Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit auch Ursprüngliches und Ur­

wüchsiges hervorbrachte. Und endlich drittens suchten und fanden sie den wahren Wert des Menschen in der Festigkeit seines sittlichen

Charakters, dessen Reinheit zu besiecken für die größte und unaus­ Durch diese drei Eigenschaften unserer Vor­

löschliche Schande galt.

väter sind wir Deutsche heute zwar äußerlich größer geworden, aber es will mich manchmal bedünken, als ob wir bereits auf dem besten Wege- wären, innerlich kleiner zu werden. An Stelle der reichen allgemeinen Bildung tritt immer mehr das fachmännische Spezialisten­ tum

mit seinen

kleinen und

egoistischen Gesichtspunkten.

Unifor­

mierung und Schablonisierung verhindern immer mehr das Zustande­

kommen ausgeprägter, starker Individualitäten: es gibt heute wenig Menschen, welche ihren eigenen Weg zu gehen wagen.. Und endlich

Über geschlechtliche Sittlichkeit

96

sittliche Charakerlosigkeit, aus körperlicher Veranlagung und aus Ver­ erbung erklärt und entschuldigt, gilt kaum noch für eine Schande, wenn

nur Geld dabei

verdient wird.

Volk

Ein

groß, wenn es sich die Eigenschaften

aber bleibt nur dann

erhält, durch welche es groß

And so müssen wir uns denn, sofern wir sie verloren

geworden ist.

haben, die Eigenschaften unserer Vorväter zurückerobern, jene reiche

allgemeine Bildung, jene Freiheit der individuellen Entwicklung, vor allem aber jenen festen sittlichen Charaker, denn dieser ist der Größte unter ihnen.1 Das

xayäaaetv,

Wort d.

h.

Charakter

kommt

einprägen,

von

dem

griechischen

Charakter

einmeißeln.

Zeitwort

also

bezeichnet

etwas, das uns unverlierbar tief eingeprägt und eingemeißelt ist, oder, um es ohne Bild zu sagen: unter Charakter verstehen wir den Willen,

der unentwegt stets dasselbe Ziel verfolgt, der unter allen Amständen Das gilt offenbar auch von

derselbe und mit sich identische bleibt.

dem bösen Charakter, aber es ist klar, daß es sich hier um den guten Charakter handelt, d. h. um den, der das Sittengesetz in seinen Willen

ausgenommen hat und sich ihm aus freier Entschließung voll und ganz unterwirft.

Ein solcher Charakter offenbart sich aber nicht in bloßen

Worten und Redensarten, sondern nur in wirklichen Taten. Aber, meine Äerren, der Charakter ist nur die Äälfte des Ganzen, die andere Äälfte heißt

das

Gemüt.

Wir müssen oftmals

einen

Mann achten wegen seines starken sittlichen Charakters, aber lieben

können wir ihn nicht, denn er ist hart und streng, wie gegen sich, so gegen andere; es fehlt ihm etwas, es fehlt ihm das weiche, mit­

fühlende Äerz, es fehlt ihm eben das, was wir Gemüt nennen.

Anter

Gemüt verstehen wir die Fähigkeit, aus seinen eigenen Interessen

ganz und gar heraustreten zu können, sich in die Interessen anderer

ohne jede selbstsüchtige Regung voll

und ganz hineinversetzen,

an

ihren Leiden und Freuden mit ganzer Seele teilnehmen zu können. Das Gemüt ist die selbstsuchtlose Äingebung an andere, das nicht

subjektiv-egoistische,

sondern

wahrhaft

objektive Interesse

an

den

Menschen und Dingen, und dies Gemüt ist der warme Sonnenschein, der sich auf die rauhen Felsen des Charatters legt und sie mit lieb­

lichem

Pflanzenwuchs

umkleidet.

Einen

Charakter

ohne

Gemüt

erziehen, heißt einen Starrkopf, ein versteinertes Kerze bilden;

ein

Gemüt ohne Charakter erziehen, heißt einen Schwächling, ein geistiges

1 Vergl. hierzu des Verfassers bereits erwähntes Werk „Deutsche Er­ ziehung" (Leipzig, jetzt Verlag Äermes, Berlin) 1. Kapitel.

Über geschlechtliche Sittlichkeit

97

Weichtier erzeugen — Charakter und Gemüt, beide zusammen, machen erst den zugleich Willensstärken und warmherzigen, d. h. den wahrhaft

achtungswerten und liebenswürdigen Menschen. And nun, meine Äerren, das ist eben die Signatur unserer Zeit, daß den sog. modernen Menschen Charakter und Gemüt in hohem

Grade fehlen! Charakter- und Gemütlosigkeit ist der Krebsschaden, der das Seelenmark des Menschen von heute in erschreckender Weise zu zerfressen droht!

Diese Charakter- und Gemütlosigkeit zeigt sich in dem leichtfertigen Genußleben, dem die Mehrzahl nachjagt; in der schamlosen Ausbeutung der Nebenmenschen, wie sie heute von so vielen rücksichtslos betrieben wird; in der Verhöhnung der sittlichen Be­

griffe, besonders durch die Modeliteratur, die das Gewissen als ein „absterbendes Phaenomen" hinstellt, geschlechtliche Dinge mit Vor­ liebe in lüsterner Weise behandelt und Lüsternheit zu erwecken sucht, die Ehe mit ihren festgezogenen sittlichen Grenzen als ein zu über­ windendes Vorurteil schmäht und verdächtigt und an ihrer Stelle die „freie Liebe," d. h. ein von jedem objektiven Sittengesetz losgelöstes und dem subjettiven Belieben des Einzelnen anheimgestelltes Geschlechts­ verhältnis als das Ideal der Zukunft preist. Gerade diese Laxheit und Lockerheit, der Anschauungen auf geschlechtlichem Gebiete beweist am deutlichsten, daß wir uns im Zustande eines tiefen sittlichen Nieder­

ganges befinden? Der geschlechtliche Niedergang eines Volkes be­ deutet aber den Verfall eines Volkes schlechthin. Denn der Ge-

schlechtsttieb ist der wichtigste menschliche Grundtrieb überhaupt; aus ihm geht alles organische wie geistige Leben hervor; ist er gesund, so ist Körper und Geist gesund; verwildert er aber und wird er ver­

giftet, so erkranken Körper und Geist im innersten Keim; und trifft diese Verwilderung gar den ganzen Volkskörper und Volksgeist, so geht daran sicherlich, wie die Geschichte es oft genug gelehrt hat, das ganze Volk zugrunde. Dieser Gefahr einer geschlechtlichen

Verwilderung sind wir aber nahe gerückt; überall treten Anzeichen

davon hervor, nicht bloß in der Literatur und Kunst, sondern im Leben und Treiben der Gesellschaft wie der Einzelnen, und nicht 1 Vergl. hierzu des Verfassers Werk „Deutsche Erziehung" (Berlin, Verlag Äermes) 10. Kapitel: Die Bildung des Charatters und Gemütes. ’ Vergl. hierzu des Verfassers Werk „Der Zeitgeist in Deutschland, seine Wandlungen im 19. und seine mutmaßliche Gestaltung im 20. Jahrhundert" (Leipzig, jetzt Berlin, Verlag Kermes.) 4. Kapitel: Pessimismus und ethischer Materialismus. Schultze, Credo und Spera

98

Über geschlechtliche Sittlichkeit

am wenigsten unserer Jugend, die

akademische leider nicht ausge­

nommen ! Ein Symptom dafür ist z. B. die Ansicherheit des Weibes, zumal des jungen Mädchens in unserer Öffentlichkeit. Es ist einem anständigen Mädchen kaum möglich, besonders gegen Abend, allein

und unbeschützt durch die belebten Straßen einer Großstadt zu gehen. Ohne daß sie den geringsten Anlaß gegeben hätte, heften sich an ihre

Sohlen die Schritte eines Verfolgers, der nach wenigen Minuten an ihrer Seite ist und ihr ohne weiteres schamlose Anträge macht. Der junge Wüstling, der sich solche Frechheit herausnimmt, bedenkt nicht, welch eine zerstörende Wirkung er auf das Gemüt des jungen Mädchens ausübt, wie sie, im Innersten empört und beleidigt über die ihr an­

getane Schmach, zu Kaufe in Tränen ausbricht, welche bittere Ver­ achtung sie in ihrem Kerzen gegen einen solchen heruntergekommenen, alles sittlichen Schamgefühls ledigen Buben empfindet. — Es sollte doch jeder junge Mann in dem Augenblick, wo die Versuchung zu einer solchen wüsten Annäherung in ihm aufsteigt, an seine Schwester denken! Würde er ihr nicht zu Kilfe eilen, wenn er sie in frecher Weise angesprochen sähe? Würde er als Student nicht vielleicht den

Anmaßenden sogar vor seine Klinge fordern?

So bedenke er doch

selber, daß dieses junge Mädchen auch eine Schwester ist, daß ihr in diesem Augenblick nur der Bruder fehlt, um ihr schützend beizuspringen;

daß er mithin als elender Feigling handelt, wenn er die Anbeschützte ehrlos überfällt, die ihm durch keinen Blick und keine Miene das Recht dazu gegeben hat. Möge er doch auch an seine Mutter denken, die auch einmal ein junges Mädchen war! Möge er daran denken,

daß er in Zukunft auch einmal Vater sein und eine Tochter haben wird, die er vor jeder Anbill bewahrt sehen möchte — und möge er aus all diesem den Schluß ziehen, daß seine Absicht, wie erst recht ihre Verwirklichung, den Namen eines elenden Bubenstreiches ver­ dient! Wenn er seine Mutter ehrt und seine Schwester liebt, so wird Scham und Reue in ihm aufsteigen, und er wird in Zukunft

gern bereit sein, in jedem anständigen Weibe auf der Straße eine Mutter zu ehren und eine Schwester zu lieben und sie, wie vor jedem

anderen, so erst recht auch vor sich selber zu schützen. Meine Kerren, wir Westeuropäer, die wir uns rühmen, hochentwickelte Kulturnationen zu sein, sind gewohnt, mit übermütiger Verachtung auf die Völker

Asiens und Kalbasiens herabzublicken und als Christen uns weit über die Muhamedaner zu stellen.

Was sagen Sie aber zu folgender

Über geschlechtliche Sittlichkeit

99

Geschichte, die ich einem Reisebericht aus Konstantinopel entnehme? „Am schnell an unser Ziel zu gelangen, sprangen wir (in Konstanti­ nopel) in einen Pferdebahnwagen und nahmen, weil der Hintere Raum ganz besetzt war, in dem vorderen Platz. Lier befanden sich außer

Erst als der Schaffner mit einer Miene des Entsetzens hereinstürzte und uns dringend aufforderte, dieses Coupv eiligst zu verlassen, wurde uns klar, daß wir in ein bloß für Frauen bestimmtes Gemach geraten waren. Fünf von uns be­ uns noch zwei verschleierte Damen.

gaben sich sogleich in den Vorderraum; damit war derselbe aber auch schon vollgepropft, daß niemand mehr darin stehen konnte. Die beiden anderen mußten wohl oder übel zurückbleiben. Was war zu machen?

Der Schaffner durfte auf keinen Fall die Sitte durchbrechen und es geschehen lassen, daß in seinem Wagen fremde Männer türkische Frauen ansähen und diese der Öffentlichkeit preisgegeben würden. Er wußte auch schnell Rat. Ehe wir es uns versahen, kam er mit einem großen Teppich an und hielt denselben während der ganzen noch übrigen Fahrt mit weit ausgespannten Armen zwischen uns und den beiden Frauen, indem er selbst sich auf unsere Seite hinter den Teppich postierte." Der Berichterstatter fügt mit Recht hinzu: „Die

Szene nahm sich höchst komisch aus, gibt aber zu manchen beschämen­

den Betrachtungen Anlaß, wenn man bedenkt, wie bei uns das weibliche Geschlecht in öffentlichen Wagen oft den schamlosesten Reden und Zudringlichkeiten von feiten der Männer ausgesetzt ist"1 Man mag über die soziale Stellung des Weibes im Orient denken, wie man will, jedenfalls offenbart sich in dieser Handlung des türkischen

Schaffners ein Zartgefühl, das man bei uns mit der Laterne suchen kann.

Ein zweites weit schlimmeres Symptom der geschlechtlichen Ver­ wilderung ist der unter unserer männlichen Jugend immer mehr um

sich greifende Donjuanismus. Er besteht darin, daß junge Männer planmäßig und absichtlich auf die Verführung junger Mädchen aus­ gehen. Mir ist ein Fall dieser Art bekannt geworden, der sich erst vor kurzem zugetragen hat. Ein junges 17 jähriges Mädchen, das in einem Geschäfte tätig ist, läßt sich durch eine Kollegin verleiten,

zum erstenmal in ihrem Leben einen Tanzsaal zu besuchen. Ein junger Mann erkennt in ihr sogleich den Neuling, macht sich an sie heran und besticht sie durch seine Liebenswürdigkeit. Er gibt ihr 1 E. Ninck, „Auf biblischen Pfaden. Reisebilder aus Ägypten, Palästina, Syrien, Kleinasien, Griechenland und der Türkei," 5. Auflage. Dresden 1897. S. 378 f.

T

100

Über geschlechtliche Sittlichkeit

Wein zu trinken; sie wird berauscht, und in diesem Zustande der Unzurechnungsfähigkeit nimmt er sie mit in seine Wohnung und miß­ braucht sie. Als sich nach einigen Monaten die Folgen einstellen und sie ihrem Verführer händeringend seine Schuld vorwirft, da lacht er sie aus: „sie sei die erste nicht, er habe denselben Streich schon öfters gespielt, warum sei sie so dumm gewesen", und überläßt sie ihrer Ver­ zweiflung. — Meine Lerren, wenn ich jetzt aus Ihrer Mitte einen Gerichtshof bildete, ich glaube. Sie würden das Arteil bestätigen, das ich im Namen der Menschlichkeit an dieser Stelle fällen möchte: Eine solche Bestie in Menschengestalt wäre wert, daß man sie ihrer Mann­ heit beraubte, um in Zukunft unschuldige Opfer vor ihrer Gier sicher zu stellen! Ist in einem solchen Teufel auch nur noch eine Spur von sittlichem Gewissen? Lat denn der Schändliche, der mit erregtem Blute, aber eiskaltem Lerzen Glück und Ehre eines jungen Wesens in wenig Minuten dahinschlachtet, gar keine Ahnung von dem Jammer und Elend, welches er über sein Opfer bringt? Er geht frei davon, und sie hat die Folgen zu tragen. Überlegt er sich gar nicht, daß er

in dem Taumel eines Augenblicks ein blühendes Leben für immer zerknickt und vernichtet? Die Arme glaubt seinen schmeichlerischen Schwüren und seiner geheuchelten Zärtlichkeit; sie hält für Liebe, was in Wahrheit nur viehische Brunst ist; und wenn sie endlich aus ihrem Traum erwacht, und seines Betruges und ihrer entsetzlichen Selbst­ täuschung inne wird, so hat er noch die Stirn, die zu verhöhnen, welche er in einen Abgrund von Seelenqualen, Schmach und Sorgen gestoßen hat. — Was soll man von einem Studenten sagen, der sich seiner Heldentaten rühmte, nämlich im letzten Winter auf der Eisbahn fünf junge Mädchen verführt zu haben? Verdient ein solcher noch den Ehrennamen eines akademischen Bürgers? And kann eine Ver­ bindung, die auf die Fleckenlosigkeit ihres Schildes hält, einen solchen ehrlosen Buben unter sich dulden, geschweige ihn bewundern oder gar ihm nacheifern? Die Völkerkunde erzählt uns von gewissen wilden Stämmen und ihren Anzuchtsvereinen, deren Mitglieder in verschiedene Ordensgrade eingeteilt wurden; jeder höhere Grad mußte durch eine neue und ausgeklügeltere Ausschweifung gewonnen werden. Ansere jungen Männer, welche die Verführung von Mädchen mit Absicht zu ihrem besonderen Geschäfte machen, und sich mit ihren Erfolgen auf diesem Gebiete brüsten, und ebenso diejenigen, welche sie deshalb bewundern und ihnen nacheifern, stehen völlig auf der Stufe jener Wilden und verdienen den Ruhm, einem Kulturvolke anzugehören,

Über geschlechtliche Sittlichkeit

nicht mehr.

101

Möge man sie deshalb als gemeingefährliche Wilde be­

handeln, die man, wenn sie sich einer höheren Kulturstufe nicht anzu­ passen verstehen, besser ausrottet, um dieser höheren Kultur Raum zu schaffen! Ein drittes Symptom der sittlichen Verwilderung ist endlich der

gewohnheitsmäßige Umgang mit der Lalbwelt, oder, daß ich es gerade­

heraus, mit dem ehrlichen deutschen Worte sage, mit der Surenwelt. Meine Serren, wissen Sie, was eine Sure ist? Eine Sure ist ein Spucknaps für alle! Und ein junger Mensch ekelt sich nicht, in einem

solchen schmutzigen Gefäß seine blühende Jugendkraft zu besudeln und in den meisten Fällen für immer zu verderben? Ja, man gewöhnt sich sogar an einen solchen Umgang, daß er einem unentbehrlich wird und man darin seine einzige und genügende Befriedigung findet! Das Schlimme dabei ist, daß der Surenjäger das Weib nur von der ge­ meinsten und entartetsten Seite kennen lernt und nach diesem Auswurf der Frauenwelt das Weib überhaupt beurteilt. So verliert er die Achtung vor dem Weibe und dem weiblichen Wesen überhaupt, er sieht in ihm nur sinnliches Fleisch und keine sittliche Seele, und da ihm die Befriedigung seiner Lüste von diesen Priesterinnen der Venus vulgivaga so leicht und bequem gemacht wird, so sucht er nicht bloß nicht mehr den Umgang mit anständigen Frauen, sondern flieht ihn vielmehr absichtlich, weil er ihm einen ungewohnten und unliebsamen Zwang auferlegt. Die Folge davon ist, daß er ehelos bleibt, kann

er doch alles, was die Ehe an sinnlichen Genüssen bietet, weit billiger haben und ohne jede Verantwortung für die Folgen, als da sind Kinder und Kindererziehung, Nahrungssorgen, die Einschränkung seiner

persönlichen Freiheit und andere Lasten. Ehelos, wie diese Surenhäusler bleiben, vermehren sie die Zahl der ehelosen Mädchen und damit häufig das materielle und seelische Elend,

an dem so viele

Mädchen, die zur Ehelosigkeit verurteilt sind, leicht dahinsiechen, da die Ehe nun einmal die Bestimmung des Weibes ist und seine Befreiung von den meisten Übeln bedeutet. So tragen sie die Schuld an dem sozialen Elend der Frauenwelt, so treiben sie manches in

seinen Hoffnungen getäuschte Weib in die Verschrobenheiten eines die

Grenzen der weiblichen Naturbestimmung überschreitenden und daher verrückten Emanzipationsstrebens hinein. So hat notwendig diese Ver­ sumpfung der Männerwelt den so häufigen und in dieser Beziehung völlig berechtigten Männerhaß der Frauenwelt zur Folge. Bekanntlich bleibt es bei dem Umgang mit Suren fast niemals

102

Über geschlechtliche Sittlichkeit

aus, daß der Mann angesteckt und dadurch in seinem ganzen Organis­ mus vergiftet wird. Scheinbar wird zwar der Schaden geheilt, aber nur scheinbar und äußerlich; innerlich bleibt das Gift, frißt langsam weiter und wirkt fort, wenn auch Jahre lang die Anzeichen kaum bemerkbar werden. Nun heiratet ein solcher venerisch verseuchter Mann, und mit einem Male tritt es mit zerschmetternder Deutlich­ keit hervor, daß er sein junges, reines und bis dahin gesundes Weib angesteckt und um ihre Gesundheit gebracht hat. Die Männerwelt liebt es, die Kinderlosigkeit der Frauen diesen zur Last zu legen. In Tausenden von Fällen aber tragen heute die Männer die Schuld, sei es, daß sie ihre Kraft schon vor der Ehe verbraucht haben, sei es, daß sie ihr Weib vergiftet und damit den Fluch der Kinderlosigkeit auf sie herabbeschworen haben. Noch furchtbarer gestaltet sich aber das Verhängnis, wenn von solchen vergifteten Eltern Kinder erzeugt werden. Aus dem ver­ gifteten Samen können nur vergiftete Sprößlinge hervorgehen. Der Mann hat sein Weib vergiftet und trägt nun auch noch die unsühn­ bare Schuld, seine Kinder im Keime vergiftet zu haben; er hat unter der, sein ganzes Leben verbitternden, qualvollen Strafe zu leiden, seine durchseuchten Kinder an allen möglichen unheilbaren Krankheiten da­ hinsiechen zu sehen, deren Arheber kein anderer als er selbst ist. And das ist manchmal die Folge eines einzigen unbesonnenen Fehltrittes, eines einzigen unbewachten Augenblicks! Ich kenne Männer, die unter diesem schrecklichen Qualenjoche dahinseufzen, ich kenne ihre Beichten und Selbstanklagen. Meine Lerren, Sie haben keine Ahnung von dem Seelenzustand dieser Anglücklichen, von ihrer Niedergeschlagenheit und Neue, ihrer Entmutigung und Verzweiflung Aus ihrer Liebe ernten sie Fluch, weil ihre Liebe durch ihre Gier vergiftet wurde. Sie haben das Lebensglück ihres Weibes und ihrer Nachkommen und damit ihr eigenes für immer unrettbar zerstört. Wohl mögen sie ihre Seelenpein dann und wann auf kurze Zeit übertäuben, aber die wahre Freudigkeit ist auf ewig von ihnen gewichen, und ihr in sich gekehrtes, scheues Wesen verrät dem Kenner nur allzu deutlich den Druck, der schmerzlich nagend auf ihnen lastet. Daß ihre Töchter einer solchen Vergiftung von feiten ihrer jungen Ehemänner zum Opfer fallen möchten, das ist heute eine Lauptsorge aller verständigen Eltern. Es ist heute nicht mehr wahr, daß die Eltern nicht schnell genug ihre Töchter unter die Laube bringen könnten. Im Gegenteil, viele Eltern haben Furcht vor der Verhei-

Über geschlechtliche Sittlichkeit

103

ratung ihrer Töchter, weil sie von einem leider nur zu berechtigten Mißtrauen gegen die geschlechtliche Gesundheit der jungen Männer

erfüllt sind.

And müssen nicht Eltern

ihre Töchter

lieber ehelos

bleiben sehen, als in der Ehe und durch die Ehe vergiftet?! Meine Herren Kommilitonen, sollte nicht ein jeder junge Mann,

der sich die geschilderten Gefahren nur ein einziges Mal klar gemacht, von Furcht, Angst und Ekel ergriffen, lieber seine Reinheit zu be­

wahren streben, als leichtsinnig auch nur ein einziges Mal sein ganzes Lebensglück aufs Spiel setzen? Er sollte daran denken, daß, wie ein­ mal einer meiner Freunde humoristisch sagte, es die Pflicht eines

jeden Jünglings ist, seinen gesunden Enkeln einen gesunden Großvater zu bewahren. Die Bedingung aber, unter der man einzig und allein

diese Pflicht erfüllen kann, ist die, daß man sich geschlechtlich rein erhält. Leider ist diese geschlechtliche Reinheit selten geworden in unserer Zeit. Es scheint, als betrachteten unsere Jünglinge diese Rein­

heit als eine wertlose Last, die man suchen müsse, so bald wie möglich abzuwerfen.

And doch ist der Wert solcher Mannesreinheit gar nicht

hoch genug zu schätzen! Dem, der sich rein und gesund erhalten, ersprießt in einer glücklichen Ehe ein tausendfältiges Glück; der Kraft­ schatz, den er in der Jugend sorgfältig gehütet hat, trägt ihm nun Zinsen echter Liebesfreude bis in sein hohes Mannesalter, während der, welcher jenen Schatz leichtsinnig zu früh vergeudete, da bereits ein unfähiger Greis ist, wo er erst anfangen sollte, seine Mannheit zu beweisen. Denn jedem Menschen ist nur ein bestimmtes und be­

grenztes Maß von Kraft beschieden; verwirtschaftet er dieses vor der Zeit, so hat er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er auch vor der Zeit ein nunmehr verächtlicher Schwächling geworden ist. And nichts ver­ achten mit Recht die Frauen mehr, als solche durch das Äbermaß ihrer Begierden heruntergekommene Wüstlinge. Da aber die Zahl dieser Verhurten in unserer heutigen Männerwelt leider fortwährend

im Wachsen begriffen ist, so ist es kein Wunder, wenn immer mehr dazu kommen, verächtlich von den Männern wenn sie, von Ekel erfüllt, sich bedenken, solchen hinfälligen ihre Reinheit und Gesundheit zu opfern; wenn sie die

die Frauen zu denken; Entnervten Ideen der

Emanzipation mit Eifer ergreifen und es vorziehen, unverehlicht zu bleiben und auf ihren eigenen Füßen zu stehen. Wie kann ein Mann, der seine Kraft längst verschwendet hat und nichts mehr davon in die Ehe mitbringt, dem Weibe imponieren? And nicht bloß, daß die

Verachtung der Frauen gegen die verkommene Männerwelt wächst,

Über geschlechtliche Sittlichkeit

104

es ist keine Frage, daß, wenn es so weiter geht, die Frauen tat­ sächlich den Männern an körperlicher Gesundheit und geistiger Kraft überlegen werden, daß sie die Männer, mit denen sie jetzt schon auf

vielen Gebieten in den Wettkampf eintreten, überflügeln werden, und daß sich somit eine Verschiebung der Stellung der Geschlechter zu Angunsten des Mannes ergeben, d. h., daß die Frau obenauf und

der Mann drunterdurch sein wird.

Will der Mann also seine ge­

schichtliche Stellung als das regierende Geschlecht behalten, so hüte er vor allem seine Kraft, d. h. er bewahre sich seine geschlechtliche Reinheit in demselben Maße, wie es das Weib heute im allgemeinen

noch tut.

Daß aber auf dieser ungebrochenen Geschlechtsreinheit vor

allem die körperliche wie die sittliche Gediegenheit eines Volkes be­ ruht, hat schon Tacitus mit Nachdruck betont, wenn er in seiner

„Germania" cap. 20, von unseren Vorfahren rühmt: „Sera juvenum

venus. eoque inexhausta pubertas. nee virgines festinantur; eadeni juventa, similis proceritas: pares validaeque miscentur, ac robora parentmn liberi referunt.“ Sie werden mir vielleicht einwenden, meine Herren, der Trieb sei stark und unwiderstehlich, die Pein, welche er verursache, sei nicht zu

ertragen, wenn man sich nicht auf dem naturgemäßen Wege davon befreie; ja, man schädige sogar seine Gesundheit, wenn man ihn ge­ waltsam unterdrücke. Daß Enthaltsamkeit, zumal in der Jugend, ja während des ganzen Lebens, notwendig ungesund sei, ist ein längst

widerlegtes Märchen.

Arbeitet man Körper und Geist nur tüchtig

aus, so wird die organische Kraft, die sich sonst im Zeugungstrieb Luft macht, in anderer Weise verwendet, und der gleichwohl verbleibende Überschuß entlädt sich in natürlicher Weise durch Ergüsse im Schlafe. Aber ich eifere gar nicht gegen den Geschlechtsgenuß als solchen, sondern nur gegen eine zu frühe und insbesondere gegen eine außer­ eheliche Befriedigung desselben.

Daß eine normale Ehe in jeder Be­

ziehung körperlich wie sittlich für beide Geschlechter die wohltätigsten Wirkungen hat, ist bekannt, aber ebenso wahr ist, daß das Übermaß

in jedem Falle und in jedem Lebensalter schadet, am allermeisten aber in der frühen Jugendzeit. Ja, solange Jüngling und Jungfrau noch in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung begriffen sind, schadet nicht bloß das Übermaß, sondern die Ausübung der Geschlechtstätigkeit

überhaupt. Wenn sie hier, wo sie noch unreif sind und ihre ganze Kraft noch zu ihrer körperlichen und geistigen Ausbildung nötig haben,

auch nur einen Teil ihrer organischen Kraft verschwenden, sei es durch

Über geschlechtliche Sittlichkeit

105

Beischlaf, sei es durch Selbstbefleckung, so muß ihr Organismus leiblich wie geistig mangelhaft und unvollkommen bleiben.

Zumal junge Leute,

welche geistig zu arbeiten haben, wie gerade Sie, meine Herren Studierenden, können nicht eindringlich genug vor einem zu frühen Geschlechtsgenuffe gewarnt werden. Geschlechtsteile und Gehirn stehen in gewisser Beziehung in einem feindlichen Gegensatze zu einander.

Beide verbrauchen in ihrer Betätigung eine ungeheure Summe von Nervenkraft.

Wer sich also geschlechtlichen Ausschweifungen ergibt,

entzieht seinem Gehirn ebenso viel Denk- und Arbeitskraft, als er in der Geschlechtsbetätigung Nervenkraft vergeudet. Umgekehrt muß also, wer geistig wirksam und andauernd arbeiten will, sich vor geschlecht­ lichen Excessen hüten, ja vom Geschlechtsgenuffe überhaupt, solange die geistige Anstrengung dauert, gänzlich absehen. Fortgesetzte geschlechtliche Überredungen haben Blödsinn zur Folge; dem Scharfsinn des Geistes schadet der Geschlechtsgenuß in jedem Falle, denn er spannt in hohem

Grade ab und ermüdet. Haben wir aber den mächtigen Reizungen des Geschlechtstriebes denn wirklich gar keine andere, ihn beruhigende, ja besiegende Macht

entgegenzusetzen? Haben wir gar kein ihn aufhebendes Gegengewicht in uns? Wenn Sie mir sagen: Der Trieb ist in uns, — so sage ich: auch unser vernünftiger Wille ist in uns, und wenn es unser höchster

Vorzug ist, vernünftige Wesen mit starkem zielbewußtem Willen, d. h. Charaktere zu sein, sollten wir da nicht auch in unserer Vernunft die

Kraft finden, die uns jenen Trieb beherrschen und unterdrücken läßt? Sollte nicht ein solcher Sieg der Vernunft über unsere Begierden und Leidenschaften uns eine höhere Genugtuung gewähren, als wenn wir uns widerstandslos und willensohnmächtig von unseren Trieben über­ wältigen lassen? Betrachten wir einmal das Wesen der Begierden und Leidenschaften und fragen wir, ob wir sie nicht, und wodurch wir

sie zu beherrschen vermögen. Der Geschlechtstrieb ist von Natur in uns; er ist, wie schon oben gesagt, der Leben erweckende Grundtrieb und als solcher von höchstem Werte. Wie alle sinnlichen Triebe wächst auch er zur Be­

gierde an, und diese kann sich, wenn sie uns ausschließlich und dauernd beherrscht, zur Leidenschaft steigern. Was nun die Begierde anbetrisst, so ist sie durchaus sinnlicher Natur. Es gibt sinnliche Triebe, aber es gibt auch geistige (z. B.

wissenschaftliche, künstlerische) Triebe; aber es gibt keine geistigen Be­ gierden. Lind gerade weil die Begierde ganz sinnlicher Natur ist, so

106

Über geschlechtliche Sittlichkeit

geht ihr Streben auch immer nur auf das rein Sinnliche und Ma­ terielle und mithin auf den rein sinnlichen und materiellen Genuß. So sieht und sucht die geschlechtliche Begierde im Weibe nur das materielle Mittel zu ihrer Befriedigung, nur das Fleisch, nicht die Seele. So sinnlich und materiell, so egoistisch ist die Begierde. Wenn ich nur satt werde! denkt der Lungrige, der ganz von seiner Gier beherrscht wird. Wegen dieser jede Rücksicht auf andere ausschließenden Selbstsucht hat die Begierde auch stets eine vernichtende Absicht. Indem der Lungrige sein Stück Fleisch verschlingt, vernichtet er es. So denkt der Geschlechtsgierige, indem er ein Mädchen verführt und miß­ braucht, nur an sich und seine Gier, nicht an das Wohlergehen und die Ehre des Mädchens, dessen moralische Person er rücksichtslos ver­ nichtet. Sinnlich, wie sie ist, bleibt die Begierde stets oberflächlich und nimmt an ihren Gegenständen nur oberflächlich Anteil; sie erweckt nur einen flüchtigen, rasch vorübergehenden Eifer, kein wahrhaft tiefes, dauerndes, unegoistisches, geistiges Interesse, denn sie ist selbst flüchtig und vergänglich. Sowie ihre Gier gestillt ist, verschwindet sie selbst und damit ihr Eifer für ihren Gegenstand. Sowie der Wüstling seine Lust gekühlt hat, ist ihm das Weib seiner Lust gleichgültig und ohne Wert; ja, seine Gier verwandelt sich sogar in Abscheu und Ekel. Llnd doch, so flüchtig die Begierde ist, so unersättlich ist sie. Denn wenn auch jetzt der Lunger gestillt ist, nach einigen Stunden wacht er wieder auf und plagt den Menschen von neuem, und so geht es erst recht mit der geschlechtlichen Begierde. So peitscht die Begierde den Menschen widerstandslos hin und her zwischen Lunger und Übersättigung, zwischen Verlangen und Abscheu, zwischen Gier und Ekel. Sie ist wie das Faß der Danaiden; was man auch hineinschütten mag, daß Faß wird nicht voll. Gerade diese Unersättlichkeit der Begierde hat Goethe treffend geschildert, wenn er Faust in dessen Zustande als Begierde­ mensch die Worte in den Mund legt: „So tauml' ich von Begierde zum Genuß, und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde." . > Fassen wir nun alle die genannten Eigenschaften der Begierde zusammen, ihr sinnliches und materielles Wesen, ihre Selbstsucht und vernichtende Absicht, ihre Oberflächlichkeit, Flüchtigkeit und doch Llnersättlichkeit, ihr Lin- und Lerschwanken zwischen Gier und Ekel, so müssen wir zugeben, daß die Lerrschaft der Begierden in unserer Seele und zumal die Vorherrschaft der geschlechtlichen Begierde den Fäulniszustand unserer Seele bedeutet. Wir sind zwar alle Menschen, und insofern können wir nicht völlig von Begierden loskommen, ja, die Be-

Über geschlechtliche Sittlichkeit

107

gierten spielen eine wichtige Nolle in der Ökonomie unseres Organis­ mus; sie sind bis zu einem gewissen Grade ein Zeichen seiner Gesund­ heit; wenn ich keinen Appetit, d. h. keine Begierde zum Essen habe, bin ich krank, und so in jedem anderen Falle. Daraus folgt aber nicht, daß die Begierden uns beherrschen dürften, int Gegenteil: wollen wir leiblich wie seelisch gesund bleiben, so müssen wir vernunftklare und Willensstärke Herren unserer Begierden bleiben und sie mit eisernem Griffe in Zaum und Zügel halten. Aber das ist gerade die trostlose Signatur unserer Zeit, daß sie im höchsten Grade eine Zeit der Be­ gierdeherrschaft ist, daß die meisten Menschen ihre Begierden nicht maßvoll beherrschen, sondern ihrer Tyrannei widerstandslos erliegen. Sie haben die Folgen davon zu erleiden. — Ein Beispiel für viele. Ich kannte einen jungen Mann. Mit wenigen zwanzig Jahren befand er sich int Besitz eines großen Vermögens. Aber er hatte es nicht selbst erworben, er hatte es von seinen früh verstorbenen Eltern ererbt. Er war ihr einziges Kind; nie ward ihm ein Wunsch versagt, nie ward er zu einem ernsten Streben angehalten. And nun, frei von jedem Zwange und im Besitze der nötigen Mittel, folgte er nur seinen Begierden; er stürzte sich in den Strudel der Genüsse; er taumelte von Begierde zum Genuß, und im Genuß verschmachtete er nach Be­ gierde. Das ging wohl einige Zeit, so hin; aber es ist der Fluch der einseitig herrschenden Begierde, daß sie den Menschen aushöhlt an Leib und Seele. Kaum dreißig Jahre alt, hatte dieser junge Mann alles, was die Sinnlichkeit bieten kann, bis auf die Kefe ausgekostet, um — selbst das Schlachtopfer seiner Genußsucht zu werden. Blasiert, nervenkrank, vergiftet, impotent war er unfähig zu jedem Genusse. Kein geistiges Interesse bot ihm Ersatz, denn er hatte nie eines in sich erweckt. So erschien ihm die Welt schal und ekel, pessimistische Weltflucht überfiel ihn, und um diesem Elend zu entgehen, schoß er sich eines Tags eine Kugel durch den Kopf. Wir müssen unsere Begierden, zumal unsere geschlechtlichen, mit starkem Willen in Zaum und Zügel halten und sie, im vollen Bewußt­ sein ihrer Gefährlichkeit, zu unseren gehorsamen Dienern herabdrücken, sonst werden sie sich ohne Zweifel zu unseren despotischen joerren emporschwingen. Welche Mittel müssen wir anwenden, um uns dieser Oberherrschaft zu versichern? Als das erste Mittel nenne ich Ihnen, meine Herren, die Mäßig­ keit, und zwar besonders und ausdrücklich im Trinken. Meine Herren, ich bin kein grundsätzlicher Temperenzler und kein fanatischer Asket,

108

Über geschlechtliche Sittlichkeit

obgleich ich die Bestrebungen gegen den Mißbrauch geistiger Getränke in vollem Maße als berechtigt anerkenne. Gleichwohl liebe ich zu Zeiten, nämlich dann, wenn keine Pflicht und keine Arbeit darunter leidet, einen guten Trunk, zumal einen Trunk guten Weins zur An­ regung des Geistes, zur Belebung der Geselligkeit und Erweckung der Unterhaltung. Ich liebe einen Trunk guten Weins in dem Sinne der Goetheschen Verse: „Wein macht munter geistreichen Mann. Weihrauch ohne Feuer man nicht riechen kann. Willst du Weihrauchs Geruch erregen, Feurige Kohlen mußt unterlegen."

Aber ich liebe nicht das Trinken um des Trinkens willen, das naturgemäß zum Saufen ausartet. „Doch was ihr in Schenken tut. Ist kein wahres Trinken. Völler seid ihr kurz und gut. Die nach Kneipe stinken, And den echten Trinkerruhm Labt ihr nie errungen: Nie ist eurem Säufertum Geistiges entsprungen." 1

Leider ist die Anmäßigkeit im Trinken eine hergebrachte Sitte unter den akademischen Bürgern, und es entspringen bekanntermaßen gerade daraus viele nicht zu billigende törichte Streiche. Ich will aber nur auf die eine, hier in Betracht kommende schlimmste Folge des Rausches Hinweisen: es gibt Kreise, in denen man gewohnheits­ mäßig vom Saufgelage ins Lurenhaus taumelt. Die meisten jungen Leute erleiden ihren ersten geschlechtlichen Sündenfall in der Trunkenheit und der damit verbundenen Anzurechnungsfähigkeit. Äaben sie dann Scham und Scheu verloren, so gehen sie später auch mit nüchterner Äberlegung an die Entwürdigung ihrer moralischen Persönlichkeit. So sinken sie sittlich von Stufe zu Stufe, je mehr, je schneller, bis sie überhaupt nichts mehr von moralischer Würde zu verlieren haben. Daher principiis obsta! d. h. hier, in einfaches Deutsch übersetzt: Betrinke dich nicht! Ein zweites Mittel von viel weiterreichender Bedeutung ist aber 1 Siehe des Verfassers unter dem Titel „LiebeundArbeit" erschienene Gedichte (Berlin, Verlag Äermes) Seite 37.

Über geschlechtliche Sittlichkeit

109

dieses: Wir müssen an Stelle der Begierde überhaupt ein ganz anderes Prinzip setzen, ein höheres, ein geistiges und sittliches. Dieses Prinzip ist die Liebe. Eine echte, wahre, tiefe, reine und keusche Liebe — sie ist das beste Mittel gegen die sinnliche und geschlechtliche Begierdenherrschaft. Wie unterscheidet sich denn die Liebe von der Begierde? Ich sagte vorhin, die Begierde sei sinnlicher Natur, und nun will ich keineswegs behaupten, daß nicht auch der Liebe ein gewisser Grad von Sinnlichkeit anhafte. Gewiß, es ist so. Wo aber nur Sinnlichkeit herrscht, da ist eben keine Liebe. Die Liebe beweist ihre höhere geistige und sittliche Natur dadurch, daß sie alle Sinnlichkeit überdauert. Wo nur die fleischliche Gier zum Weibe führt, da stellt sich nach dem Genuß der Ekel ein. Wo aber die Liebe das innerste Motiv des Genusses ist, da bleibt auch nach dem Genuß das Gefühl der Zärtlichkeit und freudigen Dankbarkeit für das gebrachte Opfer der Eingebung; und das Be­ wußtsein unverbrüchlicher Zusammengehörigkeit und Treue wird durch den Genuß nur verstärkt und besiegelt. Ich sagte vorhin, die Begierde sei egoistisch, und nun will ich keineswegs behaupten, daß nicht auch der Liebe ein gewisser Grad von Egoismus anhafte. Gewiß, es ist so: der Liebende denkt auch an sich; aber wer nur an sich denkt, der liebt nicht. Gerade darin beweist die Liebe ihre eigentümliche, die Begierde überragende Natur, daß der Liebende seinen Egoismus überwindet und bereit ist, jedes Opfer für die Geliebte zu bringen. Deshalb kann bei der Liebe davon gar nicht die Rede sein, daß ihr, wie der Begierde, eine vernichtende Absicht innewohne. Im Gegenteil, die geliebte Person erhalten und bewahren, sie hegen und pflegen, das liegt im Interesse der Liebe; Glück und Wohlergehen des Liebenden hängt ja im höchsten Grade von dem Glück und Wohlergehen der Geliebten ab, und deshalb ist auch die Liebe nicht flüchtig und vergänglich wie die Begierde — die Liebe währet ewiglich! Nun werden Sie mich verstehen, meine Äerren, wenn ich Ihnen als das beste Mittel gegen die sinnliche Begierde die Liebe anrate, eine wahre, tiefe Liebe zu einem tüchtigen und reinen Mädchen. Eine solche Liebe läßt den jungen Mann vor leichtfertigem Amgang und seiner Besudelung zurückscheuen, eine solche Liebe spornt ihn an zu unablässiger, ernster Tätigkeit und Arbeit, damit er sein berufliches Ziel und dadurch den Wunsch seines Äerzens erlange. So führt die echte und erwiderte Liebe zu einer glücklichen Ehe, die den eigentlichen

Über geschlechtliche Sittlichkeit

110

Gesundbrunnen für beide Geschlechter sowohl körperlich wie sittlich

bildet. In. einer guten Ehe erziehen Mann und Weib sich gegenseitig, und wie sie ihre Kinder erziehen, so werden sie von ihnen erzogen. So beruht alle sittliche Bildung, alle körperliche wie geistige Gesund­

heit der Menschheit vor allem auf dem tüchtigen und guten Ehestände, und jeder freche Angriff auf die Ehe ist deshalb gleichbedeutend mit einem Angriff auf den innersten Kern unseres sittlichen Lebens. Wir weisen daher das falscke Evangelium von der freien Liebe auf das entschiedenste zurück.

Als drittes Mittel der Selbstbehauptung im Kampf mit der sinnlichen Begierde und sieischlichen Leidenschaft nenne ich Ihnen die Arbeit. Friedrich Nietzsche lehrt, daß man, um sich zum Übermenschen zu erheben, erst zum Anmenschen werden müsse, d. h. daß man, um seine Begierden und Leidenschaften zu überwinden, sich erst ohne Maß und Grenze in den Abgrund eben dieser Begierden und Leidenschaften

hinabstürzen und den Becher der natürlichen Triebe bis auf die Lese leeren müsse; dann werde man, vom Ekel gegen diese Triebe und gegen

sich selbst ergriffen, sich von ihnen abwenden und sich als heroischer Asket über sie erheben. Ja, wenn nicht die meisten bei diesem Sprung in den Strudel des natürlichen Trieblebens darin zugrunde gingen! andere, gelähmt vom Übermaß, alle Federkraft zu neuem Aufschwung

verlören! Das ist ein schlechtes Mittel, welches uns durch Krankheit gesund machen will. Als ob noch von Gesundheit die Rede sein könnte, nachdem die Krankheit die Gesundheit im Keime zerfressen hat!

Nein, der bessere und natürliche Weg ist, seine Gesundheit zu

bewahren und gar nicht erst krank zu werden. Ein vortreffliches Mittel aber, um überhaupt nicht an seinen sinnlichen Begierden zu er­ kranken, ist die Arbeit, jede tüchtige, sei es körperliche oder geistige Arbeit!

Eine tüchtige berufliche Anstrengung, oder in Ermangelung

einer solchen auch schon ein gesunder Sport mit reichlicher Bewegung in frischer Luft lenkt uns von fleischlichen Lüsten ab und bewirkt in uns jene gesunde Müdigkeit, die uns abends rasch in festen Schlaf versenkt und sinnliche Neigungen nicht aufkommen läßt. Erst recht hat eine mannigfaltige geistige Arbeit, sei es die des Gelehrten und

Künstlers, sei es die des Kaufmanns und Fabrikanten, die wohltuende Folge, unser Denken und Wollen ganz in Anspruch zu nehmen, uns auf Hauptsachen zu konzentrieren und von Nebensachen abzulenken,

so daß wir unsere sinnlichen Gelüste vergessen. So hat die rechte Arbeit eine wahrhaft erlösende und sittlich machende Kraft; sie ist die

Über geschlechtliche Sittlichkeit

111

Helle Sonne, vor der alle schmutzigen Begierden und unlauteren Leiden­ schaften wie Nebel zu Boden sinken und wie Gewölk verfliegen. Die Mäßigkeit erhält uns besonnen, die Arbeit stärkt unseren sittlichen Willen und übt unseren denkenden Geist, die Liebe vertieft unser von Selbstsucht freies Gemüt. Da, wo diese Elemente Zusammen­

treffen, Besonnenheit, Charakterstärke, Geistesklarheit und Gemütstiefe, entsteht jenes wahrhaft objektive Interesse an Dingen und Menschen, das sich in der unegoistischen Eingebung an die Arbeit für das Glück

anderer und in der echten selbstsuchtlosen Liebe zu anderen bekundet, das sich theoretisch als Weisheit, praktisch als Gerechtigkeit offenbart. In der Verstellung dieses echten objektiven Interesses erreicht der Mensch den Gipfelpunkt seiner geistigen Entwickelung, in dieser wahr­ haft selbstsuchtlosen Hingebung an die Interessen anderer besteht die

höchste, ja die eigentliche Gesundheit des menschlichen Wesens. Nach dieser geistigen Gesundheit müssen wir alle als nach unserem höchsten Gute streben. Dieses höchste Gut wird niemand erreichen, der sich

geschlechtlich nicht unversehrt erhalten hat, denn wie zu jeder körper­ lichen, so ist auch zu jeder geistigen Gesundheit die unerläßliche Vor­ bedingung die geschlechtliche Reinheit. Erst auf diesem Hochgipfel geistiger Gesundheit kann aber jene blaue Zauberblume wachsen und erblühen, die jeden, der mit ihr in Berührung kommt, entzückt, sowohl durch ihren Duft als durch ihre

Farbenpracht; ich meine jenen wahrhaft echten Humor, in dem ich ein neues Mittel zur Ablenkung von unsittlichen Neigungen erblicke und empfehle. Der Humor ist eine von den verschiedenen Formen

des Witzes.

Der Trieb ist nie witzig — der vom Hunger Getriebene

versteht keinen Spaß. Die Begierde ist witzig, aber so gemein und niedrig sie ist, so gemein und frech ist auch ihr Witz. Der Witz der Begierde ist die Zote. Der Begierdemensch zotet gewohnheitsmäßig, und wer gewohnheitsmäßig zotet, ist ein niedriger Begierdemensch. Die Leidenschaft ist sehr witzig; aber die Leidenschaft ist unbeftiedigt,

erbittert und ingrimmig, und daher ist auch ihr Witz der bissige und giftige: Ironie, Sarkasmus und Satire. And nun erheben wir uns aus dem trüben Nebel der Begierden und Leidenschaften empor zu dem reinen Äther wahrhaft selbstsuchtloser, geistesklarer und gemüts­ tiefer objektiver Weltbetrachtung.

Erst aus dieser kann der Humor

hervorgehen. Der Mensch dieses echten objektiven Interesses erkennt auch, und

erst recht, die Mängel an den Menschen und ihren Zuständen; auch

112

Über geschlechtliche Sittlichkeit

er beleuchtet diese Mängel gern durch die antithetische Form des Witzes. Aber sein Witz ist weder die freche Zote, noch giftige Satire, sondern der Witz, der, indem er die Schwächen der Menschen aufdeckt, hinzu­ fügt: Die Schwächen der anderen sind auch meine Schwächen — der Witz, welcher den Balken im Auge des Bruders herabmindert zu einem Splitter und den Splitter im eigenen Auge übertreibt zu einem Balken — der Witz, der die Wunden berührt, um heilenden Balsam hineinzuttäufeln — der Witz, der nicht Laß und Feindschaft sät, sondern Versöhnung stiftet — der Witz, von dem Jean Paul so schön gesagt hat, daß er das Lächeln auf der Wange und die Träne im Auge trage. Dieser versöhnende Witz des liebevollen Gemütes, dieser echte Humor, ist selten geworden in unserer Zeit, weil seine Vorbedingungen: Geistesklarheit, Charakterreinheit und Gemütstiefe selten geworden sind. Es fehlt nicht an gemeinen Zoten und bissigen Satiren, weil sinnliche Begierden und egoistische Leidenschaften regieren. Eben über diese müssen wir uns erheben, und ein treffliches Mittel dazu ist die Pflege des echten Humors im erklärten Sinne. Dieser wahrhafte .Humor wirkt reinigend und läuternd auf Geist und Gemüt; er verabscheut das Gemeine und erhebt uns darüber; er schaut die Dinge und Menschen klar und unparteiisch und dringt in ihre Tiefen; so regt er uns selbst zu klarer und unparteiischer Beurteilung an und stimmt uns versöhnlich und liebevoll. Darum, meine Herren, lesen Sie die Werke echter Humoristen und bilden Sie daran Ihren eigenen Humor; pflegen Sie den Humor in Ihren Gesprächen und Gesängen, auf Ihrer Kneipe und in Ihrer Bierzeitung, in Ihren musikalischen und dramatischen Aufführungen, aber verbannen Sie grundsätzlich jede freche, die gemeine Sinnlichkeit kitzelnde Zote, wie jede bittere und Feindschaft stiftende Ironie und Satire! Widerlegen Sie durch die Tat das schimpfliche Arteil, welches ich oftmals über unsere heuttge akademische Jugend habe fällen hören, daß sie allen attischen Witz verloren habe und nur noch im Zotenreißen ihr schamloses Be­ hagen finde! Meine Herren, alles, was ich Ihnen hier vorgetragen habe, kann ich in größter Kürze zusammenfaffen, indem ich Sie auf den berühmten kategorischen Imperativ Immanuel Kants verweise. Er heißt: „Handle so, daß du die (sittliche) Würde der Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person jedes Anderen jederzeit achtest, und die Person immer zugleich als (sittlichen) Zweck, nie bloß als Mittel gebrauchst." Meine Herren, wenn Sie im Begriff flehen.

Über geschlechtliche Sittlichkeit

113

eine unsittliche Handlung zu begehen, so legen Sie sich mit Ernst die Frage vor, ob Sie bei Ausübung der Tat wirklich die sittliche Würde

der Menschheit, d. h. Ihre eigene sittliche Würde noch achten, oder

nicht vielmehr sie mit Füßen treten und damit sich selber schänden. Fragen Sie sich erst recht nach einer solchen Tat, ob Sie sich Ihrer eigenen Achtung und der Achtung anderer noch wert erscheinen.

Gewissen wird Ihnen mit einem bündigen Nein! antworten.

Ihr

Wollen

Sie sich nicht bloß die Achtung anderer, sondern, worauf ich ein noch

viel größeres Gewicht lege, Ihre Selbstachtung bewahren, so wird Sie

die rechtzeitige Erinnerung an den kategorischen Imperativ von dem Fehltritt

selbst

oder wenigstens

von

seiner

Wiederholung

zurück­

halten. — Fragen Sie sich zum andern, ob sie bei Begehung zumal

einer unsittlichen Handlung geschlechtlicher Art nicht in Wahrheit die Person, mit der Sie sie verüben, bloß als Mittel gebrauchen, also den sittlichen Zweck dieser Person gänzlich außer acht lassen.

And

wenn Sie diese Frage bejahen müssen, so ziehen Sie daraus auch den unmittelbaren Schluß auf sich selbst, daß Sie nämlich auch Ihre eigene Person und zumal Ihren eigenen Leib lediglich zu einem Mittel

herabwürdigen, d. h. daß Sie selber in diesem Augenblick passiv in

doppelter Hinsicht zum bloßen Werkzeug erstens Ihrer eigenen, zweitens

der Lüste der beteiligten Person mißbraucht werden, so daß Sie also in jeder

Beziehung unter

das Maß

einer sittlichen Persönlichkeit

herabsinken, die allein auf die Achtung anderer wie auf Selbstachtung Anspruch hat.

Meine lieben Kommilitonen!

Sie, sowie alle übrigen Studierenden

sind berufen dermaleinst an verantwortlicher Stelle zu walten, und als

Leiter und Lenker andren vorzustehen und voranzugehen, sei es als

Staatsbeamte, sei es als Direktoren privater Anternehmungen.

Als

solche werden Sie Untergebene haben, auf deren Dienste Sie sich ver­ lassen müssen. Immer werden Sie nur dann in Ihrem Amte ersprießlich zu wirken vermögen, wenn Sie auf den willigen Gehorsam Ihrer Unter« gebenen zählen können.

Diesen werden Sie niemals durch irgendwelchen

Zwang erzielen: Zwang erzeugt immer nur sklavische Unterwürfigkeit,

die in dem Augenblick ihres Herrn spottet, wo sie sich vor seinem Zwange sicher glaubt.

Es gibt nur ein Mittel, sich des willigen Ge­

horsams, also der steten Treue und Bereitwilligkeit seiner Untergebenen zu versichern, nämlich dieses, daß man sich ihrer Achtung nnd Liebe versichert? Dem geachteten Vorgesetzten folgt jeder aus Überzeugung,

1 Vergl. hierzu des Verfassers Werk „Deutsche Erziehung" (Berlin, 8

Schultze, Credo und Spera

114

Über geschlechtliche Sittlichkeit

und dem geliebten Vorgesetzen liest jeder Untergebene seine Wünsche von den Augen ab, und seine Befehle werden wie aus eigenem Willen

vollzogen. Man kann mancherlei in dieser Beziehung erreichen durch die zielvolle Verwendung von äußeren Gütern, wie des Reichtums, oder von persönlichen Vorzügen, wie eines imponirenden Äußeren oder eines

Eindruck machenden Talentes. Gleichwohl erreicht man mit alle­ dem nicht halb so viel als durch den Besitz der Achtung und Liebe seiner Untergebenen.

Aber nur der wird sich diese kostbaren Güter

von feiten anderer Menschen auf die Dauer erwerben, der seiner­ seits selbst zwei jenen entsprechende kostbare Güter sein eigen nennt und sie in den Dienst der ihm Anvertrauten stellt: einen lauteren sitt­ lichen Charakter und ein liebewarmes Gemüt. Diese beiden sind allein

die unbedingt wertvollen Güter, die es unter allen Umständen sind und bleiben, während alle jene anderen Güter einen bedingten Wert haben, d. h. nur dann wertvoll sind, wenn sie in der Land des Guten zu edlen Zwecken verwendet werden, während sie in der Land des Schlechten zu den schlechtesten Zwecken mißbraucht werden können. Achtung und Liebe fällt also auf die Dauer nur dem zu, der sie sich durch seinen reinen Charakter und durch sein warmes Ge­ müt auf die Dauer verdient. Die besten Mittel und die stärksten Äebel jeder guten Herrschaft sind also Charakterreinheit und Gemüts­ tiefe. Wollen Sie also, meine Herren, dermaleinst, jeder an seiner größeren oder kleineren Stelle, mit Erfolg Vorgesetzte und Herrscher sein, deren Wirkung auf Achtung und Liebe Ihrer Untergebenen be­ ruht, so müssen Sie nicht bloß aus moralphilosophischen Gründen, sondern auch aus rein praktischen Erwägungen darauf ausgehen, sich

Ihren reinen Charakter und Ihr humanes Herz zu bewahren.

Wenn nun, wie ich gezeigt habe, der Geschlechtstrieb ein organi­ scher Grundtrieb von höchster Bedeutung ist, durch dessen Reinheit oder Beflecktheit, Gesundheit und Krankheit nicht bloß unseres Körpers,

sondern ebenso gut unseres geistigen und sittlichen Wesens bestimmt wird, so hängt also die Gesundheit und die Würde unserer Charakter- und Gemütsbeschaffenheit und damit also auch unsere erfolgreiche Wirkung

auf andere im höchsten Grade von unserer geschlechtlichen Reinheit ab. Nichts schadet einem Vorgesetzten in den Augen seiner Unterge­

benen mehr, als wenn er in dieser Hinsicht anrüchig und angreifbar Verlag Äermes) 9. Kapitel: Achtung und Liebe als wirksamstes Mittel der Leitung der Kinder.

Über geschlechtliche Sittlichkeit

115

ist. Nicht bloß unser gesamtes körperliches und geistiges Wohlergehen, sondern auch der Erfolg unserer praktischen Tätigkeit beruht somit im weitesten Llmfange auf unserem sittlichen Lebenswandel besonders

in geschlechtlicher Beziehung. Ein einziger Fehltritt hier kann mit einem Schlage alles vernichten, was noch soviel Wissen und Können langwierig und mühsam aufgebaut haben, zum Beweise dafür, daß mit Recht nicht etwa geschrieben steht: Selig sind die Wissenden! auch nicht: Selig sind die Könnenden! sondern „Selig sind, die reines Herzens sind!"

einzig und allein:

6

Selbstbekenntnisse eines Studenten Mitteilungen aus den Papieren eines Philosophen.

aß in der Erziehung stets die Besonderheit der Individualität berücksichtigt und an sie angeknüpft werden müsse, darüber sind die wissenschaftlichen Pädagogen einig. Das Studium der inneren

Entwickelung jugendlicher Individuen ist daher für den Erzieher von

höchstem Wert. Die nachfolgenden Schilderungen können vielleicht um so eher auf Interesse Anspruch machen, als sie für die Entwicke­ lung gerade der strebsamen jugendlichen Geister unserer Zeit charak­ teristisch zu sein scheinen. Mögen auch bei den einzelnen Jünglingen den besonderen Umständen ihrer Lebenslage nach die Gegenstände

und Ziele ihres Strebens sehr verschiedene und zumal andere sein, als die, welche uns hier entgegentreten: in dem Zweifeln, besonders in religiöser Einsicht, in der melancholischen Weltschmerzelei, in dem unbefriedigten Schwanken von einem Interesse zum anderen, in dem Tasten und Suchen nach demjenigen Lebensinhalt, der endlich dem innersten Kerne der Individualität am meisten entspricht, herrscht doch eine große Übereinstimmung bei bett meisten tiefer angelegten Iüng-

lingsnaturen. Ein glücklicher Zufall hat die nachfolgenden „Bekennt­ nisse", die ihr Verfasser als Student an einen seiner hervorragend­

sten akademischen Lehrer, Professor der Philosophie, wirklich schrieb, in unsere Künde gebracht, und wir haben die vollste Befugnis, sie zu veröffentlichen.

Sehr geehrter Herr!

Es wird Ihnen seltsam scheinen, daß ich

den Mut habe, diese Zeilen an Sie zu richten. Es dünkt mich selbst ein gewagtes Anternehmen, da ich nicht weiß, ob Sie in diesem Falle mehr von Ihrem Rechte, die armseligen Worte eines gewöhnlichen

Selbstbekenntnisse eines Studenten

117

Studenten zu überhören, Gebrauch machen werden, oder ob Sie Ihre

große Nachsicht und Liebenswürdigkeit selbst noch bei einer Handlung

walten lassen, die der Anmaßung nicht fern steht. Auf beides muß ich gefaßt sein; zur Entschuldigung möge mir dienen, daß Sie selbst gewissermaßen mich zu diesem Schritte veranlaßt haben. Ich weiß nicht, wodurch ich es verdiente, Ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen; wohl aber weiß ich, daß der Tag, an welchem Sie mich Ihrer Nähe würdigten, wie ein lichter Pfingsttag die frostigen Däm­ merungen meines Lebens aufzuhellen und zu durchwärmen begonnen hat, und daß seit beut Tage ein zuversichtlicherer Geist über mich

gekommen ist, der mir endlich, wie ich hoffe, die ängstliche Sorge über mich vom Lerzen nehmen wird. Sie werden sehen, daß dies keine Phrase ist, wenn Sie die Gewogenheit haben wollen, mich an­ zuhören. Als ich vor einiger Zeit bei Ihnen verweilen durfte, stellten Sie

mir die Erlaubnis in Aussicht, Sie auf einem Spaziergange zu be­ gleiten, wo Sie gesonnen wären, „einen Blick in meine Seele zu tun." Ich will, soweit ich es kann, Sie dieser Mühe überheben, und mich Ihnen sogleich öffnen, so schwer es mir wird, von mir selbst zu reden. Ich habe das sonst nie getan, teils weil ich keinen Menschen fand, der

sich gemüßigt gesehen hätte, mich anzuhören, teils weil ich weiß, daß meine Misere, weil innerlich und meine, nicht unterhaltend und spannend genug ist für andere, die ich nicht gern langweile, haupt­ sächlich aber, weil mir noch kein Mensch ein solches Vertrauen auf

seine Einsicht eingeflößt hatte, daß ich ihn bewundern und vor ihm die eigene Kleinheit so recht handgreiflich fühlen mußte. Nur einem solchen kann ich meinen inneren Bankerott entdecken, ohne daß mein Stolz sich verletzt fühlt, denn nur dieser Mann vermag einzusehen, daß ein solcher Bankerott nicht etwa aus stillstehender Streblosigkeit, sondern aus fehlgehender Strebgier entstand, die er zwar als krankhaft

und überspannt verwirft, aber doch der Arzenei seiner Leitung für

würdig hält; die er nicht etwa schnöd mit dem Namen „Ansinn" übergeht, mit dem der Pöbel aller Art solch inneres Ringen abtut und verhöhnt. Das war der Hauptgrund, weshalb ich mich der Welt gegenüber innerlich stets dicht zugeknöpft trug. Zum erstenmal in meinem Leben fällt Ihnen gegenüber dieser Grund für mich weg. Dennoch hätte ich aus eigenem Antrieb nie gewagt, mich Ihnen zu entdecken; da Sie mich aber gewissermaßen dazu verleiten, tue ich es in diesem Briefe; mündlich ist es mir kaum möglich, eine Beichte

Selbstbekenntnisse eines Studenten

118

abzulegen, die ihrem Namen gemäß nur Irrungen enthalten kann. Es steht in Ihrer Wahl, die Beichte zu vernehmen oder nicht — im ersteren Falle müssen Sie mir gestatten, weit auszuholen. Meine Knabenzeit (obwohl oder weil im elterlichen Lause zugebracht?) war im großen und ganzen eine sehr unglückliche, und mag immer meine innere Verfassung von vornherein zu einem Labyrinthe,

in dessen Gängen ich irren mußte, veranlagt gewesen sein — aus­ gebildet dazu wurde sie auf alle Fälle durch die trüben Tage dieser

Jugendzeit. In unserer Familie schien das Anglück sich recht be­ haglich eingenistet zu haben. Nicht etwa, daß Mangel und Armut der Grund davon gewesen wären, im Gegenteil: so viel meiner Familie an dem Gute des inneren Glücks fehlte, so viel war ihr an äußeren Glücksgütern zu Teil geworden. Der Grund des Äbels war ein

anderer.

Ich kann Sie nicht mit der Darstellung dieses Grundübels

aufhalten wollen, das ich aus Gründen kindlicher Pietät verschweigen muß, obwohl ich es genau kannte, leider zu genau kannte, denn das

war eben das größte Anheil, das mich betreffen konnte, daß ich immer derjenige war, der in all das häusliche Anglück am frühesten und am tiefsten eingeweiht wurde. Zu diesem zu verschweigenden Grund­ übel kam ein zweites, dessen Einfluß auf das Familienglück nicht minder der Herrschaft eines bösen Sternes zu vergleichen war. Mein

Vater war ein strenger, pünktlicher Geschäftsmann, der dabei eine übergroße, ich möchte sagen: Geschäftsfantasie besaß, eine praktische Fantasie, die ihm stets neue Entwürfe, neue Geschäftsanlagen, Ver­

größerungen und

Verbesserungen vormalte.

Gedanken war er stets bemüht so geschah es, daß er niemals sondern alle paar Jahre neue, Erweiterungen waren stets sehr

Diese

Gebilde

seiner

in die Wirklichkeit zu übersetzen, und in Ruhe bei dem Alten stehen blieb, größere Einrichtungen schuf. Diese kostspieliger Natur, und kein Wunder,

daß jede Neuerung zugleich neue Lasten und Sorgen mit sich brachte.

Durch seine

Energie und Regsamkeit schüttelte mein Vater

diese

Lasten immer nach einigen Jahren wieder ab. Sowie aber die Sorge darüber verschwunden war, tauchten auch wieder neue Entwürfe auf,

diese wurden ausgeführt und — die alten Sorgen damit von neuem wieder in ihre Rechte eingesetzt d. h. in ihre Rechte, meinen Vater düster und ungemütlich zu stimmen und über unsere Familie alle die Wolken heraufzubeschwören, die über die Erde brausen, wenn Vater Jupiter die Stirn runzelt. Meine Mutter bekümmerte sich wie mein

Vater, und beide suchten Trost darin, daß sie mich mitbekümmerten.

Selbstbekenntnisse eines Studenten

119

indem sie sich gegen mich aussprachen, gegen mich gerade, weil ich der einzige Sohn war, der im elterlichen Lause hauptsächlich um die Zeit weilte, als die schwersten Gewitterstürme darüber losbrachen. Meine Brüder waren abwesend, und ich war höchstens zwölf Jahre alt, als mein Vater eben wieder seinen ganzen Fabrikbetrieb einer

weitgehenden Umgestaltung unterworfen hatte. Er war dies Mal so weit gegangen, daß es sich zuletzt in geschäftlicher Beziehung um Sein und Nichtsein handelte. Ich denke mit Schrecken an die Zeit. Keine Ruhe, keine Rast! Schlaflosigkeit bei Nacht, Äberanspannung Dazu gerade in dieser Zeit allerlei Unregelmäßigkeiten meiner abwesenden Brüder. Ich war allein zu Laus, ich war wieder das schwache Gefäß, in das meine Eltern ihren Kummer auszu­ schütten suchten. Denken Sie sich, welche Wirkung das auf einen zwölfjährigen Knaben ausüben mußte. Ich wurde ebenso fieberhaft angespannt wie meine Eltern. Ich verlor meinen jugendlichen Froh­ sinn, wurde viel zu ernst für mein Alter, ich war ein kindlicher Greis. And machte sich dennoch einmal die natürliche Forderung meiner Jugend nach Fröhlichkeit und Ausgelassenheit in mir geltend, so be­ am Tage.

trachtete ich diese meine Regung gegenüber dem Trübsinn meiner Eltern als Vergehen und Sünde. Aus Pflichtgefühl zermalmte ich systematisch meinen Frohsinn. Ohne Verkehr mit meinen Altersge­ nossen blieb

ich

einsam und abgeschlossen nur in Gesellschaft der

traurigen Gedanken, die in dem Knaben seine ganze Umgebung und Stellung heraufbeschwören mußten. Ich konnte nicht begreifen, wes­ halb gerade unsere Familie so überhäuft von Anglück sein mußte, lag doch durchaus keine sittliche Verschuldung in der Vergangenheit, unter deren Fluch die Gegenwart seufzen mußte. Im Gegenteil

herrschte bei uns eine religiöse Sittenstrenge, die andere Familien nicht in der Weise meinen Blicken zeigten, und doch waren diese Familien glücklich. Glücklich! Das glaubte ich und bemühte mich damals, die Ursachen des Glücks in anderen Familien zu entdecken, um sie auf unseren Familienkreis

womöglich zu

übertragen.

Zu

dem Zweck

studierte ich gleichsam die Geschichte einiger mir bekannter Familien — aber auch nur zu meinem Schaden! Denn was ich für Wesen gehalten hatte, war Schein, fand ich nun. Es gibt überhaupt kein

Glück, sagte ich mir. Sonnige Tage im Menschenleben sind nur raffinierte Quälereien des Schicksals, sind nur lustige Theaterszenen, berechnet, die folgenden Schauerszenen grausiger hervorzuheben, zer­ schmetternder wirken zu lassen. And das war mir nun geradezu ein

120

Selbstbekenntnisse eines Studenten

Trost: so litten wir doch nicht in Folge einer größeren Schuld als der der Geburt. So mußten doch auch andere Menschen seufzen und nicht wir allein. Aber ich begriff doch nicht, warum p61e-mele alle Menschen, gute und böse, so über einen Leisten geschlagen wurden. In der Zeit — ich war nun etwa dreizehn Jahre alt — trotz oder wegen dieser Erkenntnis wurde ich sehr fromm. Leider trieb mich meine Frömmigkeit, die Dogmatik der christlichen Kirche kennen zu lernen. Der Zufall trieb mir eine Dogmatik in die Äände, in der wacker auf Materialisten und Antichristen geschimpft wurde. Das freute mich unendlich. Ich glaubte, diese Schimpfereien eines Dog­ matikers gegen die Ängstigungen und Angriffe meines Bruders ge­

brauchen zu können, der, Naturwissenschaften studierend, bei längerem Ferienaufenthalte im elterlichen Äause mich mit seinen materialistischen Ideen anfüllte und mich damit bei meiner Frömmigkeit auf das heftigste ergrimmte und erregte. Aber er zeigte mir, wie diese Schimpfereien nur Worte eines Menschen ohne Bedeutung und Be­ hauptungen ohne Beweis waren, während er mit Tatsachen seine Sätze belegen konnte. Zum ersten Mal zweifelte ich. Nur zum Trotz verschlang ich um so gieriger das dogmatische System, in der Hoffnung, Ruhe darin zu finden. Aber ich fand keine Ruhe. In diese Zeit, wo ich vierzehn Jahre alt ward, fiel der Akt meiner Kon­ firmation. Wohl nie ist ein Knabe mit größerer Aufregung in die Konfirmandenstunde zum Pfarrer gegangen als ich. Ich hoffte noch immer, dort Trost zu finden. Aber was der Herr sagte, waren auch nur hübsche Worte; weshalb, warum das so sein müßte, sagte er nie, und darnach gerade war ich ja hungrig. Ich wußte, daß den Kon­ firmanden bei der Konfirmation die Frage vorgelegt wurde, ob sie treu dem Glauben der christlichen Kirche im späteren Leben wandeln wollten. Diese Frage mußte dann mit einem Ja in choro beantwortet werden. Vor dem Augenblicke hatte ich eine furchtbare Angst. Wie konnte ich Ja sagen? Ich hätte lügen müssen vor dem Altar! And noch entsetzlicher quälte mich der Gedanke, daß ich dann das Abend­ mahl erhalten sollte. Die Dogmatik der Lutheraner lehrte, wer das Abendmahl unwürdig genösse, genösse es sich zum Verderben. Konnte ich es würdig genießen? Ich war in seltsamer Verfassung: einerseits war ich ein schlimmer Zweifler, ja ein Angläubiger, und anderseits konnte ich mich nicht überwinden, das, was zwei Jahrtausende gläubig hatte in den Staub knieen machen, nur aus mir heraus als Schein zu verneinen und mich dadurch von meiner Zweifelpein zu befreien.

Selbstbekenntnisse eines Studenten

121

ja ich wagte vielfach kaum, mir selbst meine Ketzerei einzugestehen. Ich konnte nicht, aber ich wollte so gern glauben können. Ich hoffte auch, noch glauben zu können; ich hoffte, erleuchtet zu werden, wie der Terminus hieß. " Meinen inneren Kampf einem anderen 511 ■ ent­ decken, wagte ich nicht; man hätte den vierzehnjährigen Jungen einen Narren genannt; man hätte mir nicht die tiefe, mich ganz durch­ dringende Erschütterung meines Wesens zugetraut, ich wäre ausge­ lacht worden, und das hätte mich damals toll machen können. Mit nagenden Gewiffensbißen ging ich zur Konfirmation in die Kirche. Ich hatte mir vorgenommen, auf jene verhängnisvolle Frage gar nicht zu antworten, obgleich mir auch das Anrecht schien. Die Frage kam. Die Kinder waren vorher wacker durch Fasten, Singen, Predigen und Kälte erschüttert — ich wie alle dadurch und noch mehr durch mich selbst — kurz, man wußte nicht, auf was man antwortete; ich war ebenfalls schwach geworden, wurde im Chor mit fortgeriffen und rief Ja wie alle. Wie im Taumel, ohne recht zu wissen, um was es sich handele, erhielt ich das Abendmahl, Segenssprüche usw. und kam so nach Laus. Die Segenssprüche waren glühende Kohlen auf meinem Äaupte gewordtn, ich habe entsetzlich peinvolle Tage, ja Wochen nach jenem Akte erlebt, denn ich war mir bewußt, in der Kirche gelogen, unwürdig das Abendmahl genommen zu haben. Ich phantasierte mich fest in den Glauben hinein, ich müßte in kurzer Zeit vom Blitz erschlagen werden oder auf andere Weise umkommen. Gerade in den Tagen trafen Anglücksfälle unser Laus, die Schuld davon rechnete ich mir zu. Während ich mich sonst gegen die Praedestinationslehre an Luther's Äinweis auf das: Gott will, daß allen geholfen werde, angeklammert hatte, schien mir jetzt, wo ich mich für verworfen hielt, Luther's Zurückweisung der schroffen Praedestinationslehre feige und unmännlich zu sein. Calvin's Logik mit ihrem Augustinischen Resultat: Bon vornherein bestimmt, ob verdammt, ob begna­ digt — schien mir das Rechte. Ich rechnete mich zu den Vorherver­ dammten. Was hatte ich für Ansprüche auf die Welt? Was half mein Ringen, mich gut zu machen? Was ich tat, glaubte ich, mußte ich tun. Ich hätte damals ein Verbrecher werden und herzhaft darüber lachen können. Gottlob, daß ich mich nicht damit zufrieden gab. Ich dachte häufig über die Auferstehung nach. Eines Abends als ich auf einem einsamen Spaziergange von einem Äügel herab mitten in einer öden, sandigen Äaide einen verwilderten und vernachlässigten Iudenfriedhof betrachtete, der nur von einem schlechten Bretterzaun

122

Selbstbekenntnisse eines Studenten

umgeben war, und auf dessen kleinem, wie ein einziger großer Grab­ hügel erscheinenden Raume die schmucklosen, moosbewachsenen Steine unheimlich in grauer Dämmerung dichtgedrängt emporragten, und dann meine Augen im Weiterschweifen in der Ferne einige dürftige Korn­ felder gewahrten, die sich im Winde bewegten, tauchten in meiner Seele, die von dem trostlosen Anblick ergriffen wurde, seltsame Ideen

über die Auferstehung auf. So falsch dieselben an sich sein mochten, so wirkten sie doch insofern für mich heilsam, als sie mich im Dogma manche Widersprüche entdecken ließen, wovon die Folge war, daß dasselbe mich nicht länger mehr ängstigte. Ich glaubte das Dogma von der Auferstehung des Fleisches durch den folgenden Widerspruch für mich wenigstens erschüttert zu haben. Die Menschen sollen mit demselben, nur verklärtem Leibe wiederauferstehen. Das ist unmöglich, sagte ich mir, denn angenommen, wir begraben einen Menschen, er verwest und wird Erde. Aus dieser Erde wachsen, aus ihr entstehen Früchte. Sein Leib also verwandelt sich, zum Teil wenigstens, in

diese Früchte. Diese Früchte ißt ein anderer. Der andere ißt also jenes Leib. Der andere weiter zeugt mit dem Stoff, den er aus diesen Früchten zog, ein Kind; er zeugt sozusagen eigenen Leibes mit einem fremden Leibe einen dritten Leib. Der Leib des Kindes ist so­ mit in seiner Aranlage aus dem Leib jenes Begrabenen. Also haben zwei gerechten Anspruch auf eittert Leib, also zwei Auferstehunsberechtigte jeder mit dem Anspruch auf den nur vorhandenen einen und doch jedem wirklich zukommenden Leib. Wie kann nun das Kind mit eigenem Leibe und jener erste Begrabene mit eigenem Leibe auferstehen? And wie erst, wenn wir nun die zahllosen Millionen von Menschen

unter diesen Gesichtspunkten der Ernährung und Zeugung, des Wachs­ tums und des Stoffwechsels betrachten, wenn wir uns klar machen, daß aus demselben Quantum Stoff nach und nach zahllose Leiber ent­ stehen, derselbe Stoff also nach und nach zahllosen Menschenleibern

angehört? Mit diesem Widerspruch glaubte ich die Anmöglichkeit der leiblichen Auferstehung bewiesen zu haben; ähnliche Widersprüche fand ich nun auch bald in anderen Lehren der Dogmatik, und wie unzureichend

meine Widerlegungen auch sein mochten, die wohltätige Folge hatte wenigstens dies Verfahren für mich, daß ich von dem dogmatischen Gespenste von nun an nicht mehr beunruhigt wurde, welches doch eine lange Zeit hindurch mich meinen Pflichten und mir selber ganz abwen­

dig zu machen drohte.

Die Dogmatik wurde ich los, keineswegs wurde

ich irreligiös, nur daß ich von nun an meine eigene, freie, innere reit--

Selbstbekenntnisse eines Studenten

123

giöse Überzeugung mir bildete, und zwar mit großer Wärme, wie ich bald zeigen werde. Dies religiöse Kämpfen in mir hatte natürlich mehrere Jahre gedauert. Daneben hatte es keinen Tag gegeben, wo nicht gleichfalls der Zahn des häuslichen Unglückes an mir genagt hätte. Das war eine Zeit voll Wolken und Nebel. Mit drei glühenden Zangen wurde ich zugleich gerissen: die eine war das Toben des Zweifelns in meiner Brust, die andere das Unglück unseres Laufes, und die dritte ein furchtbarer Mangel, der, daß ich nicht einen einzigen Freund hatte, dem ich vertrauensvoll meinen ganzen Jammer mitteilen konnte, der mir mit Trost hätte helfen und beistehen können. Meine Eltern und Geschwister, sagte ich mir, haben jeder ihre eigene Last zu tragen, die du durch die deinige nicht noch vermehren darfst. Das Schlimmste war, daß ich auch das Vertrauen zu den Menschen gänzlich verloren hatte. In mir wallte es fortwährend über von innigen Empfindungen und edlen Regungen, die sich gern in Wort nnd Tat geäußert hätten. Aber mich umgab der Krämerladen der kleinlichen, schacherhaften Welt, die für solche Regungen kein Verständnis hatte. Früher hatte ich meine Gefühle wohl vertrauensvoll herausgesprudelt, natürlich man spottete nur darüber und impfte damit Laß und Mißtrauen in meine Seele ein. Run hütete ich.mich, meine Gefühle zu zeigen; nun hielt ich es für eine Entweihung und Profanierung, sie aus dem Asyl meiner Brust heraus unter die schmutzigen Lände der betitelten und unbetitelten Schuster und Schneider zu bringen. Run verhüllte ich sie sorg­ fältig, damit niemand sie in mir vermute. Das Mittel dazu war mein Spott, der sich nicht anzustrengen brauchte, die Blößen der gegnerischen Welt grell zu beleuchten. Leute, wo ich dies schreibe, ist mein Mißtrauen allerdings verschwunden, aber eins ist in mir geblieben, der Grundsatz, meine Empfindungen und Gefühle so viel wie möglich zu verbergen. Auch jetzt noch ist mein Spott die Barrikade, mit der ich mein Lerz umgebe, damit es nicht beschädigt werde. Ich scheine kalt und glühe. Ich habe bei diesem Verfahren erfahren muffen, wie oft es bitterer als Galle schmeckt, wenn man jeden Kummer, jede Angst und jede Sorge in sich hineinfressen muß. Lerz und Seele werden mitgefressen, ein kostbares blutiges Mahl. Eine wertvolle Frucht hat freilich dieser Dornenwald für mich getragen: Selbstbeherrschung und Selbständigkeit. Sie bleiben nicht aus für den, der stets auf sich selbst angewiesen ist. Zum Glück wurde ich noch zeitig genug in eine andere Umgebung versetzt, als daß sich jene beiden in Lärte und

124

Selbstbekenntnisse eines Studenten

Selbstsucht hätten verwandeln können, zu denen mich mein Weg sonst vielleicht geführt hätte. Jene Freundlosigkeit, jenes öde Gefühl der Einsamkeit mitten unter Menschen, jenes Lerunterschlucken heißer Tränen und das Ersticken

brennender Seufzer hätten mir die Brust zersprengen müssen, wenn

ich nicht einen Ableiter gehabt hätte, der die in mir umherschwirrenden Blitze aus mir herauslentte. Denn mein Spott allein bewirkte dies noch nicht. Es war kein Äumor in ihm, der ein Zeichen von Über­

legenheit über die Welt und der Ausfluß einer heiteren Seele gewesen wäre. Durch meinen bitteren Spott hielt ich mich wie ein Schwimmer nur eben im Meere und verhütete das Antersinken, aber ich war

doch immer noch mitten im Meere, wurde von ihm geängstigt und hatte mit ihm zu kämpfen. Wer erst mit Äumor über die Welt spottet, schwimmt nicht mehr im Meere selbst, sondern segelt auf einem festen Schiffe unbeängstigt darüber hin. Jetzt versuche ich manchmal schon, im Schiffe zu segeln, anders damals. Mein Spott befreite mich da­ mals noch nicht von der wilden Gährung in meinem Innern, dazu verhalf mir ein anderes Mittel. Ich komme hier auf eine Seite meines Wesens, von der so viel ich weiß, nur zwei oder drei Personen bis jetzt Kunde haben, weil

ich überhaupt kaum etwas mehr zu verbergen bemüht gewesen bin, als gerade die Existenz dieser Seite. Ich vermute, hochgeehrter Äerr, daß, wenn ich Ihnen jetzt dies Geheimnis nenne, ein ironisches Lächeln

über Ihr Gesicht gleiten wird. Aber eben weil man meistens zum Lächeln geneigt ist, wenn sich bei einem jungen Menschen jene Seite zeigt, weil man vorzüglich heutzutage vom hohen Standpunkte seiner Retorten und Telegraphenstangen ihn dann gern höhnisch einen

Schwärmer nennt, der nicht in die Zeit paßt, deshalb habe ich stets diese Seite meines Wesens ängstlich verborgen, ja sie abgeleugnet, wenn ich sie zufällig verriet und dann danach gefragt wurde; ja ich habe sie zu Zeiten selbst am meisten verlacht und dennoch sie im

Stillen gehegt und gepflegt.

Sie sollen die Abenteuer meines jugend­

lichen Lebens ganz kennen lernen, deshalb verschweige ich jetzt nicht

mehr, worüber ich sonst keinen Mund habe. Lachen Sie also, aber seien Sie versichert, daß jenes Verlachte für mich die ernste Bedeutung hatte, mich zu tröffen und mich vor Mutlosigkeit zu bewahren. Ams

kurz zu machen, ich hatte die Gabe, alles, was mich drückt und quält, in ein paar Verse zu verwandeln und mich so davon zu befreien. Nun aber stellen Sie sich mich vor in einer höchst materiellen Am-

Selbstbekenntniffe eines Studenten

125

gebung, wo Geschäfte und Geld die Zentralsonne waren. Meine Mutter pflegte uns als Kindern manchmal Sagen und Märchen zu erzählen, aber mein Vater wußte davon nichts. Lätte mein Vater erfahren, daß ich Verse machte, zum mindesten hätte er mich einen Zeitverschwender genannt. In unserem Lause hatten solche Produkte also keinen Kurswert, und ich machte auch keine Versuche, sie in Amlauf zu setzen. In der Sphäre, in der ich lebte, war das Rechnen Lyrik und Tragik je nach dem Ausfall der Rechnung; Maschinen­ räume waren die melodisch rauschenden Wälder der dort geltenden Romantik. Diese Erkenntnis hatte ich klar und deutlich; trotzdem mußte ich Verse machen. Ich verbarg sie in meinem Schreibpult jener Erkenntnis wegen, abgesehen davon, daß sie stets bitter und scharf waren, also überhaupt schwerlich jemandem gefallen konnten. Sie hatten also nur Wert für mich, wie eine Tischmarke, die nur bei einem Wirte gilt. Ihr Wert für mich war aber deshalb groß, weil meine ganze jugendliche Geistesentwickelung bis zu ihrem heutigen Zustande ihre allmälige Abklärung gerade in dieser dichterischen Form des Vorstellens gefunden hat. Dadurch, daß ich meine Empfindungen in poetische Gebilde übersetzte, wurden sie allmählich zu klaren Gedanken, ich erkannte nun leicht ihre Schwäche, ich wußte vielleicht eine po­ etische Versöhnung in diesen Gebilden und dadurch in mir selbst her­ beizuführen, und dann war die Rot, die ich poetisch gestaltet hatte, für mich ein überwundener Standpunkt. Auf diese Weise befreite ich mich von dem Schwalle, der mich zu ersticken drohte, auf diese Weise überwand ich meine Schmerzen und beherrsche sie heute. Wie ich durch diesen Prozeß mich allmälig zu meinen jetzigen Anschauungen empor­ gearbeitet habe, will ich Ihnen kurz zeigen. In der Zeit, wo ich im elterlichen Lause mit diesem von der Angunst des Geschickes so recht überflutet ward, waren natürlich alle diese Gebilde meiner Phantasie schwarz und trübe wie die Nacht. Verzweifeln an Gott und Menschen und an mir selber war das Thema. Die anhaltende Lerbheit meiner Lage war die Arsache, daß dieses Thema mehrere Jahre lang variiert wurde, bald in kurzen Versen, bald in langen, zumal eposartigen Gebilden, in denen natürlich das Böse siegte, ja sogar in Schulaufsätzen, über welche die Lehrer die Köpfe schüttelten, indem sie dieselben „nicht schulgemäß" nannten. Gegen das Ende meiner Gymnasialzeit ging eine Wandlung in mir vor. Ich hatte das Weltschmerzthema bis zum Äberdruß variiert; trotzdem bot mir die äußere Welt nicht mehr und nichts anderes als

126

Selbstbekenntnisse eines Studenten

bisher. Da ergriff ich geistig und phantasielich gewissermaßen die Flucht; ich verschloß meine Augen so viel wie möglich gegen die Wirk­ lichkeit und flüchtete mich in eine von mir aufgebaute, wunderbare Märchenwelt, die mit all dem ausgestattet war, was ich in Wirklich­ keit vermißte. Dort in den Gebieten der Wolken hatte ich ja nun freie Land, dort träumte ich mir mein Eden, die Erde schwand mir unter den Füßen. In diesen wohltuenden Phantasien ward ich noch mehr dadurch befördert, daß ich in dieser Zeit nach bestandenem Maturitätsexamen die Universität bezog und nun, frei, wie ich jetzt

war, einen köstlichen Sommer ganz nach meinen Neigungen

ver­

träumen konnte. Mein Vater wünschte, daß ich Jurisprudenz studierte. Aus Pflichtgefühl besuchte ich zwar fleißig die juristischen Kollegien, aber nur, um während der Vorlesung Entwürfe zu Märchen zu machen. So entstanden mehrere tollphantastische Märchen in diesem Fuchssemester. Der Sommer verstrich leider zu schnell; die Ferien

kamen; ich brachte sie im Elternhause zu; hier wachte ich rasch wieder zur Wirklichkeit auf. Man legte mir die Frage vor, ob ich meine juristischen Studien auch fleißig betrieben habe. Ich wußte gut Be­ scheid in der Kunstgeschichte, ich war trunken von der Geschichte der

griechischen Philosophie, ich war musikalisch ganz erfüllt von den Symphonien Beethovens, die ich mit einem Studiengenoffen am Klavier durchstudiert hatte, ich hatte viel Papierflickchen mit Versen

und viele Bogen Papier mit Märchen vollgeschrieben, dazu hatte ich auch manchen Taler ausgegeben — aber meinen eigentlichen Zweck am wenigsten erreicht, vom Jus war nicht eben viel an mir hängen geblieben. Ich sah, wie sehr es meinem Vater gerade um dieses

Studium zu tun war. Es war seine Lieblingsidee, über die er gern sprach, seinen Sohn demnächst als tüchtigen Advokaten zu sehen. Ich erschrak nun über mich selber und verwünschte meine Phantasien, die zwar ein Gegengift gegen meine Trübseligkeit waren, aber doch ein Gift blieben, das mich aus der praktischen Welt und ihrem nüchternen

Gedanken- und Äandlungskreise herausbeförderte, das mich wie Opium in süße Träume einlullte, aber meine praktische Tatkraft untergrub. So nahm ich mir vor, meinen Träumereien künftig den Laufpaß zu geben und das Jus gründlich zu studieren. Im zweiten Semester war ich denn auch wirklich ein eifriger Jurist; es kostete zwar große Äberwindung, aber meinem Vorsatz gemäß wurde kein poetisches Buch

irgendwelcher Art in die Land genommen, es wurde kein Kolleg ge­ hört, das irgendwie meine Lieblingsideen wieder hätte anregen können.

Selbstbekenntnisse eines Studenten

127

Von früh Morgens bis spät Abends immer nur Corpus juris und Pandekten, nur dann und wann etwas Musik. Zuerst ging das ganz gut, die Klarheit und logische Schärfe vieler juristischer Deduktionen

machten mir nicht selten große Freude. Leider fing ich aber bald an, über den Begriff Recht selbst nachzudenken und kam wohl oder übel zu dem Ergebnisse, daß das, was Recht heiße, in vielen Fällen gar kein Recht war, daß in vielen Rechtssähen die absolute Willkür

herrsche, daß nichts wandelbarer sei als das positive Recht der Juristen; was absolut recht sei, müsse es in alle Ewigkeit sein, meinte ich; allerdings erkannte auch das Recht die höchsten sittlichen Ideale als seine Prinzipin an, aber es schien mir beim Anerkennen zu bleiben, sandelte es auch danach? Mir schien es von Millionen Ungerechtig­ keiten zu wimmeln, welche Recht waren, weil die Launen eines Will­ kürherrschers oder einer mächtigen Partei sie befohlen hatten. Mit dieser Maitresse der Angerechtigkeit, wie ich es nannte, sollte ich eine geistige Äeirat eingehen? Mein ganzes Wesen sträubte sich dagegen. Aber der Wunsch meines Vaters! Jetzt rissen alle die Narben früherer Kämpfe wieder auf; jetzt tobte der neue Kampf zwischen Neigung und Pflicht, von neuem blutete meine Seele. Aber noch hielt ich mich mit den Zähnen am Corpus Iuris fest. Da am Ende des Semesters fielen mir die deutschen Weistümer in die Äände, ich entzückte mich an ihnen, sie schienen mir wie ein prächtiger, kräftiger Eichwald, hallend von Hellem Iagdruf und freiem Männerschritt. Wie ganz anders ging es sich auf diesem schwellenden Moosboden,

als auf dem glattgeriebenen Seile des römischen Tribunals, auf dem man mit abgezirkelten Tanzschritten balanzieren mußte! Ich studierte die Weistümer zuerst nur in Mußestunden. Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken kam eine Sammlung all der poetischen Ausdrücke und Wendungen zu veranstalten, die darin vorkommen. Ich ging ans Werk. Es sollte das meiner Ansicht nach eine juristische Arbeit sein, aber es war die Brücke, über die ich unmittelbar wieder an das Äser gelangte, welches ich doch so ängstlich meiden wollte. Mit der Lust am Corpus juris war es ja schon lange aus.

Das Recht selbst

nun, freilich das deutsche, schleuderte mich plötzlich wieder in meine poetische Welt hinein. Aber meine Märchenwelt war jetzt nicht mehr

die alte.

Die frühere hatte nichts mit dem Leben und der Wirklich­

keit zu tun; die neue dagegen hing dadurch schon mit der Wirklichkeit zusammen, daß sie vielfach eine Satire der Wirklichkeit wurde, frei­

lich nur erst eine scheue, zurückhaltende, bange.

Dies allmähliche Zu-

128

Selbstbekenntnisse eines Studenten

rückkehren zur Wirklichkeit war jedenfalls eine Folge meiner juristischen

Studien; die Beschäftigung mit ihrem nüchternen, realen Stoffe hatte trotz aller Antipathie doch eine Wandlung in meinen Anschauungen hervorgerufen. Früher hatte mich jede Erkenntnis von der Nichtig­ keit dessen, was ich für hellig, göttlich und ewig gehalten hatte, zu Boden geschmettert. Aber der aufreibende Schmerz der mannigfachen Täuschungen brachte mich allmählich zu der Meinung, wer sich über

die Nichtigkeiten der Welt gräme und sich innerlich darüber verzehre, handele töricht an sich selbst, insofern er sich zugrunde richte, und doch nichts bessere; er müsse jene vielmehr lassen, wie sie sind; vor chrem Anblick nicht zurückschaudern, sich so viel wie möglich gar nicht um sie bekümmern, vielmehr Sorge tragen, wie er sich selbst in höchstem Grade von ihnen unabhängig und nur sich selbst leben könne. Das

war sehr egoistisch und andrerseits auch nicht durchzuführen, und bald veränderte sich auch meine Meinung dahin, der Mensch dürfe sich

allerdings nicht über diese unvollkommene Welt grämen und sich inner­ lich darüber verzehren, aber ebensowenig dürfe er sich teilnahmlos von ihr abwenden und in Selbstsucht nur sich bedenken; er müsse sich viel­ mehr mutig und entschlossen in sie hineinwagen und sie im besten Sinne des Wortes zu beherrschen suchen. Das hatte mich die Jurisprudenz einsehen lassen, daß der Mensch nicht in einer phantastischen Märchen­ welt, sondern in der Welt der Wirklichkeit zu leben bestimmt sei, daß er diese, nicht Paläste aus Dunst und Nebel auf- und auszubauen habe. Je schärfer dieser Anschauungswandel sich vollzog, um so schwächer und blässer wurden natürlich jene märchenseligen Träumereien. Wie ich mich früher aus der Wirklichkeit in die Märchenwelt gesiüchtet hatte, floh ich jetzt aus der letzteren in die erstere zurück, weil ich in jener zu weilen für Feigheit hielt. Wie das allmälig geschah, kann ich ganz genau verfolgen.

Es war zwischen Weihnachten und Ostern, jetzt vor einem Jahre, als ich die Idee eines „Weihnachts­ märchens" ergriff. Während der Ausführung derselben ging jene Wandlung in mir vor, sodaß jene Erzählung im Anfang noch phan­ tastisch und voll von Wundern ist gegen das Ende aber immer fester umrissen und realistischer wird.

Es ist so ein Zwitterding geworden,

bildet aber eben deshalb einen deutlichen Spiegel der damals gerade in meinem Seelenleben vorgehenden Veränderungen. Der Mensch müsse sich mutig und entschlossen in die Welt hin­ einwagen und sie im besten Sinne des Wortes zu beherrschen suchen, war also meine Ansicht.

Nun, hinein wagte ich mich, bessern und

129

Selbstbekenntnifse eines Studenten

ordnen wollte ich gern, aber wie?

3n meinem Streben war ich bis­

her stets auf das Ergebnis „Nichtig" gekommen. Das mag meine besondere Schuld gewesen sein. Eins unter all dem Nichtigen war aber wirklich: das war mein Streben. Diese Vorstellung machte meinem Streben Mut. Früher weinte mein Streben, wenn es eine Scholle aufhob und nichts als Regenwürmer fand; jetzt lacht mein

Streben herzlich, wenn es sich getäuscht sieht.

Das ist der große

Unterschied: Äumor hat sich allmälig bei mir eingefunden. Ich nehme Dinge und Menschen, wie sie sind. Aus einem Verzagenden bin ich

ein Spötter geworden, aber glauben Sie nicht, ein frivoler, der aus Schamlosigkeit und Schadenfreude spottete. Es ist meinem Spotte Ernst um die Verspotteten. Mein Spott ist ein Beweis, daß ich die

Verzweiflung an der Welt aufgegeben und die Äoffnung

auf sie

wiedergewonnen habe. Mein Spott ist wie ein Vater, der sein Kind züchtigt, indem sein Äerz darüber blutet. Lache ich spöttisch, fließen mir die Tränen über die Backen, nicht Tränen vor Lachen, sondern Mitleidstränen. Der vorige Sommer war die Zeit, in der ich mich auf die feste Schanze der humorvollen Satiere hinaufschwang.

Es war mir notwendig, meinen Gedanken Ausdruck zu geben. So begann ich im Laufe dieses Sommers, ein humoristisch-satirisches Epos zu schreiben. Der alte Äeld Simson gab den Stoff dazu her. Denken Sie sich seinen Kampf mit Philistern und Löwen ins Moderne übersetzt, ihn selbst als Geist der Kraft und Freiheit. Natürlich gleicht er nicht ein Äaar dem Bibelhelden; die Hauptsache ist, daß er

Land und Zeit von Philistereien aller Art säubert. Noch jetzt bin ich

darüber, diesen Stoff zu gestalten. In diesem Stadium trifft mich plötzlich Kant und seine Kritik der reinen Vernunft. Kein Augenblick konnte dazu günstiger sein. Ich selbst, in meinem zersetzenden Sinn für jegliche Kritik aufgelegt, lerne nun plötzlich den großartigsten aller Aristophanesse kennen, die gewaltigste

Satire, die je ein Mensch über Menschliches ersann, und zwar eine Satire, welche im Dienste der Wahrheit, ausgerüstet mit der höchsten logischen Phantasie, die je ein Mensch besaß, das Nichtige um­

stürzt und Raum schafft für den Aufbau der Wahrheit.

kann stets entzücken,

wenn

Satire

sie witzig und geistvoll ist, aber ihre

Bedeutung gewinnt, je größer der Gegenstand ist, an den sie sich wagt,

und je wahrer sie ist. Deshalb ist Kants Kritik die großartigste Satire, die jemals erdacht ist, denn ihr Gegenstand ist der größte der Welt, die menschliche Erkenntnis selbst, und sie ist ihrem Kerne nach die Wahrheit selbst. Sie muß jeden tiefer angelegten Menschen Schultze, Credo und Spera

9

130

Selbstbekenntnisse eines Studenten

bezaubern, wie viel mehr aber einen, der im Zweifel umhergeworfen ist, dem kein Dogma hat Befriedigung gewähren können, dem das

Recht als Anrecht erschienen ist.

hier

finde

ich

zum

erstenmal,

was ich suche, Wahrheit, unzweifelhafte Wahrheit! hier finde ich den unumstößlichen Beweis für die Richtigkeit mancher Ahnungen meiner Brust, und ich müßte ein Stein sein, wenn ich nicht mit grenzenloser und mit jedem neuen Worte, das ich höre, wachsender Spannung jeden Kantischen Gedanken in mich söge.

hochgeehrter Herr!

löser gekommen ist.

Sie sehen, wie Kant mir gleichsam als Er­

Das ist mir schon in den ersten Wochen klar

geworden, als ich zu Ihren Füßen die heilende Kantkur beginnen durfte. Mich aber ausschließlich jetzt mit ihm zu beschäftigen, mich

überhaupt völlig dem Studium der Philosophie hinzugeben, den Ge­ danken haben erst Sie mir eingeflößt. Der Gedanke hatte mich un­ endlich erregt, mein ganzes Inneres umgewendet, mich angetrieben, mich selbst in tiefster Seele zu prüfen und zu erforschen. Denn Sie können wohl denken, daß ich bereits meine Schritte etwas ängstlicher abmeffe, nachdeni ich so vielmals geirrt habe. Ich war, wie Sie wissen, schon seit längerer Zeit, nachdem ich die Jurisprudenz mit

endlich erlangter Einwilligung meines Vaters aufgegeben hatte, zur Sprachwissenschaft übergegangen. Ich fühle mich dazu von ganzem herzen hingezogen. Aber ich sehe auck voraus, nach welcher Seite ich mich auf diesem Gebiete schließlich wenden werde. Ich gestehe, daß ich wenig Neigung zu der Silbenstecherei und Wurzelgräberei

Was mich an der Sprachwissenschaft reizt, ist die Hoffnung, durch die Kenntnis der Sprache den Geist der Völker kennen zu lernen. Daher meine Be­

habe, wie sie die meisten Philologen treiben.

mühungen, mich möglichst vieler, auch der neueren Sprachen zu be­ mächtigen. Die Sprachwissenschaft hätte mich also zur Literaturge­ schichte geführt. Zu dein Gedanken, den Geist in seiner höchsten Äußerung, der Philosophie, kennen zu lernen, hatte ich bisher nicht

den Mut gehabt.

Aber

Sie haben mir Mut eingeflößt.

Eine

andere Frage freilich ist, ob ich die Fähigkeit dazu in mir trage.

Da­ mit Sie mich einigermaßen prüfen können, habe ich Ihnen den Ent­

wickelungsgang dargestellt, den ich bis jetzt in meinem Inneren erlebte. Ich bitte Sie nur noch um das Eine: halten Sie mich nicht für einen Träumer und Schwärmer, weil ich Verse machte und Märchen ersann.

Aber unbefriedigt durch Wissenschaften, denen ich mich hin-

zugeben gedachte, mußte ich doch irgend eine geistige Zufluchtsstätte

Selbstbekenntnisse eines Studenten

131

behalten. Die Philosophie war für mich noch nicht. In irgend einer Form mußte ich meine Empfindungen außer mir bringen, und daß sie sich des poetischen Gewandes bedienten, war bei einer lebhaften und erregbaren Phantasie natürlich. Jetzt will ich ein Wirkliches. Daß mir jetzt gerade in dem dafür empfänglichsten Zeitpunkt die

Philosophie entgegengetragen wird, erscheint mir wie eine Fügung des .Himmels. Ich zögere nicht, hier den Hebel anzusetzen, sobald

Sie mir dazu Ihre Genehmigung geben, denn ich bin arbeitshungrig. Ich fühle, daß ich endlich auf einem einzigen Wege fortwandern muß, wenn für mich die Zeit der Kräfte nicht verloren gehen soll. Ich gestehe Ihnen, es ist mir schon oft bange um meine geistige Zukunft geworden, denn ich weiß wohl mancherlei, aber nichts Ein­ heitliches, nichts Ganzes. In mir ist Chaos und Stückwerk. Ich habe oft andere Studenten beneidet, wie sie sich ruhig und gleich­ mütig mit ihrem Fache abgaben und, um alles andere unbe­ kümmert, ihre Straße dahinzogen. Mein Fluch ist gewesen, daß ich gezwungen war, mich zu viel mit mir selber zu beschäftigen,

und daß mich zugleich zu vieles interessierte. Wo ist nun das nol oii~) in solcher Brandung? und wo das quousque tandem ? Glauben Sie mir so viel, das es mir Ernst ist. Zu alt bin ich hoffent­

lich noch nicht zu dem neuen Wege. Obgleich ich schon viel geirrt habe und mich deshalb älter fühle, als es ein Student sonst tun mag, bin ich doch erst zwanzig und ein halbes Jahr alt. Ich glaube zu wissen, daß auch die Zeit meiner Irrfahrten nicht eine ver­ lorene für mich gewesen ist; nur so habe ich mir das Entsprechende

und Zusagende entdecken können. .Hochgeehrter Herr! Sie haben einen Funken in worfen, der gezündet hat. Nun bitte ich Sie von mir ihre klare Meinung zu sagen, ob Sie glauben, Nahrung in mir finden werde, ob ich getrost dem

meine Seele ge­ ganzem Herzen, daß der Funken Drange meines

Inneren werde folgen können, oder ob Sie mir abraten. Ihnen folge

ich.

Nie bisher hat mich ein Mensch in solchem geistigen Schwanken

unterstützt. Daher ich, allein auf mich angewiesen, so vielmals fehl­ gegangen bin. Auch zu Ihnen komme ich nur mit großer Scheu, aber ich hoffe. Sie werden meinem Ernste verzeihen, was meine An­ maßung, indem ich Sie belästige, sündigte. Ihrer Verfügung halte, bin ich usw.

Indem ich mich stets zu

7

Wissenschaft und Religion oder Wiffen und Glauben1 as Ding an sich in Beziehung auf das gesamte Weltall, die Gottheit, ist uns nicht als eine durch irgend welche Anschauung zu erfassende Erscheinung in Zeit, Raum, Kausalverknüpfung und Empfindung gegeben, vielmehr als eine aus dem tiefsten Grundquell

unseres Geistes stammende, notwendige Idee. Mit einer Gewalt, der wir uns nicht entziehen können, zwingt uns die apriorische Kausalität in uns, eine erste Ursache zu setzen, deren Kypostafierung die Idee der an fich existierenden Gottheit gibt.

Das Objekt der Religion, die Gott­

heit, ist also nicht ein bloß Zufälliges im menschlichen Geiste, auf welches derselbe auch nicht hätte zu schließen brauchen; es ist also auch

nicht ein bloß Nebensächliches und zu Vermeidendes; es ist vielmehr eine absolut notwendige Idee, welche, weil sie aus der Grundfunktion

unseres Geistes herauswächst, deshalb so unaufhebbar ist wie diese selbst. So wächst aus dieser Grundfunktion das Objekt aller Religion her­ vor. Aus dieser selben Grundfunktion wächst aber auch alles hervor, was wir Wissenschaft nennen; denn alle Wissenschaft entsteht aus

dem Triebe, die Ursachen

der Erscheinungen zu erkennen; aus dem

Drang, zu fragen, was der Dinge Grund sei, aus dem Kausalitäts­ bedürfnis. Wäre dieses nicht in uns, es gäbe kein Wissenwollen und also auch keine Wissenschaft.

So entspringt hier den transzendentalen

Untersuchungen das bedeutsamste aller Ergebnisse, daß es ein und der­ selbe Quell ist, aus welchem sowohl die Wissenschaft wie die Religion hervorfiießt.

Denn der Kausalitätstrieb führt uns dazu, die Ursachen

1 Diese Abhandlung bildet das 12. (Schluß-) Kapitel in des Verfassers zweibändigem Werke „Philosophie der Naturwissenschaft." Berlin, Verlag Lermes, 1881 1882. Bd. II. S. 387-420.

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

133

der einzelnen Erscheinungen zu ergründen; er führt zuletzt über alle Erscheinungen hinaus, indem er den Menschen nach der Arsache ihrer aller fragen läßt. Das erstere Forschen ergibt die Wissenschaft, das

letztere die Religion, welche somit sich an die Wissenschaft nicht bloß

anschließt, sondern dieselbe auch erst völlig abschließt, indem sie den keiner Wissenschaft erreichbaren Argrund zur Befriedigung des mensch­ lichen Kausalbedürfnisses setzt.

Die Entwicklungsgeschichte der Religion zeigt uns auf das deut­ lichste, daß das Objekt der Religion (das Göttliche oder der Gott,

stelle es oder er, je nach den verschiedenen Entwicklungsstufen der

Religion und des religiösen Bewußtseins, sich noch in roheren ^Fetischen usw.j oder schon in feineren Formen dar) in allen Fällen aus der Kausalidee d. h. dem Suchen und Setzen einer Arsache für

eine oder eine ganze Gruppe von Erscheinungen hervorgeht, also im Intellekte entspringt; die Gemütserregungen, wie Furcht und Loffnung usw., deren Inbegriff das Abhängigkeitsgefühl im Menschen erzeugen, veranlassen nur, wie wir weiter unten zeigen werden, den menschlichen Intellekt, den Kausalschluß auf eine göttliche Arsache, in welcher Ge­

stalt immer, zu machen, und rufen dann vorzugsweise die Art hervor, wie der Mensch sich praktisch seinem als göttlich erschlossenen Objekte gegenüber in Verehrung, Gebet und Opfer verhält. Aus der Frage:

was ist die Arsache dieses oder jenes dem Menschen bedeutsamen Ge­ schehens? ergibt sich als Antwort auf niedrigster Stufe des Religiösen im Fetischismus: Dieser Anker oder jenes Tier; — auf höherer Stufe:

Der Mond oder die Sonne;

auf animistischer Stufe: Die

Geister oder die Götter — und nun richtet das Gemütsbedürfnis, fürchtend und hoffend im Abhängigkeitsgefühl, seine Verehrung in Worten und Werken an das als erste Arsache erkannte Objekt, welches

ihm als solches gleich Gott wird. Aus dem Kausalitätsdrang heraus entsteht endlich, wenn das ganze Gebiet der sinnlichen Erscheinungen, welche zuerst als Gottheiten in der Form von Götzen gesetzt und ver­ ehrt wurden, durchlaufen und als bloße Natur oder Kreatur erkannt ist, der Gedanke der über alle Sinnenwelt hinausliegenden übersinn­ lichen ersten Arsache, und diese wird nun als Gottheit erfaßt, zuerst noch anthropomorphistisch, dann immer abstrakter und geistiger, und endlich auf höchster philosophischer Stufe als das notwendig zu sehende und doch in seinem Wesen unerkannte und unerkennbare Ding

an sich.

Die Entwicklungsreihe der Idee des göttlichen vom wahrge­

nommenen Fetisch bis zu dem alle Erkenntnis übersteigenden Ding an

134

Wissenschaft und Religion oder Wiffen und Glauben

sich ist mithin eine zusammenhängende Stufenreihe von immer feiner gefaßten Kausalitätsideen. Wenn aber demnach Wissenschaft und Religion aus einem Ar­ quell im menschlichen Geiste hervorfließen, so kann auch zwischen beiden im letzten Grunde kein feindlicher Gegensatz bestehen; so kann viel­ mehr der Konflikt, welcher bei fälschlicher und einseitiger Auffassung von Wissenschaft und Religion sich zeigt, nur auf der Oberfläche

spielen und muß in der Tiefe wahrer Wesenserkennung sich zur Ein­ heit und Einheitlichkeit ausgleichen lassen. Der Kritizismus hat uns einerseits die Notwendigkeit der Annahme des Dinges an sich erwiesen, aber er hat auch andererseits gezeigt, daß unsere Erkenntnis niemals

einen positiven Vorstellungsinhalt gewährt, noch gewähren kann, welcher

das Wesen des Dinges an sich irgendwie ausdeckte und deckte. Jeder positive Vorstellungsinhalt, den wir etwa darüber aussagen mögen, klafft von den größten und unlösbaren Widersprüchen. Daher stellt ja auch jede dogmatische Religion und Philosophie andere und vielfach völlig entgegengesetzte Aussagen (Glaubenssätze, Dogmen) über das Ding an sich auf, ohne dieselben beweisen oder mit den Dogmen anderer Systeme in versöhnlichen Einklang bringen und dadurch die Anhänger

anderer Systeme jemals überzeugen zu können. Durch den Kritizis­ mus steht es fest, daß sich Positives über das Wesen des Dinges an sich nicht aussagen und somit kein Dogma bilden läßt.

And wie

der Kritizismus die Dogmen aller theologisch- und philosophisch­ metaphysischen Systeme nicht als adäquate Vorstellungen vom Wesen

des Dinges an sich betrachten kann, so wird er auch selbst nicht den Versuch machen, neue Dogmen zu bilden. So fest ihm die Exi­ stenz der Gottheit im Glauben steht, so nimmt er doch von einer Er­ kenntnis des Wesens der Gottheit ganz und völlig Abstand, aber nicht etwa aus Leichtfertigkeit und Frevelmut, auch nicht aus materialisti­ scher oder atheistischer Verachtung und Geringschätzung, sondern aus

kritischer Demut, d. h. aus der Demut, welche aus heißringendem, inbrünstigem Forschungsdrange um der Erkenntnis und Wahr­ heit willen und darum aus sorgfältigster Kritik hervorgeht. Denn wir haben das Gebiet unserer Erkenntnis als ein relativ eng und fest begrenztes kennen gelernt uud in dem Dinge an sich das „Bis hierher und nicht weiter!" gefunden, über welches kein menschlicher Geist weder durch wissenschaftliches Denken, noch durch dichterische Phantasie, noch gar durch die mystischen Mittel der Schwärmerei

und Ekstase hinausgelangt.

Der Dogmatismus stellt den menschlichen

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

135

Geist auf der Stufe des Jünglings dar, der in schwellendem Über­ schwang das All in seiner Äand zusammenballen zu können meint; im Kritizismus hat der Geist die Reife des seines Selbst wahrhaft

bewußt gewordenen Mannes erreicht, dessen Größe und Kraft in seiner Verzichtleistung auf das Unmögliche und seinem um so energischeren

Streben innerhalb seiner als solcher erkannten Grenzen besteht. Dogma-

matismus ist geistiger Äochmut, Kritizismus ist geistige Demut, der ja auch eine gewisse Wehmut niemals fehlt. Welch ein Wahn der Menschen, die wir nicht einmal die in der Wahrnehmung und An­ schauung erfahrungsmäßig gegebenen Erscheinungen auf ihren Kern

hin zu durchdringen vermögen; die wir wohl die Erscheinunger» z. B. der Gravitation, des Magnetismus, der Elektrizität usw. erfahren,

aber weit entfernt sind, das innerste Wesen dieser Naturkräfte zu kennen; welch ein Wahn, zu meinen, wir hätten erkannt oder könnteil je erkennen das Tiefste, Schwerste, Allumfassende und Fernestliegende, den Llrgrund aller Dinge, das Wesen der Gottheit! Ist dies nicht

die hochmütigste Selbstüberhebung und der verblendetste Mangel an Selbsterkenntnis? Wird hier nicht in Beziehung auf das Äöchste, und deshalb um so strafwürdiger, Schein für Wahrheit ausgegeben? Im Kritizismus kommt das auf peinlichste Selbsterkenntnis sich stützende demütige Bekenntnis zum Vorschein, daß der Mensch in Beziehung auf das Erste und höchste wirklich zu den „Armen an Geist" ge­

hört; aber es kommt dem in Selbstverblendung groß gezogenen Menschen so schwer an, zu bekennen: Ich weiß nicht — und in

Eitelkeit und Anmaßung zieht er den glänzenden Wissensschein der gründlichen Einsicht in das Nichtwissen vor. Weil denn unsere Kleinheit wohl zur Idee des göttlichen Seins, jedoch keineswegs zur Er­

kenntnis des Wesens desselben (denn dazu müßten wir nicht mehr und nicht minder als genau die Gottheit selbst sein) hinanreicht, so bleiben wir bescheidentlich vor dem Unerkennbaren stehen und vermehren nicht von neuem die ewig gescheiterten und ewig scheiternden Versuche, etwas Positives über das Wesen des ürgrundes schwärmend zu erdichten und die Zahl der religiösen und philosophischen Dogmen zu vergrößern. Aber wie werden wir uns denn den Dogmen der posittven und geschichtlich gegebenen Religionen gegenüber verhalten? Der Kritizis­

mus kann kein einziges über den letzten Grund aller Dinge aufge­ stelltes Dogma weder einer Religion noch einer Philosophie als absolute, nach allen Regeln kritischer Erkenntnistheorie bewiesene

Wahrheit anerkennen.

Er kann ja selbst nicht einmal unantastbare

136

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

Beweise für die Existenz des Dinges an sich, geschweige in Beziehung

auf das Wesen desselben führen, da alle sogenannten Beweise auf dem Fehlschluß von dem Bedingten auf das Anbedingte beruhen; auch hilft hier weder erfahrungsmäßige Induktion noch begriffliche

Deduktion.

Logisch beweisen kann er also

die Existenz des Dinges

an sich nicht, aber er ist erkenntnis-theoretisch-transzendental und also psychologisch-organisch, d. h. durch die Natur unserer geistigen Orga­ nisation und aus derselben heraus unumgänglich genötigt, die Existenz an sich im erkenntnistheoretisch notwendigen Glauben zu setzen. Denn die Grundfunktion unseres Geistes, die Kausalidee, welche wir nicht etwa auch nicht haben könnten, zwingt uns (und dieser Zwang befriedigt uns, denn er ist der innerste Ausdruck des Wesens unseres

Geistes, Freiheit jedwedes für das

und wir folgen ihm gern und haben das Gefühl innerer und Befreiung, nur wenn wir ihm voll und ganz folgen) für eine Arsache zu suchen und zu setzen; sie zwingt uns, wie einzelne im All, so für das ganze All die zureichende Arsache

zu setzen, d. h. die Idee des Dinges an sich oder der Gottheit zu fassen; sie zwingt nicht blos diesen oder jenen Menschen, sondern die

ganze Menschheit in Religion und Philosophie.

Aber vergessen wir

auch hier nicht die schneidigste Kritik im Interesse unserer wahren Selbsterkenntnis. Dieser Zwang nämlich ist trotz aller menschlich­

subjektiv-psychologischen Notwendigkeit doch noch kein absoluter Beweis im Sinne strengster Erkenntnistheorie, denn der Beweis der Existenz könnte nur durch die unmittelbare Anschauung des Dinges an sich in Zeit, Raum, Kausalität und Empfindung geführt werden, welche An­ schauung unmöglich ist. Wie wir nicht ontologisch aus Begriffen,

so können wir auch nicht aus einem psychisch-subjektiven inneren Zwang und Drang, so naturnotwendig derselbe in uns sein möge, eine objektive Existenz und nun gar eine objektive Existenz an sich beweisen. Beweisen mit mathematischer Notwendigkeit also läßt sich

auf Grund der Kausalidee die Existenz des Dinges an sich nicht, und dies umsoweniger, als, wie wir gezeigt haben, die Richtigkeit der Kausalidee für uns zwar unbezweifelbar, aber zugleich ebenso unbe­ weisbar ist. Die Kausalidee ist notwendige, subjektive Äberzeugung in uns; daß aber der Weltprozeß

an sich so kausal verlaufe, wie

wir es vorstellen, kann daraus nicht bewiesen werden. So ist die Gottesidee eine notwendige subjektive Äberzeugung in uns, aber aus dieser noch so notwendigen, subjektiven Äberzeugung läßt sich gleich­

wohl kein erkenntnistheoretisch strikter, weder erfahrungsmäßig-induktiver,

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

noch begrifflich-deduktiver Beweis

137

für die Existenz eines der Idee

entsprechenden Wesens führen. Aus der Notwendigkeit der Kausal­ idee in uns folgt zweifellos die Notwendigkeit der Gottesidee in uns und also auch die Notwendigkeit des Gottesglaubens in uns. Diese subjektive Notwendigkeit in unserem Geiste ist aber offenbar keines-

weges identisch mit der Notwendigkeit der objektiven Existenz Gottes,

geschweige der Notwendigkeit einer Erkenntnis seines Wesens. Der Kritizismus zeigt also, daß wir mit menschlich-allgemeingültiger Not­

wendigkeit die Existenz eines Gottes glauben müssen, aber mathematisch­ strikte Beweise für die Existenz Gottes nickt geben können; denn aus keiner psychologisch noch so notwendigen Überzeugung von etwas folgt

die (allein aus der Anschauung hervorgehende) objektive Existenz an sich dieses Etwas. Das muß man kritisch wohl auseinanderhalten. Vielleicht liegt in dieser subjektiv notwendigen Überzeugung, eben

weil sie aus der Tiefe unseres Geistes kommt und wir uns von ihr nicht loslösen können, ein objektives Band, welches uns an die Gott­

heit selbst knüpft, wie es der Dogmatismus ja auch als sicher an­ nimmt; vielleicht ist die Kausalidee die eigentliche angeborene Gottesidee, welche uns wie ein Stempel eingedrückt ist und somit auf die Existenz Gottes hinweist; aber ein Vielleicht ist kein Gewiß, und eine Annahme kein Beweis. Die Gottesidee also in uns und der Gottesglaube in uns ist notwendig und menschlich-allgemeingültig, aber die Notwendig­

keit der Existenz des Geglaubten bleibt damit trotzdem unbewiesen. Wie die Kausalidee selbst nicht ein zufällig entstandener, bloßer Ge­ wohnheitsglaube, wie jöume wollte, vielmehr ein unbezweifelbares, subjektiv-notwendiges Axiom in uns und doch, weil dasselbe unbeweis­ bar bleibt, ein Glaube, aber ein absolut notwendiger und menschlich­ allgemeingültiger ist, so ist also auch die aus ihr entspringende Gottes­ idee nicht blos ein zufälliger, sondern ein menschlich-allgemeingültiger und notwendiger Glaube, den wir haben müssen. Aber eben weil sie Glaube ist, kann die Existenz Gottes

vom Kritizismus nicht als ein Dogma d. h. als eine Wahrheit von objektiv-bewiesener Notwendig­

keit, sondern nur als subjektiv-notwendiger Glaubenssatz chingestellt werden, und ebensowenig kann der Kritizismus Dogmen über das Wesen und die Eigenschaft der Gottheit im besonderen aufstellen, da das Wesen des Dinges an sich für uns unerkennbar sst. Andererseits aber muß der Kritizismus ebensosehr allen Atheis­ mus zurückweisen, der die Nichtexistenz des Dinges an sich beweisen zu können meint. Das Ding an sich ist uns lediglich als Idee, aber

138

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

als notwendige Idee gegeben. Aus ihr folgt mit Notwendigkeit der Glaube an die Existenz des Dinges an sich. Der Glaube aber an die Nichtexistenz kann gar nicht daraus folgen, weil, wenn wir sagten: es gibt kein Ding an sich — wir uns die Möglichkeit einer jeden be­

friedigenden Erklärung des Daseins der Erscheinungswelt, der physischen

wie der psychischen rauben würden; weil wir dann die Erscheinungs­ welt als ein Sein ohne Arsache, also aus nichts geworden, mithin

selbst als nichtig und gleich nichts sehen müßten, was alles im ab­ soluten und von keinem ernsten menschlichen Geiste ertragenen Wider­ streite gegen die Grundidee des menschlichen Geistes selbst, daß nämlich

alles seine Arsache haben muß, stehen würde. Wir müßten mit einer solchen Behauptung uns selbst gleich nichts und aus nichts geworden sehen; wir müßten also alles Etwas oder alles Sein überhaupt und den Kausalitätssah zugleich leugnen, kurz einen Nihilismus bekennen, welcher die Nichtexistenz aller Denk- und Seinsprozesse überhaupt proklamieren und damit den Gipfel aller erkenntnistheoretischen Ab­ surdität bezeichnen würde. Der Glaube an die Nichtexistenz des Dinges an sich kann also auf Grund unserer Kausalfunktion im Ernste überhaupt nicht entstehen, oder wir müssen die Grundfunktion des Geistes selbst aufheben. Bewiesen aber endlich kann die Nichtexistenz

des Dinges an sich so wenig werden, wie die Existenz, denn auch der Atheismus kann in seinen Beweisen immer nur vom Bedingten auf das Anbedingte schließen; er muß also stets in dieselben Schluß­ fehler verfallen, welche auch der Nichtatheismus in seinen Beweis­ versuchen begeht.

Dazu käme aber noch, das, während der Nicht­

atheismus wenigstens von einem (dem bedingten) Sein auf ein anderes (das unbedingte) Sein schließt, der Atheismus die im vollkommenen

Widerspruche zu dem Kausalitätsgeseh, daß aus nichts nichts werden

könne, stehende Absurdität beginge, von einem bedingten Etwas auf ein unbedingtes Nichts zu schließen, ein Schluß, in welchem alle Logik aufgehoben ist. Der Kritizimus erweist sich überall als ein zweischneidiges Schwert; wie er in gleichem Maße Materialismus und Spiritualismus traf,

so trifft er auch hier in gleichem Maße die Beweisversuche des Atheismus wie des Nichtatheismus. Denn da das Ding an sich seinem Wesen nach unerkennbar bleibt, so kennt er oder anerkennt er kein einziges, weder positives noch negatives, Dogma, insofern es sich für absolut wahre und bewiesene Erkenntnis ausgeben will. Daraus folgt nun zunächst klar das negative Verhältnis des Kritizismus zu

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

139

jeder geschichtlich gegebenen und gewordenen dogmatischen Reli­ gionsform. (Wir sagen: das negative; es wird sich später zeigen,

daß der Kritizismus auch ein durchaus positives Verhältnis zu den­ selben einnimmt.) Handelt es sich um kritisch strikte Erkenntnis und gebärdet sich irgend eine der geschichtlich gegebenen Religionsformen so, als ob sie in ihren besonderen Dogmen die absolute, kritische Er­

kenntniswahrheit besäße, so kann sich gegen ein solches Gebaren der Kritizimus nur negativ verhalten, weil die Anmöglichkeit, über das Ding an sich Dogmen im Sinne von kritischen Erkenntnissätzen auf­

zustellen, feststeht, Handelt es sich mithin um solche kritische Erkennt­ nis, so kann der Kritizismus weder christlich noch jüdisch noch buddhistisch noch heidnisch noch theistisch noch deistisch noch pantheistisch noch atheistisch oder was sonst sein.

Zu all diesen Religionsformen

muß er sich verhalten, wie sich etwa die Mathematik zu den ver­ schiedenen Naturwissenschaften verhält, nicht partikularistisch d. h. so

daß er nur einer Neligionsform angehörte und nur diese anerkennte, sondern universalistisch d. h. in negativer Beziehung so, daß er keiner derselben der absoluten Wahrheits- und Erkenntnisgehalt zugesteht,

wobei aber andererseits gerade er imstande ist, ein positives Verhält­ nis zu ihnen allen einzunehmen, insofern nämlich, als er ihnen allen eine relative Berechtigung und Notwendigkeit zuzuschreiben vermag,

ja zuschreiben muß. Doch das erörtern wir erst später genauer; vor­ her ist noch ein anderer Punkt zu erledigen. Wir haben gesagt, kein Dogma über die Existenz oder das Wesen Gottes kann bewiesen werden, die Gottesidee beruht aber auf einem subjektiv-notwendigen d. h. nicht etwa bloß individuellen, sondern menschlich-allgemeingilttgen Glauben. Alle Religion beruht demgemäß

nicht auf einer absoluten Erkenntnis, vielmehr auf notwendigem Glauben. Jetzt aber fügen wir noch hinzu und klären damit das Verhältnis des naturgemäß gegebenen und in der Tiefe unzerreißbaren Zusammenhanges von Religion und Wissenschaft noch mehr. Auch

die Wissenschaft verhält sich in dem in Frage stehenden Punkte nicht um einen Deut anders als die Religion, denn auch die Wissenschaft, alle Wissenschaft beruht in ihrem letzten Grunde nicht auf einer absoluten Er­ kenntnis, sondern auf einem allgemein-menschlich notwendigen Glauben.

Alle Wissenschaft, beruht nämlich auf dem Grundsätze der Kausalität, daß alles seine Arsache haben müsse. Wir haben aber1 klar gezeigt, daß 1 Vgl. des Verfassers Philosophie der Naturwissenschaft Bd. II. S. 259 ff. Beweis 7 und 8.

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

140

dieser Satz weder induktiv, noch deduktiv beweisbar, und doch, weil

aus unserer psychophysischen Organisation folgend, für uns zugleich

absolut unbezweifelbar ist. Das Grundaxiom der Kausalität ist also ein Glaube, zwar nicht ein Glaube im Sinne Lumes, denn da ist er nur ein aus Gewohnheit entstandener und relativ zufälliger, sondern ein für uns unumgänglich notwendiger Glaube, da er die Grund­ organisation

unseres

gesamten

Geisteslebens

ausmacht.

Alle

Wissenschaft beruht also gerade wie die Religion auf notwendigem

Glauben. Noch mehr! Wissenschaft und Religion beruhen in diesem ihrem

notwendigen Glauben sogar beide auf demselben Grundstein, denn

wir haben schon gezeigt, daß aus derselben in uns liegenden apriorischen Kausalität oder aus demselben Arsächlichkeitstriebe die Wissenschaft und die Religion hervorgeht. Ihr Fundament ist also genau dasselbe: ein notwendiger Glaube hier und ein notwendiger Glaube dort. In der Tiefe unseres Geistenslebens kann es also unmöglich eine Kluft zwischen Wissenschaft und Religion geben; der Zwiespalt kann

immer nur zwischen religösen Partikulardogmen und wissenschaftlichen Partikularlehrsätzen bestehen. Sofern sich jene religiösen Partikular­ dogmen und diese wissenschaftlichen Partikularlehrsätze auf die Dinge

an sich beziehen, sind beide gleich falsch; sofern sich jene Dogmen auf Auschauungsobjekte der Welt der Erscheinungen beziehen und im Widerspruch gegen strikt bewiesene Gesetze der Natur stehen, sind jene Dogmen falsch. Dieser Widerstreit aber spielt offenbar nur auf der Oberfläche der Religionen und der besonderen Wissenschaften, während die Religion im kritischen Sinne, als der notwendige Glaube an eine

primäre, erste Arsache, das Ding an sich oder die Gottheit, und die Wissenschaft im kritischen Sinne, als die Sucherin und Setzerin der

sekundären Arsachen, niemals im Widerstreit stehen können, vielmehr notwendige Ergänzungen bilden, welche erst in ihrer Vereinigung die Bedürfnisse des menschlichen Geistes allseitig befriedigen. Wir werfen jetzt die beiden Fragen auf: Was bleibt uns im

Sinne des kritischen Empirismus für die Wissenschaft und an Wissen­

schaft übrig?

And was bleibt uns in demselben Sinne für die Re­

ligion und an Religion übrig? Für die menschliche, relativ begrenzte Wissenschaft bleibt zur Er­ forschung offen das ganze weite Gebiet der in Zeit und Raum kausal verknüpften Empfindungen, die unermeßliche Welt der Erscheinungen

Wissenschaft und Religion oder Wiffen und Glauben

141

oder die Natur im weitesten Sinne des Wortes. Hier sind wir völlig auf dem Ansrigen, wo wir nach kritischer Methode erfolgreich forschen, gesicherte Erkenntnisse erzielen und sie für die Zwecke unseres mensch­ lichen handelns verwerten können. Von einer absoluten Erkenntnis freilich wie sie ein naturwissenschaftlicher Dogmatismus träumt, ist

hier ebensowenig die Rede, wie von einer absoluten Nichterkenntnis, wie sie Skeptizismus und Nihilismus behaupten. Wohl aber liegt vor uns ein relatives Erkenntnisgebiet von relativer Erkennbarkeit,

dessen Grenze das Ding an sich bildet; ein Gebiet das gegenüber dem Absoluten wohl ein begrenztes, aber dennoch für uns Menschen seinem Inhalte nach von unermeßlicher Weite und unerschöpflicher Tiefe ist. Auf dieses Gebiet richte alle deine Erkenntniskraft, in ihm lösche deinen Erkenntnisdurst, denn „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; „Tor, wer dorthin die Augen blinzend richtet . . . „Er stehe fest und sehe hier sich um! „Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm."

Äeberfliegst du aber die Grenzen dieses Gebietes und betrittst

du den Weg „Ins Unbetretene, „Nicht zu Betretende; ein Weg ans Anerbetene „Nicht zu Erbittende,"

Entsiiehst du „dem Entstandenen in der Gebilde losgebundene Räume" — „Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne, „Den Schritt nicht hören, den du tust, „Nichts Festes finden, wo du ruhst."

Denn die Dinge an sich, die „Mütter" aller Dinge in der Welt der Erscheinung, „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, „Am sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; „Von ihnen sprechen ist Verlegenheit"

(Faust)

Was bleibt uns zweitens für die Religion und an Religion übrig? Das, was wir den kritischen Glauben nennen im Gegensatz zum dogmatischen. Das Wesen dieses kritischen Glaubens muß erläutert werden. Wir haben gesagt, daß die Idee des Dinges an sich als der ersten Llrsache des Alls überhaupt aus der Kausalität in uns hervor-

142

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

gehe. Aber wir haben auch schon im dritten Kapitel (S. 58 f.) nachgewiesen, wie die Idee des Dinges an sich nicht erzeugt werden würde, wenn nicht ein eigentümliches Verhältniß zwischen unserem Willen und den Erscheinungen oder in Summa der Erscheinungswelt überhaupt bestünde. Unser Wille ist kein unbeschränkter; wie unsere

Erkenntnis ist auch er begrenzt; er wird immerfort gehemmt, sowohl insofern die Bewegung der Erscheinungen ohne sein Wollen, als auch, insofern sie sogar gegen sein Wollen stattfindet. Diese Äemmung veranlaßt den Geist zu dem Schluffe; es ist also ein anderes außer mir. Die Idee des Dinges an sich ist also die Idee der hypostasierten

Kausalität; aber die negative Bedingung (t>. h. die Bedingung, ohne welche die Äypostasierung nicht vollzogen sein würde) ist die Ohnmacht unseres Willens gegenüber der Erscheinungswelt; ohne diese Ohnmacht und ohne das Gefühl derselben würde jener Schluß und die Lypostasierung nicht zustande kommen. Dies gilt aber genau so von dem Dinge an sich in seiner religiösen Form oder von der Gottesidee. Sie ist hypostasierte Kausalität, insofern Gott als erste Ursache aller Dinge betrachtet wird. Aber daß wir zu dem Schluffe auf eine

solche erste Ursache kommen; daß in unserem Geiste aus seiner Kau­ salitätsidee die Gottesidee gebildet wird — dazu den Anstoß und die Veranlassung gibt uns unsre absolute Ohnmacht gegenüber, und unsere absolute Abhängigkeit von der Welt. (5Mer sieht man übrigens,

nebenbei gesagt, auch deutlich ein, daß die Gottesidee als solche nicht unmittelbar „angeboren" ist, denn sie wird erst im psychologisch­ logischen Prozesse aus der Kausalität gebildet; diese letztere ist „ange­

boren".)

Diese Ohnmacht und Abhängigkeit ruft den Schluß in uns

hervor; es muß noch ein anderes als Ich dasein, eine Ursache an sich — woraus dann mit dem fortschreitenden Erkennen der Abhängigkeit aller Dinge in unserer Welt zuletzt der allgemeinste Schluß entsteht: „Es muß einen ersten und höchsten Urgrund geben, aus dem alles

hervorgeht und von dein alles abhängt." Diese größte und erste Ur­ sache, existent gedacht, ergibt die Gottesidee, das Objekt der Religion. So ist es klar, daß das Abhängigkeitsgefühl eine unentbehrliche Be­ dingung in der Erzeugung der Religion aus dem Menschengeiste ist. Das Abhängigkeitsgefühl ist aber nur negative Bedingung; die Kau­ salidee des Intellekts ist die erzeugende Ursache hinsichtlich der Gottes­

idee; denn erst die intellektuale Schlußtätigkeit der Äypostasierung der Kausalidee gebiert die göttliche im Geiste; das Abhängigkeitsgefühl dagegen treibt die Geburt hervor, und — last not least

— macht

Wissenschaft uni> Religion oder Wissen und Glauben

143

dem Menschen die Gottesidee für immer unvergeßlich, indem es ihn in jedem Augenblick an seine Ohnmacht, Schwäche, und Beschränkung

erinnert und ihn somit antreibt immer von neuem den Schluß auf das göttliche Ding an sich zu machen. Die Wissenschaft aber und besonders der kritische Empirismus zerstört dieses Abhängigkeitsgefühl nicht bloß nicht, sondern bringt es

im Gegenteil erst recht lebhaft zum Bewußtsein. 3e mehr die Wissen­ schaften mit kritischer Strenge das Verhältnis unseres leiblichen und seelischen Daseins zur Welt erkennen, umsomehr legen sie diese unsere Abhängigkeit überall bloß. Aber gerade der Kritizismus ist es, welcher diese unsere Abhängigkeit in allerklarster Weise uns zum Be­

wußtsein bringt, denn gerade er ist die Lehre, deren ganze Tendenz darauf hinausgeht, die Schranken und Grenzen unseres Erkennens und damit unseres Könnens uns zweifellos deutlich vor die Augen zu stellen. Sein „Erkenne dich selbst" heißt nichts anderes als „Er­ kenne deine Schranken!"

Er steigert also das bloße Gefühl der 9lb-

hängigkeit in uns zu vollster Klarheit des bewußten Erkennens der­ selben. Das Abhängigkeitsgefühl aber leitet uns auf die Idee des Dinges an sich oder der Gottheit. Der Kritizismus befördert also gerade durch die Sckärfe seiner Kritik die Erkenntnis der absoluten

Notwendigkeit des Religiösen und macht aus unkritischen Verächtern der Religion kritische Verehrer derselben. Die kritische Einsicht ferner in unsere macht erzeugt

Schwäche und Ohn­

das Gefühl der tiefsten Bewunderung und Demut

gegenüber demjenigen, wovon wir abhängen, d. h. die echteste religiöse Gemütsstimmung, aus welcher notwendig das sich selbst bescheidende Dichten und Trachten, die wahre Wesensfrömmigkeit hervorgeht. Der Kritizismus ist nach alledem weit entfernt, in kaltem und erkältendem Gegensatze zur Religion zu stehen, sondern treibt im Gegenteil immer wieder im höchsten Maße dazu an, in der klaren Erkenntnis unserer

Begrenzung und Abhängigkeit die Idee dessen, wovon wir abhängen,

die Gottesidee, zu denken, und im vollen Bewußtsein unserer Gering­

fügigkeit das Gefühl wahrer Demut d. h. echte religiöse Stimmung in uns zu erwecken. 3e feuriger und inbrünstiger aber dieses Demutsgefühl auf Grund

unseres kritischen Erkennens in uns entbrennt, um so lebhafter und tiefer wirkt es bestimmend auf unser Wollen und Handeln ein —

und hier ist also der Punkt, wo wir einsehen, daß gerade der Kriti­ zismus die Philosophie der Läuterung ist, welche im Verlaufe dieses

144

Wissenschaft und Religion oder Wiffen und Glauben

psychischen Prozesses auch die wahre moralische Stimmung in uns hervorruft und unser Wollen und Landein zum wahrhaft sittlichen

emporhebt. Denn je tiefer wir erkennen, wie wenig unser Selbst ist, um so gründlicher legen wir den Lochmut ab, dieses Selbst für den Mittelpunkt alles Seins zu halten, wie die natürlich naive Selbstsucht des kritisch nicht geläuterten Menschen es stets tut; um so selbstsucht­ loser gestalten wir uns; um so fteudiger erkennen wir alle anderen Wesen in ihrem Sein und Landein als berechtigt an; um so ent­ schiedener wachsen wir aus der natürlichen Feindschaft gegen sie heraus

und in die Nächstenliebe hinein; und je höher unsere stetige Selbst­ kritik steigt und damit die Selbstsucht fällt, um so erwärmender und glutvoller entlodert in uns jene Allliebe, aus der alle echte Sittlich­ keit allein hervorgeht, und die ihren vollendetsten menschlichen Ausdruck in jenem Lymnus des ersten Korintherbriefes (Kap. 13) gefunden hat:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz, oder eine klingende

Schelle.

And wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse

und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. And wenn

ich alle meine Labe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen,

und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntnis aufhören wird."

Im Kritizismus feiern also Wissenschaft, Religion und Ethik ihre vollendete Versöhnung; sie stützen und tragen sich gegenseitig, und keins ist ohne das andere. Lier ist die Wissenschaft in der Er­ kenntnis ihrer Schranken frei in ihrem Gebiete und nie im Wider­

spruch gegen das religiöse Objekt oder die religiöse Stimmung oder das sittliche Wollen; hier ist der Glaube, frei von dogmatischen Schranken, im engsten Bunde mit dem kritiksamsten Wissen; hier ist

die vollständigste Einheit von echtem Wissen, sittlichem Wollen und notwendigem Glauben; hier stehen also zusammen — das kritische Wiffen, das kritische Wollen und das kritische Glauben. Der Inbe­ griff aber aller dieser Faktoren, dieses so bestimmte Wiffen, Wollen

und Glauben mit allen den aus der Klarheit des Wissens, der Reinheit des Wollens und der Sicherheit des Glaubens entspringenden erheben­ den und beseligenden Stimmungen, Gefühlen, Antrieben, Entschließungen

und Landlungen ist es, was wir als die allgemeingiltige, kritische Religion gegenüberstellen den besonderen, dogmatischen Religionen.

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

145

Diese kritische Religion ist durch und durch idealistischer Natur, ist doch überhaupt der Kritizismus eine absolut idealistische Weltan­ schauung ; denn jedes Objekt ist das Produkt der Eigenkräfte unseres Geistes, welche die physische Vielheit des durch die Weltreize veran­ laßten Empfindungsmaterials zur psychischen Einheit d. i. zum Objekt verarbeiten. So ist auch der Inbegriff aller Objekte, unsere Welt, insofern sie unsere Vorstellungswelt ist (nicht das Ding an sich der­ selben), Produkt unseres Geistes und abhängig von unserem Bewußt­

So ist denn das Geistige der eigentlich schöpferische Urquell unserer gesamten Weltanschauung, und der kritische Empirismus in allen seinen Stücken kritischer (nicht dogmatischer) Idealismus und das Gegenteil und die Aufhebung jeder materialistischen Weltauffassung. Die kritische Religion zeigt ihren idealistischen und antidogma­ sein.

tischen Charakter auch darin, daß sie dem individuellen Gefühl volle geistige Freiheit gewährt und gewähren muß. Denn Positives kann niemand über den Inhalt und das Wesen des Göttlichen aussagen. Daher kann auch keine einzige allgemeine Formel aufgestellt werden, welche für alle Individuen allgemeingiltig und verbindlich wäre; um so weniger als, abgesehen von der Unbeweisbarkeit der Nichtigkeit

ihres Inhaltes, sie auch die verschiedenen Individualitäten nach der Seite des Gemüts hin nicht in gleicher Weise befriedigen könnte. Denn jedes Individuum hat kraft der unsagbaren Verschiedenheit, in welcher das Wesen der Individualität besteht, seine nur ihm eigenen, besonderen Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen; jedes Individuum lebt in einer um etwas verschiedenen, in seiner Welt. Je nach seiner geistigen

und körperlichen Entwicklung ist seine gesamte Weltanschauung, sein Fühlen, Denken und Wollen und somit auch die dasselbe befriedigende erhebende und beseligende Vorstellung von dem Göttlichen eine andere. Eben daraus entspringt und erklärt sich die Vielfältigkeit der Religi­ onen, und der Konfessionen und Sekten innerhalb einer und derselben Religion. Ist die christliche Religion eine einheitliche bei allen? Ganz abgesehen von den großen Unterschieden zwischen den ver­ schiedenen Formen des Katholizismus und Protestantismus, ist sie

nicht einmal genau dieselbe sogar in den einzelnen Bekennern einer und derselben Sektenformel. Sie kann es Nichtsein; die Verschieden­ heit ist das Natürliche, weil die Individualität das Natürliche ist.

Jeder Zwang zur Uniformierung ist gegen die Natur und das natür­ liche Recht des Individuellen. Wie verschieden haben nicht in der christlichen Religion die einzelnen Apostel das Wesen und die BeSchultze, Credo und Spera 10

146

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

deutung Jesu Christi aufgefaßt! So wenig also die verschiedenen Menschen eine und dieselbe Auffassung von der Welt und ihren Zu­

ständen, so wenig können sie eine und dieselbe Auffassung von dem Wesen des göttlichen Llrgrundes haben. Ist ein Individuum dichte­ risch angelegt, so schaut es seine Welt in dichterischer Verklärung;

einem nüchtern

und

praktisch

veranlagten

Individuum

»ernüchtert

sich auch sein Weltbild. Ebenso aber spiegelt sich auch der innerste Kern der Individualitäten in ihrer Auffassung vom Gött­ lichen ab, wie schon Goethes Ausspruch bezeugt: „Wie einer ist, so ist sein Gott. Drum ward auch Gott so oft zum Spott."

So muß mithin jedes Individuum eine andere Vorstellung von der Gottheit in sich tragen, eine Vorstellung, welche sich in ihrer Form wie in ihrem Inhalte ganz nach der eigentümlichen Entwicklungsstufe des Individuums richtet. Je niedriger der Mensch noch in seinem Er­ kennen und Wollen steht, um so niedriger ist noch seine Gottesvor­ stellung (Fetischismus, Polytheismus, Anthropomorphismus): barba­

rischer Völker Gott ist notwendig selbst Barbar.

Je

höher

der

Mensch entwickelt ist, um so geistiger und sittlicher stellt er auch das Göttliche vor. Da das Göttliche an sich nicht erkennbar ist, so füllt der Mensch (und er, der überall an der konkreten Erscheinung haftet und die für sein Erkennen relative Leere des Dinges an sich nicht er­ tragen kann, hat ein Recht dazu) die für ihn leere Vorstellung des Dinges an sich in konkreter Weise mit dem aus, was er in seiner Vorstellungswelt als das Höchste, Edelste und Schönste betrachtet. Seine Phantasie füllt aus und ergänzt, was die Erkenntnis ihm ver­ sagt. Worin er selbst seine Ideale findet, das überträgt er in poten­ zierter Weise auf seine Gottesvorstellung. So wird sein Göttliches sein höchstes Ideal. Ob nun dieses Ideal wie bei barbarischen

Völkern relativ noch sehr tief, oder ob es bei höherer Entwicklung höher stehen mag — immer ist dieses sein göttliches Ideal dem

Menschen Objekt der Verehrung, das er je nach seinem Verhalten fürchtet und liebt, und das ihm Vorbild, Maßstab und Muster für sein Leben und Landein wird. Gerade darin liegt aber der unendlich hohe erzieherische Wert der Gottesidee als des Ideales für die Menschen, und dieser Wert bleibt ewig, weil, es möge der geistige und sittliche Zustand eines Menschen noch so hoch steigen, er sich das Ideal immer noch höher

vorstellen kann, sodaß das Ideal ewig unerreichtes und unerreichbares Musterbild bleibt, mithin auch ewig zum Streben anfeuert. Gerade

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

147

deshalb aber müssen wir die Gottesidee auch nicht bloß theoretisch anerkennen, sondern auch in der Praxis des Lebens sie uns als den Inbegriff aller unserer höchsten geistigen und sittlichen Ideale vorstellen und sie als solchen so hoch halten wie möglich. Denn je höher wir das Göttliche uns vorstellen, um so höher erhebt sich unser Vorstel­ lungsleben selbst in seinen Idealen und Strebezielen; um so kräftiger

wirkt dieser erhabene Vorstellungsinhalt erhebend auf unser Wollen und Landein int theoretischen wie praktischen Gebiete ein. Deshalb darf man andererseits aber auch einen Menschen oder eine ganze menschliche Gesellschaft nicht mehr an Sätze und Formeln

über das Wesen des Göttlichen binden und fesseln wollen, wenn dieser Mensch oder diese menschliche Gesellschaft über den relativ be­ reits zu niedrigen Inhalt der Formel geistig und sittlich schon hinaus­ gewachsen ist, und wenn ihre eigene Gottesvorstellung schon eine idealere geworden ist. And ebensowenig, will man sich nicht einer Sünde gegen den Geist der menschlichen Entwicklung schuldig machen,

darf man jemals bestrebt sein, eine menschliche Gesellschaft auf einer relativ niedrigen Stufe der Gottesvorstellung deshalb zu belassen, weil jene Gesellschaft sich nicht schon aus eigenem Antriebe selbst eine

höhere zu bilden bemüht sei; es ist vielmehr eine nie aufhörende Pflicht, ein immer noch höheres Ideal zu lehren, sobald das vorher­ gehende, und sei es selbst auch schon relativ hoch, völlig begriffen, anerkannt und in die Praxis einer menschlichen Gesellschaft ein­ gedrungen ist. So ist jeder dogmatische Stillstand im Glaubens­ leben gegen den Geist einer wahrhaft kritischen Religion, welche vielmehr eine unendliche Entwicklung und Ausbildung der Gottes­

vorstellung und

also die stetige Aufwärtsbewegung im Glaubens­

leben fordert. Die Gottesidee entsteht mit Notwendigkeit in uns aus der Tiefe des menschlichen Geistes. So kann denn der kritische Glaube von einer wirklichen Offenbarung Gottes im Menschengeiste reden; nicht

zwar so, als ob sich Gott nur einem Menschen oder nur einem Volke oder nur einmal offenbart habe, vielmehr so, daß er sich in der Vor­ stellungswelt eines jeden Menschengeistes offenbart. Diese Vor-

stellungswelt umfaßt die gesamte, dem Menschen erschlossene Natur. So offenbart sich in unserer gesamten Natur der göttliche Argrund. In diesem kritischen Sinne, der gleichwohl nicht zu verwechseln ist mit einem spinozistisch-transcendenten und dogmatischen Sinne, ist Naturforschung auch Gottesforschung, und von einem Widerstreit io*

148

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

zwischen Naturwissenschaft und Religon kann im Sinne des Kritizis­ mus gar keine Rede sein. Diese unsere Vorstellungswelt umschließt

auch unsere eigene, innere seelische Natur. So quillt auch in uns die Offenbarung des Göttlichen in unseren Bestrebungen und Ge­ danken, um so reiner und größer, je keuscher und edler diese selbst sind. Die Zahl der Propheten ist deshalb auch keine beschränkte und abgeschlossene: in einem jeden ernsten Forscher und ernsten Finder, der das Reich des menschlichen Denkens und handelns erweitert, d. h. ein neues Stück des göttlichen Seins in das Bewußtsein der Menschheit eintreten läßt, verehrt die kritische Religion einen Gottespropheteu. Mit Recht also redet der kritische Glaube von einer

universellen

göttlichen

Offenbarung

in

Natur,

Wissenschaft

und

Kunst; jede partikularische Engherzigkeit einer beschränkten Offenbarung dagegen liegt nicht in seinem Sinne. So unerkennbar an sich das Wesen des Göttlichen ist, so ent­ steht doch die Zdee des Göttlichen mit Notwendigkeit in jedem

Menschengeiste; so füllt auch mit Notwendigkeit jeder Mensch aus seiner Phantasie die Gottesidee mit dem seiner Entwicklungsstufe ent­ sprechenden Vorstellungsinhalt aus, so entstehen also mit Notwendig­

keit unendlich viele Formen der Religion oder Religionen, welche alle psychologisch notwendig und insofern relativ (für das jeweilige Individuum) richtig und wahr sind, und von denen doch keine einzige

die absolute Wahrheit ist, weil das Wesen des Göttlichen an sich in keine menschliche Vorstellungsschranke eingefügt, beschlossen und be­ griffen werden kann. Alle Religionen also sind tastende und ahnende

Symbolisierungen des Göttlichen, keine die absolute Erkenntnis derselben.

Daraus ergibt sich denn, welches positive Verhältnis der Kritizismus zu den geschichtlich gegebenen, positiven Religionen, (wie dem Christen­

tum, Judentum, Buddhismus, Mohammedanismus usw.) einnehmen muß. Keine einzige dieser Religionen kann uns in ihren Dogmen die absolute Wahrheit über das Göttliche geben; trotzdem können und müssen wir einen relativen Wahrheitsgehalt einer jeden zuschreiben

und deshalb auch einer jeden die volle Existenzberechtigung und Existenznotwendigkeit in Äinblick auf die ihr entsprechende Entwicklungs­

stufe des menschlichen Geistes zugestehen. Denn so unendlich verschieden die Entwicklungsstufen der mensch­ lichen Geister sind, sowohl hinsichtlich der Entwicklung eines Individuums durch die verschiedenen Lebensalter hindurch, als auch in der ganzen Gattung von einem stumpfen Wilden an bis zu einem Goethe und

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

149

Kant hin, so unendlich verschieden entstehen aus jenen verschiedenen Geisteszuständen heraus die mannigfachen Weltauffassungen, wie sie in Religionen, Wissenschaften und Philosophieen ihren Ausdruck

suchen und erhalten. So entspricht notwendig einer jeden geistigen Entwicklungsstufe eine bestimmte Auffassung vom Göttlichen, eine bestimmte religiöse Vorstellungsweise.

Wie anders ist diese Auffassung

bei dem peruanischen Inka oder dem Kinde, welche beide alles Ernstes sagen: Die Sonne ist der liebe Gott! — Wie anders bei dem

Christen oder Buddhisten, wie anders bei dem Angelehrten und An­ gebildeten, wie anders bei dem philosophierenden Gelehrten! Dürfen wir deshalb sagen: Die Auffassung, welche jener Inka und das

Kind hat, ist falsch und unwahr und hätte nicht zu sein brauchen,

allein die Vorstellung des philosophierenden Gelehrten ist die richtige? Es kann eine höhere Vorstellung im Geiste des Individuums wie der Menschheit nie entstehen und niemals voll erfaßt werden, wenn nicht alle notwendigen, die höheren Entwicklungen erst konstituierenden niederen Entwicklungsstufen vorangegangen sind. Es kann die kritische Philosophie nicht auftreten, wenn nicht die gesamte dogmatische Philosophie mit ihren vielen Systemen vorangeht. Es kann die Kopernikanische Weltanschauung nicht entstehen, wenn nicht die Ptolemäische vorangeht und durch ihre Widersprüche jene erweckt. Da jeder individuelle Mensch wie die gesamte Menschheit eine all­

mähliche psychologischen Entwicklung von niederen zu höheren Vorstellungs-, Willens und Gefühlsformen durchläuft, so ist auch jede Religionsauffaffung für die bestimmte geistige Entwicklungsstufe, auf der

sie entstanden ist, die adäquate und die darum notwendige und relativ wahre, und auch für die Pädagogik entspringt daraus hinsichtlich der religiösen Entwicklung und Erziehung eines jugendlichen Menschen der Grundsatz, ihm nicht gleich und ohne weiteres die höchsten Vor­

stellungen vom Göttlichen zu geben, wie das philosophische Nachdenken sie entwickelt hat, und wie sie von jenem noch gar nicht verstanden

werden und deshalb für seine Erziehung wirkungslos bleiben würden — sondern mit den anschaulichen, anthropomorphen und mythologischen Formen zu beginnen, allerdings mit der Absicht, sie nach und nach, den aufeinanderfolgenden Ausbildungsstufen gemäß, immer mehr zu

erhöhen und zn vergeistigen. Lieraus ergibt sich hinsichtlich des Verhältnisses eines und des­ selben Individuums zu den verschiedenen Religionsformen noch eine psychologische Tatsache von Bedeutung. Je tiefer ein Mensch in

150

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

geistiger Beziehung steht, um so einseitiger und unveränderlicher ist er in seinen geistigen Anschauungen und deshalb auch um so leichter

und einfacher zu befriedigen in seinen geistigen Bedürfnissen. Ze höher aber ein Mensch entwickelt ist, um so vielseitiger weiß er die Welt zu betrachten, um so leichter kann er sich in die mannigfachsten

Vorstellungsarten, Weltanschauungen und Denkweisen, sei es einzelner Individuen, sei es ganzer Familien, Stämme und Völker, hinein­ versetzen; um so beweglicher ist seine Phantasie; um so veränderlicher sind sein Fühlen und Begehren; um so veränderlicher also auch seine geistigen Bedürfnisse im allgemeinen, und also auch seine religiösen

Bedürfnisse im besondern.

Bei einem dergestalt reichen und weit­

reichenden Geiste genügt eine einzige, besondere Religionsform gar nicht einmal für alle Phasen seines Geisteslebens. Versetzt er sich in den Geist des klassischen Altertums und will er in diesem Geiste dichten und schaffen, so muß er imstande sein und ist imstande, religiös im Sinne des Polytheismus zu fühlen. Ebenso muß er mittelalterlich­ kirchlich, theistisch, pantheistisch, buddhistisch usw. fühlen können je nach dem gerade vorliegenden Vorstellungs- und Gefühlsinhalt, welchen

er lebhaft in sich erweckt und bearbeitet. So kann man von ihm gewiß nicht sagen: er ist immer nur Christ oder Jude oder Polytheist — denn zu gewissen Zeiten kann er in seinem Vorstellungsleben je eines von diesen allen und zu anderen Zeiten wieder keines von diesen allen sein. And das ist nicht etwa zufällig so, sondern je inhaltsund umfangreicher ein menschlicher Geist sich entfaltet, umsomehr be­ darf er geradezu je nach seinen wechselnden und besonderen Stimmungen

sehr verschiedener Religionsanschaungen zu seiner Befriedigung. Es ist daher, um den Schluß aufs Allgemeine zu ziehen, überhaupt not­

wendig, daß je höher die Entwicklung der Menschheit steigt, um so freier, mannigfaltiger und also undogmatischer das religiöse Vorstellen sich in all ihren einzelnenen Individuen gestalte. Ein Beispiel für diese notwendige Flüssigkeit der religiösen Vorstellungsweisen in dem

geistig hochentwickelten Menschen bietet Goethe. „Ich für mich", sagt er (Brief an Jacobi vom 6. Januar 1813) „kann bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist dagegen als Naturforscher, und eines so entschieden wie das andere. Bedarf ich

eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

ersassen können."

151

Dies gilt aber nicht bloß von Goethe, sondern von

jedem höher entwickelten Menschen.

Die meisten werden sich dieser

ihrer tatsächlich vorhandenen Beweglichkeit und Flüssigkeit ihres religiösen Fühlens nur nicht klar bewußt. Aber sogar unser allge­ meiner Blildungszustand treibt die Menschen mitten in diese Viel­ seitigkeit des religiösen Vorstellens hinein. Von einem wirklich gebildeten Manne verlangt man heute ein Verständnis für das Alter­

tum, das Mittelalter und die Neuzeit, eine Bekanntschaft mit den Denkarten und Gefühlsweisen der verschiedenen Völker, eine Kenntnis der Religionen und Poesieen im Orient und Occident. Wer kann,

wenn er nicht polytheistisch zu fühlen vermag, einen hellenisierenden Schiller, oder, wenn er nicht pantheistisch zu fühlen weiß, einen Goethe in seinen philosophischen Gedichten, oder wenn er nicht theistisch zu fühlen

versteht, ein Buch Liob

erfassen und begreifen?

Lind

doch versenkt sich unser Geist ganz und voll mit Eingebung und Genuß in diese verschiedensten Anschauungen. Wer vor einer Aphrodite­ statue nicht Lellene, vor einem Muttergottesbilde nicht mittelalterlicher Katholik, vor einem Kaulbachschen Reformationsbilde nicht Protestant

und

der Natur gegenüber nicht Pantheist sein kann, der versteht

keines von diesen. So ist es denn einem universell gebildeten Menschen ganz unmöglich, in dogmatischer Weise nur eine religiöse Richtung ausschließlich zu Mensch kann das ertragen.

haben; nur ein einseitig entwickelter Derselbe Goethe, welcher hier Polytheist

und dort Pantheist war, ist doch auch wieder ein echter Christ, wenn er schreibt: „Das höchste Lob gebührt der christlichen Religion,

deren reiner, edler Llrsprung sich immerfort dadurch betätigt, daß nach den größten Verirrungen, in welche sie der dunkle Mensch hin­

einzog, ehe man sich's versieht, sie sich in ihrer ersten lieblichen Eigentümlichkeit, als Mission, als Hausgenossen- und Brüderschaft

zur Erquickung des sittlichen Menschenbedürfnisses immer wieder hervortut." Lind Goethe ist hier kein Llnikum, er stellt nur den universell gebildeten modernen Menschen überhaupt dar, der auch „bei den mannigfaltigen Richtungen seines Wesens an eiuer Denk­ weise nicht genug hat." Wie mancher würde, wenn er für sich ein

Bekenntnis ablegen wollte, gestehen müssen, daß er je nach der in ihm gerade mächtigen Gefühls- und Gedankengruppe heute der schärfste Skeptiker und Kritiker gegen dieses oder jenes Dogma dieser oder jener Religion sei, und morgen doch in voller Llnbefangenheit still für sich die Lände zusammenlege, um einem Vater im Limmel zu

152

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

danken oder ihn zu bitten. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Notwendigkeit für jeden Menschen, der eine vielseitigere Entwicklung an und in sich erlebt. Nun ist es aber keine Frage, daß mit der Zeit die Bildung der gesamten Menschheit intensiv und extensiv universeller werden wird. Die unvermeidliche und durch keine dogmatisierende Reaktion zurückzuschraubende Folge davon ist aber, daß die Religion in der Zukunft eine für das Individuum immer freiere und in ihm stets eine vielseitigere im erklärten Sinne werden wird. Deshalb würde man in Wahrheit im Interesse unseres gegenwärtigen und zu­ künftigen Kulturstandes handeln, wenn man grundsätzlich und mehr, als es geschieht, die Wahl der ihm passenden religiösen Vorstellungs­ form dem Individuum freistellte; ausgeschlossen müßten nur die Formen werden, welche geradezu unsittliche Maximen im Sinne alten Götzendienstes in sich verwirklichen wollten. Dann würde jedes Individuum im Laufe seiner Bildung und Entwicklung die ihm adäquate Religionsform finden und religiös bleiben, während jetzt viele, da es ihnen hier das wahrhaft Ihrige zu finden versagt ist, nunmehr alle Religion über Bord werfen und dann nicht bloß in der Theorie, sondern auch in ihrer Lebenpraxis irreligiös und vielfach unmoralisch werden. Jede Religion ist nach alledem eine relativ wahre; eine falsche wird sie in dem Moment, wo sie sich für die absolut wahre und einzig berechtigte hält. Denn jede, auch die höchste Neligionsform verhält sich in Beziehung auf das Wesen des göttlichen Dinges an sich immer nur asymptottsch. Amsomehr verhält sich eine Religion so, je mehr sie noch in und am Sinnlichen hängt und in sinnlichen Symbolen das Göttliche entweder verehrt oder wenigstens darstellt. Der ungeistigere Mensch zwar gebraucht das sinnliche Symbol not­ wendig, um sich zum lebendigen, inneren Fühlen anzuregen; wie das Kind bedarf er der Anschauung, da er zu abstrakterer Vorstellung noch nicht befähigt ist. Insofern ist in der Religion die Versinnbild­ lichung notwendig und unentbehrlich. Vergißt man dabei freilich, wie es oft genug geschieht, daß das Sinnbild nur Gleichnis ist, und hält man wie in den Verfallstufen eines fetischistischen Bilderdienstes das materielle Bild oder Ding selbst für das unmittelbar Göttliche, so nimmt man wieder eine bloße einzelne Erscheinung für das Ding an sich und sintt damit in die rohesten Tiefen des religiösen Vor­ stellens überhaupt zurück. Wie nun den historischen Religionen im allgemeinen, so ist auch

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

153

jeder besonderen Dogmatik ein relativer Wahrheitsgehalt im erläuterten

psychologischen Sinne zuzugestehen. Denn jede besondere Dogmatik ist gewissermaßen eine solche Krystallisationsform der Anschauungen über das Göttliche, wie sie bestimmte Menschen in einer bestimmten Zeit sich gebildet und für wahr gehalten haben. Alle Dogmatiken haben demgemäß, wie sie historisch mit psychologischer Notwendigkeit

geworden sind, so auch ihre historische, also relative Wahrheit, Be­ deutung und Berechtigung. Es verhält sich mit ihnen aber in einer späteren Zeit vergleichsweise so wie mit Lebeformen aus der Sekun­ därzeit, welche, wenn sie auch heute kein Recht mehr haben zu existieren, in ihrer Zeit eine berechtigte und notwendige Entwicklungs­ stufe bildeten. Wie aber diese Lebeformen im Laufe der Entwicklungs­ geschichte der Vergänglichkeit anheimfielen, weil eine neue Formenten­ denz sich mit Notwendigkeit bildete, so ist auch jede Dogmatik, weil sie entstanden ist, vergänglich wie alles Entstandene, und sie erliegt mit Notwendigkeit ihrem Schicksal, sobald in der Menschheit eine neue allgemeingültige geistige Tendenz sich gebildet hat. Darüber aber,

ob

eine besondere Dogmatik oder eine ganze

Religion als ausgelebt zu bezeichnen ist, kann niemals der einzelne, sondern nur die Entwicklung der Jahrhunderte und Jahrtausende entscheiden. Denn solange noch irgend ein Mensch in einer besonderen Religionsform die volle und alleinige Stillung der Bedürfnisse seines Geistes und Gemütes findet, ist dieselbe noch nicht entbehrlich und zerstörbar. So kann denn auch der Kritizismus und seine kritische

Religionsanschauung keineswegs die Tendenz haben, die einzelnen bestehenden positiven Religionen zerstören zu wollen oder als entbehr­ lich hinzustellen. Auch würde eine solche Tendenz, sich mit feind­ seligen Angriffen gegen irgend eine positive Religionsform zu richten, ganz und gar gegen die sittliche Pflicht des Menschen verstoßen, welche ich die kritische Toleranz nennen will, und welche der Kritizis­

mus vor allem zu üben hat, da er ja jedem Individuum das Recht zugestehen muß, seine Individualität in jeder idealen Richtung voll und unverkürzt auszuentwickeln, also auch die zu seiner Individualität

Gleichwohl steht die Religionsanschauung des Kritizismus da als ideale Norm und ideales Strebeziel für alle Religionen, insofern dieselben suchen müssen,

paffende Religionsform sich mit Freiheit zu wählen.

im wahrhaft pädagogisch von ihnen zu befördernden Fortschritt der

allseitigen Erziehung des Menschengeschlechtes sich und dieses der kritischen Vorstellung vom Göttlichen und der Form der kritischen

154

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

Religion mehr und mehr anzunähern, indem sie die Dogmatik all­ mählich in den Hintergrund, das kritische Wissen, Wollen und Glauben aber in den Vordergrund treten lassen. Da dieses aber eine so hohe Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts voraussetzt, wie sie bis jetzt im allgemeinen noch lange nicht erreicht ist, so kann die kritische Religion zunächst auch nur als IdeeZund Ideal dastehen, und die positiven Religionen müssen so lange in Kraft und Bedeutung bleiben, als das menschliche Gemüt im allgemeinen Befriedigung in ihnen findet. Gerade in diesem Letzteren aber, daß die historischen und positiven Religionen imstande waren, und imstande sind, das Gemüt unge­ zählter Menschen voll und ganz zu befriedigen, liegt ihr unendlich hoher psychologischer Wert für das einzelne Subjekt, und es verrät nur Kurzsichtigkeit und Anverständnis für die unbeschreiblich mannig­ fachen und verschiedenartigen Bedürfnisse der vielen gequälten und gedrückten Menschenherzen, wenn der theoretische Nihilist alle positive Religion überhaupt wegen der vielfach ihren Dogmen anhaftenden Widersprüche, oder der Anhänger einer bestimmten Neligionsform die übrigen Religionen verachtet, verspottet und anfeindet. Soviel aber ist allemal sicher, daß ein solcher frivoler Zerstörer und Anfeinder niemals etwas Besseres oder auch nur annähernd psychologisch gleich Wertvolles für die betreffenden Menschengemüter an die Stelle zu setzen hat. Denn nur dann kann eine andere religiöse Vorstellung ein Individuum innerlich voll befriedigen, wenn sie die Lösung der Zweifel und Beängstigungen enthält, welche in dem Individuum selbst aus dessen tiefstem Herzensgründe entstanden sind. In diesem Falle entsteht aber auch mehr oder weniger schon ganz von selbst mit innerer Notwendigkeit im Individuum die ihm nunmehr adäquate, neue religiöse Vorstellungsweise, und wenn solche Entwicklungen eine ganze große menschliche Gesellschaft ergreifen, so erhebt der soge­ nannte Reformator dasjenige nur zu völlig klarem Bewußtsein, was unbewußt in den meisten schon nach Leben rang. Eben weil wir uns der Religion gegenüber kritisch verhalten, so verurteilen wir auch jeden Versuch, in frivoler Weise jemandem seinen Glauben zu ent­ würdigen oder gar zu rauben und ihm einen neuen aufzudrängen. Ja, selbst wenn dieser neue geistiger und also relativ besser wäre — er ist für das Individuum erst dann gut, wenn es selbst ihn sucht und findet. Auch das Bessere aufzudringen, ist intoleranter Fana­ tismus. Man lehre das Bessere, daß alle es hören und darüber

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

155

nachdenken, aber man vergewaltige nicht. Wo der Zweifel nicht selbst im Innern notwendig und aus ernstem Streben entsteht; wo er nur

äußerlich herangetragen und nicht innerlich voll und ganz verarbeitet wird, ist er keine Leuchte, sondern eine Brandfackel. Man bedenke doch die Verantwortlichkeit, der man sich aussetzt, wenn man einem Menschen etwas, das ihm wert und teuer ist, worin er Trost und Frieden findet, woraus er für all sein Leben und Streben Kraft und Mut schöpft, das also subjektiv sein alles ist, wäre es auch objektiv

das wenigste — wenn man, sage ich, ihm dieses Gut raubte, ohne ihm eine Gegengabe bieten zu können, welche dieselbe Wirkung her­ vorbrächte. Was hilft es, einer Mutter, welche ihr Kind verloren, vom Moduscharakter des Menschen, dem allgemeinen Wechsel aller

Dinge und der Notwendigkeit des Todes des Kindes aus gewissen physiologischen Prozessen, die naturgemäß in ihm verliefen, vorzu­ reden? 3hr warmer Llnsterblichkeitsglaube (so unbeweisbar derselbe kritisch auch sein möge) und die Äossnung auf ein zukünftiges Wieder­

sehen leistet hier mehr als alles andere, nämlich genau das, was not tut: sie spenden Beruhigung und Trost. Ihr diesen Glauben rauben, ihr für das religiöse Dogma ein kritisch vielleicht ebenso unbeweis­ bares philosophisches Dogma bieten, welches nicht einmal eine nur annähernd so große Kraft der Tröstung enthält, hieße in Wahrheit, einen Stein für Brot geben.

Der Kritizismus ist daher weit davon

entfernt, den psychologischen und subjektiven Wert eines festen posi­ tiven Glaubens zu verkennen; nur das muß er mit Nachdruck hervor­ heben und unerschütterlich betonen, daß nicht bei allen Individuen dieser Glaube derselbe sein kann, noch zu sein braucht, und daß es

jedem Menschen frei stehen muß, in und aus welchem Glauben, den er selbst sich gestaltet, er seinen Trost und seine Befriedigung schöpfen will.

Denn jener unendlich hohe psychologische Wert eines Glaubens

für ein Subjekt ist ja eben nur dann vorhanden, wenn derselbe mit allen seelischen Bedürfnissen des Subjektes sich völlig und ganz deckt;

das aber kann nur der Fall sein, wenn der Glaube eines Individuums, aus dessen eigenstem, tiefstem Innern selbst herausgewachsen ist. Die positiven Religionen sind indes nicht nur insofern von un­ endlichem Werte, als sie dem geängsteten Menschengemüt besonders durch Belebung der Hoffnung in keiner Weise zu ersetzende Tröstungen darbieten, sondern endlich auch insofern, als sie die unentbehrlichsten Hilfsmittel zumal für die sittliche Erziehung des Menschen und der Menschheit bilden. Wir meinen dies hier nicht bloß in dem naiveren

156

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

Sinne, nach welchem der Mensch in der Soffnung auf einen Simmel und in der Furcht vor einer Solle angetrieben wird, das Gute zu tun, und das Böse zu lassen: wir meinen es auch nicht bloß in dem

des sittlichen Sandelns durch die direkten Sittenlehren und Sittenpflichten, welche die verschiedenen Re­ feineren Sinne der Beeinflussung

ligionen dem Menschen ins Gewissen schärfen: wir meinen es viel­ mehr in dem vollen ümfang, in welchem Lessing den pädagogischen Wert der Religionen in seiner, ihrem Gehalte nach noch lange nicht erschöpften Schrift über „die Erziehung des Menschengeschlechts" be­

handelt. Der Inhalt dieser Schrift unter Sinzufügung des Begriffs der kritischen Relgion bezeichnet in der Tat das religiöse Ideal für alle Zukunft. Die Religionen bilden eine Stufenfolge, so lehrt auch Lessing, welche von den niederen zu den höheren emporsteigt. Ihr Zweck ist, die Menschheit zu erziehen. Der besonderen niederen oder höheren Entwicklungsstufe des Menschheitszöglings entspricht .eine niedere oder höhere Religion, welche dem Zögling das für ihn passende Lehr- und Lernbuch in die Sand gibt. Das Alte Testament ist ein solches Elementarbuch des erziehenden Llnterrichts. Aber nichts würde

den Grundsätzen der Erziehung mehr widersprechen, als wenn man dieses Elementarbuch auch da noch dem Zögling belassen wollte, wo

sein Geist bereits über die Vorstellungen die Buches hinausgewachsen und hinausgereift ist. Für die höhere geistige Entwicklungstufe muß auch ein neues Lehrbuch in Kraft treten. Dieses neue Lehrbuch ist das Reue Testament, aber es ist kein Grund abzusehen, warum mit dieser Stufe des Reuen Testamentes die religiöse Entwicklung für

alle Zeiten abgeschlossen und ihr Ende erreicht haben sollte. Es wird gewiß eine Zeit kommen, wo auch die Menschheit im ganzen, wie jetzt schon viele Einzelne, das Gute tun und das Böse lassen werden nicht mehr aus den Motiven der Furcht und der Soffnung, sondern

weil das sittliche Sandeln an sich gut und göttlich ist, weil es in sich

selbst seinen ewigen Wert trägt, sodaß aus innerster Einsicht und Überzeugung von seinem Werte das Pflichtgefühl im Menschen ent­ steht.

hin:

Das Christentum in seiner reinsten Form führt selbst darauf „Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufe

der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie? Nie? — Laß mich diese Lästerung nicht denken. Allgütiger! — Die Erziehung

hat ihr Ziel, bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzelnen. Was erzogen wird, wird zu etwas erzogen. Die schmeichelnden Aus­ sichten, die man dem Jüngling eröffnet, die Ehre, der Wohlstand,

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

157

die man ihm vorspiegelt, was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum

Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu tun vermögend sei.

Darauf zweckte die menschliche Erziehung ab, und die göttliche reichte dahin nicht? Was der Kunst mit dem einzelnen gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung! Nein, sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Voll­ endung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer besseren Zukunft sich fühlt, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungs­ gründe zu seinen Wandlungen zu erborgen nicht nötig haben wird, da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die inneren besseren Belehrungen des­ selben zu erkennen. Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird." 1 Wann freilich diese Zeit kommen

wird, wer vermöchte es zu sagen? „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Anmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurückzugehen! — Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist." (§ 91.) Anter diesem pädagogischen Gesichtspunkt erweist sich jede positive Religion als eine notwendige Ent­ wicklungsstufe, von der aus wir aber immer wieder im Laufe der Zeit zu einer noch höheren gelangen werden. Jede positive Religion hat des­ halb ihren pädagogischen Wert; keine positive Religion aber ist die absolute und letzte.

Das theoretische Verhältnis des Kritizismus zu den positiven

Religionen ist klargelegt: es folgt daraus auch seiner Anhänger praktisches Verhalten gegen dieselben. Von einer feindseligen .Haltung kann offenbar keine Rede sein.

Wer wie der Kritizist den Wert der

positiven Religionen voll erkennt und rückhaltlos anerkennt, würdigt sie auch in der Praxis des Lebens als zuverlässiger Freund. Feind

aber von Herzensgrund ist der Kritizismus und müssen seine An­ hänger allerdings denjenigen sein, deren selbstsüchtige Sonderintereffen ihrer persönlichen Macht und Herrschsucht darauf hinausgehen, unter

dem Mantel der Religion die Freiheit der Individualität, des Ge­ dankens und der religiösen Überzeugung mit roheren oder feineren 1 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts.

§ 81—86.

158

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

Solche aber sind nicht Freunde, sie sind die wahren und rechten Feinde der Religion, welche Mitteln zu unterdrücken und zu vernichten.

die Irreligiosität Einzelner wie ganzer Massen mehr verschulden als selbst der theoretische und ethische Materialismus. Mit Recht sagt Lessing in derselben „Erziehung des Menschengeschlechts" (§ 78): „Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über diese Dinge jemals An­ heil gestiftet und der bürgerlichen Gesellschaft nachteilig geworden. — Nicht den Spekulationen: dem Ansinn, der Tyrannei, diesen Speku­

lationen zu steuern; Menschen die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen." Der Kritizismus kann zur Religion nie in einem feindlichen Ver­ hältnis stehen, ebensowenig aber, richtig betrachtet, die Philosophie überhaupt, mit Ausnahme des Materialismus und Nihilismus. Wohl

können einzelne Philosophieen sich einzelnen Religionen gegenüber negativ stellen, nicht aber die Philosophie als solche der Religion als solcher gegenüber, weil Philosophie und Religion in ihrem Wesens­ grunde und Grundwesen durchaus dasselbe sind. Denn jede Religion ist nichts anderes, als der Inbegriff der Vorstellungen, welche sich die Bekenner derselben über das Wesen der Menschen und der Welt und das Verhältnis beider zu dem göttlichen Argrunde des Alls

machen, samt den daraus entspringenden Gefühlen und Motiven für das menschliche Landein. Genau dasselbe ist aber auch jede Philosopie: Auch sie ist nichts anderes als der Inbegriff der Vorstellungen, welche sich die Anhänger derselben über das Wesen des Menschen und der Welt und über das Verhältnis beider zu dem göttlichen Ar­ grunde des Alls machen, samt den daraus entspringenden Gefühlen

und Motiven für das menschliche Landeln. Nun sind zwar in den einzelnen Religionen und Philosophieen der besondere Vorstellungs­ inhalt oder ihre einzelnen Lehren erheblich verschieden, aber alle be­ handeln doch dasselbe Thema und Objett. So ist mithin Religion

allgemeine Weltanschauung, und Philosophie ist allgemeine Weltan­ schauung, wie verschieden dieselben im einzelnen Falle auch ihrem In­ halte nach gestaltet seien, und ein wie verschiedenes Fühlen, Wollen und Landein sie auch bei ihren Anhängern Hervorrufen mögen: ein innerer Anterschied zwischen Religion und Philosophie ist demnach nicht vor­ handen. Der Anterschied ist lediglich ein äußerer und, wenn ich so

sagen darf, ein quantitativer, nicht ein qualitativer. Denn dieser ganze äußere Anterschied läuft darauf hinaus, daß eine Philosophie die Re­ ligion weniger und eine Religion die Philosophie vieler ist.

Eine

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

159

Religion ist eine zur allgemeinen Volksphilosophie gewordene Welt­

anschauung, welche nunmehr Theorie und Praxis des Volkes be­ stimmt. Die Religion ist die Philosophie der Schwachen im Geist, die Philosophie ist die Religion der Starken im Geist. Daß dem so ist, zeigt sich schon daran, daß jede Religion sich

aus einer Philosophie entwickelte. Denn jede Religion war zuerst die theoretische und praktische Weltanschauung einiger weniger oder sogar eines einzelnen, später gewöhnlich vergötterten Weisen oder

Propheten, der, weil er Neues lehrt, deshalb zuerst immer als Re­ volutionär betrachtet und verfolgt wird, bis seine neuen Ideen die

alten siegreich überwinden und die unbestrittene Herrschaft über alle Geister erlangen. Damit ist denn die neue Philosophie zu einer neuen Religion erweitert. Alle Religionen sind so in die Welt ge­ treten, und innerhalb einer Religion ist allemal das Nachdenken über das Wesen des Menschen, der Welt und der Gottheit d. h. das Philosophieren der Faktor gewesen, welcher Widersprüche in den re­ ligiösen Ideen aufdeckt, sie ausmerzt, die religösen Anschauungen ver­ feinert, reinigt und weiterbildet, bis der Unterschied gegenüber den alten Anschauungen so groß wird, daß man dann wieder von einer

neuen Religion redet. Diesen sich fortgesetzt wiederholenden Gang zu zeigen, bildet den eigentlichen Inhalt aller Neligionsgeschichte, Weil auf diese Weise jede Religion sich aus einer Philosophie ent­ wickelt, so kann es kommen, daß bei einem Volke von älterer Kultur­ entwicklung ein Lehrsystem schon religiöse Geltung gewonnen hat, welches bei einem anderen Volke von jüngerer Kulturentwicklung nur erst als philosophische Lehre bei einem oder einigen Weisen auftritt. Mit Recht ist in dieser Beziehung schon auf den Parallelismus hin­ gewiesen worden, welcher sich zwischen den Lehren gewisser griechischer Philosophen und den Lehren gewisser alter orientalischer Religionen bekundet. So stehen die Religion der Chinesen und die pythagoreische Philosophie, die Religion der brahmanischen Inder und die eleatische

Philosophie, die Religion der alten Perser und die herakliteische Philosophie, die Religion der Ägypter und die Philosophie des Empedokles, die Religion der Juden und die Philosophie des Anaxagoras in einer derartigen Geistesverwandtschaft. Deutlich tritt auch

hier der Zusammenhang von Ontogenie und Phylogenie entgegen. Den verknüpfenden Fäden ferner zwischen Platonismus und Christen­ tum sind wir schon früher nachgegangen. Wenn man nach alledem das wahre Wesen der Philosophie und

160

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

-er Religion sich klar macht, so besteht zwischen beiden zweifellos kein innerer Wesensunterschied, geschweige eine unüberbrückbare Kluft. Die Feindschaft entbrennt nur dann, wenn eine einzelne Philosophie

oder eine einzelne Religion sich allein im Besitze der ausschließlichen Wahrheit glaubt und dieser ihrer theoretischen Einbildung die blutige Praxis des Fanatismus und der Intoleranz folgen läßt.

Sobald aber Religionen wie Philosophieen erkannt haben, daß sie alle nur menschlich-relative Annäherungen an den Inhalt des Göttlichen sind,

daß deshalb eine jede relativ berechtigt und doch keine die absolute ist; daß daher auch einem jedem Individuum das Recht seiner Äber-

zeugung zusteht; und wenn dann die Praxis aller Bekenner, so ver­ schieden sonst ihr Bekennis sein möge, von dem Ausspruche des Apostels geleitet wird, welcher wahrlich Theorie und Praxis des Kritizismus voll und ganz enthält: „Unser Wissen ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk. . . . Run aber bleibet Glaube, Äoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen" — dann kann von einer Feindschaft zwischen Religion, Philosophie und Wissenschaft weder in der Theorie, noch in der Praxis je mehr die Rede sein. Darin besteht eben der unendliche Segen des Kritizis­

mus, daß er die Aussöhnung aller der Gegensätze anbahnt, welche friedlos die Welt durchtoben: er zeigt der Wissenschaft ihre not­ wendigen Grenzen, welche sie auf die Welt der Erscheinungen ein­ schränken; er weist die Notwendigkeit und ewige Geltung der Religion

auf, indem er den Glauben an die Existenz einer Welt der Dinge

an sich als einen notwendigen Glauben erkennt; aber er zerstört den Fanatismus der Religionen, indem er, bei aller Anerkennung einer relativen Berechtigung einer jeden Sonderreligion, die Anhaltbarkeit eines jeden Dogmatismus als unfehlbarer und absoluter Wahrheit beweist, da das positive Wesen des Dinges an sich unserer Erkenntnis

verschlossen ist.

So ist die Religion in ihrem Gebiete frei und die

Wissenschaft in dem ihrigen, nicht aber in dem Sinne wie ein Aristo­ teles 1 oder ein Bacon beide befreien wollte, indem er beide als völlig

unvereinbar isolierte; vielmehr in dem Sinne, daß er beide als Brüder aufzeigt, die aus demselben Grunde des Geistes, aus der Kausalidee, als Zwillinge entsprossen sind. Aber endlich auch das sittliche Landein

des Menschen weist der Kritizismus auf den idealsten Pfad.

Denn

aus der gründlichen Erkenntnis der menschlichen Beschränktheit und ' Vgl. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 3. Aufl. 5 Bd. Ilb. S. 797.

Wissenschaft und Religion oder Wissen und Glauben

Relativität folgt

161

mit Notwendigkeit das Aufgeben der Selbstsucht,

das Streben nach Selbstsuchtlofigkeit, mit einem Worte die Allliebe, aus der das wahrhaft sittliche Sandeln entspringt: „aber die Liebe ist die größeste unter ihnen." Wissen, Glauben und Wollen finden hier also ihren Einheirs-

und Einigungspunkt, welchen kein Dogmatismus gewähren kann, da jedes Dogma scheidet, selbstgewiß, hochmütig und unduldsam macht;

welchen vielmehr nur kritische Selbsterkenntnis gibt, die zur Demut, Selbstsuchtlofigkeit und Allliebe leitet. And darum sprechen wir es aus in vollster Überzeugung: Nur in der Weltanschauung des Kritizismus oder des kritischen Empirismus wird die Welt den Geistesfrieden finden, der ihr heute mehr als jemals not tut. Dieser Friede kann aber allseitig nur gegründet werden, wenn jeder ihn in sich selbst be­ gründet — in ernstem Nachdenken über die Welt, in aufrichtiger Erkenntnis des eigenen Selbstes und in unablässigem sittlichem Streben,

das Selbst im Sinne der Allliebe von Selbstsucht zu läutern.

Von sich

fange jeder an; in sich selbst begründe jeder diese Harmonie seiner Person, so kann allein die Weltharmonie entstehen, welche den großen

Dreiklang echter wissenschaftlicher Wahrheit, freien kritischen Glaubens und reiner selbstsuchtloser Allliebe ertönen läßt.1 1 Über die Arentwicklung der Religion findet man Ausführliches in des

Verfassers Werk „Psychologie der Naturvölker (Leipzig, Veit L Comp. 1900): Drittes Buch (S. 209—359), die religiöse Weltanschauung des Natur­ menschen oder natürliche Entstehungsgeschichte der Religion.

Schultze, Credo und Spera

11

8

Die Psychadentheorie Eine neue Weltanschauung und naturalistische Ansterblichkeitslehre.1 3n der wissenschaftlichen Psychologie gehört es heute zum guten

Tone, die Ansterblichkeitsfrage mit vornehmer Gelassenheit über­ haupt nicht mehr zu berühren, als ob ihre Nichtigkeit längst unzweifel­

haft erwiesen wäre. Das Recht dazu bestreite ich, solange die An­ sterblichkeitshoffnung eine so große praktische Bedeutung besitzt, wie sie tatsächlich für die Menschheit immer noch hat und wahrscheinlich

behalten wird.

Selbst Kant, der mit Recht alle begrifflichen Beweise

der alten ratinonalen Psychologie zertrümmerte und die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis auf dem „finsteren Ozean" der Metaphysik leugnete, hält in seiner Ethik den Ansterblichkeitsglauben als eine zwar niemals aus theoretischen Gründen zu beweisende, doch aus moralischen Gesichtspunkten notwendig sich ergebende Forderung unserer sittlichen

Vernunft aufrecht.

So scheue ich mich denn nicht, den heiklen Gegen­

stand zu behandeln, so unmodern er auch sein mag. Als guter Neu­ kantianer bin ich mir völlig bewußt, die Grenzen der Erfahrung hier

zu überschreiten.

Wenn aber dem „metaphysischen Bedürfnis" im

Menschen noch irgend welche Bedeutung zugesprochen wird; wenn auch nur das geringste Recht zur Behandlung der Ansterblichkeits-

ftage in der wissenschaftlichen Seelenlehre anerkannt werden darf, so glaube ich, im folgenden nur die Schlüffe gezogen zu haben, zu denen

die vorhergehende Antersuchung

mit Notwendigkeit hinführt.

Ich

1 Das folgende Stück stammt aus des Verfassers Werke „Nervensystem und Seele oder Allgemeine Grundzüge der physiologischen Psychologie" (Berlin, Verlag Lermes 1892), Kap. X S. 183—207. Es erscheint hier mit verschiedenen Zusätzen und Auslassungen. Zum vollen Verständnis der Psychadenlehre ist das Studium des ganzen Werkes, aus dem dieser Abschnitt genommen ist, unum­ gänglich notwendig, insbesondere der Kap. V—X, S. 117—202.

Die Psychadentheorie

163

schreibe hier niemandem weder zu Liebe noch zu Leide; ich folge ledig­ lich meinem Erkenntnisdrange, gleichviel ob das Ergebnis den An­ sterblichkeitsfreunden gefällt oder den Ansterblichkeilsfeinden mißfällt. Ich persönlich glaube an eine „geistige Weltordnung", ohne deren Annahme es überhaupt keinen Sinn hat, von einer Entwicklung der Welt und der Menschheit zu reden. Was dabei aber insbesondere für mein Ich endgiltig herauskommen mag, ist mir weder ein Gegen­ stand der Furcht noch

der Hoffnung, genug, daß ich strebe, meine

sittliche Pflicht nach Kräften zu erfüllen. Das Pfaffentum des Materialismus beeinflußt mich in meinen Ansichten von der Ansterb­

lichkeit so wenig, wie das Pfaffentum des Fetischismus. Befriedigen wird die Antersuchung weder den Materialisten, der die Ansterblichkeit leugnet; noch den Orthodoxen, der sich den Zustand der unsterblichen Seelen nach Dantes Art vorstellt; noch den Spiritisten, der die ab­ geschiedenen Geister in bewußter Weise auf Dinge und Menschen einwirken und sie als Gespenster erscheinenen läßt, sondern höchstens

den, der, frei von jeder Voreingenommenheit, sich unbefangen von dem Strome der vorhergehenden Antersuchungen weitertreiben läßt, unbekümmert darum, was die vorsichtigen Leute dazu sagen werden,

die, gründlich in dem sicheren Boden ihrer unbezweifelbaren Meinungen festgewurzelt, am wohlverschanzten Afer stehen.

Der Tod beweist die Oberherrschaft der Seele über den Körper, denn mit dem Verschwinden der seelischen Kraft zerfällt die Form des Körpers. Zur Erkenntnis seiner Seele ist deshalb auch der Mensch durch den Tod gekommen.1

Denn erst da, wo Körper und

Seele sich trennen, wird klar, daß die Seele das A und O des Or­ ganismus ist, ohne welche keine organische Form bestehen kann. Was ist nun der Tod? Der Materialist antwortet: Im Tode löst sich

der Körper auf; die Seele ist ein Erzeugnis des Körpers, mithin

löst sich auch die Seele auf. Der Idealist antwortet: Die Seele löst sich vom Körper los, und da sie die Schöpferin des Körpers ist,

zerfällt dieser. Fragen wir zuerst, ob im Tode der Körper und die Seele ver­ nichtet werden. Von einer Vernichtung des Körpers kann keine Rede sein, denn offenbar wird der Stoff des Körpers nicht zu Nichts; ledig­

lich seine Form ändert sich.

Der chemische Vorgang der Verwesung

zerlegt ihn in seine ursprünglichen Bestandteile.

Wird die Seele ver-

1 Vergl. meine „Grundgedanken des Spiritismus" (Leipzig, 1883) S 200 und meine Psychologie der Naturvölker (Leipzig 1900) S. 253 ff. 11*

164

Die Psychadentheorie

nichtet? Wir haben die Seele als eine Kraft erkannt. Bleiben wir nun auf rein naturwissenschaftlichem Boden; halten wir uns fern von allen religiösen Glaubenssätzen! Die Naturwissenschaft lehrt, daß eine Kraft so wenig vernichtet werden kann wie ein Stoff. Die Kraft kann sich ändern, sie kann andere Formen annehmen. Wenn die Seele eine Kraft ist, so kann von ihrer Vernichtung ebensowenig wie von der des Körpers die Rede sein. Vernichtet kann also weder Körper noch Seele werden. Der Tod ist demnach keine Ver­ nichtung, sondern nur ein Übergang in einen anderen Zustand, in eine neue Form. Von welcher Seite wird dieser Übergang eingeleitet?

Von feiten

der Seele oder des Körpers? Wenn unsere Erklärung des Verhält­ nisses von Seele und Körper richtig war, so befinden sich beide in der Lage zweier, welche einen Vertrag geschloffen haben. Der Ver­ trag kann entweder gewaltsam gelöst werden, dadurch, daß eine der beiden Parteien ihn bricht, oder gütlich dadurch, daß beide Parteien alle Bedingungen bis zu Ende erfüllen. So kann auch der Vertrag zwischen Seele und Körper gewaltsam von feiten des Körpers, näm­ lich durch schädliche Vorgänge in seinen stofflichen Bestandteilen, d. h. durch tötliche Krankheit, gelöst werden. Die Seele ist in diesem Falle mit aller Sorgfalt bemüht, die körperlichen Werkzeuge wieder­ herzustellen; sie sträubt sich gegen die Trennung, wie ein pflichtbe­ wußter Vertragsgenosse. Manchmal gelingt es ihr, die Krankheit zu überwinden, die Wunden zu heilen. Aber die Verletzung des Körpers kann eine so unwiderstehliche sein, daß der Körper nach den Natur­ gesetzen zugrunde geht und sich damit die Trennung der Seele vom Körper wider ihren Willen vollzieht. In solchen Fällen möchte der Mensch nicht sterben, aber er muß. Auch die Seele kann den Ver­ trag brechen, nämlich vor allem im Selbstmord, dann aber in den Zuständen verzehrender Seelenleiden, die infolge eines den Menschen betreffenden und ihn überwältigenden Anglücks eingetreten sind; hier wird die Seele gegen den Körper völlig gleichgiltig; sie pflegt ihn nicht mehr und bringt ihn dadurch zum Verfall. In solcher Lage, aus welcher oftmals der Selbstmord entspringt, möchte der Mensch sterben, oder mindestens ist ihm der Tod gleichgiltig und kein Schrecknis mehr. So löst die Seele entweder mit absichtlicher Gewalt oder durch gleichgiltige Vernachlässigung die Verbindung. Aber beides ist nicht das Naturgemäße, so häufig es vorkommt. Naturgemäß ist es offenbar, daß der Vertrag bis auf den letzten

Die Psychadenlheorie

165

Punkt erfüllt wird, und diese Trennung der Genossen sich somit gütlich und zur Befriedigung beider vollzieht. So geschieht es da, wo der Mensch normal entwickelt und zufrieden und gesund ein hohes Alter erreicht. Der Körper stirbt nicht erst mit dem Tode, sondern in der Greisenzeit bereits Tag für Tag. Allmählich ent­

fremdet er sich all den irdischen Dingen, zu welchen er früher die innigste Beziehung hatte. Die Zeugungskraft ist erloschen, die Muskeln werden schwach, die Arterien verkalken. Der alte Körper kann nicht die Arbeit des jungen leisten; aber er strebt auch nicht mehr danach, er besitzt nicht mehr die fröhliche Raschheit des Jünglings, die feste Stetigkeit des Mannes. Er verlangt nicht mehr, was jene begehren;

er will vor allem Eines, nämlich Ruhe. And dem entspricht auch im Alter der Zustand der Seele, die sich gesetzmäßig entwickelt hat. In der Jugend stürzt sie sich mit ganzer Kraft in das irdische Treiben; Freuden und Leiden der Welt kostet sie bis auf die Siefen. Aber nach und nach gelangt sie zu dem Bewußtsein, daß alle diese

äußerlichen Genüsse nichtig und vergänglich sind, und daß sie die einzig wahre Befriedigung nur in sich selbst, in ihrem geistigen Leben und seiner Entfaltung finden kann. Der weise gewordene Greis sagt sich: „Ich begehre nichts Äußeres mehr, nicht Sinnengenuß, nicht Reich­

tum, nicht Ehre; sie konnten mir solange erstrebenswert erscheinen, als sie mir fehlten. Als ich sie besaß, erwiesen sie sich als leere Schatten. Mein inneres Geistesleben allein ist die wahre Quelle

meiner Befriedigung." Da taucht dann die Äamletfrage auf, ob dieses geistige Wesen im Tode vergehe, oder ob es über das flüchtige Erdenleben hinaus fortdauere? Mehr als einmal habe ich gesunden, daß nun auch Greise, welche früher ganz materialistisch gesinnt waren und jede Ansterblichkeit leugneten, sich jetzt noch einmal ernst mit dieser Frage zu beschäftigen anfingen und zu entgegengesetzten Er­ gebnissen gelangten. Für den weise gewordenen Greis hat auch der Tod nichts Schreckliches mehr. Er ersehnt ihn nicht, er ihn, sondern wartet ihn ruhig ab. Mit einem Kamps endet eines Tages plötzlich ein solches gesundes ist der natürliche Tod, und ich habe die Äberzeugung,

noch fürchtet Seufzer ohne Dasein. Das daß in natur­

gemäßen Lebensverhältnissen diese Art des Tode die vorherrschende sein muß.

In der Verschrobenheit unserer überreizten und ungesunden

Kulturzustände ist dieser natürliche Tod die Ausnahme geworden, und es herrscht der unnatürliche. Richt bloß, daß die Zahl der

Selbstmorde gestiegen ist, die allermeisten Menschen sterben keines

166

Die Psychadentheorie

natürlichen Todes, obgleich er so genannt wird; denn entweder sterben sie vor der Zeit zu früh und zu jung, durch ererbtes Siechtum, eine Schuld oder ein Verhängnis der Eltern, oder wenn sie ein höheres Alter erreicht, unter quälenden Schmerzen, eine Folge ihres

aufreibenden Berufes oder ihrer genußsüchtigen Begierden. Der natür­ liche Tod des gesunden Greises ist kurz und schmerzlos; so wie das Kind von seiner Geburt nichts weiß, so erfährt der gesunde Greis auch nichts von seinem Tode. Diesen Tod zu erreichen, sollte jeder alles daran setzen; jeder so naturgemäß leben, daß er so naturgemäß stürbe. Dazu müßte aber unsere ganze Kultur selbst zur Natur zurückkehren. Der Menschheit den gesunden Tod zurückzuerobern, das ist das wahre Endziel aller sozialen Reformen und eine der höchsten sittlichen Pflichten des Einzelnen wie der Gesellschaft; denn der gesunde Tod setzt auch ein in jeder Beziehung gesundes, körperliches und geistiges Leben voraus, in welchem Arbeit, Genuß und Ruhe in richtigem

Gleichgewicht stehen. Arbeit, Genuß und Ruhe aber für jeden Menschen in das richtige Verhältnis zu setzen, das ist doch wohl der Kernpunkt aller gesellschaftlichen Neuerungen! Was wird nun aus der Seele nach der Trennung vom Körper? Als Kraft kann sie nicht vernichtet werden. Sie wandelt sich aber

auch nicht etwa bloß in die, den toten Körper zersetzenden chemischen und physikalischen Kräfte um, denn sie ist keine dieser blinden Natur­

kräfte. Sie ist nicht aus ihnen abzuleiten, also auch nicht in sie überzuleiten; so kann sie nicht in jene übergehen. Sie muß mithin als selbständige Kraft fortdauern. (Vgl. das zitierte Hauptwerk). Ihr wesentliches, von ihr unabtrennbares Merkmal war, von sich So muß sie auch einen gewissen Grad von Bewußtsein behalten. Damit ist nicht gesagt, daß dies der höchste und hellste Bewußtseinsgrad sein müßte; im Gegenteil, da

zu wissen, bewußte Kraft zu sein.

wir diesen nur bei der mit einem Gehirn verbundenen Seele kennen,

diese Verbindung aber nach dem Tode aufhört, so ist es mir sehr

viel wahrscheinlicher (auch noch aus weiter unten anzuführenden Gründen), daß der Grad ihres Bewußtseins nur ein sehr geringer ist, d. h. daß sie unbewußt weiter existiert. (Vgl. das Hauptwerk). Die Frage: in welcher Gestalt sie weiter existiere? hat, wie schon früher gezeigt, keinen Sinn, da eine bestimmte räumliche Gestalt

sich auf Kräfte nicht beziehen läßt, und die Raumvorstellung in der Seele, nicht sie im Raume ist. (Vgl. das Hauptwerk). Ein weiteres wesentliches und von ihr unabtrennbares Merkmal

Die Psychadentheorie

167

war, daß die seelische Kraft nur in der Form der Individualist existiert. Sie muß mithin als ein von allen übrigen Individuen ver­ schiedenes Individuum fortdauern. And da auch der Trieb als In­

begriff von Empfindung, Wille und Bewegung, wie früher dargetan, zu ihrer innersten Natur gehört, so muß sie Trieb bleiben. Fassen wir diese Bestimmungen zusammen, so ergibt sich, daß die Seele nach ihrer Lostrennung vom Körper als unbewußtes, trieb­

begabtes Individuum oder als unbewußte triebfähige Individualkraft1 fortexistiern muß. Wir sagen mit Absicht „fortexistieren oder fort­ dauern", nicht „fortleben", denn der Begriff „Leben" bezieht sich lediglich auf den Zustand der Verbindung von Seele und Körper; dieser Zustand uud alles, was aus ihm folgt, kann offenbar nach der Trennung der Seele vom Körper uicht mehr fortdauern. Die dog­

matische Ansterblichkeitslehre begeht aber von jeher den Fehler, die Erscheinungen des „Lebens" in diesem Sinne einfach auf die Seele nach dem Tode zu übertragen und damit lauter falsche Vorstellungen zu erwecken. Alle Erscheinungen und der Inhalt des Lebens kommen der Seele nur während der Zeit ihrer Verbindung mit dem Körper zu, nicht außerhalb derselben. Daher nennen wir nunmehr „Seele" auch nur die Seele in ihrer Vereinigung mit dem Körper; die Seele

außerhalb dieser Vereinigung nennen wir aber von nun an „Psychade" (Seelenkeim); und nach Einführung dieses neuen Begriffes sagen wir jetzt: die Psychade in ihrer Vereinigung mit dem Körper wird zur Seele, die ganze Verbindung beider zum Organismus; die Seele nach ihrer Trennung vom Körper sinkt wieder zur Psychade herab. Wir erklären somit, daß offenbar der Zustand der Psychade ein

durchaus anderer sein muß, als der der Seele; daß der Zustand der Psychade ein niederer ist, als der der Seele; daß demnach keineswegs der Zustand nach dem Tode, sondern der des Lebens der höhere und mithin auch der wünschenswertere ist. Daraus geht deutlich hervor, daß, wenn wir von einer Ansterblichkeit der Psychade reden, wir in keiner Weise die alte dogmatische Ansterblichkeitslehre mit ihrer hell­ bewußten Seele meinen oder wiederholen wollen, sondern eine ganz

neue, rein naturalistische aufstellen. Die Seele nach ihrer Lostrennung vom Körper, d. h. die Psychade

muß alles das verlieren, was ihr der Körper mit seinen Organen darbot, also erstens vor allem Gedächtnis und Erinnerung, denn diese

1 Über den Begriff des „Unbewußten" vergl. das .Hauptwerk „Nerven­ system und Seele" Kap IX.

Die Psychadentheorie

168

sind ohne Gehirnzellen unmöglich.

Infolge davon muß ein ungeheuerer

Bewußtseinsinhalt, den die Seele besaß,

der Psychade fehlen, und

das ist ein weiterer gewichtiger Grund, der Psychade nur einen geringen Grad von Bewußtsein zuzuschreiben oder ihren Zustand als unbewußt zu bezeichnen. Der Mensch hat auch keine Erinnerung an seinen Zustand als Samen und Ei und als Embryo, noch an seine früheste

Kindeszeit.

Daraus

erklärt sich, warum wir uns

der Ereignisse

früherer Lebensverkörperungen unserer Psychade, welche wir not­ wendig annehmen müssen (s. unten), nicht erinnern können. Die

Verwandlung der Raupe durch die Puppe zum Schmetterling vollzieht

sich unbewußt. Der Schmetterling hat keine bewußte Erinnerung an den Raupen- und Puppenzustand, obgleich sein Zentralorgan, das Nervensystem in diesen verschiedenen Zuständen dasselbe bleibt. Sollte es sich nicht ähnlich auch mit der Psychade verhalten? Die Griechen ließen die Seele bei ihrem Einttitt in die Unterwelt aus dem Flusse Lethe Vergessenheit trinken — auch die Psychade trinkt Vergessenheit alles dessen, was sie im Leben erfreute oder bedrückte. An dieser unvermeidlichen Folgerung aus unseren Voraussetzungen

werden alle die Anstoß nehmen, welche nach dem gewöhnlichen Glauben mit ihrem ganzen Lebensinhalt, sozusagen mit Äaut und

Äaaren, unsterblich zu werden wünschen und sich besonders auf ein Wiedersehen früher gestorbener Lieben und den Gedankenaustausch mit ihnen freuen.

An eine Wiedererinnerung ist aber ohne Gehirn

nicht zu denken, also auch nicht an ein Wiedererkennen und an ge­ mütliche Plaudereien nach dem Tode. Man muß sich mit der Er­ kenntnis trösten, daß die ganze organische Welt eine große Ver­

wandtschaft bildet, und daß, wenn zwischen Psychaden überhaupt ein Verkehr möglich wäre, jede Psychade unzählige Verwandte zu treffen

die Aussicht hat, wenn es auch nicht gerade die sind, welche zufällig im Leben zusammen und mitunter nichts weniger als zärtliche Verwandte

waren. Indessen ich bezweifle einen solchen Verkehr zwischen den Psychaden, denn wenn sie unbewußt sind und keine Erinnerung be­ sitzen, so ist nicht abzusehen, wie sie miteinander in einen bewußten Gcdankenverkehr treten sollten. Der bewußte Verkehr findet im Leben statt, in der Verbindung der Psychade mit dem Körper, also zwischen Organismen. Die Psychade strebt aber nach Leben; in

einer neuen Verkörperung wird Verkehr und Gedankenaustausch ihr wieder zu teil werden; in ihrem Zustand als Seelenkeim aber muß sie derselben entbehren. Daß nun die Psychade die Erinnerung ihres

Die Psychadentheorie

169

Lebensinhaltes verliert, wird umgekehrt denen sehr tröstlich erscheinen,

welche als Pessimisten den Plunder des Lebens loszuwerden und in das Nichts des Nirwana zurückzusinken wünschen. Zwar von einem Zurücksinken in ein Nichts kann so wenig geredet werden, wie von einem Lervorgehen aus Nichts.

Den Zustand der Anbewußtheit,

also auch der Erlösung von Erdenqual und Lebenspein (einem Zustand,

der aber zugleich auch den Verzicht auf alle Freuden und Genüsse des Lebens in sich schließt), erreicht aber die Psychade ohne Zweifel, wenn auch nicht für immer, so doch für eine kürzere oder längere Zeit. Denn der Psychadenzustand ist der Ruhe- und Schlafzustand

der Seele. Die verkörperte Seele muß wirken; sie muß aber auch von ihrem lebendigen Wirken wieder ausruhen, um neue Kräfte zu sammeln; und das geschieht nach der Lostrennung vom Körper.

Das Leben ist das Erwachen der Psychade zur Seele im Organismus, der Tod das Einschlafen der Seele zur Psychade außerhalb des Organismus. Zweitens muß der Psychade die Möglichkeit verloren gehen, in eine bewußte Wechselwirkung mit der Welt der körperlichen Dinge

und Wesen zu treten, da diese Wechselwirkung nur einem Organis­ mus, d. h. einem mit Nerven und Muskeln ausgerüsteten Wesen, möglich ist. Die menschliche Psychade, um bei dieser als Beispiel zu bleiben, hat keinen vollendeten menschlichen Körper, sie existiert körperlos als bloße Kraft. Wie ist dies inöglich? Die Natur ent­

hält so wunderbare Kräfte (man denke an die ^-Strahlen und andere), daß einen solchen Zustand anzunehmen erlaubt sein muß, wenn, wie hier, alle Eigentümlichkeiten darauf hinführen. Die Psychade kann

also auch nicht in der Gestalt eines Körpers, und möge dieser noch

so ätherisch gedacht werden d. h. als Gespenst, erscheinen; sie hat keine Muskeln, sie kann also auch nicht wie die Geister des Spiritis­ mus Anfug an Tischen und Bänken verüben; sie hat keine Nervenund Sinnesorgane, sie kann also auch nichts hören und sehen, umso­ weniger als sie unbewußt ist; sie kann also auch nicht das Wünschen und Flehen, das Bitten und Beten der Lebendigen hören und erhören. Die ganze Mystik und Magie des Geisterwesens wird durch unsere Ansterblichkeits- und Psychadenlehre in ihrer Nichtigkeit erwiesen. Wie

aber überhaupt der Mensch zum Geisteraberglauben kam, habe ich

in meinem Buche „die Grundgedanken des Spiritismus und die Kritik derselben" im dritten Abschnitt „Entstehungsgeschichte des Geisteraberglaubens" ausführlich dargelegt, und Gespenstererscheinungen erklären sich als Illusionen, Hallucinationen und Visionen zur Ge-

170

Die Psychadentheorie

nüge aus der psychophysischen Einrichtung unserer Seele und unseres Nervensystems. An dieser Stelle muß ich nun zum Verständnis des folgenden die Umrisse der Weltanschauung darstellen, welche sich mir auf Grund

der psychologischen Forschungen ergeben hat. Als die Urwesen, aus denen alles Weltgeschehen hervorgeht, nehme ich zweierlei an: Atome und Psychaden. Es ist nicht gelungen, und ich behaupte bis zum tatsächlichen Gegenbeweise, es ist unmög­ lich, das Beseelt-Organische aus dem Stofflich-Unorganischen, wie der Materialismus will, oder das Stofflich-Unorganische aus dem Beseelt-

Organischen, wie Fechner in geistvoller Weise versucht hat, abzuleiten. Beide sind — aber beide sind selbständig nebeneinander und ver­ schieden. Beide sind nicht dasselbe, nicht identisch, wie Leibnizens Monadenlehre und Fechners Psychophysizismus behaupten. Beide stehen aber gleichwohl auch fortwährend in tatsächlicher Wechselwirkung; die Verschiedenheit kann also kein ausschließender Gegensatz sein; eine Verwandtschaft muß auch zwischen ihnen herrschen. Indessen diese Verwandtschaft, vermutlich begründet im letzten Urgrund aller Dinge,

in Gott, liegt, wie dieser Urgrund selbst, jenseits aller menschlichen Erfahrung. Diese zeigt uns nur, daß jene verschieden und ausein­ ander unableitbar aufeinander wirken. Aus dieser Tatsache müssen

wir den relativen Gegensatz beider schließen und streng festhalten, aber andererseits können wir auch die Verwandtschaft nicht leugnen. Der Gegensatz ist unserem analytischen Verstände klar; die Verwandtschaft

aber bleibt bei uns bis dahin unbegreiflich, wo wir imstande sein werden, uns selbst zu schaffen. Aus dem Gegensatz des Unorganischen zum Organischen folgern wir hypothetisch, daß auch die Urelemente

beider verschieden sind und nehmen als diese für das Unorganische Atome und für das Organische Psychaden an. Die tatsächliche Ver­ schiedenheit und doch innige Weselwirkung zwischen dem Unorganischen und Organischen zwingt uns auch, Verschiedenheit und Wechselwirkung zwischen Atomen und Psychaden anzunehmen, deren Verwandtschaft

wir nicht leugnen, aber auch nicht begreifen können. Materialisten werden uns hier den Vorwurf machen, daß unsere Weltanschauung eine dualistische sei. Wir müssen ihn aber als unbe­ rechtigt zurückweisen. Der Dualismus lehrt den unvereinbaren Gegen­ satz einer übernatürlichen Seele zum natürlichen Körper. Die Psychade ist nichts Übernatürliches; sie gehört zur Natur. Ebenso sehr schließt unsere Behauptung, daß Psychaden und Atome wegen ihrer Wechsel-

Die Psychadentheorie

171

Wirkung irgendwie verwandt sein müßten, jeden dualistischen Gegen­ satz aus. Wenn alles unterschiedslos Eins wäre, gäbe es kein Werden. Das Werden setzt die Wechselwirkung Verschiedener vor­ aus. So gebraucht der Materialismus die Anziehungs- und Ab­ stoßungskraft, oder wie Haeckels Monismus will, Weltaether (Geist) und Mafsenatome, um seinen Stoff in Bewegung zu bringen. Wir setzen als die schöpferischen Elemente Atome und Psychaden. Ihre Einheitlichkeit liegt offenbar darin, daß beide immer und unaufhörlich nach Vereinigung streben. Diese Vereinigung erreichen sie im Organismus. Der Organismus ist die wahre Einheit von Geist und Stoff, von Form und Materie, von Zweck und Mittel, von Psychade und Atomen. Der Organismus, das organische Leben ist daher, wenn wir einmal teleologisch reden wollen, der Weltzweck. Nicht etwas, das über das Leben hinaus, jenseits desselben liegt, sondern das Leben selbst ist Zweck und höchste Form alles Seins und Werdens. Nur im Leben können wir in bewußter, vernünftiger Weise schaffen; nur im Leben können wir uns betätigen und entwickeln; das Leben ist die höchste Existenzform überhaupt. Was außerhalb des Lebens liegt, sind die stofflichen Zustände der Atome und die unbewußten der Psychaden, und das sind niedere Zustände, während nur und erst im Leben des lebendigen Organismus der Höhepunkt alles Daseins und aller ersprießlichen Tätigkeit und Entwicklungsmöglichkeit liegt. Nach Leben strebt daher alles in der Welt, im lebendigen Organis­ mus erreichen Atome und Psychaden die ersehnte Einheit. So ist unsere Lehre kein supranaturalistischer Dualismus, sondern natura­ listischer, aber „biologischer" Monismus im erklärten Sinne, der frei­ lich mit dem materialistischen Monismus nichts als den Namen gemeinsam hat. Der Monismus von Atomen und Psychaden liegt im Organischen. Aber die Einheit beider im Organismus ist keine ruhende, bleibende, dauernde, sondern immer nur, wie das Sterben des Organismus beweist, eine zeitweilige und vorübergehende. Atome und Psychaden vereinigen sich und trennen sich wieder. In diesem fortwährenden Wechsel von Vereinigung und Trennung beider besteht das Weltge­ schehen — Ruhe wäre Stillstand. Werden heißt unaufhörliche Wechselwirkung, welche nur durch immer wiederkehrende Vereinigung und Trennung möglich ist.

172

Die Psychadentheorie And umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich's nicht zum Starren waffne. Wirkt ewiges lebendig's Tun. And was nicht war, jetzt will es werden — Zu reinen Sonnen, farb'gen Erden, In keinem Falle darf es ruhn.

Es muß sich regen, schaffend handeln. Erst sich gestalten, dann verwandeln; Nur scheinbar stehl's Momente still. Das Ew'ge regt sich fort in allen: Denn alles muß in Nichts zerfallen Wenn es im Sein verharren will. (Goethe, „Eins und Alles": Gedichte, Abschnitt: „Gott und Welt.")

Dieser fortwährende Kreislauf der Atome und Psychaden durch

die aus ihrer Vereinigung entstehenden Organismen hat für beide wichtige Folgen. Beide gehen nicht unverändert daraus hervor. Wir sind der Meinung, die wir unten noch erläutern werden, daß die Psychaden entwicklungsfähig sind und sich im organischen Leben wirk­

lich zu höheren Formen entfalten nach dem auch von Wundt ver­ tretenen Gesetze des Wachstums der geistigen Energie. Aber

auch die Atome werden dadurch auf eine höhere Stufe des Seins erhoben, daß nach und nach mehr und mehr Atome in das organische Leben hineingezogen und darin verwendet werden, oder anders aus­ gedrückt, daß aus ihnen nach und nach unter der Einwirkung der Psychaden mehr und niehr organische Materie (Protoplasma) erzeugt wird. Die Psychaden entwickeln im Kreislauf des organischen Lebens

ihre Anlagen höher und höher; die Atome werden dadurch in ihrer Zustandsform erhöht, daß sie aus dem Anorganischen immer mehr in den Kreislauf des Organischen übergeführt werden. So vervollkommen sich die Psychaden in ihrem inneren Wesen intensiv, und die

organische Materie vermehrt sich extensiv; damit wächst offenbar aber auch die Möglichkeit einer stets erweiterten Wirksamkeit der Psychaden. Das im Anendlichen liegende Ziel wäre die Verwendung aller Atome für das organische Leben von feiten der Psychaden, die unabsehbare Höherentwicklung der Anlagen und Kräfte der Psychaden selbst

und damit die stets fortschreitende Vervollkommnung alles organischen Lebens.

Nun ist unsere Meinung diese: Es gibt eine ungeheuere, unbe­ stimmbare, immerhin begrenzte Zahl von Atomen; ebenso gibt es eine

Die Psychadentheorie

173

ungeheuere, unbestimmbare, immerhin begrenzte Zahl von Psychaden. Wenn die Atome allein sich untereinander verbinden oder trennen,

so entspringen daraus die Vorgänge der unorganischen Welt, deren Gesetze Mechanik, Physik und Chemie zu erforschen haben; wenn sich aber „eine einzelne" Psychade mit „vielen" Atomen verbindet und als unbewußtes, triebkräftiges Individuum diese Atome ihren Zwecken dienstbar macht, sie in ganz neuer und eigentümlicher Weise, wie sie

ohne Psychade den unorganischen Stoffen allein nicht möglich ist, mischt und gestaltet, so entsteht ein organisches Individuum oder ein indivi­ dueller Organismus, in welchem die Gesetze der stofflichen Welt nicht

aufgehoben, wohl aber unter die höhere, zweckmäßige Leitung der Psychade gestellt sind. Daraus ergeben sich dann ganz neue Vor­ gänge, die aus den Gesetzen des Anorganischen allein nicht abzuleiten finb;1 deren höhere aus der Tätigkeit der Psychade stammende organische Gesetzmäßigkeit die Biologie als Zoologie, Anatomie, Physiologie und Psychologie zu erkennen haben. Der Begriff der Psychade ist nicht derselbe wie Leibnizens Monadenbegriff und mit diesem nicht zu verwechseln. Leibniz steht mit seiner Monade mitten in der Identitätslehre: Stoff und Geist sind im Grunde dasselbe; die Monade ist die Einheit beider; Stoff­

liches und Geistiges sind nur die verschiedenen Erscheinungsarten des­ selben Monadenwesens. So sehr wir nun auch zugeben, daß eine Verwandtschaft zwischen Atomen und Psychaden besteht, so müssen diese entsprechend der Verschiedenheit von Organischem und Anor­ ganischem, doch als verschiedene von einander getrennt werden und dürfen nicht in die Einheit der Monade d. h. des beseelten Atoms zusammenfallen, denn Verwandtschaft ist weder Gleichheit noch Ein­ heit. Der Monadenbegriff als Einheit von Geist und Stoff hat zwar für das nach Einheit strebende menschliche Vernunftsbedürfnis etwas

sehr Einschmeichelndes, aber er widerspricht der Tatsache der Ver­ schiedenheit von Stoff und Geist, die wir in Wirklichkeit nicht ausein­ ander abzuleiten vermögen. Deshalb kommt im Monadenbegriff weder Geist noch Stoff zu seinem Rechte. Aus der Monade als beseeltem Atom lassen sich nicht die unbeseelten Vorgänge der bloß stofflich1 Als Beispiel möge der Schlaf dienen. Es ist bis jetzt noch niemals gelungen, ihn auf mechanisch-chemischem Wege zu erklären, und er wird wohl auch nie so erklärt werden können, weil er sich aus dem Wesen der Psychade, aus dem Wechsel zwischen bewußten und unbewußten Seelenzuständen allein ableitet.

174

Die Psychadentheorie

unorganischen Welt erklären;

und in der Monade

als stofflichem

Seelenwesen bleibt das Geistige am Stofflichen hängen und verliert seine ihm doch gebührende Verschiedenheit und Selbständigkeit. Das ist der Grund, warum uns der Monadenbegriff nicht befriedigen kann, und wir zur Hypothese der nebeneinander bestehenden, jedoch mit­

einander in Wechselwirkung befindlichen Atome und Psychaden greifen. Wir glauben dadurch reiner und widerspruchsfreier sowohl dem An­ organischen, als auch dem Organischen Rechnung zu tragen. Die Psychade ist erstens ein unbewußtes, d. h. mit einem minimalen Bewußtsein ihres Eigenwesens ausgestattetes; zweitens triebkräftiges, d. h. mit dem Triebe, den ganzen, keimförmig angelegten Inhalt ihres Wesens zu verwirklichen, begabtes; drittens individuelles, d. h. von jedem anderen Wesen unterschiedenes, als solches nur ein einziges Mal existierendes Wesen. Durch ihre Verbindung mit

Atomen und ihre Einwirkung auf diese entsteht ein organisches Indi­ viduum, in welchem sie sich und ihr Wesen verleiblicht, ihre Zwecke erreicht und sich entwickelt. So bildet erst die Psychade in ihrer Vereinigung mit den Atomen den vollbeseelten, lebendigen Organis­ mus. Die lebendige Verkörperung ist mithin der höhere Zustand, der der abgeschiedenen Psychade der niedere, ganz im Gegensatz zur dogmatischen Ansterblichkeitslehre, nach welcher das Dasein ohne Körper das höhere sein soll. Die Psychade ohne Körper ist zwar nicht ganz,

doch in Gemäßheit ihres geringen Bewußseinsgrades relativ macht­ los; erst in der Verbindung mit den Atomen und mit dem Körper, den sie sich aus diesen allmählich gestaltet, entwickelt sie in steter Wechselwirkung mit ihm, und durch ihn mit der Welt, alle ihr latenten Anlagen und Kräfte. Daher hat die Psychade den Trieb nach

Verkörperung und verkörpert sich immer und immer wieder.

Denn die Ansterblichkeit der Psychade bedeutet nicht etwa nur ihre Fort­ dauer nach dem Tode, sondern auch schon ihr Dasein vor dem Leben. Wie die Atome, so sind auch die Psychaden ewig. Sie entstehen

nicht und vergehen nicht. „Was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht." Soll die Psychade nach dem Tode ewig weiterleben, so muß sie auch schon vor dem Leben existiert haben. Es ist nicht folgerichtig, einer entstandenen und erschaffenen Seele Ansterblichkeit, d. h. ewige Fortdauer zuzuschreiben. Diese widerspruchsvolle Lehre stammt auch

erst aus Augustins gegen jede natürliche Arsächlichkeit verstoßendem Dogma der Schöpfung der Welt aus. Nichts. Ist alles von Gott aus Nichts geschaffen, so wird auch jede Seele bei jeder Zeugung

Die Psychadentheorie

175

oder Geburt von ihm neu geschaffen, mit dem Körper verbunden und wie die Welt selbst (cfeatio continua '), nur durch seinen allmächtigen Willen unsterblich weiter erhalten. So will es Augustin. Wir da­

gegen sagen: So ewig wie die Welt, so ewig sind auch die Psychaden. Ihre Ansterblichkeit bedeutet nicht bloß Post-, sondern ebensogut Praeexistenz, wie denn auch alle voraugustinischen Denker, welche die Ansterblichkeit lehrten, Platon an der Spitze, sie als Ewigkeit und somit als Praeexistenz gefaßt haben. Die Psychade ist ewig; sie verkörpert sich nicht bloß

einmal,

sondern zahllos vielemale. Diese Wanderung- der Psychaden durch viele Körperformen folgt notwendig aus ihrer Ewigkeit, wie denn auch Platon aus der Ansterblichkeit der Seele mit Recht nicht bloß ihre Praeexistenz, sondern auch die Seelenwanderung (die Metempsychose) und ihre Wiederkunft (die Palingenesie) schloß. Nur bitten wir uns mit diesem Schluß auf eine stetig wiederkehrende Verkörperung der Psychade nicht alle jene Phantastereien in die Schuhe schieben zu wollen, welche ein Pythagoras und Platon, Aegypter und Buddhisten und der spiritistische Aberglaube damit verbunden haben. Solche Phantasien finden in unserer rein naturalistischen Auffassung um so weniger Platz, als die Lehre von der Wiedereinverleibung sich auf alle organischen Wesen erstreckt.

Denn es muß mit allem Nachdruck hervorgehoben und betont werden, daß wir die Psychadentheorie nicht bloß auf den Menschen, sondern auf alle Organismen, mithin ebensogut auf Tiere und Psianzen beziehen. Jeder Organismus ist ein beseeltes Wesen, also gibt es auch Tier- und Pflanzenpsychaden, und auch ihnen kommt Ewigkeit und Ansterblichkeit zu. Menschen, Tiere und Pflanzen weisen die verschiedensten Grade von Beseelung auf. Also sind auch nicht alle

Psychaden in gleicher Weise und in gleichem Grade unbewußte, trieb­ kräftige Individuen. Als Individuum gleicht keine Psychade der anderen; jede ist ungleich sowohl dem Grade des Anbewußtseins, als

auch der Triebkraft nach. 1 Vergl. meine Philosophie der Naturwissenschaft, Bd. I, S. 164 f. 2 Statt Wanderung sagen wir lieber Wiederverkörperung. Diese ist eine Tatsache. Wie will man denn sonst erklären, daß immer wieder neue Menschen, Tiere, Pflanzen in's Leben treten? Da haben wir eben die Wieder­ verkörperung der Psychaden! Freilich eine Erinnerung an frühere Zustände vorhergegangener Verkörperungen können wir nicht haben, da Erinnerungen an das vergängliche Großhirn gebunden ist.

Die Psychadentheorie

176

Wo sind denn die Psychaden?

Überall im Weltall!

An sich

sind sie ebensowenig sinnlich wahrnehmbar, wie die Atome; man sieht die Atome nicht, ebenso auch die Psychaden nicht. Ihre wahrnehm­ bare Wirkung dagegen ist die ganze organische Welt. Auch ist kein Grund, sie auf die irdischen Wesen zu beschränken. Warum sollen nicht auch auf anderen Himmelskörpern organische Wesen existieren, in Formen, von denen wir keine Ahnung haben? Nichts spricht dagegen, vieles dafür. Doch bleiben wir jetzt im Kreise unserer Er­

fahrung bei den irdischen Organismen der Menschen, Tiere und Pflanzen. Die allerwärts als unsichtbare, individuelle Triebkräfte, oder was dasselbe sagt, als triebkräftige Individuen verbreiteten Psychaden streben nach Verleiblichung. Sie schaffen als erste und niedrigste Form der eigentümlichen, durch sie verursachten organischen Verbindung der Atome das Protoplasma und gestalten dieses nun

je nach ihrer individuellen Kraft und Anlage um und aus zu Zellen und Zellenverbindungen, zu niederen und höheren Organismen. Schwach

nur kann die Psychade eines Moner, stärker schon muß die einer Amöbe, stärker noch die einer Ameise, kraftvoller die eines Elefanten,

an» mächtigsten die des Menschen sein. And ebenso im Pflanzenreiche: Von der Psychade eines Mooses bis zu der einer Rose oder eines Eichbaumes bestehen zahllose verschiedene Stärkegrade. Auch ist nicht gesagt, daß die Stufenleiter der Psychaden im Menschen ihr Ende und ihren Abschluß fände; es kann Psychaden und Organismen höherer Art geben, von denen wir keine Vorstellung besitzen. Eine falsche Auffassung müssen wir hier widerlegen. In sehr

beliebter Weise betrachtet man heute den Organismus als einen Zellenstaat, jede Zelle als ein Individuum und somit den ganzen Zellenstaat als eine Vielheit von Individuen. Äaeckel1 legt jeder Zelle eine Seele bei, sodaß z. B. der menschliche Orgnismus eine Vereinigung von vielen Millionen Zellen und ebenso vielen kleinen Seelchen wäre.

Diese Auffassung stammt im Grunde von Leibniz,

nach welchem jeder Organismus aus zahlreichen Monaden = beseelten Atonien besteht. Sind nun wirklich im Menschen so viel Seelen als Zellen?

Dann wäre die individuelle Einheit des ganzen Menschen

gar nicht zu erklären, wie wir es schon im achten Kapitel hinsichtlich der Vielheit der Gehirnzellen gegenüber der Einheit der Seele dar­ legten. Leibniz ist deshalb gezwungen, über seine in einem Organis1 Vergl. Kaeckels Abhandlung „Zellseelen und SeelenzeUen".

Die Psychadentheorie

177

mus vereinigten Monaden eine sie vereinigende Zentralmonade zu setzen. Wie gelangt aber diese eine Monade zur Oberherrschaft über die anderen? Werden nicht die Monaden als selbständige Individuen sich der Zwangsherrschaft lieber entziehen und ein Leben auf eigene Faust führen wollen? And wenn sie, wie Leibniz erklärt, alle in einer prästabilierten Harmonie stehen, woher denn diese? Äier muß Leibniz zu der neuen Äülfshypothese einer höchsten Centralmonade, d. h. Gottes greifen, der diese prästabilierte Äarmonie schafft. Auch Äaeckel muß zur einheitlichen Verbindung der beseelten Zellen oder Zellseelen noch eine höchste Zelle, eine besondere Seelenzelle, herbeiziehen.

Wo sitzt diese Seelenzelle?

Etwa in der Zirbeldrüse?

Wie kommt aber diese zur Oberherrschaft über ihres Gleichen? Es tauchen dieselben Einwände wie gegen die Monadenlehre auf. Es ver­ hält sich vielmehr so: Die Zellen im menschlichen Organismus, wie in jedem anderen, sind nicht an sich schon beseelt; es sind nicht Milliarden Seelen in uns, sondern nur eine Seele. Die eine individuelle Psychade schafft sich nach ihrem geringeren oder größeren Bedürfnis mehr oder weniger Protoplasma und baut dieses zu mehr oder weniger Zellengruppen aus. Nicht die einzelne Zelle ist das Indi­

viduum (dies träfe lediglich

bei dem überhaupt nur einzelligen Or­

ganismus der Amöbe zu); der Organismus ist nicht ein Staat von Millionen Individuen, sondern nur ein einziges Individuum, dessen

Grund und Arsache die eine individuelle Psychade ist. Diese eine individuelle Psychade mischt für ihre Zwecke Milliarden von Atomen zu organischem Stoffe oder benutzt vielleicht auch schon den von ver­

wandten Psychaden hervorgebrachten organischen Stoff und baut sich daraus den zwar vielfältig differenzierten, aber doch einheitlichen Organismus. Die Zelle ist lediglich Baustein, Werkzeug und Angriffspunkt der Tätigkeit der Psychade, und insofern wenn man

will, ein von der Psychade beseeltes, an sich aber nicht schon be­ seeltes Wesen. Die Psychade entwickelt sich zum vollen Organismus, d. h. zu Seele und Körper unter günstigen Amständen. Ohne Frage muß der

Psychade die Fähigkeit zugeschrieben werden, sich unmittelbar mit den unorganischen Atomen zu verbinden und daraus Protoplasma zu be­ reiten, wie sich dies bei den Pflanzen zeigt, welche aus mineralischen, unorganischen Stoffen organische Substanz bilden. In diesem Sinne muß die Möglichkeit einer Arzeugung angenommen werden, nicht aber

in dem materialistischen Sinne, als ob durch zufällige Mischung von Schultze. Credo und Spera

12

178

Die Psychadentheorie

Stoffen erst das Seelische entstände; denn die Psychade ist so ewig wie das Atom; sie entsteht nicht erst aus den Atomen, sondern ver­ wendet diese zu ihren Zwecken. Wir können aber erfahrungsmäßig kein Beispiel einer solchen Llrzeugung durch eine Psychade anführen. Tatsächlich erscheint jede Zeugung bereits als Zeugung in und aus

dem Protoplasma. Daraus geht hervor, daß die Psychade sich des von einem fertigen Organismus schon hergestellten Protoplasmas be­ dient. Der menschliche Same z. B. ist Protoplasma, aber er ist an sich nicht individuell beseelt. Denn weder der männliche Same allein, noch das weibliche Ei ist an sich schon zeugungsfähig; weder der männliche Same, noch das weibliche Ei ist an sich schon ein Indi­ viduum. Wenn c ber keines von beiden ein Individuum ist, so bilden sie auch in ihrer Vereinigung kein Individuum, denn zweimal Nichts ist noch nicht Eins. Daß aber der männliche Same die eine Lälfte oder irgend einen Bruchteil, und das weibliche Ei die zweite Lälfte

oder irgend einen anderen Bruchteil zu dem neuen Individuum her­ gäbe, ist unmöglich, denn das Individuum ist eben das absolut An­ teilbare und daher auch niemals aus Bruchstücken zusammensetzbar. Der männliche Same ist ein Erzeugnis des väterlichen Organismus, also in letzter Instanz der väterlichen Psychade; das weibliche Ei ein Erzeugnis des weiblichen Organismus und der weiblichen Psychade. Im Samen wirkt die väterliche, im Ei die mütterliche Psychadenkraft. Daher sind Samen und Ei lebendig und belebt, wie der ganze Or­ ganismus, jedoch nicht schon belebt von dem neuen Kindesindividuum, sondern von dem Individuum des Vaters und der Mutter. Das

Kind als neues Individuum entsteht nur und erst dann, wenn sich mit dem elterlichen Samen und Ei eine andere Psychade verbindet. Ei und Samen mögen sich immerhin mischen, ohne Psychade entsteht daraus keine neue Individualität. Lier erklärt sich uns erst wahrhaft das Wesen der Vererbung. Die Übertragung elterlicher Eigenschaften auf das Kind besteht ledig­

lich darin, daß die Protoplasmatische Grundlage zur Bildung des neuen Menschen von den Eltern stammt, und elterliche Triebkräfte in ihm wirken, die sich als Ähnlichkeiten des neuen Organismus mit den elterlichen Organismen geltend machen. Keine Vererbung erklärt aber die Tatsache, daß bei aller Ähnlichkeit zwischen Kind und Vor­ eltern jedes Kind eine ganz verschiedene, scharf geschnittene, seelische Individualität besitzt im Vergleich sowohl mit seinen Vorfahren, als mit seinen Geschwistern, wie wir dies an dem Beispiel Goethes oben

Die Psychadentheorie bereits zur Genüge dargetan haben.

179

Die eigenartige Individualität

erklärt sich lediglich aus der Psychade, die sich im Zeugungsprozeß mit dem elterlichen Samen und Ei verbinden kann (nicht bei jeder Begattung zu verbinden braucht) und nunmehr selbständig die Ent­ wicklung des Organismus ausführt.

So allein verstehen wir, wie

einerseits, auf Grund des von den Eltern stammenden Protoplasmas, ererbte Ähnlichkeiten in den Kindern walten, und andererseits doch infolge der neuen Psychade die völlig unterschiedene neue Individu­

alität jedes Kindes herrscht. Wie ein zweites Individuum „aus" einem ersten entstehen soll, ist völlig undenkbar. Das Individuum ist unteilbar; es kann also nicht ein zweites Individuum aus sich her­ austeilen; das andere Individuum muß in seinem individuellen Kern

stets schon vorhanden sein. Wohl aber kann ein schon bestehender Organismus im Samen und Ei oder wie beim Moner oder der Amöbe durch Abgabe eines Teiles seiner Körpersubstanz das Proto­ plasma gewähren, aus welchem eine andere Psychade ihren Körper

entwickelt. And dieses gilt von allen Organismen. Die Psychade ist als unbewußtes, triebkräftiges Individuum ent­ wicklungsfähig, und in ihrer Verkörperung entfaltet sie unter günstigen

Amständen alle ihre Kräfte und Anlagen. Wenn sie im Leben glück­ liche Verhältnisse trifft und, als Kind eines zivilisierten Volkes und einer gebildeten Familie geboren, alle Segnungen der Kultur, einer guten Erziehung, eines geregelten Anterrichtes genießt, so übt sie da­ mit nicht bloß ihre Kräfte auf das trefflichste und verstärkt sie durch Übung, sondern sie kann auch nach dem Gesetze des Wachstums der

geistigen Energie ganz neue geistige, sittliche und künstlerische Anlagen

erwerben.

Nach dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft werden

nicht nur die verstärkten alten, sondern auch die erworbenen neuen Anlagen als Spannkräfte latent in ihr bleiben. Verkörpert sich die Psychade dann aber von neuem, so wird sie, mit größerer Kraft als

früher und mit neuen höheren Anlagen ausgestattet, sich nun auch einen diesen entsprechenden, um so vollkommneren Organismus mit empsindlicheren Sinneswerkzeugen und feiner gebautem Gehirn bilden. Dadurch ist sie im stände, um so tatkräftiger und erfolgreicher auf die Außenwelt einzuwirken, und so wird sie ihren gesamten allgemeinen Lebenszustand verbessern und erhöhen. Nehmen wir nun an, daß

die Psychaden im allgemeinen den Trieb nach Vervollkommnung be­ sitzen, weil jedes Wesen nach Vermehrung der Lust und Verminderung der Ünlust trachtet, so würde daraus ein allgemeiner Fortschritt der 12*

180

Die Psychadentheorie

ganzen organischen, und da, wie oben gesagt, immer mehr unorganische Stoffe in den Kreislauf des organischen Lebens hineingezogen werden, auch der unorganischen Welt, also ein Fortschritt in körperlicher wie geistiger, in individueller wie gesellschaftlicher Beziehung folgen. Die ganze Welt wird also immer mehr organisch, immer organisierter d. h. immer geistiger; alles wird immer mehr vergeistigt werden. Die Ent­ wicklungstheorie wäre damit nicht materialistisch und mechanisch, sondern psychologisch, d. h. in Wahrheit biologisch begründet. Freilich wäre auch die Rückentwicklung einer unter ungünstigen Lebensverhältniffen sich verleiblichenden Psychade nicht ausgeschlossen. Die Höherentwick­ lung der Psychaden und der ganzen organischen Welt könnte ins An­ absehbare reichen; sie könnte zu Zielen führen, von der wir heute noch nicht die leiseste Ahnung besitzen; es wäre töricht und vermessen, ihr irgend eine Schranke oder ein letztes Ende setzen zu wollen. Unser Planetensystem könnte zusammenbrechen, die Entwicklung der ewigen und unsterblichen Psychaden hörte damit nicht auf; sie könnte sich auf einem neuen Gestirn in anderen Körperformen ungestört fortsehen. Lier erklärt sich das Problem des Zweckmäßigen und Unzweck­ mäßigen in der Natur, des Guten und Bösen in der Moral, hier die Probleme des Optimismus und Pessimismus. Die Atome sind blinde, vernunftlose Potenzen, die Psychaden vernünftige. Das Un­ zweckmäßige, Läßliche, Böse liegt in jenen, das Zweckmäßige, Schöne, Gute in diesen. Wo die Atome vorherrschen, herrscht blinde Zu­ fälligkeit, das Zweckwidrige, das Böse; wo die Psychaden zur Ober­ herrschaft gelangt sind, das Gegenteil. Daß diese biologisch-monistische Lehre der Ewigkeit der Psychaden von dem herkömmlichen dogmatisch-religiösen Unsterblichkeitsglauben gänzlich abweicht, liegt auf der Land. Sie ist rein naturalistisch. Gleichwohl würde auch sie gewissen moralischen Problemen, an denen sich jener gern versucht, zu ungezwungener Lösung verhelfen. Kant zer­ störte endgültig in der „Kritik der reinen Vernunft" alle Unsterblichkeits­ beweise der alten rationalen Psychologie. Nichtsdestoweniger forderte er aus moralischen Gründen eine Unsterblichkeit der Seele. Im Leben wird die Tugend nicht belohnt, das Laster selten bestraft, vielmehr triumphiert oft genug der Böse und lebt in äußerer Glückseligkeit, während der Gute mit Leiden überhäuft ist. Wenn sich dieser Wider­ spruch zwischen Tugend und Glückseligkeit in diesem Leben nicht aus­ gleicht, so müssen wir, um der Gerechtigkeit einer von einem Gotte begründeten- moralischen Weltordnung willen, ein unsterbliches Leben

Die Psychadentheorie

181

der Seele annehmen, in welchem dem Guten die ihm gebührende Glückseligkeit zu teil wird. Wir meinen, daß dieser moralische Wider­

spruch zwischen Tugend und Glück sich unter unseren naturalistischen Voraussetzungen viel natürlicher lösen läßt. Wenn die Psychaden im erklärten Sinne unsterblich sind; wenn sie sich zu immer höheren Formen der Seele und des Körpers entwickeln; wenn damit die Weltzustände für alle Lebewesen, für das Individuum, wie für die Gemeinschaft immer befriedigendere Formen annehmen, so müssen sich die Organismen immer mehr einem besseren und gerechteren Gesell­ schaftszustande annähern, in welchem jene schreienden Widersprüche in vernünftiger Weise durch die erhöhte Einsicht, die von Selbstsucht immer mehr befreite Absicht und die gesteigerte äußerliche Macht der beseelten Wesen, am meisten der Menschen, ausgeglichen werden. Die Aufhebung des Widerspruches läge nicht in einem erträumten Jenseits, sondern in einem sicheren Diesseits der Zukunft, dessen jeder

Mensch in seiner späteren Daseinsform teilhaftig werden, und dem er um so energischer zustreben wird, je fester er an die Unsterblichkeit

und Entwicklungsfähigkeit feiner Psychade glaubt. Das ist die moralische Seite unserer Psychadenlehre. In ihr liegt ein« ungeheuere sittliche Kraft, weil sie der Trostlosigkeit des Pessimismus das Äeft aus der Land nimmt und dem am konfessionellen Dogmatismus verzweifelnden Menschen neuen Mut einflößt, den Kamps ums Dasein nicht aufzugeben, sondern ihn mit vernünftiger Absicht

um höherer

und erreichbarer Ziele willen zu Ende zu führen. Das Wichtigste aber ist, daß aus der Psychadenlehre dem ein­ zelnen Menschen eine rechte und echte Freudigkeit am Leben ent­ springen muß, weil erst durch sie jedem Individuum ein wahrhaft be­ friedigender Daseinszweck erwächst, den der Tod nicht zerstören, ja

nicht einmal verhindern kann, vielmehr befördert. Was hätte unser Leben mit all seiner angestrengten Tätigkeit überhaupt für einen Zweck, wenn es im Tode mit dem Individuum aus wäre!

Das Dasein

wäre dann nicht daseinswert. Ich arbeite und strebe für mich, für meine Familie, für weitere Kreise der Gesellschaft und des Volkes,

für die Welt. In diesen rastlosen Bemühungen vervollkommnen sich meine Fähigkeiten, ich werde an Erfahrungen reicher, im Arteile reifer, an Gesinnung und Charakter sittlicher, gerechter, selbstsuchtsloser. And nun zum Schluß sollte das alles vergebens und für nichts ge­ wesen sein? Das ganze von mir rührig angesammelte Kraftkapital

sollte zugrunde gehen? Man tröstet mich: „Dein Streben", sagt man.

Die Psychadentheorie

182

„hat nicht dich zum Zweck, vielmehr den, deine Nachkommen und da­ mit alle zukünftigen Geschlechter auf eine höhere Stufe zu heben. Deine Belohnung ist allein, daß du die Früchte der Arbeit des ver­ gangenen Geschlechtes genießest; dafür hast du selbst für die folgenden Geschlechter zu arbeiten. Die Ansterblichkeit wird nicht dem Indi­

viduum zu teil, sondern besteht nur in der endlosen Reihenfolge der Geschlechter, in der stetigen Wiederholung des menschlichen Wesens in neuen, aber an sich vergänglichen Individuen." Mit dieser Aus­

kunft kann sich aber keine kräftige Individualität zufrieden geben, umsoweniger, je energischer sie ist, und je selbstbewußter sie auf ihre Leistungen Hinblicken darf. Denn denken wir uns einmal die letzten

Menschen.

Auf unserem Erdball, der seiner Abkühlung und Ver­

eisung unausbleiblich entgegengeht, muß es einmal zu einem letzten Menschengeschlecht kommen, und dieses muß einmal zugrunde gehen, wenn die vereiste Erde nicht mehr die für menschliche Wesen not­ wendigen Lebensbedingungen darbietet. Am dieses letzten Geschlechtes willen hätten also Billionen von Menschen gestrebt und gearbeitet,

gesorgt und gelitten, um dieses letzten Geschlechtes willen, das im Eise erfroren daliegt! Ein schönes Ziel! So hätte das Leben doch keinen Zweck, und wir täten besser, alle ernste Arbeit bei Seite zu legen und nur dem Genuß des Augenblicks zu fröhnen. Oder nehmen wir an, ein letztes Geschlecht sollte in höchster Vervollkommnung ewig fortdauern. Warum denn nur dieses? Warum nicht Ich und Du,

die wir uns bis aufs Blut gequält haben, während jenes letzte glück­ liche Geschlecht ohne jedes eigene Verdienst zur höchsten Seligkeit gelangt, die ihm unentreißbar sicher ist; die es selbst durch keinen Frevel verscherzen kann; die es in höchster Faulheit nunmehr auf Kosten von Billionen um ihren Lohn betrogener Vorgänger genießt?

Eine teuflische Vorstellung, welche jeder Gerechtigkeit Lohn lacht! So kann nur dann das Leben des Individuums ein wahrhaft be­ friedigendes Ziel haben, wenn jedes Individuum als solches unsterb­ lich ist; wenn ihm in einer späteren Daseinsform die Früchte seines

Fleißes zu teil werden, welche ihm in der früheren durch die Angust der Amstände versagt blieben.

Diese Befriedigung gewährt

aber

nicht eine Ansterblichkeitshoffnung, welche in einem phantastischen Walhalla alle Seelen zu üppigem Genusse oder zu fauler Ruhe für die Ewigkeit versammelt, jede weitere Entwicklung ausschließt und in Wahrheit die unerträgliche Langweile für das strebende Individuum

oder die Vernichtung

aller strebenden Individualität überhaupt zur

Die Psychadentheorie

183

Folge hätte; sondern nur die Lehre von den unsterblichen und ent­ wicklungsfähigen Pschaden, welche in immer neuen Verkörperungen, deren Mannigfaltigkeit sich vorzustellen unsere an die irdischen Ge­

staltungen gebundene Phantasie erlahmen muß, immer neue Stufen der Vervollkommnung ins Unabsehbare erringen und erreichen. Erst durch sie löst sich uns das Rätsel des Daseins; erst durch sie ge­ der Tod

winnt das Leben seinen Zweck und Wert und verliert

seine Schrecken; erst durch sie weiß ich, warum ich lebe, und wozu ich sterbe.

9

Das Seelenleben der Pflanzen1 as organische Reich umfaßt auch die Pflanzenwelt; erklärt man im allgemeinen die Organismen für beseelt, so darf man auch die Untersuchung der Frage nach der Beseelung der Pflanzen nicht zurückweisen. Die christliche Religion zeigte wenig Neigung, diese Frage zu bejahen, da sie den außermenschlichen Organismen die Seele im allgemeinen absprach. Jedoch nicht alle Völker und Zeiten waren dieser verneinenden Ansicht. Die anthropopathiscke Naturauffassung der Naturvölker sieht auch in den Pflanzen beseelte Wesens Dasselbe tritt in der alt­ germanischen Sage von Baldur, dem Lichtgotte, und seiner Gattin Nanna hervor. „Nanna, des Lichtgottes Gattin, ist (nach Ahland) die Blüte, die Blumenwelt, deren schönste Zeit mit Baldurs Licht­ herrschaft zusammentrifft . . . Mit der Abnahme des Lichts geht auch das reichste, duftendste Blumenleben zu Ende. Als Baldurs Leiche zum Scheiterhaufen getragen wird, zerspringt Nanna vor Jammer. Dieser Ausdruck ist auch sonst für das gebrochene Äerz gebräuchlich; er eignet sich aber besonders für die zerblätterte Blume." Nach dem griechischen Mythus darf die als Persephone (Proserpina) lebendig und personifiziert gedachte Blumenwelt nur die eine Äälfte des Jahres auf der Oberwelt bei ihrer Mutter Demeter (Ceres) ver­ weilen ; die andere muß sie in der Anterwelt bei ihrem Gatten Äades (Pluto) zubringen. Der Grundgedanke der Abhängigkeit des Lebens der Pflanzen oder der Pflanzenseele vom Sonnenlicht liegt auch 1 Dieses Stück steht als 6. Kap. in des Verfassers Werk „Die Psycho­ logie der Tiere und Pflanzen" (Berlin, Verlag Äermes 1897). ■ Vgl. des Verfassers Werk „Psychologie der Naturvölker" (Leipzig, Veit u. Comp., 1900) S. 245—247.

Das Seelenleben der Pflanzen

185

Mythus zu Grunde. Die Verehrung der Pflanzen als Fetische bei wilden Völkern geht aus demselben Motive der Annahme diesem

der Beseelung der Pflanzen hervor; und die bei Naturvölkern weit­ verbreitete Sage, daß die Menschen von Pflanzen abstammen, beweist

ebenfalls, daß man die Pflanze mit Tier und Mensch auf gleichen Fuß stellte.1 Die anthropopathische Naturauffafsung ist auch die der Poeten.

So sind denn auch die Dichter stets geneigt gewesen, die Pflanzen wie beseelte Wesen zu behandeln. Man könnte eine Anzahl von Gedichten als Belege dafür anführen; Goethes verliebtes Veilchen, Leines Fichte im Norden, die sich nach der Palme im Süden sehnt,

und Freiligraths Blumen, die sich rächen, mögen als typische Bei­ spiele genügen. Der Pantheismus, der die ganze Natur für durchdrungen vom göttlichen Geiste ansieht, muß selbstverständlich auch den Pflanzen Beseelung zugestehen. Daher auch die pantheistischen Religionen

Indiens seit Arzeiten die Pflanzen für Wesen

halten, welche den

Menschen seelenverwandt und deshalb von diesen mit größter Schonung zu behandeln sind. Das uralte indische Gesetzbuch des Menu gibt eine Reihe von Gesetzen hinsichtlich der Behandlung der Pflanzen, welche es geradezu aussprechen, daß die Pflanzen empfindungsbegabte,

ja vernünftige Wesen seien. Auch die griechische Philosophie steht dieser ursprünglichen Auf­ fassung noch nahe. Die Naturphilosophen der älteren Zeit schreiben den Pflanzen unbedenklich eine Seele zu; noch Anaxagoras spricht dies bestimmt aus, sogar Platon und Aristoteles stellen die Pflanzen ohne Bedenken wenn auch auf die unterste Stufe der Beseelung.

In der Zeit des christlichen Mittelalters gebührt eine Seele im eigent­ lichen Sinne nur dem Menschen, wenn auch Dichter vereinzelt die Pflanzen wie beseelte Wesen behandeln. Im 16. Jahrhundert tritt der pantheistisch gesinnte italienische Naturphilosoph Campanella

(1568—1639) auf Grund seiner Lehre von der Weltseele entschieden für die Beseelung der Tiere und Pflanzen, ja, sogar der Steine ein; aber erst im 17. und 18. Jahrhundert wird das Problem im Zu­ sammenhang mit den Kampf um die Tierseele wieder in weiterem

Umfange

ausgenommen.

Nach Leibniz

bestehen alle Wesen aus

1 Vgl. des Vers Werk „Psychologie der Naturvölker", S. 246: „Tiere und Pflanzen sind dem Naturmenschen beseelte Wesen, und ihre Seelen sind von der Unsterblichkeit nicht ausgeschlossen."

186

Das Seelenleben der Pflanzen

Monaden, d. h. aus beseelten Atomen, also sind auch die Pflanzen in ihrer Art beseelte Wesen. Dieselbe Folgerung zieht auch der von Leibniz beeinflußte schweizerische Naturphilosohh Bonnet. Mit der Wiedererweckung des Pantheismus durch Schelling am Ende des 18. Jahrhundert mußte auch die Pflanzenseele wieder zu ihrem Rechte gelangen. Zn seinem „Ersten Entwurf eines Systems der Natur­ philosophie" vom Jahre 1799 sagt Schelling (Werke, 1. Abteilung, Bd. III. S. 206): „Wenn im Organismus eine Gradation der Kräfte ist, wenn Sen­ sibilität in Irritabilität, Irritabilität in Reproduktionskraft sich darstellt, und die niedere Kraft nur die Erscheinung der höheren ist, so wird es in der Natur so viele Stufen der Organisation überhaupt geben, als es verschiedene Stufen der Erscheinung jener Einen Kraft gibt. — Die Pflanze ist, was das Tier ist, und das niedere Tier ist, was das höhere ist. In der Pflanze wirkt dieselbe Kraft, die im Tiere wirkt, die Stufe ihrer Erscheinung liegt nur tiefer. In der Pflanze hat sich schon ganz in der Reproduktionskraft verloren, was bei dem Amphibiuni noch als Irritabilität, und beim höheren Tier als Sen­ sibilität unterschieden wird, und umgekehrt.---------Es ist also eine Organisation, die durch alle diese Stufen herab allmählich bis in die Pflanze sich verliert, und eine ununterbrochene Arsache, die von der Sensibilität des ersten Tieres an bis in die Reproduktionskraft der letzten Pflanze sich verliert." Äegel nennt in seiner Encyklopädie, (2. Teil, „Vorlesungen über die Naturphilosophie," S. 471 f.) die Pflanze „das erste für sich seiende Subjekt, das aus der Anmittelbarkeit noch herkommt, jedoch das schwache, kindische Leben ist, das in ihm selbst noch nicht zum Anterschiede aufgegangen ist." Ebenda S. 470 heißt es: „In der Pflanze, der nur erst unmittelbaren subjektiven Lebendigkeit ist der objektive Organismus und die Subjektivität desselben noch unmittelbar identisch." Goethe spricht sich über die Beseelung der Tiere und Pflanzen in einer merkwürdigen Stelle des 16. Buches von „Wahr­ heit und Dichtung" folgendermaßen aus: „Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür deutet, uns Erstaunen, ja Ent­ setzen bringt. Wenn sich in Tieren etwas Vernunftähnliches hervor­ tut, so können wir uns vor» unserer Verwunderung nicht erholen; denn ob sie uns gleich nahe stehen, so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns getrennt und in das Reich der Notwendig-

Das Seelenleben der Pflanzen

leit verwiesen.

187

Man kann es daher jenen Denkern nicht übel nehmen,

welche die unendlich kunstreiche, aber doch genau beschränkte Technik jener Geschöpfe für ganz maschinenartig erklärten. Wenden wir uns zu den Pflanzen, so wird unsere Behauptung noch auffallender be­ stätigt. Man gebe sich Rechenschaft von der Empfindung, die uns ergreift, wenn die berühmte Mimosa ihre gefiederten Blätter paar­ weise zusammenfaltet und endlich das Stielchen wie an einem Gewebe

niederklappt. Noch höher steigt jene Empfindung, der ich keinen Namen geben will, bei Betrachtung des Hedysarum gyrans, das sein Blättchen, ohne sichtliche äußere Veranlassung, auf und nieder­ senkt und mit sich selbst, wie wir mit unseren Begriffen, zu spielen scheint. Denke man sich einen Pisang, dem diese Gabe zugeteilt wäre, sodaß er die ungeheuren Blätterschirme für sich selbst wechsel­ weise niedersenkte und aufhübe; jedermann, der es zum erstenmale sähe, würde vor Entsetzen zurücktreten. So eingewurzelt ist bei uns der Begriff unserer eigenen Vorzüge, daß wir ein für allemal der

Außenwelt keinen Teil daran gönnen mögen, ja daß wir dieselben, wenn es nur anginge, sogar unseres Gleichen gerne verkümmerten." Die Naturforscher der neueren Zeit sind geteilter Ansicht.1

Während einige, wie z. B. Laeckel,- die Beseelung sämtlicher Organismen, mithin auch der Pflanzen, mit Nachdruck behaupten, bekämpfen andere diese Annahme oder lassen diese Frage wenigstens

offen. Man kann aber mit Recht behaupten, baß sich im ganzen der Kampf um die Pflanzenseele heute zu Gunsten derselben entschieden hat. Besonders hat Gustav Theodor Fechner bereits im 3. 1848 in seinem schon erwähnten, von tiefem, wissenschaftlichem Geiste durchtränkten, wie von zartem, poetischem Reiz umwobenen Werke „Nanna" die Be­

seelung der Pflanze mit Kraft und Wärme verteidigt und fast alle für dieses Gebiet bedeutungsvollen Grundgedanken geistvoll entwickelt.

In ähnlicher Weise ist neuerdings auch Lorenz Fischer in seiner Ab­ handlung „über das Prinzip der Organisation und die Pflanzen­ seele" für die Beseelung der Pflanzen eingetreten. Viele sind zwar bereit, den Tieren eine Seele zuzuschreiben, ' Aber ältere Naturforscher f. G. Th. Fechners Nanna, oder über das Seelenleben der Pflanzen (Leipzig, 1848). S. 28. 2 Äaeckel, Schöpfungsgeschichte. 6. Aufl. Berlin, Reimer. S. 393, so­ wie besonders desselben Verfaffers, Protistenreich. Eine populäre Übersicht über das Formengebiet der niedersten Lebewesen. Verlag). S. 9 ff.

(Leipzig, Ernst Günthers

Das Seelenleben der Pflanzen

188

nicht aber den Pflanzen, weil diese von jenen völlig verschieden seien.

Diese behauptete absolute Verschiedenheit schwindet aber bei kritischer Betrachtung zu einer bloß relativen zusammen. Tier und Pflanzen sind im Gegenteil stammverwandte Wesen. Wer daher die Tiere für beseelt erklärt, kann nicht umhin, die Pflanzen auszudehnen.

Beseelung auch auf die

Untersuchen wir die Lauptunterschiede, welche

zwischen Tieren und Pflanzen bestehen sollen. Vor allem und zuerst wird auf die freie Ortsbewegung der Tiere, im Gegensatz zu dem Festgewurzeltsein der Pflanzen hinge­

wiesen. Indessen selbst wenn dieser Unterschied ein absoluter wäre, so würde offenbar daraus noch nichts gegen die Beseelung der Pflanzen folgen. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch ein fest­ gewurzeltes Wesen ein seelisches sein sollte, warum lediglich in der

Möglichkeit, den Ort zu wechseln, das Privilegium der Beseelung bestehen soll. Wenn jemand gelähmt jahrelang im Bette liegen muß, bleibt er trotzdem ein beseeltes Wesen.

Fechner (Nanna, S. 42) meint geistvoll, wie es festsitzende und tragbare Lampen gäbe, ohne daß dadurch das Licht der einen anders wäre, als das der anderen, so es ja gewissermaßen auch festsitzende Seelenlampen in den Pflanzen und bewegliche in den Tieren geben. Indessen der Unter­ schied, welchen man in der Ortsbewegung als auszeichnendes Merk­ könnte

mal der Tiere gegenüber den Pflanzen hat finden wollen, ist deshalb

kein fundamentaler, weil bekanntlich die neuere Naturwissenschaft, je tiefer sie in das Reich der niederen Organismen eingedrungen ist, nicht bloß festgewachsene Tiere, besonders im Meere, sondern auch

frei bewegliche Pflanzen, wie die Spaltalgen, (Diatomeen), Spalt­

pilze (Bakterien) und Schwärmfäden (Spermatozoiden)1 entdeckt hat, sodaß die Fähigkeit der freien Ortsbewegung heute nicht mehr als

ausschließlich tierisches Merkmal gelten kann. Im übrigen zeigen auch die Pflanzen viele Bewegungserscheinungen, welche den tierischen ähnlich sind. Die Ranken der Schlingpflanzen kriechen so lange am Boden hin, bis sie die Stützen gefunden haben, an denen sie empor­

klettern.

Man hat Beispiele, daß sogar ganze Bäume und Sträucher

sich, wenn auch in langsamer Weise, vom Orte forbewegt haben. „Anter den Ruinen von New Abbey in Gallowayshire befindet

sich eine Art Ahorn (Acer pseudoplatanus); dieser überragte einmal die Mauer, aber von Mangel an Raum oder Nahrung gedrängt. 1 Vgl. Äaeckel, a. a O.

Das Seelenleben der Pflanzen

189

schickte er eine starke Wurzel von der Löhe der Mauer, welche sich in dem Boden unten festsetzte und in einen Stamm verwandelt wurde; und nach­ dem er die übrigen Wurzeln von der Äöhe der Mauer losgemacht hatte, wurde der ganze Baum von der Mauer abstehend und unabhängig. Der Baum ging auf diese Weise von seinem ursprünglichen Platze.

Lord Koiner gedenkt der Erscheinung und die Tatsache ist unbezweifelt richtig. — Ein Stachelbeerbusch, welcher in einem Winkel eines

Gartens in einem kärglichen

sandigen Boden

stand, schickte einen

Zweig in der Richtung nach dem besseren Boden ab, welcher seine Wurzeln auf dem Wege dahin einsenkte; der ursprüngliche Busch starb ab und die Pflanze schritt nach dem besseren Boden vorwärts. — Am Comersee bei der Villa Pliniana sind auch hängende Wurzeln wahrzunehmen, welche die Fläche des Felsens abwärts gekrochen und

Stämme geworden sind."

(Murray in Frorieps Notizen XXXVIII.

p. 278 bei Fechner, Nanna, S. 106). Auch der zweite Lauptunterschied, den man als tierisches Merkmal gegenüber den Pflanzen hingestellt hat, erweist sich als nicht maßgebend, die Verschiedenheit nämlich in der Nahrungsaufnahme bei Tier und Pflanze.1 Die Tiere, sagt man, nehmen ihre Nahrung durch Flächen

auf, welche sich in ihrem Innern befinden, d. h. durch die inneren Flächen des gesamten Ernährungskanals, während die Pflanzen ihre Nahrung durch die nach außen gekehrten Flächen der Wurzel und Blätter aufsaugen. Angenommen dieser Unterschied bestände wirklich

so würde daraus noch nichts gegen eine Beseelung der Pflanzen folgen, denn offenbar könnte denselben Zweck der Nahrungs­ durchgehends,

aufnahme das eine beseelte Wesen auf die eine, das andere auf eine andere Art erreichen.2 Sind doch die Unterschiede von Innen und

Außen lediglich relative! Aber es zeigt sich auch zumal bei den niederen Tieren, wie z. B. bei dem Moner, daß sie ebenfalls mit der ganzen äußeren Fläche des Körpers die Nahrung aufnehmen

und sie erst durch diese in ihr Inneres und in den Ernährungskreis­ lauf eintreten lassen. Kat man ferner einen bedeutsamen Unterschied darin finden wollen, daß die Pflanzen sich lediglich von unorganischen Stoffen nähren, während das Tier nur von organischen Stoffen lebe,

so

muß

einerseits

darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch

1 Moritz Willkomm, über die Grenzen des Pflanzen- und Tierreichs und den Ursprung des organischen Lebens auf der Erde (Prag, 1888) S. 11, 12, 15. Fechner, Nanna, S. 259. 2 Vgl. Fechner, Nanna, S. 258 ff.

190

Das Seelenleben der Pflanzen

die Tiere unorganischer Stoffe, wie Luft, Wasser, Salz, und physi­ kalischer Kräfte wie Licht und Wärme bedürfen, wenn es auch wahr

und ein Llnterschied den Pflanzen gegenüber bleibt, daß sie davon allein nicht leben können; daß aber andererseits die neuerdings ent­ deckten fleischfressenden Pflanzen, die sich also von organischen Stoffen

nähren, diesen Anterschied als völlig hinfällig erwiesen haben. Das aber die Pflanzen sich hauptsächlich von unorganischen Stoffen nähren, könnte man erst recht als einen Beweis für ihre Beseelung anführen. Denn es bekundet offenbar einen höheren Grad von Lebenskraft, unorganische Stoffe in organische Substanz verwandeln, als lediglich von Stoffen leben zu können, die dem eigenen Wesen gleichartig sind. In zwei eigentümlichen Stoffen, welche nur den Pflanzen zu­

kämen, nämlich dem Chlorophyll und der Cellulose, hat man ferner charakterische, Pflanze und Tier scharf sondernde Merkmale erblicken wollen. Allerdings ist das Blattgrün tatsächlich noch in keinem Tiere gefunden worden, aber es eignet sich auch gar nicht dazu, als ein allen Pflanzen wesentliches und von dem Pflanzencharakter unab­ trennbares Kennzeichen betrachtet zu werden, „weil dieser grüngefärbte

Stoff Tausenden von unzweifelhaften Pflanzen überhaupt fehlt, nämlich allen Pilzen und auch der Mehrzahl der phanerogamen

Schmarotzergewächse".1 Die Cellulose aber kann man ebenfalls nicht mehr als ein ausschließliches Erzeugnis der Pflanzenwelt betrachten, seitdem Schmidt bewiesen hat, daß auch der Mantel der Ascidien, welche doch unzweifelhaft Tiere sind, aus echtem Äolzstoff besteht. Man hat endlich in der Art und Weise der Fortpflanzung eine letzte, dafür aber auch durchaus sichere und untrügliche Grenzlinie zwischen Tier und Pflanze ziehen wollen: Pflanzen vermehren sich

durch Samen oder Sporen, Tiere legen Eier oder gebären lebendige Junge. Wie Willkomm darlegt, haben die Schleimpilztiere, die Gregarinen und Amöboiden einen ausgesprochenen animalischen Charakter;

sie sind Tiere, aber gleichwohl vermehren sie sich wie die Pflanzen durck — Sporen! Auch dieses Anterschiedsmerkmal fällt also in sich selbst zusammen.

Es ist nach alledem überhaupt unmöglich, eine feste Grenze zwischen Tier und Pflanze abzustecken. So verschieden und gegensätzlich auch die höchsten Formen der Pflanzen- und Tierwelt erscheinen; so unmöglich es ist, einen Elefanten und einen Eichbaum zu ver1 Willkomm, a. a. O.

S. 18.

Das Seelenleben der Pflanzen

191

wechseln — auf den niedrigsten Stufen der beiden organischen Reiche hören die Anterschiede auf, und die Merkmale fließen un­ trennbar in einander. Mit Recht hat deshalb Äaeckel diese niedrigsten Organismen in ein besonderes Reich der Protisten zusammengefaßt.1 Die Protisten, wie z. B. die Wurzelfüßler und Geißelschwärmer,

können mit gleichem Rechte sowohl für Tiere als auch für Pflanzen

und andererseits auch weder für Tiere noch für Pflanzen erklärt werden. Der Botaniker weist sie dem Zoologen zu, der Zoologe dem Botaniker, oder es nimmt jeder von beiden alle für sich allein in Anspruch. Run sind aber diese Protisten unzweifelhaft empfindende und mithin beseelte Wesen. Es unterliegt heute auch keinem Zweifel

mehr, daß sich die höheren Tier- und Pflanzenformen aus diesen niedrigsten Protistenformen allmählich entwickelt haben. Wenn dem­ nach diese Protisten beseelte Wesen und Stammeltern der Pflanzen sind, so ist kein Grund abzusehen, warum man den Pflanzen die Beseelung absprechen sollte. Mit vollem Rechte sagt daher Wundt in seinen „Grundzügen der physiologischen Psychologie": „In der Tat scheinen nun manche Erscheinungen des Pflanzenlebens darauf hinzuweisen, daß sie einer psychischen Grundlage nicht ganz entbehren."

Mit vollem Recht faßt er im Anschluß an Pflüger „die Pflanzen als einseitig entwickelte Tiere" auf. Mit demselben Rechte möchte

ich diesem Ausdrucke den ihn erst ergänzenden zur Seite stellen, daß nämlich das Tier eine „eigenartig entwickelte, eine vom Boden losge­

löste und in Bewegung gesetzte Pflanze" sei. Die innige Verwandtschaft von Tier und Pflanze tritt auch darin zu Tage, daß die allgemeinen Lebensprozesse bei beiden völlig gleichartig verlaufen. Beide entstehen aus einer Zelle, deren Haupt­ inhalt Protoplasma ist. Beide wachsen allmählich durch Aufnahme von Nahrung. Die Blutbewegung bei den Tieren und die Säfte­ bewegung bei den Pflanzen zeigen große Ähnlichkeit. Bei beiden gliedert sich der Körper in verschiedene Organe von verschiedenen Funktionen. Beide zeigen dieselben geschlechtlichen Eigenschaften; es

gibt Tiere und Pflanzen von ungeschlechtlicher Art, von Zwitter­ bildung und Geschlechtstrennung. Der Befruchtungsprozeß und die Fortpflanzungsvorgänge bieten bei beiden ganz ähnliche Erscheinungen; auf diese folgt bei beiden das Fruchttragen, welches bei aller Ver­

schiedenheit im einzelnen doch im allgemeinen der gleiche Prozeß ist. 1 Laeckel, Ernst. Das Protistenreich. Eine populäre Übersicht über das Formengebiet der niedersten Lebewesen. Leipzig, Ernst Günther's Verlag.

192

Das Seelenleben der Pflanzen

Wie die Tiere, so atmen und schlafen auch die Pflanzen (Blätterund Blumenschlas), und der Tod zeigt bei beiden dieselben charakte­ ristischen Merkmale, in allen Äauptstücken ist die Pflanzenleiche der Tierleiche ähnlich; beide unterliegen demselben Zersetzungsvorgange der Verwesung. Vor allen sind es die Reizbewegungen der Pflanzen, welche sich ohne Annahme einer gewissen Reizbarkeit, d. h. ohne Voraus­ setzung eines gewissen Grades von Empfindlichkeit und Empfindung, ja von wählender Unterscheidung der Reize und willkürlicher Reaktion auf die entsprechenden Reize d. h. also ohne Annahme eines psychischen Faktors gar nicht erklären lassen. Bekannte Beispiele

bieten die Sinnpflanze, die Berberisblüte, das Hedysarum gyrans, auf deren wunderbare Empfindlichkeit, wie wir oben gesehen haben, schon Goethe mit Staunen hinwies. Wir brauchen nicht bis in die Tropenländer, der Keimat der Mimosen zu reisen, sagt Wilkomm (a. a. O. S. 8), um dergleichen (empfindliche) Pflanzen zu finden; unsere Torfmoore und Sumpf­ wiesen enthalten eine solche in Tausenden von Exemplaren. Ich meine den in schwellenden Moorpolstern wachsenden Sonnentau, die Drosera rotundifolia L., bekanntlich eine der sog. insektenverzehrenden Pflanzen. Dieses zarte Pflänzchen besitzt eine zierliche Rosette lang­ gestielter Blätter, deren bleichgrüne, fast kreisrunde Spreiten am Rande und auf der Oberfläche mit in konzentrische Kreise geordneten Stielchen von verschiedener Länge besetzt ist, die eine kuglige purpur­ rote Drüse tragen. Letztere scheidet einen zähklebrigen Schleim aus,

weshalb sie glänzend erscheint.

3m Sonnenschein bietet die Blatt­

rosette einer Drosera einen prächtigen Anblick dar, denn dann er­ scheinen ihre Blattspreiten wie mit purpurglänzenden Tautröpfchen übersät, was den so sinnigen Namen veranlaßt haben mag, den das deutsche Volk dieser Pflanze gegeben hat. Die gestielten Drüsen dieser Sonnentaublätter dienen zum Ergreifen und Festhalten kleiner Insekten, haben also ähnliche Funktionen zu erfüllen, wie die den

Mundbesatz der Polypen bildenden Tentakeln, weshalb ihnen auch Darwin, dem wir die gründlichsten Untersuchungen und interessantesten Ausschlüsse über diese Pflanze verdanken,1 dieselbe Benennung gegeben hat.

Sie sind mit Bewegung begabt, welche sich durch zwar lang-

1 Charles Darwin, Insectivorous plants. Insektenfressende Pflanzen. Aus dem Englischen übersetzt von Victor Carus. Stuttgart 1876. Mit Drosera rotundifolia beschäftigen sich die ersten 11 Kapitel.

Das Seelenleben der Pflanzen

193

same, aber wahrnehmbare Einkrümmung ihres zarten Stieles zu er­ kennen gibt. Auch diese Bewegung wird nur infolge eines von außen wirkenden Reizes veranlaßt, ist also ebenfalls eine Reflex­ bewegung. Aber nicht allein durch den geringen Druck, den ein sich

auf das Blatt setzendes Insekt oder ein darauf gelegtes Stückchen Eiweiß, Fleisch und bergt m. ausübt; nein, die unmerklichste Be­ rührung eines Droseratentakels genügt, um dessen Stiel zu veranlassen, sich einwärts zu krümmen. So ist beobachtet worden, daß ein einziges Stückchen vom dünnen Frauenhaar von nur Vwkc Gran (— 0,00822 Milligr.) Gewicht auf das Köpfchen eines Droseratentakels gelegt,

eine Einbiegung von dessen Stiel veranlaßt, ein Reiz, ein Druck, den selbst der empfindlichste Teil des menschlichen Körpers, die Zungen­

spitze, gar nicht wahrzunehmen vermag.

Ja, wie Darwin nachge­

wiesen, bewirkt sogar das Eintauchen eines lebendigen Droserablattes in eine so schwache Lösung von phosphorsaurem Ammoniak, daß jede Drüse nur zirka V2000000 Gran dieses Salzes zu absorbieren vermag,

eine Einbiegung der Drüsenstiele. Wer möchte bei solchen Tatsachen noch zweifeln, daß dem Sonnentau — und dasselbe gilt mehr oder weniger von jeder insektenverzehrenden Pflanze — ein höchst ausgebildetes Empfindungsvermögen innewohnt? And vermögen am Ende nicht alle Pflanzen zu empfinden? Für die Wahrscheinlichkeit dieser Meinung ließe sich eine Menge von Tatsachen anführen. Ist doch der Pflanzenkörper viel feiner konstruiert als der Tierleib, und rufen in demselben Reize von Imponderabilien z. B. von Licht und Wärme, die am Tierleib spurlos vorübergehen, noch durchgreifende Ver­ änderungen hervor, wie z. B. die Erscheinungen des Äeliotropismus."

Dem Berichte über einen auf der Naturforscherversammlung in Nürnberg im I. 1893 von Professor Pfeffer (Leipzig) gehaltenen

Vortrag über

die

„Reizbarkeit der Pflanzen"

entnehme ich

das

Folgende: „Die Wechselwirkung mit der Außenwelt ist bekanntlich notwendig, um lebendigen Wesen die unerläßlichen Bedingungen für ihr Fort­ kommen, für ihre Tätigkeit, zu gewähren. Wie im Tiere, ist auch

in der Pflanze das ganze lebendige Getriebe von den mannigfachsten Neizvorgängen durchwebt und gelenkt. Bei dem Wurme, der sich bei Berührung krümmt, bei dem Schmetterlinge, der dem Lichte zu-

fiiegt, ist die Bewegung in demselben Sinne das Zeugnis der Reizung, wie bei der Sinnflanze (Mimosa pudica) das Zusammenschlagen der Blätter, wie bei der auf dem Blumentische stehenden Pflanze das langSchultze, Credo und Spera

13

Das Seelenleben der Pflanzen

194

same Äinkrümmen nach dem Lichte.

In der nur veranlassenden (aus­

lösenden) Wirkung liegt der allgemeine Charakter der Reizerscheinungen,

und wenn wir von Reizung reden, so sind eben die im lebendigen Or­ ganismus durch irgend einen Anstoß veranlaßten Auslösungsvorgänge ins Auge gefaßt.

Die Reizerfolge, welche durch Anstoß in den sensibeln

Pflanzen erzielt werden, treten uns in sehr verschiedener Erscheinungs­ form entgegen. Während z. B. die Blättchen der Sinnpflanze

plötzlich zusammenschlagen, veranlaßt Berührung in der parasitischen Flachsseide die Bildung der in den Wirt eindringenden Saugwurzeln, in anderen Pflanzen hinwiederum ist die Antwort auf den Reiz ein Stoffwechselprozeß, der äußerlich durch keine Bewegung verraten

wird. Für die Erzielung zweckdienlicher Lage ist die Reizwirkung der Schwerkraft, der Geotropismus, von hoher Bedeutung. Vermöge dieses Geotropismus krümmt sich in der horizontal gelegten Keim­ pflanze der Stengel aufwärts, die Wurzel abwärts, bis beide Organe die vertikale Stellung erreicht haben. Dieser Fall ist eines der vielen Beispiele, daß die einzelnen Glieder einer Pflanze in spezifisch ver­ schiedener, hier in gerade entgegengesetzter Weise auf die gleiche Reiz­

ursache zurückwirken. Von den vielseitigen Reizbewegungen der Wurzel ist vor allem noch ihr Äinwenden nach dem feuchten Medium, ihre

hydrotropische Reizbarkeit zu erwähnen.

Tritt diese mit dem

Geotropismus in Streit (zum Beispiel an einschüssigen Gehängen), so schlägt die Wurzel diejenige Richtung ein, welche sich als Mittleres aus beiden Bestrebungen ergibt. Sehr merkwürdig ist das Empfindungs­

vermögen, welches die Ranke der Erbse, des Kürbis, der Zaunrübe zum Umschlingen der ihnen Äalt gewährenden festen Stütze veranlaßt. Denn während zur Auslösung dieser Reizbewegung schon die Be­ rührung mit einem Seidenfädchen genügt, welches nur den fünf­ tausendsten Teil eines Milligramms wiegt, sind dieselben gegen die kräftigsten Zerrungen durch Wind oder einen Wasserstrahl vollkommen unempfindlich und reagiern selbst dann nicht, wenn die Stärke eines anprallenden Quecksilberstrahls bis zum Zerquetschen der Ranke ge­ steigert wird. Die Ranken unterscheiden also sehr zweckentsprechend

den festen und den flüssigen Aggregatzustand. Zu den äußerlich nicht hervortretenden Reizerfolgen zählt unter anderem die Verstärkung

Zellwände infolge eines Zugreizes. In den zu freier Orts­ bewegung befähigten Pflanzen ist die Sensibilität in nicht minder vielseitiger Weise ausgebildet. Auffallende Reizungen durch Licht, Wärme, Berührung, Elektrizität, Schwerkraft, chemische Wirkungen der

Das Seelenleben der Pflanzen

195

usw. sind auch hier reich bekannt. Es ist u. a. ein verblüffendes Schauspiel, wenn die bis dahin ohne ein bestimmtes Ziel herum­ schwimmenden Bakterien bei Darbietung von etwas Fleisch oder

Fleischextrakt nun sogleich, sich drängend und stoßend, nach dem an­ lockenden Körper eilen und demgemäß auch in eine mit dem Köder

gefüllte Capillare steuern, welche ihnen als Falle gestellt wurde. Während aber die Bakterien bei zu hoher Konzentration des Fleisch­ extrakts oder nach Zugabe von Alkohol oder Säure vor diesem jetzt rötlichen Lockmittel zurückprallen, entflieht dasselbe Bakterium bei Anwesenheit des giftigen Quecksilbersublimats dem anlockenden Reize nicht und rennt so ins Verderben. Weit wählerischer bezüglich der Lockmittel als die auf viele Körper reagierenden Bakterien sind die Samenfäden der Farne und Laubmoose, die fast allein dem Reize der Apfelsäure bezw. des Rohrzuckers Folge leisten, und zwar werden die Samenfäden durch die spezifischen Reize zu der zu befruchtenden Eizelle gelenkt. Am die Anlockung zu erzielen, genügt bei Bakterien wie Samenfäden schon der billionste und trillionste Teil eines Milligramms des Reizmittels, also eine so winzige Menge, daß

keine Wage, keine chemische Reaktion sie mehr anzuzeigen vermag. Wir dürfen in der Beurteilung des Wesens der Reaktionen nicht

mit der Schnelligkeit rechnen, welche stets nur nach einem relativen Maßstabe abgeschätzt wird. Ein Bakterium, welches unter dem Mikroskope eiligst durch das Gesichtsfeld schießt, bewegt sich tatsächlich

nicht entfernt so schnell, als die langsam kriechende Schnecke, und doch wieder schnell im Vergleiche zur eigenen geringen Größe. Denn während der Mensch, kräftig ausschreitend in der Sekunde ungefähr

die Äälfte der eigenen Körperlänge durchmißt, vermag ein Bakterium

in derselben Zeit das Drei- und Fünffache des eigenen Durchmessers zurückzulegen. Sieht man sachgemäß von allen Besonderheiten in dem

Verlaufe nnd Erfolge der Reaktionen ab, so verbleibt den so überaus mannigfaltig gestalteten Reizvorgängen als gemeinsames Band der Charakter von Auslösungsvorgängen; es führt also nicht jeder beliebige Eingriff zu einer Reizung, ebenso wie eine einfache mechanische Wechselwirkuug keinen Reizvorgang vorstellt. Der weiter und weiter strebende ursächliche Rückerfolg einer Lebenserscheinung in der Pflanzen-

und Tierwelt muß notwendigerweise schließlich in das Getriebe des lebendigen Protoplasmakörpers führen. Die Gemeinsamkeit dieses, derselben Gattung zugehörenden Elementarorganismus schlingt das einende Band um Pflanzen und Tiere. Ebenso wie in anatomischer und 13*

196

Das Seelenleben der Pflanzen

morphologischer Linsicht, stellen Pflanzen und Tiere auch dieselben allgemeinen physiologischen Probleme, und für beide muß in gleichem Sinne die Frage beantwortet werden, inwieweit Pflanzen und niederen Tieren psychische Regungen zuzugestehen sind." Daß die Reizbewegungen der Pflanzen auf einer Stufe mit den Reflexbewegungungen der Tiere stehen geht daraus

hervor, daß sie

ganz dieselben Erscheinungen wie diese zeigen. Erstens: Sehr ver­ schiedene Reize können bei Tier und Pflanze dieselbe Empfindung und Bewegung auslösen.

Ein Schlag aufs Auge, der galvanische

Strom, eine Lichtätherwelle erzeugen im Auge immer nur Licht­ empfindungen. Eine Berührung, ein Luftzug, ein galvanischer Strom bewirken z. B. bei der Sinnpflanze dieselben Bewegungsvorgänge. Zweitens: Ein stärkerer Reiz betäubt und lähmt Tiere und Pflanzen und macht sie gefühllos. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß die gleichen Stoffe stets auch die gleiche Wirkung bei beiden ausübten, im Gegenteil hat der italienische Botaniker Flaminio Tassi durch Versuche bewiesen, daß manche Stoffe die Pflanzen betäuben, ver­ giften, ja töten können, welche den Tieren unschädlich sind, und um­ gekehrt. Das Pfeilgift der Indianer (Curare) das Viperngift und das Gift der Brillenschlange tötet die Tiere, läßt aber den Sonnentau

ganz unversehrt. Andererseits wirken viele unorganische Stoffe sowohl auf Tiere als auf Pflanzen mehr oder weniger giftig, so die meisten Säuren, die Salze der Alkalien, der alkalischen Erden usw. und die Metallhydrooxyde. Die Lähmung der Pflanzen infolge eines giftigen

Reizes kann man an solchen Blüten beobachten, welche sich zu bestimmten Stunden öffnen und schließen. Die Blätter der Blumenkrone erstarren dann, und ihre gewohnten Bewegungen bleiben aus. Die Blätter der Mimosen zeigen eine langdauernde völlige Gefühllosigkeit gegen äußere Reize, nachdem sie sich in Folge der Einwirkung des Betäubungsmittels

zusammengeschloffen haben. Drittens: Ein zu starker Reiz kann bei Tier und Pflanze tötlich wirken, z. B. ein Blitzschlag. Viertens: Die durch einen Reiz in ihrer Lage veränderten Teile einer Pflanze kehren nach dem Aufhören des Reizes ebenso allmählich wieder in ihre gewohnte Stellung zurück, wie dies bei tierischen Wesen geschieht. Fünftens: Zu häufige Reizung stumpft die Reizbarkeit ab und bewirtt Er­ schöpfung und Erschlaffung bei Tier und Pflanze. Sechstens: Tier und Pflanze können sich an Reize, die nicht geradezu lebensgefährlich

sind, gewöhnen und ertragen sie dann ohne merkliche Empfindlichkeit. So wird z. B. die Sinnpflanze, wenn man sie eine Stunde in einem

Das Seelenleben der Pflanzen

197

Wagen herumfährt, zuerst veranlaßt, ihre Blätter zusammenzufalten, später aber gewöhnt sie sich an die Erschütterung und reagiert nicht mehr darauf. Siebentens zeigt sich auch darin die Ähnlichkeit

zwischen Tier und Pflanze, daß beide zu verschiedenen Zeiten, unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Lebensaltern eine ver­ schiedene Reizbarkeit entwickeln. Man hat diese eigentümlichen Reizbewegungen der Pflanzen für Reflexbewegungen erklärt. Wir haben aber schon verschiedentlich

darauf hingewiesen,1 daß Reflexbewegungen nicht mechanisch tote Bewegungen sind, sondern sich nur unter der Voraussetzung einer noch so minimalen psychischen Kraft erklären lassen.

So müssen wir

denn wie bei den Tieren, so auch bei den Pflanzen gerade aus diesen reflektorischen Reizbewegungen den Schluß auf einen noch so geringen Grad der Beseelung um so mehr ziehen, als sich in ihnen, wie die

obigen Mitteilungen Pfeffers zeigten und das Folgende noch weiter zeigen wird, unleugbar eine gewisse Willkür kundgibt, insofern viele

pflanzliche Wesen zwischen ihnen zusagenden und nicht zusagenden Reizen ganz offenbar zu wählen verstehen, oder wie. die Drosera, beim Fang eines Insektes in höchst zweckmäßiger Weise verfahren und zur rechten Zeit zu warten, zur rechten Zeit zu handeln wissen. „Es ist um die Mittagszeit eines heißen Iulitages, schreibt Will­ komm (a. a. O. S. 15). Die langgestielten Rosettenblätter (der Drosera) sind völlig ausgebreitet und Hallen ihre purpurglänzenden Tentakeln

geradlinig ausgestreckt. Da kommt eine Mücke herbeigeflogen oder eine Ameise gekrochen, erstere, vielleicht angelockt durch die an Bluts­ tröpfchen erinnernden Drüsen, letztere in der Meinung, an diesen purpurglänzenden Perlen süßen Nektar zu finden. Das Insekt setzt sich auf ein Blatt, erkennt seinen Irrtum und will wieder fort. Aber es kann nicht mehr, denn schon hat der zähe Schleim der Pflanze seine Füße umstrickt, seine Flügel verklebt. Vergebens macht es die

verschiedenartigsten Anstrengungen, sich aus den Armen der grausamen

Schönen zu befreien, die sich noch vollkommen ruhig verhält, nur immer reichlicheren Schleim ausscheidet, je mehr Bewegungen das gefangene Tierchen ausführt.

Nach etwa einviertelstündigem Kampfe

erlahmen dessen Kräfte; das Tier wird ruhig, aber noch lebt es. Da auf einmal beginnt ein unheimliches Leben in dem Droserablatt sich 1 S. des Verfassers Werk „Nervensystem und Seele oder Allgemeine Grundzüge der physiologischen Psychologie" 9. Kap. Das Bewußtsein und das Anbewußte. S. 167—182.

Das Seelenleben der Pflanzen

198

zu regen. Die Tentakeln der Blattspreite und zwar zuerst die kürzeren des Zentrums fangen an, ihren Stiel einwärts zu krümmen und ihr

Köpfchen auf den Leib des erschöpften Insektes zu legen und dieses

tiefer in den jetzt die ganze Blattoberfläche bedeckenden Schleim hin­ einzudrücken. Noch einige Zuckungen und das Tier ist verendet, er­ stickt, in Folge Verklebung der Atmungslöcher seiner Tracheen. Mehr

und mehr Tentakeln krümmen sich nun einwärts, und strecken ihre Köpfchen über die kleine Tierleiche, zuerst die kürzeren, nach und nach die längeren, zuletzt die längsten am Blattrande befindlichen, welcher nun selbst sich einwärts zu biegen beginnt. Endlich, nach 8—10 Stunden seit der ersten Berührung durch das Insekt, erscheint das runde Droserablatt völlig zusammengeschlagen und geschloffen. Das­ selbe bleibt geschloffen, bis durch die peptonisierende Eigenschaft seines

Schleimes alle Weichteile des toten Insektes aufgelöst worden sind, worauf es sich allmählich wieder öffnet und ausbreitet." Selbst nüchterne Naturforscher haben mit Recht von den In­

stinkten der Pflanzen gesprochen, und in der Tat zeigen sich bei den Pflanzen eine Fülle von unbewußt zweckmäßigen Landlungen von derselben Art, wie wir sie bei den Tieren als Instinkte bezeichnet

haben. Das Aufsuchen des besseren Bodens und günstigeren Stand­ ortes, wie wir es oben von dem Ahorn und dem Stachelbeer­ busch angeführt haben, ist offenbar eine unbewußt zweckmäßige d. h. eine instinktive Landlung. Man hat Versuche angestellt, wobei man nicht bloß einzelne Blätter, sondern auch mit Blättern versehene Äste, ja ganze Pflanzen künstlich von der Zufuhr des Lichtes abschloß, und hat dabei beobachtet, daß Blätter, Äste und Pflanzen, gleich einem

bewußt handelnden tierischen Wesen, alle möglichen Anstrengungen machten, um die Lindernisse zu überwinden und zum Lichtgenusse zurückzukehren.

Schelling sagte einmal':

„Lätte die Pflanze Be­

wußtsein, so würde sie das Licht als ihren Gott verehren." Nun, wenn wir das Wort „Bewußtsein" auch nicht im menschlichen Sinne

fassen dürfen, so ist es doch keine Frage, daß ein Analogon des Empfindens nicht nur den Landlungen der Drosera beim Fange eines Insekts, sondern ebenso gut dem Auf- und Niedertauchen der Wasser­ lilie und der Lotosblume im Verhältnis zum Auf- und Niedergang

der Sonne zu Grunde liegt. Wenn ein Kartoffelausläufet in einem Keller, der bloß durch ein kleines Loch Licht erhält, sich bis 20 Fuß 1 Vgl. Kegel, Encyclopädie, II.

1847.

S. 475.

199

Das Seelenleben der Pflanzen

weit über den Fußboden nach dieser Öffnung hinzieht oder eine unter

gewöhnlichen Verhältnissen nur wenige Zoll hohe Pflanze, Latbrea squamaria, von der ein Stück in die Tiefe eines Bergwerks gefallen war, in einer Länge von 30 Ellen im Schachte aufwärts wächst, dem Lichte entgegen, was ist darin anders zu sehen, als ein Durst nach

Licht, ein Streben und Ringen danach, was ohne eine noch so mini­ male Empfindung, mit der gleichwohl starke und daher mächtig treibende Llnlustgefühle verknüpft sein müssen, nicht zu denken ist? Instinktive

Wandlungen

ganz im Sinne der

tierischen

sind

es,

wenn andere

Pflanzen, aber nur wenige, gleich den im Dunkeln lebenden Tieren, das Licht fliehen und die Finsternis suchen; wenn andere durch Biegung der Blätter und Blüten Schutz vor widrigen Reizen er­ streben, oder wenn die Kletterpflanzen so lange über den Boden

laufen, bis sie die zuträgliche Stütze gesunden haben, an der sie nun mit einem Male in die Löhe steigen. Ja, der folgende Fall1 ist so erstaunlich, daß man dabei kaum von einem unbewußten Instinkt, sondern geradezu von einem Witterungsvermögen, von einem indivi­ duellen Landein der Pflanze den besonderen gegebenen Umständen gemäß, also von einer Art assoziativer Einsicht auf Grund eines äußerst feinen Empfindens reden möchte:

„Mr. Ellward Cooper berichtet aus Santa Barbara über einen merkwürdigen Fall von Pflanzeninstinkt an das Beligio-PhilosophicalJournal: Durch seinen Garten läuft ein Kanal aus rotem Sandel­ holz, das an beiden Seiten durch anderes Lolz eingeschachtelt, aber

teilweise verwittert ist. Dieser Kanal stößt auf eine mannshohe Mauer, durch die der Kanal hindurchläuft, aber so, daß die seitliche Einschachtelung an der Mauer aufhört und erst an der anderen Seite wieder beginnt. Etwa 60 Fuß von der Mauer' steht ein Eukalyptus­ baum, der einen Wurzelzweig in gerader Linie nach dem Kanal hin­

laufen ließ, und hier lief die Wurzel an der Einfassung des Kanals

entlang, bis ihr die Mauer Lalt gebot.

Der Baum oder die Wurzel

schien aber gewußt zu haben, daß sich der Kanal auf der anderen Seite der Mauer fortsetzte und fand auch den Weg dahin. Loch in der Mauer befand sich nämlich ein kleines Loch von 1 Zoll Durch­ messer. Wie die Wurzel dieses entdecken konnte, ist ein Rätsel.

Tatsache ist aber, daß die Wurzel auf einmal an der ttockenen Back­ steinwand ttotz Sonnenschein und Sturmwind emporwuchs, durch das 1 Nach einem Bericht im Dresdner Anzeiger vom 13. April 1891.

200

Das Seelenleben der Pflanzen

Loch drang, und, auf der anderen Seite herunterwachsend, sich wieder an der kühlen und feuchten Außenseite des Kanals entlang zog." Schon der Amstand ist bemerkenswert und beweist einen äußerst

feinen Spürsinn,

daß der Eukalyptus aus

60 Fuß eine Wurzel nach

einer Entfernung von

der feuchten Außenwand des Kanals

hintreibt. Daß aber die Wurzel den Weg durch das Loch oben in der mannshohen Mauer findet, ist ein so schlagender Beweis für das Empfinden der Psianze und für ihr zweckmäßiges Landein, daß

man geneigt ist hier das Wort „Instinkt" mit seinem mehr generellen Sinne eines gleichmäßigen Gattungshandels überhaupt gar nicht an­ zuwenden, sondern von einer individuell zweckmäßigen psychischen wie

physischen Tätigkeit zu sprechen. Viele instinktive Landlungen der Pflanzen, z. B. das Klettern der Schlinggewächse, sind gewiß, in ähnlicher Weise wie bei den Tieren, aus Gewohnheit und Äbung in Folge von Anpassung an gegebene äußere Verhältnisse und aus Ver­

Der eben erzählte Fall lehrt aber deutlich, daß selbst im pflanzlichen Leben ein rein individuelles Landein in Linsicht auf besondere Amstände keineswegs zu den Anmöglichkeiten gerechnet erbung zu erklären.

werden darf, um so weniger, als, wie wir unten sehen werden, auch

den Pflanzen Individualität nicht abgesprochen werden kann. Daß aber, wenn schon ein generell instinktives Landein nicht ohne psychische Elemente zu erklären ist, ein derartiges individuelles Landein erst recht die Annahme der Beseelung und seelischer Vorgänge fordert,

liegt auf der Land. Die Langsamkeit der Bewegungen der Pflanzen in ihren Landlungen, verglichen mit der Schnelligkeit tierischer Be­ wegungen, beweist nichts gegen die Wirksamkeit der psychischen Kraft und das Vorhandensein der Empfindung, da natürlich bei ihrem eigen­ tümlichen, der Nerven und Muskeln entbehrenden Bau alle Reize

sich langsamer fortpflanzen und somit auch die Bewegungen langsamer ausfallen müssen. Wenn wir auf Grnnd all der erörterten Tatsachen berechtigt sind, Tier und Pflanze auf gleichem Fuße zu behandeln und • auch für die letztere die Beseelung in Anspruch zu nehmen, so scheint nun doch ein Amstand auf einen fundamentalen Anterschied zwischen beiden

hinzudeuten, der sich auch der Annahme einer Beseelung der Pflanzen

als ungünstig zu erweisen droht. Die Pflanzen besitzen nämlich nicht bloß kein zentralisiertes Nervensystem, sondern überhaupt keine Nerven, welche doch gerade bei den höheren tierischen Wesen die Träger und

Leiter der Empfindung bilden.

Nun hat man zwar früher in den

Das Seelenleben der Pflanzen sog.

Spiralgefäßen

der

Pflanzen nervenähnliche

201 Organe

erblicken

wollen; spätere Untersuchungen haben diese Annahme als irrig erwiesen. Es fehlen den Pflanzen wirklich Nervenzellen und Nervenfasern. Wie sollten sie also beseelte Wesen genannt werden können? Indessen diese Nervenfrage erscheint heute in einem ganz anderen Lichte. Auch die niedrigsten Tiere besitzen kein differenziertes Nervensystem,

und doch tragen sie alle Zeichen der Beseelung an sich. Die Proto­ plasmamasse als solche ist Träger und Leiter der Empfindungs- und Bewegungsvorgänge. Die Pflanze besteht aber aus Zellen. Der Inhalt dieser Zellen ist echtes Protoplasma. Was von den niederen Tieren gilt, gilt auch von den Pflanzen: um empfinden und sich be­ wegen zu können, brauchen sie, so wenig wie jene, Nervenfasern und Nervenzellen. Es genügt das Protoplasma, um diese seelischen Er­

scheinungen hervortreten zu lassen.

Als das Empfindende würden

wir demnach bei der Pflanze nur die Teile in Anspruch nehmen, welche aus lebensfähigem Protoplasma bestehen: die verholzten Teile eines Baumes z. B. würden so wenig an der Beseelung teilnehmen, wie die Kalkschalen der Auster oder die kalkigen Knochen im mensch­ lichen Skelette. Übrigens hat man neuerdings eine besonders merk­

würdige Beobachtung an der Mimosa pudica gemacht, welche vielleicht geeignet sein wird, auch bei anderen Pflanzen Licht auf die Art und Weise der Leitung von Empfindungsreizen zu werfen. Wenn man

den Blattstiel nämlich in der Nähe der Polster aufschneidet, so tritt Flüssigkeit heraus, die, nach Laberland, nicht bloß Wasser ist. Bald tritt in Folge des Ausschneidens Nachtstellung der Blätter ein, und

allmählich erscheint die ganze Pflanze in derselben. Der Einfluß der Verwundung wird also fortgeleitet, eine Erscheinung, die man bisher

nur bei dieser Pflanze wahrgenommen hat. Die Untersuchungen haben nun ergeben, daß in der Pflanze ein bestimmtes reizleitendes Gewebe vorhanden ist, welches zwischen dem Bast und dem Lolz-

ruht. Die durch den Schnitt herbeigeführte Störung des hydrostatischen Gleichgewichts wirkt von der Mündungsstelle aus rückwärts durch die Zellen, sodaß sämtliche Blattkiffen berührt und körper

gereizt werden (nach einem Vortrage von Professor Drude).

Sollte bei dieser besonders empfindlichen Pflanze also doch ein den Nerven­ fasern ähnliches Organ bestehen? Gegner der Pflanzenseele behaupten, daß die Pflanze keine eigentliche organische Einheit bilde, sie sei vielmehr nur ein locker zusammengefügter Zellenhaufen, während das Tier schon durch seine

202

Das Seelenleben der Pflanzen

ganze äußere Erscheinung die Einheitlichkeit verkünde; man könnte daher auch von der Pflanze einzelne Teile ablösen, ohne daß die

ganze Pflanze Schaden darunter litte; jene abgelösten Teile aber er­ zeugten aus sich auch wieder selbständig die ganze Pflanze. Nun ist es bekanntlich nicht wahr, daß man beliebige und beliebig viele Teile von der Pflanze ablösen kann, ohne daß diese darunter Schaden litte, vielmehr würde eine solche Zerstückelung bald ihren Untergang herbei­

führen. 3m übrigen entstehen aber auch aus dem in fünfzig Stücke zerschnittenen Polypen wieder fünfzig neue, aus dem in zwei Stücke zerschnittenen Regenwurm zwei Regenwürmer, und niederen Tieren wachsen sogar unter günstigen Umständen ganze Glieder wieder, wie der Eidechse der Schwanz oder ein Bein, oder der Schnecke ein Fühlhorn, Es sind also auch hier wieder dieselben Er­ scheinungen im Pflanzen- wie im Tierreich, und es läßt sich daraus nichts zum Nachteil der Pflanze folgern. Wie die Pflanze, so be­ steht auch das Tier aus Zellen und kann insofern auch ein Zellen­ haufen genannt werden. Wohl ist es wahr, daß das Nervensystem die Einheit in diesem Zellenhaufen bildet, aber das Nervensystem besteht

ja sogar der Kopf.

selbst wieder aus vielen einzelnen Teilen. Nun wird zwar das Gehirn und insbesondere das Großhirn als das Zentralorgan bezeichnet; aber das Gehirn besteht wieder aus vielen Teilen, es ist selbst wieder ein Zellen­

haufen, in welchem keine einzige einzelne Zelle als der absolute Zentral­ punkt bezeichnet werden kann. Die Einheit, die Einheitlichkeit im Gehirn,

ist vielmehr eine völlig ideale und eben wegen dieser einheitlichen Verknüpfung aller Teile, welche in der bloßen Vielheit der Zellen als solcher und ihrer bloß räumlichen Zusammenordnung keineswegs begründet liegt, wurden wir genötigt, im Tiere eine Seele in dem von uns früher (Vgl. Seelenkunde, Abt. I. S. 153 f.) definierten Sinne anzunehmen. Ganz dasselbe gilt aber von der Pflanze. Auch

die Pflanze zeigt, wie das Tier, eine in sich abgeschlossene, zu einem einheitlichen Ganzen verbundenene Gestalt, oder ist nicht eine Eiche

oder eine Tulpe oder irgend ein anderes Gewächs eine in sich vollendete Einheit? Allerdings kann auch bei der Pflanze, just wie beim Tiere, keine einzige einzelne Zelle als absoluter Mittel- und Einheitspunkt bezeichnet werden, vielmehr ist auch hier das Einigende ein rein ideales Band, welches die Vielheit der Zellen zu einer eigentümlichen, ein­ heitlichen Gestalt verbindet, anders in der Eiche, anders in der Tulpe. Auch hier gilt aber offenbar derselbe Schluß wie beim Tier von der Einheit auf die vereinheitlichende Kraft, d. h. auf eine Seele!

Das Seelenleben der Pflanzen

203

Die seelische Kraft macht sich in dem ganzen Entstehungs­ prozeß der Pflanze in derselben Weise bemerkbar, wie in dem Ent­ stehungsprozeß des Tieres; von innen heraus wirkt sie künstlerisch bildend alle jene mannigfaltigen Organe und Gestalten, welche wir an der Pflanze bewundern. Wir verweisen über diesen Punkt auf dieselbe Abt. I. S. 161 f., wo wir ihn bereits näher erörtert haben. Sämtliche Glieder des Pflanzenleibes stehen in derselben innigen Wechselwirkung wie die Glieder des tierischen Leibes. Es ist un­

möglich, wesentliche Teile der Pflanze zu verletzen, ohne daß nicht das Ganze darunter leidet. So wenig wie diese einheitliche Wechsel­

beziehung aller Organe auf einander mit der bereits oben besprochenen relativen Teilbarkeit des Pflanzenkörpers (wie andererseits, wenn auch in beschränkter Weise, auch des Tierkörpers) in Widerspruch steht, so wenig bilden auch jene künstlich herbeigeführten Verwachsungs­ prozesse beim Pfropfen und Okulieren einen Gegenbeweis gegen dieselbe, hat man doch auch niedere Tiere halb durchschnitten und die Äälften zusammengenäht, und zwar unter geeigneten Umständen mit dem Er­ folge, daß sie zusammenwuchsen und sich wie ein Individuum be­

nahmen, (Fechner, Nanna, S. 307). Wie haben wir uns nun die Pflanzenseele im allgemeinen vor­ zustellen? Welche Kräfte, welche Grundvermögen sind ihr eigen im Vergleiche mit der Tierseele? Was bildet ihren wesentlichen Inhalt? Auf zwei Wegen können wir uns der Lösung dieses Problems nähern. Indem wir erstens von der Menschen- und Tierseele auf

Grund physiologischer und psychologischer Tatsachen alles abziehen, wodurch diese die Pflanzenseele übertreffen, müssen wir ein Arteil

über den Grad pflanzlicher Beseelung gewinnen. Indem wir zweitens die Reize prüfen, auf welche die Pflanzen reagieren, können wir aus der Beschaffenheit und Zahl dieser Reize (nach dem dritten, in meiner „Psychologie der Tiere und Pflanzen" S. 24 aufgestellten tier- und pflanzenpsychologischen Gesetze) auf Inhalt und Umfang der eigentümlichen pflanzlichen Empfindung einen Schluß ziehen. Führen wir zuerst jenes Subtraktionsexempel aus! Die Pflanze

besitzt kein Gehirn und überhaupt kein Nervensystem; mithin können

ihr auch alle jene höheren seelischen Tätigkeiten, welche sich jener Organe als Werkzeuge bedienen, nicht zugeschrieben werden. Von einem abstrakten Denken nach logischen Gesetzen kann also keine Rede sein. Die Erinnerung als Aufbewahrung und Reproduktion von Vorstellungselementen und die darauf beruhenden Vorgänge der

204

Das Seelenleben der Pflanzen

Assoziation von Vorstellungen, also auch die assoziative Einsicht ist

ohne den Besitz zahlreicher Gehirnzellen nicht zu erklären. Alles dieses und in unmittelbarem Zusammenhänge mit der Erinnerung an das Vergangene auch die Voraussicht in die Zukunft kann also der

Pflanzenseele nicht gegeben sein. Da sie keine differenzierten Sinnes­ organe tierischer Art besitzt, so müssen ihr die aus dieser entsprechen­ den sinnlichen Empfindungen differenzierter Art ebenfalls abgehen. So bleibt also für die Pflanzenseele nach Abzug jeder

Art des

Denkens und Vorstellens lediglich das, was wir reine Empfindung nennen wollen, wobei wir unter „reiner Empfindung" eine Enipfindung verstehen, welche von der Beeinflußung aller aus Vorstellungen, Gedanken Willensprozeffen usw. bestehenden höheren Assoziationen noch völlig frei ist, und wobei wir vorläufig über Grad, Amfang und Inhalt dieser reinen Empfindung noch nichts Genaueres aussagen wollen. Nun ist Empfindung niemals ohne eine entsprechende Bewegung;

Empfindung und Bewegung aber als notwendig verbundene einheit­ liche Folge nennen wir Trieb. So hat also die Pflanzenseele reine Triebe und nichts weiter, d. h. also, auf jede momentan in ihr erregte Empfindung folgt sogleich die entsprechende Bewegung, doch so, daß dieser Vorgang stets nur ein Prozeß des gerade gegenwärtigen Augenblicks ist, ohne daß die Pflanzenseele im folgenden Moment

noch eine Erinnerung des vorhergehenden Moments oder eine Vor­ ausschau und Erwartung des kommenden Moments hätte. Es ist also ein Seelenleben, das ganz und gar im Augenblicksempfinden

aufgeht. Dabei kann dies Empfinden, so eng beschränkt es auf das gerade Gegenwärtige sein mag, doch seiner Intensität nach ungeheuer stark und ebenfalls mit sehr starken Gefühlen der Lust und Anlust

d. h. des dem pflanzlichen

Individuum Zuträglichen und Anzuträg­

lichen verknüpft sein, wenn auch der Inhalt dieser Empfindungen und Gefühle ein von den menschlichen oder höher-tierischen himmel­

weit verschiedener sein mag und von uns mithin weder nachempfunden noch nachgefühlt werden kann. Die Pflanzenseele steht somit im fort­ währenden Flusse reiner und nur momentaner Empfindungstriebe, wobei wir unter reinen Empfindungstrieben solche verstehen, welche nur durch die oben definierte reine Empfindung erregt werden. Den Gegensatz zu diesen reinen Emfindungstrieben bilden die im Menschen wirkenden Gedankentriebe und die im Menschen und höheren Tieren wirkenden Vorstellungs- und Wahrnehmungstriebe, welche häufig

genug die Empfindungsbetriebe so beeinflussen und verändern, daß sie

Das Seelenleben der Pflanzen

205

eben deshalb nicht reine Empfindungstriebe bleiben. Diese Gedanken-, Vorstellungs- und Wahrnehmungstriebe müssen wir ganz eliminieren und uns vorstellen, was dann noch übrig bleibt, um eine Ahnung von den reinen momentanen Empfindungen und Empfindungstrieben der Pflanzenseele zu bekommen. Diesem Seelenzustand verwandt muß der der niederen Tiere ohne differenzierte Sinnesorgane und

entwickeltes Nervensystem sein, oder der des Kindes im Mutter­ leibe und des eben geborenen Kindes, welches zuerst weder Gedanken noch Vorstellungen noch Wahrnehmungen besitzt, sondern lediglich im Flusse momentaner Empfindungen der niederen Sinne und der dadurch erweckten Triebreaktionen ein Augenblicksleben führt. Auch im Leben der Erwachsenen gibt es Augenblicke, z. B. unmittelbar vor dem Einschlafen

oder in Zuständen hochgradiger Abspannung, wo, wie wir sagen, uns das Denken vergeht, die Sinne schwinden und doch eine Art Allgemein­ empfinden und -fühlen bleibt. Diese Zustände könnten wir dem reinen Empfindungs- und Gefühlsprozeß der Pflanzenseele vergleichen, welche deshalb auch niemals über ihr eigenes Innere hinauskommt, niemals die Vorstellung eines Objektiven außer ihr bildet, sondern rein in sich und nur in ihrem Innern die völlig subjektiv bleibenden Empfindungen und Gefühle erlebt, welche durch äußere Reize in ihr bewirkt werden.

Eben dieses ist wohl auch der Sinn des oben zitierten Legelschen Ausdrucks, daß die Pflanze das erste für sich seiende Subjekt sei, daß es das schwache kindische Leben sei, das in ihm selbst noch nicht zum Anterschiede aufgegangen ist.

Wie erklärt es sich unter diesen Voraussetzungen daß jene oben erwähnte Eukalyptuswurzel das Loch in der Mauer fand? Die Empfindung der Pflanze für das ihr Zuträgliche kann unsagbar fein sein. Nun bedarf der Eukalyptus vor allem bekanntlich Wasser, Feuchtigkeit. Nicht also, als ob die Wurzel das Loch oben in der

Mauer als „Loch in einer Mauer" wahrgenommen und sich als eine objektive Wahrnehmung vorgestellt hätte, als ob sie davon „gewußt" hätte, wie sich der Originalbericht nach menschlicher Analogie naiv ausdrückt. Der Vorgang ist ein reiner momentaner Empfindungs- und Empfindungstriebvorgang. Die Erde ist porös. Feine Luftströmungen durchdringen sie. Wer weiß, was alles eine Wurzel mit ihren feinen Fäserchen im physikalischen und chemischen Sinne zu wittern vermag? Wenn der Eukalyptus eine Wurzel aus einer Entfernung von 60 Fuß

geradeswegs nach dem feuchten Kanal sandte, so muß er doch eine Witterung von der dort vorhandenen Feuchtigkeit gehabt haben, in dem

206

Das Seelenleben der Pflanzen

Sinne, daß etwa durch unterirdische Luftströmungen oder andere sich forpflanzende Einflüsse der Feuchtigkeit auf seine für Wasser besonders reizbare Empfindung in jedem Moment fortgesetzt eingewirkt wurde, und die Wurzel (einem Wurme vergleichbar) also in jedem Moment, ihrer momentanen Empfindung gemäß, in der Richtung nach dem Kanal zu weiterwuchs, bis sie ihn erreicht hatte und nun an seiner feuchten Außenseite sich weiterwand. Jetzt stellt ihr die Mauer ein Hinder­ nis in den Weg. Vielleicht drang durch das Loch in der Mauer mit dem Zuge der Luft der feuchte Dunst des jenseits der Mauer

sich fortsetzenden Kanals, ganz unwahrnehmbar für uns, wohl aber empfindbar für die hydrotropisch ungeheuer empfindliche Wurzel. Ohne von einem Loch in der Mauer zu wissen, reckt sie sich dem feuchten Dunstzuge entgegen, folgt seiner Spur, gelangt so an und durch das Loch und auf der anderen Seite der Mauer, wo die Wirkung der verdunsteteten Feuchtigkeit nur um so stärker wirkt, wieder hinunter und an die Kanalwand zurück. In diesem Sinne ganz natürlich, aber allerdings nicht ohne seelische Empfindung wittert die Wurzel die Feuchtigkeit und wächst, dem in ihr mächtig erregten Empfindungs­ triebe gemäß, gewiß mit starkem Lustgefühl der Feuchtigkeit entgegen und nach, denn nur die Feuchtigkeit existiert für sie, nicht die rein menschliche Vorstellung eines Kanales oder einer Mauer oder eines

Loches. Wenn nun auch die Pflanzenseele dem Umfang und Inhalt nach tiefer steht, als die Seele des Menschen und der niederen Tiere, so

ist damit keineswegs gesagt, daß die ihr eigentümliche Empfindungs­ weise dem Intensitätsgrade nach nur eine sehr schwache sei. Man

hat wohl gesagt, die Pflanzenseele befinde sich in einem traumartigen Zustande, um damit anzudeuten, daß sie jeder starken Empfindungs­ erregung ermangele. Ganz abgesehen davon, daß der Vergleich mit dem Traum in jeder Beziehung schief genannt werden muß, insofern im Traum mit großer Deutlichkeit zusammengesetzte Vorstellungsge­ bilde auftreten, welche der Pflanzenseele überhaupt fehlen — so muß

man im Gegenteil annehmen, daß, je mehr dieser psychische Zustand nur auf die momentane Empfindung beschränkt ist, um so stärker die Kraft sei, mit welcher diese Empfindung sich geltend macht. Ich stelle mir vor, daß die Pflanze die Empfindungen, welche sie hat, auch mit voller Deutlichkeit empfindet, und daß mit diesen Empfin­ dungen auch sehr kräftige sinnliche Gefühle der Lust und Unlust ver­

knüpft sind, ohne daß wir imstande wären, diese pflanzlichen Emp-

Das Seelenleben der Pflanzen

207

findungen nachzuempfinden oder diese pflanzlichen Gefühle nachzufühlen, weil beide auf unserer menschlichen Empfindungs- und Gefühlsskala

überhaupt nicht vorkommen. Einen Kraftmesser dieser pflanzlichen Empfindungen und Gefühle besitzen wir an den ungeheuer gewaltigen

Triebbewegungen der Pflanzen. Wenn im Frühling die Säftebe­ wegung in den Pflanzen mit unglaublicher Energie zu wirken beginnt, wenn in kürzester Zeit eine unendliche Menge von Blüten, Blättern und Schößlingen aus ihrem Innern hervorbricht, so kann man, Be­ seelung überhaupt vorausgesetzt, unmöglich annehmen, daß solche stürmischen Triebbewegungen einer schwächlichen Empfindung ent­ sprungen und von matten Gefühlen begleitet sein sollten; vielmehr muß dem weitspannenden Umfange der Bewegungserscheinungen auch

ein überaus kraftvoller Empfindungs- und Gefühlszustand als Ursache

vorangehen. Wenn wir vorhin gesagt haben, daß die Pflanze lediglich in der Empfindung des flüchtigen Augenblicks lebe, so ist damit nicht gemeint, daß der Pflanze in jedem Augenblick nur eine einzige Empfindung innewohne. Vermittelst der Blätter wird die Pflanze andere Empfindungen gewinnen als vermittelst der Wurzel; vermittelst

der Blüten andere als infolge des inneren Säfteumlaufs in den Zellen. In jedem Augenblick wirken gleichzeitig viele äußere Reize auf die Pflanze ein, Wärme, Luft, Wind, Regen u. s. f. So ergibt sich, daß die Pflanze in jedem Augenblick eine Fülle von Empfin­

dungen hat, aber nicht in klar unterschiedener Weise, sondern so, daß

alle diese Empfindungen in eine intensive Empfindungsverschmelzung zusammenfließen, der natürlich auch ein ihr entsprechendes sinnliches Gemeingefühl angenehmer oder unangenehmer Art in jedem Augen­

blick parallel läuft. Freilich wiederholen und betonen wir noch einmal, daß diese Empfindungs- und Gefühlsverschmelzung der Pflanze denen

der Menschen und höheren Tiere durchaus nicht gleich oder auch Empfindungen und Gefühle sind nicht bloß

nur ähnlich zu sein braucht.

subjektiv, sondern auch so sehr individuell, daß sie schon von Mensch zu Mensch erheblich abweichen, geschweige von Mensch zu Tier oder

von diesem zur Pflanze. Fassen wir jetzt die äußeren Reize, welche

auf die Pflanze

wirken, näher ins Auge, so können wir aus diesen den Schluß

auf ihre verschiedenen inneren Empfindungen wohl wagen. Die Pflanze steht vor allem unter dem Einfluß von Licht und Dunkel, sie ist ein „heliophages" Wesen wie kaum ein anderes.

Sollte sie bloß Wärme

208

Das Seelenleben der Pflanzen

und Kälte im Verhältnis zur An- und Abwesenheit der Sonne empfinden? Sollte man ihr nicht auch geradezu eine Lichtempfindung,

ein dermatoptisches Anterscheidungsvermögen von Äell und Dunkel wie vielen niederen Tieren zusprechen dürfen, im Hinblick auf die

Blätter und Blüten, welche sich mit aller Energie dem Lichte als Lichtquelle, nicht als Wärmequelle zuwenden? Mich dünkt das im Vergleich mit jenen dermatoptischen Erscheinungen bei niederen Tieren im höchsten Grade wahrscheinlich. Natürlich brauchen nur gewisse

Organe der Pflanzen, nämlich Blätter und Blüten, diesen Lichtsinn zu besitzen. — Die Pflanze steht unter der Einwirkung von Trocken­

heit und Feuchtigkeit; sie wird

vom Winde hin-

und

herbewegt,

mechanische Stöße wirken auf sie, chemische Stosse beeinflussen sie —

und von all diesen Einwirkungen sollte sie keine besonderen und eigen­ tümlichen Empfindungen und Gefühle empfangen? Nach Willkomm (a. a. O. S. 9) ist die Pflanze feiner organisiert als das Tier und empfindet und reagiert ohne Zweifel auf Reize, von denen wir gar keine Ahnung haben. Vielleicht dürfen wir auch von Geschmäcken

und Gerüchen der Pflanzen reden, natürlich immer mit dem Vor­

behalt, daß diese Bezeichnungen nicht nach menschlicher Art gedeutet werden dürfen, vielmehr nur in dem Sinne eines in die verworrene Allgemeinempfindung eingehenden', besonderen Empfindungsbestand­ teiles, wie wir es in ähnlicher Weise bei den niederen Tieren kennen gelernt haben. Die Pflanze unterscheidet mir ihren Wurzeln, die

wir lebendigen, durch die Erde guten und schlechten Boden, die stoffe — sollten die Wurzeln besitzen? sollten die Wurzeln Nahrungsaufnahme sind, auch sein? Die Pflanze gedeiht in

kriechenden Würmern verglichen, den zuträglichen und schädlichen Nahrungs­ nicht eine Art von Geschmack dafür nicht, insofern sie die Organe der in gewissem Sinne Geschmacksorgane guter Luft und leidet unter giftigen

Sollten ihre Atmungsorgane nicht auch in gewissem Sinne Geruchsorgane sein? Im Frühling, wo der lebhafteste Säfte­ umlauf beginnt und Blüten und Blätter in Fülle hervorgetrieben Dämpfen.

werden, muß die Pflanze auch von besonderen, diesen Vorgängen entsprechenden starken Empfindungen und Gefühlen durchwogt sein — diese Zeit ist gewissermaßen ihre Sturm- und Drangperiode. Sollte

sie nicht auch des Abends vor dem Einschlafen ein entsprechendes Gefühl der Müdigkeit, wie Morgens beim Erwachen das entgegen­ gesetzte der Frische empfinden? Einer der wichtigsten Abschnitte im Leben der Pflanze ist die Geschlechtsentwicklung in der Blütezeit und

Das Seelenleben der Pflanzen

der Befruchtungsprozeß.

Die

209

geschlechtlichen Organe der Pflanze

zeigen eine ähnliche hochgradige

Erregbarkeit,

wie die

der Tiere.

Warum sollten also nicht auch bei der Pflanze starke Empfindungen

und Gefühle die geschlechtlichen Vorgänge begleiten? Auf die Be­ fruchtung folgt das Fruchttragen. Ganz neue und ungewohnte Säfte­

strömungen hauptsächlich nach den Teilen hin, an welchen die Früchte wachsen, machen sich bemerkbar. Sollten nicht auch damit besondere Empfindungen und Gefühle in ähnlicher Weise wie mit der tierischen

Schwangerschaft verknüpft sein?

Mit dem Kerannahen des Winters

beginnt die Entblätterung der Pflanze und ihr Versinken in den Winterschlaf. Der Übergang in diesen Zustand der Erstarrung und Empfindungslosigkeit vollzieht sich wahrscheinlich auch unter Gefühlen, welche mit den entsprechenden der tierischen Organismen beim Ver­ lieren des Bewußtseins vergleichbar sind. And endlich mögen auch dem Altern und Absterben ähnliche Schwäche- und Krankheitsgefühle

vorangehen, wie sie sich im tierischen Organismus als Vorboten des Todes einstellen. Wenn wir durch alle angeführten Erörterungen genötigt sind, der Pflanzenwelt im allgemeinen Beseelung zuzusprechen, so müssen

wir, da die Pflanzenwelt ja nur in einzelnen individuellen Pflanzen

besteht, nun auch notwendig noch den letzten Schritt tun, jeder einzelnen Pflanze, und dieses Wort nicht bloß im Sinne einer Pflanzenart, sondern im Sinne eines Individuums gemeint, auch eine individuelle Seele zuzugestehen. Nicht bloß unterscheiden sich Eichen und Tulpen von einander, sondern bei genauerer Betrachtung ist jede Eiche auch wieder von jeder anderen verschieden an Größe, Gestalt, Aufbau ihres Körpers, Zahl der Äste und Blätter usw. Jede einzelne Pflanze hat also ihr individuelles Gepräge. Dies zeigt sich besonders in der individuellen Eigenart ihrer physiologischen Prozesse. Vor meinem Gartentore steht ein Kirschbaum unter vielen anderen Kirschbäumen derselben Art, der unter ganz denselben äußeren Einflüssen und Verhältnissen wie diese doch in jedem Frühling acht Tage früher als seine Nachbarn blüt. Solche individuellen Gewohnheiten einzelner Pflanzen lassen sich zahllose

beobachten. Sie beweisen, daß die Pflanzenseele nicht etwa bloß im pantheistischen Sinne als eine allgemeine Beseelung des Pflanzenreiches gedacht werden darf, sondern daß vielmehr jede einzelne Pflanze eine individuelle Seele oder, um den von mir gebildeten individuali­ sierenden Ausdruck anzuwenden, eine Psychade ist. Diese SeelenS chultze, Credo und Spera 14

210

Das Seelenleben der Pflanzen

Individualität läßt sogar auf verschiedene Charaktere nicht bloß der

Pflanzenarten, sondern auch der Einzelpflanzen schließen, das Wort Charakter in dem Sinne einer besonderen und in der Hauptsache stets mit sich identischen Willensrichtung genommen. Die ästhetische Be­

trachtung

der Pflanzen, welche allerdings mit der poetischen

und

anthropopathischen nahe verwandt ist, hat schon seit langer Zeit eine solche Charakterologie, wenigstens der Pflanzenarten, geliefert. Ich meine mit der ästhetischen Betrachtung der Pflanzenwelt nicht den Hinweis darauf, daß ein großer Teil des Schönheitsreizes der Erde

in ihrem Pflanzenkleid bestehe, daß ohne den Pflanzenwuchs die Erde eine kahle Wüstenei wäre, daß mancher noch so häßliche Winkel

von einem üppigen Pflanzengewebe gefällig übersponnen wird und dadurch Reiz und Zierde gewinnt. Die ästhetische Betrachtung weist vielmehr darauf hin, daß jede einzelne Pflanze in ihrem eigenen Körperbau, in ihrer Farben- und Formenpracht, in ihrer regelmäßigen,

den Gesetzen der Symmetrie entsprechenden Gestaltung eine Fülle eben nur ihr eigentümlicher Schönheit birgt, welche von der einer anderen Pflanze charakteristisch abweicht. Können wir nun überhaupt aus dem Bau eines Organismus auf die ihn belebende und gestaltende

Seele schließen, so müssen wir annehmen, daß der besonderen mit allen Zeichen der Individualität ausgestatteten Körperform auch eine besondere, individuelle Seele von eigentümlicher Willensrichtung, d. h.

ein besonderer Charakter zu Grunde liege.

So hat von jeher die

ästhetische Betrachtung der Pflanzen, wie sie nicht bloß bei Dichtern,

sondern auch in der volkstümlichen Anschauung hervortritt, zumal in den verschiedenen Blumen besondere Charaktere gesehen. Die Rose gilt als die stolze, schöne, edle Herrin, das Veilchen als das bescheidene Mädchen, die duftlose Camelie als seelenlose Kokette, wobei man (und nicht erst nach Jäger) gerade in dem eigentümlichen Duft einer Blume eine Beziehung zu ihrer Seele, einen Ausdruck derselben jhat finden

wollen. Eine schöne Seele würde dann den harmlos schönen Pflanzen, den Giftpflanzen dagegen eine schlimme Seele innewohnen. Der Sonnentau wäre als ein schönes, aber tückisches Raubtier zu bezeichnen.

Eine starke Seele zeigen Eiche und Buche, doch so, daß jene mehr die gesunde Mannesseele, diese die gesunde Weibesseele darstellt; eine schwächere Seele besitzen Pappel und Fichte. Seelenverschieden müssen z. B. Apfelbaum und Olbaum sein. Soviel anthropomorphisierende Phantasterei auch in dieser ästhetischen Charakterologie walten

mag, ein gesunder Wahrheitskern scheint mir doch darin zu stecken,

Das Seelenleben der Pflanzen

211

eben die Annahme, daß jede Pflanze nicht bloß generell beseelt sei, daß vielmehr jede sogar eine individuelle Seele und einen individuellen Charakter besitze, so sehr man nun auch in der auf der Analogie mit dem Menschen beruhenden Bestimmung dieses Charakters irre

gehen möge. Gesteht man der Pflanze Beseelung und Individualität zu, so

muß man auch zu der notwendigen Folgerung fortschreiten, daß die Pflanze nicht bloß als Mittel für andere zu betrachten, sondern auch ihr eigener Selbstzweck für sich ist. Diese immanent (nicht transzendent) teleologische Beurteilung ist von um so größerer Wichtigkeit, als gerade die Gegner der Pflanzenseele die Pflanze nur als Mittel für andere und gar nicht als Selbstzweck gelten lassen wollen. Jedes organische Wesen ist zwar auch Mittel für andere, aber dabei auch

Zweck für sich selbst.

Welchen besonderen Lebenszweck für sich hat

nun die Pflanze? So subjektiv und deshalb antastbar nun auch bekanntlich jede teleologische Bestimmung sein mag, so können wir

doch den Selbstzweck des Menschen, der allein ihn von Tier und Pflanze wesentlich unterscheidet, darin finden, daß er die Welt denkend in sich aufzunehmen und denkend auf sie zurückzuwirken hat.

Die

gemeinsame Bestimmung aller untermenschlichen, mithin sowohl der tierischen als pflanzlichen Organismen finden wir darin, daß sie die Welt sinnlich genießend in sich aufnehmen und in sinnlicher Weise auf sie zurückwirken. Bezieht sich dieser allgemeine Zweck gleichmäßig auf Tiere und Pflanzen, so ist nun aber der Unterschied zwischen

beiden

der

folgende:

Das

Tier

nährt

sich

von

organischen

Stoffen, die es sich vorzugsweise auf und über der Oberfläche der Erde in freier Bewegung von Ort zu Ort ergreift; die Pflanze aber

nährt sich vorzugsweise aus dem Reiche des Anorganischen, von un­

mittelbar chemischen Substanzen, welche sie, an einem Orte festgebannt, vorzugsweise unter der Oberfläche mit ihren in die Tiefe versenkten Wurzeln sucht, findet, genießt und in organische Stoffe verwandelt, während sie, in ihren Ästen sich weit über die Oberfläche ausdehnend, mit ihren Blättern besonders die physikalischen Kräfte des Lichts und

der Wärme begierig auf sich wirken und durch sie ihre physiologischen Funktionen anregen und befördern läßt. Das Anorganische in Or­ ganisches verwandeln kann nur sie allein unter allen Organismen; hierin hat sie ihr ganz eigentümliches Gebiet; hierin besteht ihr Hauptzweck; hierin liegt ein Genießen, das nur ihr eigen ist, und mit deutlicher Begierde und sichtlichem Behagen streckt sie sich vielwurzlig, 14*

212

Das Seelenleben der Pflanzen

vielästig, vielblättrig dem Genusse dieser Welt chemischer Stoffe und physikalischer Kräfte entgegen, welchen das Tier in gewisser Weise fremd und hülflos gegenübersteht, weil es zwar nicht ohne sie, aber doch auch nicht von ihnen leben kann. So sehr jedes organische Wesen und mithin auch die Pflanze als Selbstzweck erscheint, so sehr bildet doch auch wieder jedes ein Glied in der Kette und also ein Mittel für andere. Selbstverständlich dient auch die Pflanzenwelt dem ganzen übrigen Reiche der Orga­ nismen dadurch, daß sie in sich selbst für diese die ihnen zuträgliche Nahrung bereitet und als solche von ihnen verzehrt wird. Dabei ist aber nicht außer acht zu lassen, daß, wenn somit auch im höchsten Grade die Pflanze Menschen und Tieren dient, umgekehrt auch diese wieder in gleichem Maße der Pflanze dienstbar sind. Verzehren Tier und Mensch die Pflanze, so verzehrt umgekehrt die Pflanze das Tier und den Menschen. Zwar zerreißt sie dieselben nicht bei lebendigem Leibe, aber sie verzehrt einerseits alle Abgänge, welche der tierische Körper als unbrauchbar von sich wirft, und andererseits verzehrt sie endlich den gesamten tierischen und menschlichen Körper, wenn er entseelt zu Boden sinkt und sich in seine Bestandteile auf­ löst. And gerade bei dieser Auflösung in die Bestandteile, bei allen sog. Fäulnis- und Verwesungsprozeffen sind die Auflöser, Verzehrer und Amwandler pflanzliche Mikroorganismen, absolut kleinste Lebe­ wesen, ohne welche die ganze Ökonomie des Stoffwechsels in der

organischen Natur nicht vollzogen und in Ordnung gehalten würde, nämlich die Bakterien, welche unzweifelhaft dem Gewächsreich ange­ hören (Willkomm, a. a. O. S. 12). — Aber auch noch in einer anderen Hinsicht dienen Mensch und Tier der Pflanze. Bekanntlich atmen Mensch und Tiere Sauerstoff ein und Kohlensäure aus; die Pflanze umgekehrt atmet die Kohlensäure ein, verwandelt den darin enthaltenen Kohlenstoff in Bestandteile ihres eigenen Baus und atmet den freigewordenen Sauerstoff wieder aus. Ohne Kohlensäure müßte die Pflanze zu Grunde gehen; diese Kohlensäure bereiten ihr Menschen und Tiere, während umgekehrt sie wieder für diese den Sauerstoff freigibt. So dienen sich tierische und pflanzliche Organismen gegen­ seitig, ja man könnte mit Fechner, der diese naturteleologischen Be­ trachtungen geistvoll ausgesponnen hat, sagen: In diesem Wechselverhält­ nis wird die Pflanze mehr bedient, als sie dient. Denn während Mensch und Tier mühsam von Ort zu Ort laufen müssen, um ihre Nahrung zu heischen, bleibt die Pflanze ruhig an ihrer Stelle, wie

Das Seelenleben der Pflanzen

213

eine Königin, die viele Diener hat und weiß, daß ihr alles zur rechten

Zeit gebracht wird. An die teleologische Betrachtung schließt sich ein nicht unwichtiges,

ich möchte sagen, moralisches Bedenken an.

Wird nicht durch die

psychologische Beurteilung der Pflanzen, als beseelter Individualitäten,

ihre praktische Behandlung gehindert und gehemmt? Werden wir, wenn die Pflanzen als empfindende Wesen erkannt sind, noch wagen mögen, einen Baum niederzuschlagen, über eine Wiese zu gehen oder eine Blume abzubrechen? Wird nicht unser Gemüt von Mitleid für

die durch uns leidenden Pflanzen ergriffen werden müssen? Wird uns der Gedanke nicht schmerzlich berühren, daß die wenigsten Pflanzen eines natürlichen Todes sterben, vielmehr Menschen und Tiere ihnen einen grausamen Tod bereiten? Diese sentimentale Betrachtung wird bei genauem Zusehen viel von ihrem scheinbaren Gewicht verlieren: Auch die meisten Menschen und Tiere sterben keines natürlichen Todes.

bestände genau genommen nur dann, wenn jedes tierische Wesen die äußerste Grenze seiner möglichen Lebensdauer erreichte und bei voller Gesundheit aller seiner Organe schmerzlos sein Leben ver­ Dieser

hauchte, wie es einem gesunden Greise dann und wann beschieden ist. Unnatürlich aber ist bei den meisten tierischen Organismen der Tod deshalb, weil äußere oder innere schädliche Gewalten dem Da­ sein vor Ablauf der normalen Lebensfähigkeit ein Ende bereiten. Stirbt also die Pflanze keines natürlichen Todes, so teilt sie damit nur das Loos der meisten lebenden Wesen. Sie hat aber sogar noch

den großen Vorteil, daß, da ihr jeder Vorausblick in die Zukunft

abgeht, der Todesstreich sie völlig unerwartet trifft und sie niemals unter dem peinlichen Gedanken an den Tod zu leiden hat, daß sie Todesfurcht nicht kennen lernt. Nun ist in Wahrheit aber auch die Verletzung, welche ihr etwa von Menschenhand zugefügt wird, nicht so groß und grausam, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Streich des Schnitters trifft nur den bereits abgestorbenen Halm; das Mähen einer Wiese steht auf gleicher Stufe mit dem Scheeren eines Schafes, und das Pflücken einer Frucht nimmt der Pflanze

nur, was ohnehin bald von ihr abgefallen wäre. Ja, man könnte der Meinung sein, daß wie der Mensch gerade durch Hindernisse und Leiden zu einem neuen Streben angefeuert wird, auch die Pflanze sich durch das ihr zugefügte Leid nur zu neuer Wachstumstätigkeit angeregt fühlt. Kräftiger nur schießt das Gras nach dem Schneiden auf, stärker nur entfaltet der beschnittene Baum seine neuen Triebe.

Das Seelenleben der Pflanzen

214

Die Leiden der Pflanze ständen also auch in dieser Hinsicht auf gleicher Stufe mit denen der tierischen Organismen. Immerhin wird sich aber

aus der psychologischen Betrachtung mit um so überzeugungsge­ waltigerem Nachdruck die moralische Forderung ergeben, welche bereits das alte indische Gesetzbuch des Menu zum Gesetz erhebt, daß, wenn Pflanzen empfindende Wesen sind, sie wie alle empfindenden Wesen

auch Anspruch auf Schonung haben, und daß jede mutwillige und zwecklose Zerstörung eines Pflanzenlebens als eine unsittliche Äandlung zu verdammen und zu bestrafen ist. Man belehre schon die Kinder in diesem psychologischen und ethischen Sinne, und sie werden

sich nicht bloß zu den Pflanzen als verwandten Wesen in ein sym­ pathischeres Gefühlsverhältnis setzen, sondern auch von selbst die mo­ ralischen Gebote auf sie anwenden, zu welchen eine wahrhaft humane, auf erweiterter naturphilosophischer Grundlage beruhende Ethik und unser dadurch verfeinertes sittliches Gefühl uns den Tieren gegenüber bereits unwiderstehlich verpflichtet hat.

Pflanzen sind beseelte Wesen — das ist das Ergebnis unserer Antersuchung. Es versteht sich von selbst, daß, sowie die Tiere eine aufsteigende Stufenleiter von niederen zu höheren Formen psycho­ logischer Entwicklung darstellen, auch zwischen den niederen, höheren und höchsten Pslanzenarten große Unterschiede hinsichtlich der seelischen

Entwicklung bestehen müssen, deren genaue Feststellung im einzelnen späteren Spezialuntersuchungen überlassen bleiben muß. Es ist auch

sehr wahrscheinlich, daß das zweite tierpsychologische Baersche Gesetz (f. meine Tiersychologie, S. 22 s.) auch für das Pflanzenreich gilt:

daß also nicht bloß die höchsten Stufen einer vorhergehenden niederen Pflanzenart eine höhere psychische Entwicklung zeigen als die niedrigsten Stufen der nächstgelegenen höheren Art, sondern daß auch überhaupt die höheren Pflanzenarten seelisch wahrscheinlich höher stehen, als die niederen Tierarten. Auch auf diesen Punkt müßten sich spätere Spezialuntersuchungen richten.

Eine letzte Frage ist diese: Stellen jene, pflanzen- und tierähn­

liche Merkmale ungesondert enthaltenden, Protisten genannten, kleinsten Lebewesen die unterste Grenze der Beseelung im Reiche der Natur

dar?

Oder

erstreckt

sich

die

psychische

Kraft

nicht

noch

auf

niedrigere Stufen des Daseins? Sollte nicht, wie es die metaphysisch­ pantheistische Weltanschauung anzunehmen liebt, sogar einem Kristalle, einem Steine, ja den physikalischen Kräften der Elektrizität und des

Magnetismus, den mechanischen der Anziehung und Abstoßung und

Das Seelenleben der Pflanzen

215

den chemischen Kräften der sog. Wahlverwandtschaft immer noch ein

niederer Grad psychischer Motivation innewohnen? Wir müssen, bis jetzt wenigstens, mit Nein! darauf antworten, obgleich die sog.

Vergiftungserscheinungen bei unorganischen Stoffen, die (z. B. nach den Antersuchungen von Bredig) den Lebenserscheinungen analoge Vorgänge aufweijen sollen, uns nicht unbekannt sind. Als Merkzeichen des beseelten Organismus müssen wir erstens die Möglichkeit der Fortpflanzung d. h. der Erzeugung eines gleichartigen Wesens aus sich fordern. Das vermag kein Stein, kein Kristall, kein unorganischer Stoff. So wunderbar es ist, daß aus gewissen

Stoffverbindungen ein Kristall zu stereometrisch regelmäßigen Formen zusammenschießt — in dem Augenblicke der Vollendung dieses Pro­ zesses erstarrt der Kristall zu einem toten Dinge, das uns keine Spur von Empfindung und Bewegung verrät, geschweige einen andern Kristall aus sich zu erzeugen vermag. Was wir als zweites Merk­ mal fordern müssen, ist die Möglichkeit einer noch so begrenzten Unterscheidung, einer noch so beschränkten willkürlichen Wahl, wie sie allen niederen Lebewesen eigen ist, und woran wir diese eben

als solche erkennen. Diese Unterscheidung setzt aber das Dritte voraus, die Empfindung, d. h. ein inneres Von-sich-wissen, so dunkel, so gefühlsmäßig, so minimal bewußt dieses auch immer sein möge. Weder diese drei Merkmale zusammen noch eines von

ihnen allein zeigt irgend ein unorganischer Stoff oder irgend eine physikalische oder chemische Kraft. Ohne Wahl zuckt der Strahl! Eine breite Kluft trennt die Welt des Mechanischen von der des

Psychischen, die Welt der absoluten Notwendigkeit von der einer (natürlich auch nur) relativen Freiheit, die Welt des von außen

Stoffes von der Welt des von innen sich selbst be­ wegenden Geistes, die Welt des Anlebendigen von der des Lebens! bewegten

Lier haben wir also mit unserer Antersuchung die Grenze er­ reicht, wo die psychologische Betrachtung aufhört und die mechanische

beginnt. Es ist von uns im Reiche der menschlichen und untermensch­ lichen Organismen mit Nachdruck stets die Individualität hervorge­

hoben und die Existenz individueller Seelen verfochten.

Wollen wir

auf Grund der erörterten psychologischen Tatsachen einen metaphysischen Schluß wagen, so stellt sich uns die Welt des organischen dar als ein Reich von individuellen Psychaden, deren jede sich in ihrer eigen­ tümlichen Weise die organischen Stoffe zum Auf- und Ausbau ihres

216

Das Seelenleben der Pflanzen

Körpers dienstbar macht und durch diesen Körper mit anderen Wesen und mit der gesamten Außenwelt in Wechselwirkung tritt. So bietet sich uns auch auf Grund der tier- und pflanzenpsychologischen Untersuchungen als allgemeiner metaphysischer Erklärungsgrund der empirischen Erscheinungen ungesucht und ungezwungen die Psychadentheorie an.

10

Vom Himmel 1. Der Himmel und die Entstehung des Monotheismus, drei Hauptstufen naturreligiöser Verehrungen als fetischistischer, animistischer und polytheistischer lassen sich sowohl empirisch­ historisch als auch begrifflich klar von einander unterscheiden, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Menschheit im ganzen in ihrer religiösen Entwicklung diese Stufen durchlaufen hat. Im einzelnen Falle berühren sich aber diese drei Auffassungen manchmal so nah und fließen so leise und allmählich in einander über, nämlich die fetischistische

in die animistische, und die animistische in die polytheistische, daß man bei einem einzelnen Falle des Fetischismus zweifeln kann, ob er nicht schon animistisch, und bei einem einzelnen Falle des Animismus, ob

er nicht schon polytheistisch aufzusaffen sei. Wie der Fetischismus bei intelligenteren Negern dem Animismus, der dem Polynesier das Geläufige ist, Platz macht, zeigt ein Beispiel, durch dessen Mitteilung Hermann Halleur (Das Leben der Neger Westasrikas. Ein Vortrag.

Berlin 1850. S. 39) die Intelligenz mancher Neger ins Licht stellen will: „Ich wollte einem Neger begreiflich machen, wie töricht es sei, den Fetischen, z. B. dem Fetischbaume in der Mitte des Hofes, Speisen und Getränke, Citronen und Palmenöl zum Salben hinzu­

stellen, da er ja selbst sähe, daß er nichts davon gebrauche. „O," sagte der Neger, „der Baum selbst ist nicht Fetisch. Der Fetisch ist

ein Geist und unsichtbar, aber er hat sich hier in diesem Baume nieder1 Ein Kapitel aus des Verfassers Werk: Psychologie der Natur­ völker. Entwicklungspsychologische Charakteristik des Naturmenschen in in­ tellektueller, ästhetischer, ethischer und religiöser Beziehun . Eine natürliche Schöpfungsgeschichte menschlichen Vorstellens, Wollen und Glaubens. Leipzig 1900. S. 344 ff.

218

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus

gelassen. Freilich kann er unsere körperlichen Speisen nicht verzehren, aber er genießt das Geistige davon und läßt das Körperliche, welches wir sehen, zurück."

Kier ist der Neger bereits Animist geworden,

dessen nunmehr animistisch beschränkter Geisteszustand sich darin offenbart, daß er ganz kritiklos auch die Speisen animistisch auffaßt und ihnen ein Seelisches zuschreibt, ganz nach polynesischer Art.

Von großer Bedeutung ist es, daß wir einige Zeugnisse besitzen, welche uns wenigstens den Übergang von der animistischen zur poly­ theistischen Auffassung klar vor Augen stellen. Die letztere besteht darin, daß der mit einer Seele versehen gedachte, verehrte Gegenstand (z. B. die Sonne), in welchem die äußere körperliche Erscheinung und

die innere Seele zuerst als eine untrennbare Einheit animistisch vor­

gestellt werden, jetzt nur noch als Stoff gefaßt, das Geistige in ihm aber von diesem Stoffe getrennt und als eine für sich bestehende, menschenähnliche Persönlichkeit, als selbständiger Gott, gedacht wird, zu dessen bloßen Werk-- und Fahrzeug der äußere Gegenstand, der bis dahin selbst göttlicher Leib war, nunmehr herabsinkt. Stets wird dieser Übergang durch den Zweifel herbeigeführt, der in der Brust

des bis dahin gläubigen und unbefangenen Verehrers dann auftaucht, wenn ihm gerade infolge seiner Vertiefung in den Gegenstand seines Glaubens Widersprüche zwischen seiner hohen Auffassung desselben und den sich mit ihr nicht deckenden physischen Erscheinungen und

Wirkungen dieses Gegenstandes aufstoßen. Garcilasso berichtet, was Blas Valera von dem ausgezeichneten Jnca Tupac Iupanqui1 mitgeteilt hat. Dieser Inca „hatte die Ge­

wohnheit zu sagen": „Viele sagen, daß die Sonne lebe, und daß sie der Schöpfer aller Dinge sei. Wer aber etwas schafft, muß bei dem Dinge sein, das er hervorbringt, und doch entstehen viele Dinge,

während die Sonne abwesend ist: also ist sie nicht der Schöpfer aller Dinge. And daß sie nicht lebendig ist, darf man daraus schließen, daß sie durch ihren Kreislauf nicht müde wird. Wenn sie lebendig wäre, würde sie müde werden wie wir, und wenn sie frei wäre, würde sie auch andere Teile des Himmels besuchen, wohin sie nie kommt. Sie ist wie ein angebundener Gegenstand, der stets denselben Kreis be­

schreibt, oder wie der Pfeil, der dahin stiegt, wohin man ihn wirft, nicht wohin er selbst gehen will." Ein anderer Jnca betrachtete einst beim Raymifeste längere Zeit mit Aufmerksamkeit die Sonne. Als

1 Garcilasso de la Vega, Historia general del Peru. Cordova 1617. VIII. 8.

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus

219

der Priester ihn zweinmal daran ernstlich gemahnt hatte, daß die der Sonne gebührende Ehrfurcht dies verbiete, sagte er: „Ich will dich zwei Dinge fragen. Ich bin «euer König und Äerr. Würde einer von euch sich

erkühnen, mir, wenn es ihm einfällt, zu gebieten, daß ich von meinem Sitze mich erhebe und einen weiten Weg mache? And

würde der reichste und mächtigste meiner Vasallen mir den Gehorsam zu weigern wagen, wenn ich ihm beföhle, sogleich nach Chili zu laufen?" Als der Priester dies verneinte, fuhr der König fort: „Ich sage dir: es muß über diesem unsern Vater, der Sonne, einen größeren und mächtigeren Lerrn geben, als sie, der ihr gebietet, diesen Weg zu machen, den sie täglich ohne Aufenthalt beschreibt; denn

wäre sie selbst der höchste Äerr, so würde sie nicht ewig denselben Weg durchlaufen, sondern nach Gefallen ausruhen, auch wenn sie es nicht nötig hätte." 1 Die Einwände dieser Incas sagen:

Die Sonne kann nicht Schöpfer aller Dinge sein, sie kann nicht lebendig sein, sie kann keine

Person und erst recht nicht eine mit eigenem freiem Willen begabte Persönlichkeit sein; folglich ist sie ein bloßes Ding, und über ihr steht der sie lenkende Herr — der Sonnengott!

Die animistische Auf­

fassung wird aufgegeben, die polytheistische ist zum Durchbruch ge­ kommen, Apollo ist auch bei den Peruanern geboren! Der verstandesmäßige Faktor bei der Entstehung der Religion ist das Arsächlichkeitsbedürfnis des Menschen. Er wirft die Frage

auf: Was ist die Arsache dieser Erscheinung? und beantwortet sie nach seiner Kulturstufe zuerst fetischistisch: Dieser sichtbare Gegenstand ist die Arsache! — Darauf animistisch: Dieser unsichtbare Geist ist die Arsache. Er hat endlich alle sichtbaren Gegenstände vom Stein, Pflanze, Tier bis zum Monde, Sonne und Äimmel fetischistisch als Arsachen gesetzt — er har den weiteren animistischen Fortschritt

je

gemacht, nicht den äußeren sichtbaren

Gegenstand, sondern dessen innere unsichtbare Seele für die eigentlich wirkende Arsache zu setzen;

endlich tut er den dritten polytheistischen Schritt, den innere» Geist

ganz von dem äußeren Dinge zu trennen, die dem Dinge, innewohnende Seele zum über dem Dinge stehenden, von dem Dinge freien Gotte zu erheben. Je bedeutungsvoller der sichtbare Gegenstand, je bedeutungs­ voller wird auch der ihm entsprechende Gott. Gewaltig hoch steht schon der Sonnengott; aber in dem Maße, als der Allhimmel um-

1 Acosta, Balboa 59.

Bei Waitz, Anthropologie IV. 449.

220

Der Äimmel und die Entstehung des Monotheismus

fassender als die Sonne ist, muß auch der Gott des Allhimmels ge­ waltiger und bedeutender sein, als der Gott der Sonne. Höheres und Größeres als den Himmel vermag uns die sinnliche Wahrnehmung

nicht aufzuweisen — einen höheren und größeren Gott als den Gott des Himmels kann es nicht geben —

er muß notwendigerweise der

höchste, größte und erste aller Götter sein, der unsichtbare Allvater,

Allschöpfer und Allherrscher aller Wesen. Damit ist die höchste Gottesidee des Polytheismus psychologisch notwendig vom Menschen­

geiste rein natürlich und ohne jede Offenbarung entwickelt. Daran knüpft sich aber auch sehr bald der Fortschritt zum Monotheismus.

Denn dieser Gott ist so groß und gewaltig, so unendlich und all­ mächtig, daß neben ihm kein anderer Gott mehr zur Geltung kommen, ja nicht einmal existieren kann. Er ist nicht bloß der erste und höchste aller Götter, er ist der einzige, der alleinige, der eine Gott, dem allein der Name Gott zukommt; der Monotheismus ist ebenfalls auf diesem rein natürlichen, psychologisch und entwicklungsgeschichtlich notwendigen Wege, ohne jede wunderbare Offenbarung, vom Menschengeiste ge­

funden und erzeugt. Daß dieser Äbergang nicht bloß zum Polytheismus, sondern auch zum beginnenden Monotheismus und zwar auf Grund der Spekulation über den Gotthimmel, die über diesen hinaus zum Gott int Himmel führte, sogar schon bei Naturvölkern, ehe sie vom

Christentum berührt wurden, vollzogen worden ist, beweist uns das glorreiche Beispiel des mexikanischen Königs Nezahualcoyotl, der, „ein geistiger Heros der neuen Welt", den Polytheismus bis auf

geringe Spuren (wie sie ja in dem Heiligenwesen mancher christlicher Konfessionen heute noch bestehen) überwand und sich fast ganz auf

den Standpunkt eines reinen Monotheismus stellte. „Sein erleuchteter Geist und die Liebe, welche er zu seinen Untertanen hatte, trugen be­ deutend dazu bei, seinen Hof berühmt zu machen, den man seitdem

als das Vaterland der Künste und den Mittelpunkt der Bildung be­ trachtete. Tezcuco, seine Residenz, war die Stadt, wo man die mejicanische Sprache mit größter Reinheit und Vollkommenheit sprach, wo man die besten Künstler fand, und wo ein Äberfluß an Dichtern,

Rednern und Geschichtsschreibern herrschte.

Von dort erhielten die

Mejicaner und andere Völker viele Gesetze, so daß man sagen kann, Tezcuco war das Athen und Nezahualcoyotl der Solon von Anahuac." 1 Bewandert in der Poesie seines Volkes, war dieser König selbst ein

1 D. F. S. Clavigero, Historia antigua de Megico.

London 1826. I 175 f.

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus bedeutender Dichter.

Noch im

221

16. Jahrhundert waren sogar unter

den Spaniern sechzig Äymnen berühmt, die er zum Preise des Schöpfers des Limmels verfaßt hatte. „Aber nichts interessierte Ne-

zahualcoyotl so sehr als das Studium der Natur. Er erwarb sich viele astronomische Kenntnisse durch die zahlreichen Beobachtungen,

die er in Bezug auf den Lauf der Gestirne anstellte. Er besieißigte sich auch der Erforschung der Pflanzen und der Tiere, und diejenigen, welche er, weil sie ein anderes Klima erforderten, nicht an seinem Kose halten konnte, ließ er in natürlicher Größe in seinem Palaste abmalen. Er forschte aufmerksam nach den Arsachen der Naturer­ scheinungen, und diese fortgesetzte Beobachtung ließ ihn die Nichtig­ keit der Idolatrie erkennen.

Seinen Söhnen sagte er im Vertrauen:

wenn sie aus Rücksicht gegen die Gebräuche des Volkes äußerlich auch die Idole verehrten, sollten sie diesen verachtungswerten, an leb­ lose Wesen gerichteten Cult innerlich doch verabscheuen; er erkenne

keine andere Gottheit an als den Schöpfer des Äimmels; die Idolatrie verbiete er in seinem Reiche nur deshalb nicht, wie er es

gern täte, damit man ihn nicht anklage, daß er sich der Lehre seiner Vorfahren widersetze. Menschenopfer verbot er, konnte indessen nicht weiter damit durchdringen, als daß sie auf Kriegsgefangene beschränkt wurden."1 Seinem „unsichtbaren Gotte", „dem unbekannten Gotte, der Arsache der Arsachen"2 erbaute er einen neun Stockwerke hohen Turm, welchen ein mit goldenen Sternen reichbesäetes, blaugemaltes,

Dach bedeckte. Zu bestimmten Stunden mußten damit beauftragte Leute in dem Turme an hellklingende Metallplatten schlagen, auf welches Zeichen hin der König knieend sein Gebet sprach. Sowohl

aus der Ausschmückung des Turmes als aus den Gedichten des Königs geht hervor, daß, wie Prescott sagt, „er den Gestirngottes­ dienst mit seiner Ehrfurcht vor dem Allmächtigen mischte", richtiger gesagt: daß er durch den Gestirncult in Verbindung mit dem Poly­

theismus zum Monotheismus kam; was noch besonders dadurch ins Licht gestellt wird, daß er nach Jjtliljochitl, wiewohl er „den Aller­ höchsten als den anrief, durch den wir leben und der alles in sich selbst hat", doch auch „die Sonne als seinen Vater, die Erde als seine Mutter erkannte".3 1 Clavigero I, S. 175 f. 2 „Al Dios no conocido, Causa de las Causas.“ M. 8. de Jjtliljochitl bei Prescott, Eroberung von Mexico. Aus dem Englischen (Leipzig 1845). I. 155. 3 Jjtliljochitl bei Prescott, I. 160.

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus.

222

Nicht bloß bei den Mexikanern begegnen wir diesem Übergänge

vom Gestirndienst zum Monotheismus, deutliche Spuren davon sind auch noch bei anderen Völkern z. B. bei den Zuden bemerkbar. „Die Lebräer teilten in ihrer vorgeschichtlichen Zeit die religiösen Anschau­ ungen der anderen Semiten, nämlich eine polytheistische Naturreligion (besonders als Gestirn-, Sonnen- und Simmelsdienst), wie ja dies auch ausdrücklich durch die Notiz Jos. 24, 14 bestätigt wird." 1 „Bei den (ebräisch-arabischen) Nomadenstämmen trieb die monotheistische Tendenz dazu, daß sie den Gott des Simmels, den Serrn der Söhe, zu welchem sie auf den Bergen der Setmat (Armenien) gebetet hatten, und dessen Sterne ihnen als Wegweiser dienten bei den nächtlichen Wanderungen durch die weiten Ebenen und Wüsten, daß sie diesen Simmelsgott als „den Söchsten" und „den Mächtigen" /.«? tSo'/jv über die anderen Götterwesen so weit erhoben, daß diese letzteren für die religiöse Phantasie und Verehrung immer weiter zurücktraten. Es hat sonach der Monotheismus bei den Setniten sich auf ähnliche Weise — wenn nicht wirklich bestimmt ausgebildet, so doch — vor­ bereitet und angebahnt, wie bei den besseren Geistern Griechenlands, wo gleichfalls der Simmelsgott Zeus durch Erhebung über die anderen Göttern zum Träger der monotheistischen Gottesidee wurde; aber bei den Griechen war dies viel schwerer und konnte immer nur einzelnen Männern höherer Geistesbildung erreichbar sein, weil die vielen Einzelgötter schon allzu frühe feste individuelle Umrisse in der Phantasie des Volkes angenommen hatten und daher sich nicht so leicht wieder daraus verdrängen ließen. Dagegen jene Nomaden­ stämme, welche die Sage als Nachkommen Arpachsads, des Sohnes Sems, zusammenfaßt, und welche in die beiden Sauptzweige der Araber und Sebräer auseinandergingen, konnten schon wegen der Einförmigkeit ihres Lebens und wegen ihrer Unabhängigkeit von be­ stimmten geographischen Verhältnissen weniger leicht zur Ausbildung und Fixierung mythologischen Götterglaubens kommen, um so leichter dagegen ihre Frömmigkeit konzentrieren auf die einfache Verehrung des höchsten Simmelsgottes als eines überirdischen und somit schon auch Halbwegs supranaturalen Wesens. Dieses Zusammenhangs des reineren Gottesglaubens mit dem Sirtenleben ist sich die hebräische Tradition sehr wohl bewußt geblieben und hat dies Bewußtsein niedergelegt in der Sage von dem ältesten Brüderpaar Kain und 1 O. Pfleiderer, die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 1. Ausl. II. S. 279.

Der Simmet und die Entstehung des Monotheismus

223

Abel: Der Sirte Abel ist Gott wohlgefällig, während der Ackers­ mann und Städtebauer Kain gottlos ist" (Ebenda, S. 274 f). Der Name Iehovahs „Jahve" bedeutet nach Ewald ursprünglich nichts anderes als Simmel, genau so wie der Name „Dyu". Es heißt noch 1. Mos. 19, 24 „Jahve ließ Feuer fallen von Jahve her — vom Simmel." Weil der (mit dem lateinischen sub Jove analoge) Ausdruck „von Jahve her" = „vom Simmel herab" in späterer Zeit schon nicht mehr recht verständlich war, hat ein jüngerer Erklärer den Zusatz „vom Simmel" noch einmal zur Verdeutlichung hinzugefügt (Vgl. Pfleiderer II. 271). Die Erinnerung an den früheren Sonnen- und Monddienst der alten Ebräer tritt deutlich noch im Buche Siob (31, 26—27) hervor. Stob zählt eine Reihe von Sünden auf und sagt: „Säfte ich diese Sünden begangen, so hätte mich Gott mit Recht gestraft, aber ich habe sie nicht begangen." In Vers 26—27 weist er besonders darauf hin, daß er aus der JahveVerehrung nicht in den Gestirndienst zurückgefallen sei: „Wenn auf das Licht ich schaute, wenn es strahlt. And auf den Mond, der majestätisch wandelt. So daß mein Serz sich heimlich ließ verführen. And meine Sand sich auf den Mund gelegt,"

(nämlich zur Kußhand: man warf den Gestirnen eine Kußhand zu) „Verdammenswerte Sünde wär' auch das. Geheuchelt hätt' ich gegen Gott da droben."

(Adalbert Merx, das Gedicht von Siob, Jena 1861, S. 171.)

In dem obigen Citat aus Pfleiderer wurde schon erwähnt, daß „bei den besseren Geistern Griechenlands gleichfalls der Simmelsgott Zeus durch Erhebung über die anderen Götter zum Träger der mono­ theistischen Gottesidee wurde." Ergänzend mag hinzugefügt werden, daß Anaxagoras zur Annahme des einen höchsten Weltgeistes, des Nus, durch die Gesetzlichkeit der Bewegungen der Gestirne geführt wurde, und daß Platon am Ende seines Werkes „Die Gesetze" sagt: „Ein göttlicher Geist, dessen reinster Ausdruck der Sternen­ himmel ist." Auch hier liegt der Zusammenhang zwischen dem Gott­ himmel und dem Gott im Simmel noch klar zu Tage (Vgl. MüllerSteinhart, Platon, ins Deutsche übersetzt, Bd. VII. Abt. 1, S 356; Abt. 2, S. 430. 431 f.). Aus Redewendungen wie „Der Simmel behüte dich!" usw. klingt die ursprüngliche Bedeutung des göttlichen Simmels noch heute hervor. In Urzeiten waren diese Ausdrücke

224

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus

ganz wörtlich gemeint, heute sind sie zu gedankenlos gebrauchten Überlebfein herabgesunken. Die Vergöttlichung

des natürlichen Kimmels im animistischen

Sinne: „Der Gott Kimmel" und die sich daran schließende poly­ theistische Wendung „der Gott des Kimmels" bildet den Übergang

zur monotheistischen Formel „der alleinige Gott im Kimmel". So hat sich der Monotheismus an dem und durch den Kimmelskult als dessen letzte und höchste Blüte entfaltet. Diese höchste Blüte wird

aber erst da gezeitigt, wo nicht bloß eine sehr hohe Stufe des Kultus, sondern auch eine eben so hohe Stufe der Kultur erreicht worden ist. Wo beide noch in den Kinderschuhen stecken, wird deshalb auch weder

eine eigene Erkennis der religiösen Bedeutung des Kimmels ange­ troffen, noch kann das Verständnis dafür leicht erweckt werden. Von einem kalifornischen Indianer, einem Kaffern, einem Kottentotten, einer Negerin und einem Abiponen ist es ein ungeheurer weiter Ent­

wicklungsweg und Abstand bis zu dem mexikanischen Könige Nezahualcoyotl, dem religiösen Gesetzgeber Moses, den griechischen Philosophen Anaxagoras und Platon. Es ist sehr lehrreich, diesen Abstand da­ durch zu messen, daß wir von diesen hohen Stufen einmal versuchs­ weise in jene tiefen Abgründe zurückspringen. Da stoßen wir wohl aus die sumpfigen Niederungen des verdummenden fetischistischen Götzentums und aus die nebligen Dämmerungen des trostlosen ani­ mistischen Geisterglaubens — aber in

der Brust des

ausschließlich

noch an der Erde haftenden Menschen ist noch kaum ein schwaches sinnliches Interesse für die lichte Köhe des gestirnten Kimmels erwacht,

geschweige der Funke eines inbrünstig vertieften Glaubensgesühls gegen die Mächte der überirdischen Köhe entzündet. Daß auf diesen niederen Stufen sich der Mensch noch stumpfsinnig und gedankenlos gegenüber

dem großen religiösen Lehrmeister und Gottespropheten Kimmel ver­

hält, beweisen nicht bloß die Tatsache, daß sich bei diesen Wilden höchstens schwache Anfänge des Sonnenkultus bei stärkerem Kervortreten der Mondverehrung finden, sondern vor allem auch direkt, besonders von Missionaren gegebene Berichte, wie Lubbock (Origin. of Zivilisation,

S. 285 ff.) einige zusammengestellt hat. Von den Kaliforniern erzählt Baegert: „Ich fragte sie oft, ob sie sich nie die Frage vorgelegt hätten, wer der Schöpfer und Erhalter von Sonne, Mond und Sterne und den anderen Dingen der Natur sei; ich wurde aber stets mit einem „Vara" abgesertigt, welches „Nein" in ihrer Sprache heißt." Als Burchell die Idee eines Schöpfers den Bachapin-

Der Simmel und die Entstehung des Monotheismus

225

alles sich selbst machte, und daß Baum und Kraut durch ihren eigenen Willen wüchsen. Casalis berichtet: „Alle die Eingeborenen (Kaffern), welche Kaffern

mitzuteilen versuchte, versicherten sie, daß

wir darüber befragten, haben uns versichert, daß der Gedanke, Erde und Äimmel sei das Werk eines unsichtbaren Wesens, ihnen nie in den Kopf gekommen sei." Ähnliches wird von den Hottentotten ge­

meldet.

Pater Dobritzhofer machte die Abiponen auf die Pracht

des Nachthimmels aufmerksam und fragte sie, was sie wohl über die höhere unsichtbare Leitung der Gestirne dächten. Sie antworteten: „Unsere Ahnen und Urahnen sahen sich immer auf der Erde um und bekümmerten sich bloß um Gras und Wasser für ihre Pferde; was im Himmel vorging, wer die Sterne gemacht habe und regierte, darauf dachten sie nicht." Als der Kapuzinermissionar Merolla die Königin von Singa in Westafrika fragte, wer die Welt geschaffen habe, ant­ wortete sie ohne das geringste Zögern: „Meine Vorfahren." — „Genießen denn Eure Majestät die ganze Macht Ihrer Vorfahren?" erwiderte der Kapuziner.

„Ja," antwortete sie, „und viel mehr noch I

denn zu dem, was sie hatten, bin ich noch die absolute Herrin Königreichs Matamba." Ein Weib der wilden Ajetas auf Philippinen sagte: „Wie soll im Himmel ein Gott sein können, der Stein, den ich emporwerfe, wieder herabfällt?" (Archiv Anthropologie I. 170.) Wenn aber nun auch Weg und Abstand

von

des den da für

diesem wilden

Weibe bis zum König Nezahualcoyotl noch so groß ist, der weite Weg ist von der Menschheit, als Ganzes genommen, doch im Laufe

der Zeit zurückgelegt, und jede höhere Stufe von der niederen auf­ wärts allmählich erklommen worden. Es muß also auch Führer auf diesem Wege, es muß einzelne voranschreitende Bahnbrecher, es muß

Denker auch

unter den Wilden, es

muß relative

Genies, relativ

in Beziehung auf die Kulturstufe, aus der sie hervorgingen, gegeben haben. Es müssen auch in vorgeschichtlicher Zeit scharfsinnigere

Beobachter und kühne Zweifler aufgestanden sein, die neue Einsichten entdeckten und die Fackel einer frischen Wahrheit vorantrugen, deren erleuchtendem Glanze die Menge folgte.

Kein geschriebenes Zeugnis

nennt ihren Namen und doch kündet laut die ganze Entwicklung, daß auch unter den wilden Menschen der Vor- und Urzeit solche geistige Pfadfinder geboren worden sein müssen.

Das Zeug zu einem solchen

hatte vielleicht Sekesa, der Kaffer, der zu Casalis kam und sagte: „Euer Unterricht eben ist es, den ich wünsche, denn schon ehe ich Schultze, Credo und Spera 15

226

Der Simmet und die Entstehung des Monotheismus

Euch kannte, strebte

ich zu

Vor zwölf Jahren war Wetter war trübe. Ich

erkennen.

Köret

und urteilet selber!

es, als ich meine Kerben weidete. Das saß auf einem Felsen und legte mir be­

kümmert Fragen vor — ja bekümmert, weil ich nicht imstande war, sie zu beantworten. „Wer hat die Sterne mit seinen Künden ge­ macht? Auf was fürSäulen ruhen sie?" So fragte ich mich weiter:„Die Gewässer sind niemals in Ruhe; unaufhörlich fließen sie vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen.

Aber wo stehen sie still? und wer macht sie fließen? Auch die Wolken kommen und gehen und gießen ihr Wasser über die Erde. Woher kommen sie? Wer schickt sie? Die Zauberer geben uns sicherlich den Regen nicht. Wie könnten sie? Warum sehe ich sie denn

nicht mit meinen Augen, wenn sie zum Kimmel emporsteigen, den

Regen zu holen? Den Wind kann ich nicht sehen, was ist er? Wer bringt ihn, wer läßt ihn blasen, brausen und uns erschrecken? Weiß ich, wie das Korn wächst? Gestern war noch kein Vlatt auf meinem Felde, heute kam ich zurück und fand einige Blätter. Wer kann der Erde die Weisheit und die Kraft gegeben haben, sie hervor­

zubringen ? Dann verbarg ich mein Gesicht in beide Künde." (Bei Lubbock, Prehistoric times, S. 131 f.) Eine kindliche und doch für

den Wildling tiefsinnige Betrachtung, die vom Zweifel an die ge­ heimnisvolle Kraft der Zauberer befruchtet ist; bei der die anthropopathische Auffassung noch mächtig mitspricht, wenn Weisheit und Kraft" redet; die alle Arsachen noch wenn er nicht, wie wir heute fragt: Was bewirkt sondern stets nur: Wer hat die Sterne mit seinen

er von „der Erde persönlich denkt, die Erscheinung? Künden gemacht?

Wer schickt die Wolken? — deren für diese niedere menschliche Ent­

wicklungsstufe gleichwohl allgemeingültige Bedeutung wir aber erst recht verstehen und bewundern, wenn wir ganz ähnliche Zweifel an „die Priester und Propheten der Lügengötter" und fast dieselben Fragen aus dem Munde des persischen Reformators Zarathustra im

„sinnenden und suchenden Geistes" Kinder sind, wie bei Sekesa, dem Kaffern. Auch 13. Jahrhundert v. Chr. vernehmen, die desselben

Zarathustra fragt: „Wer schuf der Sonne und den Sternen ihre Bahn? Wer läßt den Mond wachsen und schwinden? Wer hält

die Erde und die Wolken darüber? Wer schuf das Wasser und die Bäume auf der Flur? Wer ist in den Winden und Stürmen, daß sie so schnell gehen? usw. (bei Pfleiderer o. 6. II. 251). Der Anterschied ist nur dieser, daß dem Kaffern Sekesa die Antwort fehlt, dagegen

Der Simmel und das Problem der Apperception

227

Zarathustra sie mit überzeugtem Feuereifer verkündet: Ahuramazda, der „weise Herr", der allein wahre Gott, Schöpfer und Erhalter der Welt, ist die Ursache von allem!

2. Der Himmel und das Problem der. Apperception. a) Das Problem der Apperception.^ Der Unterschied

zwischen

associativem

Vorstellen

und

apper-

ceptivem Denken ist schon in dem Vortrag „Die Logik im täglichen Leben" (s. o. S. 43 f) ausführlich erklärt worden. Hier gehe ich, um

die Wichtigkeit dieser Unterscheidung zu zeigen, noch auf den Gegen­ satz zwischen Tier und Mensch hinsichtlich der Sprache ein. Ich habe schon im zweiten Teile meiner Vergleichenden Seelenkunde (Die Psychologie der Tiere und Pflanzen, S. 88) darauf hingewiesen, daß den Tieren ein Mitteilungsvermögen nicht bloß in Gebärden und Mienen, sondern sogar in Form der Lautsprache für Gemütsbe­ wegungen und für Vorstellungen nicht abgesprochen werden könne;

daß aber diese Tiersprache niemals eine wirkliche Begriffssprache sei

und in ihrer Dürftigkeit sowohl ihrem Inhalt und Umfang als auch

ihrem Entwicklungsgrade nach tief unter der Sprache selbst des rohesten Wilden stehe. Wenn Garner (The speech of monkeys. Lon­

don 1892) bei seinen Affen die Bedeutung von 9

Lauten nachge­

wiesen haben will, und wenn die Elefantensprache sogar über 105 sinnvolle Laute verfügt, so ist diese Zahl der „Wörter" dieser Tier­ sprachen verschwindend gering gegenüber der Zahl der Wörter selbst der dürftigsten Naturmenschensprache. Bemerkenswert ist, daß die

Wörter der erwähnten Affen- und Elefantensprache, abgesehen von

den als Interjektionen zu betrachtenden Lauten für Gemütsbewegungen (Freude, Schmerz, Liebeslocken, Warnungsrufe), nur ganz konkrete Gegenstände und Vorgänge von sehr beschränktem, rein sinnlichem Umfange (Futter, Wasser, Brot, Trinken, Gib) bezeichnen; daß mit­

hin abstrakte Begriffe ganz fehlen, und daß die Laute, die schwierig nachzuahmen und in unseren Buchstaben nur sehr mangelhaft, wenn überhaupt, wiedergegeben werden können, ähnlich wie viele Laute der

wilden Völker, ohne jede Flexion oder Polysynthese ganz «synthetisch ausgestoßen werden. Ja, man kann bei Lichte besehen, eigentlich

nicht einmal von Asynthese reden, denn diese setzt voraus, daß mehrere, mindestens zwei Wörter nach einander verlautbart werden, während 1 Vgl. meine „Psychologie der Naturvölker", S. 98 ff.

228

Der Simmel und das Problem der Apperception

das Tier fast immer zur Zeit nur einen Laut = ein Wort so lange hören läßt, bis sein darin ausgedrücktes Begehren seine Befriedigung erreicht hat. Wenn sich aber in all diesen Stücken doch nur ein quantitativer Unterschied zwischen diesen Tiersprachen und den Sprachen der niedrigsten Naturmenschen kundgibt, so offenbart sich ein schwer­ wiegender qualitativer Anterschied zweifelsohne erstens darin, daß die Menschheit sich bis zur polysynthetischen, ja endlich bis zur flektieren­ den Sprache entwickelt hat,' mit welcher keine Tiersprache mehr den Vergleich aushält, und zweitens noch mehr darin, daß auch der roheste Wilde, wenn er nur im jugendlichen Alter unter die Schulung des Kulturmenschen gelangt, imstande ist, sich dessen Sprache anzu­ eignen, was kein Tier vermag. Daß das Tier in diesem Sinne nicht zu sprechen vermag, liegt nicht an einem Mangel an Artikulationsfähig­ keit, vermögen doch Tiere, wie Papageien, menschliche Laute nachzu­ plappern — vielmehr daran, daß sie nichts oder nicht so viel zu sagen haben, um sich von innen heraus zum sprachlichen Ausdruck gedrängt zu fühlen. Es fehlt ihnen mit einem Worte die höhere psychische Energie des Menschen, die sog. Vernunstanlage, welche sich als produktive Phantasietätigkeit und logische Reflexion und Begriffs­ bildung offenbart und die Vorbedingung zu jeder höheren Sprach­ entwicklung bildet. Lier liegt der wahre und noch keineswegs entwicklungsgesckichtlich überbrückte Unterschied zwischen Tier und Mensch; hierin erscheint der Mensch dem Tiere gegenüber doch als ein aliud genus. Wir leugnen nicht, daß „das seelische Leben des Tieres in jeder Beziehung eine Vorstufe des menschlichen Seelenlebens ist", wir geben ferner ohne weiteres zu, „daß, sofern wir gewisse, für Ge­ fühle und Vorstellungen charakteristische Bewegungen und Laute als Vorstufen der Sprachäußerung anerkennen, solche auch dem Tiere nicht fehlen" aber wir möchten weder uns noch anderen den blauen Dunst vormachen, als ob wir die breite Kluft nicht sähen, die trotz alles Darwinismus Tier und Mensch voneinander trennt; als ob uns das große und durch die Entwicklungstheorie noch keineswegs gelöste Problem, um das es sich hier handelt, nicht deutlich vor Augen stände. Das Problem ist dieses: Die Menschensprache hat sich von der «synthetischen zur flektierenden Sprache entwickelt, weil dem menschlichen Geiste nicht bloß die passive, rein mechanische, affociative und reproduktive Vorstellungsverbindung, die im Tiere waltet, eigen ' Vgl. meine „Psychologie der Naturvölker", S. 65 — 101, die Sprache der Naturvölker

Der Simmel und das Problem der Apperception

229

ist, sondern weil er dazu noch über die aktive, freischaltende, produk­ tive Apperception verfügt, die sich in schaffender Phantasie und

logischer Reflexion betätigt.

Das Kind des Wilden kann, wie zur

flektierenden Sprache, so zur apperceptiven Geistesfunktion erhoben werden, das Kind des Tieres kann es nicht. Innerhalb der Mensch­ heit besteht also trotz aller graduellen Unterschiede doch eine qualitative Einheit der Geistesanlage, dagegen zwischen dem tierischen und

menschlichen Geiste zeigt sich hier unleugbar eine qualitative Differenz, nicht bloß ein gradueller Unterschied. Die Aufgabe, zu zeigen, wie

die menschliche Sprache in ihren rohesten Anfängen sich aus der tierischen Sprache in ihren vollendetsten Äußerungen entwickelt hat, ist also identisch mit der psychologischen Aufgabe zu zeigen: wie sich

die aktive Apperception aus der passiven Association entwickelt hat. Beide Aufgaben sind auf das innigste miteinander verflochten, und beide sind noch nicht gelöst1 Spröde stehen sich hier Tierseele und Menschengeist, Tier- und Menschensprache, gegenüber, so sehr jene

als Vorstufe dieser erscheinen mögen.

So wenig wie auf morpholo­

gischem Gebiete die vermittelnde Zwischenform zwischen den menschen­ ähnlichen Affen und dem Menschen schon gefunden ist, so wenig ist das psychologische „missing link" zwischen Tiersprache und Menschen­ sprache, zwischen tierischer Association und menschlicher Apperception, zwischen Tierseele und Menschengeist bisher entdeckt worden. And es ist weniger Hoffnung vorhanden, das psychologische Mittelglied zu finden als das morphologische! Versteinerte Knochen erhalten sich in den Schichten der Erde, Laute aber verwehen im Winde, und Denk­ prozesse gehören einer unsichtbaren Welt an. Erst wenn dieses

Problem gelöst ist, wenn die Kluft zwischen Tier- und Menschen­ sprache wirklich überbrückt ist, wenn die Apperception wirklich ohne Sprung aus der Association abgeleitet ist, erst dann kann der Dar1 Vgl. Mundt, Grundriß der Psychologie, 6. Aufl. S. 301. „Die Asso­ ciationspsychologie suchte dadurch einen einheitlichen Standpunkt zu gewinnen, daß sie auch die apperceptiven Vorstellungsverbindungen dem allgemeinen Be­ griff der Association subsumierte . . . Bei dieser Reduktion aus die 'Association wurden jedoch entweder die wesentlichen subjektiven wie objektiven Anterschiedsmerkmale der Apperceptionsverbindungen vernachlässigt, oder man suchte sich über die Schwierigkeiten einer Erklärung derselben durch die Einführung ge­ wisser der Vulgärpsychologie entnommener Sülfsbegriffe Hinwegzuseyen . . . Die Apperceptionsverbindungen ruhen ganz und gar auf den Associationen, ohne daß es jedoch möglich wäre, ihre wesentlichen Eigenschaften auf diese zurückzuführen."

Der Simmel und das Problem der Apperception

230

winismus sich rühmen, die Einheitlichkeit des Tier- und Menschen­

reiches unanfechtbar bewiesen zu haben. Ich wünsche lebhaft, daß das bezeichnete Problem seine einwandfreie Lösung finde; ich wünsche es aus rein wissenschaftlichem Interesse, ich wünsche es im Interesse

einer einheitlichen Weltauffassung. Aber dieser Wunsch kann mich nicht blind machen gegen die Tatsachen, welche unwiderleglich beweisen, daß es eine Selbsttäuschung ist, zu glauben, die Aufgabe sei bereits gelöst.

Je tiefer man in die Psychologie der Tiere einerseits und

der Naturvölker andererseits eindringt, um so mehr treten mit den Ähnlichkeiten auch die Unterschiede hervor, und es hieße sehr unwissen­ schaftlich verfahren, wollte man aus Lust an den Ähnlichkeiten die Unterschiede übersehen oder gar leugnen.

Dieser wissenschaftlichen

Sünde, die Unterschiede auf diesem Gebiete nicht genügend zu wür­ digen, haben sich aber manche Darwinisten in einem gewissen parteiischen Übereifer schuldig gemacht, aus dem einfachen Grunde, weil sie zwar treffliche Zoologen, aber psychologische Dilettanten waren, welche die pschologischen Probleme nicht kannten und die feinen psychischen Unter­

schiede obersiächlich in Bausch und Bogen abtaten.

b) Versuch einer Lösung des Problems. Der jöhnmel mit seinen Himmelskörpern ist nicht bloß der religiöse Prophet gewesen, der den Menschen zum Monotheismus führte, er

war auch der große Lehrmeister, der erst ein wahrhaft objektiv-geistiges Interesse sowohl im ästhetischen als auch im wissenschaftlichen Sinne der Menschheit erweckte. Zwei Klaffen des Interesses sind wohl zu

unterscheiden, erstens das subjektive Interesse der egoistischen Begierde und zweitens das objektive Interesse der reinen Betrachtung, sei es Das erstere teilt der Mensch mit dem Tiere, das letztere hat sich nur in der Menschheit entwickelt und Kunst und Wissenschaft erzeugt. Aber wodurch ist

im ästhetischen, sei es im wissenschaftlichen Sinne.

diese Entwicklung überhaupt angeregt? Wir müssen uns in die Llrzeit der wilden Menschheit zurückversetzen, wo der Mensch ein über die Stillung seiner sinnlichen Bedürfnisse hinausreichendes Interesse überhaupt noch nicht, und also weder schon ein rein künstlerisches noch

ein

rein

wissenschaftliches

Interesse

besaß.

Da

gab

es

keine

Schule, die ihn lehrte; — keine inneren angeborenen Ideen leiteten ihn; nur die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung, nur die Natur selbst und ihre natürlichen Objekte konnten, wenn überhaupt, jenes neue objektive Interesse der reinen Betrachtung im Menschen erwecken

Der Simmel und das Problem der Apperception

231

und entwickeln — nur ein Naturobjekt konnte dies Interesse anregen, aber nicht etwa jedes beliebige Objekt der Natur, sondern nur eines von ganz besonderer und eigenartiger Beschaffenheit. Wie beschaffen mußte also dieses neue Objekt sein? Der wilde Mensch ist anfangs nur Sinnesmensch, nicht Denk­ mensch. Blasse Gedankengebilde versteht er nicht, nur die sinnliche Wahrnehmung fesselt ihn. So muß jenes neue Objekt durchaus ein sinnlich wahrnehmbares sein. Aber gleichwohl darf es kein Verbrauchs­

objekt sein, denn dies würde zur Stillung seiner sinnlichen Begierden dienen, würde nur diesen Nahrung geben, und nicht, wie es doch soll, von diesen ablenken und über diese hinaussühren.

Es darf also überhaupt nicht im Begierdebereich des Wilden liegen. Denn alles, was in diesem Bereich liegt, ist der Gefahr ausgesetzt, von dem Wilden zur Befriedigung seines sinnlichen Bedürfnisses verwendet zu werden. Das neue Objekt darf mithin nicht so im Bereiche des wilden Menschen liegen, daß er jemals eine seiner sinnlichen Begierden an ihm auslassen könnte; es darf nie unter seinen Begierden, es

muß immer unerreichbar darüber stehen. Selbst solche gewaltige Objekte wie der Berg und das Meer dienen unter Umständen zur Be­ friedigung seiner Begierden; der Bergwald gibt ihm Wild und Früchte,

das Meer Fische. Er kann seine Leidenschaften an ihneu auslassen, er kann wütend den Berg aufs Äaupt treten und das Meer peitschen. Was sich auf der Erde befindet, ist alles der sinnlichen Gier des Menschen erreichbar. Soll das neue Objekt ganz und gar nicht in den Begierdebereich des Menschen fallen, so darf es überhaupt nicht auf

Erden sein, es muß unerreichbar und über der Erde, es muß überirdisch sein. And doch muß es den Wilden fesseln, ihn anziehen, sein Interesse erwecken. Aber es ist ja kein Objekt des leiblichen Genusses und Ver­ brauches; also fesselt es auch nicht den Wilden hinsichtlich seiner leiblichen Triebe und Bedürfnisse; der Wilde kann es also nur wahrnehmen, nur betrachten, nur anschauen — es fesselt und erregt also nur des wilden

Menschen Wahrnehmung, Betrachtung, Anschauung. Wenn es aber nur diese fesseln soll, wenn der Wilde von ihm so magisch angezogen werden soll, daß er seine Aufmerksamkeit immer und immer wieder darauf richtet, trotzdem es in gar keiner Beziehung zu seinem Äunger oder seinem

Geschlechtsdrang steht — dann muß es ein Objekt sein so auffallend, so merkwürdig, von so wunderbarer Sinnenpracht, daß es alle anderen sinnlich wahrnehmbaren Objekte in all diesen Beziehungen schlechthin

übertrifft und keines sich darin mit ihm messen kann.

Es darf aber

232

Der Simmel und das Problem der Apperception

des Menschen Aufmerksamkeit nicht nur einmal bloß einen kurzen Augenblick auf sich ziehen — es muß des Menschen Interesse immer

und immer wieder reizen; es muß mithin so gewaltig und über die Maßen großartig sein, daß der Mensch und die Menschheit es nie­ mals zu Ende betrachten kann, daß es immer wieder von neuem zur Betrachtung reizt, so sehr, daß der Mensch, ganz davon hingenommen,

seine leiblichen Begierden darüber im hohem Grade vergißt, ein stärkeres Interesse an jenem Objekte als an diesen gewinnt und so von seinen sinnlichen Begierden abgelenkt und wenigsten zeitweilig über sie hinaus zu einem rein geistigen Interesse erhoben wird. Denn fesselt wirklich ein Objekt rein als Objekt der Anschauung unwiderstehlich und

unaufhörlich des Menschen Aufmerksamkeit, so hat er eben ein Interesse gewonnen, welches wir im Gegensatz zu dem subjektiven

Interesse der leiblichen Begierde ein objektiv-geistiges Interesse nennen. Ein objektiv-geistiges Interesse konnte der Armensch also nur durch ein sinnlich wahrnehmbares Objekt gewinnen, das ganz außerhalb des Begierdebereiches, also nicht auf der Erde lag und dennoch den

Wilden fesselte, und zwar sein Anschauen fesselte; das deshalb von allergewaltigster, sinnlichster Pracht und zwar so großartig war, daß es nie ausbetrachtet wurde und dadurch immer wieder von neuem zur Betrachtung reizte. Von allen Objekten der Welt erfüllte alle diese Bedingungen aber nur ein einziges: das Firmament mit seinen

Himmelskörpern!

Der Himmel ist das Objekt, das sinnlich wahr­

nehmbare, und zwar das gewaltigste, großartigste, wunderbarste aller Sinnenobjekte mit seiner blendenden Sonne, seinem leuchtenden Monde,

seinen funkelnden Sternen, mit seinem Morgen- und Abendrot, mit dem tiefen Blau seines herrlich geformten Gewölbes. Durch die Pracht seiner wechselvollen erhabenen Erscheinungen reizt es selbst den Wilden, seine Aufmerksamkeit auf die Betrachtung dieses Objektes zu lenken und leiht doch keiner seiner leiblichen Begierden Nahrung, denn „Die Sterne, die begehrt man nicht, Man freut sich ihrer Pracht." So gibt dies neue Objekt dem Willen des Wilden eine ganz neue Richtung, sie gibt ihm das Interesse der reinen Betrachtung, das

objektiv-geistige Interesse.

Dies Interesse ist ursprünglich ein rein

ästhetisches, es ist die Freude an dem herrlichen Sinnesschauspiel des Himmels und der Himmelskörper, welches zuerst die Aufmerksamkeit fesselt und stets von neuem erweckt. Nun bemerkt aber beim ästhetisch veranlaßten Anschauen der Mensch die eigentümlichen Veränderungen

Der Kimmel und das Problem der Apperception

233

an den Himmelskörpern und dadurch wird nun auch die Kausalfrage nach der Arsache dieser Veränderungen, die Frage: woher das? er­ weckt, eine Frage, die, einmal aufgeworfen, nicht mehr zur Ruhe kommen läßt und, so fetischistisch oder animistisch oder polytheistisch sie auch anfangs beantwortet werden mag, zuletzt doch zur objektiv­ wissenschaftlichen Beantwortung, d. h. zur Wissenschaft überhaupt hinführt. Auch hier, wie überall, ist das ästhetische Interesse dem wissenschaftlichen vorangegangen.

Der Himmel war also der große Schulmeister,

der durch die

richtige Methode der Anschauung das reine geistige Interesse, zuerst als ästhetisches, dann als wissenschaftliches in der Menschheit erweckte. Verstärkt wurde dies ästhetisch-theoretische Interesse an den Himmels­ körpern selbstverständlich auch noch durch die Erfahrung des großen Einflusses, den sie praktisch auf das menschliche Leben ausüben. War

aber das geistige Interesse einmal an einem Objekte erweckt, so über­

trug es sich nun bald auch auf alle anderen und wuchs endlich zu solcher Größe heran, daß es imstande war, den subjektiven Interessen der leiblich-sinnlichen Begierde nicht bloß das Gegengewicht zu halten, sondern sie sogar zu beherrschen und zu unterdrücken. Das reine geistige Interesse der wissenschaftlichen Betrachtung ist

zuerst in der Anschauung der Himmelskörper entstanden. Daher sind alle wirklichen Wissenschaften ihrem Anfänge nach später als die Himmelskunde, diese die älteste und erste ihrer aller. Ihre Geschäfte, die Berechnung des Jahres und was damit zusammenhängt, zeigen

sich daher schon in den ältesten geschichtlichen Zeiten bei den ältesten Völkern weiter ausgebildet als die Zweige irgend einer anderen Wissenschaft. Wenn wir von dem Anterrichte in der religiösen Mythologie und in praktischen Fertigkeiten, wie er uns schon bei Naturvölkern entgegentritt, absehen — so bildet den Gegenstand eines rein theorethisch-wiffenschaftlichen Anterrichts zuerst die Himmelskunde,

so bei den alten Mexicanern (Waitz, Anthropologie IV, 171), so schon bei den östlichen Karolinern (Waitz-Gerland, eb. V. 2. 110). Die Himmelskunde bildete auch den Hauptteil der Wissenschaft der ersten

griechischen Naturphilosophen, wie des Thales, Anaximander, Anaximenes und Pythagoras. Nit Recht sagt Baur (Symbolik und Mythologie, Stuttgart 1824, 1. Teil S. 181):

Es waren jene leuchtenden Himmelskörper,

„mit deren Beobachtung dem Menschen zuerst der helle Tag des

Bewußtseins aufging und das äußere Leben sich ordnete und über-

234

Der Simmel und das Problem der Apperception

Haupt jener dumpfe Zustand aufhörte, welchen Äschylus Prometheus so schildern läßt: In unbesonnter Äöhlen Finsternis vergraben wohnten sie, geflügelten Ameisen ähnlich; ihnen unbekannt war noch des Winters und des blumigen Frühlings sicheres Zeichen; so taten sie

denn alles sonder Sinn, bis daß ich ihnen der Gestirne Lauf, ihr Auf- und Antergehen geoffenbar et." Tönen uns schon diese Äschyleischen Worte wie eine Erinnerung an die Zeiten entgegen, wo

man sich der Einwirkung des Äimmels auf die geistige Entwicklung der Menschheit noch wohl bewußt war, so klingt diese Erinnerung auch aus der Erzählung antiker Dichter hervor, daß Astraia, die

Tochter des Sternenhimmels Astraios, sich im goldenen Zeitalter auf

die Erde begeben habe, um die Menschen Recht und Gerechtigkeit zu lehren, bei der Entartung des Menschengeschlechts aber zu ihrem Vater zurückgekehrt sei und jetzt als Sternbild am Limmel glänze (nach einigen als Sternbild der „Jungfrau" im Tierkreise, vgl. Friedreich, Himmelskörper, S. 13). Ja, wenn auch Paracelsus

(1493—1541) die folgenden Sätze nur in einem uns fremden mystisch­ naturphilosophischen und astrologischen Sinne versteht, so behalten sie doch auch einen guten Sinn, wenn wir sie entwicklunspsychologisch nehmen, und eben in diesem Sinne möchte ich sie hier anführen und mit ihnen diese Erörterung erhärten. „Drei Geister," sagt Paracelsus (vgl. Friedreich, Himmelskörper S. 21), treiben und leben in dem

Menschen, drei Welten werfen ihre Strahlen in ihn, alle drei doch nur das Abbild oder der Nachhall einer und derselben allumwebenden

Arzeugung: das eine ist der Geist der Elemente, das andere ist der Geist der Gestirne, das dritte ist der göttliche Geist, und in diese drei Zweige (Physik, Astrologie, Theologie) schließt alle menschliche Weis­ heit auf; diese drei Geister wirken vereint im Menschen; alles was er vermag, was er leidet, was er erstrebt, was er denkt, was er lüstet, was er scheuet, ist in ihrer Kraft: Die niederen Triebe des Menschen beherrscht der Geist der Elemente, aber der Geist der Gestirne be­ herrscht im Menschen sein Gemüt, Weisheit, Kunst, Sinn, Geschick;

der Leib kommt aus den Elementen, der Geist aber aus dem Gestirn; die Gestirne lehren uns alle Künste, und wenn sie nicht in uns wirkten, so wäre keine Kunst erfunden worden; alles, was das Gehirn voll­

bringt, erhält seine Anterweisung von den Gestirnen, und wenn alle Musici (— Gelehrte) stürben, so ist doch derselbe Schulmeister (der

Äimmel) nicht gestorben, der von neuem Lehrer würde."

Ich habe oben die ungeheuere psychologische Wichtigkeit und

Der Simmel und das Problem der Appereeption

235

Tragweite des Unterschiedes zwischen der passiven Association und der aktiven Appereeption dargelegt und betont, daß in der letzteren

die eigentliche höhere psychische Energie liege, die den menschlichen Geist vom tierischen unterscheide; ich habe hinzugefügt, daß das

Problem, wie sich die aktive Appereeption aus der passiven Asso­ ciation entwickelt habe, noch nicht gelöst sei. And nun werfe ich die Frage auf: Sollte dies. Problem nicht durch die hier gegebene

Entwicklung gelöst worden sein? Sollte nicht die Appereeption, die ja in dem rein ästhetischen und wissenschaftlichen Interesse ihren Aus­

druck findet, sich in der Armenschheit eben durch das einzigartige Objekt des Kimmels allmählich gebildet haben? Sollte nicht dadurch der ursprünglich nur tierische Geist sich allmählich über die bloße Associationsstufe empor zur Stufe der Appereeption, also zur nunmehr menschlichen Geistesart erhoben haben? Wenn sich nach Wundt die wesentlichen Eigenschaften der Appereeption nicht auf bloße Asso­ ciation zurückführen lassen, wenn es zu ihrer Erklärung einer ganz neuen Potenz bedarf, sollte diese Potenz nicht eben in dem mächtig erregenden Einfluß des Kimmels auf die geistige Tätigkeit des Ar­ menschentiers gelegen haben und darin der Abergang von der bloß

associativen Geistestätigkeit zur apperceptiven entdeckt sein?

Sollte

nicht in diesem Sinne der apperceptive Geist des Menschen wirklich vom Kimmel stammen, himmlischen Arsprungs sein? Sollte nicht auch in diesem Sinne Kant mit seinem Ausspruch Recht be­ halten, daß „der bestirnte Kimmel über mir das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung erfüllt, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt?"

Credo und Spera!

Verlag von VEIT & COMP. in Leipzig

NIETZSCHES PHILOSOPHIE VOM

STANDPUNKTE DES MODERNEN RECHTS. Von

Dr. Adelbert Düringer, Reichsgerichtsrat.

8.

1906.

eleg. kart. 2 jK-

DIE LEBENSANSCHAUUNGEN DER GROSSEN DENKER.

Eine Entwickelungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart. Von

Rudolf Bucken, Professor in Jena.

Sechste, umgearbeitete Auflage. gr. 8. 1905. geh. 10 JL, geb. in Ganzleinen 11 „Die Bücher, die uns in unserer ganzen diesjährigen Lektüre am meisten angesprochen haben und denen wir den Ehrenpreis erteilen würden, wenn ein solcher zu unserer Verfügung stände, waren: ,Die Lebensanschauungen der großen Denker* von Prof. Eucken in Jena. Zweite Auflage, 1897 . . Carl Hilty (Polit. Jahrbuch d. Schweiz. Eidgenossenschaft. XI. Jahrg.)

GESCHICHTE

NEUEREN PHILOSOPHIE

VON NIKOLAUS VON KUES BIS ZUR GEGENWART. Im Grundriss dargestellt von

Dr. Richard Falckenberg, o. Professor an der Universität Erlangen.

Fünfte, verbesserte und ergänzte Auflage, gr. 8. 1905. geh. 8