Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 6 (1995). Realitäten und Rationalitäten [1 ed.] 9783428484539, 9783428084531

Die viel beschworene Krise unserer Zivilisation, deren markantester Ausdruck gewiß die drohende Umweltkatastrophe ist, k

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 6 (1995). Realitäten und Rationalitäten [1 ed.]
 9783428484539, 9783428084531

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SELBSTORGANISA TION

Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 6

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 6 1995

Realitäten und Rationalitäten Herausgegeben von Axel Ziemke und Rudolf Kaehr

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Selbstorganisation : Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. - Berlin : Duncker und Humblot. Früher Schriftenreihe Realitäten und Rationalitäten I hrsg. von Axel Ziemke und Rudolf Kaehr. - Berlin : Duncker & Humblot, 1996 (Selbstorganisation ; Bd. 6) ISBN 3-428-08453-5 NE: Ziemke, Axel [Hrsg.] Bd. 6. Realitäten und Rationalitäten. - 1996

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-08453-5

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Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Inhaltsverzeichnis Einführung. Paradigmen, Realitäten und Rationalitäten ................................

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Aufsätze Dieter Steiner: Auf was bauen wir: Realität oder Rationalität? Zur humanökologischen Bedeutung des Weltbild-Wandels im Laufe der kulturellen Evolution................

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Simone Cardoso de Oliveira: The Human Brain Project: Cognition Explained? Implikationen und Probleme eines Forschungsprogramms ................................

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Ola! Breidbach: Ontogenese versus Phylogenese. Zum Konzept einer entwicklungsmorphologisch fundierten Evolutionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Castella: Das organisierte Selbst. Reflexionslogische Minimalbedingungen selbstbezüglicher Strukturbildung ...................................................

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Rudolf Kaehr und Thomas Mahler: Proömik und Disseminatorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Elena Esposito: Die Orientierung an Differenzen: Systernrationalität und kybernetische Rationalität ......................................................................... 161 Harald Atmanspacher: Informationsdynamik als formaler Ansatz für ein interdisziplinäres Wissenschafts verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177 Lars Clausen: Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik. Ein Standardvortrag vor NaturwissenschaftIerinnen und Naturwissenschaftlern................... 197 Holger Leinhos: Zur Polykontexturalität des therapeutischen Gesprächs. Annäherungen an ein Projekt ....................................................................... 215 Axel Ziemke: Kognitive Neurobiologie als Reflexionsproblem. Auf der Suche nach neuen Denkformen neurowissenschaftlicher Forschung ............ . . . . . . . . . . . . . . . . .. 229 Axel Ziemke: Methodischer Reduktionismus und biologische Systemtheorie. Auf der Suche nach neuen Handlungsformen biologischer Forschung am Beispiel der experimentellen Neurobiologie ............................................................ 259 Eberhard von Goldammer und Jochen Paul: Autonomie in Biologie und Technik. Kognitive Netzwerke - Artificial Life - Robotik .................................... 277 Amo Bamme: Wider das Ende der Geschichte. Der andere Gotthard Günther. . . . . . . . . .. 299

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Inhaltsverzeichnis

Edition Rudolf Kaehr: Number and Logos. G. Günther 1975. Editorial

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Gotthard Günther: Number and Logos. Unforgettable Hours with Warren St. McCulloch ................................................................................. 318 Buchbesprechungen Die Monographien Gotthard Günthers (Joachim Castella) .............................. 349 Diamond, Jared, Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen (Ludwig Pohlmann) .......................................................................... 352

Einführung Paradigmen, Realitäten und Rationalitäten Die viel beschworene Krise unserer Zivilisation, deren markantester Ausdruck gewiß die drohende Umweltkatastrophe ist, kann unmöglich mit den Denk- und Handlungsformen bewältigt werden, die erst zu dieser Krise geführt haben. So läßt sich ein grundlegender Einstellungswande1 beschreiben, der in den letzten Jahrzehnten immer breitere Bevölkerungsschichten erfaßt hat und nicht selten mit einer Neuorientierung wissenschaftlicher Forschung in Beziehung gesetzt wird, die bereits zu ersten Zugängen zu einem neuen Verständnis von Natur und Gesellschaft geführt hat. Wenn man unter "Rationalität" eben diese Einheit von Denk- und Handlungsformen versteht, so kann man jene Krise durchaus als eine "Krise der Rationalität" bezeichnen. Wo liegt aber die Alternative? Man kann einen Ausweg aus dieser Krise in der Ausschöpfung der Möglichkeiten eines lang verdrängten "Irrationalen" suchen, wie es in der New-Age-Bewegung und dem neuen Interesse an Esoterik zum Ausdruck kommt. Doch selbst der Erfolg dieser Perspektive wird letztlich von der Rationalität des politisch-ökonomischen Denkens und HandeIns abhängig sein, in dessen Rahmen die resultierenden individuellen Werttransformationen wirksam werden. Hier gilt es einerseits, die in der abendländischen Geschichte in vielen Bereichen so erfolgreiche Rationalität weit stärker in verantwortungsvolle Entscheidungen einzubringen, als dies heute oftmals der Fall ist. Andererseits aber müssen die Grenzen dieser Rationalität genau bestimmt und nicht nur in Richtung des "Irrationalen", sondern hin zu einer "neuen Rationalität" überwunden werden, die für politische und ökonomische Entscheidungen eine ebenso "operationsfähige" Basis liefert, wie die klassische Vernunft. Voraussetzung hierfür ist es zu verstehen, daß es nicht einfach das Rationale und das Irrationale gibt, sondern daß unsere Vernunft eine historisch bestimmte Rationalität ist, die unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen möglicherweise einer grundlegenden Revision bedarf. In der Wissenschaftsdiskussion wird die so geforderte Umwälzung der Denkformen gerne mit dem ursprünglich wissenschaftstheoretischen Terminus "Paradigmenwechsel" belegt. Und so kommt es, daß heutzutage nahezu jede Neuorientierung von Forschungsstrategien, die den Rahmen einzelner Disziplinen merklich übersteigt, von einem ihrer Vertreter oder Verehrer dieses "Markenzeichen" verpaßt bekommt. Nicht selten wird die Wissenschafts- und Geistesgeschichte zum Beleg dieser Behauptung bemüht. Die klassische Physik oder Bacon und Descartes

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Einführung

müssen dann gemeinhin die Rolle des Sündenbockes spielen, der "Satz vom hinreichenden Grunde" oder die Trennung von "res extensa" und "res cogitans" gelten als der Sündenfall. Die neuen Paradigmen werden dann sogleich zum Modell für einen "Dialog mit der Natur" erhoben, der die Dualismen von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Kultur und Natur zu überwinden in der Lage sein soll. Sehr viele dieser Konzepte können gewiß einen gewaltigen Beitrag zur Entwicklung eines solchen Dialoges leisten. Doch geben sich die Vertreter dieser Konzepte zumeist wenig Mühe, die "Logik" dieses Dialoges mit der Natur mit der gleichen Stringenz zu demonstrieren, mit der sie ihre wissenschaftlichen Konzepte entwikkeIn. Und das ist nicht verwunderlich, wenn man versteht, daß all jene Dualismen auf Denkformen beruhen, deren Geschichte bis tief in die antike Tradition zurückreicht, die aber gemeinhin selbst von den Vertretern dieser neuen Paradigmen völlig unreflektiert verwendet werden. Will man diese Dualismen überwinden, ist ein "Paradigmenwechsel" nicht hinreichend. Es bedarf einer neuen Rationalität, die einen Paradigmenwechsel dieser Größenordnung erst begründen kann (wenn man diesen Terminus durchaus so weit aufladen möchte). Neue Theorien werden bei der Lösung der ökologischen Probleme nicht helfen können, wenn es nicht gelingt, jene Denk- und Handlungsformen zu hinterfragen, die wissenschaftlicher Forschung und ihrer technischen Applikation überhaupt zugrundeliegen. Sehr weitgehend sind in dieser Hinsicht Konzepte, die in Deutschland in den letzten Jahren unter dem Schlagwort "Radikaler Konstruktivismus" diskutiert wurden. Hier geht es nicht mehr "nur" um neue Ansätze der Beschreibung "der Realität", sondern darum, unser Verständnis von Realität selbst zu hinterfragen. Dieses Hinterfragen läßt die der klassischen Wissenschaft unterstellte "eine Realität" in eine Vielzahl von "Realitäten" zerfallen, die jeweils durch die Operationalität sozialer, psychischer und biologischer Systeme "konstruiert" werden. Ein neuer Dialog mit der Natur, aber auch ein Dialog zwischen den kommunikativ immer isolierteren Systemen der "postmodernen" Gesellschaft würde nun vor der Aufgabe stehen, die Vermittlung dieser Realitäten zu bewältigen. Allerdings zeigt eine Rekonstruktion dieser Ansätze nicht nur, daß sie philosophisch über Kant "hinausgehend" nicht viel mehr als einen erkenntnistheoretisch problematischen Naturalismus zu bieten haben, sondern besonders, daß dieser Zerfall in systemimmanente Realitäten nur konstatiert, ihre alltäglich erfahrbare dialogische Vermittlung aber nicht konzeptualisiert, geschweige denn über allgemeine Appelle an die Menschenliebe hinaus normativ reformuliert werden kann. Auch ein gänzlich neues Realitätsverständnis der Wissenschaften kann nur durch eine neue Rationalität, neue Denk- und Handlungsformen wissenschaftlicher Forschung begründet werden. Die realitätskonstitutiven Operationalitäten biologischer und sozialer Systeme (aber auch die "Rationalitäten" als normative Explikation dieser Operationalitäten in sozialen Systemen) können nur dann zum Gegenstand dieser Forschung werden, wenn sie im Rahmen dieser neuen Rationalität wissenschaftlicher Forschung in einer solchen Weise "aufgehoben" werden, daß sie gleichermaßen von den Denkund Handlungsformen unterschieden, als auch mit ihnen vermittelt werden können.

Einführung

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Erst dann kann eine solche Neuorientierung wissenschaftlicher Forschung zur Grundlage eines neuen "Dialogs mit der Natur" werden. Erst dann kann sie der Isolation von "Rationalitäten" der verschiedenen "Diskursarten" der Gesellschaft, wie sie die philosophische Postmoderne konstatiert, eine neue, eine "transklassische" Vernunft entgegenstellen. Ansätze zur Entwicklung einer solchen transklassischen Rationalität finden sich nun aber durchaus im Kontext der angesprochenen Paradigmenwechsel und Realitätsdiskurse, angefangen von Diskussionen um eine Logik der Quantentheorie über die Reflexion zu einer Logik der Selbstorganisation bis hin zu den in Deutschland durch die Konstruktivismusdiskussion vereinnahmten Arbeiten am Biological Computer Laboratory Urbana. Die Grenzen der klassischen Rationalität in den Wissenschaften anzudeuten, einige dieser Ansätze einer transklassischen Rationalität vorzustellen und die Möglichkeiten ihre Anwendung zur Überwindung dieser Grenzen im Rahmen wissenschaftlicher Forschung zu diskutieren, ist das Anliegen des vorliegenden Jahrbuches "Realitäten und Rationalitäten". Dementsprechend dienen die ersten drei Aufsätze, wenn auch sehr aspekthaft, der Problematisierung der klassischen Rationalität an ausgewählten sozial- und biowissenschaftlichen Fragestellungen; die folgenden vier Aufsätze diskutieren die philosophischen und formalen Grundlagen einer transklassischen Rationalität; die letzten sechs Beiträge versuchen eine Applikation dieser neuen Denk- und Handlungsformen im Rahmen wissenschaftlicher Forschung - teilweise mit Bezug auf die im ersten Teil herausgearbeiteten Probleme. Der einleitende Beitrag von Dieter Steiner problematisiert nicht nur einige Fragestellungen sozialwissenschaftlicher Forschung, sondern führt besonders über eine Genealogie der Weltbilder aus humanökologischer Sicht an das Thema des Jahrbuches heran, motiviert es im Kontext der globalen Umweltproblematik und stellt Anforderungen an eine neue Rationalität, die von den Aufsätzen des Bandes ein Stück weit eingelöst, aber auch in Frage gestellt werden. Auf fundamentale theoretische und methodische Probleme der Hirnforschung und Evolutionsbiologie, die sich möglicherweise als Grenzen der klassischen Rationalität erweisen könnten, machen die folgenden Beiträge von Simone Cardoso de Oliveira und Olaf Breidbach aufmerksam. Die Vorstellung von Ansätzen zur Entwicklung einer transklassischen Rationalität leitet Joachim Caste1la mit einer Problematisierung des Selbstorganisationsbegriffes vor einem philosophiehistorischen Hintergrund ein. Rudolf Kaehr entwickelt einige begriffliche Grundlagen einer transklassischen Rationalität ausgehend von Gotthard Günthers Konzept der Proemialrelation. Thomas Mahler zeigt im Anschluß daran, wie eine Implementierung dieser Proemialrelation mit den Methoden der Informatik möglich ist. Elena Esposito versucht, eine solche neue Rationalität, wie sie in den Arbeiten George Spencer-Browns und Gotthard Günthers zum Ausdruck kommt, als die Ablösung der klassischen Zweckrationalität durch eine Orientierung an Differenzen zu interpretieren. Einen Ansatz zur Entwicklung neuer Denkformen, der in der Quantentheorie ihren Ausgangspunkt nimmt, stellt Harald Atmanspacher mit seinem Konzept der Informa-

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tionsdynamik vor. Besonders breiten Raum nehmen die Applikationsmöglichkeiten socher neuen Denkformen in den Wissenschaften ein. Lars Clausen versucht in seinem Beitrag, den Günthersehen Ansatz einer transklassischen Mehrwertigkeit für die soziologische Warnforschung nutzbar zu machen. Holger Leinhos zeigt, inwiefern Konzepte der Polykontexturalen Logik für eine Theorie der Psychotherapie relevant sein könnten. Axel Ziernke versucht in seinem ersten Beitrag zu zeigen, wie Denkformen der Hegeischen Dialektik mit den Mitteln der Transklassischen Logik Günthers so operationalisiert werden könnten, daß mit ihnen fundamentale theoretische Probleme einer neurowissenschaftlichen Wahmehmungsforschung gelöst werden können. Der zweite Beitrag Ziernkes konzentriert sich demgegenüber auf die Problematik transklassischer Handlungsformen, die im Rahmen einer empirischen Systemforschung in der Biologie erforderlich werden. Vor dem Hintergrund der Arbeiten am BCL Urbana zeigen Eberhard von Goldammer und Jochen Paul, wie die Autonomie lebender Systeme naturwissenschaftlich konzeptualisiert und die Ergebnisse dieser Konzeptualisierung zur Entwicklung autonomer technischer Systeme ingenieurwissenschaftlich genutzt werden könnten. Die Autoren versuchen aber auch einen Brückenschlag zwischen dem genuin antiphysikalistisehen Systembegriff der Kybernetik und Systembegriffen der Physik, indem sie den ersteren für eine Kritik der letzteren zu verwenden suchen. Den Abschluß des Aufsatzteiles bildet der Beitrag von Amo Bamme, der sich mit der geschichtsphilosophischen Konzeption Günthers auseinandersetzt und so in Abhebung von dem von Fukuyama konstatierten "Ende der Geschichte" in einer neuen Rationalität die Grundlage für eine "technologische Zivilisation" sucht. Der Beitrag Bammes begründet die Diskussion über eine neue wissenschaftliche Rationalität in diesem Band also aus einer gesellschaftshistorischen Perspektive und schließt somit den Kreis zu dem einleitenden Beitrag Steiners. Einige der von Cardoso de Oliveira im ersten Teil angesprochenen Probleme sollten vor dem Hintergrund der im zweiten Teil vorgestellten Konzepte Lösungsansätze in den beiden Beiträgen von Ziernke finden. Etwas weniger explizit ist der Bezug des zweiten Aufsatzes von Ziernke und der Arbeit von v. Goldammer und Paul auf die methodischen und theoretischen Probleme des von Breidbach eingeforderten modemen organismischen Ansatzes in der Biologie. Den Schwerpunkt der Aufsätze zur Darstellung von Konzepten einer transklassischen Rationalität und ihrer Applikationsmöglichkeiten im Rahmen wissenschaftlicher Forschung stellt Gotthard Günthers Polykontexturalitätstheorie dar. Ausgangspunkt und Zeit seines Lebens ein wichtiger Bestandteil der Arbeiten Gotthard Günthers war der Versuch einer formalen Operationalisierung der Dialektik Hegels über eine nicht-aristotelische Logik. Im Rahmen seiner Arbeiten am Biological Computer Laboratory (BCL) Urbana in den Jahren 1960 bis 1972 stellte er diese Idee einer transklassischen Logik in den Interpretationsrahmen des kybernetischen Denkens und entwickelte Ansätze zur Formalisierung einer solchen Logik und ihrer Fundierung auf der prä-semiotischen Ebene der Morpho- bzw. Kenogrammatik. Die Zusammenarbeit mit v. Foerster, nicht zuletzt aber auch mit

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W. S. McCulloch bestimmt auch die Weiterentwicklung dieses Ansatzes in bezug auf die am BCL entwickelten Konzepte einer "Kybernetik zweiter Ordnung". Im Editionsteil wird dementsprechend auch ein bislang noch nicht veröffentlichter Text von Gotthard Günther durch Rudolf Kaehr eingeführt und publiziert, der nicht nur einige wichtige Ansätze der Polykontexturalitätstheorie in einer um Verständlichkeit bemühten Form darstellt, sondern auch wissenschaftshistorisch außerordentlich interessante Einblicke in die Entwicklung der Kybernetik vermittelt. Es würde sowohl Günthers Verständnis des "amerikanischen Geistes" als auch seinen sprachphilosophischen Vorstellungen zutiefst widersprechen, diesen Text ins Deutsche zu übersetzen. Die Herausgeber bitten daher um Verständnis dafür, daß der Abdruck in der amerikanischen Originalfassung erfolgt. Axe1 Ziemke und Rudolf Kaehr

Auf was bauen wir: Realität oder Rationalität? Zur humanökologischen 1 Bedeutung des Weltbild-Wandels im Laufe der kulturellen Evolution

Von Dieter Steiner; Zürich

I. Außen und Innen, Oben und Unten

Realität und Rationalität: Wenn wir dieses Begriffspaar im Sinne der cartesianisehen Spaltung als Unterscheidung einer äußeren, ausgedehnten Realität von einer inneren, denkenden Rationalität auffassen, erinnert es an die Frage, die die Philosophie von Anbeginn beschäftigt hat, die Frage nämlich, wie der Mensch zu Erkenntnis gelangen könne, eher mittels einer Orientierung an der äußeren Realität oder aber eher mittels einer Ausrichtung an der inneren Rationalität. Als Illustration für diesen Gegensatz greife ich auf die Gegenüberstellung von Realismus und subjektivem Idealismus zurück, wie sie von Vittorio Hösle beschrieben wird. 2 Danach besteht eine realistische Position darin, daß sie grundlegend auf die (Außen-) Erfahrung abstellt und behauptet, daß diese, wenn möglichst passiv genossen, zu objektiver Erkenntnis führt. Sie beruht also auf der Vorstellung, daß es eine dem 1 Der folgende Beitrag ist aus der Perspektive einer al1gemeinen Humanökologie geschrieben. Darunter verstehe ich eine Sichtweise, die sich bemüht, angesichts der ökologischen Krise das sektoriel1e Denken zugunsten einer Kombination von evolutionärer Betrachtung, Transdisziplinarität und Transwissenschaftlichkeit zu verlassen. Mit evolutionärer Betrachtung meine ich ein Bemühen, die Gegenwart aus der Vergangenheit der kulturel1en Evolution, wenn nötig auch der biologischen Evolution, heraus verständlich zu machen. Transdisziplinarität sol1 bedeuten, daß nach Möglichkeit immer versucht wird, von der eigenen Disziplin ausgehend deren Grenzen in Richtung Nachbardisziplinen zu überschreiten. Mit Transwissenschaftlichkeit ist gemeint, daß Verknüpfungen zwischen wissenschaftlichen Ergebnissen, philosophischer Reflexion und lebensweltlicher Erfahrung gefordert sind. Eine humanökologische Perspektive kann, kurz formuliert, auch als eine verstanden werden, die tieferschürfende Fragen stel1t, als dies bei der im gegenwärtig noch vorherrschenden Weltbild üblichen technokratischen Sichtweise getan wird. Damit ist gleichzeitig gesagt, daß sie für sich selbst eine Position in einem neuen Weltbild sucht. Für eine zusammenhängende Beschreibung einer al1gemeinen Humanökologie siehe Dieter Steiner, A Conceptual Framework for a General Human Ecology, in: Scott D. Wright et al. (Hrsg.), Human Ecology: Progress Through Intrgrative Perspectives, Bar Harbor, ME, 1995, S. 35-52. 2 Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München, 1990, S. 206-207.

Dieter Steiner

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Bewußtsein transzendente Realität gibt, die sich aber in diesem Bewußtsein spiegeln kann. Aus der Sicht eines subjektiven Idealismus hingegen spielt das Bewußtsein in Form des Denkens aktiv ein für die Erkenntnis konstitutive Rolle, hat damit aber einen konstruktiven Charakter und kann nicht als objektiv im strengen Sinne gelten. Daß die Favorisierung der einen oder der andern Antwort eine Einseitigkeit darstellt, dürfte plausibel sein. Liegt damit die Lösung des Problems in einer überbrückenden Synthese? Ja, aber eine solche scheint nur möglich zu sein, wenn gleichzeitig eine dritte Art der Orientierung dazu stößt. Hösle spricht die Möglichkeit einer Synthese mit seinen Vorstellungen über einen objektiven Idealismus an, der davon ausgeht, "daß das Denken ... an etwas Absolutem, nicht von ihm Gesetzten, sondern es Setzendem teilhat.,,3 Anders. ausgedrückt: Der Mensch als höchstentwickeltes Lebewesen hat Anteil an allen Stufen des Seins und stellt somit eine Art Mikrokosmos dar. Ist es damit nicht denkbar, daß wir im Zugang zu uns selbst den direktesten Zugang zur Wirklichkeit vorfinden? Gregory und Mary Catherine Bateson sprechen denn auch davon, daß wir eine Metapher für die Welt darstellten, und nicht nur das, sondern daß diese Metapher die bestmögliche sei. 4 Eine Vernachlässigung dieser Quelle der Orientierung beraubt uns der Möglichkeit einer Erkenntnis in einem umfassenderen Sinne. Zusammenfassend liegt hier also eine Unterscheidung von drei Arten möglicher Orientierung vor: Die realistische, die auf äußere Erfahrung abstellt, die subjektividealistische, die sich auf konstruktives Denken stützt, und die objektiv-idealistische, die wir, insofern wir es hier mit Intuitivem zu tun haben, als innere Erfahrung interpretieren können. Mit dieser Unterscheidung ist der jeweilige Ausgangspunkt angesprochen, von dem aus eine Erkenntnis als möglich betrachtet wird, und es ist nicht damit gemeint, daß die angesprochene Komponente jeweils die einzige ist, die eine Rolle spielt. Erfahrung kann wohl nach üblichem Verständnis nur zu Erkenntnis werden, wenn sie denkerisch verarbeitet wird, und umgekehrt kann das Denken nur zur Erkenntnis beitragen, wenn es sich letztlich an Inhalten erprobt, die aus äußerer und innerer Erfahrung stammen. 5 Es ist nun möglich, die drei genannten Orientierungen mit der psychologischen Vorstellung einer Dreiteilung des menschlichen Bewußtseins in Verbindung zu bringen. Damit gewinnen wir eine Grundlage, um das Thema dieses Aufsatzes auch mit bewußtseinsökologischen Aspekten beleuchten zu können. Diese Dreiteilung umfaßt ein diskursives Bewußtsein, ein praktisches Bewußtsein und ein Unbewußtes. 6 Im ersteren sind unsere verstandesmässig-reflexiven Fähigkeiten angeHäsle (FN 2), S. 208. Gregory BatesonlMary Catherine Bateson, Ange1s Fear. Towards an Epistemology of the Sacred, New York, 1987. Sie sagen: "Of all available metaphors, the most central and saHent, available to all human beings, is the self' (S. 194). 5 Genauer gesagt: Wenn wir vom Denken als der ersten QueHe der Orientierung ausgehen, können wir uns vorsteHen, daß dieses zunächst eine inhaltslose Methode darsteHt, daß danach diese Methode auf abstrakte Gegebenheiten angewandt wird und daß schließlich überprüft wird, ob das abstrakt Überlegte ein Pendant in der äußeren Realität hat. 3

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Auf was bauen wir: Realität oder Rationalität?

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siedelt, die ein systematisches und logisches Denken, ein Abstrahieren und Verallgemeinern, ein Vorausschauen und Planen und ein sprachliches Formulieren ermöglichen. Es ist ein Bewußtsein, in dem wir uns die Dinge zum distanziert zu betrachtenden Objekt machen, wir treten zu ihnen in eine instrumentelle Ich-Es-Beziehung ein. In einem praktischen Bewußtseinszustand ist ein Mensch, der im direkten, also sensorisch-motorischen Umgang mit der Umwelt Dinge einfach wahrnimmt oder tut, ohne groß darüber nachdenken zu müssen und auch ohne sprachlich ausdrücken zu können, was dabei genau vor sich geht. In diesem direkten Umgang mit der Umwelt begegnet ein Mensch immer dem Besonderen einer ganz konkreten Situation. Wiederholt an solchem Besonderen gemachte Erfahrungen der gleichen oder ähnlichen Art können sich aber als praktisch verfügbares Wissen niederschlagen, Wissen, das sowohl die biophysische wie auch die soziale Seite betreffen kann.? Eine Begegnung mit Mitmenschen, aber nicht nur mit diesen, kann in Form einer Ich-Du-Beziehung geschehen. Das Unbewußte schließlich ist eine autonome Instanz unserer Psyche, gewissermaßen ihre unterste, bereits körpernahe Ebene, von deren Funktionsweise wir wenig klare Vorstellungen haben, auch nicht haben können, die sich uns aber in Form von Emotionen, Intuitionen, Bewertungen und dergleichen mitteilt. Was für mein Anliegen von besonderem Interesse zu sein scheint, ist das von earl Gustav Jung entwickelte Konzept des kollektiven Unbewußten. Dies deshalb, weil es auf die Existenz seelisch-geistiger Prinzipien in der Form von Archetypen verweist, die wir aus der Evolution mitbekommen haben und die uns eine gewissermaßen kosmische Verbindung, eine Ich-Welt-Beziehung offerieren. 8 Im folgenden möchte ich nun auf der bisher dargestellten Grundlage die Frage aufgreifen, welches Bild von der Welt sich der Mensch in verschiedenen Epochen der abendländischen Kulturgeschichte gemacht hat. Ich werde dazu ein idealisierendes Schema verwenden, das die folgenden Typen von Weltbildern unterscheidet: Archaisch (vom Paläolithikum bis zur vorgriechischen Zeit), holistisch-organismisch (Antike und Mittelalter), atomistisch-mechanistisch (Neuzeit) und rela6 So z. B. bei Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/M und New York, 1988, S. 57. Nach Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) können wir die drei Bewußtsseinsebenen in populärer Form auch mit der Metapher von "Kopf, Hand und Herz" beschreiben. 7 Beipiele solchen Wissens, die biophysische Seite betreffend, sind ein Musikinstrument spielen, ein Handwerk praktizieren oder einen Sport ausüben können. Auf der sozialen Seite seien etwa alltägliche Umgangsformen und moralische Vorstellungen genannt. 8 Vgl. dazu z. B. Marie-Louise von Franz, Spiegelungen der Seele. Projektion und innere Sammlung, Stuttgart und Berlin, 1978, insbesondere Kapitel 4: Die Hypothese des kollektiven Unbewußten, S. 77-91. Darin sagt sie: "Geistesgeschichtlich betrachtet, bildet die Idee des kollektiven Unbewußten ... eine Neuformulierung der archetypischen Vorstellung eines ,Weltgeistes', wie die Stoiker ihn postulierten, oder einer ,Weltseele', die das Universum belebt und aus der göttliche oder dämonische ,Ein-flüße' in das menschliche Subjekt einströmen" (S. 78). Und Jean Gebser (Abendländische Wandlung. Auf dem Weg zur Synthese, Frankfurt/M., 1956, erstmals 1943 publiziert, S. 144) bezeichnet "das Kollektive Unbewußte als den seelischen, damit raum-zeitlosen, damit aber auch kosmischen "Seinsgrund" .... "

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tional-evolutionär (unmittelbare Zukunft?). Diese Abfolge können wir mit der gerade getroffenen Unterscheidung von drei Ebenen des Bewußtseins insofern in Verbindung bringen, als wir - in relativ grober Vereinfachung - den einzelnen Epochen bestimmte Kombinationen von solchen Ebenen mit bestimmten Schwergewichten zuordnen können. So kann das archaische Weltbild als eines gesehen werden, das durch ein Zusammenspiel von Unbewußtem und praktischem Bewußtsein zustande kommt, wobei der Akzent ursprünglich wohl auf dem ersteren liegt, danach sich aber eher gleichgewichtig auf beide Ebenen verteilt, womit ein Zusammenwirken einer Ich-Welt-Beziehung mit einem Ich-Du-Verhältnis resultiert. Zum holistisch-organismischen Weltbild paßt eine Kombination von Unbewußtem und diskursivem Bewußtsein mit einer gewissen Dominanz des ersteren in der Weise, daß ein Denken in Ich-Es-Verhältnissen sich in eine Ich-Welt-Orientierung einbettet. Mit dem Übergang zum atomistisch-mechanistischen Weltbild findet eine Wegbewegung vom Unbewußten statt, und es verbünden sich jetzt praktisches und diskursives Bewußtsein miteinander, wobei das letztere Regie führt. Damit aber geht eine mögliche Ich-Welt-Ausrichtung verloren und das Manipulative der IchEs-Beziehung erhält Vorrang vor der Orientierung an der Ich-Du- Begegnung. In dem Maße wie der "Kopf' in der archaischen Welt sicher nicht gefehlt hat, aber mangels entsprechender Bewußtseinsstrukturen noch nicht im Sinne unseres Verständnisses von rationalem Denken aktiv sein konnte, haben wir dort Vollständigkeit, indem die Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Bewußtseinsebenen ausgeschöpft sind. 9 Im Resultat lebt der archaische Mensch in einer Welt, in der vereinfachend gesagt in wenig differenzierter Weise Alles mit Allem verknüpft ist. Die Bewußtseinslagen, die den zwei folgenden Weltbildern zugrunde liegen, sind dagegen hinsichtlich des gleichen Aspektes unvollständig, indem sie auf die Kombination von lediglich zwei der drei Bewußtseinsebenen abstellen, die potentiell aktiviert sein könnten bzw. als aktiv anerkannt werden. Es darf nicht überraschen, daß unter solchen Umständen Probleme auftreten wie z. B. das immer gravierendere Umweltproblem. Das letztgenannte Weltbild schließlich, das relational-evolutionäre, von dem wir in spekulativer Weise annehmen, daß es im Kommen ist, muß demgegenüber über ein Zusammenwirken aller drei Bewußtseinsebenen entstehen, wenn es, wie wir hoffen, den Weg zur Überwindung der ökologischen Krise weisen soll. Nur so können wir wieder einen Zustand von Vollständigkeit und damit eine gewisse archaische Qualität erlangen, die sich dann darin ausdrückt, daß die Dinge 9 Trotz des "fehlenden Kopfes" darf, wie Kurt Goldstein (Conceming the concept of "primitivity", in: Stanley Diamond (Hrsg.), Primitive Views of the World, New York und London 1964, S. 1-19) betont, die archaische Mentalität keineswegs als minderwertig angesehen werden. Er vermutet, "that the people in primitive societies may not be inferior, but that their behavior may correspond to what we have characterized as concrete behavior" (S. 9). Und zum "konkreten Verhalten" schreibt er: "The concrete behavior does not imply conscious activity in the sense of reasoning. We surrender to experiences of an unreflected character; we are confined to the immediate apprehension of a given thing or situation in its particular uniqueness, which is never mediated by discursive reasoning" (S. 6). Das ist aber nichts anderes als ein Tun in einem praktischen Bewußtsein.

Auf was bauen wir: Realität oder Rationalität?

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wieder als allerseits miteinander vemetzt erscheinen, allerdings ohne Verlust der seit der archaischen Zeit erworbenen Differenzierungsmöglichkeiten. Im Vergleich der bei den verschiedenen Weltbild-Epochen maßgeblichen Bewußtseinsebenen mit der vorher angesprochenen Unterscheidung einer realistischen, einer subjektiv-idealistischen und einer objektiv-idealistischen Position hinsichtlich des Erkenntnisproblems können wir vermuten, daß - sofern dieses Problem überhaupt einen philosophischen Ausdruck findet - die letztere stärker im antiken-mittelalterlichen Weltbild vertreten ist, während im neuzeitlichen Weltbild eher ein Hin und Her zwischen den beiden übrigen Positionen auftritt, das schwergewichtig beim subjektiven Idealismus endet. Damit ist aber nur eine Tendenz angesprochen, denn es gibt durchaus Abweichungen. Z.B. war für den objektiven Idealisten Platon die innere Erfahrung die wesentliche Grundlage der Erkenntnis, während Aristoteles diese wohl nicht ablehnte, aber doch primär von der äußeren Erfahrung ausging. Es kommt also bei ihm eine realistische Komponente dazu. Deswegen Aristoteles einen Empiristen zu nennen, ist wohl etwas einseitig, da eine solche Aussage zu stark an den Empirismus der Neuzeit erinnert. Eine bessere Charakterisierung ist die, daß Aristoteles in dieser und auch in anderer Hinsicht eigentlich ein Vorläufer einer Einstellung ist, wie wir sie für ein neues nachmodernes Weltbild erhoffen. Es kommt ihm deshalb wieder eine gewisse Aktualität zu (vgl. Kapitel IV). Während also bei dem gerade angestellten Vergleich eine nur teilweise Parallelität besteht, haben wir eine vollständigere Übereinstimmung zwischen Weltbildern und philosophischen Positionen, wenn wir auf eine andere Unterscheidung von Paradigmen abstellen, nämlich die von Herbert Schnädelbach beschriebene Folge einer Seins-, einer Bewußtseins- und einer Sprachphilosophie. lO Das Vorkommen des ersten Paradigmas fällt zeitlich mit dem holistisch-organismischen Weltbild der Antike und des Mittelalters zusammen, das zweite ist mit dem atomistisch-mechanistischen Weltbild der Neuzeit verknüpft, und das letztgenannte kann seit dem "linguistic turn" der lahrhundertwende als ein erster, wenn auch nur sehr bescheidener Schritt in Richtung eines neuen Weltbildes gesehen werden. Die Seinsphilosophie geht davon aus, daß das Sein vor der Erkenntnis da ist und sich dieser mitteilt. Sie ist interessiert an der Welt, an der Natur, am Wesen der Dinge, und sie kann in dieser Hinsicht als eine Haltung verstanden werden, die sich am Ganzen des Seins orientiert. Die Bewußtseinsphilosophie setzt in dem Moment ein, da die Skepsis daran, wie weit denn dieses Sein überhaupt erkennbar sei, überhand nimmt. Fortan ist der Prozeß der Erkenntnis im Brennpunkt des Interesses. Insofern nun das analytische Denken dominiert, übertragen sich seine Modelle derart auf die Außenwelt, daß nun nicht mehr das Ganze, sondern nur noch je Teilhaftes in den Blickpunkt kommt. Gleichzeitig bedeutet dies, wie Kant dies formuliert hat, daß das, was wir über die Dinge wissen können, nur damit zu tun haben kann, wie IO Herbert Schnädelbach, Philosophie, in: Ekkehard Martens/Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 1, Reinbek b. Hamburg 1991, S. 37-76.

2 Selbstorganisation, Bd. 6

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uns die Dinge erscheinen, nicht wie sie wirklich sind. Fast folgerichtig entwickelt sich aus dieser Position bis heute die schon extreme Auffassung des radikalen Konstruktivismus, die etwa von Niklas Luhmann so dargestellt wird: "Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. ... Kommunikationssysteme (soziale Systeme) können nur deshalb Informationen erzeugen, weil die Umwelt nicht dazwischenredet."ll Der Hinweis auf soziale Systeme deutet dabei an, daß sich nach Kant die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Subjektes in die nach der Bedeutung eines intersubjektiven Prozeßes für die Möglichkeit von Erkenntnis verändert hat. Es hat mit andern Worten eben der Paradigmenwechsel zur Sprachphilosophie stattgefunden. Wenn oben gesagt wurde, damit sei ein erster Schritt in Richtung eines neuen Weltbildes vollzogen, hängt dies damit zusammen, daß mit der sprachlichen Kommunikation ein relationales Prinzip, das der Beziehungen zwischen Menschen, angesprochen ist. Darin steckt ein Potential für eine ausbaufähige Sichtweise, ein Potential, das bis heute allerdings zu wenig genützt worden ist. Im Gegenteil: Eine Richtung der Sprachphilosophie hat sich als analytische Philosophie etabliert, als eine Art des Denkens, das sich vom Vorbild des wissenschaftlichen Rationalismus hat anstecken lassen. Damit aber bleibt dieses im atomistisch-mechanistischen Weltbild gefangen und verstärkt zunächst eher noch die mit ihm verbundenen Probleme, als daß es sie abbauen hilft. Im folgenden wird uns weniger das Verhältnis von Außen und Innen interessieren, sondern das im vorhergehenden Abschnitt andiskutierte vom Ganzen und den Teilen, oder, mit Bezug auf die graphische Darstellung in Figur 1 metaphorisch gesprochen, das von Oben und Unten. Dieses wollen wir in den Kapiteln III und IV anhand der schon erwähnten Weltbilder und ihres Wandels im Laufe der kulturellen Evolution betrachten und uns insbesondere auch die Frage stellen, wie es sich auf die Mensch-Natur-Beziehung ausgewirkt hat. Noch vorher aber wollen wir uns in Kapitel 11 das schon angesprochene Schema für den Weltbildwandel zurecht legen und dabei zur Ergänzung auch einen kurzen Blick auf den parallelen Wandel der gesellschaftlichen und der bewußtseinsmäßigen Strukturen, im letzteren Fall nach den Vorstellungen von Jean Gebser,12 werfen. 11. Weltbild, Bewußtsein und Gesellschaft im Wandel

Mit "Weltbild" meinen wir eine Anschauung, die Menschen von der Welt in einem umfassenden Sinne haben, so daß Verbindungen zwischen Erscheinungen oder Ereignissen eben dieser Welt in einem größeren Zusammenhang gesehen wer11 Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, Bem 1988, S. 9. Wenn dem aber so ist, haben wir keine große Chance, die Umweltkrise überwinden zu können. Tatsächlich kommt Luhmann an anderer Stelle zu genau diesem Befund: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1990. 12 Jean Gebser; Ursprung und Gegenwart, Bd. 1: Die Fundamente der aperspektivischen Welt, Stuttgart 1949.

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den und insbesondere auch die Stellung des Menschen in der Welt eine Klärung erfahrt. Im Sinne einer bedeutungsvollen Interpretation vermittelt ein Weltbild dem Menschen ein Gefühl von Sicherheit, indem es das Bedürfnis, "die vorfindliche Wirklichkeit in feste Formen zu bringen, Konstanz ausfindig zu machen und in Sätzen und Systemen festzuhalten", befriedigt. 13 Es ist möglich, ein Weltbild als eine im Vergleich zu wissenschaftlichen Theorien übergeordnete Theorie zu bezeichnen. 14 Allerdings dürfen wir uns darunter dann nicht unbedingt etwas in expliziter Form, also aus dem Kopf Abrufbares vorstellen. Zwar kommt es in philosophischen Diskursen oder in wissenschaftstheoretischen Forderungen zur "Offenlegung" eines Weltbildes, aber grundsätzlich ist dieses zunächst eher ein impliziter Bestandteil des praktischen Bewußtseins und damit der menschlichen Lebenswelt, die sich auf ihm als einem richtunggebenden Hintergrund entwickelt. 15 Die Weltbilder, die uns hier interessieren, sind Weltbilder großer Reichweite, d. h. Weltbilder, die über einen größeren Raum und über längere Zeit hinweg für eine Kultur einen prägenden Charakter haben. Hinsichtlich der zugehörigen Bewußtseinslagen sind damit weniger Inhalte als vielmehr Strukturen angesprochen. Der im Laufe der Kulturgeschichte auftretende Weltbildwandel kann somit in erster Linie als eine jeweilige Veränderung der Bewußtseinsstruktur interpretiert werden. Das Struktur-Konzept können wir vielleicht mit einer Anknüpfung an die Begrifflichkeit von Jean Piagets Entwicklungspsychologie erhellen. Piaget versteht unter einer Struktur eine Menge von Regeln, eine Art Algorithmus, mit Hilfe dessen unsere Intelligenz eine Problemlösungskompetenz bekommt. Dies ermöglicht ihr, ihre grundlegende Funktion, die Piaget als Anpassung an äußere Faktoren sieht, auszuüben. Diese Anpassung kann zwei Formen annehmen: Assimilation und Akkomodation. Die erstere meint die Fähigkeit, neue Erfahrungen in der bestehenden Struktur anzusiedeln - was auch heißen kann, daß die Umwelt entsprechend dieser bestehenden Struktur modifiziert wird -, während sich die letztere auf das Vermögen bezieht, auf Umwelteinflüße mit einer Veränderung der vorhandenen Struktur zu reagieren. 16 Auf die Frage des Weltbildwandels übertragen würde dies bedeuten, daß in Zeiten, in denen ein Weltbild mehr oder weniger stabil bleibt, die assimilative Funktion vorherrscht, während in Zeiten der Weltbild-Veränderung die akkomodative Funktion die Oberhand hat. 13 Günter Dux , Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt/M. 1990, S. 251. 14 Siehe z. B. Carlo Jaeger, Theorie und integrative Ansätze in der Geographie, in: Dieter Steiner/Carlo Jaeger/Pierre Walther (Hrsg.), Jenseits der mechanistischen Kosmologie Neue Horizonte für die Geographie?, Berichte und Skripten Nr. 36, Geographisches Institut ETH, Zürich 1988, S. 3-14. 15 Letziich allerdings wissen wir, wenn wir Weltbilder zu rekonstruieren versuchen, nur in dem Maße etwas über sie, als es explizite Äußerungen gibt. 16 Vgl. dazu z. B. Philippe Muller, Entwicklung des Kindes, München 1969, S. 56ff., oder auch Herbert Ginsburg / Sylvia Opper, Piagets Theorie der geistigen Entwicklung, Stuttgart 1975, S. 38.

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Nun bezieht sich Piagets Theorie zwar auf die ontogenetische Entwicklung menschlicher Individuen, aber es darf doch vermutet werden, daß ähnliche Prinzipien auch bei der psychischen Entwicklung der Menschheit insgesamt eine Rolle spielen. Tatsächlich sieht denn auch Klaus Eder im Weltbildwandel den Ausdruck einer piagetischen Entwicklungslogik, 17 und eine entsprechende Auffassung wird auch von Günter Dux vertreten. 18 Arnold Gehlen spricht ausdrücklich davon, daß der Weltbildwandel mit grundlegenden Veränderungen in Bewußtseinsstrukturen verbunden sei,19 und Jean Gebser redet von "Bewußtseins mutationen". 20 Wie bilden und verändern sich die Strukturen überhaupt? Piaget verwirft in seiner Theorie sowohl eine biologistische (die Strukturen sind vererbt), wie auch eine kulturalistische Interpretation (die Strukturen sind durch die sozio-kulturelle Umwelt geformt) und plädiert für einen "genetischen Strukturalismus", der in der Wechselwirkung zwischen Denken und Umwelt die Triebfeder der Entwicklung sieht. Für die Bewußtseinsentwicklung im Rahmen der kulturellen Evolution hingegen hält Dux im wesentlichen nur die Wirkung der äußeren Realität für maßgeblich?1 Trotzdem redet er von einer "Logik der Weltbilder", was offenbar so zu verstehen ist, daß die jeweiligen Bedingungen diese Wirklichkeit darstellen, die strukturformend wirkt, und daß die Folge von Bedingungen und daraus entstehenden Weltbildern rekonstruierbar ist. 22 Gebser hinwiederum ist "überzeugt, daß aus uns selber 17 Klaus Eder. Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution, Frankfurt/M. 1980, S. 15l. 18 Dux (FN 13). 19 Amold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Wiesbaden 1986. Er weist darauf hin, "daß es über den Gang der Menschheitsgeschichte hinweg eine Änderung der Bewußtseinsstrukturen selber, nicht bloß natürlich unendliche Änderungen der Inhalte des Bewußtseins gegeben hat" (S. 10). 20 Gebser (FN 12), S. 67. Er sagt dazu: "Ihre [der Mutationen] scheinbare Aufeinanderfolge ist weniger eine biologische ,Entwicklung' als eine ,Entfaltung', ein Begriff, der die Teilhabe einer geistigen Realität an der Mutation zuläßt .... Mit jeder neuen Bewußtseinsmutation entfaltet sich das Bewußtsein stärker, während der Entwicklungsbegriff den Mutationscharakter ausschließt, da dieser im Gegensatz zur Kontinuierlichkeit der Entwicklung diskontinuierlich ist" (S. 67-68). 21 Dux (FN 13). Er sagt: "Der Aufbau der Wirklichkeit ist vordringlich eine Frage des Aufbaus kategorialer Formen, in denen Wissen akkumuliert werden kann. Dieser Prozeß vollzieht sich an einer immer schon vorgegebenen Wirklichkeit ... Das Resultat, das System der Kategorien, ist deshalb ein realistisches, weil in ihm die senso- motorischen Erfahrungen verarbeitet sind" (S. 145). Ich denke, daß dies eine einseitige Sicht ist, die die Möglichkeit der Mitwirkung innerer Faktoren vernachlässigt. Piaget dagegen, obschon er eine Wechselwirkung von Innen und Außen postuliert, redet von einer gewissen Autonomie der Entwicklung, indem diese relativ unabhängig vom sozio-kulturellen Umfeld verlaufe (siehe dazu Muller (FN 16), S. 62 ff.). Er betont damit die Eigenkreativität des menschlichen Organismus, jedenfalls hinsichtlich einer ontogenetischen kognitiven Entwicklung. 22 Dux (FN 13) meint dazu: "Weltbilder und mit ihnen das Verständnis des Menschen sind ... einsichts- und begründungsfahig. Sie bilden sich unter angebbaren Bedingungen und entwickeln sich in der Geschichte strukturlogisch stringent fort. Die Geschichte selbst kennt eine Logik. Und die läßt sich rekonstruieren" (S. 15).

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die Kräfte kommen," die "alles Defizient- und Fragwürdig-Gewordene" in Richtung eines neuen Bewußtseins überschreiten. 23 So oder so, die Frage, was unter einer "Entwicklungslogik" genau verstanden werden soll, ist nicht ohne Interesse, denn jenachdem stellt sich dann die Folgefrage, ob damit gemeint ist, daß der Abfolge von Weltbildern ein Grad von Unausweichlichkeit zukommt. Wenn ja, bedeutete dies, daß sich diese Unausweichlichkeit nicht nur auf die zugrundeliegenden Bewußtseinsstrukturen, sondern auch, weniger offensichtlich, auf die jeweils zeitgenössischen gesellschaftlichen Strukturen erstrecken würde. Denn "Weltbilder [sind] ... symbolische Schematisierungen der Welt. Damit erfassen sie per definitionem zugleich die Objektwelt, die soziale Welt und die subjektive Innenwelt.,,24 Und wir haben in Anlehnung an Piaget festgestellt, daß eine bestimmte Bewußtseinsstruktur nicht nur die Tendenz hat, Wahrnehmungen ihrer spezifischen Ordnung zu unterwerfen, sondern nach Möglichkeit auch eine entsprechende Umgestaltung der Umwelt zu bewirken. Die Frage stellt sich, weil die Vorstellung einer Folgerichtigkeit der Entwicklung im Widerspruch zur Vermutung steht, die kulturelle Evolution des Abendlandes habe einen falschen Entwicklungspfad eingeschlagen, im Sinne einer ,,kollektiven Erkrankung" ein "falsches Bewußtsein" erreicht. 25 Zu den Gründen einer solchen Vermutung gehört die Existenz einer ökologischen Krise, wie auch die patriarchaler Gesellschaftsstrukturen. 26 Eine vorsichtige Antwort könnte die sein, daß möglicherweise der Entwicklung der Bewußtseinsstrukturen eine gewisse Unvermeidlichkeit zukommt, daß aber ihre Auffüllung mit detaillierten Inhalten einen historisch-kontingenten Charakter hat. In Figur I habe ich nun versucht, gewisse strukturelle Eigenschaften - diejenigen, die mit dem Verhältnis vom Ganzen und den Teilen zu tun haben - des schon angesprochenen abendländischen Weltbild-Wandels figürlich-metaphorisch in Form einer Sequenz darzustellen. In jedem Fall steht ein größerer Kreis für ein Gebser (FN 12), S. 12. Eder (FN 17), S. 150. 2S Georg Picht, Ist Humanökologie möglich?, in: Constanze Eisenbart (Hrsg.), Humanökologie und Frieden, Suttgart 1979, S. 16. 26 Günter Dux (Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Über den Ursprung der Ungleichheit zwischen Frau und Mann, Frankfurt/M. 1992) ist aHerdings der Meinung, die Entwicklung des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern habe einen Grad von Folgerichtigkeit, da sie auf eine ursprünglich biologisch begründete "Innenpositionalisierung der Frau" und eine "Außenpositionalisierung des Mannes" zurückgehe (S. 164ff.). Das schließt natürlich eine später hauptsächlich geseHschaftlich konstituierte Geschlechterasymmetrie nicht aus. Der Vorgang der geseHschaftlichen Patriarchalisierung ist auch tatsächlich gut dokumentiert, so z. B. von Gerda Lerner anhand der mesopotamischen Kulturen (Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt/M. und New York 1991). Ich selbst habe mich mit Aspekten der Geschlechterproblematik in der abendländischen Bewußtseinsentwicklung an anderer SteHe beschäftigt: Vernünftig werden heißt weiblich werden! Beitrag zu einer evolutionären Bewußtseinsökologie, in: Wolfgang Zierhofer/Dieter Steiner (Hrsg.), Vernunft angesichts der Umweltzerstörung, Opladen 1994, S. 197- 264). 23

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a

b

c

d

Figur 1: Schematische Darstellung der Idealtypen von Weltbildern, die im Laufe der kulturellen Evolution relevant sind: a =archaisches, b = holistisch-organismisches, c = atomistisch-mechanistisches, d = relational-evolutionäres Weltbild. Gezeigt ist das Verhältnis von Teilen (kleine Kreise) und Ganzem (grosser Kreis). Die gefüllten Kreise haben das Primat vor den nicht gefüllten Kreisen

Ganzes, ein kleinerer für einen Teil. Den Weltbildern b bis d ist gemeinsam, daß eine hierarchische Struktur vorliegt, die bei bund c einseitig, von oben nach unten bzw. umgekehrt, bei d dagegen beidseitig interpretiert wird. Weltbild a zeichnet sich demgegenüber durch die Absenz hierarchischer Vorstellungen aus. In Tabelle 1 findet sich eine Parallelisierung der vier Weltbilder mit entsprechenden Bewußtseins- und Gesellschaftsformen. Auf diese werde ich im folgenden kurz in zusammenhängender Form eingehen. Dabei beziehe ich mich bei den ersteren, nachdem ich in Kapitel I über die Bewußtseinsentwicklung schon etwas auf der Grundlage der Dreigliederung der menschlichen Psyche gesagt habe, hier in ergänzender Weise auf das Entfaltungsschema von Gebser.2 7 Mit den Weltbildern selbst werde ich 27 Gebser (FN 12). Gebser plädiert übrigens für einen präziseren, eingeengten Gebrauch des Begriffes "Weltbild". Von "Welt-Bild" sollte nach ihm nicht in einem allgemeinen Sinne, sondern nur im Zusammenhang mit der mythischen Bewußtseinsform gesprochen werden, bei der es tatsächlich um "die angeschaute und gedeutete Welt" geht. Für den magischen

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mich im Detail in den Kapiteln III und IV beschäftigen. Zweifellos stellt dieses Schema eine relativ grobe Vereinfachung dar, aber es dürfte einen gewissen idealtypischen Charakter haben, so daß wir wesentliche Züge der abendländischen Kulturentwicklung herauskristallisieren können. Tabelle 1: Zuordnung von Weltbildarten, Bewußtseins- und Gesellschaftsformen Art des Weltbildes

Bewußtseinsform (nach Gebser)

Gesellschaftsform

a

Archaisch

Magisch-mythisch

Matristisch

b

Holistisch-organismisch

Mental, effizient

Politisch

c

Atomistisch-mechanistisch

Mental, defizient

Ökonomisch

d

Relational-evolutionär

Integral

Ökologisch

Wie ist es im Laufe der Menschwerdung überhaupt zur Ausbildung erster Kulturformen gekommen? Natürlich können wir dazu nur Vermutungen äußern?8 Was wir mit einiger Sicherheit sagen können: Tierische Lebensformen können für eine erfolgreiche Lebensführung noch großenteils auf eine genetisch regulierte Verhaltensprograrnmierung zurückgreifen. Man könnte sagen, daß bei ihnen Innen und Außen noch völlig zusammenfallen; das Umweltrelevante ist im Innern eines Tieres immer schon vorhanden. 29 Mit dem Menschen entsteht dagegen ein Lebewesen, das instinktarm und damit fortan auf Lernen aus Erfahrung an der Umwelt angewiesen ist. Oder umgekehrt: Eine biologisch angelegte Fähigkeit für flexibles Lernen erweist sich als den Instinkten überlegen, so daß deren Einfluß mehr und mehr abnimmt. In dem Maße wie die Anleitung von innen fortfällt, muß sich der Mensch fortan an der Außenwelt orientieren, indem er ihr aufmerksam beobachtend gegenübertritt. In dieser Gegenstellung aber liegt der Keim für die Möglichkeit, für den Menschen den Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters zu reklamieren, so wie dies später ja auch wirklich geschieht. Aber fällt die Möglichkeit Bewußtseinstyp wäre dagegen "Welt-Erkenntnis" (es geht um "die ,erkannte' Welt") und bei den schon rationalisierten Stufen, für die die Weltbilder der holistischen bzw. der atomistischen Art maßgebend sind, "Welt-Vorstellung" (es geht um "die gedachte und vorgestellte Welt") zutreffend (S. 431). 28 Siehe z. B. Richard Leakey/Roger Lewin, Origins Reconsidered. In Search of What Makes Us Human, New York 1992. 29 Dazu Dux (FN 13): "Die Außenwelt ist in den für die jeweilige Art relevanten Merkmalen in den Organismus hineingenommen" (S. 31). Und bei Gregory Bateson tönt dies in einem seiner mehr oder weniger fiktiven Vater- Tochter-Gespräche so: "Daughter: Daddy are animals objective? Father: I don't know - probably not. I don't think they are subjective either. I don't think they are split that way" (Mary Catherine Bateson, Our Own Metaphor. A Personal Account of a Conference on the Effects of Conscious Purpose on Human Adaptation, Washington/London 1991, S. 10).

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einer Innenorientierung wirklich ganz weg? Es ist nicht gesagt, daß vom weitgehenden Verschwinden der Wirkung molekularbiologischer Grundlagen auch alle psychischen Anlagen betroffen sind. Mindestens scheinen solche bei der naturhaften Lebensweise der archaischen Zeit noch in ausgesprochenem Maße in Erscheinung zu treten. 30 Die mit der archaischen Welt zusammenhängende Bewußtseinsverfassung ist in Tabelle 1 mit "magisch-mythisch" bezeichnet. Genau genommen unterscheidet Gebser die magische Stufe als die ältere von der mythischen als der jüngeren, und er sieht eine Bewußtseinsmutation dazwischen, also einen Vorgang, den wir als Akkomodationssprung im Sinne von Piaget interpretiert haben?1 Im magischen Bewußtsein, so Gebser, entdeckt der Mensch die Außenwelt und steht so erstmals nicht mehr nur in der Welt, sondern ihr auch gegenüber. Das mythische Bewußtsein beginnt nach ihm mit der Entdeckung der Innenwelt, der eigenen Seele, die dann nicht nur den Menschen, sondern gewissermaßen auch die Außenwelt erfüllt. Innen und Außen haben also eine gewisse Trennung erfahren, sind aber auf psychische Art noch stark miteinander verbunden. Es gibt verschiedene Ansichten, wie diese Verbindung zu interpretieren ist. Lucien Levy-Bruhl redet von einer "mystischen Partizipation",32 die Abt mit dem tiefenpsychologischen Konzept der Projektion in Verbindung bringt: Es werden psychische Inhalte des Unbewußten auf die Umwelt projiziert?3 Mit einer solchen Interpretation scheint auch Gebser ein30 Gehlen (FN 19) beschreibt dies so: "Diese Realitäten [gemeint sind: "der ,übergreifende Zusammenhang' zwischen Mensch und Natur", "die Doppelheit der Geschlechter", der "Zusammenhang von Hunger und Nahrung, von Mutter und Kind, von Mond und Nacht"] sind übergreifend, sie erstrecken sich, wie die Folge von Geburt und Tod, durch jeden Einzelnen hindurch. Hier gilt überall ein ,empirisches Apriori', diese Erfahrungen gehören zur Selbstanschauung des Daseins, sie sind objektiv und vorgegeben, denn sie sind auch im Inneren repräsentiert, als Antrieb, Bedürfnis, als Müdigkeit, wenn die Nacht einfällt, oder als Erwachen bei Tage, als Hintergrundserfüllung oder akuter Mangel" (S. 164). 31 Gebser (FN 12), S. 79 ff. bzw. 100 ff. In der religionsgeschichtlichen und ethnologischen Literatur wird heute eine früher angenommene Entwicklungsreihe eher in Frage gestellt, da viele Überlappungen beobachtet worden sind. Z.B. schreibt Friedrich Heiler (Die Religionen der Menschheit, Zürich 1984, S. 59): "Unter einem Mythus wird zwar häufig die ausgebildete religiöse Erzählung ... verstanden. Tatsächlich finden wir aber schon auf sehr frühen Stufen bei den Naturvölkern die Elemente des geschichtlich referierenden ... Mythus, etwa einen totemistisch-magischen Mythus bei den Aranda- und Loritja-Stämmen Zentralaustraliens." Dux (FN 13) redet kurz und bündig einfach von der "mythischen Welt", in die er auch Phänomene einschließt, die Gebser in der magischen Welt ansiedeln würde (S. 128 ff.). 32 Lucien Uvy-Bruhl. How Natives Think, Princeton, NI 1985, 69 ff. Levy-Bruhls Ideen, die er in seinem erstmals 1910 publizierten Werk "Les fonctions mentales dans les societes inferieures" hinsichtlich des Denkens arachaiseher Menschen geäußert hat, sind von Paul Radin und anderen als ethnozentrisch heftig kritisiert worden (siehe dazu z. B. Goldstein (FN 9». Nach C. Scott Littleton (Introduction. Lucien Levy-Bruhl and the Concept of Cognitive Reality, in: Levy-Bruhl, S. v-lviii) ist solche Kritik unberechtigt; Levy-Bruhl hatte nie die Absicht, solches Denken als minderwertig hinzustellen. 33 Theodor Abt. Fortschritt ohne Seelenverlust. Versuch einer ganzheitlichen Schau gesellschaftlicher Probleme am Beispiel des Wandels im ländlichen Raum, Bern 1983, S. 85 f.

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verstanden zu sein, allerdings nur im Falle des mythischen Weltbildes, denn er sagt: "In einem gewissen Sinne sind die Mythen wortgewordene Kollektivträume der Völker. ,,34 Für das magische Weltbild dagegen verwendet er den Ausdruck "naturhafter Vitalkonnex" und meint damit, daß eine Kopplung von Phänomenen in der vegetativen psychischen Energetik stattfinde. 35 Konkret heißt dies, daß Gebser dem magischen Menschen Fähigkeiten (z. B. Fernwissen, Fernsehen) zuschreibt, die wir heute - wenn wir ihnen überhaupt eine Existenz zuerkennen - im Bereich der Parapsychologie ansiedeln. "In einem gewissen Sinne kann man sagen, daß in dieser [magischen] Ebene das Bewußtsein noch nicht im Menschen ist, sondern noch in der Welt ruht. ,,36 Archaische Bewußtseinselemente haben übrigens vielerorts bei der Bevölkerung ländlicher Gebiete auch in nacharchaischer Zeit überlebt. Z.B. beschreibt JeanPierre Vernant mit Bezug auf Hesiod (um 700 v.u.Z.) und Xenophon (ca. 430 - ca. 354 v.u.Z.) wie im alten Griechenland bis in die klassische Zeit die Landwirtschaft eine Tätigkeit mit mythisch-religiösem und nicht technisch- instrumentellem Charakter war und damit einer "Teilnahme an einer dem Menschen überlegenen, zugleich natürlichen und göttlichen Ordnung"entsprach. 37 Aber auch noch viel später, in Gebieten der Schweizer Alpen z. B. bis in die Neuzeit, hat sich eine "archaische Erlebnisweise eines beseelten Lebensraumes" in Form von magischen Ritualen und mythischen Erzählungen wie Sagen und Legenden halten können, eine Erlebnisweise, die einen Respekt vor der Natur nahelegte. 38 Die Strukturen, die dem holistischen und dem atomistischen Weltbild zugrunde liegen, sind zwei verschiedene Ausdrucksformen ein und derselben Bewußtseinsform, die Gebser mental nennt. Tatsächlich werden wir nachher sehen, daß die beiden Weltbilder in ihrer Gegenläufigkeit gewissermaßen die zwei Seiten einer Münze darstellen. Die mentale Bewußtseinsstufe zeichnet sich durch ein gerichtetes Denken aus, und Gebser weist darauf hin, daß das lateinische "mens" (wie übrigens auch "Mensch") auf die Wurzel "ma" zurückgeht, die "Denken" und "Messen" bedeutet. 39 Die zwei Ausprägungen können wir mit Gebsers Unterscheidung 34 Gebser (FN 12), S. 111. Weiter sagt er: "Die Lebens-Erhellung durch die Mythen-Interpretation ist der geglückten Traumdeutung der heutigen Tiefenpsychologie verwandt" (S. 113). 35 Gebser (FN 12), S. 84. 36 Gebser (FN 12), S. 80. Er weist ferner auf folgendes hin: "Dieser [magische] WirkungsCharakter verliert ... seine Wirksamkeit in dem Moment, da er durch rationale Kausalisierung seiner vitalkonnexen Grundlage und Bezogenheit beraubt wird, weil die Einschaltung des Bewußtseins dann die unbewußt verknüpfende psychische Energetik stört und unterbricht" (S. 84-85). 37 Jean-Pierre Vernant, Arbeit und Natur in der griechischen Antike, in: Klaus Eder (Hrsg.), Seminar: Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt/M. 1973, S. 255. 38 Abt (FN 33), besonders S. 84-91 und 109-127. Ein magisches Ritual war z. B. der Betruf, der von der Alp aus in alle Richtungen gerufen wurde, um als "Ring" Gefährdungen der Natur zu bannen (S. 113).

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zwischen einer früheren "effizienten" und einer späteren "defizienten" Fonn40 in Beziehung bringen und damit die erstere dem holistischen, die letztere dem atomistischen Weltbild zuordnen. Das hat einen positiven bzw. einen negativen Beiklang, und dies ist von Gebser auch beabsichtigt: Das Mentale im Sinne des holistischen Weltbildes hat einen qualitativen Charakter, indem es einem ,,richtenden, ennessenden Denken" entspricht, bei dem es um das richtige Maß geht. Das Mentale im Sinne des atomistischen Weltbildes dagegen hat einen rationalisierten quantitativen Charakter, der sich in einem "teilenden, maßlosen Zerdenken" äussert. 41 Das nun von Gebser als im Kommen postulierte neue integrale Bewußtsein stellt eine Integration der verschiedenen Ebenen der menschlichen Psyche dar. Er betont, daß es sich dabei um eine Integration, nicht um eine Synthese handle, denn eine solche wäre eine bloße Suprarationalisierung, die gegenwärtige Gegensätzlichkeiten nicht zum Verschwinden bringt, sondern nur versöhnend überbrückt. Es geht auch nicht um eine Reaktivierung der tieferen Ebenen - dies käme einem Zurücksinken in das Irrationale gleich -, und auch nicht um eine mentale Aufhellung dieser Ebenen. Um was es wirklich geht, ist aus unserer heutigen Begrifflichkeit heraus, die ja dem gegenwärtigen Bewußtseinszustand entspricht, nur schwer zu beschreiben. Gebser versucht es trotzdem: " ... wir verstehen ... unter Integrierung den Vollzug einer Gänzlichung, die Herbeiführung eines Integrum, das heißt die Wiederherstellung des unverletzten ursprünglichen Zustandes unter bereicherndem Einbezug aller bisheriger Leistung." Dabei ,,kann nur das Konkrete, niemals das Abstrakte integriert werden.,,42 Nur so können die unteren Ebenen "integral durchsichtig und gegenwärtig werden .... ,,43 Der fragliche Vorgang stellt nicht eine Bewußtseinserweiterung, sondern eine Bewußtseinsintensivierung dar. 44 Wie Tabelle 1 zeigt, fallen archaische Weltbilder mit einer "matristisch" genannten Gesellschaftsfonn zusammen. Dazu gehören erstens paläolithische nomadisierende Wildbeuter-Gesellschaften und zweitens neolithische bis bronzezeitliche, dörfliche, gelegentlich auch städtische Gartenbau- Kulturen. 45 Der Ausdruck "maGebser(FN 12), S. 127. Gebser (FN 12) spricht davon, daß es bei jeder der verschiedenen Bewußtseinsstrukturen eine frühere effiziente und eine spätere defiziente Phase gibt. Im Laufe der ersteren kommt die neue Struktur allmählich zu einer maßvollen Blüte, während ihre Auswirkungen sich im Laufe der letzteren ins Unmaß verkehren. Auf der mentale Stufe setzt die Defizienz mit der Ausrichtung auf das extrem Rationale ein (S. 251). 41 Gebser (FN 12), S. 163 und Synoptische Tafel im Anhang. 42 Gebser (FN 12), S. 173. 43 Gebser(FN 12), S. 174. 44 Gebser (FN 12), S. 224. 45 Der Übergang zu Seßhaftigkeit und Landwirtschaft ist ein grundlegendes Charakteristikum der neolithischen Revolution und wird nonnalerweise als Beginn einer neuen Gesellschaftsfonn betrachtet. Ich setze hier die entscheidende Grenze später an, da es sich bei den fraglichen Gartenbau-Kulturen offensichtlich um weiterhin vorpolitische, höchstens frühpolitische Gesellschaften handelt, und zweitens besteht trotz Änderung der Lebensweise eine 39

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tristisch" soll darauf hinweisen, daß das weibliche Element im Zentrum des religiösen Kultes und des Lebens überhaupt stand. 46 Im Vergleich dazu sind bei den in diesem Jahrhundert noch lebenden Wildbeutergesellschaften Strukturen mit einem mindestens egalitären, auf alle Fälle herrschaftsfreien Charakter beobachtet WQfden. 47 Es gibt keine ausdifferenzierten Institutionen, die den Zusammenhalt einer Gemeinschaft regeln würden, sondern dieser ergibt sich durch das Zusammenleben selbst und die dabei ausgeübte gegenseitige Kontrolle und Unterstützung. Einzelne Personen mögen Autoritätspersonen sein, aber dabei handelt es sich um Formen natürlicher Autorität, denen jeglicher Zwang fremd ist: Sie sind es kraft ihrer speziellen Fähigkeiten und nicht aufgrund von ererbten oder erworbenen Positionen. 48 Auf der Stufe der politischen Gesellschaften, also in der Antike und im Mittelalter, finden wir hierarchische Klassenstrukturen vor, und diese münden in eine Herrschaft von Menschen über Menschen. 49 Hiervon machte auch der Versuch der griechischen Demokratie keine grundlegende Ausnahme, denn diese Demokratie betraf nur die ohnehin freien Bürger männlichen Geschlechts; Frauen und Sklaven waren davon ausgenommen. Immer wieder dachte man sich die Gesellschaft, in Anlehnung an die Vorstellung des Universums insgesamt, als eine Art Organismus, der durch die Art und Weise seines Aufbaus der kosmischen bzw. göttlichen Ordnung nahe stand. 5o Damit konnte der Monarch an der Spitze auch als irdischer Statthalter Gottes auftreten, was ihm eine Legitimation für sein Tun verschaffte. Kontinuität in den gesellschaftlichen Strukturen, die wohl in beiden Fällen auf matrilinealen verwandtschaftlichen Prinzipien beruhen. 46 Der Ausdruck "matristisch" geht auf einen Vorschlag von Marija Gimbutas (The Civilization of the Goddess. The World of Old Europe, San Francisco 1991, S. 324) zurück, die ihn genau genommen nur auf die seßhaften Gartenbau-Kulturen anwendet. Tatsächlich dürfte hier die zentrale Stellung der Frau besonders ausgeprägt gewesen sein, eine zentrale Stellung, die aber nicht als Herrschaft zu interpretieren ist. Das Weibliche als Quelle des Lebens spielt plausiblerweise eine große Rolle im Zusammenhang mit Pflanzenbau und Tierzucht. Ich dehne die Verwendung des Begriffes aber auf das Paläolithikum aus, weil bei den archäologischen Funden bis mindestens 30.000 Jahre zurück weibliche Figurinen vorherrschen (vgl. Marie E.P. König, Die Frau im Kult der Eiszeit, in: Richard Fester/Marie E.P. König/Doris F. Jonas/ A. David Jonas (Hrsg.), Weib und Macht. Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der Frau, Frankfurt/M. 1979, S. 107-158). 47 Vgl. Jürg Heibling, Theorie der Wildbeutergesellschaft. Eine ethnosoziologische Studie, Frankfurt/M. und New York 1987. 48 Es ist ein Zustand, den Ch~istian Sigrist "Regulierte Anarchie" nennt (Regulierte Anarchie, Frankfurt/M. 1979). Siehe dazu auch Heide Göttner-Abendroth, Das Matriarchat 1. Geschichte seiner Erforschung, Stuttgart u.a. 1988, S. 56ff. A. lrving Hallowell (Ojibwa ontology, behavior, and world view, in: Diamond (Hrsg.) (FN 9), S. 49-82) weist überdies darauf hin, daß, sofern überhaupt eine gewisse Machtabstufung vorkommt, nicht-menschliche Personen die höchsten Positionen einnehmen, und daß von Menschen ungewöhnliche Macht nur unter Mithilfe von solchen nicht-menschlichen Personen erlangt werden kann. 49 Zur feudalen Klassengesellschaft des Mittelalters siehe Georges Duby, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt/M. 1986. 50 So beschrieb Johannes von Salisbury in der Mitte des 12. Jahrhunderts das Gemeinwesen als eine "Person im großen". Diese wird von der Vernunft in Gestalt des Fürsten geleitet,

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Nach der im Zuge der bürgerlichen Revolutionen erfolgten Auflösung der Herrschaftsverhältnisse setzt sich das atomistische Weltbild, dem sich die Wissenschaft in der Zwischenzeit längst verschrieben hat, nun auch bis in die gesellschaftliche Realität durch. Es kommt zur Ausbildung demokratischer Staatsformen in verschiedenen Ausprägungen. Daß das Individuum nun gegenüber dem gemeinschaftlichen Ganzen immer wichtiger wird, zeigt sich im liberalen Gedankengut von individueller Freiheit und individuellen Rechten. Am extremsten äußert sich der Atomismus in der ökonomischen Auffassung des Marktgeschehens, das jeder Person erlaubt, sich nur gerade an den eigenen Interessen auszurichten, wonach dann eine "unsichtbare Hand" mirakulöserweise für ein Gesamtwohl sorgt. Von einer zukünftigen ökologischen Gesellschaft zu reden, hat natürlich einen spekulativen Charakter; es ist zum Teil Forderung, zum Teil Hoffnung. 51 Eine solche Gesellschaft sollte einen Ausgleich zwischen dem Individuellen und dem Gemeinschaftlichen bewerkstelligen und ein Gegengewicht zum heute übermächtigen - wirtschaftlich bedingten - Zwang zur Globalisierung bilden können, um ein Weiterbestehen von sowohl biologischer wie auch kultureller Vielfalt zu gewährleisten. Dies scheint nur realisierbar auf der Grundlage einer starken Dezentralisierung politischer und einer ausgeprägten Regionalisierung ökonomischer Strukturen, was zu einer Lebensweise führen würde, bei der die direkte Begegnung zwischen Menschen und zwischen Mensch und Natur die jetzt herrschende Anonymität und Entfremdung wenigstens teilweise überwinden könnte. 52 III. Holismus versus Atomismus: Zwei Weltbilder im Widerstreit

Nun wollen wir die zwei Weltbilder, die in Figur 1 und Tabelle 1 mit bund c bezeichnet worden sind, miteinander vergleichen. Wir haben schon eine Gegenläufigkeit notiert; anhand von Figur 1 können wir nun sehen, daß sich diese auf das hierarchische Verhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Teilen bezieht: Im Fall b hat das Ganze den Vorrang vor den Teilen, womit eine kausale Wirkung von oben nach unten postuliert wird (und umgekehrt ein maßnehmender Blick von unten nach oben), während im Fall c sich umgekehrt das Ganze aus den Teilen ableitet, womit eine Kausalitätsrichtung von unten nach oben läuft (und ein "maßloser" der mit dem Klerus zusammen auch gleich die Seele bildet, während Bauern, Handwerker und Dienstleute den Füßen entsprechen (Carolyn Merchant, Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München 1987, S. 83). 51 Es stellt sich hier wieder die Frage, was an der Kulturgeschichte folgerichtig ist, also gewissermaßen autonom passiert, und was von unserem Zutun abhängig ist. Wenn die oben geäußerte Vermutung stimmt, daß wir heute vor dem Scherbenhaufen einer Fehlentwicklung stehen, kommt ohne Zweifel dem letzteren eine entscheidende Bedeutung zu. 52 Vgl. dazu z. B. Murray Bookchin, Toward an Ecological Society, Montreal/Buffalo 1988, und Ame Naess, Ecology, Community and Lifestyle, translated and edited by David Rothenberg, Cambridge/New York 1993, besonders S. 141 ff.

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Blick von oben nach unten). Es ist deshalb naheliegend, Weltbild b als ,,holistisch"S3, Weltbild c als "atomistisch"s4 zu bezeichnen. Der metaphorische Zusatz "organismisch" beim ersteren weist auf die Vorstellung hin, daß bei einem Lebewesen das Verhalten der Teile sich auf das Wohl des Ganzen ausrichtet. Wir haben es mit einer regulativen Hierarchie zu tun. Im Gegensatz dazu deutet der Zusatz "mechanistisch" auf die Metapher einer Maschine, die dann richtig funktioniert, wenn sie aus Teilen adäquat aufgebaut ist; die Hierarchie hat einen konstitutiven Charakter. Sofern wir uns einen Organisationsplan vorstellen, besteht der entscheidende Unterschied zwischen Organismus und Maschine darin, daß er im ersten Fall intern, im zweiten Fall extern angesiedelt ist.

Ganzes

Geist

Zwecke

Werte

Teile

Materie

Ursachen

Fakten

Figur 2: Einige Gegensatzpaare zur vergleichenden Charakterisierung des holistischorganismischen und des atomistisch-mechanistischen Weltbildes

Das holistisch-organismische Weltbild stellt eine wesentliche kulturelle Grundlage der politischen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters dar, während das atomistisch-mechanistische Weltbild zur dominierenden Metapher der neuzeitlichen Entwicklung zur ökonomischen Gesellschaft wird. Dabei ist mit dieser zeitlichen Abfolge zwar die Regel, aber keine Ausschliesslichkeit behauptet. In beiden 53 Es lohnt sich, auf die oft unterschiedliche Verwendung des Begriffes "holistisch" hinzuweisen. Ich betrachte seinen Gebrauch nur im Zusammenhang mit dem eigentlichen Holismus des Weltbildes der Art (b), bei dem eben das Ganze den Vorrang vor den Teilen hat, als gerechtfertigt. Wenn er im Rahmen des Weltbildes der Art (c) auftaucht, ist an systemtheoretische Ansätze gedacht, bei denen aus der Verknüpfung von Teilen ein "Ganzes" aufgebaut wird. Dies entspricht ganz klar immer noch einer atomistischen Sichtweise, und hier von holistisch zu sprechen, ist damit irreführend. Auch beim Weltbild der Art (d) sollte von der Verwendung des Begriffes abgesehen werden, da sein Charakteristikum ja gerade darin besteht, daß mittels einer Wechselseitigkeit die Einbahnstraße vom Ganzen zu den Teilen oder umgekehrt überwunden wird (vergleiche dazu Dieter Steiner, "Wissenschaft mit Liebe" als transwissenschaftliche Ganzheitlichkeit, in: Christian Thomas (Hrsg.), "Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick". Der Aspekt Ganzheit in den Wissenschaften, Zürich 1992, S. 273-279). 54 Dieses Weltbild ist atomistisch im buchstäblichen Sinne, wenn der Aufbau der Welt auf letzte materielle Bausteine zurückgeführt wird. Im allgemeinen ist damit aber einfach gemeint, daß immer ein Niveau von Teilen Ausgangspunkt der Betrachtung ist.

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Phasen der kulturellen Evolution traten Subkulturen auf, die gegenläufige Abweichungen vertreten. Zum Beispiel gab es schon atomistische Vorstellungen bei den alten Griechen,55 und umgekehrt wurden in der Neuzeit immer wieder auch holistische Ansätze vertreten. 56 Ganz allgemein haben sich die Geisteswissenschaften mit dem neuzeitlichen Weltbild nie ganz identifizieren mögen, und sie haben sich in ihrer Zugangsweise zu den Objekten ihrer Untersuchung immer wieder so sehr von den Naturwissenschaften unterschieden, daß Charles P. Snow bekanntlicherweise die Existenz von "zwei Kulturen" diagnostizieren konnte. 57 Jedenfalls : Trotz aller zeitweisen Dominanz des einen oder des andern Weltbildes scheint es auch berechtigt zu sein, von einem Widerstreit der beiden zu reden. Die in Figur 2 gezeigte Gegenüberstellung von Begriffen, die einerseits zur Ebene des Ganzen, andererseits zur Ebene der Teile gehören, soll in einfacher Weise die Gegensätzlichkeit gewisser Grundprinzipien bei den beiden Weltbildern illustrieren. Betrachten wir zuerst das Begriffspaar Geist und Materie. Das holistische Weltbild, das ja die Dinge von oben nach unten erklärt, geht vom Primat gewisser geistiger Prinzipien aus; eine Philosophie, die auf solcher Grundlage aufbaut, wird einer idealistischen Haltung zuneigen. Man kann sich auch vorstellen, daß die Welt insgesamt als eine Art von intelligentem Organismus aufgefaßt wird. Paradigmatischen Charakter haben die Vorstellungen von Platon (427-347 v.u.Z.) für die Zeit 55 Leukipp und sein Schüler Demokrit (ca. 470-360 v.u.Z.) waren der Auffassung, die Erscheinungen dieser Welt (auch menschliche Körper und Seelen) seien nach einem Baukastenprinzip aus winzigen, unteilbaren, unvergänglichen und unveränderlichen Körperchen zusammengesetzt. Sie trafen auch schon eine Unterscheidung zwischen wirklichen und scheinbaren Eigenschaften der Dinge, eine Unterscheidung, die später mit der Rede von primären versus sekundären Eigenschaften wieder auftaucht (Hans Joachim Störig, Weltgeschichte der Philosophie, Zürich 1985, S. 140-141). 56 Als Beispiele seien genannt: a) im Bereich der Philosophie erstens die Zeit des Deutschen Idealismus mit Fichte (1762-1814), Hegel (1770-1831) und Schelling (1775-1854) (siehe z. B. Störig (FN 55), S. 438 ff.) und zweitens die Naturphilosophie von Adolf MeyerAbich (1893-1971) (siehe Klaus Michael Meyer-Abich, Philosophie der Ganzheit, in: Thomas (Hrsg.) (FN 53), S. 205-223); b) im Bereich der Biologie, einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich nie durchgehend mit dem atomistischen Denken befreunden konnte, die Auffassungen von Goethe (1749-1832) (siehe z. B. Konrad Dietifelbinger, Vorwort, in: Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Biologie, hrsg. von Konrad Dietzfelbinger, München/Wien 1982, S. 9-40), von Hans Driesch (1867-1941) (siehe z. B. Gordon Rattray Taylor, Das Wissen vom Leben. Eine Bildgeschichte der Biologie, Zürich 1963, S. 255 ff.) und von Jakob von Uexküll (1864-1944) (siehe Jakob von Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/M. u.a. 1980). 57 Charles P. Snow, The 1\\'0 Cultures, Cambridge 1993 (erstmals publiziert 1959). Genauer genommen redete Snow von den ..scientists" einerseits und den ..literary intellectuals" andererseits (S. 4). Mit den ersteren meinte er klarerweise die NaturwissenchaftlerInnen, während er bei den letzteren ursprünglich eigentlich an nicht-akademische literarische Personen dachte. In gewisser Erweiterung der Snowschen Gedanken darf man aber wohl beim Bereich der ..Literatur" das einschließen, was an den angelsächsischen Hochschulen als ..humanities" bekannt ist (vgl. Stefan Collini, Introduction, in: Snow, The Two Cultures, S. li). Später hat dann Snow in den Sozialwissenschaften noch eine ..dritte Kultur" identifziert (Snow, The 1\\'0 Cultures: A Second Look (1963), in: ders., The Two Cultures, S. 70).

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des klassischen Griechenlands und diejenigen von Thomas von Aquin (1225(7)1274) für das scholastische Denken des späteren Mittelalters. Für Platon ist im Kosmos ein Reich ewiger und perfekter Ideen vorgegeben, die mit Hilfe einer göttlichen Figur oder einer Weltseele im Bereich der vergänglichen Materie ihre unvollkommene Abbildung finden. 58 Für Thomas gibt es auch eine vernünftige, gesetzmäßige Weltordnung. Ihr übergeordnet ist aber ein Reich der übernatürlichen Wahrheit, in dem die Geheimnisse des christlichen Glaubens angesiedelt sind. 59 Das holistische Denken hat einen rational-spekulativen Charakter, das der Religion noch nahesteht. Zwar will es sich bei den alten Griechen gerade von ihrer Bevormundung befreien,6o geht dann aber im Mittelalter eine Synthese mit dem christlichen Glauben ein. Schon vor der Zeit von Thomas machen sich aber die ersten Anzeichen einer Aufweichung der Dominanz des holistischen Weltbildes bemerkbar. Im 11. Jahrhundert findet der sog. Universalienstreit statt, bei dem zwei Positionen einander gegenüber stehen: 61 Die sog. ,,realistische", die behauptet, dem Allgemeinen komme vor dem Besonderen eine reale Existenz zu ("universalia ante res", wie dies etwa auf die platonischen Ideen zutrifft), und die sog. "nominalistische", die die Auffassung vertritt, dieses entstehe einfach durch eine Verallgemeinerung von Beobachtungen als bloße Namen in unserem Kopf ("universalia post res"), eine Vorstellung, die dann im neuen atomistisch-mechanistischen Weltbild zur Selbstverständlichkeit wird. In diesem Weltbild wird das spekulativ-rationale durch ein empirisch-rationales Denken ersetzt. Ziel ist seine Befreiung von allen metaphysischen Vorgaben, was eben durch die Erklärung der Welt von unten nach oben möglich werden soll. In einer Übergangsphase wird zwar, z. B. bei Descartes (15961650) und Newton (1643-1727), noch ein Gott als erster Beweger postuliert, aber eben nur als das. 62 Dies macht es in der Folge möglich, die Welt als Maschine zu sehen, die, einmal in Bewegung gesetzt, gesetzmäßig abläuft,63 und wenn man sich Störig (FN 55), S. 161-164. Störig (FN 55), S. 253-255. 60 Im übrigen war ja die griechische Philosophie eine Elite-Beschäftigung, und das Religiöse sonst im Alltagsleben noch sehr präsent. Dies kommt auch in den Schriften Platons noch zum Ausdruck. Z.B. beginnt "Der Staat" mit dem Satz: "Ich ging gestern mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, zum Peiraieus hinab, um zu der Göttin zu beten, ... " (Platon, Der Staat, Zürich 1973, S. 67). 61 Störig (FN 55), S. 237-242. 62 Genauer gesagt hatte allerdings schon Newton beobachtet, daß die Bahnen gewisser Planeten gegenüber seiner Modellvorstellung allmähliche Abweichungen aufwiesen (die, wie man später erkannte, mit Störungen durch die gegenseitigen Anziehungskräfte zu tun haben). Er nahm deshalb an, daß Gott ab und zu eingreifen und die Dinge wieder in Ordnung bringen müßte, eine Annahme, die von Roman U. Sexl (Was die Welt zusammenhält. Physik auf der Suche nach dem Bauplan der Natur, Zürich 1984, S. 48 ff.) mit "Gott als kosmischer Gastarbeiter" glossiert wird. 63 Hans Jonas (Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 54, Fußnote) weist ausdrücklich auf die Parallele der Teleologie der von Gott geschaffenen Welt und einer vom Menschen gemachten Maschine hin: " ... in ihrer Anord58

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schließlich in der Folge nur noch für die Gesetze interessiert, wird der göttliche Ingenieur endgültig überflüßig. Mit der Suche nach Naturgesetzen ist übrigens, wie Rupert Sheldrake betont, die Metaphysik keineswegs eliminiert. Denn diese Gesetze entsprechen einem genau so immateriellen und genau so transzendenten Prinzip wie etwa die platonischen Urbilder. 64 Mit dieser Entwicklung setzt die Ablösung der Wissenschaft von der Philosophie ein, so wie sich vorher diese von der Religion abzusetzen versuchte. Newtons Mechanik ist ein expliziter Versuch in dieser Richtung. Er postuliert einen absoluten Raum, in dem sich Partikel in Bewegung befinden. Diese verfügen über essentielle Eigenschaften, d. h. über Eigenschaften, die im Gegensatz zu zufälligen oder veränderlichen Merkmalen immer anwesend sind (wie z. B. Ort, Größe, Bewegung) und eben, unabhängig von ihrer Existenz im Weltsystem, das Wesen der Partikel ausmachen. Umgekehrt wird aber das Ganze, das Weltsystem durch diese Eigenschaften beeinflußt. 65 Z.B. ergibt sich daraus die gegenseitige Anziehung der Himmelskörper nach dem Gesetz der Schwerkraft. Wir haben also hier das grundlegende Beispiel für die im atomistischen Weltbild typische Auffassung, daß die Eigenschaften von Entitäten, die durch die Interaktion zwischen oder den Zusammenschluß von Teilen entstehen, die Qualität des Ganzen in epiphänomenaler Weise bestimmen. Das Ganze ist nicht mehr als die Summe der Teile, die Welt kann auf materialistischer Grundlage erklärt werden. 66 Das geht so weit, daß Descartes und andere eine Theorie der primären und der sekundären Eigenschaften ausarbeiten: Die primären Eigenschaften der Dinge sind die einzig wirklichen; sie sind identisch mit den schon genannten essentiellen Eigenschaften. Sekundäre Eigenschaften sind Wahrnehmungen unserer Sinnesorgane wie z. B. Farbe und Geruch, und sie gehören nicht wirklich zu den betreffenden Dingen, sondern sind gewissermaßen Einbildungen unseres Geistes. 67 Bei solchen Annahmen ist es folgerichtig, daß die Wissenschaft reduktionistisch vorgehen muß: Disziplinär gesprochen kann, so lautet dann die Behauptung, der Erklärungsgrad gesteigert werden, wenn die nung verkörpert sie eine Zweckursache, die ihren Konstrukteur leitete, aber ihr Funktionieren ist rein nach Wirkursachen, deren Operation im Plane vorgesehen war." 64 Rupert Sheldrake, Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, Bern u.a. 1990, S. 146 f. 65 Zur gleichen Zeit wie Newton vertrat Leibniz (1646-1716) eine gegenteilige, also holistische Auffassung, indem er einen Vorrang des Weltsystems postulierte, von dem aus dann auf die Beschaffenheit der Systemelemente geschloßen werden konnte. Eine ausführliche Diskussion der Newton-Leibniz-Kontroverse findet sich bei Gideon Freudenthal (Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Zur Genese der mechanistischen Natur- und Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1982), der im übrigen auf hintergründige Zusammenhänge mit den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen hinweist. 66 Dazu Alfred North Whitehead (Science and the Modern World, New York 1949, S. 49): "Having regard to this triumph, can we wonder that scientists placed their ultimate principles upon a materialistic basis, and thereafter ceased to worry about philosophy?" 67 Whitehead (FN 66), S. 55 ff. Für ihn ist dies ein Beispiel einer "fallacy of misplaced concreteness". Das, was als "wirklich" betrachtet wird, ist im Gegenteil nicht wirklich, sondern hoch abstrakt (S. 52).

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Soziologie auf die Psychologie, diese auf die Biologie, diese wiederum auf die Chemie, und diese letztlich auf die Physik zurückgeführt wird. 68 Die Welt des holistischen Zeitalters ist eine zweckhafte, sie hat einen teleologischen Charakter: Alles hat seine Bestimmung, alles hat seinen richtigen Ort. Im Sphärenmodell des Universums von Aristoteles ist die Welt in einen unveränderlichen Teil hinter und einen veränderlichen Teil vor dem Mond getrennt. In dieser letzteren, sublunaren Welt finden Veränderungen statt, weil die Dinge ihr Ziel noch nicht erreicht haben, die Ordnung noch nicht (oder nach einer Störung noch nicht wieder- ) hergestellt ist. Die Zweckursache, die "causa finalis", ist der wesentliche Ursprung allen Geschehens. Auch der Mensch trägt einen Zweck in sich, ein Wesen, das nach Verwirklichung drängt. Beim Umbruch zum atomistischen Weltbild bleibt, wie gesagt, für eine Weile noch ein ferner Gott, der die Welt als einmaligen Zweck setzt, aber danach verschwindet bis auf den Menschen, der einzig zweckorientiert handeln kann, alles Zweckhafte aus der Welt. "In den ... Naturwissenschaften wurde die Finalursache eliminiert und statt dessen der Zufall eingeführt. ,,69 Daß Dinge in Bewegung bzw. Veränderung sind, ergibt sich aus einer Wirkursache, der "causa efficiens".70 Mit andern Worten es entsteht das uns heute geläufige Verständnis von Kausalität als einer Folge von Ursache und Wirkung. Dieses Erklärungsschema ist auch zuständig für den Bereich des nicht-menschlichen Lebendigen, in dem der Alltagsverstand doch eigentlich einen zweckhaften Charakter ausmacht. Dieser ist aber nur scheinbar, so wird gesagt, etwas, das im nachhinein entstanden ist, und dieser Situation wird mit der Wortschöpfung "Teleonomie" (im Gegensatz zu "Teleologie") Rechnung getragen. 71 Außer beim 68 lnteressanterweise vertritt gerade der sonst nicht als "Vereinfacher" bekannte Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker (Die Einheit der Natur, München 1972) einen solchen Reduktionismus, indem er die "Einheit der Natur" in der "Einheit der Physik" postuliert. Aber er wehrt sich dagegen, daß ein physikalistischer Ansatz notgedrungen mit einem materialistischen Monismus gleichzusetzen wäre. Man könne Physik so verstehen, so von Weizsäcker, daß "die Substanz, das Eigentliche des Wirklichen, das uns begegnet, Geist ist. Denn es ist dann möglich, so zu formulieren, daß die Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können, was den Gesetzen' der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt, insofern er also auf empirisch entscheidbare Alternativen hin befragt werden kann und darauf antwortet" (S. 289). Umgekehrt wird in den holistischen Gegenströmungen dieses Jahrhunderts, z. B. bei fan Christiaan Smuts (1870-1950), die Physik als Spezialfall der "oberen" Disziplinen wie Psychologie und Biologie betrachtet (vgl. dazu Klaus Michael Meyer-Abich, Der Holismus im 20. Jahrhundert, in: Gernot Böhme (Hrsg.), Klassiker der Naturphilosophie, München 1989, S. 313-329). 69 Hans Primas, Umdenken in der Naturwissenschaft, in: GAlA I (1992), Nr. I, S. 13. 70 Bei Aristoteles findet sich neben der Gegenüberstellung von Zweck- und Wirkursache noch eine Unterscheidung von zwei weiteren gewissermaßen gegenläufigen Ursachen, nämlich der Formursache ("causa formalis") und der Materialursache ("causa materialis"). Die erstere kann als von oben nach unten und die letztere als von unten nach oben wirkend interpretiert werden (vgl. Rupert Riedl, Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens, Berlin/Hamburg 1985, S. 80ff.). 71 Dazu Peter B. Medawar und fean S. Medawar (Von Aristote1es bis Zufall. Ein philosophisches Wörterbuch der Biologie, München 1986, S. 304): "Die Telonomie ist nichts

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menschlichen Handeln kann die Wissenschaft mit der Idee von Zwecken nichts anfangen. 72 Im Zuge der gleichen Entwicklung trennen sich auch Werte und Fakten voneinander. Im alten Weltbild gehörten sie noch zusammen. Nicht nur ließen sich Tatsachen gemäß erkannter Werte einordnen, sondern die letzteren hatten auch eine normativ-handlungsanweisende Bedeutung. Im klassischen Griechenland bedeutete theoria Anschauung, ein Sich-Versenken in die Ästhetik des Universums, "eine denkende Betrachtung des ewig Seienden",73 was Einsichten im Hinblick aufpraktisches Handeln vermittelte. Im neuen Weltbild dagegen behauptet die Wissenschaft von sich selbst, daß sie wertfrei sei oder sein müsse. Werte kann man allenfalls zum Thema einer philosophischen Diskussion machen, oder aber es entsteht eine umgekehrte Beziehung in dem Sinne, daß sie sich aus Fakten ableiten lassen. So etwa argumentiert die neoklassische Ökonomie, die sich als eine Art Naturwissenschaft vorkommt und die moralische Dimension nicht nur ignoriert, sondern ihre Berücksichtigung aktiv ablehnt. 74 Dafür ist für sie ",Wert' zum einen eine vom Subjekt einem Objekt zugemessene Eigenschaft in quantifizierbarer Größe der Tauscheinheit, zum anderen der ,objektive' Gehalt einer Bezugsgröße, wie Arbeit oder Gold, in einem Gegenstand.,,75 So verwandelt sich die frühere "Sinn- und Ordnungsnatur" der Welt völlig in eine "Tatsachennatur" .76 Und inmitanderes als die Teleologie, nur daß sie von all deren Ansprüchen frei ist, kausale Erklärungen zu bieten, und ausschließlich darauf beschränkt ist, die Zwecke zu dokumentieren, die von biologischen Strukturen und Funktionen tatsächlich erfüllt werden." 72 Trotzdem, oder gerade deswegen, entdeckt Niklas Luhmann eine Gemeinsamkeit in der alten und der neuen Auffassung: "Im abendländischen Denken war es feste Lehrtradition, daß die rationale Wahl nur Wahl von Mitteln zu einern Zweck sein könne, nicht Wahl des Zweckes selbst ... Diese Auffassung wurde ursprünglich mit der Offenkundigkeit des Erstrebenswerten, also der Wahrheit von Zwecken begründet, die als solche nicht wählbar sei; später, gerade umgekehrt, mit der Wahrheitsunfähigkeit der Zwecke, die eine wissenschaftliche Begründung und in diesem Sinne eine Rationalität der Wahl ausschließe" (Zweckbegriff und Systernrationalität, Frankfurt/M. 1973, S. 11). 73 Gerhard Huber, Biostheoretikos und bios praktikos bei Aristoteles und Platon, in: Brian Vickers (Hrsg.), Arbeit, Muße, Meditation. Betrachtungen zur Vita activa und Vita contemplativa, Zürich 1985, S. 23. 74 Vgl. Amitai Etzioni, The Moral Dimension. Toward a New Economics, New York / London 1988, S. 12. An der Schwelle zu dieser Entwicklung stehen die Überlegungen von Adam Smith (1723-1790) in seinem Werk "Der Wohlstand der Nationen" (vgl. Hans-Peter Studer, Die Entwicklung des Wirtschaftsverständnisses von "primitven" Kulturen bis hin zur Neuzeit. Eine kritische Betrachtung mit Hinblick auf die heutige materialistische Gesellschaft und ihre Folgen für Mensch und Natur, Dissertation Nr. 1033, Hochschule St. Gallen, St. Gallen 1987, S. 79 ff.). Interessant ist, daß Smith ursprünglich Moralphilosoph war, und in einern früheren Buch mit dem Titel "Theorie der sittlichen Gefühle" durchaus noch eine holistische Ansicht vertrat, der zufolge wir von Natur aus ein Gefühl für Gerechtigkeit hätten. Die Betonung auf dem Wirken der Natur ist aber gleichzeitig die Wurzel einer Entwicklung, die später jegliche Art von Handeln als naturgemäß gerechtfertigt erscheinen läßt (vgl. Meyer-Abich (FN 56), S. 217 ff.). 75 Joachim Schütz, Über die Notwendigkeit von Normen in der ökonomischen Theorie, Regensburg 1990, S. 25.

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ten einer derartigen Welt, so meint Jacques Monod, weiß der Mensch endlich, "daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat."?? Kein Wunder, daß Alisdair MacIntyre unter diesen Umständen die Diagnose stellen kann, unsere Sprache der Moralität sei in einem Zustand gravierender Unordnung. 78 Daß die mit dem atomistischen Weltbild zusammenhängende "defiziente" Bewußtseinsform in Umweltzerstörung resultiert, darf uns nach dem Gesagten nicht allzu stark erstaunen. Daß dies aber auch bei der dem holistischen Weltbild zugehörigen "effizienten" Form der Fall ist, wenn auch in unvergleichlich viel minderem Maße, deutet auf ein Problem hin, das mit Weltbildern, die auf einseitigen Hierarchien aufbauen, unweigerlich verknüpft ist: Sowohl eine regulative wie auch eine konstitutive Hierarchie können Herrschaftsverhältnisse erzeugen, und wir wissen natürlich, daß diese auch tatsächlich bestanden haben bzw. noch bestehen. Was bedeutet dies hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses? In der regulativen Hierarchie des holistischen Weltbildes nimmt der Mensch eine Zwischen stellung zwischen oben und unten, zwischen Engeln und Tieren ein. Solange die Natur nun noch das Ganze des Kosmos ausmacht, also auch die dahinterliegenden geistigen oder göttlichen Kräfte umfasßt, kann der moralisch verantwortliche Mensch nicht anders, als daß er sich in das Ganze einzuordnen versucht. Es ist eine genuin holistische Situation: "Nur im Horizont dieses Ganzen können wir wissen, wer wir sind und wozu wir da sind. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern was um uns ist, ist das Maß unserer Menschlichkeit.,,?9 Je mehr sich aber das GeistigGöttliche aus der Welt entfernt und die Natur auf das Materielle reduziert wird, desto mehr kann der Mensch beginnen, beliebig mit diesem umzugehen. Wenn Bereiche der Realität, wie Eder sagt, nicht mehr zum Handlungsspielraum der Götter gehören, entstehen Freiräume, in denen neue kognitive Lernprozeße dem Men76 Comelia Klinger; Vorlesung "Frauenspezifische Wissenschafts- und Rationalitätsevaluation", ETH Zürich, Wintersemester 1994/95. 77 Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1979, S. 157. An anderer Stelle drückt Monod diesen Befund noch kraßer aus: "Es ist schon richtig, daß die Wissenschaft die Wertvorstellungen antastet. ... sie zerstört alle mythischen oder philosophischen Ontogenien, auf denen für die animistische Tradition ... die Werte, die Moral, die Pflichten, Rechte und Verbote beruhen sollten. Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, daß muß der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen" (S. 151). 78 Alisdair Maclntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, London 1985, S. 2. Walther Ch. Zimmerli (Vorwort, in: Hans-Peter Dürr/Walther eh. Zimmerli (Hrsg.), Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, Bem u.a. 1989, S. 9) seinerseits formuliert es so: "In dem Maße, in dem unser wissenschafltich-technisches Wissen über das, was ist, zunimmt, scheint unser moralisches Wissen über das, was sein soll, abzunehmen." 79 Meyer-Abich (FN 56), S. 216.

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schen neue Möglichkeiten eröffnen. 8o Nun ziehen sich ja schon bei den alten Griechen die Götter in die luftigen Höhen des Olymps zurück, und im christlichen Glauben entsteht die Vorstellung eines Gottes, der nicht mehr von dieser Welt ist. Eine Kontroverse, wie sie um die angemessene Interpretation des "dominium terrae" der Bibel81 entstanden ist, kann nur auf einem solchen Hintergrund verständlich werden. Wenn der Mensch nun Stellvertreter Gottes auf Erden ist, hat er den Auftrag, der Schöpfung Sorge zu tragen oder aber sich die Welt zu seinem Nutzen zu unterwerfen?82 Wie auch immer, die abendländische Zivilisation hat sich dominant in der letzteren Richtung entwickelt. Der Mensch macht sich zum Maß aller Dinge und übernimmt die Herrschaft. Dies gilt zunächst für einzelne Herrscher, die keine Hemmungen haben, ganze Wälder für den Tempel- oder Schiffsbau zu roden 83 oder, wie in den Zirkus spielen des alten Rom, zum Zwecke der Unterhaltung neben Menschen auch Tiere zu Tausenden abschlachten zu lassen. 84 Immer mehr werden aber auch die Untertanen dazu ermuntert oder gezwungen, an einer allgemeinen Ausbeutung teilzunehmen. So schildert David Attenborough die folgende Einstellung der alten Römer: "Sie waren der Ansicht, der Mensch könne die Natur nach Gutdünken benutzen und plündern ... ,,85 Andererseits wissen wir aber aus vielen ländlichen Gebieten, daß die auf eine Selbstversorgungswirtschaft angewiesenen BewohnerInnen auch fähig waren, nach kooperativen Regeln auf eine Art zu leben, die eine Übernutzung der Umwelt verhinderte. 86 Zur eigentlichen Demokratisierung der Umweltzerstörung kommt es letztlich erst in der Neuzeit. Eine solche wird ermöglicht durch das Zusammenwirken der nun zu Ende geführten Entzauberung der Welt und des Anbruchs des wissenschaftEder (FN 17), S. 154. "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erden und macht sie euch untertan" (Genesis I, Vers 28). 82 Die Auffassung, unser christlicher Hintergrund sei schuld an der ruinösen Ausbeutung der Erde durch den Menschen, ist in pointierter Form vor allem vom Historiker Lynn White (The roots of our ecological crisis, Science (1967), March 10, S. 1203-1207) vertreten worden. Für eine gegenläufige positive Interpretation siehe Odil Hannes Steck, Dominium Terrae. Zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung in Genesis I, in: Fritz Stolz (Hrsg.), Religiöse Wahrnehmung der Welt, Zürich 1988, S. 89-105. 83 Siehe dazu z. B. Robert Pogue Harrison (Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur, München 1992) mit seiner Schilderung des sumerischen Epos von Gilgamesch, der einen Zedemwald kahl schlägt (S. 29 ff.) und seiner Beschreibung der Entwaldung in der Antike (S. 73 ff.). 84 Ein Beispiel: "Bei der Einweihung des Kolosseums allein sollen 9000 Tiere getötet worden sein" (Emest Bornemann, Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems, Frankfurt/M. 1984, S. 465). 85 David Attenborough, Das erste Eden ... oder das verschenkte Paradies: Der MitteImeerraum und der Mensch, Hamburg 1988, S. 114. 86 Siehe z. B. Wemer Bätzing (Ökologische Labilität und Stabilität der alpinen Kulturlandschaft. Traditionelle Lösungen, heutige Probleme und Perspektiven für die Zukunft, Fachbeitrag zum Schweizerischen MAB-Programm Nr. 27, Geographisches Institut, Universität Bem, Bem 1988) für das Gebiet der Alpen. 80

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lich-technisch-wirtschaftlichen Zeitalters, was nun allen einen ungehinderten instrumentellen Zugriff auf die Umwelt erlaubt. Wenn schon nichts mehr Natürliches und nichts mehr Göttliches da ist, das Zwecke setzen könnte, fühlt sich der Mensch aufgerufen, diese Rolle zu übernehmen. Maschinendenken im Rahmen des atomistisch- mechanistischen Weltbildes heißt auch Kontrolldenken nach der Fasson des Ingenieurs. Und dies beschränkt sich nicht auf den Umgang mit dem Unbelebten. Die beiden Batesons sehen ein grundlegendes Übel in der Entwicklung der Wissenschaftssprache zu einer formalistischen Dingsprache, die für die Beschreibung der unbelebten Welt angemessen sein möge, aber im Bereich der belebten Welt auf alle Fälle zur Fehlinterpretation und zum Mißbrauch von sowohl einzelnen Lebewesen (der Mensch inbegriffen) wie auch von Ökosystemen führe. 87 Warum die "Technik als Natur des westlichen Geistes .. 88 auftritt, können wir historisch zur Renaissance zurückverfolgen, zu einer Zeit, in der sich das Verstandesmäßige mit dem Handgreiflichen zu verbünden beginnt. Sowohl Leonardo da Vinci (14521519) wie auch Galilei (1564-1642) interessierten sich für eine Verbindung von Wissenschaft mit Handwerk bzw. Technik,89 und Francis Bacon (1561-1626) plädierte dafür, die Natur mittels des Experimentes auf die Folter zu spannen. 90 Nicht mehr das nicht-manipulativ Beobachtbare, sondern das Machbare rückt in den Vordergrund. Das atomistische Weltbild erfordert eigentlich, daß auch das Phänomen Mensch auf naturwissenschaftliche Grundtatsachen rückführbar ist. Andererseits ist derselbe Mensch damit beschäftigt, mit Hilfe des wissenschaftlichen Verfügungswissens diese Natur völlig umzukrempeln. Ist der Mensch nun Teil der Natur oder nicht? Die cartesianische Spaltung suggeriert, daß dies nicht der Fall iSt. 91 Andererseits scheint aber die Evolutionstheorie doch in überzeugender Weise zeigen zu können, daß der Werdegang des Menschen in die Natur zurückverfolgt werden kann. Aber wenn dem so ist: Wir tun so, als ob uns dies weiter nichts anginge. Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft betrachten die Umwelt als ihre Werkstatt in einer Weise, die den uns verwandten Lebewesen in beschleunigtem Maße den Garaus macht, derweil die Philosophie sich darüber Sorgen macht, welche Rolle die Sprache bei der Welterklärung oder allenfalls für die menschliche Kommunikation Bateson und Bateson (FN 4), S. 19l. Walther eh. Zimmerli, Technik als Natur des westlichen Geistes, in: Hans-Peter Dürr / Walther eh. Zimmerli (Hrsg.) (FN 78), S. 389-409. 89 Vgl. Jürgen Mittelstraß für Leonardo (Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/M. 1992) und Johannes Hemleben für Galilei (Galilei in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1969). 90 Siehe z. B. Michael Heidelberger/Sigrun Thießen, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 159 ff. 91 Dazu Thomas Luckmann (Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderbom u.a. 1980, S. 21): "Descartes zögerte nicht, das bedauernswerte Getier sowie den menschlichen Körper den eisigen Winden auszusetzen, die durch das neue Universum fegten. Nicht jedoch die Seele." 87 88

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spielt; sie "schweigt immer mehr ... zu den drängendsten Einzelfragen der Zeit,,,92 wie z. B. zur ökologischen Problematik. 93 Wie schon früher angetönt, ist es uns mittlerweile bewußt, daß unsere Wissenschaft, mit der wir einst hofften, zur absoluten Wahrheit vorstoßen zu können, eine abstrakte Konstruktion ist, und zwar umso mehr, je mathematisierter eine wissenschaftliche Disziplin ist. Es stimmt natürlich, daß diese Art von Wissenschaft eine Praxis anleiten kann, die in einem engen Rahmen betrachtet sehr erfolgreich ist. Der Erfolg muß aber immer mit einem Verzicht auf die Beachtung größerer Zusammenhänge erkauft werden. Und je größer der Maßstab, in dem Technik betrieben wird, desto wahrscheinlicher wird es, daß dieser Verzicht gravierende Folgen haben kann. 94 Die Wissenschaft kann nur Teilwahrheiten liefern, eine Tatsache, die uns im Zeitalter der Umweltzerstörung als besonders schmerzvoll berühren muß. 95

IV. Überwindung der Gegensätze: Archaisches in Vergangenheit und Zukunft Wenn sich zwei gegenläufige Vorstellungen gegenüber stehen, so wie dies bei den zwei eben besprochenen Weltbildern der Fall ist, läßt sich vermuten, daß wir es beiderseits mit einseitigen Sichtweisen zu tun haben, und es stellt sich die Frage, ob eine Integration denkbar ist. Tatsächlich ist dies hier der Fall: Die konstitutive und die regulative Sichtweise lassen sich so verbinden, daß die Linearität der HierHösle (FN 2), S. 18. Natürlich gibt es da Ausnahmen wie z. B. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1984; Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 1991; Henryk Skolimowski, Öko-Philosophie. Entwurf für neue Lebensstrategien, Karlsruhe 1988; Gemot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/M. 1989, um nur einige zu nennen. Aber das Mensch-Umwelt-Verhältnis ist sicher nicht ein zentrales Thema der heutigen Philosophie. 94 Z. B. können wir schon länger Flugzeuge bauen, die wirklich fliegen. Es wird uns aber erst jetzt bewußt, daß Flugzeuge diejenigen Transportmittel sind, die pro Distanzeinheit und pro Kopf am meisten zur Luftverschmutzung und damit auch zum Treibhauseffekt beitragen. 95 Klaus Michael Meyer-Abich (Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung, München 1988) bringt es folgendermaßen auf den Punkt. Einerseits: "Das einzigartig Faszinierende ... an der Wissenschaft ist die Entdeckung, manches so sicher wissen zu können, daß sich darüber keinerlei Streit lohnt, also die Gewißheit der wissenschaftlichen Wahrheit" (S. 44). Und andererseits: "Die Wissenschaft handelt von ihrem Gegenstand so, wie sie ihn behandelt. Erkannt wird nicht schlechthin, wie der Gegenstand ist, sondern wie er sich verhält, wenn wir in bestimmter Weise mit ihm umgehen" (S. 66). Skolimowski (FN 93, S. 89) drückt es kurz und bündig so aus: "Der ,Realismus' unseres heutigen Denkens ist hoffnungslos unrealistisch." Und Picht (Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Vorlesungsmanuskript, Universität Heidelberg, Wintersemester 1973174, zitiert nach Meyer-Abich, S. 80) meint: "Eine Erkenntnis, die sich dadurch bezeugt, daß sie das, was erkannt werden soll, vernichtet, kann nicht wahr sein." 92

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archie in der einen oder andern Richtung zugunsten einer Dualität überwunden wird. Ein neues Weltbild, das diese Überwindung leistet, scheint im Entstehen begriffen zu sein; Anzeichen dafür gibt es schon länger. So hat Jean Gebser schon 1943 in seinem Buch "Abendländische Wandlung",96 also 40 Jahre vor Fritjof Capras "Wendezeit",97 einen Wandel angekündigt. Er sieht in den Philosophien von Spinoza (1632-1677) und Leibniz (1646-1716) bereits Vorläufer und sichtet im übrigen ernsthafte Spuren der Veränderung ab dem Jahr 1900, so etwa in der Relativitäts- und auch der Quantentheorie. So wie ich es sehe, hat das neue Weltbild das Potential, uns Anleitung zur Rückgewinnung eines gewissen Maßes an archaischer Lebensqualität zu geben. 98 Dies ist deshalb von Belang, weil archaische Weltbilder und damit verbundene Lebensweisen offenbar in einem umfassenden Sinne ökologisch verträglich waren, und weil wir heute ja vor die Frage gestellt sind, wie wir zum Ende unseres gegenwärtigen ökologischen Vernichtungsfeldzugs kommen. Mit der angesprochenen Rückgewinnung ist aber natürlich nicht eine Rückkehr zu einer wirklich archaischen Lebensweise gemeint. Das wäre schon deshalb unmöglich, weil wir unseren damaligen Bewußtseinszustand schon längst hinter uns gelassen haben. Was damit gemeint ist, versuche ich im folgenden zu erläutern. Zunächst aber beginne ich mit einer Schilderung des archaischen Welt-· bildes. Die archaische Welt ist nicht-hierarchisch und damit auch richtungslos. Es gibt also keine eindeutigen Vorstellungen von Teilen gegenüber einem Ganzen. Insofern Unterscheidungen dieser Art überhaupt gemacht werden, kann ein einzelner Teil für das Ganze stehen (pars pro toto) und umgekehrt. Ansonsten wird die Welt als aus vielfältigen Einzelheiten bestehend wahrgenommen,99 die alle auf gleicher Stufe stehen, fast beliebig vertauschbar sind und auch alle miteinander in Beziehung stehen können, und zwar auch dort, wo nach unserem Verständnis keine kausal interpretierbare Verbindung besteht. 100 In der magischen Welt haben die Einzelheiten eher einen unpersönlichen,101 in der mythischen Welt dagegen einen personalistischen Charakter: Hier begegnet das erwachende Ich des Menschen einem

Gebser (FN 8). Fritjoj Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bem u.a. 1983. 98 Auch Gordon Rattray Taylor (Das Experiment Glück. Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft, Zürich 1974, S. 234) verfolgt einen ähnlichen Gedanken mit seiner Idee der "paraprimitiven Gesellschaft", womit er meint, "daß wir ... versuchen sollten, innerhalb unserer technologischen Gesellschaft den strukturierten Charakter der präindustriellen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad wiederherzustellen. " 99 Gebser (FN 12, S. 80) redet davon, daß das Bezugssystem "diese ... punktartig voneinander geeinzelten Gegenstände, Geschehnisse oder Taten" seien. 100 Beispiel: "From the Navaho viewpoint everything is related to everything else" (Clyde Kluckhohn, Navaho categories, in: Diamond (Hrsg.) (FN 9), S. 108). Eder redet von "präkausalem Denken" (FN 17, S. 52). 101 Für Kräfte dieser Art hat sich in der Ethnologie die Gattungsbezeichnung ,,Mana" eingebürgert, ein Begriff, der aus dem Melanesischen stammt (vgl. Heiler, FN 31, S. 50ff.). 96

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"Du" in den Erscheinungen der Umwelt, und zwar gehören dazu nicht nur andere Lebewesen, sondern auch Berge, Flüße, Winde, Regen, Gestirne USW. 102 Es wird auch keine scharfe Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen gezogen, auch nicht zwischen Mensch und Tier, denn es sind Metamorphosen möglich. Angenommene engere Verwandtschaften zwischen Mensch und Tieren oder auch Pflanzen drücken sich in totemistischen Verbindungen aus und diese können sich als rigorose Verbote der Tötung und des Verzehrs der betreffenden Lebewesen auswirken. Zwischen "natürlich" und "übernatürlich" gibt es keine Grenze 103 und die menschliche Kultur wird in Analogie zur Natur gesehen. 104

In der Tatsache, daß die Außenwelt als von zweckhaften Kräften, ob personifiziert oder nicht, belebt gesehen wird, sieht Dux das Resultat der immer wiederholten ersten ontogenetischen Erfahrung von Kindern: "Für das Kleinkind ist die Mutter die Natur. Als das schlechthin dominante Objekt im Aktionsfeld des Neugeborenen bildet sie deshalb das quasi natürliche Objekt, an dem sich die kategoriale Objektform ausbilden kann und muß.,,105 Da die Mutter aber als handlungsfähiges Objekt, als "Subjekt-Objekt" wahrgenommen wird, entsteht ein subjektivisches Schema der Interpretation der Außenwelt. Wenn diese Interpretation stimmt, dann würde dies heißen, daß eine Bewußtseinsstruktur sich nur auf Grund von Außenerfahrungen konstitutiert. Dies wäre entgegen der Auffassung von Piaget, wonach eine solche durch eine Wechselwirkung zwischen Innen und Außen zustandekommt. Sicher aber ist: Ein Leben in einem archaischen Weltbild bedeutet, daß der Außenwelt respekt-, rücksichts- und pietätsvoll begegnet wird. 106 Menschen nehmen sich als in ein numinoses Kräftefeld eingewoben wahr und sie versuchen, durch ein möglichst gutes Einfügen in das Geschehen diesem gerade dadurch eine günstige Richtung zu geben bzw. eine gegebene Weltordnung zu unterstützen oder

102 Z. B. beschreibt Kluckhohn (FN 100, S. 104 f.), wie den Navaho fast alles personalisiert erscheint. 103 Eigentlich sollte der Ausdruck "übernatürlich" gar nicht verwendet werden, da in einem archaischen Weltbild alles als natürlich erscheint (Hallo weil, FN 48, S. 58). 104 Eder (FN 17, 152f.) spricht von der "konkretistischen Verknüpfung von Realitätsbereichen" bzw von einer "analogischen Isomorphie". 105 Dux (FN 13), S. 93. Mit diesem Bezug auf die kleinkindliehe Erfahrung meint Dux aber nicht, daß die kognitiven Systeme archaischer Gesellschaften einfach mit denen von Kindern, in welcher Gesellschaft auch immer, identisch sind, aber doch, daß "der Prozeß der Ausbildung des Wissens ... immer von der kulturellen Nullage des Organismus aus beginnt" (S. 106) und dies auch der Ausgangspunkt für die Entstehung von Kultur bei den archaischen Völkern war. 106 Vgl. Dux (FN 13), S. 260. Hinsichtlich des Weltbildes der Ojibwa sagt z. B. HalloweIl (FN 48, S. 76): " ... the same standards which apply to mutual obligations between human beings are likewise implied in the reciprocal relations between human and other-than-human ,persons'." Wenn Tiere für den eigenen Lebensunterhalt erlegt werden mußten, entschuldigte man sich bei ihnen: "So far as animals are concerned, when bears were sought out in their dens in the spring they were addressed, asked to come out so that they could be killed, and an apology was offered to them" (S. 25).

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auch eine gestörte Ordnung wiederherzustellen. 107 Dies geschieht durch rituelle Praktiken. Das Sollen von Nonnen wird damit mit dem Sein einer natürlichen Ordnung identifiziert. 108 Die erwähnte Richtungslosigkeit bezieht sich auch auf die Dimensionen von Raum und Zeit. In einem gewissen Sinne leben archaische Menschen raum- und zeitlos, wenn auch (nach Gebser) der mythische Mensch bereits eine zeitnahe Existenz hat, die aber durch ein Leben in einer nicht-linearen, zyklisch angelegten Naturzeit zustandekommt. Sehr schön kommt dies in der Mythologie der matristisehen Gesellschaften zum Ausdruck: " ... der Jahreszeitenzyklus mit den Stadien Wachstum, Tod, Wiederkehr bestimmte das Denken. Im rituellen Bereich vollzogen die Oberpriesterin oder sakrale Königin und der sakrale König ... die typischen Jahreszeitenfeste, die mit den Zyklen der Vegetation übereinstimmten und diese magisch beeinflußten .... ,,109 Landwirtschaftliche Arbeit hatte zwar natürlich einen Nutzeneffekt, aber dies war schon fast eher ein Nebenprodukt: In erster Linie war sie heilig, ein Ding in sich selbst. llo Das Manipulative hielt sich damit in Grenzen, mindestens so lange wie die mythische Zeit durch weibliche Gottheiten geprägt war, die für das Lebensspendende und Lebensbewahrende standen. Das Stichwort "Leben" bietet einen ersten Anknüpfungspunkt für die Frage, was denn in einer zukünftigen ökologischen Gesellschaft archaische Qualität bedeuten soll. Eine solche Gesellschaft soll in ihrer geistigen Verfassung das Leben wieder in das Zentrum stellen. " ... wir haben erkannt," so sagt Henryk Skolimowski in einer Kritik der bisher in unserem Jahrhundert vorherrschenden Philosophie, "daß neu entstehende philosophische Probleme niemals linguistischer oder analytischer Natur sind. Sie sind Teil neu entstehender Lebensfonnen und verlangen daher nach Änderungen unserer Ontologie und Epistemologie, zusätzlich zu einem neuen begrifflichen Apparat."lll Und er fordert deshalb eine neue Philosophie, eine Öko107 Vgl. Eder (FN 17, S. 28f.). Dazu gehören noch zwei Anmerkungen. Erstens: Den Kräften der Außenwelt kommen nicht nur förderliche und nützliche Aspekte zu, sondern auch schädliche oder gar zerstörerische. Entsprechend gilt es, in diesem Fall unnötige Kontakte mit ihnen zu vermeiden, und es gibt im magischen Weltbild Orte und Dinge die "Tabu" sind (vgl. Heiler, FN 31, S. 50ff.). Zweitens: Der Versuch, die Kräfte zu beherrschen oder zu manipulieren, würde nicht mehr einem effizienten, sondern einem defizienten Umgang mit ihnen entsprechen. 108 Vgl. Eder(FN 17, S. 152). 109 Heide Gättner-Abendroth, Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythos, Märchen und Dichtung, München 1984, S. 13. Stanley Diamond (Introduction: The uses of the primitive, in: Diamond (Hrsg.) (FN 9), S. v) sagt dazu: "Primitives do not lack a general capacity to conceptualize development or change in form over time; their perceptions are not static .... But history to them is the recital of sacred meanings within a cyclic, as opposed to a lineal, perception of time." Zum Vergleich: In den mit der mentalen Bewußtseinsstufe verknüpften, in Kapitel 3 besprochenen Weltbildern erfährt die Vorstellung von Zeit und Raum eine zunehmend,e Linearisierung und Abstrahierung. 110 Vgl. Diamond (FN 109), S. viii. 111 Skolimowski (FN 93), S. 34.

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Philosophie, die sich am Leben orientiert, im Gegensatz zur modemen Philosophie, die sich an der Sprache orientiert. 112 Dies ist nicht nur von Bedeutung für unser Verständnis von der Welt, sondern auch auf handfesterer Ebene für die menschliche Kommunikation. In ihr können sprachliche Elemente nicht-formaler, nicht-logischer und nicht-argumentativer Art eine grundlegende Rolle spielen, abgesehen von nicht-verbalen Komponenten, die ebenso wichtig sein mögen. Maurice Stein weist auf die impliziten Bedeutungen mythischer Geschichten hin. Eine solche Geschichte kann uns mehr über menschliche Grenzen und Tragödien des menschlichen Sich-Übernehmens (engl. "over-reaching") sagen als viele Bücher über Ethik, so meint er. Dies ist möglich, weil sie primär nicht unsern Kopf, sondern unser Herz anspricht: "But it speaks first to the ear of the heart and only when that ear listens can the ear of the head hear what is being said."ll3 Und sie spricht unser Herz an, weil sie nicht in uns geläufiger wissenschaftlicher Weise mit der genauen Bedeutung von Wörtern operiert, sondern eine poetische Sprachform verwendet, bei der Zweideutigkeiten nicht nur zugelassen sind, sondern vielleicht sogar eine notwendige Funktion haben. 114 Wir haben anfangs davon gesprochen, daß das neue Weltbild auf einer dualen Hierarchie aufbaut. Dies bedeutet, daß weder das Ganze noch die Teile alleiniger Ausgangspunkt der Betrachtung sind, sondern daß die Beeinflußungen als in beiden Richtungen laufend aufgefaßt werden. In einem gewissen Sinn wird damit die Richtungslosigkeit der archaischen Welt wieder hergestellt, allerdings ohne die Differenzierung zwischen den verschiedenen Ebenen aufzugeben. Ich habe in diesem Zusammenhang etwa von "zirkulärer Kausalität" gesprochen,115 aber diese Vorstellung ist eigentlich eher irreführend, weil es doch nicht darum geht, daß abVgl. Skolimowski (FN 93), S. 37 ff. Maurice Stein, Anthropological perspectives on the modern community, in: Diamond (Hrsg.) (FN 9), S. 206. 114 Stein (FN 113, S. 204) zitiert in diesem Zusammenhang E.R. Leach: "Whereas we are trained to think scientifically, many primitive peoples are trained to think poetically. Because we are literate, we tend to credit words with exact meanings - dictionary meanings. Our whole education is designed to make language a precise scientific instrument. The ordinary speech of an educated man is expected to conform to the canons of prose rather than of poetry; ambiguity of statement is deplored. But in primitive society the reverse may be the case; a faculty for making and understanding ambiguous statements may even be cultivated." Mary Catherine Bateson (FN 29, S. 288) weist darauf hin, daß wir üblicherweise einen unvollständigen Zugang zur Komplexität haben, die wir selbst darstellen, und daß wir diesen Zugang mittels Poesie verbessern können: "One reason why poetry is important for finding out about the world is because in poetry a set of relationships get mapped onto a level of diversity in us that we don't ordinarily have access to." Und Gebser (FN 12, S. 108 ff.) erinnert daran, daß sich mythische Aussageformen durch eine ambivalente Polarität, eine Zweipoligkeit auszeichnen, während sich im mentalen Bewußtsein daraus eine Gegensätzlichkeit entwickelt. 115 Z. B. in Dieter Steiner, Human Ecology as Transdisciplinary Science and Science as Part of Human Ecology, in: Dieter Steiner I Markus Nauser (Hrsg.), Human Ecology - Fragments of Anti-Fragmentary Views of the World, London/New York 1993, S. 54: " ... causation takes on a circular form." 112

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wechslungsweise die Teile das Ganze und dann das Ganze die Teile beeinflußen (dies würde einem Dualismus oder einer Dialektik entsprechen 116), sondern daß beide kausalen Richtungen simultan aktiv sind. Arthur Koestler schildert die Situation so: "The members of a hierarchy, like the Roman god Janus, all have two faces looking in opposite directions: the face turned towards the subordinate levels is that of a self-contained whole; the face turned upward towards the apex, that of adependent part." 117 Allerdings ist wahrscheinlich auch diese Metapher nicht unbedingt adäquat. Es geht bei der dualen Betrachtungsweise weniger um die Entitäten, als vielmehr um die Relationen zwischen ihnen; wenn von einem Ausgangspunkt die Rede sein soll, dann müssen diese ihn darstellen. Entitäten bringen zwar von Haus aus gewisse Eigenschaften mit, werden aber zu dem, was sie schlußendlich sind, erst durch ein Zueinander-in-Beziehung-Treten. Gleichzeitig ergibt sich daraus etwas Übergeordnetes, das mehr als die Summe der Teile ist, ein Ganzes mit neuartigen (gegenüber den Teilen) emergenten Eigenschaften, die über ein rückwirkendes kausales Vermögen verfügen. Die re1ationale Grundlage des neuen Weltbildes äußert sich im Bereich der Wissenschaft in entsprechend orientierten Theorien. Ein gutes Beispiel aus der Soziologie ist die Theorie der Strukturation der Gesellschaft von Anthony Giddens. 118 Ein Mensch interagiert mit andern Menschen oder mit Elementen der biophysischen Umwelt so, daß seine Handlungen gleichzeitig übergeordnete Strukturen .(Regeln) reproduzieren. Im Bereich der Psychologie werden entsprechende Auffassungen als "transaktional" bezeichnet. 1l9 Wenn aber Oben und Unten sich gewissermaßen zu geschloßenen Systemen verbinden, wie kann es dann überhaupt zu Veränderungen kommen? Eine Antwort geben Irwin Altman und Barbara Rogoff aus dem Bereich der Psychologie: "The transactional view shifts from analysis of the causes of change to the idea that 116 Vgl. Roy Bhaskar; On the possibility of social scientific knowledge and the limits of naturalism, Journal for the Theory of Social Behaviour (1978), Nr. 8, S. 10-11. 117 Arthur Koestler, The Ghost in the Machine, London 1981, S. 48. Um diese Doppelnatur jeder Entität zu betonen, hat Koestler die Bezeichnung "holon" vorgeschlagen, abgeleitet vom griechischen holos = das Ganze, und mit der Endung on, die - wie in Proton oder Neutron - an einen Partikel erinnern soll (S. 48). 118 Giddens (FN 6). 119 Siehe dazu Irwin Altman und Barbara Rogoff, World views in psychology: Trait, interactionaI, organismic, and transactional perspectives, in: Daniel Stokols und lrwin Altman (Hrsg.), Handbook of Environmental Psychology, Bd. 1, New York 1987, S. 7-40, auch die Besprechung dieser Sichtweise in Peter Weichhart, How does the person fit into the human ecological triangle? From dualism to duality: the transactional worldview, in: Steiner und Nauser (Hrsg.) (FN 115), S. 77-98. Altman/Rogojf (S. 24) beschreiben die Situation so: "There are no separate actors in an event; instead there are acting relationships, such that the actions of one person can only be described and understood in relation to the actions of other persons, and in relation to the situation and temporal circumstances in which the actors are involved .... a transactional approach assurnes that the aspects of a system, that is, person and context, coexist and jointly define one another and contribute to the meaning and nature of a holistic event."

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change is inherent in the system.,,120 Beispielhaft illustriert mit dem Giddens'schen Modell der Strukturation heißt dies: In Strukturen handelnde Individuen reproduzieren dieselben nicht nur, sondern sie transformieren sie auch. Systeme schaffen ihre eigenen Regeln, sie sind selbstorganisierend. 121 Das Thema der Selbstorganisation hat heute bekanntlich Konjunktur. Wir können es als Ausdruck eines neuen Weltbildes betrachten, bzw. umgekehrt als einen grundlegenden Baustein für ein solches neues Weltbild auffassen. 122 Der Zusatz "evolutionär" in der Bezeichnung dieses Weltbildes deutet damit nicht nur an, daß "im Evolutionsschema die neue Rahmenerzählung,d23 gesehen wird, sondern auch, daß diese Evolution als selbstorganisierend aufgefaßt wird. 124 In mathematischer Formulierung erscheint das Thema in Form der nicht-linearen Systemtheorie mit Phänomenen wie dem des Chaos. Diese Theorie gründet wesentlich auf der vom physikalischen Chemiker 11ya Prigogine und MitarbeiterInnen entwickelten deterministischen Modellierung von chemischen Reaktionssystemen, die weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt sind (ein Fall von sog. dissipativen Strukturen),125 und der vom Physiker Hermann Haken geschaffenen stochastischen Beschreibung des kollektiven Verhaltens von Partikeln in Systemen mit forciertem Energieinput (wie von Photonen in einem Laser).126 Ein Moment der Erschütterung für das herkömmliche mechanistische Weltbild mit seinem Verlaß auf der Kontrollier- und Vorhersagbarkeit der Dinge entsteht aus der nicht-linearen Systemtheorie dadurch, daß sie genau diese Stütze entfernt; die Zukunft erscheint als völlig offen. Selbstorganisierende Systeme haben einen Grad von Autonomie, die Fähigkeit, sich Fremdeinflüßen in einem gewissen Maße zu entziehen. Dies wird besonders auffällig im Bereich der Biologie, in dem Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela die sog. Theorie der Autopoiese, der Selbstproduktion entwickelt haben, die sie als grundlegend für ein Verständnis von Lebewesen betrachten. 127 Altman/Rogojf(FN 119), S. 25. Sheldrake (FN 64, S. 25 ff.) spekuliert sogar über eine mögliche "Evolution der Naturgesetze". Mindestens aber kann man mit Meyer-Abich (FN 56, S. 209» sagen, daß "die Physik von der kruden Mechanik ... bis ... zu den Selbstorganisationstheorien sozusagen immer biologischer geworden ist." 122 Siehe dazu Erwin lantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München 1984. 123 Hans Poser, Gibt es eine Einheit der Wissenschaft? Zum Naturverständnis der Gegenwart, Information Philosophie 15 (1987), Heft 5, S. 16. 124 Zimmerli (FN 88) sagt: "Das Weltbild der Physik scheint gegenwärtig wieder abgelöst zu werden durch ein Weltbild der Metaphysik, genauer: der Naturmetaphysik. Pointiert formuliert: An die Stelle des Weltbildes der Physik tritt das Weltbild der Physis" (S. 389). Und: "Die Naturauffassung des ,Weltbildes der Physis' ist - daran kann gegenwärtig kein Zweifel bestehen - evolutionär" (S. 392). 125 Vgl. Gregoire Nicolis und Ilya Prigogine, Die Erforschung des Komplexen. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften, München 1987. 126 Vgl. Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, Stuttgart 1981. 120 121

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Die autopoietische Systemtheorie ist allerdings in nicht-mathematischer Weise formuliert. Das hat seine guten Gründe: Das Lebendige läßt sich nicht einfach in Formeln fassen. Und es ist auch zu sagen, daß eine mathematische Systemtheorie ungeachtet ihres Beitrags zu Konzepten der Selbstorganisations im Prinzip eine Fortsetzung eines alten Denkstils darstellt: Solche "Ansätze zur Untersuchung ,vernetzter Systeme' gehören durchaus noch zum reduktionistisch-mechanistischen Weltbild der klassischen Physik.,,128 Das Verhalten des ganzen Systems ist immer noch ableitbar aus dem Verhalten der Teile. Es braucht also ein Mehreres, und in welcher Richtung dies geht, können wir antönen, wenn wir die Frage von Zwecken wieder in die Diskussion bringen. Wir hatten ja gesehen, daß mit der Entstehung des neuzeitlichen Weltbildes die Natur "zwecklos" geworden war. Die Anwendung eines dualen Hierarchie-Denkens auf die Situation in Figur 2 müßte nun eigentlich bedeuten, daß sich Ursachen und Zwecke zusammenfinden können. Mit andern Worten, wir kommen, so wie ich es sehe, nicht darum herum, über die früher genannte Vorstellung von Teleonomie hinaus die Frage nach der Möglichkeit einer echten, immanenten Teleologie zu stellen. Und dabei könnte eine Vorstellung wie die einer aristotelischen Entelechie als einer zielstrebig wirkenden Kraft wieder aktuell werden. Entelechie bedeutet "etwas, das sein Ziel in sich selbst hat",129 und tatsächlich kann man sagen, daß diese aristotelische Auffassung im früher genannten Universalienstreit des Mittel alters eine mittlere, verbindende Position einnahm: Sie entsprach weder den "universalia ante res" (typisch für das holistischorganismische Weltbild), noch den "universalia post res" (bezeichnend für das atomistisch-mechanistische Weltbild), sondern wurde mit "universalia in rebus" passend umschrieben. Das Allgemeine ist hier schon in den Dingen drin und verwirklicht sich in ihnen. Umgekehrt müßte eine Beibehaltung der neuzeitlichen Behauptung, "daß Endursachen zur Natur des Menschen und nicht des Universums gehören," eine Fortsetzung der Annahme einer "Grunddifferenz des Seins zwischen beiden" bedeuten, 130 etwas, das wir doch gerade überwinden möchten. Eine derartige Überwindung könnte mit der teilweisen Wiedereinführung eines subjektivischen Erklärungsschemas geschehen, eines Schemas, das wir in primitiver Form 127 Vgl. Humberto R. MaturanalFrancisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen - die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern u.a. 1987. Varela (Principles ofBiological Autonomy, New York/Oxford 1979, S. 13) beschreibt die autopoietische Organisation von Lebewesen wie folgt: "An autopoietic system is organized (defined as a unity) as a network of processes of production (transformation and destruction) of components that produces the components that ... through their interactions and transformations continously regenerate and realize the network of processes (relations) that produced them." Die Idee der autopoietischen Organisation steht im Gegensatz zur allopoietischen Organisation, d. h. der Fremdorganisation von außen. 128 Primas (FN 69), S. 11. So gesehen ist es auch verfrüht, das nicht-lineare Systemdenken als "Dialog mit der Natur" anzukündigen, wie dies Ilya Prigogine und Isabelle Stengers (Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, München/Zürich 1981) tun. 129 Alexander Ulfig, Lexikon der philosophischen Begriffe, Eltville am Rhein 1993, S. 106. 130 Jonas (FN 63), S. 55.

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mit Dux für das archaische Weltbild festgemacht hatten, und das uns nun in einer entwickelteren Variante wieder in ein Ich-Du-Verhältnis zu unserer Umwelt versetzen könnte. Ähnlich wie zu einer Verbindung von Wirk- und Endursachen müßte es in einem neuen Weltbild auch zu einer Versöhnung von Fakten und Werten kommen. Wer noch im neuzeitlichen Weltbild lebt, muß bekanntlicherweise der Maxime gehorchen, daß die beiden nie miteinander vermischt werden dürfen. Tatsachen werden nach diesem Verständnis festgestellt, Werte aber zugeschrieben. Aber: "The distinction between ,facts' and ,values' only emerges from gestalts through the activity of abstract thinking, " sagt der Ökophilosoph Arne Naess. l3l Und weiter: "The distinction is useful, but not when the intention is to describe the immediate world in which we live, the world of gestalts, the living reality, the only reality known to US.,,132 Auch von ihm bekommen wir also einen Hinweis darauf, daß die Philosophie der Zukunft nicht eine der Sprache sein kann, sondern eine umfassendere des Lebens sein muß. Die Rede von "Gestalt" erinnert an den Gebrauch des Begriffs in der Gestaltpsychologie, in der es um die "gegliederte Ganzheit von Phänomenen,,!33 und deren Wahrnehmung geht. In diesem Zusammenhang ist die Vorstellung eines auf Implizitem basierenden Wissensprozeßes von Michael Polanyi von fundamentaler Bedeutung. Sie erlaubt es uns, das was wir vorher als das Problem einer mangelnden Innenorientierung an tieferen Bewußtseinsschichten genannt haben, nun in Form der schon bekannten Struktur mit den Teilen und dem Ganzen darzustellen (siehe Figur 3), denn "es scheint ... sinnvoll, anzunehmen, daß . .. in allen .. . Fällen impliziten Wissens eine Entsprechung besteht zwischen der Struktur des Verstehens und der Struktur des Verstandenen, der komplexen Entität. ,,134 Mit andern Worten, es liegt eine strukturelle Übereinstimmung zwischen Innen und Außen vor. Betrachten wir eine körperliche Geschicklichkeit wie etwa die des Klavierspielens : Dieses besteht vordergründig aus der expliziten Bewegung einzelner Finger (also aus Teilen), aber wenn sich die fragliche Person darauf konzentrieren würde, könnte sie nicht spielenY5 Erst wenn sie ihre Aufmerksamkeit von den Einzelheiten weg (die sie dann nur noch subsidiär wahrnimmt) fokal auf das Ganze verlagert, gelingt dies. Eine derartige Integration spielt aber nicht nur bei solchem praktischem Wissen, bei dem unser Körper motorisch involviert ist, sondern auch bei der Wahrnehmung von Dingen in der Außenwelt. Und damit verschmelzen Einzelheiten zu etwas Naess (FN 52), S. 60. Naess (FN 52), S. 60. 133 Ulfig (FN 129), S. 158. Zur Gestaltpsychologie siehe z. B. Wilhelm Hehlmann, Geschichte der Psychologie, Stuttgart 1967, S. 299 ff. 134 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt/M. (1985), S. 37. Vergleichen wir diese Aussage mit derjenigen der Batesons, wonach wir selbst eine Metapher für die Welt darstellen (siehe FN 4). l35 Vgl. Polanyi, Knowing and Being, Chicago 1974, S. 146. \31

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Ganzem mit einer Bedeutung.B6 Solche Akte der Integration nennt Polanyi "tacit knowing". Sie haben einen "stillschweigenden" Charakter, weil nicht gesagt werden kann, wie sich aus den Elementen ein Ganzes ergibt. Alles Wissen hat eine derartige Wurzel: " ... all knowledge is either tacit or rooted in tacit knowledge. A wholly explicit knowledge is unthiilkable.,,137 Damit wird die enorme Beschränkung eines Weltbildes, das am liebsten nach dem Vorbild der neuzeitlichen Wissenschaft nur das gelten lassen möchte, das formal-mathematisch repräsentiert werden kann, offensichtlich. In einem neuen Weltbild verlangen das Unaussprechbare, das Mythische, das Poetische, das Metaphorische, und das "Heilige", wie es die Batesons nennen,138 ihren Platz. Auch in dieser Hinsicht bekommt ein neues Weltbild eine archaische Qualität.

Implizites

I

Explizites Figur 3: Versuch einer graphischen Darstellung des Wissensprozeßes, wie ihn Michael Polanyi sieht: Dadurch, daß wir unsere Aufmerksamkeit von vordergründigen Einzelheiten abziehen, entsteht aus ihnen ein Ganzes mit einer Bedeutung

Einen archaischen Beiklang hat ferner auch die von Helga Nowotny erörterte und als notwendig erachtete Wiederberücksichtigung des Zeitkreises, d. h. einer zirkulären Zeitauffassung. 139 Mit Bezug auf Stephen J. Gould l4o weist sie darauf hin, daß Zeitpfeil (als Zeichen für ein lineares Zeitverständnis) und Zeitkreis als 136 Dazu Polanyi (FN 135): "When we attend from a set of particulars to the whole which they form, we establish a logical relation between the particulars and the whole, similar to that which exists between our body and the things outside it" (S. 148), und: "In order to attendfrom X [eine Anzahl von Einzelheiten] to its meaning, you must cease to look at X, and the moment you look at X you cease to see its meaning" (S. 146). 137 Polanyi «FN 135), S. 142. 138 Batesonl Bateson (FN 4). 139 Helga Nowotny, (Eigenzeit - die Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick, in: Thomas (Hrsg.), (FN 53), S. 27-37. 140 Stephen J. Gould. (Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München 1990.

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Urmetapher schon in der Bibel vorkommen, daß aber "der Zeitpfeil ... schließlich zur Einbahnschiene der westlichen Kultur" wurde, "auf der ab dem 18. Jahrhundert der Fortschrittsgedanke aufbaute.,,141 Heute geht es darum, die Dichotomie von Pfeil und Kreis zu überwinden. "Erst beide zusammen entsprechen den Anforderungen unserer Zeiterfahrung und Zeitvorstellung, nämlich der Einmaligkeit der Zeit auf der einen Seite ... und der Gesetzmäßigkeit der Zeit, der Wiederkehr, auf der andern Seite.,,142 Zusammenfassend: In einem neuen relational-evolutionären Weltbild muß mit der Überwindung des Dualismus von Oben vs. Unten (Geist vs. Materie) auch die des Gegensatzes von Innen vs. Außen (Mensch vs. Natur) gelingen. Das neue Denken, so sagt Zimmerli, setzt "Natur als die die subjektive und objektive Sphäre umgreifende Einheit voraus.,,143 Bei Hösle haben wir eingangs die Vorstellung einer objektiven Vernunft kennen gelernt, die sich uns mitteilt, wenn wir auf sie hören wollen. Dies hat bei ihm wohl einen etwas absolutistischen Anstrich, und ich möchte hier mit einem Schritt in relativistischer Richtung für die Vorstellung einer gemilderten Position plädieren. l44 Das würde dann bedeuten, daß das, was sich uns mitteilen kann, einer Interpretation bedürftig wäre, womit verschiedene Ergebnisse möglich werden. Allerdings sei damit nicht einer postmodernen Beliebigkeit das Wort geredet; diese ist ja gerade ein Ausdruck unserer angeblichen Orientierungslosigkeit. Wenn "vom Ende der großen Entwürfe" die Rede ist, so ist damit in erster Linie das Ende des mechanistischen Zeitalters mit seinem Anspruch "auf objektive Erkenntnis, auf orts- und zeitübergreifende rationale Erklärungen, auf die Steuer- und Planbarkeit von technischen und sozialen Prozeßen" gemeint. 145 Es heißt nicht, daß jetzt eine Epoche des Durcheinanders der verschiedensten "kleinen Entwürfe" anbrechen muß oder darf. Im Gegenteil, der mit der Existenz einer ökologischen Krise verbundene Handlungsbedarf verlangt von uns eine Konsensfähigkeit. Personen, Gruppen oder Kulturen, die sich am neuen Weltbild ausrichten, können nach Naess, gerade hinsichtlich der Umweltprobleme, eine gemeinsame Plattform finden, die sogar umso stärker ist, je verschiedener die urNowotny FN 139), S. 29. Nowotny (FN 139), S. 29. 143 Zimmerli (FN 88), S. 391. 144 Hösle (FN 2, S. 208) betont, daß die objektive Vernunft nicht sinnlich wahrgenommen werden könne, daß sie auch nicht Gegenstand der Introspektion oder Interpretation, sondern Gegenstand des Denkens sei. Ähnliche Vorstellungen finden sich bei Rudolf Steiner, von Friedrich Hiebel (Zum Weltbild Rudolf Steiners, in: Kurt E. Becker/Hans-Peter Schreiner (Hrsg.), Geist und Psyche. Anthroposophie heute, München 1981, S. 28) so beschrieben: "Es gibt reine Gedanken, die in sich selbst bestehen und bei denen alles ausgeschaltet ist, was Wahrnehmung der Sinne oder sonstig leiblich-bedingtes Innenleben ist." Ich gebe zu, daß ich mit einer solchen Auffassung etwas Mühe bekunde. Besteht echt gelebtes Leben gerade nicht darin, daß - auf welcher Entwicklungsstufe auch immer - alle vorhandenen Seinsbereiche daran beteiligt sind? 145 Hans Rudi Fischer; Zum Ende der großen Entwürfe, in: Hans Rudi Fischer/ Arnold Retzer / Jochen Schweitzer (Hrsg.), Das Ende der großen Entwürfe, Frankfurt/M. 1992, S. 9. 141

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sprünglichen Ausgangspunkte sind. 146 Wesentlich dabei ist, daß wir nicht nur dem Verstand, sondern auch Intuitionen und Gefühlen Raum geben, denn auch derart gestützte Ansichten sind, so Naess, ein integraler Bestandteil der objektiven Realität, und nur ihre Berücksichtigung kann uns zu verantwortungsvoll Handelnden machen. 147 Wenn wir fähig sind, Beziehungen zur Umwelt zu einem Teil von uns selbst zu machen,148 können wir in dem, was wir wahrnehmen, in einem gewissen Sinne so leben, wie wir in unserem Körper leben. Dazu Polanyi: " ... such indwelling is not merely formal; it causes us to participate feelingly in that which we understand .... These feelings of comprehension go deep; we shall see them increasing in profundity all the way from the ,1-It' relation to the ,1-Thou' relation.,,149 Es ist eine Art und Weise, die es uns erlaubt, natürlicherweise in der Welt zu stehen, Realität und Rationalität miteinander zu vereinen und zu verhindern, daß die letztere die erstere zerstört.

146 Vgl. David Rothenberg, Introduction: Ecosophy T - from intuition to system, in: Arne Naess (FN 52), S. 4. 147 Vgl. Rothenberg (FN 146), S. 14. 148 Ein Prozeß, den Naess "Identifikation" nennt (vgl. Rothenberg, (FN 146), S. lOf.). 149 Polanyi (FN 135), S. 149-149. Die Unterscheidung einer Ich-Du- von einer Ich-Es-Beziehung geht auf Martin Buber zurück. Dieser sagt ausdrücklich, daß sich die erstere nicht auf den mitmenschlichen Bereich beschränkt: "Drei sind die Sphären, in denen sich die Welt der Beziehung errichtet. Die erste: das Leben mit der Natur ... Die zweite: das Leben mit den Menschen ... Die dritte: das Leben mit den geistigen Wesenheiten ... " (Zitiert nach Gerhard Huber; Menschenbild und Erziehung bei Martin Buber, in: Huber, Gegenwärtigkeit der Philosophie, Basel 1975, S. 132). Mit Zimmerli (FN 88, S. 394) könnten wir auch sagen, wir hätten es hier mit einer Konvergenz von wissenschaftlicher Rationalität und Religiosität zu tun.

4 Selbstorganisation, Bd. 6

The Human Brain Project: Cognition Explained? Implikationen und Probleme eines Forschungsprogramms*

Von Simone Cardoso de Oliveira, Bochum

I. Einführung

Der moderne Mensch lokalisiert seine Rationalität in dem Organ seiner kognitiven Fähigkeiten, dem Gehirn. Im Zuge der Säkularisierung der "letzten Wunder unserer Zeit" ist er fest entschloßen, das Enigma des Denkens endgültig zu entschlüsseln. Wir befinden uns bereits mitten in der vom US-amerikanischen Kongreß ausgerufenen "Decade of the Brain", in der nach der molekularbiologischen Erforschung der Gene (im ganz analogen "Human Genome Sequencing Project") als den putativen letzten Bausteinen der Organisation des Lebendigen nun in ebenso analytischer Weise das Gehirn als Ort des Denkens und der Kognition vollständig verstanden werden soll. Alle empirischen Daten sollen zentral gesammelt und zugänglich gemacht werden, in der Hoffnung, aus einer Synopsis aller empirischen Evidenzen heraus ein umfassendes Gehirnmodell entwickeln zu können ("Human Brain Project"l ). Eine "Neurophilosophie", die eine Auflösung des Leib-SeeleProblems in einem eliminativen Materialismus findet (Churchland 2 ) hat dazu schon in der letzten Dekade eine philosophische Fundierung liefern wollen. "Im Grunde haben wir fast alles Wissen über das Gehirn beisammen. Es geht jetzt nur noch darum, die Puzzle-Stücke zusammenzufügen, dann wissen wir, wie das Gehirn und das Denken funktioniert." So lautet eine diesem Forschungsprogramm und dem Human Brain Project zugrundeliegende, unter Neurowissenschaftlern nicht unverbreitete Meinung, die den Stand der Forschung und den in nächster Zukunft zu erwartenden Fortschritt recht optimistisch einschätzt. An die-

* Diese Arbeit wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Graduiertenkollegs KOGNET unterstützt. Dem Herausgeber danke ich für konstruktive Kritik. I M. F. Huerta, S. H. Koslow, A. I. Leshner; The Human Brain project: an international resource. TINS 16: 436-438 (1993) 2 P. S. Churchland, Neurophilosophy. Towards a unified science of the mind-brain. Cambridge 1986 4*

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ser Auffassung lassen sich gleich mehrere Annahmen zeigen, die mehr oder weniger bewußt in die Konzeption der modemen Himforschung einfließen: a) Der Ort des Denkens und der Wahrnehmung ist (ausschließlich) das Gehirn. Es ist die materielle und funktionale Grundlage von Wahrnehmen und Empfinden, Erkennen, Lernen und Erinnern, Denken und Mitteilen; und auf seinen Prozessen beruht auch das Bewußtsein. Um Denken und Kognition wissenschaftlich verstehen zu können, muß man das Nervensystem, insbesondere das Zentralnervensystem untersuchen, denn Gedanken sind nichts anderes als Himtätigkeit. Jede bestimmte Tatigkeit des Geistes geht mit einer bestimmten Tätigkeit des Gehirns notwendig einher und ist durch diese vollständig zu erklären bzw. zu simulieren. Durch die Definition von Kognition als elektrochemischen Gehimprozess werden sowohl der Forschungsgegenstand als auch die Forschungsmethode eindeutig festlegt. Die mögliche Relevanz der so zu erhaltenden Resultate für die Erklärung des Phänomens Kognition steht und fällt jedoch mit der Gültigkeit dieser Definition. b) Die bisher gewonnenen Daten sind korrekt und beschreiben das Gehirn auf adäquate Weise. Diese Annahme schließt als Vorraussetzung mit ein, daß der gewählte methodische Zugang zu den Phänomenen der Kognition als Himprozessen richtig und dem Forschungsgegenstand gegenüber adäquat sei. Damit setzt man auch voraus, daß es keinen Grund gibt, an der Relevanz der bisher vorliegenden Daten zu zweifeln, da sie im Rahmen eines Theorienrealismus als "echte" Eigenschaften des Gehirns und der Wahrnehmung angesehen werden können. c) Um verstehen zu können, wie das Gehirn funktioniert, muß man die Daten, die verschiedene kognitive Teilaspekte und verschiedene funktionelle Subsysteme des Gehirns unter unterschiedlichen experimentellen Bedingungen beschreiben, lediglich richtig zusammenfügen (wie im Human Brain Project angestrebt). Um dies zu ermöglichen, muß gewährleistet sein, daß die unter b) angesprochenen Daten nicht nur in dem Kontext ihrer Entstehung, sondern ganz unabhängig vom Kontext unverändert richtig bleiben. Außerdem muß es möglich sein, die Teilfunktionen von bestimmten neuronalen Subsystemen zu einem dem zu beschreibenden System funktionell äquivalenten Modell zusammenzusetzen und als Resultat organismisch relevante Funktionszusammenhänge zu erhalten, ohne dabei zusätzliche, bisher nicht in dem Datenmaterial enthaltene Parameter einführen zu müssen. Ein Wissenschaftler, der die oben zitierte Ansicht vertritt, wird in diesem Zusammenhang zwar zugeben, daß dieses Unterfangen aus Komplexitätsgründen schwierig sei, jedoch wird er keine darüber hinausgehenden prinzipiellen Schwierigkeiten erwarten. Aus Sicht einer organismisch orientierten und von der Theorie der Selbstorganisation inspirierten Biologie wird man jedoch gerade erwarten, daß sich auf organismischer Ebene synergistische Wechsel wirkungen ergeben, die erst unter Einbeziehung des Lebens- und Verhaltenszusammenhanges des Organismus sichtbar und daher nur unter Berücksichtigung einer gewissen "ökologischen Validität" durch die empirische Forschung überhaupt untersuchbar werden.

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In diesem Aufsatz soll die Frage aufgeworfen werden, ob und inwiefern ein dem obigen Zitat entsprechendes Forschungsprogramm geeignet sein kann, die spezifische Organisation von lebenden, wahrnehmend und denkend tätigen Organismen einzufangen. Die Grundannahmen der Hirnforschung sollen einerseits hinsichtlich ihrer philosophischen Implikationen und andererseits hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den empirischen Daten kritisch untersucht werden. Von dieser Evaluierung wird die Bewertung der von einem "Human Brain Project" zu erwartenden Ergebnisse kritisch abhängen. Dabei soll dem innerwissenschaftlichen Diskurs dadurch Rechnung getragen werden, daß wir berücksichtigen, was Neurowissenschaftler selbst über die Bedeutung ihrer Forschungsergebnisse für die Erklärung von Kognition angeben und wie diese Ansprüche in der tatsächlichen Forschungspraxis in Experimenten umgesetzt werden. 11. Philosophische Implikationen und praktische Probleme der Grundannahmen empirischer Neurowissenschaft 1. Definition von Kognition als elektrochemischer Prozeß im Gehirn

Kognition wird heutzutage geradezu definiert als ein elektrochemischer Prozeß, der im Gehirn als einem funktionell abgrenzbaren Subsystem des Organismus instantiiert ist, also als einen im Geltungsbereich der Gesetze der physikalischen Materie realisierten Vorgang. Diese Definition bildet das Substrat für eine eliminativmaterialistisches Ontologie von Kognition. Bereits ein genauerer Blick auf die zugrundeliegenden experimentellen Daten wirft jedoch schon die ersten innerwissenschaftlichen Probleme mit dieser auf den ersten Blick sehr klar erscheinenden Definition auf: a) Welche elektrochemischen Prozesse sind genau gemeint? Klassischerweise zieht man als elektrische Phänomene die von Aktionspotentialen getragene, an andere Neurone weitergeleitete Aktivität ihn Betracht, die letztlich zu einem bestimmten raum-zeitlichen Aktivitätsmuster in den Neuronen des Nervensystems führt. Es mehren sich aber in der letzten Zeit Hinweise, daß auch andere Zelltypen, z. B. Glia-Zellen, die keine Aktionspotentiale ausbilden können und denen bisher nur Nähr- und Stützfunktionen zugeschrieben wurden, sehr wohl direkt an höheren kognitiven Funktionen, wie z. B. Lernen, beteiligt sein können. Mit den chemischen Prozessen wurde bisher meist synaptische Transmitter-Ausschüttung verbunden. Nicht-synaptisch wirkende Substanzen, z. B. modulatorische Neuro-Hormone, sind zwar durchaus bekannt, über ihre Wirkungsweise gibt es jedoch nur bruchstückkaftes Wissen, weshalb sie bisher kaum in funktionellen Überlegung mit einbezogen werden, geschweige denn in theoretischen Modellen neuronaler Netze Berücksichtigung finden. Man kann also sagen, daß die Bemühungen der Festlegung des materiellen Substrats für die Realisation von kognitiven Prozessen noch längst nicht als abgeschlossen betrachtet werden können.

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b) Was genau ist als Gehirn zu bezeichnen, d. h. wie läßt es sich als Subsystem vom Rest des Organismus eindeutig abgrenzen? Im engsten Sinne könnte man mit dem Gehirn die elektrisch erregbaren (plus evtl. die unerregbaren, s.o.) Zellen des Zentralnervensystems meinen. Man wird aber schnell zugeben, daß auch das Rükkenmark und das periphere Nervensystem in basale kognitive Funktionskreise mit eingeschlossen werden müssen. Für die Erklärung von Handlungen und deren Planung wird man jedoch auch auf die durch Nerven angesprochenen Effektoren (beziehungsweise neuromuskulären Einheiten) rekurrieren müssen, und so fort. So scheint die Definition einer feststehenden Grenze zwischen Nervensystem und dem übrigen Organismus problematisch. In neuen interdisziplinären Forschungsrichtungen, wie z. B. der Neuroendokrinologie, Neuroimmunologie oder gar Neuropsychoimmunologie zeigen sich zunehmend Verschränkungen des Nervensystems etwa mit dem Immun- oder mit dem Hormonsystem. Typische Komponenten der Fortpflanzungssysteme, die Sexualhormone, können offenbar direkte, Transmittern vergleichbare Wirkungen im Gehirn haben und werden auch wiederum vom Gehirn (Hypothalamus und Hypophyse) in ihrer Freisetzung gesteuert. Neurone setzen immunologisch aktive Substanzen (so etwa Interleukine) frei und besitzen selbst ebenfalls ein breites Repertoire an Rezeptoren für Mediatoren des Immunsystems, was dazu führt, daß offenbar immunologische Reaktionen kognitiv kontrolliert werden können. Welche Schlußfolgerungen sind aus solchen Verschränkungen des Nervensystems mit anderen funktionellen Subsystemen zu ziehen? Die Entwicklungen auf dem Gebiet der angeführten Grenzdisziplinen könnten es notwendig machen, daß wir zum Verständnis des Denkens oder kognitiver Phänomene auch Bereiche z. B. des Hormonsystems oder des Immunsystems in Betracht ziehen müssen. Ganz allgemein könnte sich abzeichnen, daß die funktionelle Abtrennung des Gehirns vom Rest des Organismus eventuell eine unzulässige Abstraktion darstellt, die zur Erklärung von Kognition als konstituierender Komponente des Lebensprozesses zumindest nicht die einzige Möglichkeit, wenn überhaupt aussichtsreich ist. Um davon ausgehen zu können, daß durch die Definition von Kognition als elektrochemischer Hirnprozeß das Phänomen adäquat und vollständig subsummiert werden kann und als Forschungsgegenstand eindeutig definiert wäre, muß man annehmen, daß es sich bei den beschriebenen und experimentell zu untersuchenden Parametern um alle wichtigen, insbesondere um funktionell relevante Parameter handelt. Nimmt man diese Forderung ernst, so muß man davon ausgehen, daß dazu alle in Frage kommenden Größen bekannt seien, der neuronale Code also bereits im Vorhinein als entschlüsselt betrachtet werden könne. Dies kann jedoch bei weitem noch nicht behauptet werden. Durch die Konzentration der empirischen Analyse auf bestimmte empirisch beobachtbare Parameter, die lediglich durch den augenblicklichen Stand des Wissens begründet werden können, müssen zwangsläufig andere meßbare Größen außer Acht gelassen werden. So bleiben bislang z. B. subjektive Erlebnisqualitäten oder auch komplexere Interdependenzen mit Umwelt- oder Verhaltensbezügen, die sich nicht unmittelbar in neurochemische

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Erregungsmuster übersetzen lassen und die zudem experimentell schwierig zu kontrollieren sind, weitgehend unbeachtet. Sollte sich in näherer oder ferner Zukunft herausstellen, daß man bisher nicht die funktionell ausschlaggebenden oder gar gänzlich irrelevante Größen gemessen hat, so wäre die Aussagekraft aller bisher erhaltenen Daten anzuzweifeln. Als Begündung für die Definition von mentalen Vorgängen als Gehirnvorgänge kann bisher lediglich angeführt werden, daß bis heute alle empirischen Evidenzen darauf hindeuten, daß mit jedem mentalen ein bestimmter Hirnprozeß einhergeht. Man vermutet, daß dieses Zusammengehen nicht nur akzidentiell, sondern zwingend notwendig ist und auf einen äußerst engen Zusammenhang dieser beiden Komponenten schließen läßt. Man vergißt dabei leicht, daß die empirischen Evidenzen ja derart gewonnen wurden, daß gerade jene konstanten Relationen von kognitiven Prozessen mit bestimmten Vorgängen im Gehirn hergestellt werden, von denen man bereits ausging. Streng genommen endet dieser Begründungsversuch also in einem circulus vitiosus.

2. Lokalisationismus Wie man sich die Instatiierung von kognitiven Prozessen (hier im Besonderen des Bewußtseins) in neuronalen Termini genauer vorzustellen hat, drücken z. B. Crick und Koch 3 folgendermaßen aus: "At any moment consciousness corresponds to a particular type of activity in a transient set of neurons that are a subset of a much larger set of potential candidates. The problem at the neural level then becomes: 1. Where are these neurons in the brain? 2. Are they of any particular neuronal type? 3. What is special (if anything) about their connections? 4. What is special (if anything) about the way they are firing?" Hier werden bereits Grundprinzipien deutlich, auf welche Art die Funktionen des Geistes als elektrochemische Prozesse dingfest gemacht werden sollen: Man versucht, funktionellen Einheiten des Gehirns einen Ort zuzuweisen, sie zu lokalisieren (Frage 1.) und die Funktion der so bestimmten Teileinheiten durch Aufklärung ihrer Struktur und der Besonderheiten in ihrer neuronalen Aktivität herzuleiten (Aufklärung des "neuronalen Codes", Fragen 2.-4.). Wohl aufgrund seiner relativ leichten praktischen Durchführbarkeit und der Möglichkeit zur schnellen Gewinnung großer Datenmengen hat sich bei der experimentellen Realisierung dieses lokalisationistischen Ansatzes (insbesondere bei der Untersuchung der "sensorischen" Teile des Gehirns) ein Paradigma besonders durchgesetzt. Das Ziel dieses Paradigmas ist es, bestimmten neuronalen Teilsystemen, insbesondere einzelnen Neuronen, bestimmte "Antwortcharakteristika" oder Selektivitäten für von der Umwelt ausgehenden ,,Reize" zuzuordnen. Dabei geht man so vor, daß unter möglichst gleichbleibenden Bedingungen dem Gesamtsy3 F. Crick, C. Koch, Towards a neurobiological theory of consciousness. Seminars in the Neurosciences SINS 2: 263-275 (1990)

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stern verschiedene Reize dargeboten werden, die dann in Beziehung zu der Aktivität der untersuchten Zelle gesetzt werden. Die Summe der Reizparameter, die die Aktivität (= Entladungsfrequenz, Frequenz von Aktionspotentialen) beeinflussen (erhöhen oder vermindern), wird definiert als das "rezeptive Feld" einer Zelle. Die Annahme einer funktionellen Bedeutung der Aktivität jeder einzelnen Zelle geht dabei auf die klassische "single-neuron-doctrine" zurück, die Barlow u.a. folgendermaßen formuliert: "the activity of each single cell ... is related quite simply to our subjective experience,,4. Trotz des großen Erfolges und der heute noch weitgehenden Anwendung diese Konzepts muß die Erklärungspotenz des Begriffs des rezeptiven Feldes und damit auch der neuronalen Selektivität heute kritisch bewertet werden. Ein neurophysiologisches Experiment (insbesondere wenn sensorische Hirnareale untersucht werden, analoges gilt jedoch auch für motorische Areale) geht in der Regel so vor sich, daß eine zeitliche Korrelation hergestellt wird zwischen einem vom Experimentator dargebotenen Reiz und einer im Nervensystem messbaren Veränderung, die als Reaktion gedeutet wird. Aus dieser zeitlichen Korrelation zwischen Reiz und Hirnaktivität wird sogleich ein funktionaler Zusammenhang geschlossen, d. h., die im Gehirn registrierte Änderung wird mit dem Reiz in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Dies scheint nicht zuletzt darum zu erfolgen, da sich derart auch kausale Beziehungen mit möglichen nachfolgenden Reaktionen des Organismus stipulieren lassen, die sofort in ein operationales Modell der Verhaltensleistungen des Organismus einfliessen können. Dieses Erklärungsprinzip mag zwar aufgrund einer kognitionspsychologischen Neigung des Menschen häufig angewandt und auch durchaus erfolgversprechend sein, ist jedoch streng genommen noch nicht sachlich begründet. Bevor also Überlegungen über die funktionale Bedeutung z. B. von bestimmten neuronalen Selektivitäten angestellt werden, wird ein guter Wissenschaftler dazu gesonderte Belege fordern. Empirische Daten und theoretische Überlegungen deuten darauf hin, daß die bis jetzt erfolgten Bestimmungen von rezeptiven Feldern wahrscheinlich recht unvollständig sind oder im schlimmsten Fall sogar falsch oder von keiner funktionellen Relevanz sind. Zum ersten geht man bei ihrer Bestimmung in der Regel davon aus, daß es sich bei dem für das System entscheidenden Parameter um die Entladungsrate handelt, d. h., daß der neuronale Code ein Raten-Code sei (wobei Neuronen funktional hauptsächlich als Integratoren der einlaufenden Aktivität betrachtet werden). Es deutet jedoch einiges darauf hin, daß auch andere Parameter in der neuronalen Aktivität, wie z. B. deren zeitliche Feinstruktur, eine mindestens ebenso große Rolle spielen können (was einer funktionalen Interpretation des EinzelNeurons als Koinzidenz-Detektor entsprechen würde). Die meisten Hirnareale sind aber in Bezug auf die Zeitstruktur der Entladungen und ihre Modifikation durch Reize noch überhaupt nicht untersucht. Darüber hinaus ergibt sich bei der Bestim4 H. B. Barlow, Single units and sensation: a neuron doctrine for perceptual psychology? Perception 1: 371-394 (1972)

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mung von rezeptiven Feldern entsprechend der oben genannnten Definition die Frage, wann man sich überhaupt sicher sein könne, genau die Reize gefunden zu haben, auf die eine Zelle mit maximaler Änderungen ihrer Entladungsrate reagiert, also den optimalen Reiz, der die Selektivität der Zelle kennzeichnen soll. Diese Aufgabe ist ja schon praktisch wegen der für einen Versuch aufzuwendenden begrenzten Zeit unmöglich. Aus neueren experimentellen Arbeiten geht außerdem hervor, daß rezeptive Felder massiv durch ihren "surround" (also Reize außerhalb des eigentlichen Bereiches, in dem die Zelle normalerweise auf einen Reiz reagiert) in ihren Eigenschaften beeinflußt werden können, was die klassische Definition des Begriffs des rezeptiven Feldes fragwüdig macht. Felder ändern sich zudem dynamisch in Abhängigkeit von der Vorgeschichte des Systems, und zwar unter Umständen sehr schnell. Damit kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Selektivität einer gegebenen Zelle zeitlich konstant und kontext-in sensitiv sei, sondern daß sich ihre Antworteigenschaften in Abhängigkeit von der Situation dynamisch ändern können (z. B. könnte die während eines neurophysiologischen Experimentes im anästhesierten Tier ermittelte Selektivität ganz anders sein als in einer verhaltensrelevanten Situation im wachen, motorisch aktiven Tier). Auch die Komplexität des eingesetzten Reizes kann die Antworteigenschaft einer Zelle verändern. Aus allen diesen Hinweisen ergibt sich nicht nur, daß es schwierig oder gar unmöglich sein wird, "die" Selektivität einer Zelle überhaupt erschöpfend zu ermitteln, sondern auch, daß die Zell"antwort" auf bisher nicht experimentell untersuchte komplexere Stimuli prinzipiell nicht vorhersehbar sein wird; ein Problem, das in neueren Publikationen durchaus bereits thematisiert wird: " ... a cell's response to a complex visual stimulus cannot be fully predicted from its response to a simple stimulus, ... " (Ch. D. Gilbert5 ). Seinen Kulminationspunkt fand der lokalisationistische Ansatz in dem Konzept von sog. Kardinal-Zellen (im Jargon auch "Großmutter"-Zellen genannt), deren komplexe "rezeptive Felder" als jeweils einzelne kognitive Entitäten, z. B. Gegenstände oder Personen (also etwa die zitierte Großmutter) gedeutet werden sollen. Hier wird das Ziel dieses Ansatzes für ein Verständnis von Kognition deutlich: die Selektivität eines Neurons wird so interpretiert, als ob die Aktivität dieser Zelle diese Eigenschaftenfiirdas Gehirn repräsentiere, so als sei an jedem Neuron (oder jeder neuronalen Verbindung) eine Markierung angebracht, die angebe, für welche Reizparameter die jeweils auftretende Aktivität stehen solle (Konzept der "labelled lines"). Aufgrund konzeptioneller und empirischer Probleme (einerseits wäre die Zahl der Neurone viel zu klein, als daß für alle möglichen Objekte ein Neuron zur Verfügung stehen könnte; andererseits hat man bis heute keine Zellen gefunden, deren rezeptive Felder komplex genug wären, ein und dasselbe Objekt unter unterschiedlichen Bedingungen zu kodieren) mußte der Ansatz der Kardinal-Zellen zumehmend revidiert werden (für eine schon klassische Kritik sei z. B. auf Von der 5 eh. D. Gilbert, Circuitry, architecture and funtional dynamics of visual cortex. Cerebral Cortex 3: 372-386 (1993)

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Malsburg 6 verwiesen). Heute sucht man die Kodierung von Objekten zunehmend eher in der Kombination der Aktivitäten von ganzen Neuronengruppen (sog. "neuronal assemblies,,7 oder "synfire chains"s). Sollte sich diese Vermutung bestätigen, so wäre auch die Suche nach Selektivitäten einzelner Neurone nicht ausreichend und müßte auf die Eigenschaften von beliebig vielen Kombinationen von Neuronen ausgeweitet werden. Alle diese Anmerkungen deuten darauf hin, daß die Erklärungs-Kapazität einer auf bislang bekannten Daten (insbesondere über Antworteigenschaften von Einzelzellen) beruhenden Himtheorie äußerst beschränkt bleiben muß. Man muß bezweifeln, ob die unter Anwendung konventioneller experimenteller Paradigmata und gegenwärtig geläufiger Beschreibungen von neuronaler Aktivität erhaltenen Ergebnisse zu der Konstruktion von adäquaten Modellen herangezogen werden können, die in der Lage sein sollen, die Funktionsweise des Gehirns im Organismus unter allen möglichen, insbesondere unter normalen physiologischen Bedingungen zu beschreiben bzw. vorherzusagen. 3. Funktioneller Atomismus: Die Modularität des Geistes

Um von einem lokalisationistischen Ansatz zu einer operationalen Beschreibung des zu erklärenden Systems zu kommen, bietet es sich an, den verschiedenen zu lokalisierenden Einheiten auch bestimmte, gleichermaßen abtrennbare Funktionen zuzuschreiben. Das System wäre dann in eine Reihe von Untersystemen aufzugliedern, die getrennt und unabhängig voneinander als sog. "Module" arbeiten. Man geht davon aus, daß das Prinzip der Modularität auch auf kognitive (Teil-) Funktionen angewandt werden und somit eine Zuordnung von neuronalen zu kognitiven funktionellen Modulen getroffen werden könne: "The performance of the brain as derived from an analysis of behavior, perception and reasoning can be dissected into partial performances. In principle it should be possible to trace the capacities for them down to certain parts of the brain or, more precisely, the cerebral cortex and their interactions by analyzing defects after circumscribed lesions in behavioral terms. Furthermore, the participation of a certain brain area in behavior can be demonstrated by recording electrical or metabolie activities in different brain regions. Such analysis leads to the conc1usion that certain regions of the cerebral cortex are necessary for and involved in certain mental performances, ... ,,9. Einschränkend fügt Creutzfeld lediglich hinzu: "This is not to say, however, that 6 C. von der Malsburg, Am I Thinking assemblies? In: G. Palm, A. Aertsen, (Hrsg.): Brain Theory. Springer: Berlin, Heidelberg 1986 7 G. L. Gerstein, P. Bedenbaugh, A. H. J. Aertsen, Neuronal assemblies. IEEE Transactions on biomedical engineering 36: 3-14 :(1989) 8 M. Abeles, Local cortical circuits. Berlin, Heidelberg: Springer 1982 9 O. Creutifeld, Cortex Cerebri. Göttingen: Mary Creutzfeld, 538, 1993

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these brain conditions are also sufficient for mental perfonnances"10. Natürlich wird man als guter Forscher das Verhalten des Teilsystems unter verschiedenen Versuchsbedingungen in Betracht ziehen, um die Relevanz eines bestimmten Datums einschätzen zu können. Als empirische Evidenz wird es nicht genügen, daß eine bestimmte Funktion bei Läsion eines bestimmten Hirnareals ausfällt, sondern man wird auch indirekte Folgen dieses Ausfalls in Betracht ziehen, beziehungsweise positive Hinweise auf die Funktion des untersuchten Areals suchen, (z. B. durch den Test, ob die gesuchte Funktion auch durch Stimulation des betreffenden Hirnareals auszulösen ist)l1. Für eine funktionelle Modularität des Geistes sprechen klinische Befunde über Ausfälle einzelner Wahrnehmungsaspekte nach umschriebenen Himläsionen (z. B. Beeinträchtigung der Farbwahrnehmung ohne die der Fonnwahmehmung). Gerade komplexere oder abstrakteren kognitiven Fähigkeiten (wie z. B. Gedächtnis und Bewußtsein) lassen sich jedoch auf diese Art bisher kaum in bestimmten Hirnteilen lokalisieren. Es könnte sein, daß zumindest die komplexeren kognitiven Funktionen über das gesamte oder über weite Teile des Gehirns verteilt sind. Für die Konstruktion von Theorien, die aus verschiedenen Teilfunktionen neuronaler Subsysteme die Funktionen des Gesamt-Systems ableiten wollen, ist es wichtig, daß die solcherart festgestellten Teilfunktionen nicht durch Variation der Randbedingungen beliebig verändert werden. Daß dies in neuronalen Systemen jedoch nicht immer gewährleistet ist, haben wir bereits bei dem Begriff des rezeptiven Feldes bzw. der neuronalen Selektivität gesehen. Andererseits darf auch das Zusammensetzen der verschiedenen Einheiten nichts an deren funktionellen Eigenschaften ändern. Dies hieße auch, daß man die Funktionen des Gesamt-Systems aus denen seiner Teile ohne Rest rekonstruiert könne. Die Berücksichtigung von Rückwirkungen des Gesamtsystems auf die Funktionen seiner Teile wird dabei ausgeschlossen. Synergismen, die, wie uns die Theorie der Selbstorganisation annehmen läßt, auch schon bei relativ unkomplexen, physikalischen Systemen auftreten und bei so komplexen Systemen wie den biologischen auf jedem Fall zu erwar-

O. Creutifeld, Cortex Cerebri. Göttingen: Mary Creutzfeld, 538, 1993 Die Entscheidung, ab wann einem die so unter verschiedenen Bedingungen angesammelten Evidenzen ausreichen, damit man die Funktionszuschreibung für empirisch abgesichert oder, extremer gesagt, "wahr" hält, ist natürlich bis zu einem gewissen Grad willkürlich. Insofern befindet sich die empirische Wissenschaft immer in der Defensive, da sie ihre Schlußfolgerungen nur in induktiver Weise treffen kann. Zwar besteht die Möglichkeit der Überprüfung von Hypothesen in gezielten Experimenten (deren Resultat anhand der Theorie richtig vorhergesagt werden muß), die Anzahl solcher Experimente ist jedoch aus praktischen Gründen endlich. Außerdem kann natürlich nur eine operationale Konformität des Systems mit der Theorie festgestellt werden, nicht jedoch deren faktische Äquivalenz. So müssen viele Haupt-Thesen der Hirnforschung, wie z. B. die, daß jedes kognitive Phänomen unweigerlich mit einem bestimmten Himzustand einhergeht, auf eine endgültige Bestätigung verzichten, sie sind nur deshalb haltbar, weil alle von der "scientific community" akzeptierten bisherigen Erkenntnisse mit ihnen vereinbar sind. 10 11

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ten wären, scheinen in den Konzepten der Neurowissenschaft noch kaum thematisiert zu werden. Als symptomatische Folge einer fehlenden Reflektion dieser Problematik mag das Problem gelten, wie die Einheit des Bewußseins erklärt werden könne, wenn alle zur Verfügung stehenden Daten nur kognitive Subfunktionen behandeln: "The difficulty becomes insoluble, if attempts are made to explain how all the single performances ofthe human brain lead to a unified conscious experience,,12. Diese Art Problem begegnet uns nicht nur auf dem sehr komplexen Niveau des Bewußtseins, sondern auch schon bei den einfachsten Wahrnehmungsakten, z. B. der Zusammenfassung von verschiedenen Eigenschaften zu einem Objekt. In diesem Zusammenhang erscheint es uns in Gestalt des sog. "Bindungsproblems", dem bis heute ungeklärten Mechanismus, wie einzelne Eigenschaften zu einem einzigen Wahrnehmungsobjekt verschmolzen werden. Wenn schon solch relativ basale kognitive Fähigkeiten der heutigen Neurowissenschaft noch immer rätselhaft erscheinen, läßt dies darauf schließen, daß eine auf funktionellem Atomismus beruhende experimentelle Strategie ohne die Erarbeitung eines übergreifenden Konzepts, das die spezifische Organisation des Gesamt-Organismus thematisiert, nicht sehr aussichtsreich sein kann. Zumindest machen diese Probleme deutlich, daß nicht ohne weiteres damit gerechnet werden kann, durch bloße kumulative Wissensanhäufung über bestimmte Teilsysteme des Gehirns irgendwann eine kritische Informationsmenge zu erreichen, bei der mit einem großen ,,Klick" der entscheidende Erkenntnisdurchbruch erreicht wäre und die Organisation des Gehirns mit einem Schlag klar ersichtlich würde (etwa so, wie wenn in der Physik bei Erreichen eines kritischen Drucks ein Gas kondensiert). Im Gegenteil muß damit gerechnet werden, daß noch erhebliche Arbeit zur Konzeptualisierung des wahrnehmend tätigen Organimus geleistet werden muß, bevor das Phänomen der Kognition erklärt werden kann. 4. Kognition bzw. Wahrnehmung als Repräsentation

In den letzten Jahrhunderten hat es sich durchgesetzt, Kognition als eine Art Rechenprozeß mit elektrochemischen "Signalen" zu begreifen: "The ultimate aim of computational neuroscience is to explain how electrical and chemical signals are used in the brain to represent and process information,,13. Diese Betrachtungsweise erfordert sogleich die Konkretisierung, in welcher Art die Signale im Gehirn als Informationsträger, anders ausgedrückt, als Symbole, zu verstehen sein sollen. Koch und Crick l4 formulieren dies folgendermaßen: Die Aktivitäten des Gehirns O. Creutifeld, Cortex Cerebri. Göuingen: Mary Creutzfeld, 544, 1993 T. J. Sejnowski, C. Koch, P. S. Churchland, Computational Neuroscience. Science 241: 1299-1306 (1988) 14 F. Crick. C. Koch, Das Problem des Bewußtseins. Spektrum der Wissenschaft 11: 144152 (1992) 12

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" ... werden gelegentlich Berechnungen genannt, weil sie auf eine Repräsentation, eine Abbildung - im mathematischen Sinne - gewisser Aspekte der Außenwelt auf Teilstrukturen des Gehirns hinauslaufen ... Ein Gegenstand der Wahrnehmung hat nach einer verbreiteten Vorstellung eine materielle Entsprechung, ein sogenanntes Symbol, im Gehirn, ebenso wie in der mathematischen Formalsprache ein Buchstabe als Symbol für irgendeinen Gegenstand verwendet wird. Das Gehirn verknüpft Wahrnehmungen, indem es, analog zum Buchstabenrechnen, die zugehörigen Symbole manipuliert. Somit läuft unsere Fragestellung darauf hinaus, die Strukturen zu finden, die bestimmte Bewußtseinsinhalte symbolisieren,,15. Insbesondere spricht man bei den vom Gehirn verarbeiteten Symbolen von neuronalen Repräsentationen. Philosophisch basiert das repräsentationistische Bild von Kognition auf dem empirizistischen Credo: "Nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu": Das Gehirn wird also als (mehr oder weniger leeres) Substrat, als tabula rasa, aufgefaßt, auf der die Umwelt über die Sinnes"eindrücke" Spuren hinterläßt. Ein solches Verständnis von Kognition als Repräsentation setzt einen erkenntnistheoretischen Realismus voraus: Unsere Sinne liefern uns eine direkte, objektive Erkenntnisquelle über unsere Umwelt. Diese Umwelt ist (unabhängig von dem beobachtenden Subjekt) im vorhinein eindeutig festgelegt und vorstrukturiert, d. h., die zu repräsentierende Welt ist als wahre "Wirklichkeit" objektiv gegeben. In der neuronalen Re-präsentation ginge es also darum, eine Wieder-Vorstellung, Vergegenwärtigung des in der objektiven Umwelt Präsenten zu liefern. Der Begriff der Repräsentation impliziert, daß die zwei Welten des Repräsentierten und des Repräsentierenden wohl voneinander separiert sind und unabhängig voneinander existieren. Bereits von biologisch motivierten Klassikern der Theorie der Selbstorganisation wurde jedoch darauf verwiesen, daß es selbst für Tiere nicht sinnvoll ist, von "der" einen feststehenden Umwelt zu sprechen, sondern, daß die "Umwelt" eines jeweiligen Organismus erst durch diesen selbst, seine Organisation und seine Interaktionsfähigkeiten festgelegt wird. Eine voneinander unabhängige Definition von Umwelt und Organismus, also auch des Repräsentierten und des Repräsentierenden ist damit nicht zu denken. Problematisch wird das Repräsentationskonzept auch, wenn ein Erkenntnissubjekt mit einbezogen werden soll, "für" welches eine Repräsentation erst eine Bedeutung erlangen könne. Die Einführung eines solchen scheint fast zwangsläufig in die sog. "homunculus fallacy" zu führen, bei der ein Subjekt im System gefordert werden muß, daß die Bedeutungszuweisung liefert, welches selbst jedoch als System wiederum eines entsprechenden Subjekts bedürfte usw., die also notwendig in einem unendlichen Regreß endet. Die andere Möglichkeit wäre ein Versuch der 15 Auch unter diesem Blickwinkel läuft für die Wissenschaftler die Aufgabe der Hirnforschung also wiederum darauf hinaus, die Symbole und Symbolmanipulationen im Gehirn festzumachen (zu "lokalisationieren"), und den neuronalen Code, das heißt, die Mechanismen der Bedeutungszuweisung zu entschlüsseln.

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Elimination des Erkenntnissubjekts durch eine Erklärung von Wahrnehmung als rein "mechanischer" Prozeß. Philosophisch gesehen macht es aber überhaupt keinen Sinn, Repräsentationen als Grundlage für Bedeutungszuweisung verstehen zu wollen, wenn es kein Subjekt gibt, das die Relation zwischen Bild und Abbild herstellt, dem also beide Komponenten der Abbildungsbeziehung zugänglich sind. Dazu kommt noch der erkenntnistheoretische Einwand, daß es unmöglich ist, von einem Objekt in der "Welt dort draußen" überhaupt erst zu sprechen, ohne daß ein Subjekt es definiert und damit aktiv abgrenzt von seiner Umgebung, es bestimmt als Ding mit einer Menge von Eigenschaften und praktischen Gebrauchsmöglichkeiten. Das Gehirn hat stets nur direkten Zugang zu den Zuständen seiner eigenen Konstituenten, könnte also stets nur auf Abbilder der Wirklichkeit zurückgreifen. Insofern können Repräsentationen unter Elimination des Erkenntnissubjekts nicht ohne weiteres zur Erklärung der Bedeutungszuweisung durch das Gehirn herangezogen werden. Aus diesen Überlegungen sollte zweierlei deutlich geworden sein: 1. Das Repräsentations-Konzept der Wahrnehmung widerspricht eigentlich einem eliminativmaterialistischen Ansatz, der ein Erkenntnissubjekt notwendig negieren muß. Will man also eine e1iminativistisches Forschungsprogramm in der Hirnforschung verfolgen, so müßte wenigstens die Sprechweise in den Termini einer repräsentationistischen Sicht (z. B. von neuronalen Codes, Bedeutung, usw.) aufgegeben werden. Offen bleibt dann aber die Frage, wie man noch über neurophysiologische Ergebnisse allgemeinverständlich reden könne. 2. Aus philosophischer Sicht ist eine Elimination des Erkenntnissubjekts nicht zu rechtfertigen. Es muß daher eine Konzeptualisierung eines nicht-realistischen Begriffs von neuronalen "Repräsentationen" vorangetrieben werden, der in der Lage wäre, das "für jemanden" einer Bedeutungszuweisung zu thematisieren. Ein objektivistisch-realistisches Weltbild impliziert auch, daß die Vorgänge im Gehirn als Teile dieser physikalischen Welt ebenso eindeutig und objektiv beschreibbar und erkennbar sein sollten wie Objekte unbelebter Materie. Dies hieße aber mit anderen Worten, daß unabhängig von der subjektiven Perspektive auf das zu erklärende Phänomen eine allgemeingültige, intersubjektive Beschreibung dafür gefunden werden könne. In der Hirnforschung nimmt man an, daß die Perspektivität der subjektiven Empfindung ganz eng mit der neuronalen Entladung als Substrat verknüpft ist: " ... the full subjective experience ... accompanies the neural events of sensation, however these are caused,,16. Daraus möchte man schließen, daß die elektrophysiologisch messbaren Ereignisse im Gehirn Rückschlüsse auf die subjektiven Empfindungen des Organismus zulassen. Kann man jedoch ohne weiteres davon ausgehen, daß durch die Untersuchung neuronaler Phänomene "von außen", also z. B. durch physikalische Messung an dem Gehirn eines anderen Organismus, Daten erhalten werden können, die auch aus der Perspektive 16 H. B. Barlow. Single units and sensation: a neuron doctrine for perceptual psychology? Perception 1: 371-394 (1972)

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des wahrnehmenden Organismus selbst, also gewissermaßen "von innen", Relevanz besitzen? M.a.W., muß man nicht unterscheiden zwischen dem, wie bestimmte Vorgänge von uns als Hirnforscher, z. B. während einer bestimmten Wahrnehmungsleistung in einem Organsimus messend beobachtet werden, und dem, wie derselbe Vorgang für das System selbst erscheint und welche funktionelle Bedeutung er hat? Wir können nicht ohne weiteres annehmen, daß das Gehirn dieselben Messungen, die wir durchführen, auch durchführt und dabei nicht nur zu denselben Ergebnissen kommt, sondern auch genau diese Ergebnisse als Eingangsgrößen für nachfolgende "Berechnungsschritte" dienen (können). Was bei objektivierten Messungen von außen zudem auf jeden Fall verloren gehen muß, ist die unbestreitbare private Erlebnisdimension der Wahrnehmung, die nicht ohne weiteres einem anderen Subjekt auch nur mitgeteilt, geschweige denn erfahrbar gemacht werden kann. Diese Perspektivität der Wahrnehmung, das "Wie es für jemanden ist" eines Erlebnisses, muß somit vernachlässigt werden, obwohl diese Qualität uns selbst als Wahrnehmungs subjekten nicht weniger gut intuitiv zugänglich ist und zumindest philosophisch auch gut begründet werden kann (s. Beitrag von A. Ziemke in diesem Band). Es kann in einer neurowissenschaftlichen Kritik allerdings nicht darum gehen, das Problem der Perspektivität und privaten Erlebnisdimension von Erfahrung (wie es etwa Nagel l7 in seinem berühmten Aufsatz als "wie es ist, eine Fledermaus zu sein" beschrieben hat) nur von der einen privilegierten Position des Ich-Subjektes her aufschlüsseln zu wollen. Diese Art des Subjektivismus würde in der Sackgasse des Solipsismus enden, weil sie letziich nur einem einzigen, nämlich dem eigenen Ich die Möglichkeit zu bewußter Erfahrung läßt. Was vielmehr anzustreben wäre, wäre die Konzeptualisierung gerade des bewußten Erlebens anderer Subjekte (des "Du"). Diese Forderung ist nicht nur von einem psychologischen Standpunkt aus (zwecks der Auseinandersetzung mit anderen menschlichen Subjekten) zu motivieren, sondern wäre gerade das Ziel einer ernstgenommenen nichtreduktionistischen Biologie, die auch artfremde Lebewesen als Erkenntnissubjekte thematisierte. 5. Der konstruktive (hermeneutische) Aspekt von Kognition

"Sehen ist, ... unbestritten, ein konstruktiver Prozeß, für den das Gehirn komplexe Aktivitäten ausführen muß, um zwischen konkurrierenden Interpretationen der vieldeutigen visuellen Daten zu entscheiden,,18. Dies wird jeder Hirnforscher leicht zugeben. Die Welt gibt zwar Sinnesdaten vor, diese (z. B. Wellenlängen des Lichts) verändern sich jedoch ständig und liefern keine eindeutigen Informationen über die zu erkennenden Objekte. Dieses Problem ist in der Sinnesphysiologie 17

T. Nagel, What is it like to be a bat? The Philosophical Review 83: 435-450 (1974)

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F. Crick, C. Koch, Das Problem des Bewußtseins. Spektrum der Wissenschaft 11: 144-

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wohl bekannt. S.M. Zeki z. B. fonnuliert es so: "Die Aufgabe des Gehirns ist es also, aus dem sich immerzu verändernden Datenfluß die konstanten und objektiven Merkmale des betrachteten Gegenstandes herauszufiltern. Wahrnehmung ist untrennbar mit Interpretation verknüpft. Um festzustellen, was es sieht, kann das Gehirn sich nicht damit begnügen, die Netzhautbilder zu analysieren, sondern muß aus sich heraus die visuelle Außenwelt rekonstruieren.,,19 Der konstruktive Aspekt von Wahrnehmung kommt hier klar zum Ausdruck. Dennoch scheint der Autor einem ganz realistische Weltbild zu folgen, sonst könnte er nicht von Gegenständen anheftenden "objektiven Merkmalen" und von einer Re-konstruktion (die doch vorher gegebenes voraussetzt) sprechen. Diese Widersprüchlichkeit in der Ausdrucksweise eines Neurowissenschaftlers, wenn er über typische, höhere kognitive Funktionen spricht, zeigt symptomatisch, daß die beiden Aspekte von Wahrnehmung - einerseits die konstruktive Fähigkeit, nicht eindeutige Sinneseindrücke aktiv selbst mit einer subjektiven Bedeutung zu belegen, zu interpretieren (henneneutischer Aspekt); andererseits jedoch auch die offensichtlich vorhandene, zum Überleben unabdingbar nötige Konkordanz mit der Umwelt (rezeptiver Aspekt) in dem Weltbild der Wissenschaftler einander immer noch recht unvermittelt gegenüber stehen. Die Vorstellungen von Kognition als Repräsentation und vom Gehirn als Rechenmaschine entsprechen einer Perspektive, die den Organismus als lediglich auf seine Umwelt re-agierend begreift, seine aktive, die Umwelt gestaltende Seite jedoch vernachlässigt. Im Hinblick auf das Thema dieses Jahrbuches entspricht diese Vorstellung eher der von Fremd- als von Selbst-organisation. Nun wird niemand bestreiten, daß es sich bei lebenden Systemen um selbstorganisierende Systeme par excellence handelt. Jedoch scheint es so, als würde man die dadurch aufgeworfenen konzeptuellen Konseqenzen und Probleme dadurch geschickt ausblenden, daß jeder Forscher jeweils nur einen Teilaspekt des Organismus untersucht (z. B. die Wahrnehmung, oder auch die Motorik), der sich auf den ersten Blick ohne weiteres ausschließlich unter dem rezeptiven oder dem konstruktiven Aspekt studieren ließe. Betrachten wir unter diesem Blickwinkel nochmals das experimentelle Vorgehen in typischen neurowissenschaftlichen Versuchen: Zur Bestimmung von neuronalen Selektivitäten, also etwa zur Bestimung der rezeptiven Felder einzelner Neurone, muß sichergestellt sein, daß tatsächlich nur die Abhängigkeit der neuronalen Reaktion vom gebotenen Reiz untersucht wird. Dazu müssen alle anderen, variablen "Störgrößen", die etwa auch das Verhältnis von Tier zum Reiz ändern könnten, ausgeschaltet werden. In einem klassischen elektrophysiologischen Experiment werden die Versuchstiere zu diesem Zwecke anästhesiert und paralysiert, also jede eigene Muskelaktivität unterbunden. Mit dieser Vorgehensweise handelt man sich jedoch leicht ersichtliche Probleme ein: Wie kann man davon ausgehen, daß in einem solchen, hochgradig artifiziellen, Zustand die 19

S. M. Zeki, Das geistige Abbild der Welt. Spektrum der Wissenschaft 11: 54-63 (1992)

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gleichen Prozesse im Gehirn ablaufen, die auch im wachen, uneingeschränkt bewegungsfahigen Zustand anzutreffen wären? Zwar deuten Ableitungen an wachen Versuchstieren bisher daraufhin, daß sich einige Antworteigenschaften im anästhesierten wie auch im wachen Versuchtier nachweisen lassen, allgemeingültig bewiesen ist diese Annahme jedoch nicht. Noch schwerwiegender ist jedoch ein anderes Problem mit diesem experimentellen Ansatz. Durch die "Lähmung" des Versuchstieres wird es ihm unmöglich gemacht, seine Umwelt aktiv zu erfahren, so, wie es es im wachen Zustand tun würde. Es kann in diesem Zustand nicht den Blick schweifen lassen, um eine "Szene zu explorieren" oder einen Gegenstand betasten, um ihn z. B. als Tasse zu identifizieren. Nimmt man diese aktive Komponente bei der Konstitution von Wahrnehmung ernst, so könnte es sein, daß bei einem anästhesierten Tier gar keine dem Prozeß der Wahrnehmung entsprechenden Vorgänge untersucht werden können. Das eigentliche Explanandum einer Hirnforschung, die erklärtermaßen Wahrnehmung erforschen will, träte unter den gewählten Versuchsbedingungen also gar nicht auf, d. h., der Versuch wäre falsch gewählt und könnte nichts zur Klärung des Phänomens der Wahrnehmung beitragen. Die Bestimmung neuronaler Selektivitäten in Abhängigkeit des bereitgestellten Reizangebots birgt ein weiteres Problem: Eventuelle auftretende interne Veränderungen, z. B. zentrale Rückmeldungen, können nicht mit einbezogen werden: ,,since these central messages are difficult to control by the experimenter, they appear as "neuronal variability" 20 und müssen deshalb zunächst vernachlässigt werden. Vielleicht müßte aber gerade die wechselseitige Beeinflussung von externen und internen "messages" thematisiert werden, um kognitives Verhalten verstehen zu können. Schon von Holst und Mittelstädt21 haben gezeigt, daß selbst so einfache Leistungen wie z. B. die Unterscheidung von Eigen- und Fremdbewegung, zu der sogar Fliegen in der Lage sind, nicht einfach dadurch erklärt werden können, daß bestimmte Afferenzen (Reize) bestimmte Efferenzen (Reaktionen) hervorrufen (wie es eine einfache Reflextheorie erfordern würde). Sie haben mit ihrem Reafferenzprinzip zum ersten Mal den Versuch gemacht, auch die Auswirkungen intern generierter Efferenzen auf die einlaufenden Afferenzen zu berücksichtigen und das resultierende Verhalten aus einer Wechselwirkung dieser beiden Komponenten zu erklären. Hiermit haben sie eine Denkweise initiiert, die die beiden zunächst konträr erscheinenden Aspekte der Rezeptivität und Konstruktivität von Wahrnehmung vermitteln könnte. Leider hat jedoch diese Idee in der empirischen Neurowissenschaft noch keinen rechten Niederschlag gefunden. Aus den vorangegangenen Ausführungen sollte jedoch deutlich geworden sein, daß die spezifischen Eigenschaften kognitiver Prozesse gerade nur durch das Zusammenspiel konstruk20 J. Krüger, J. D. Becker, Recognizing the visual stimulus from neuronal discharges. TINS 14: 282-286 (1991) 21 E. von Holst, H. Mittelstädt, Das Reafferenzprinzip. Wechsel wirkungen zwischen Zentralnervensystem und Peripherie. Naturwissenschaften 37: 464-476 (1950)

5 Selbstorganisation, Bd. 6

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tiver und rezeptiver Aspekte erklärt werden können. Eine Hirnforschung, die ernsthaft das Forschungsprogramm einer Kognitionsforschung verfolgen will, wird sich also zwangsläufig mit deren Vermittlung konzeptuell ernsthaft auseinandersetzen müssen. 111. Schlußfolgerungen und Ausblick

1. Zusammenfassung der Probleme

Die Probleme, die ich in diesem Artikel angesprochen habe, liegen einerseits in dem naturwissenschaftlichen Weltbild begründet, das bereits vorwissenschaftlich in die anzuwendenden Konzepte und Methoden einfließt und dessen Grundannahmen sich von philosophischer Seite her kritisieren lassen. Die eliminativ-materialistische Sichtweise von Kognition als elektrochemischer Prozeß wird nur dadurch motiviert, daß die bisher gewonnenen Ergebnisse gut mit einer engen Verknüpfung von mentalen mit neuronalen Prozessen vereinbar sind. Es gibt bisher jedoch keinen strengen wissenschaftlichen Beweis für diese Hypothese. Man vergißt auch allzu leicht, daß die Vorannahme der Realisation mentaler Prozesse durch physikalisch beschreibbare Prozesse schon in alle Experimente eingeflossen ist. Die Zuweisung von Kognition auf bestimmte Komponenten das Gehirns bzw. Zentralnervensystems könnte zudem auf einer nicht zulässigen funktionellen Abgliederung beruhen. Das vorherrschende repräsentatiopistische Wahrnehmungsparadigma impliziert einen erkenntnistheoretisch unhaiibaren Realismus. Die auf diesem Paradigma aufbauende empirische Forschung beruht zum größten Teil auf der Herstellung simpler Reiz-Reaktions-Beziehungen, die die aktive Komponente der Wahrnehmung vernachlässigt. Zudem suggeriert die Sprechweise von neuronalen Repräsentationen, daß der neuronale Code bereits bekannt sei, wovon jedoch aufgrund der momentan gegebenen empirischen Evidenzen nicht ausgegangen werden kann. Die große Menge von Einzeldaten über die Teilfunktionen neuronaler Subsysteme, die auf einem funktionellen Atomismus beruht, steht in krassem Gegensatz zu den weitgehend fehlenden systemtheoretischen Theorien und Modellen dazu, wie einzelne funktionelle Module auf der Ebene des Gesamtsystems zusammenwirken sollen, was dazu führt, daß selbst einfachste kognitive Leistungen wie z. B. die Unterscheidung von Objekten bis heute noch nicht durch eine neurophysiologisch begründete Theorie erklärt werden können. Andererseits läßt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen Erklärungsanspruch und konkreter Methodik der Experimente nachweisen. Oft werden experimentelle Ergebnisse unter Bedingungen gewonnen, unter denen kognitiv relevante Prozesse, die z. B. eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt einschließen würden, nicht möglich sind. Zudem flillt es schwer, zu so relativ subjektiven Wahrneh-

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mungskomponenten wie Vorstellung, Aufmerksamkeit, Qualität einer Wahrnehmung einen operationalen Zugang zu finden. Aus den bisher vorliegenden Ergebnissen und Experimenten auf die Vorgänge zu schließen, die unter normalen lebensweltlich relevanten Bedingungen ablaufen, scheint zu bezweifeln. All diese Probleme weisen darauf hin, daß nicht damit gerechnet werden kann, das Geheimnis des Denkens innerhalb dieser Dekade zu lüften. Creutzfeld sieht den Konflikt zwischen den Methoden naturwissenschaftlicher Empirie und der Frage nach dem Verhältnis von Geist/Gehirn so: "The legitimate question of human reason, which is part of its nature, about the relation between brain and mind is therefore a metaphysical but not a scientific question, ...". "It interferes with the analysis of brain functions, which is based upon and guided by the methodologie al rules of the natural sciences.,,22 Er selbst schlußfolgert für sich: " .. the real relationship between brain and mind remains a mystery which will always escape human knowledge because of the very nature of this knowledge. ,,23 Müssen wir diesem pessimistischen Standpunkt folgen und den Begriff der Kognition, des Denkens wieder aus der Hirnforschung eliminieren? Wollen wir damit freiwillig unseren Erklärungsanspruch einschränken und uns von nun an mit einem reduzierten Programm einer "funktionellen Neuroanatomie" bescheiden? Oder gibt es dennoch Möglichkeiten, die Phänomene der Kognition mit wissenschaftlichen Methoden zu thematisieren? 2. Wie könnten Perspektiven für eine künftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit kognitiven Phänomenen aussehen?

Für eine dem Phänomen der Kognition angemessene Hirnforschung müßten zeifelsohne entscheidende Durchbrüche sowohl im konzeptionelle Hintergrund der Hirnforschung als auch in der Entwicklung neuer experimenteller Ansätze erzielt werden. Dazu gehörte insbesondere die konsequente Thematisierung von organismisch relevanten Funktions- und Verhaltensbeziehungen und die Entwicklung experimenteller Strategien, die diesen Umständen Rechnung tragen. Die in solchen Versuchen anfallenden Daten werden erhebliche Anforderungen an neu zu entwikkelnde Auswerte- und Interpretationsmethoden stellen. Wir müssen vielleicht Forschungsgegenstand und Forschungsmethode unserer Kognitionsforschung neu überdenken, was u.U. nicht weniger als eine Revolutionierung unseres Verständnisses von naturwissenschaftlicher Erforschung des Lebendigen und der Wahrnehmung erfordern würde. Anstöße zur kreativen Veränderung experimenteller Zugangsweisen finden sich jedoch bereits in der aktuellen Forschung. So wird z. B. in vielen Versuchen am wachen oder sich sogar frei bewegenden Versuchstier versucht, zumindest ansatz22 23

5*

O. Creutifeld, Cortex Cerebri. Göttingen: Mary Creutzfeld, 544, 1993 O. Creutifeld, Cortex Cerebri. Göttingen: Mary Creutzfeld, 545, 1993

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weise "ökologisch valide" Versuchs bedingungen zu schaffen. Durch neuartige Möglichkeiten, die Lebenswelt des Organismus oder eines Teiles zu modifizieren (z. B. durch Schaffen von veränderten Sinnes-Interfaces, oder durch Haltung in künstlichen Umwelten, z. B. in Kultursystemen) könnte die Selbst-Organisation des Organismus in modifizierten Umwelten untersucht werden. Auf neurophysiologischer Ebene könnten die internen Relationen im System bei gleicher Reizsituation, aber verändertem Wahrnehmungsinhalt untersucht werden (Was passiert z. B. beim Kippen eines Vexierbildes ?). Sicher wird die Entwicklung von neuen experimentellen Strategien und alternativen Analyse-Methoden des bestehenden Datenmaterials erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen und es eventuell nötig machen, mit liebgewonnenen Denkgewohnheiten zu brechen. Der Lohn für diesen Aufwand könnte allerdings eine Hirnforschung sein, die nicht nur dem Forschungsgegenstand, sondern auch unserer Verantwortung für eine anthropologisch und sozial verträgliche Naturwissenschaft gerecht werden könnte.

Ontogenese versus Phylogenese Zum Konzept einer entwicklungsmorphologisch fundierten Evolutionstheorie

Von Ola! Breidbach, Jena

I. Zur Problematik der Selektion Wie können wir Evolution begrifflich fassen? Die derzeitige Diskussion bemüht sich um eine Verbindung der Ansätze der Genetik, der Populationsbiologie und um ein modifiziertes Verständnis von Selektionsvorgängeni. Zentral für den modernen Zugang zu dieser Problematik ist hierbei die Einsicht in die Entkopplung der genetischen Ebene und der Ebene des Phänotyps, auf der die Selektionsprozesse ansetzen. Effektiv wird die Selektion - dem modernen Verständnis zufolge - auf der Ebene der Population, deren Genbestand durch die Selektion fortpflanzungsfähiger Individuen beeinflußt wird2 • D. h. also, daß der Effekt der Selektion in einer Population erst in der Zusammensetzung der nächstfolgenden Generation dieser Population abzulesen ist. Wie ist dieser Prozeß der Herausschälung bestimmter Genkonfigurationen in einer Population nun adäquat zu beschreiben? Zentral für eine entsprechende Beschreibung ist der Begriff der Anpassung. Angepaßt sind die Organismen, die ihren Genbestand in einer Population weitervererben. Ein Maß, das die Bewertung der Anpassung eines Individuums erlaubt, findet sich in der Fitneß 3 . Die Fitneß eines Individuums beschreibt sich daheraus, wie groß der Fortpflanzungserfolg dieses Individuums in einer Population ist. Somit scheint ein Instrumentarium gefunden, über das quantitative Aussagen zur Funktion eines Individuums im Evolutionsprozeß möglich scheinen. Das Individuum wird demnach danach bewertet, was es zum Genbestand einer Population beiträgt. Folglich findet sich über die Bestimmung des Genbestandes der verschiedenen Individuen einer Population nicht nur eine Möglichkeit, verschiedene Organisationstypen untereinander zu vergleichen, vielmehr faßt sich hiermit zugleich auch eine M. Ridley, Evolution, Oxford 1993. T. Halliday, Natural selection, in: P. Skelton. (Hrsg.), Evolution. A Biological and Palaeontological Approach, Wokingham 1993, S. 136-188. 3 E. O. Wilson/W. H. Bossert, Einführung in die Populationsbiologie, Berlin 1973. 1

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Sprachregelung, über die die verschiedenen Beschreibungsebenen der Evolutionsbiologie miteinander zu verzahnen sind. Über die genetische Darstellung scheinen verschiedene Komplexitätsstufen in der Organisation der Lebensformen, die molekulare, die zelluläre, die Ebene des Individuums wie die der Population miteinander vermittelt und in ein eingängiges Beschreibungsraster überführbar zu sein4 . Es liegt denn auch nahe, den Evolutionsprozeß in diesem, die verschiedenen Komplexitätsebenen vemetzenden Anlayseansatz zu fassen und die Evolution so in der Entwicklung des Genbestandes der Populationen darzustellen. Die einer Anpassung vorlaufende Auswahl von Lebensformen selektiert auf der Ebene von Individuen; es überleben jeweils komplexe Funktionscharakteristika tragende Einzelwesen. Dadurch, daß eine bestimmte phänotypische Merkmalskonfiguration selektiert wird, konserviert sich der diese Konfiguration bedingende Genbestand. Was bedeutet dies nun evolutionsbiologisch ? Evolutionsbiologisch effektiv werden in einer Population nur die Momente ihres Genbestandes, die sich in dieser weitervererben. Entsprechend wichtig sind die Regeln eines derartigen Gentransfers über die Generationen 5 • Organisationseigenheiten der Organismen, die direkt in diesen Transfer der Gene eingreifen, müssen demnach besonders interessant sein. So gewann in den letzten Jahren das Problemfeid der sexuellen Selektion verstärktes Interesse 6 . Die rekonstruierten Strategien der Optimierung von Gentransferleistungen, die zum Teil erhebliche Teile des Gesamtenergiebudgets eines Individuums verschlucken, sind in dieser Perspektive besonders wichtig, liegen sie doch an der Nahtstelle, die den evolutionären Erfolg einer bestimmten Genkonstellation bedingt.

In einer evolutionsgenetischen Betrachtung wird der Gesamtgenbestand einer Population betrachtet und verfolgt, wie sich dieser Bestand über die Zeit variiert. Wichtig hierbei ist, daß der Genpool der Population portioniert ist. Durch die ihn tragenden Individuen ist eine Diversität im Genbesatz der verschiedenen GenTransferelemente, der fortpflanzungsfähigen Individuen, garantiert. Wir finden die Individuen demnach als lokale Instabilitäten in dem Gesamtgengefüge der Population, die nun kooperieren und so - unter positiven Bedingungen - bestimmte Genkombinationen an die nächste Generation der Population übermitteln. Hierbei wird die Heterogenität des Genbestandes zusätzlich durch Mutationen erhöht, die, aber zunächst auch wieder nur lokal, im Genom einzelner Individuen verankert sind. Eine etwaige Mutation muß sich also nach den gleichen Regeln wie auch die übrigen bisher konservierten Gene in das Fortpflanzungsgeschehen der Population einbringen. Eine evolutionsbiologische Bewertung einer etwaigen Mutation erfolgt demnach ebenfalls im Fortpflanzungsgeschehen der Population. 4 C. Patterson (Hrsg.), Moleeules and Morphology in Evolution: Conflict or Compromisse, Cambridge 1987. 5 Halliday (FN 2). 6 J. W Bradbury/M.B. Andersson (Hrsg.), Sexual selection: Testing the Alternatives. Chichester 1987.

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Die Selektion wirkt auf den Bestand der die Population tragenden Individuen7 • Ein Modell der Selektion muß einen Wert benennen, über den die Überlebensrate eines bestimmten Organisationstyps einer Art x bestimmt werden kann. In der Beschreibung eines Evolutionsresultates flillt eine Antwort auf diese Forderung zunächst leicht: Was überlebt ist angepaßt. Damit ergibt sich nun aber für eine analytische Fassung des Selektionsbegriffs ein Begründungszirkel. Das Ergebnis der Selektion dient deren Wichtung 8 . Auch eine Beschreibung der Selektion über ihren Effekt, einer Anpassung der Organismen an die sie selektierenden Rahmenbedingungen, weist aus diesem Zirkel nicht hinaus: "The modem view is, that organisms that have survived and reproduced are, by definition, fitter than those that have not and so the question (circular argument or not) shifts to why they are fitter. Endler9 suggests that, if we must use a catchphrase to describe natural selection, we should use Oscar Wilde's ,nothing succeeds like excess"'IO. Diesem pragmatischen Ansatz folgend wäre die Analyse von Anpassungsvorgängen als Kasuistik anzusetzen. Eine derartige Lösung des Problems der zirkulären Begründung des Wertes einer Selektion über das in ihr Selektierte hat Folgen. Der Raum der phänotypischen Selektion wäre demnach nur eine Bühne, die das eigentliche - auf Gen-Ebene zu zeichnende - Geschehen verdeckt. Trends, die sich auf der Ebene der phänotypischen Evolution abzeichnen, hätten entsprechend eine nur heuristische Bedeutung. Erst auf der Gen-Ebene hätte sich zu entscheiden, ob und inwieweit eine derartige Veränderung im Raum des Phänotyps evolutionsbiologisch signifikant wäre. Für die Darstellung von Merkmalsreihen bedeutet dies, daß sie als Variationen in der genomischen Konstitution einer Art oder auch ggf. einer Artfolge zu verstehen wären. 11. Individuen, Populationen, Systeme Eine Population läßt sich als Fortpflanzungsgemeinschaft kennzeichnen, innerhalb der die Individuen nach bestimmten Regeln aggregieren, eine teilweise nur äußerst kurzfristige Fortpflanzungsgemeinschaft bilden und eine Filialgeneration in die Welt setzen, die sie ggf. auch behüten, mit Nahrung versehen oder anderweitig unterstützen. Eine Art wäre als Summe derartiger Populationen darzustellen, deren Individuen untereinander zumindest potentiell fortpflanzungsfähig sind. Die Art benennt damit das umfassende Genreservoir, über das sich ein in Individuen segregierter Genbestand x evolutionsbiologisch tradieren kann 11 • R.A. Fischer, The Genetic Theory ofNaturai Selection, Oxford 1930. Vergl. hierzu ausführlich: E. Sober, The Nature of Selection. Cambridge, Mass. 1984. 9 J. A. Endler, Natural Selection in the Wild, Princeton 1986. IO Halliday (FN 2), S. 140. 11 F. J. Ayala, Competition, coexistence, and evolution, in: M.K. Hecht/W.C. Steere (Hrsg.), Essays in Evolution and Genetics., Amsterdaml970, S. 121-158. 7

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Läßt sich damit die Evolution komplett im Vokabular der Genetik beschreiben? Richard Dawkins l2 suchte in seiner Theorie der "selfish genes" in den 70iger Jahren solch einen Ansatz zu formulieren. Seiner - mittlerweile von ihm allerdings modifizierten - Theorie zufolge wären die Organismen nur die Statisten in der letzthin nur auf Ebene der Gene ausgetragenen Evolution. Sie wären nur die Transportvehikel, über die sich die Gene über die Zeit erhalten. Diese Vehikel agieren nach Regeln, die sich allein aus dem Versuch einer Optimierung dieser Gentransferfunktion verstehen lassen. D.h. für Dawkins, daß auch die Regeln der Interaktion auf der phänotypischen Ebene allein durch die Gene bestimmt sind. Verhaltensstrategien der Individuuen, die Ausformungen komplexester Gestalten, in und mit denen die Elemente einer Population konkurrieren, sind nur die Resultate eines ,Gefechtes' der einzelnen Gene. In der Verankerung in einem komplex interagierenden Genom haben diese Gene sich nach Regeln aggregiert, über die sie ihre Expression derart zu steuern suchen, daß für sie ein optimaler Reproduktionserfolg und damit eine Maximierung ihrer jeweiligen Dichte erreicht wird. Das Individuum, die phänotypische Ebene der Lebensformen, wäre damit nur die Fassade vor diesem Genbestand. Evolutionäre Konkurrenz und damit auch die Bewertung der Fitneß der einzelnen Elemente einer Population wäre entsprechend nur auf der Ebene des Genoms zu rekonstruieren. Auf der Populationsebene scheint demnach über die genetische Analyse ein Zugang zum Problem der evolutionären Wichtung der interindividuellen Interaktionen möglich. Inwieweit bleibt eine derartige Perspektive aber auch dann sinnvoll, wenn Strukturbeziehungen in den Blick geraten, die über eine Population und auch über eine Art hinweg ausgreifen? Konkurrenz zwischen verschiedenen Arten, Anpassungen an verschiedene Lebensräume, funktionsmorphologische Optimierungen - wie etwa des Fortbewegungsapparates - deuten auf Außenbeziehungen der Organismen, die sich allein dann verstehen lassen, wenn die Relationen, in die die entsprechenden Individuen eingepaßt sind, der Beschreibung zugänglich werden. Es ist zwar möglich, die in diesen Relationen agierenden Individuen über ihr Genom zu kennzeichnen und auch hier die Selektion bestimmter Organisationstypen als Veränderung in der Frequenz des Genoms etwaiger Populationen zu beschreiben, doch benennt die Genetik hier nur Merkmale, die eine Typisierung der individuellen Konfigurationen in verschiedenen Stadien des Evolutionsprozesses, aber kein Verständnis der Relationsschichtung erarbeiten, in die die Individuen eingebunden sind. Die Individuen finden sich hier in Relationen, die sich genetisch nicht beschreiben lassen 13. Begriffe wie Radiation, Konvergenz oder Nischenbildung suchen R. Dawkins, The Selfish Gene. Oxford 1976. Vergl.: T.H. Frazzetta, Cornplex Adaptations in Evolving Populations, Sunderland 1975; W. J. Bock, The definition and recognition of biological adaptation., in: Amer. Zool. 20 (1980), S. 217-227; D.C. Fisher, Progress in organismal design, in: D.M. Raup/D. Jablonski (Hrsg.), Patterns and Process in the History of Life, Berlin 1986, S. 99-117. 12

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diese Dimension zu erfassen 14, die zunächst unabhängig von der Analyse der genetischen Ebene etwaiger Evolutionsprozesse zu sehen ist. Die Populationsbiologie entwickelte ein Beschreibungsinstrumentarium, mit dem diese dynamischen Phänomene analytisch zu fassen wären 15 . Hierbei wird der Selektionswert eines Organisationstyps so bestimmt, daß dessen relative Häufigkeit vor und nach einer Entwicklungsspanne t bestimmt wird. Aus der Differenz dieser beiden Werte ermittelt sich die Fitneß eines Organisationstyps, der etwa über sein Genom zu kennzeichnen ist 16 . Nach dem gleichen Verfahren lassen sich auch Schwankungen in der Abundanz einzelner Gene in einer Population bestimmen, um daheraus die "Fitneß" derartiger Einheiten zu bestimmen. Entsprechend ist eine Wichtungsfunktion zur Bewertung der Qualität bestimmter Populationskonstellationen gewonnen. Auf der anderen Seite benennt dann die Ökologie die Einheit, an der und in der entsprechende Wichtungsfunktionen zu eichen sind: das Ökosystem 17 . Hierbei geraten wir aber wiederum in eine unbefriedigende Diskurssituation. Das Ökosystem selbst wird in seinen Eigenschaften aus den Elementen erklärt, die es konstituieren, diese Elemente werden in der Theorie aber wieder auf die in ihnen explizierten Gene reduziert. Ergeben sich bei einem solchen Vorgehen Rückschlüsse auf Faktoren, die eine etwaige Selektion erklärbar machen? Mit der ,Fitneß' ist allein der Selektionswert einer Genkonstellation während einer - beobachteten - Periode p bestimmt. Registriert werden Veränderungen in der Häufigkeit von Organisationstypen, die ein bestimmtes Set von Genen tragen. Die Entscheidung über den Erfolg eines Gens bleibt damit an den Erfolg des Organisationstypus gebunden, der dieses Gen trägt. Zudem kompliziert sich das hierin nachzuzeichende Spiel der Individuen auch für die genetisch bestimmte Perspektive um eine wesentliche Dimension: Ein Individuum ist nicht der Effekt eines Gens oder eines in seiner Qualität eindeutig zu wichtenden Genensembles. Ein Individuum ist in seiner Reaktionsqualität durch eine Kombination von verschiedenen Genen bestimmt, die in ihrer Wirkung keineswegs additiv zu verstehen sind. Eine adaequate Fassung der Qualität der phänotypischen Realisierung dieses Sets von Genen kann aber nur erfolgen, wenn die Regeln ihres Zusammenwirkens analysiert und von daher die Qualität dieser phänotypischen Beschreibungsebene gesichert werden kann.

14 15

R. Riedl, Die Ordnung des Lebendigen, Hamburg und Berlin 1975. G.P. Wagner, The system approach: An interface between development and population

genetic aspects of evolution, in: D.M. Raup/D. Jablonski (Hrsg.), Patterns and Processes in the History ofLife, Berlin 1986, S. 149-165. 16 17

Sober (FN 8). R.M. May, Theoretische Ökologie, Weinheim 1980; A. Locker, Evolution und ,Evolu-

tions'-Theorie in system- und metatheoretischer Betrachtung, in: Acta Biotheo. 32 (1983), S.227-264.

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III. Das Konzept der Entwicklungsmorphologie

Was bedingt aber nun, daß eine spezifische Konstellation von Genen, die dann einen Organisationstyp realisieren, evolutionär stabilisiert oder destabilisiert wird? Das Genom als bloße Addition von Adaptationszuständen zu fassen, greift für eine entsprechende Kennzeichnung zu kurz 18 . Die Summierung der genetisch bestimmten Eigenschaften faßt in der so gewonnenen Sequenz von Einzelcharakteristika den Organismus nur unzureichend. Das Genom wird nicht direkt in eine Reihung von Merkmalen umgesetzt. Das Ablesen und darauf erfolgende Umsetzen der genetischen Eigenschaften eines Organismus erfolgt in einem komplizierteren Prozeß, der Ontogenese. In der Ontogenese wird der Genbestand einer Art nun nicht einfach sequentiell abgerufen, vielmehr finden wir ein kompliziertes Geschehen, in dem durch den Abruf bestimmter Gene Regulationseinheiten freigesetzt werden, über die nun gezielt weitere Gene abgerufen (exprimiert) werden, die dann wiederum die Expression weiterer Gene steuern. Hierbei sind die Steuerungsprozesse keineswegs primär auf der Ebene direkter Geninteraktionen anzusetzen. Die hier zu studierenden Wechselwirkungen sind komplizierter. Die Expression eines Genes verändert den Phänotyp einer Zelle derart, daß diese nun ein differenzierteres Wirkspektrum trägt, welches die Expression weiterer Gene zuläßt. Zudem wirken auch äußere Einflüsse auf diese Zelle derart, daß bestimmte biochemische Pfade angesteuert werden , die nun ihrerseits wieder eine Freisetzung oder Hemmung bestimmter Genaktivitäten bedingen 19 . Ganz wesentlich zu einem adäquaten Verständnis dieses Vorganges bei einem vielzelligen Organismus ist hierbei eine Rekonstruktion des Zellteilungsgeschehens, das mit der weitergehenden Differenzierung der Genexpression einzelner Zellen einhergeht. Durch die fortlaufenden Zellteilungen wird der zunächst weitgehend einheitliche Reaktionsraum innerhalb des werdenen Organismus fortlaufend kompartimentiert. Diese Kompartimentierung wird von Gradienten - etwa eines Sets diffundibler Stoffe - überlagert 2o . Ein entsprechender Gradient gibt nun für die verschiedenen Zellen des von ihm überspannten Gewebes variierende Außenbedingungen. Besitzt nun auch jede Zelle einen gleichen Satz von Rezeptoren, werden in den verschiedenen Zellen - in Abhängigkeit von der differenten Intensität des Gradienten an einem bestimmten Ort - von diesen dennoch unterschiedliche Antworten produziert21 . Das Zellgefüge wird inhomogen. 18 Verg!. O. Breidbach, Was heißt Selektion? Versuch eines Verständnisansatzes, in: Zoo!. Beitr. N.F. 31 (1987), S. 165-176. 19 H. Jäckle et al., Etablierung metamerer Einheiten im Drosophila-Embryo, in: Verh. Dtsch. Zoo!. Ges. 83 (1990), S. 197-209; C. Nüsslein-Volhard, Detennination der embryonalen Achsen bei Drosophila, in: Verh. Dtsch. Zoo!. Ges. 83 (1990), S. 179-195. 20 p.w. Ingham, The molecular genetics of embryonic pattern formation in Drosophila, in: Nature 335 (1988), S. 25-34. 21 J. Campos-Ortega/E. Knust/G. M. Technau, Mechanisms of a cellular decision: epidermogenesis or neurogenesis in Drosophila melanogaster, in: N. Eisner/W. Singer (Hrsg.), Dynamics and Plasticity in Neuronal Systems. Stuttgart und New York 1989, S. 61-72.

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Verschiedene Zellen können demnach unterschiedliche Gene abrufen und damit differente Entwicklungswege einschlagen. In ihrer Wirkung aufeinander stehen diese Zellen damit aber nicht mehr in einer gleichartigen Wechselwirkung, vielmehr reagieren hier unterschiedlich differenzierte Kompartimente miteinander. Entsprechend können sie in ihren Wechselwirkungen ihre Reaktionen noch weiter voneinander absetzen. So kann eine besonders differenzierte Zelle ihrerseits einen Gradienten aufbauen, der dicht anliegende Zellen in ihrer Genexpression weiter eingrenzt, auf entfernter liegende Zellen aber weniger stark oder auch mit einer Zeitverzögerung wirkt. Entsprechend schält sich in einem derartigen Entwicklungsprozeß ein sich zunehmend komplizierter gestaltendes Zellgefüge heraus, das sich mit zunehmender topologischer Differenzierung des Organismus in seinen Wirkungen immer komplexer überlagert. Makrokompartimente bilden sich aus, die dann innerhalb bestimmter Areale des sich entwickelnden Organismus weitergehende Differenzierungsschritte einleiten und somit eine Organbildung induzieren. Das sich derart bildende, differenzierte Zellaggregat reagiert dann wieder mit anderen sich entwickelnden Großkompartimenten des Organismus, u.sJ.. Insoweit entsteht ein Organismus in einer fortlaufenden Differenzierung seines Genexpressionsprogrammes. Die sich entwickelnde Topologie des Gewebes gibt dabei ein sich zunehmend differenzierendes Raster vor, innerhalb dessen die Genexpression reguliert und aufeinander abgestimmt wird. In seinem Buch "The making of a fly" beschreibt Peter Lawrence 22 detailliert die hier nur abstrakt dargestellten Vorgänge an dem bisher bestuntersuchten Beispiel, der Taufliege Drosophila. Wie lassen sich - vor diesem Hintergrund - nun Adaptationsvorgänge begreifen? Der primäre Effekt eines Genes faßt sich zunächst auf der Ebene der Ontogenese. Ein Gen ist demnach Moment in einer komplexen Kaskade von Differenzierungsprozessen, in die es in sehr komplexer Weise eingewoben ist. Die Selektion eines bestimmten Genbestandes wirkt immer auf dieses kompliziert ineinandergreifende Gefüge von Genexpressionen. Wie wäre aber diese Auswahl des Genbestandes auf der phänomenologischen Ebene zu fassen? Beschreiben wir sie als Anpassung des Funktionszustandes des fertigen Organismus, so setzen wir Außenfaktoren voraus, auf die hin selektiert wird. Die Messung der Fitneß eines Gens innerhalb eines qua physiologischer Charakteristika definierten Außenzustandes setzt eine mehr oder minder direkte Korrelation von genetischer und phänotypischer Ebene voraus. Die Analyse des Genexpressionsgeschehens zeigt aber, daß eine entsprechende Idee, die letzthin noch an einer Charakterisierung des Organismus über eine Summe von Merkmalen festhält, den komplexen internen Funktionsbeziehungen einer Genregulationskaskade nur beschränkt gerecht wird. Die primäre Zielvorgabe eines Genes ist nicht in der Funktionalität eines Einzelmerkmals sondern in dem internen Funktionsabgleich der Genregulationskaskade zu suchen, an deren Ende dann die Ausprägung einer bestimmten Merkmalskonfiguration liegt, deren eigentliche Charakteristik somit aber weit über die mit dem Merkmalsbegriff asso22

P.A. Lawrence. The Making of a Fly. Oxford 1992.

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ziierte Funktionsbeziehung hinauszielt. Die ,,ziel"vorgabe auch des einzelnen Genes ergibt sich erst aus der Komplexität der inneren Reaktionsvemetzungen im sich entwickelnden Organismus. Entsprechend komplex wäre ein analytisches Verständnis des Selektionswertes eines etwaigen Genbestandes zu fassen. Hier liegt denn auch der Ansatz einer differenzierteren Korrelation von genetischer und phänotypischer Ebene, auf der aufbauend das Selektionsgeschehen zu fassen wäre. Ausgangspunkt einer entsprechenden Darstellung wäre die Einsicht, daß biologische Systeme selbstorganisierende Systeme sind23 . Evolution ist demzufolge als Entwicklung derart selbstorganisierter Systeme zu begreifen. In diesem Sinne wäre Evolution als Evolution von Ontogeneseprogrammen zu fassen. Resultat einer Selektion ist die Auswahl bestimmter Ontogeneseprogramme. Die Reduktion der Betrachtung auf Variationen in der Merkmalskombination der jeweils erhaltenen Imagines, die dann auf Variationen in dem zu Grunde liegenden Genbestand zurückzuführen wären, ist hier zu eng 24 • Analysiert werden muß vielmehr eine Regulationskaskade, in der der Genbestand y letztendlich einen Merkmalskomplex x hervorbringt, in der komplexen Interaktion der Genexpression aber mit den verschiedenen Wirkkaskaden des Ontogenesegeschehens verwoben ist. Vordergründig erscheint diese Präzisierung zunächst nur als komplexe Umschreibung der Existenz einer Korrelation zwischen den beiden Ebenen x und y. Die etwaige Präzisierung läge allein in einer Benennung der Vemetzung, mit der ein Subsystem x' des Genoms eines Organismus zu der Gesamtheit des sich im Organismus ausprägenden Genbestandes zu sehen ist. Die These wäre, daß sich über eine eingehendere Darstellung dieser Vemetzung eine analytische Fassung des Organisationsbegriffes und damit ein Zugang zu einer präziseren Beschreibung der Struktureinheit "Organismus" finden ließe. Zielbestimmung einer derartigen Analyse hat die Beschreibung der Struktureigenheiten der Vemetzung der Genwirkungen im Ontogeneseprogramm zu sein. Gefordert wäre, hierheraus eine Beschreibung zu finden, die die Ebene des Phänotyps in ihrer Eigengesetzlichkeit charakterisiert, und somit die Vorgabe einer auf solcher Beschreibung aufbauenden differenzierteren Fassung der Selektion zu sein hätte.

IV. Evolution von Ontogenesen

Evolution wäre demnach als Evolution von Ontogeneseprogrammen zu beschreiben. Diese Idee selbst weist in den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, als 23 U. a.d. Heiden/G. Roth/H. Schwegler; Principles of self-generation and self-maintenance, in: Acta Biotheo. 34 (1985), S. 125-138; G. Roth, Selbstorganisation - Selbsterhaltung - Selbstreferentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, in: A. Dress/H. Hendrichs/G. Küppers, (Hrsg.), Selbstorganisation. München 1986, S. 149-180. 24 T. Dobzhansky/ F.J. Ayala/G.L. Stebbins/ J. W. Valentine, Evolution, San Francisco 1977.

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von Baer erstmalig die Analogien im Entwicklungsprogramm verwandter Bautypen aufwies. Um 1870 suchte Ernst Haeckel aus der Darstellung der Ontogenese Aussagen über die Evolutionsprozesse selbst zu finden 25 . Seine biogenetische Grundregel sucht die Embryologie evolutionsbiologisch zu interpretieren26 . Wenn er demnach die Ontogenesen als Rekapitulationen der Phylogenese begreift, so hat er implizit eine wesentliche Einsicht in die Qualität der Organisation von Lebensformen formuliert 27 . Allerdings finden sich bei E. Haeckel Bezüge zu der vordarwin'schen typologischen Auffassung von Organisationsformen. Dieser Idee zufolge ist die Differenzierung von Lebensformen nurmehr als graduelle Annäherung an die höchstmögliche Differenzierung eines Lebensäußerungsprogrammes zu fassen. Der klassischen Typologie zufolge war diese Maximalfunktion der Lebensformen in der Schöpfung vorgegeben. Der Mensch erschien hier als die Krone der Schöpfung, weil sich in ihm die höchstmögliche Potenz des Lebendigen konkretisierte 28 . Die Versuche des Vitalismus, etwa von Driesch29 , suchten anknüpfend an diese Grundidee eine Typologie möglicher Lebensformen zu fassen, die sie aber nun nicht mehr in einem konkreten Organisationstyp begriffen, sondern vielmehr als variable Zielgröße aus den Anlagen der Organisationsformen zu erschließen suchten. In Haeckels Vorstellung existierte ein solches ,,ziel" jeweils nur im Rückblick. Für ihn ging es zunächst nur darum, Argumente zu finden, die die Realität des Evolutionsgeschehens erschlossen. Der Vergleich der Entwicklungsprogramme der verschiedenen Organismen erschloß ihm dies. Er führte die verschiedenen Formen der imaginalen Organismen auf die für ihn aus der Ontogenese abzulesenden Grundformtypen zurück. Insoweit rekapitulierte dann - seiner Auffassung zufolge - das Entwicklungsgeschehen einer Art dessen Phylogenese. In einer modifizierten Form sind die damit formulierten Grundideen einer evolutionsbiologisch interpretierten Entwicklungsgeschichte hierbei durchaus aufzunehmen. Wenn Slack et a1. 30 in ihrem Konzept des "zootyps" versuchen, eine Stammlinie der tierischen Organisationstypen durch eine eingehendere Analyse der verschiedenen Genregulationprogramme zu erschließen und hierbei Stammformen rekonstruieren, deren Modifikationen in verschiedenen Evolutionsreihen sie dann aufzuweisen suchen, bewegen sie sich in der Haeckel'schen Tradition einer evolutions25

E. Haeckel, Die Kalkschwämme, 3 Bde., Berlin 1872.

C. Patterson, How does phylogeny differ from ontogeny, in: B.e. GoodwinJ N. Holder / C.e. Wylie (Hrsg.), Development and Evolution, Cambridge 1983, S. 1-32. 27 K. Sander hat in seiner Darstellung der Entwicklung von ontogenetischen Programmen darauf hingewiesen, daß Evolution aber keineswegs als bloße Ausweitung der ontogenetischen Anlagen zu verstehen ist, sondern vielmehr auch ihrerseits als eine Folge von Adaptationszuständen zu verstehen ist; K. Sander, The evolution of patterning mechanisms: gleanings from insect embryogenesis and spermatogenesis, in: B.C. Goodwin/N. Holder/C.C. Wylie (Hrsg.), Development and Evolution, Cambridge 1983, S. 137-160. 28 O. Breidbach, Das Organische in Hegels Denken, Würzburg 1982. 29 H. Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 1909. 30 J.M.W. Slack/P.W.H. Holland/C.F. Graham, The zootype and the phylotypic stage, in: Nature 361 (1993), S. 490-492. 26

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biologischen Interpretation der Ontogenese; nur schichten sich in der modemen Analyse die Kausalitäten um: Die Entwicklungsgeschichte rekapituliert nicht die Phylogenese. Die Evolution verläuft vielmehr in einer Variation der ontogenetischen Programme. Nicht allein der Genbestand, sondern das Muster der Genexpression wird in einer etwaigen Entwickungsreihe fixiert, in einzelnen Punkten ggf. variiert, und steht somit als Ausgangspunkt einer weiteren evolutionären Modifikation "zur Verfügung". Die Rekonstruktion der Evolution läuft hierbei - dem zootype-Konzept zufolge - auf den Niveau einer genetischen Analyse ab. Nur sind die Gene nicht bloß als DNA-Sequenzen sondern als Teile eines Expressionskomplexes zu begreifen. Die genetische Analyse dient zur Identifizierung der Einzelkomponenten, die die hieraus entstehenden Organisationsmuster konstituieren. Analysiert werden somit die Variationen in der ontogenetischen Regulationskaskade der verschiedenen Arten. Untersucht werden damit die Variationen in den Programmen zur Genese von Topologien. Zu fragen wäre, wieweit diese ontogenetische Analyse auch über die Darstellung von Groß gruppen hinaus - die ja schon traditionell nach den entwicklungsbiologischen Grunddispositionen geordnet sind - in der Anlage der Organisationstypen trägt.

v. Die Evolution des Insektenhirns Die neurobiologische Analyse des Insektennervengewebes hat den Vorteil, daß es bei dieser Organismengruppe möglich ist, individuelle Nervenzellen zu identifizieren und in ihrer physiologischen, morphologischen und biochemischen Charakteristik darzustellen. Innerhalb einer Art sind all diese Eigenheiten einer solchen identifizierbaren Nervenzelle konserviert. Das bedeutet, daß die Analyse dieses Nervensystems auf einer äußerst präzisen Basis erfolgen kann 31 . Morphologische Charakteristika derartiger Nervenzellen sind bis in den Bereich der feineren Verzweigungen solcher Zellen konserviert. Entsprechend invariant sieht die Anatomie eines Insektennervengewebes aus. Für die funktionsmorphologische Analyse bedeutete dies, daß es möglich war, die Charakteristika solcher Zellen detailliert aufzulisten. Die hochgradige Konservierung dieser Eigenheiten führte zu der Annahme, die strukturelle Invarianz dieser Zellen als Resultat eines funktionellen Zwanges begreifen zu können: eine Zelle wäre derart invariant, weil ihre Eigenarten eine optimale Funktion dieses Teils des Nervensystems garantierten. Insoweit erschien das Insektennervensystem als ein Paradebeispiel für ein Verständnis der funktionsmorphologischen Optimierung struktureller Charakteristika im Sinne einer bestmöglichen Anpassung an Funktionszwänge der Außenwelt32 . Um so mehr 31 H. Baker, Evaluation of species specific biochemical variations as a mean for assaying homology in neuronal populations, in: Brain Behav. Evol. 38 (1991), S. 155-263. 32 G. Hoyle, Identified neurons and the future of neuroethology, in: J. exp. Zool. 194 (1976), S. 51-57.

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mußte es überraschen, daß sich homologe Nervenzellen bei funktionell different organisierten Arten strukturell zum Teil kaum unterscheiden 33 . Solche Zellen, die sich etwa in ihrer Verzweigungscharakteristik bis in Feinarborisationen 3ter und 4ter Ordnung entsprechen, lassen sich selbst bei phylogenetisch weiter auseinanderstehenden Arten identifizieren, deren Entwicklungslinien über mindestens 250 Millionen Jahre getrennt sind34 . Wie ist dies zu interpretieren? Eine Antwort gibt hier der entwicklungsmorphologische Ansatz: Vergleichendontogenetische Studien zeigen, daß sich nicht nur die Strukturen sondern auch die Art und die Stadien der Entwicklungsabfolge in der Anlage des Nervensystems bei derartigen Arten entsprechen 35 . Hierbei sind nicht nur die Grundanlageprogramme sondern auch die daran anschließenden Entwicklungsphasen, in denen sich die Feinverzweigungscharakteristika des Nervengewebes anlegen, bei solchen Arten unabhänigig von etwaig differierenden Verhaltensprogrammen - gleichartig. Dies gilt auch für Zellen, die bei den verschiedenen Arten in unterschiedliche Verhaltensteuerungsprozesse eingebunden sind 36. Die experimentelle Analyse zeigt hierbei, daß diese Zellen in ihrer Gestalt keineswegs endogen programmiert sind36 - und sich entsprechend diese Gestalttypik mit der "beibehaltenen" Nervenzelle mit vererbt hat37 ; vielmehr ist die Struktur auch der strukturell hochinvariant erscheineden, identifizierten Zellen des Insektennervengewebes durch Zellinteraktionen gesteuert. Die bei verschiedenen Arten nahezu unverändert erhaltene Gestalt eines Insektenneurons demonstriert insoweit, daß sich nicht etwa bloß die endogene Programmierung dieser Zelle, sondern vielmehr die Gesamtheit von Interaktionsprozessen, die zur Ausbildung der identischen Formcharakteristika führten, über die Evolution erhalten hat. Die hochgradige strukturelle Invarianz der Nervenzellen zeigt, daß bei diesen Arten der gesamte Komplex der in die entsprechenden Neurogenesen eingebundenen Ontogeneseprogramme konserviert wurde. Insoweit gibt die Ontogenese einen weitgehend ausgeformten Bauplan vor, der sich nun in ein exogenes Funktionsgefüge einzupassen hat. Die Funktionsmorphologie ist demnach nicht primär das Resultat einer Optimierung im Sinne einer Anpassung an Außenbezüge, vielmehr ist sie zunächst von Binnenconstrains des Or33 Vergl. W. KutschlO. Breidbach, Homologous structures in the nervous systems of Arthropoda, in: Advances in Insect Physiol. 24 (1994), S. 1-113. 34 O. BreidbachlW. Kutsch, Structural homology of identified motoneurons in larval and adult stages of herni- and holometabolous insects, in: J. Comp. Neurol. 297 (1990), S. 392409. 35 O. Breidbach, Entwicklungsmorphologie - Ein neuer Ansatz zur Fundierung einer organismischen Biologie? In: Jb f. Geschichte und Theorie der Biologie, 1(1994), S. 21-43. 36 Kutschl Breidbach (FN 33). 37 M.J. Bastianil C.Q. Doe/ S.L. Helfandl C.S. Goodman, Neuronal specificity and growth cone guidance in grasshopper and Drosophila embryos, in: Trends Neurosci. 8 (1985), S. 257266.

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ganismus bestimmt38 . Andere Entwicklungsprogrammabfolgen - etwa im Bereich der Spinnentiere 39 - führen zu differenten Hirnanlagen. Aber auch für diese Tiergruppe läßt sich eine hochgradige Konservierung in der Morphologie und biochemischen Charakteristik einzelner Zellen nachweisen, die demnach schon im Grundbauplan der Spinnentiere angelegt sind, und dann - unabhängig von einer differenten funktionellen Einbindung über die Jahrmillionen - im Laufe der weiteren Radiation dieser Tiergruppe erhalten bleiben 4o . Ähnliche Zellfraktionen lassen sich auch bei Weichtieren charakterisieren 41 • Und selbst bei Wirbeltieren zeigt sich - allerdings auf dem Niveau ganzer Kernregionen - eine analoge Invarianz in der Grundanlage des Nervensystems 42 . VI. Anpassung und Ontogenese

Was folgt daheraus für eine präzisiere Fassung von Anpassungsvorgängen ? Es zeigt sich zunächst, daß die Idee, die Struktur eines Organismus aus seiner ontogenetischen Vorgabe zu verstehen, zumindest auf der Ebene des Nervensystems nicht allein zu einem Verständnis der Grundanlage von Organstrukturen verhilft. Vielmehr zeigt sich, daß derartige ontogenetische Optionen auch Feinstrukturcharakteristika im Aufbau des Nervengewebes eines Organismus bestimmen43 . Die Invarianz entsprechender Nervenzellen ist ein Effekt von Zellinteraktionen44 . D. h. konserviert wird nicht allein die Gestalt der identifizierten Zelle, kon38 S.A. Kauffman, Developmental constrains: internal factors in evolution, in: B.C. GoodwinJ N. Holder/C.C. Wylie (Hrsg.), Development and Evolution., Cambridge 1983, S. 195226. 39 O. Breidbach, Ist das Arthropoden-Hirn zweimal entstanden? in: Natur und Museum, 122 (1992), S. 301-310.; R. WegerhojflO. Breidbach, Comparative aspects of the che1icerate nervous systems, in: O. Breidbachl W. Kutsch (Hrsg.), The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach. Basel 1994, S. 159-180. 40 O. Breidbachl H. Dircksenl R. Wegerhoff, Common general morphological pattern of peptidergic neurons in the arachnid brain: crustacean-cardioactive-peptide-immunoreactive neurons in the protocerebrum of seven arachnid species, in: Cell Tissue Res. 1995, im Druck. 41 A.G.M. BuliochlR.L. Ridgway, Comparative aspects of gastropod neurobiology, in: O. Breidbach/W. Kutsch (Hrsg.), The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach,Basel 1994, S. 89- 114. 42 G. Rothl D.B. Wake, Trends in the functional morphology and sensorimotor control of feeding behavior in salamanders: an example of internal dynamics in evolution, in: Acta Biotheor. 34 (1985), S. 175-192. 43 O. Breidbach, Constant topologial organization of the coleopteran metamorphosing nervous system, analysis of persistent elements in the nervous system of Tenebrio molitor, in: J. Neurobiol. 21 (1990), S. 990-1001. 44 e.s. Goodmanl M. Batel N.e. Spitzer; Embyronic development of identified neurons:origin and transformation ofthe H-cell, in: J. Neurosc. 1 (1981), S. 94-102; Bastiani et al. (FN 37); O. Breidbach, Reorganization of persistent motoneurons in a metamorphosing insect (Tenebrio molitor L., Coleoptera), in: J. Comp. Neurol. 302 (1990), S. 173-196.

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serviert wird vielmehr die ganze Folge von Zell-Interaktionen, an deren Ende dann die invariant erscheinende Fonn einzelner Nervenzellen festzustellen ist: Die Formkonstanz der neuronalen Gestalt demonstriert die Invarianz eines ganzen Ontogeneseprogrammes 45 . Insoweit ist es also berechtigt, aus der Analyse der Entwicklung eines Organismus eine vereinfachte Beziehung von Funktion und Merkmalsausprägung in Frage zu stellen. Zugleich ergibt sich aber auch eine positive Feststellung. Durch die enge Verkopplung der interagierenden Zellen erhält sich ein Organisationstyp unabhängig von etwaigen Funktionszwängen, in denen diese einzelnen Zellen eingebunden sind. Die entwicklungsbiologische Untersuchung bietet damit einen Zugang zu einer analytischen Fassung der Organisationscharakteristika einer Art46 • Anpassungsvorgänge können nur auf der Basis dieser Organisationsvorgaben ablaufen 47 . Das vorgegebene Raster der Binnenbestimmung ist engmaschig. Entsprechend gewinnt der Organismus eine Eigenbestimmung, die ihn in seiner Strukturierung über funktionsbedingte Variationen als Fonntyp erkennbar hält. Dies ist zunächst eine Binsenweisheit, bleibt doch ein Wal gerade daher als Säuger erkennbar, da er seine fischähnliche Gestalt durch Variation von säugertypic sehen Grundanlagen gewonnen hat. Diese Einsicht bietet die Grundlage des Homologiekonzeptes in der vergleichenden Anatomie, wie es schon vor Darwin, etwa durch Richard Owen48 fonnuliert und dann etwa durch C. Gegenbaur49 präzisiert wurde. Allerdings führen sich in einer von der modemen Entwicklungsbiologie getragenen Betrachtungsweise die an sich zunächst rein deskriptiven Begriffe einer vergleichenden Analyse auf ein Netz rekonstruierbarer Kausalfaktoren zurück, die bis auf die Ebene von Genexpressionsmustem zurückverfolgt werden können. Eine umfassende, auf diesem Gedanken aufbauende Interpretation des Datenbestandes der vergleichenden Embryologie steht allerdings erst am Anfang, so daß auch hier lediglich die Konturen des entsprechenden Konzeptes zu zeichnen sind5o . Es ist allerdings festzuhalten, daß in dieser Art der Analyse die Betrachtungsebene bis auf das Niveau identifizierter Zellen herunter geführt werden kann 51 . Ferner zeigt 45 C. S. GoodmanlM.J. Bastiani, Wie embryonale Nervenzellen einander erkennen. Spektrum der Wiss. (1985), S. 48-62. 46 Breidbach (FN 35). 47 T.J. Horder; Embryological bases of evolution, in: B.e. Goodwin/N. Holder/e.e. Wylie (Hrsg.), Development and Evolution, Cambridge 1983, S. 315- 352. 48 R. Owen, Lectures on the Comparative Anatomy and Physiology of the Invertebrate Animals. London 1843. 49 C. Gegenbaur; Ontogenie und Anatomie, in ihren wechselseitigen Beziehungen betrachtet, in: Morph. Jb. 15 (1889), S. 1-9. 50 P.M. Whitington, Conservation versus change in early axon genesis in arthropod embryos: A comparison between myriapods, crustaceans and insects, in: O. Breidbach/W. Kutsch (Hrsg.), The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach, Basel 1994, S. 181-220. 51 Kutschl Breidbach (FN 33)

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sich, daß sich in dem sich immer weiter komplizierenden Gefüge von Zell- und Gewebeinteraktionen in der Ontogenese eines Organismus keine prinzipiell neuen Regulationsmechanismen aufbauen. Das in der Embryogenese angelegte Organisationsmuster wird über die Mechanismen ausgebaut, die sich schon in dieser frühen Entwicklungsphase anlegten. Phylogenetisch näherstehenden Gruppen ist über ihr gemeinsames ontogenetsches Grundprogramm ein Organisationsmuster vorgegeben, das unabhängig von etwaig wechselnden Funktionszwängen beibehalten wird52 . VII. Konvergente Entwicklungen

Gleichartig erscheinende Gewebebereiche, wie etwa die den verschiedenen Sehorganen bei Insekten, Spinnen oder Tintenfischen nachgeordneten Nervengewebe, werden insoweit auch für eine differenziertere evolutionsbiologische Analyse zugänglich. Die Grundentwicklungsschritte, die zur Konstitution dieser verschiedenen Nervengewebsareale führten, sind nicht identisch. Vielmehr folgen die Anlagen aller drei Neuropilbereiche differenten ontogenetischen Programmen. Demnach finden wir in ihnen konvergente, parallel zueinander entstandene Gewebeeinheiten. Über eine entwicklungsmorphologische Analyse sind nun sichere Kriterien zu finden, derartige konvergente Strukturen zu identifizieren. Ausgangspunkt hierzu ist die Charakterisierung homologer Neuronen 53 . Ausgehend von der Darstellung eines Netzwerkes homologer Neuronen sind homologe Neuropilbereiche in verschiedenen Arten zu kennzeichnen. Nichthomologe Zellen sind charakterisierbar. Variationen in der Charakteristik homologer Zellen sind darzustellen. Etwaige funktionelle Überforrnungen in diesem Raster homologer Neuronen werden rekonstruierbar. Konvergente Neuropilentwicklungen sind zu benennen54 . Hiermit greift die entwicklungsmophologische Analyse in eine Lücke der evolutionsbiologischen Analyse. Während in dem klassischen funktionsmorphologischen Ansatz nur Anpassungszustände, nicht aber deren Genesebedingungen studiert werden konnten, ist in der entwicklungsmorphologischen Analyse die morphologische Charakteristik eines Organismus zunächst als Resultat seines Ontogeneseprogrammes verstanden 55. Die funktionelle Einbindung der in diesem Prozeß entwickelten Strukturen erfolgt demnach sekundär. Zunächst expliziert sich das Ontogenese52 O. Breidbachlw' Kutsch, Introductory remarks, in: O. Breidbach/W. Kutsch (Hrsg.),The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach, Basel 1994, S. 1-6. 53 Kutschl Breidbach (FN 33). 54 N.J. StrausfeldIE.K. BuschbeckIR.S. Gomez, The arthropod mushroom body: Its functional roles, evolutionary enigmas and mistaken identities, in: O. Breidbach/W. Kutsch (Hrsg.), The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach., Basel 1994, S. 349-382. 55 Breidbach (FN 35).

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programm. In der Analyse der entwicklungs morphologischen Konstitution eines Organismus und in den hier aufzuzeigenden Parallelen in der Variation von Gewebe-Bildungsprogrammen kann dann eine etwaige Bedeutung der funktionellen Adaptationen für die Variation organismischer Bauprogramme rekonstruiert werden. So zeigen dann etwa so gänzlich differente hardware- Vorgaben wie unser Hirn oder aber ein parallel verarbeitender Computer gleichartige Funktionsprinzipien. Im Vergleich der parallel und unabhängig voneinander entstandenen Hirne von Insekten und Spinnentiere lassen sich hochgradig ähnliche Strukturen finden, die in analoge Funktionszusammenhänge eingebunden sind56 . Es scheint also, daß es für eine entsprechende AufgabensteIlung notwendig sei, ein diese realisierendes System so und nicht anders aufzubauen. Die Analyse derartig konvergenter Strukturen gibt damit eine Möglichkeit, die Bedeutung von Außenfaktoren für die Ausbildung struktureller Besonderheiten präzise zu benennen, um damit - ausgehend von einem organismischen Ansatz - relevante Faktoren in Anpassungsprozessen benennen zu können. Insoweit gewinnt sich aus dem Konzept der Entwicklungsmorphologie ein Ansatz, die Spezifität der organismischen Ebene auch evolutionsbiologisch zu fassen. Dieser Ansatz expliziert das schon von Schrödinger reklamierte Spezifikum der vitalen Organisation57 : die Explikation der Lebenstypik im einem vierdimensionalen Kontinuum. Die eingehendere Analyse der Entfaltungsprozesse der räumlichen Organisationen der Organismen in der Zeit weist hierbei auf die fundamentale Bedeutung der topologischen Schichtungen der Genexpressionsmuster für ein Verständnis der Spezifität von organischer Organisation. Hierin zeigt sich eine Dymanik, aus der sich die Eigenständigkeit der organismischen Ebene - des Bereichs des Phänotyps - begründen läßt. Der Ansatz für eine Analyse diese Ebene faßt sich in der Untersuchung der Relationsbeziehungen zwischen den verschiedenen den Organismus konstituierenden Elementen. Wir erfassen deren Topologie als eine dynamische Größe. Eine Topologie X ist das Resultat einer Genese, setzt aber zu jedem Zeitpunkt t die Bedingungen zur Konstitution ihres Zustandes in t + 1. Interessieren müssen die Strukturbestimmungen, unter denen sich der Reaktionsraum des Organismus entfaltet. Diese finden sich nun nicht einfach in den Genen, sondern vielmehr erst in den Mustern der Genexpression. Damit sind diese Strukturen topologische Größen. Es deutete sich an, daß in einer entsprechenden Perspektive ein neuer Ansatz zu finden ist, die funktionsmorphologische Organisation der Lebensformen zu interpretieren. Hierbei werden Anpassungsprozesse zunächst als Variationen des ontogenetischen Grundprogrammes rekonstruiert. Etwaige Variationen der entspre56 Breidbach (FN 39); O. Breidbach, Is the evolution of arthropod brains convergent? In: O. Breidbach/W. Kutsch (Hrsg.), The Nervous System of Invertebrates: An Evolutionary and Comparative Approach, Basel 1994, S. 383-406. 57 E. Schrödinger, What is life? Cambridge 1944.

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chenden Programme innerhalb einer Spezies und dann auch zwischen verschiedenen Spezies werden aufgezeigt. Derartige Abweichungen werden mittels der Charakterisierung homologer Merkmale aufgewiesen und auf etwaig variierende Verhaltensfunktionen bezogen. Zeigt sich eine Baueigentümlichkeit der Arten, die direkt mit spezifischen Verhaltensfunktionen verkoppelt ist, erlaubt es dies, die zu solch einer Variation des Bauprogrammes notwendigen Änderungen in der ursprünglichen Ontogenese zu rekonstruieren und dergestalt eine Aussage über eine etwaige Anpassung einer Art an einen Zustand x zu präzisieren.

VIII. Defizite der Systembeschreibung Leider stoßen wir hier in der derzeitigen Evolutionbiologie, was die theoretische Behandlung der natürlichen Selektion anbelangt, noch auf große Defizite58 . Insbesondere fehlt hier ein Verständnis von Selektionsprozessen, das die interne Dynamik entsprechender Ereignisfolgen auf der Populations - und Ökosystemebene nachzeichnet 59 . Es gilt, ökologische Systeme als Kopplungsgruppen von Individualkonfigurationen zu betrachten60 • Diese Kopplung von lokalen Zuständen definiert Interaktionszonen von sich überlagernden Wechselwirkungen, die nun ihrerseits die Eigenschaften der einzelnen über Relationen verzahnten Bereiche definieren 61 . In diesem Wirkgefüge bilden sich Kopplungsgruppen, die - über Randzonen vermittelt - mit anliegenden Einheiten weniger stark als mit innerhalb dieser Randzonen gestaffelten Elementen verzahnt sind. Interessant sind nun die dynamischen Eigenschaften derartiger Gebilde 62 . In deren Analyse wird etwas davon verständlich werden, was Selektions prozesse auszeichnet. Zu einem eingehenderen Verständnis derartiger dynamischer Zustände ist zunächst allerdings der Systembegriff zu klären. Erste Ansätze zu einer entsprechenden Darstellung der Eigenschaften evolvierender Systeme gehen von energetischen Überlegungen aus und suchen Veränderungen in der Zuordnung von Populationen analog der Darstellung von interzellulären Kompartimentierungen zu fassen 63 . Ein adaequater Zugang zur Darstellung der Systemcharakteristik muß dabei die wesentliche Grundeigenheit bioHalliday (FN 2). Wagner (FN 15). 60 S.A. Levin, Population models and community structure in heterogeneous environments, in: SA Levine (Hrsg.), Studies in Mathematical Biology II. Providence 1976, S. 439-476; S.A. Levin, Pattern, scale and variability: An ecological perspective, in: A. Hastings (Hrsg.), Community Ecology, Berlin 1988, S. 1-12. 61 P.A. Moran, Statistical Processes of Evolutionary Theory. Oxford 1962; E. Aauto, The moran model and validity of the diffusion approximation in population genetics, in: J. theor. Bio!. 140 (1989), S. 317-326. 62 P. Yodzis, The dynamies of highly aggregated models of whole communities, in: A. Hastings (Hrsg.); Community Ecology. Berlin 1988, S. 112-131. 63 Vg!. May (FN 17) 58

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Ontogenese versus Phylogenese

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logischer Populationen berücksichtigen: Populationen konstituieren sich in der Interaktion von Individuen. Hier zeigt sich nun eine zweite Schwierigkeit einer systemtheoretischen Analyse der Evolution. Zu einem adäquaten Verständnis der Entwicklungsprozesse auf der phänotypischen Ebene ist eine präzisere Fassung des Organismusbegriffs erforderlich. Wir hatten gesehen, daß eine Reduktion der Individualkonfigurationen einer Population auf eine statistische Analyse der Genverteilungsmuster in der Analyse von Selektionsprozessen nicht über eine reine Deskription der Zustandsfolgen eines Evolutionsprozesses hinausführt. Erst wenn die Spezifität der organismischen Ebene eingehender benannt ist, können hier auch analytische Aussagen erwartet werden. Eine konzise organismische Biologie ist Voraussetzung für eine weitere Entwicklung in einem Verständnis etwaiger prinzipieller Eigentümlichkeiten des Selektionsgeschehens. Erst auf der damit gewonnenen systemischen Ebene werden strukturelle Eigentümlichkeiten, die schon immer in der Rekonstruktion des Evolutionsgeschehens faszinierten, verständlich. Radiationen, die Konvergenzschübe in der Entfaltung der Fische im Silur / Devon, die Explosion der spätdevonischen Trilobitenfaunen, aber auch die Vielfalt von Arthropodenkonstruktionen wären von hierher zu fassen 64 . Im Begriff der Teleonomie wurde versucht, die Eigendynamik der Evolution auf der Ebene des Phänotyps zumindest zu benennen65 . Der analytische Ansatz, der ein eingehenderes Verständnis für etwaige, durch das Attribut ,teleonom' gekennzeichnete Entwicklungslinien erlaubt, muß allerdings noch gefunden werden. Die Entwicklungsmorphologie könnte einen ersten Schritt auf dem hier einzuschlagenden Weg darstellen.

IX. Epilog Der vorliegende Entwurf läßt viel anklingen, löst aber selbst noch wenig ein. Versucht wurde zunächst nur eine Bestandsaufnahme. In der gebotenen Kürze ist auch diese Sichtung wichtend. Es scheint mir aber, daß die Evolutionsbiologie gerade von der entwicklungsmorphologischen Analyse her einen neuen Zugang zur Konzeption eines organismischen Ansatzes finden kann, der aus den aufgewiesenen Erklärungsengpässen herausweisen könnte. Dringlich wäre hier zudem eine eingehendere wissenschaftshistorische Analyse, in der auch die Denkdispositionen, die mit der von Schrödinger eingeleiteten zweiten Stufe einer Physikalisierung der Biologie einhergingen. Durch die Thermodynamik und die Quantenmechanik wurde die Biologie in der Mitte unseres Jahrhunderts in eine Richtung gelenkt, die in der weiteren Entwicklung dieses Faches kaum mehr angefragt wurde. Von daher

64 Verg!. Hinweise in: O. Breidbach, Überlegungen zu den Systembedingungen von Selektionsprozessen, in: Zoo!. Beitr. N.F. 31 (1987), S. 395-408. 65 F. M. Wuketits, Biologie und Kausalität, Berlin und Hamburg 1981.

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ist der von E.P. Fischer eher stolz fonnulierte Satz, daß die modeme Biologie eben nicht das Werk von Biologen sei, sondern vielmehr wesentlichen von Physikern initiiert sei66, ein Indiz für einen kritischen Zustand der Biowissenschaft. Ist das Objekt ,Leben' hier nicht in ein Begriffskorsett eingebunden worden, das zwar den Vorteil der auch mathematischen Handhabbarkeit besitzt, selbst aber dann doch schon im ersten Ansatz Eigentümlichkeiten des Lebendigen außer Blick geraten ließ? Zentral scheint es mir, auch in der Biologie die Beschreibungsebene neu zu beleben, die wir heute unter dem Stichwort der Topologie wieder entdecken. Es zeigt sich, daß der Zugang zur Spezifität der Lebensfonnen ein morphologischer ist67 . Es gilt das konzeptionelle Repertoire dieses Ansatzes herauszuarbeiten und von dort her die Diskussion um etwaige Mechanik von Evolutionsprozessen neu aufzunehmen.

66 E. P. Fischer, "Was ist Leben?" - mehr als vierzig Jahre später. Einführung in: Schrödinger, E.: Was ist Leben? München 1993, S. 9. 67 verg!. K.P. Sauer, Morphologie und Evolution, in: Verh. Dtsch. Zoo!. Ges. 85 (1992), S.349-357.

Das organisierte Selbst Reflexionslogische Minimalbedingungen selbstbezüglicher Strukturbildung

Von Joachim Castella, Bochum

I. Die Objektivation des Selbst

"Gnothi sauton ,,1 - damit überschreibt das antike Griechenland nicht bloß sein Allerheiligstes, der delphische Steinmetz inskribiert den Nachgeborenen in gleichem Maße auch ein Paradigma, an dessen Inzision zu kratzen sich in jüngster Zeit erst der Geist in Natur- und Kulturwissenschaft aufgemacht hat. Paradeigma heißt Beispiel, Vorbild, Muster, aber auch warnendes Beispiel und Modell, und es wird zu fragen sein, zu welchem Bild des Selbst das Beispiel führt, wenn das Apollonische Diktum als Modell der Mustererkennung genommen wird.

"Erkenne Dich selbst!" - Es mag daran liegen, daß die Inschrift einen Tempelbezirk überschreibt, Selbsterkenntnis gilt bereits Sokrates eher als moralische Vorschrift, 2 denn als erkenntnistheoretische Maxime, und das, was erkannt wird, ist die Seele, also der Sitz der Vermögen der Vernunft. Damit - denn die Seele verweist auf göttliche Abkunft - wird das gnothi sauton zur Maxime der Selbst-, und Gottesschau in einem, und sichert sich im Begriff der aisthesis eautou, der (sinnlichen) Wahrnehmung von sich selbst, in der Stoa sein Fortleben. Daß solches erkannt und geschaut werden kann ist nicht selbstverständlich, es bedarf zu allererst der Einigung darüber, daß der Kern des Selbst eine, wenn auch supranaturale, doch designationsfähige Entität ist. 3 Erst dann kann Sokrates analogisieren: "Haben wir nun wohl etwas anzuführen, was göttlicher wäre in der Seele als das, worin das Wissen und die Einsicht sich findet? [... ] Dem Göttlichen also gleicht dieses in ihr, und wer auf dieses schaute und alles Göttliche erkennte, Gott 1

pel.

"Gnothi sauton " - ,,Erkenne Dich selbst" liest man über dem Delphischen Apollo-Tem-

2 Selbsterkenntnis ist Sokrates Mittel zum Zweck, ist Instrument auf dem Weg zur Besonnenheit, zur sittlichen Vervollkommnung. Vgl. Platon: Alkibiades I. l28a-129b, l32b-134b; Charmides. l64d-l72c; Phaidros. 22ge; Protagoras. 343b. 3 Zur Genese der hellenistischen Seelenvorstellung vgl. H. Schmitz: Leib und Seele in der Abendländischen Philosophie. Philosophisches Jahrbuch 85.1978, S. 221-41.

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und die Seele, der würde so auch sich selbst am besten erkennen. ,,4 Es ist die hellenische Antizipation der Trinitätslehre, die hier beschrieben ist und die - denn Dreifaltigkeit soll nur dem Gott zukommen - von der christlichen Dogmatik als Trichotomismus verworfen werden wird: Gott, Seele, Selbst, verbinden sich zu einem borromäischen Knoten und gebären dem solcherart überdeterminierten Ego seine Identität auf dreifache Weise: Ich für mich; Gott/Logos in mir; dazwischen - denn Platon ist Dialektiker - als Vermittlungsinstanz die Seele, die auf beide Bereiche übergreift und so dem Menschen sein eigentliches Sein stiftet. Eine Existenz, die, lokalisiert zwischen Transzendenz und Immanenz, sich aufmacht, "von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht."s Einsicht jedoch ist die Versenkung ins Ich, ins Selbst, in die im sämaKörper gefangene Seele, von wo aus der Kreis dann aufs neue betreten werden kann. Man sollte nicht den Fehler begehen und diese frühen Selbstkonzepte vorschnell der Naivität zeihen, auch wenn von allem Anfang an erfolgreicher und in Konkurrenz zu der Platonisch angelegten Erkenntnis und Anschauung des Selbst im Sinne des Wissens um das sittliche Wissen, ihre abstraktere Fassung steht, die von Aristoteles fest dem abendländischen Denken eingeschrieben wird. Abstrakt, insofern das Wissen sich von seinen ethischen Implikaten löst. An die Stelle der Einsicht in das Wissen um das Sittliche und Gute tritt bei Aristoteles das Wissen des Wissens selbst,6 die Sokratisch/Platonische gnosis wird substituiert durch die noesis, womit sich mehr als eine Säkularisierung der Kontemplation andeutet, wenn diese Neubesetzung das Absehen von jeglicher, eben auch von der göttlich vermittelten, ethischen Proposition begründet. Uns Heutigen steht der Erkenntnisbegriff der noesis näher als die semantisch vermutlich im Reich von Mystik, bestenfalls New Age situierte "gnostische" Rückbesinnung auf das Selbst, verspricht das noema doch, ein rein strukturaler, syntaktischer und also "wahrer" Funktionsterm zu sein. Diese Nähe ließe sich mit jener eigentümlichen Koinzidenz von Zufall und Notwendigkeit erklären, die Monod zurecht oder nicht als dynamisches Entwicklungsprinzip hinter dem biologischen Evolutionsprozeß vermutet. Zufall also mag es gewesen sein, daß die Aristoteles-Rezeption sich als der wirkmächtigere Faktor in der geistesgeschichtlichen Phylogenese des Okzidents erwiesen hat, notwendig war von hier ab dann die Aus4 Platon: Alkibiades I. 133c (Zit. nach: Platon: Werke in acht Bänden. Übers. v. F. Schleiermacher. Hrsg. v. G. Eigler. Darmstadt: WBG, 1990). 5 Platon: Theaitet. 176a f. 6 Funktionale Differenzierung in ihren Anfängen, das Wissen um das Sittliche wird ausgegliedert, als solches systematisiert, schließlich vom Aristoteles-Editor Andronikos als Nikomachische bzw. Eudemische Ethik kanonisiert. Die hiennit grundgelegte Spezialisierung in Logik, Naturphilosophie und -wissenschaft, Politik, Ethik und Ästhetik wieder in Personalunion zu vereinen, wird dann das Bildungsideal im Topos des "Universalgelehrten" beherrschen.

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schließung konkurrierender Ansätze, 7 von denen einer das Selbst in einem wenn nicht non-identitätstheoretischen, so zumindest nicht-identischen Rahmen zu sehen erlaubte. Aristoteles jedoch ist der Erfinder der Logik, weil unserer Logik, und als solcher weist sein Interesse für Strukturen dahin, mit der universalen Applikationsfähigkeit des einen Formalapparates einen absoluten Gesetzestext zu verfassen. Absolut in der zweifachen Bedeutungen des Wortes: von unumschränkter (universaler) Gültigkeit und gleichzeitig losgelöst (ab-solut) von der thematischen Jeweiligkeit des spezifischen Denkaktes. Die Lehre vom richtigen Denken ist formal, denn sie ignoriert die Existenz ihrer Propositionen, die Logik, die die Eine sein will, kann solches nur werden, wenn nicht über die Adäquatio von Seiendem und seinem Gedachtsein, sondern über die Konsistenz des Denkens selbst befunden wird. Stoff und Form treten auseinander - einerseits - bilden fortan in ihrer Dichtomisierung das Muster, unter dem sich die folgenschweren Oppositionen von Substanz und Akzidenz, dynamis (potentia) und energeia (actus), Materie und Geist, Positivität und Negativität ausformulieren können. Die Konsequenzen dieser Oppositionalität zeigt Derrida, wenn er hinter jeglicher metaphysischen Gegenüberstellung immer ein Subordinationverhältnis entdeckt, 8 eine Hierarchie der Begriffe, deren polare Wertskala zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit maximal einen einmaligen Grundentscheid zuläßt. Gleichgültig ob Realisten oder Nominalisten, Empiristen oder Rationalisten, Materialisten oder Idealisten sich als inverse System gegenüberstehen, hinter dem Streit um die Möglichkeit des Zugangs zum Seienden steht immer die bereits gesetzte Präferenz für Stoff oder Form. Auch wenn es den Anschein hat, es ginge um das WIE des Zugangs zum Seienden, und erst die Form der Wissensakquisition entscheide über das "an-sich" oder "für-mich" des Stoffes, 7 Geistesgeschichtliche Entwicklungen allererst als Prozesse diskursiver Ausschließung, Verschüttung, Versandung des so als das Andere, das Verbotene, das Irratationale deklarierten erkannt zu haben, ist das große Verdienst Michel Foucaults, der sich in seiner Arbeit als Archäologe aufmacht, die Dispositive der herrschenden Ratio als die der Macht zu dechiffrieren. Lohnend wie überfällig wäre eine Grabungsarbeit und Genealogie, wie sie Foucault im Bereich von Sex, Recht und Wahnsinn unternimmt, für das Feld der Mathesis, innerhalb derer das ins Unbewußte abgesunkene Andere der tradierten Zahl-, Begriffs-, Klassifikations-, und Verknüpfungskonzepte sich als das ehedem zur Disposition stehende erneut ins Bewußtsein bringen könnte. Daß eine solche Genealogie nicht an einer Renaissance des Mythischen interessiert ist, sondern eine Transparenz dafür zu schaffen sucht, daß und warum bestimmte Vorstellungen aus dem Repertoire gestrichen wurden, betont R. Kaehr: Freistil oder die Seinsmaschine. Mitteilungen aus der Wirklichkeit von Th. Schmitt. ARD Iplus, 12.6. 1991. Ansätze einer Archäologie bei Kaehr: Einschreiben in Zukunft. Bemerkungen zur Dekonstruktion des Gegensatzes von Forrnal- und Umgangssprache in der Günthersehen Theorie der Negativsprache und der Kenogrammatik als Bedingung der Möglichkeit extra-terrestrischer Kommunikation. in: D. Hombach (Hg.): Zeta 01 - Zukunft als Gegenwart. Berlin: Rotation, 1982, S. 191-238; sowie G. Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. 2. durchges. u. erw. Auflg. Hamburg: Meiner: 1978. 8 Vgl. J. Derrida: Randgänge der Philosophie.Wien: Passagen, 1988, S. 313.

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legitimiere oder diffamiere das WAS des Seienden als Eigentliches oder Uneigentliches, die antagonistische Situation ist zu allererst Produkt der vorgängigen Dichotomie und stellt auf beiden Seiten allein die Wiederholung der einen, gemeinsamen Strukturation des Denkens dar: die duale Hypostasierung zweier metaphysischer Komponenten, deren postume Vermittlung dem Denken notwendiger Motor ist, sei es, um nicht nichts oder nicht ohne Grenzen zu denken. Wahlweise Stoff und Form als archai, als Urgründe und Ursprünge des Seienden, eben so, wie Aristoteles sie neben dem Woher und Wohin der Bewegung inauguriert hat. Einerseits also - und dies wäre der Metaphysiker Aristoteles - installiert er dem Denken mit Stoff und Form zwei nicht hintertreibbare Seinsgründe, aus denen das real existierende Dies und Das sich ableitet. Andererseits jedoch - als Ontologe dann - vulkanisiert er Stoff und Form im hylemorphismus zu jener untrennbaren Einheit, die uns auffordert, das raumzeitlich Seiende als die Partizipation an beidem, Sein und Nichtsein, Materie und Geist, Stoff und Form zu denken. Das innerweltlich Begegnende entspringt hier einer eigentümlichen Verbindung von Präsenz und Absenz, denn Aristote1es widerspricht der Platonischen ,,zwei-WeIten-Theorie"; intelligibles und empirisches Seiendes sollen nicht in zwei Kosmen getrennt existieren, die Welt des Hier und Jetzt ist ihm der "melting pot" des Physischen einerseits und andererseits der so um ihr genuines Reich gebrachten Ideen. Auch hier: Abstraktion anstelle von Anamnesis auf dem Weg zur Erkenntnis des formenden Prinzips, das nun nicht mehr Idee, sondern hypokeimenon, Zugrundeliegendes, oder prima materia heißt, und das, insofern es im Hier und Jetzt seine Realität besitzt, den Ausgang aus der Platonischen Höhle weisen soll. Denn, nichts Schattenhaftes eignet mehr dem Realen, dessen ideale, schattenwerfende Schablone nur um den Preis der Blendung zu erkennen war. Im Seienden selbst liegt das All des Kenn- und Wissbaren beschlossen, die maieutische Fertigkeit zielt nun auf das Entbergen, nicht mehr des Idealen, sondern des Abstrakt-Allgemeinen, und seither "sind in den wahrnehmbaren Formen die denkbaren enthalten, sowohl die sogenannten abstrakten wie auch die Gestaltungen und Beschaffenheiten des Sinnlichen. Und deswegen kann niemand ohne Wahrnehmung etwas lernen oder verstehen, und wenn man etwas erfaßt, muß man es zugleich mit einem Vorstellungsbild erfassen. Denn die Vorstellungsbilder sind gleichsam Wahrnehmnungsbilder, nur ohne Materie. ,,9 Doch gelingt dies nur zum Teil, denn die Erste Materie, die sich als das substanzlose und designationsfreie Prinzip dem positiven Diskurs entzieht, scheint zu stark vom idealistischen Erbe Platons behaftet, als das ihr eine dauerhafte Emanzipation aus dem kosmos noetos (Ideenwelt) beschieden wäre. Auch wenn Aristote9 Aristoteles: De anima. III 8, 432a 9. (Zit. nach: Aristoteles: Über die Seele. Übers. u. mit Erläut., Gliederg. u. Literaturhinws. hrsg. v. W. Theiler. Harnburg: Rowohlt, 1968) Somit wird bereits die Empirie selbst zum Scheidemesser von Stoff und Form, die sinnliche Wahrnehmung ist das, "was fähig ist, die wahrnehmbaren Formen ohne Materie aufzunehmen, wie das Wachs das Zeichen des Ringes ohne das Eisen und das Gold aufnimmt." De anima. II 12, 424a 18f.

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les empirischer Realist sein will, der gegen die Schau der fonnativen Idee das Konzept der "Realabstraktion" setzt, den letzten Abstraktionschritt vennag er selbst nicht mehr auszusagen, die kategorial nicht bezeichenbare, paradoxale, weil asubstantielle, Erste Materie, trägt ihn unversehens in die Nähe jenes triton aUo genos, jener anderen, dritten Art, von der sein Lehrer unter dem Behelfsnamen der chora spricht. 10 Platon siedelt das triton genos, von dem/der er weiß, "daß sie allen Werdens bergender Hort sei wie eine Amme"ll in einem nicht-qualifizierbaren Jenseits an, die Spende des Seienden vollzieht sich aus einem Dritten heraus, das selbst nicht vor die Kategorien des von ihm in das Sein entlassenen Seienden gebracht werden kann. Hier bleibt einzig die Ahnung, das Gespür - gerade das ganz andere zu Abstraktion und Logifizierung, maximal "durch ein gewisses BastardDenken erfaßbar, kaum zuverlässig. ,,12 Dabei, und hieran muß Aristoteles sich stoßen, gesteht Platon der Amme sogar zu, daß sie im Akt der Spendung sich affizieren läßt vom Gespendeten selbst, daß sie "selbst bewegt worden sei und wie ein Rüttelgerät für Erschütterung gesorgt habe",13 als es darum ging, die vier Elemente über die Welt zu distribuieren. Wie sehr differiert der Lehrer hier von seinem Schüler, wenn die ursprüngliche Spendung der Welt sich dem Konzept der Ursprungsmetaphysik selbst entzieht, denn der Ursprungsoperator steht bei Platon nicht unberührt von seinen Operationen, gibt sich umgekehrt erst in seinem Vollzug zu erkennen, denn seine Existenz ist der Operation verpflichtet: "Die Amme des Werdens aber erscheine, wenn sie verflüssigt und wenn sie entzündet werde und wenn sie die Gestaltungen der Erde und Luft in sich aufnehme sowie alle anderen damit verbundenen Zustände erfahre, als mannigfaltig anzuschauen. Da sie aber weder von ähnlichen noch von im Gleichgewicht sehenden Kräften erfüllt werde [... ], werde sie selbst durch jene Kräfte erschüttert und erschüttere, durch jene in Bewegung gesetzt, umgekehrtjene.,,14 Circular Causal and Feedback-Mechanisms - es wird über zweitausend Jahre brauchen, bis solches Denken sich zu umtriebigen Wissenschafts-Disziplinen sammeln kann,15 und jenseits von mythogenen Erzählweisen die Dringlichkeit und Möglichkeit einer non-linearen causa finalis vor Augen führt. Bis dahin jedoch dominiert der Platon-Schüler. Aristote1es beendet das Intermezzo der suspekten, weil uneindeutigen, eben kaum zuverlässig situierbaren Amme, der unbewegte Beweger, jener prächristliche Gott der Antike, wird unumVgl. Platon: Timaios. 48e-53c. Platon, FN 10, 49a. 12 Platon, FN 10, 52b. 13 Platon, FN 10, 52e. 14 Platon, FN 10, 52e. 15 Conference for Circular Causal and Feedback-Mecanisms in Biological and Social Systems lautet der ursprgl. Titel der später in Conference of Cybernetics umgetauften Zusammenkünfte der frühen Kybernetiker. Die Protokolle dieser Treffen in: H. v. Foerster [M. Mead, H. L. Teubner] (Eds.): Cybernetics. Transactions of the Sixth [Seventh, Eigth, Ninth, Tenth] Conference. New York: Josiah Macy Jr. Foundation, 1949 [1950,1951,1953,1955]. 10 11

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schränkt inthronisiert, um als actus purus und ens a se in der Scholastik fulminant wieder aufzuerstehen. Reine Wirklichkeit, die allein aus sich ist, sichert dem Gott des Thomas seine Dignität, die sich trefflich mit einem weiteren Erbe des Aristoteles darlegen läßt: Kasuistik, die pragmatische Modifikation der Logik, sorgt für eine Schließung anderer Art, sichert logisch-argumentativ die Apologie des aus dieser Logik geborenen Gottes. Dem Mann aus Stagira verdankt die Scholastik bis heute mit Begriff, Urteil und Schluß nicht nur die Methodik, mit Quantität, Qualität, Lokalität und Temporarilität nicht nur die wesentlichen Kategorien westlichen Denkens, vielmehr summiert sich das Gesamt des Denkmöglichen auf in eine Rationalität, die sich längst entschieden hat, das Eine allein in unwandelbarere Se1bstidentität als denkmöglich festzuschreiben. Die Aristotelische Trinität von Identität, Widerspruchsverbot und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten l6 figuriert eine Rationalitätsstruktur, die das Denken des vernünftigen Europas in toto garantiert; drei Sätze als Grundfeste abendländischer Diskursivität, mit denen zugleich Zahl und Begriff geschieden werden. Dem so konditionierten okzidentalen Bewußtsein vollständig zur Negation seiner Eigenheit sedimentiert ist, daß die logische Trinität selbst erst Produkt eines Abwehrkampfes ist, den Aristoteles gegen Platon, insbesondere gegen die Pythagoräer führt. An dieser Stelle wären andere Wege noch offen gewesen, doch ist auch hier Geschichte die Geschichte der Sieger, und das Besiegte schon lange nicht mehr Bestandteil abendländischer Vernunft. 17 Das Andere, das Ausgegrenzte, hatte sich in der Multifunktionalität des Zeichens angedeutet, einer Konzeption auf dem Boden des später mit elementum übersetzten stoichon, das als Buchstabe, Laut und Zahl in einem,18 Raum für Mehrdeutigkeit und Überdetennination bereithielt. Es war dies eine Zeichenvorstellung, die als der nicht-eindeutige Ursprung zugleich die Vielheit verschiedener Linien des Bedeutens/Verstehens aufschließt, die strukturell in die Fläche, in eine Planimetrik führt. Flächigkeit als Modell der Operabilität aber setzt Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit des Ungleichen voraus und widerspricht der Identität. Tertium non datur, Aristoteles eliminiert jeglichen Anspruch objektiver Relevanz aus der Dialektik, den Platon ihr noch beimißt, 19 und der bei den Pythagoräern als Dualismus Vgl. Aristoteles: Metaphysik. IV 2-3. Über die frühen konzeptionellen Kämpfe, die Sieger und Verlierer in den Anfängen der Geschichte des formalen Denkens, vgl. O. Becker: Die Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung. Freiburg/München: Alber; 1964, S. 23-129; A. Szabo: Anfänge der griechischen Mathematik. München 1Wien: Oldenbourg, 1969. 18 Vgl. Aristoteles, FN 16, XIV 6, 1093a 20; W. Larfeld: Handbuch der griechischen Epigraphik 2 Bd. Leipzig: Reisland, 1902/07, Bd. I, S. 416-27, Bd. 11, S. 543-63; M.N. Tod: The Greek Numeral Systems. Journal of Hellenic Studies 33 1913, S. 5-27; F. Domseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Leipzig: Teubner, 1925, S. 11-17,91-118. 19 Aristoteles verkürzt die Platonische Dialektik, die sich strukturell als das grundSätzliche So-und-anders-sein-Können der Dinge lesen läßt, auf die Erörterung unentschiedener praktischer oder theoretischer Fragen, die sich unterhalb von Metaphysik und Wissenschaft im Be16

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Prinzip ist. 2o Dort ist das Eins nicht nur die Simultaneität von Unbegrenztem (apeiron) und Begrenztem (peperasmenon),21 ist Zahl, Ding, Begriff, Prinzip zugleich,22 der Pythagoräismus kennt darüberhinaus eine Vielzahl an Einsen, die er unterscheidet und also (gleiche) Quantitäten (verschieden) qualifiziert - das Ärgernis schlechthin für den Kategorientheoretiker aus Stagira. 23 Ärgerlich und nicht ohne Probleme, denn Aristoteles ist aus systemimmanenten Zwängen heraus selbst gezwungen, die Erste Materie als gedoppelt zu denken. Läßt sich dies nicht vermeiden, dann gilt es zumindest, zwei Sicherheitsvorkehrungen zwischenzuschalten, um die Demarkationslinie gegen die Vorläufer deutlich zu ziehen. Zum einen muß der Zwitter dieser hylemorphen Ungestalt, wenn sie nicht mythologisiert werden soll, vollständig aus dem Ontischen wie Ontologischen verbannt werden. Asubstantiell, designationsunfähig, non-prädikabel - mit erstaunlich wenig Berührungsängsten bedient sich Aristoteles der Negativität, so es darum geht, das nicht-Eindeutige aus dem Mundanen zu eliminieren. Die Strategie selbst ist nicht neu, nur ihre Funktion, denn wenn der Jahwe-Gott seinen Vebündeten das Bilderverbot ausspricht, dann mögen auch die Redakteure des Alten Testamentes eine Ahnung davon gehabt haben, daß eben nur das Göttliche sich aus der Amalgamisierung von Essenz und Existenz zu lösen vermag. Qualitätsloses, non-prädikatives Sein, das nicht umschlägt in die Inexistenz seines Nomens, wird so zur insignifikanten Signifikanz des Supranaturalen schlechthin, das sich der Dichotomie von Stoff und Form - sie spendend - entzieht. Unterhalb dieser Ebene aber, und dies wäre die zweite Sicherung, die die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz von der anderen Seite her verfestigt, unterhalb des Numinosen gilt es, den Erdbewohnern nicht nur mit Sprache und Schrift den Lebens- und Geschichtsraum zu eröffnen, viel mehr muß die Logik, ihre Logik als identitäts stiftender Denkraum kata ton logon - der begrifflichen Form nach generiert werden. Linear, eineindeutig, atomistisch, von einem Ursprung aus wird sie zur Jakobs-Leiter, mit der das Göttliche zwar her- und abgeleitet, nie jedoch erreicht werden kann.

reich des Wahrscheinlichen, i. e. das common-sense-Wissen, bewegen. Topik, wie er die Dialektik nennt, gerät folgerichtig zu der pragmatischen Fertigkeit, sich disputierend gegen andere durchzusetzen und wird dem Organon als fünftes Werkzeug zugeschlagen. Vgl. Aristoteles: Topik. 100a 18-102a, 104b-105a. 20 Vgl. Aristoteles, FN 16, I 5, 985b 23 ff. 21 Vgl. H. Diels, W Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. 3 Bd. Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhdlg., 71954. Bd. I, 44 B 2; 44 B 5 (Stobaios). 22 Vgl. J. Mansjeld: Die Vorsokratiker. Ausw. der Fragmente, Übers. u. Erläut. v. J. M. Stuttgart: Rec1am, 1987, S. 98-203. Das Kapitel über die Pythagoräer bietet endlich eine prägnante Darstellung der zahlentheoretischen, mathematischen Dimension der Tetaktrys, die vielerorts als obskur-okultes Werkzeug der Kosmognonie herumgeistert. 23 Vgl. Aristoteles, FN 16, XIII 6, 1080b 16f.; XIV 3, 1090b 12f.; XIV 5, 1092a 18ff.; Aristoteles, FN 9, III 7, 431a 19 ff.

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Der Lohn ist hohe Abstraktivität, Fonnalisierbarkeit24 und demzufolge ein Höchstmaß an techno-logischer Applikation. Der Preis ist die Unmöglichkeit, daß das Denken sich in dem von dieser Logik abgezirkelten Raum selbst ergreifen kann. Denn "der sogenannte Geist [nous] der Seele - ich nenne Geist das, womit die Seele nachdenkt und vennutet - ist der Wirklichkeit nach, bevor er denkt, nichts von den Dingen.,,25 Tabula rasa am Beginn des Kognitionsmodells. Der Geist, diese Vernunft, oder wie auch immer man jenes Konstrukt des nous zu übersetzen gedenkt, ist nicht die letzte, sichere Bastion des animal rationale, Aristoteles bleibt sich treu, unterteilt den Geist selbst noch in wirkende (nous poietikos) und empfangende Vernunft (nous pathetikos), und wiederholt in der Seele erneut die Stoff-Fonn-Dichotomie. Analog zur Wahrnehmung wird der empfangende Geist als die Wachstafel metaphorisiert, unbeschrieben zunächst und aufnahmebereit für die über die Sinne selektierten Abstraktions-Daten, "denn nicht der Stein liegt in der Seele, sondern seine Fonn.,,26 In-formiert werden solcherart Fonnen, der nous ist immateriell, potentiell und wird fortan die Geistesgeschichte in wechselnder Gestalt als Wachs, Münze oder freudianischer Wunderblock durchziehen. Das Denken also ist "ein Erleiden seitens des gedachten Gegenstandes [... ] So muß der [wirkende] Seelenteil leidensunfähig sein, aber fähig, die Fonn [eidos] aufzunehmen, und der Möglichkeit nach so sein wie die Fonn, aber nicht diese, und es muß sich, wie das Vennögen der Wahrnehmung zu den Wahmehmungsgegen ständen, so der Geist zu den Denkgegenständen verhalten. ,.27 Impliziert ist damit eine Differenz der Fonn, Fonn selbst ist der Fonnalisierung fähig, eben so wie Emil Lask es später mit der Unterscheidung von Struktur- und Gehaltfonn terminiert,28 und die Geschichte der Philosophie hätte eine gewaltige Abkürzung bis hin zu ihrer transzendentaltheoretischen Ausfonnung nehmen können, hätte Aristoteles im berühmten 5. Kapitel des dritten Buches seiner Seelenschrift nicht auf der Trennung der beiden Geistesvennögen bestanden. Dort nämlich wird die dauerhafte und kontinuierliche Denktätigkeit nur der unsterblichen, abgetrennten und ewigen Geistseele vorbehalten, während "der leidende Geist [nous pathetikos] sterblich ist [... ].,,29 Man könnte über diese mythogene Spekula24 Wer die Wege der Abstraktion nachgehen möchte und ein Kompendium solcher Formalisierungsarbeit sucht, dem sei noch immer anempfohlen: I. M. Bochenski: Formale Logik. Freiburg-München: Alber, 1956. 25 Aristoteles, FN 9, III 4, 429a 22 f. 26 Aristoteles, FN 9, III 8, 431b 29. 27 Aristoteles, FN 9, III 4, 429a 14 ff. 28 Der Neu-Kantianer Lask gewährt dem Denken des Denkens neben einer substantiellthematischen Form-für-Stoff eine strukturelle Form-für-Form, differenziert somit die Form selbst, verbleibt dabei aber kalkültechnisch a-formal. Vgl. E. Lask: Gesammelte Schriften. Tübingen: Mohr, 1923, Bd.II, S. 126; 177 ff.; 383 ff. 29 Aristoteles, FN 9, III 5, 430a 24. Verständliche Aufregung bereitet dem Mittelalter der Gedanke an die Unsterblichkeit der in zwei Teile gespaltenen Seele, läßt dies doch Spekulationen zu, welcher Teil perenniert: Geist- oder Individualseele. 1277 entscheidet man sich in Paris für die Individualseele und verurteilt Gegenteiliges (z. B. Siger von Brabant).

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tion hinwegsehen, verbände sich nicht ein reflexionslogischer Aspekt damit; Aristote1es weiß, ,,[ w]enn es aber für etwas kein Gegenteil gibt, dann erkennt es sich selbst und ist Betätigung und abgetrennt. ,,30 Sein ohne Gegenteil ist Identität, und das Erkennen einer solchen wäre die Rückbiegung der Form auf die Form, wäre der re-entry. Form aber ist Möglichkeit und die hier angelegte Möglichkeit der Möglichkeit sprengt das Aristotelische Konzept, bedeutet es doch, daß die Möglichkeit sich actual, also wirk-lich auf sich selbst bezieht. Aber: tertium non datur - entweder-oder! Dennoch, unbeantwortet und virulent bleibt die transzendentaltheoretische Frage, "ob er [der Geist] auch selber denkbar iSt.,,31 Herrscht auf Erden das TND, so muß als Ausweg das Göttliche herhalten, "getrennt nur ist er [nous poietikos] das, was er ist, und dieses allein ist unsterblich und ewig.,,32 Das, was der nous seinem Wesen nach ist, nämlich Form der Form, ist er nur ab-solut, losgelöst, befreit von den Affektationen der materiellen, abstraktionsbedürltigen Dinge, bei sich ist er nur dann, wenn er in der hermetischen Autononie reinen Selbstvernehmens ruht. Unteilbar und selbstidentisch ist auf Erden jedoch nichts, ,,[ a]llein das Immaterielle ist unteilbar, und wie das menschliche Denken oder das Denken des Zusammengesetzten wenigstens in gewissen Augenblicken sich' verhält [... ], so verhält sich das göttliche Denken seiner selbst die ganze Ewigkeit hindurch.,,33 Hier dann und hier allein läßt sich die (verbotene) Überdeterrnination von Subjekt und Objekt aussagen: ,,sich selbst aber denkt die [göttliche] Intelligenz, indem sie das Intelligible erlaßt: intelligibel wird sie nämlich, indem sie sich erlaßt und denkt, so dass also Intelligenz und Intelligibles identisch sind. ,,34 Tertium datur. Wir haben bereits darauf hingewiesen, das Numinose bezieht seine Auszeichnung durch die Positivität der innerweltlich ausgeschlossenen A-Logizität; der Geltungsbereich von Identität, Nicht-Widerspruch und TND markiert zugleich das mundane Diesseits, das Jenseits definiert sich als logisches Spiegelreich. Subjekt und Objekt, Stoff und Form, die dichotomen Grundraster menschlicher Welterlassung stehen nicht länger in unauflöslicher Absolutheit getrennt, vor der göttlichen Intelligenz verwischen die Differenzen, und ,,[s]ich selbst also denkt die Intelligenz, wenn sie das Vorzüglichste ist, und ihr Denken ist Denken des Denkens. ,,35 He noesis noeseos noesis - diesen geschlossenen Kreis, der Logizität des Menschen vorenthalten zu haben, die Selbstrückbezüglichkeit des Denkens als Denken den Göttern zum Privileg gemacht zu haben, ist der Stein des Anstosses für das Aristoteles, FN 9, III 6, 430b 24 f . Aristoteles, FN 9, III 5, 429b 25. 32 Aristoteles, FN 9, III 6, 430a 22 f. 33 Aristoteles, FN 16, XII 9, 1075a 10. (Zitiert nach: Aristoteles: Metaphysik. Grundtext, Übers. u. Comm. v. A. Schwegler. 4 Bd. Frankfurt/M.: Minerva, 1960, unveränd. Nachdr. v. 1846). 34 Aristoteles, FN 16, XII 7, lO72b 21 f. 35 Aristoteles, FN 16, XII 9, 1074b 35. 30 31

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neuzeitlich-abendländische Denken schlechthin. An ihm werden sich nicht nur die filigranen Systematiker abarbeiten, deren nie erfolgreiche Versuche, diese Fissur zwischen Subjekt und Objekt zu kitten, als Deutscher Idealismus in die Tradition eingegangen ist, hieran werden sich all jene messen, denen der andere Weg ins Selbst, jenes gnothi sauton, zu sehr im Ruche des Bastard-Denkens steht. Denn die Erfinder der Metaphysik haben ein Dilemma hinterlassen, dessen Alternative gleich unbefriedigend ist. Erkenntnis des Selbst, orientiert am gignoskein, wäre die Option, deren prä-logische Umkreisung des Selbst ihren zirkularen Weg um den Preis des rationalen Diskurses erkauft, die menschenmögliche Selbsterkenntnis ist zu sehr subjektives Zerrbild, als daß ihr intersubjektive Kommunikabilität zukäme. Der andere Weg jedoch, to noein als das Denken des Denkens selbst, untenniniert sich gerade dann, wenn es sich am treusten ist, da das die Irrationalität bannende Formativ seiner Logik die Rückwendung auf sich selbst als es selbst untersagt. Hin und her gerissen zwischen einem inkompatiblen Logos und einer diesem Logos inkompatiblem Ratio, ließe sich somit erneut die Frage zur Entscheidung vorbringen, nach den Möglichkeiten und Chancen, die aus einer anderen, zunächst nicht-Aristotelisch zu nennenden Rationalität erwachsen könnten?6 Es wäre die Frage nach der Quadratur des Kreises, müßte das Neue sowohl die formale Konsistenz als auch thematische Erweiterung im Hinblick auf den Zugang zum Selbst erbringen. Und wenn, wie uns die Quantentheorie lehrt, der Zugang, der perspektivische Ausschnitt immer auch Konsequenzen für das beobachtete Objekt hat, dann ist es gewiß nicht verwegen, an einen veränderten Zugang auch die Erwartung einer Modifikation des Objekts "Selbst" zu knüpfen.

11. Die Umkreisung des Selbst

Innovationen der hier eingeforderten Qualität erwartet man mit Fug und Recht von grundlegenden Erschütterungen und Revolutionen, und als eine solche Umwälzung des wissenschaftlichen Weltbildes wird mancherorts das sich aus vielen Wurzeln speisende Konzept der Selbstorganisation tituliert. 37 Revolutionär oder nicht, Einigkeit zumindest, die sich bis in lexikalisiertes common-sense-Sediment ablagert, herrscht darüber, daß mit der Se1bstorganisation ein neues Paradigma er36 Gadamer versteht die Genese der Metaphysik als zu fällende und gefällte Entscheidung, beileibe nicht selbstverständliche Entwicklung. Vgl. H.-G. Gadamer: Zur Vorgeschichte der Metaphysik. in: ders.: Gesammelte Werke. Tübingen: Mohr, 1985ff, Bd. 6, S. 9-29. 37 Mit einem Fragezeichen versehen Paslackl Knost diese revolutionäre Attribuierung, für fraglos hält es Prigogine, Küppers I Krohn sprechen nüchtern von einer "Theorie in den Wissenschaften." Vgl. R. Paslack, P. Knost: Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung. Bie1efeld: Kleine, 1990; I. Prigogine: Vom Sein zum Werden. München: Piper, 1979; G. Küppers, W Krohn: Selbstorganisation. Zum Stand einer Theorie in den Wissenschaften. in: dies. (Hgg.): Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, S. 7-26.

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wachsen sei, mehr noch das modeme Paradigma der Strukturforschung. 38 Ein Paradigma, ein Muster also, dessen Kontur als identitäts stiftende Gestalt disparater, vielleicht gar beliebiger Disziplinen, ihnen das "Inter-" ihrer Konnektivität sichert, wenn diese sich fortan methodologisch unter das genus proximum des systemisehen Blickes subsumieren lassen. "We have studied a great number of systems in physics, chemistry and biology in a rigorous mathematical fashion and we have found that again and again the same principle governs the selforganized formation of dynamic structures."39 So leitet Haken einen Abschnitt ein, der in seiner Überschrift nichts weniger verspricht, als "New general concepts and principles,,4o wissenschaftlicher Methodik zu skizzieren; will sagen, wenn Selbstorganisationstheorie Strukturtheorie ist, dann legt der abstraktive Grad ihres Ansatzes nahe, sich mit dem neu gefundenen Schlüssel des "order from noise,,41 der Geheimnisse aller InFormation bemächtigen zu können. Nicht zu umecht sprechen Paslack/Knost von Globalisierung und Universalisierung des Konzeptes,42 das sich anschickt, physikalische, chemische, biologische, soziologische, ökologische, ökonomische, kognitive, psychologische, juridische, linguistische, ästhetische ... Mikro-und Makrokosmen einmal nicht in reduktionistischer Manier auf die We1tformel zu bringen. Ist es aber tatsächlich das eine Konzept für eine Unzahl an Objekten, oder ist es vielmehr so, daß die strukturtheoretische Abstraktion das Objekt selbst reuniert? Ordnung und Organisation heißt das summarische Stichwort an den kybernetischen Wurzeln der Selbstorganisation, die man im Lebewesen und in der Maschine (Wiener) beobachtet, denn Kybernetik problematisiert "alle Formen des Verhaltens, die in irgendeiner Weise organisiert, determiniert oder reproduzierbar sind. ,,43 So ist die systemisch-kybernetische Perspektive bereits ein universalistische, die in sämtliche Bereiche einzudringen vermag, denen sie eine Regel, ein ordnendes Prinzip unterstellt. "Die Art der Materie ist hierfür irrelevant. ,,44 Es scheint, als wehe der Weltgeist erneut durch die Geschichte, wenn das all-eine Prinzip als regelungstechnisches Pneuma in den Datenstrukturen des Kosmos zu dechiffrieren ist, und vielleicht mag Capra dieser Geist vorgeschwebt sein, als er in Gott "die Selbstorganisations-Dynamik des gesamten Universums" erkannte. 45 38 Vgl. R. Mocek: Selbstorganisation. (Art.) Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hrsg. v. H. J. Sandkühler, Bd. 4,1990, S. 251-54. 39 H. Haken: Synergetics and the Problem of Selforganization. in: G. Roth, H. Schwegler (Eds.): Self-organizing Systems. An Interdisciplinary Approach. Frankfurt/M./New York: Campus, 1981, S. 9-13, hierS. 11. 40 Haken, FN 39, S. 11. 41 H. v. Foerster: On Self-organizing Systems and their Environments. in: ders.: Observing Systems. Seaside, Cal.: Intersystems Publications, 1981, S. 1-22, hier S. 15. 42 Vgl. R. Paslack, P. Knost, FN 37, S. 30. 43 W. R. Ashby: Einführung in die Kybernetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974, S. 15 f. 44 Ashby, FN 43, S. 16. 45 F. Capra: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern/München/Wien: Scherz, 1982, S. 324.

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Durchaus säkularer, von komplexer, weil mehrfach geschlossener Form strukturiert, liest sich ein anderes Engramm des Weltgeistes, in dessen Dunkelheit man sich bereitwillig zu begeben hat, soll ein wenig Licht in jenen Tunnel kommen, den Spencer Brown sich gräbt, um seiner, in der Ebene versagenden, Rekursion der Form, den suggestiven Raum zu eröffnen. 46 Denn in diesen Tunnel der Formation der Form sind wir unversehens geraten, als wir uns entschieden, das Selbst in einer Form anzudenken, die weder dieser. noch dem Denken selbst widerspricht, die also die Aristotelische Präferenz der Form, mit der von ihm allein dem Geisterreich vorbehaltenen Beziehung des Einen auf sich als es selbst, zu verbinden sucht. Eben davon handelt das wohl umfassendste Handbuch der Selbstorganisation, das in diesem Zusammenhang - der primären Berufung auf Kant sei Dank47 - wenig Beachtung findet. Dabei könnte eine strukturalen Lektüre der Phänomenologie des Geistes, von der die Rede ist, nicht nur die Minimalbedingungen selbstreferentieller Formbildung entnehmen, sondern fände in ihr auch den groß angelegten, vielleicht hybriden Versuch, systematischer Selbstapplikation, über dessen Gelingen man streiten mag. 48 Immerhin ist der selbstgesetzte Anspruch nicht niedrig, geht es doch darum, "nicht nur die Anschauung des Göttlichen, sondern die Selbstanschauung desselben" in literaler Form nachzuvollziehen. 49 Also doch wieder das Göttliche!, mag man monieren und fragen, ob wir damit denn über Aristoteles hinausgelangen, wenn die Rückwendung des Logos auf sich selbst nur wieder dem Numinosen reserviert ist. Ja und nein, ganz wie man sich entscheidet, das Absolute, den Weltgeist, die schöne Seele, zu sehen, auf dem Durchgang bis hin zu jener Schädelstätte, wo die begriffene Geschichte sich des (Pan)Logos', dem sie sich verdankt, erinnert, um so ihn und sich am Leben zu halten. Hermeneutisch oder strukturell wäre die Alternative, denn unberührt von jeder theistischen, deistischen oder säkularen Interpretation lassen sich Strukturen erkennen, deren Verfolg vielversprechender zu sein scheinen, als die nie verstummenden Einverleibungen der anderen Provinienz. Dann nämlich gelingt der wesentliche Schritt über Aristoteles hinaus und erweist es nicht als unfair, die strukturelle Lektüre erst hier und nicht bei diesem schon ansetzen zu wollen. Das Entkleiden beider von ihren spekulativen Erblasten, als das wir die strukturelle Durchsicht verstehen, bringt vielmehr 46 Vgl. G. Spencer Brown: Laws of Form. Toronto/New York/London: Bantam, 1973, S.60ff. 47 Vgl. W. Krohn, G. Küppers: Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation. in: G. Rusch, S. J. Schmidt (Hgg.): Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. Delfin 1992. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987, S. 441-65 48 Gotthard Günther; dem sich diese Hegel-Lektüre selbstverständlich verdankt, votiert bei aller Hochschätzung des Hegeischen Neubeginns, dem Denken nachzudenken, für dessen letzliches Scheitern. In Ermangelung des notwendigen Kalkül- und Formbegriffs, bleibe Hegel nur die Flucht in philosophische Verrenkungen, "die jedes erlaubte Maß übersteigen." G. Günther: Identität, Gegenidentität und Negativsprache. in: Hegel-Jahrbuch 1979. Hrsg. v. W. R. Beyer. Köln: Pahl-Rugenstein, 1980, S. 22-88, hier S. 26. 49 G. w.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. S. 580. (Zitiert nach: G.w.F. Hege\: Werke in 20 Bd. Red. E. Moldenhauer, K. M. Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970).

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die spezifisch neue Theorie des Denkens in Hegel hervor, die in einem ersten Schritt als die Bedingung der Möglichkeit der Selbstreferenz gefaßt werden kann. Wem dies zu Kantisch klingt, dem sei nicht nur gesagt, daß auch hier eine Abfolge vorliegt, wie sie Platon und Aristoteles kennzeichnet, der sei auch mit einem bereits HegeIschen Gedanken an die notwendige Differenz in der Wiederholung erinnert, die Deleuze beschreibt, so und die hier in medias res eines Selbst führt, von dem der Königsberger Denker sich noch keinen Begriff machen kann. Kant, der die Aristotelische Logik für unhintertreiblich hält, bezahlt diese Wertschätzung gerade mit einem erneuten Verstummen, in das die propositionale Deskription der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins umschlägt. Hier, wo die Zirkularität begegnet, wird sie wie schon bei Aristoteles als designationsunfähig ausgehöhlt, kann von ihr nichts gesagt werden, "als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der nicht einmal gesagt werden kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet."sl Die identitätstheoretische Verwurzelung ist so stark, daß anderes apriori ins Reich des Absurden gebannt wird. "Daß aber Ich, der ich denke, im Denken immer als Subjekt, und als etwas, was nicht bloß wie Prädikat dem Denken anhänge, betrachtet werden kann, gelten müsse, ist ein apodiktischer und selbst identischer Satz"S2 Solche Feste sind schwerlich nur zu erschüttern, und dort, wo die transzendentale Vernunft selbst für bedenkliche Unruhe sorgt, entlarvt der Rekurs auf den hergebrachten Logos, die Querulanten schlicht als Para-logismen. Die Paralogismen der reinen Vernunft sind gerade jene vernünfteinden Schlüsse, die sich zwar transzendental herleiten lassen, deren Resultate sich jedoch allein "durch einen unvermeidlichen Schein, objektive Realität geben."s3 Es handelt sich um unerwünschte Nebenwirkungen, um "Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst", deren illusionäre Wirkung "unaufhörlich zwackt und äfft", und die man "niemals völlig los werden kann. ,,54 Die transzendentale, also nicht empirische Verunft wird per se auf sie gestoßen, und Kant konzediert schließlich "eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen [... ].,,5S

50

Vgl. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. München: Fink, 1992, S. 360.

l. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 345f; B 404. (Zitiert nach: I. Kant: Werkausgabe in 12 Bd. Hrsg, v. W. Weischedel. Frankfurt: Suhrkamp, 1974). 51

52

53 54 55

7*

Kant, Kant, Kant, Kant,

FN 51, B 407. FN 51, A 339; B 397. FN 51, A 339, B 397. FN 51, A 298; B 354f.

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Man darf die Bedeutung dieses Abwehrgefechtes nicht unterschätzen, Kant sieht sich genötigt, dem transzendentalen Schein das Einleitungskapitel der transzendentalen Dialektik zu widmen, und die Insistenz mutet beinahe händeringend an, mit der er dagegen anrennt, "daß in unserer Vernunft [... ] Grundregeln und Maximen ihres Gebrauches liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe [... ] für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. ,,56 Hier bewegt sich einer - von der Eigendynamik seines Denkens überwältigt - in einem Zwischenreich der Reflexion, tastend und geblendet, von illusionärem Schein verführt, das Verbotene selbst zu denken, an den Grenzlinien der angestammten Ratio zu zweifeln. Es ist die Verlockung, "einen ganz neuen Boden, der überall keine Demarkationslinien kennt, anzumaßen",57 denn die transzendentale Logik macht die ungeheuerliche Erfahrung, daß die klare Dichotomie von Subjekt und Objekt ins Wanken gerät. Der Schein, das Gaukelwerk entbirgt sich Kant als eine im dualen Schema von Sein und Denken schwerlich situierbare Größe, wenn die Reflexion, die angetreten war, die Objektivität aus sich heraus zu konstituieren, im Rückgang auf sich selbst mit einer neuen, quasi-objektiven Realität konfrontiert wird, die sich weigert, im Denken oder im Sein aufzugehen. So besteht die ernstliche Gefahr, daß das Subjekt, das sich als das identische und singuläre Andere von der Welt der Objekte (selbst) unterscheidet, darauf stößt, von dieser Unizität seiner selbst auf seine prädikative Substantialiät, Personalität und numerische Identiät zu schließen, sich mithin aus der Reinheit der Apperzeption in die Niederungen der substanziell-akzidentellen Dinglichkeit zu begeben. Das Subjekt wäre nicht länger die leere, formale, regulative Idee, die "die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können",58 sondern verwandelte sich unversehens in das positive Noumenon, das dem menschlichen, endlichen Verstand gerade nicht gegeben ist. 59 Geboren würde ein Zwitter, inkommensurabel zwischen Objektivität und Subjektivität, und die Frage, "ob außer jenem empirischen Gebrauch des Verstandes [... ] noch ein transzendentaler möglich sei, der auf das Noumenon als einen Gegenstand Kant, FN 51, A 297; B 353. Kant, FN 51, A 296; B 352. 58 Kant, FN 51, B 132. Hrvhbg. im Orig. 59 "Wenn wir unter einem Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist [... ], so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung." (B 307) "Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauch [... ], ohne doch etwas Positives außer dem Umfang derselben [der Sinnlichlichkeit] setzen zu können." (A 255; B 31Of.) "Der Begriff eines Noumeni [... ] bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern, [... ] unvermeidlich. Aber alsdenn ist das nicht ein besonderer intellibeler Gegenstand für unseren Verstand [... ]" (A 256; B 311) 56

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gehe",60 muß, der unteilbaren Subjektivität des reflektierenden Selbst wegen, abschlägig behandelt werden. "Denn das Blendwerk, die logische Möglichkeit des Begriffs (da er sich selbst nicht widerspricht) der tranzendentalen Möglichkeit der Dinge [... ] zu unterschieben, kann nur Unversuchte hintergehen und zufrieden stellen. ,,61 Es wird Hegel vorbehalten sein, sich als Unversuchter genau an diesem Problem zu versuchen, wenn er nicht nur die Gleichung von Substanz und Subjekt wieder instituiert, sondern auch die logische Möglichkeit des Begriffs in die reflexionslogische Objektivität überführt. Genüßlich ironisiert er über den Mangel der für das Subjekt nicht eingehaltenen relationalen Struktur der Reflexion bei Kant, wirft ihm die logische Unausweisbarkeit des Ich-Begriffs vor, solange dieser atomistisch und identitätstheoretisch als Voraussetzung, nicht als Produkt der Reflexionsbewegung genommen werde. Dann nämlich - solange das Ich nicht zum Begriff seiner selbst gekommen sei, mithin noch gar nicht begriffen habe, es nur fixe Vorstellung, reiner Name sei - dann sei es in der Tat bereits sonderbar, wenn ein solcher, unbegriffener Begriff im Urteil seine eigene Bedingung sein solle und wenig wunderlich, wenn er zum bloßen "X" verkomme. "Aber lächerlich ist es wohl, diese Natur des Selbstbewußtseins - daß Ich sich selbst denkt, daß Ich nicht gedacht werden kann, ohne daß es Ich ist, welches denkt - eine Unbequemlichkeit und als etwas Fehlerhaftes einen Zirkel zu nennen [... ], weil das Selbstbewußtsein eben der daseiende, also empirisch wahrnehmbare, reine Begriff, die absolute Beziehung auf sich selbst ist, welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstand macht und allein dies ist, sich dadurch zum Zirkel zu machen. ,,62 Sei die Kantische Angst vor dem Kreis schon lächerlich, so verbucht Hegel ihre Konsequenzen als wahrhaft barbarisch, bedeuten sie doch, "daß bei dem Denken des Ich dasselbe als Subjekt nicht weggelassen werden könne [... ], daß Ich nur als Subjekt des Bewußtseins vorkomme [... ] und die Anschauung fehle, wodurch es als ein Objekt gegeben würde, daß aber der Begriff eines Dings, das nur als Subjekt existieren könne, noch gar keine objektive Realität bei sich führe.,,63 Wir legen uns mit Hegel nicht darüber an, ob ein identitätstheoretisches Selbstkonzept unbedingt ein barbarisches ist, wir deuten aber den deutlich vernehmbaren Ton in der Hegeischen Diktion als einen Index, daß er sich ganz offenbar an einer Grenze wähnt, die ihn von der gesamten Tradition abschneidet, und ihn im Vorhinein zum Theoretiker der avanciertesten gegenwärtigen Selbstbildnisse macht. Denn angelegt ist hiermit nichts weniger als die strukturelle Antizipation der second order cybernetics und des autopoietischen Kognitionsmodells, wenn hierunter zunächst die paradigmatische Einbeziehung des Beobachters in die Beobachtung verstanden wird. Lassen sich second order cybernetics und Autopoiese als 60 61

62 63

Kant, FN 51, A 257; B 313 Kant, FN 51, A 244; B 302. Hrvhbg. I.C. G. WF. Heget: Wissenschaft der Logik. 11. S. 490. Hrvhbg. im Orig. G. WF. Heget, FN 62, S. 491. Hrvbg. im Orig.

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Venneidungsstrategeme lesen, die den blinden Fleck der Kognition zu überwinden suchen, der sich bis dato, je nach eingenommener Perspektive, wahlweise in der Objekt- oder Subjektbeschreibung markieren ließ, so liefert die "topology of c1osure,,64 erstmals "die sich selbst zum Gegenstand habende Beziehung seiner selbst.,,65 Natürlich ist Geschlossenheit zunächst nur ein hinreichendes Kriterium, um von Kybernetik zweiter Stufe sprechen zu können, denn schon die Urväter der first order cybemetics bemühen sich in anti-behavioristischer Manier, teleonomes Verhalten als feedback machanisms zu dechiffrieren. 66 Aber spätestens in dem Moment, in dem man sich entschließt zweckgerichtetes Verhalten als Kognition des beobachteten Systems zu interpretieren, stellt sich das Problem mit einem Exponenten, da fortan Kognitionen Kognitionen beschreiben. ,,1 have the theory of observing, I am myself an ob server, so I am doing the observing, I am inc1uding myself into the loop of argumentation. And in which way can I handle it?,,67 Sicherlich nicht, "wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen wird und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird",68 also nicht, solange der subjektive Prozeß als subjektiver Prozeß der Objektivation des Selbst jenseits der Beschreibung des Selbst bleibt. Und sicherlich auch nicht, solange die notwendige Zirkularität in Analogie zur Theorie rekursiver Funktionen gedacht wird,69 stellt diese allein den (syntaktischen) Rückgang des Output als Input sicher. Auch wenn v. Foerster den logischen circulus vitiosus der Rekursion in einen circulus creativus transformiern Will,70 scheint damit nur ein erster Schritt zur Beantwortung der von ihm gestellten Frage gegeben zu sein. Wesentlich zu begleiten hätte die bloße Rekursion nämlich die Möglichkeit der reflexionalen Differenzierung dessen, was Anfang und Ende des Kreises zu sein hat, also die Unterscheidung zwischen "the image of the original and the original", womit ein grundlegender Unterschied intendiert ist gegenüber dem "adaquate "image of itself' inside the system.,,71 Es geht somit um 64 H. v. Foerster: Objects. Tokens for (Eigen-)Behaviors. in: v. Foerster, FN 41, S. 274-85, vgl. S. 278-80. 65 G. w.F. Hegel, FN 62, S. 491. 66 Vgl. A. Rosenblueth, N. Wiener, J. Bigelow: Behavior, Purpose and Teleology. Philosophiy of Science 10. 1943, S. 18-24. E. v. Glasersfeld sieht in diesem Text erstmals die "Grundlagen des kybernetischen Vorgehens" fixiert. Vgl. E. v. G.: Wissen, Sprache, Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1987, S. 53. 67 H.V. Foerster: On Cybernetics of Cybernetics and Social Theory. in: G. Roth, H. Schwegler (Eds.), FN 39, S. 102-105, hier S. 104. 68 G. w.F. Hegel, FN 49, S. 25 (Vorrede). 69 Vgl. H.v.Foerster, FN 64, S. 274. 70 Vgl. H.v.Foerster: Kybernetik einer Erkenntnistheorie. in: ders.: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hrsg. v. S.J. Schmidt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993, S. 50-71, hier S.5lf. 71 V.A. Lefebvre: Second Order Cybernetics in the Soviet Union and the West. in: R. Trappl (Ed.): Power, Autonomy, Utopia. New Approaches toward Complex Systems. New York: Plenum Press, 1986, S. 123-31, hier S. 125

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den Eintrag einer Differenz im System selbst, es gilt die Selbigkeit der Subjektivität zu dekomponieren ohne sie zu zerstören. "Allein das Selbe ist nicht das Gleiche" weiß Heidegger,72 und denkbar wird eine so vorgestellte Subjektivität, "insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist: nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder Reflexion im Anderssein in sich selbst - nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche - ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfang hat. ,.73 Damit dann wäre die erste Schließung geleistet, von der oben die Rede war, Hegel schreckt nicht zurück vor dem Kreis, sondern richtet sich in ihm ein, ganz so, wie es Heidegger später zum Programm erhebt. Als Dialektiker kann er dies tun, und wir verstehen nun, warum die noesis noeseos, jene nur dem Gott vorbehaltenen Selbstreferenz, für den Menschen das Undenkbare selbst ist, besteht für sie gerade keinerlei Möglichkeit die urphänomenale Differenz von Denken und Gedachtem in der Selbstapplikation des Denkens aufrecht zu erhalten, ohne seine Identität zu sprengen. Die Aristotelische und Kantische Kognitionstheorie benimmt sich als undialektische Theorie der Reflexion gerade der Möglichkeit, von denen die befehdeten Pythagoräer und Platoniker noch eine Ahnung gehabt haben, als sie in der Zahl, dem Eins zumal, noch eine qualifizierbare, also differenzierbare Größe sahen. Der Eintrag der Differenz. in die Identität, das heißt die Dialektisierung der Form aber ist die conditio sine qua non einer adäquaten Theorie des Selbst, und es wird zu fragen sein, ob der narrativen Deskription Hegels ein tauglicher Formbegriff korrespondiert. Ansätze dazu lassen sich sicherlich erkennen, Hegel spricht von der "Untrennbarkeit der zwei Formen, in denen es [das Subjekt] sich [sich] selbst entgegensetzt",74 sowie von der "Verdopplung der Form",75 wenn der Inhalt "die gleichgültige, äußerliche Form" der Form bildet76 und unterscheidet die "substantielle Form" und die "zur Allgemeinheit befreite Begriffsform,m, womit sich erste Spuren der Formvielfalt im Sinne Lasks andeuten. Daß das Problem des Selbst ein Formproblem ist, ist seit Aristoteles unbestritten, eidos und ousia koinzidieren geradezu,78 bilden den Pol des Wesens und Wesentlichen innerhalb der Dichotomie, die das duale Denkschema für Essenz und Existenz, Denken und Sein, Notwendigkeit und Kontingenz schwer hintergehbar bereitsstellt. Hier zulässige 72

M. Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen: Neske, 91990, S. 35.

73

G. w.F. Hegel, FN 49, 23. G. w.F. Hegel, FN 62, S. 491. Hrvbg. J.c. G. w.F. Hegel:Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. § 133. G. w.F. Hegel, FN 75, § 133. G.F.w. Hegel: FN 62, S. 487. Vgl. Aristoteles, FN 16, VII 7, 1032b 1 f.

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Transformationen beschränken sich einzig auf den seit der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache geläufigen Wechsel von Form und Inhalt, der an der grundsätzlichen Polarität jedoch nichts ändert; was Form ist, ist Form, immer und ausschließlich; wird sie zum Inhalt (der Metasprache), ist sie dies und nicht anderes, tertium non datur. Wie aber kann es unter dem Aristotelischen Formbegriff gelingen, das Subjekt in die Logik mit hinein zu definieren, denn um nichts anderes handelt es sich, wenn das beschreibende Subjekt in der Beschreibung simultan als Beschriebenes und Beschreibendes erscheinen soll? Die Antwort Hegels bleibt wage, er behilft sich mit der Differenz von An-sich und Für-sich, obgleich er klar erkennt, daß die Reflexion der Reflexion einen Objektbegriff gebiert, der nicht in der hergebrachten Dichotomie aufgeht, daß "das Bewußtsein jetzt zwei Gegenstände hat, den einen das erste Ansieh, den zweiten das Für-es-Sein dieses An-sich. Der letztere scheint zunächst nur die Reflexion des Bewußtseins in sich selbst zu sein, ein Vorstellen nicht eines Gegenstandes, sondern nur seines Wissens von jenem ersten. Allein [... ] ändert sich ihm dabei der erste Gegenstand; er hört auf, das Ansich zu sein, und wird ihm zu einem solchen, der nur für es das Ansieh ist [... ] In jener Ansicht aber zeigt sich der neue Gegenstand als geworden, durch eine Umkehrung des Bewußtseins selbst.,,79 Hegel affimiert mit aller Kraft den Gedanken, daß es die Reflexion selbst ist, die sich Gegenstände eigener Art schafft, Objekte, vor denen Kant als transzendentalem Schein warnt, da sie als positive Noumena die Spaltung in das Selbst hineintragen. Genau diese Spaltung, "die reine Sichselbstgleichheit im Anderssein,,8o ruft Hegel aus und insistiert auf der Grenze, die sich nun als das Wechselspiel der Reflexionsrichtung entpuppt. Es ist diese thematische Inversion des Bewußtseins von der Günther spricht, wenn er sie als die wesentliche Entdeckung Hegels feiert; die Seinsthematik - das Denken des irreflexiven Seins - wird ergänzt um die Sinnthematik des Denkens - das Denken des Denkens. 81 Aber anders als die Kantische Transzendentaltheorie begehrt Hegel gegen die überkommene Stoff-Form-Dichotomie auf, das Denken setzt sich aus sich heraus, emanzipiert sich vom Subjekt und von der Form, dringt in Drittes, das Hegel in Ermangelung besseren im Absoluten ausmacht. Das Denken, das sich in der Untrennbarkeit der zwei Formen (s.o.) konstituiert weiß, weiß sich damit gleichzeitig aus der logozentristischen Oberhoheit des unären Subjekts entlassen, insofern es sich auf die leere, regulative Idee des Ich nur noch partiell abbildet, und vollzieht die wagemutige Inversion, nach der nicht mehr das Selbst der Grund des Denkens, sondern "das Denken der Grund des Selbstbewußtseins ist. ,,82 G.F.W Heget, FN 49, S. 79 (Einleitung). Hrvbg. im Orig. G.F.W Heget, FN 49, S. 53. 81 Vgl. dringend G. Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik. Hamburg: Meiner, 2 1978. 82 G. Günther, FN 81, S. 130. 79

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Ein solches Selbst zu beschreiben, bedeutet dann aber den Ausgang aus jedweder Form der Egologie, nicht vom Ich, Selbst, Subjekt her muß diese seine Struktur entschlüsselt werden, sondern von dem Grund aus, der ihm die Möglichkeit seines So- und Daseins allererst erbringt. Heidegger, der sich nicht scheut, "ein Gespräch mit Hegel zu beginnen,,83 implementiert diese Zirkularität in sein eigenes Denken des Grundes, bei ihm gelangt das Selbst im Ergreifen der Möglichkeit zu sein erst in das volle Sein seiner selbst, und der Kreis rundet sich, denn ,,[i]m Überstieg [Transzendenz] kommt das Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als es ,selbst'. [... ] im Überstieg und durch ihn kann sich erst innerhalb des Seienden unterscheiden und entscheiden, wer und wie ein ,Selbst' ist und was nicht.,,84 Notwendig auch hier bedingt die zirkulare Identifikation die simultane Differentiation von Selbigkeit und Gleichheit, und ist bereits die "Tätigkeit des Scheidens [... ] die Kraft und Arbeit des Verstandes",85 so wird die Selbstunterscheidung des Denkens in sich, der Eintritt in "die ungeheure Macht des Negativen",86 zur endgültigen Exekution des Subjekts. "Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit [des Negativen] so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. ,,87 Wird bei Hegel wie bei Heidegger solcherart das Selbst im Sinne des Subjekts als nur eine, zudem höchst inkompatible Form preisgegeben, an der sich sein Grund - sei es das Denken des Denkens, sei es das Sein zeigt - dann muß die Form der Beschreibung dieses Grundes selbst jenseits der überkommenen Objektivationsmöglichkeit des Subjekts gesucht werden. Die eindeutige und lineare Relation von Beschreibendem und Beschriebenem geht hier fehl, insofern das Beschriebene, das Denken, die Reflexion also, nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des Beschreibenden, sondern aktual auch der sich vollziehenden Beschreibung ist. Second order also, und die Phänomenologie des Geistes - damit kämen wir zur zweiten Schließung bei Hegel - ist der notwendige, in der Unfaßbarkeit seines Anliegens kaum überbietbare Versuch, diesen Grund, ihn be- und entgründend, im Prozeß seines Werdens abzubilden. Wenn das Denken, die Reflexion, die Selbstbewegung des Begriffs, das universale Strukturprinzip ist, das sich im Stufengang seiner Emanationen aufmacht, den Kreis dieser seiner (Selbst)Bewegung Zu schließen, um so im Absoluten zu sich als zu dem kommen, was es immer schon ist, dann ist das beschreibende Begleiten dieser Bewegung sein Vorschreiben, Nachschreiben und Einschreiben, nicht als äußerliche Deskription, sondern als die paradoxale Konstruktion der sich selbst schreibenden Escher-Hand. Die Formen des Geistes, als subjektiver, objektiver und absoluter Geist in ihrem Auseinanderhervorgehen zu beschreiben, kann und darf für Hegel nicht mehr länger von der Form-Inhalt83 84

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M. Heidegger; FN 72, S. 31. M. Heidegger: Vorn Wesen des Grundes. Frankfurt/ M.: Klostermann, 71983, S. 18 f. G. w.F. Heget, FN 49, S. 36. G. w.F. Heget, FN 49, S. 36. G. w.F. Heget, FN 49, S. 36.

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Dichtomie durchzogen sein, denn eben der Geist als Grund der Beschreibung vollzieht nichts anderes als seine Selbst(be)schreibung. Der Geist, der immer schon absoluter ist, steht jenseits der Dichotomie, und befreit die ihm folgende Beschreibung, die nichts anderes als sein Werden ist, aus ihren Zwängen. "Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalt zugleich die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen. ,,88 Damit hätte Hegel sich ebenso elegant wie unbefriedigend des Problems der Form entledigt, das Absolute, die Idee als "das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität,,89 erübrigt eine spezielle Theorie der Form, wenn im Absoluten die Differenz in der Identität aufgehoben wird. So bleibt die Form letztendlich doch die Eine, bleibt von allem dialektischen Wirbel unangefochten und überläßt es den Heutigen, die sich schwer tun mit dem Absoluten, erneut eine Differenz in ihr zu suchen. Ohne die wäre uns subjektiven Geistern die Möglichkeit der Selbstbeschreibung unseres Selbsts verstellt, denn nicht anders als der absolute Geist benötigen wir die Unterscheidung in der Identität. Die Beschreibung muß in sich die Dopplung von resultativ/aktual, von Beschriebenem/Beschreibendem, von Subjekt/Objekt für das beschreibendelbeschriebene Subjekt zugleich auffangen können, eine Unterscheidung, ohne die sich nichts beschreiben läßt. III. Das Geviert des Selbst

"Das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein",9o propagiert Hegel und präjudiziert damit das Ende des klassischen Formbegriffs, denn um das Denken des Denkens sauber zu denken, führt nichts daran vorbei, im Innen der Form selbst ein Außen zu installieren, an dem sich die Grenze, die vormals die eine und einzige war, erneut wiederholt. Im Innen des Denkens wird das zu denkende sich in eine Dopplung ergeben müssen, die sich als denkend-gedacht dem dualen Schema enthebt und dem tertium datur der logischen Überdetermination unterstellt. Es muß eines geben, das sich der Aristotelischen Trinität widersetzt, das sich weigert die noesis noeseos in das undenkbare Jenseits zu verschieben, das vielmehr dieses Jenseits selbst in die denkbare Immanenz seines Kalküls integriert. Sonst bliebe nichts, als das zu beschreiben, was wir ohnehin sicher wissen, wenn wir dem alltäglichen "draw a distinction" folgen: innen und außen - marked and unmarked space, Form und Inhalt - distinction and indication,91 es bliebe clare et distincte 88

G. WF. Hegel, FN 49, S. 582.

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G. WF. Hegel, FN 75, § 213. G.F.W Hegel, FN 49, S. 29. Vgl. G. Spencer Brown, FN 46, S. 1-11.

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und banal. Wie wenig der Spencer Brown-Kalkül zu der hier benötigten Form der Unterscheidung beiträgt, bringt seine Axiomatik sinnfällig zum Ausdruck, die die Selbstanwendung der Unterscheidung entweder in einem Nichts diffundieren läßt, das tatsächlich nichts ist, oder zu der im Kalkül selbst unausweisbaren Überdetermination des Zwischenraumes führt, der allein die Unterscheidungen trennen können soll.92 Es bleibt die alte Unterscheidung, zunächts linear, und ihre zirkulare Rückbindung liefert nichts, was wir nicht schon kennten; der re-entry - denn Spencer Brown rekurriert anders als Hegel nicht auf das Absolute - der Wiedereintritt der Form in die Form also produziert keineswegs den erhofften Unterschied: als einfacher Kreis erreicht die Form doch nur sich selbst, ungeschieden und ohne die Chance des Entscheids, ob sie Operand oder Operator ist. Dies wäre aber die wesentliche Bedingung der Differenz, sich als Prozeß und Prozessor noch einmal zu unterscheiden und so dem Schema von Urbild und Abbild dessen Wiederholung als seine Inversion einzutragen. Aus der Systemtheorie ist die Dopplung der Unterscheidung hinlänglich bekannt, denn ,,[d]ie Lebendigkeit eines lebenden Systems bestimmt sich dadurch, daß es simultan komplexe Unterscheidungen trifft und sich zugleich zu diesen verhält. An jedem Ort der Unterscheidung ist zumindest eine doppelte Unterscheidung im Vollzug: die Unterscheidung zwischen sich selbst als Unterscheidendem zwischen sich und der Umwelt und sich selbst als Unterscheidendem zwischen anderen Unterscheidenden [... ],,93 Die Mechanik ist also durchaus geläufig und Maturana, der lebende Systeme als autopoietische, informational geschlossene versteht, sie also ausschließlich mit ihren eigenen Interaktionen interagieren läßt, greift zur Differenzierung der Unterscheidung auf unterschiedliche Schreibweisen zurück: BESCHREIBUNG und Beschreibung als Index der heterologen und autologen Einstellung des Systems.94 Indiziert ist damit eher ein Anspruch, als seine Einlösung, die sich wohl nur abzeichnet, wenn ernst gemacht wird mit der Hegeischen Umkehrung des Bewußtseins. Nur der Beibehalt der zweifachen und gegenläufigen Reflexion eröffnet die Unterscheidungsmöglichkeit der benötigten Aktanten: Operator und Operand beide male, jedoch in wechselseitigem Umtausch, geschieden und vermittelt, so daß der logische Ort zum Index ihrer Rolle im Spiel der Unterscheidung wird. "Was Operator an einem Ort, ist Operand an einem andern Ort, und umgekehrt. Damit wird die Zirkularität der Selbstbezüglichkeit von Operator und Operand nach der Figur des Chiasmus über vier Orte verteilt. ,,95 Hier dann läßt sich nicht nur unter92 Vgl. J. Castella: Scheidekunst. Gedanken über zeitgenössische Schöpfungsmythologeme. in: E. Kotzmann (Hg.): Gotthard Günther - Technik, Logik, Technologie. München! Wien: Profil, 1994, S. 55-79. 93 R. Kaehr: Disseminatorik: Zur Logik der _Second Order Cybernetics· Von den ,Laws of Form' zur Logik der Reflexionsform. in: D. Baecker (Hg.): Kalkül der Form. Frankfurt! M.: Suhrkamp, 1993, S. 152-96, hier S. 152. 94 Vgl. H.R. Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig! Wiesbaden: Vieweg, 21985, S. 52 ff. 95 R. Kaehr; FN 93, S. 171.

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scheiden, was BESCHREIBUNG und was Beschreibung ist, hiennit ist nicht nur das Ende des klassischen Formbegriffs als seine dialektische Gründung in einer transklassisch zu nennenden Form aufgehoben, sondern - in gleicher dialektischer Verwiesenheit - zugleich der Denkraum eröffnet, unter dem sich die Simultaneität von Ordnung und Umtausch überhaupt konzipieren läßt, und von der Hegel bereits gewußt hat, als er vom reinen Selbsterkennen im absoluten Anderssein sprach. Die Trennung der Vier, die Absolutheit ihres Anderssein muß unbedingt aufrechterhalten werden, um ihre Verwandlung in das Andere vollziehen zu können. Differenzen produzieren Identitäten weiß der Strukturalismus und findet seine eigentümliche Verdopplung, wenn das Geviert von Operator/Operand und Operand/Operator uns nun zwingt, den Unterschied in der Form selbst mit der Differenz der Differenz markieren zu müssen. Unterschiede unterscheiden sich gegen Unterschiede, ein Strukturalismus des Strukturalismus figuriert sich, als die Bedingung, daß Gleiches als Anderes getrennt stehen kann. Weit weg trägt uns dies von jedem Atomismus, denn selbst die ins Infinite fortgesetzte Teilung des kleinsten Teilchen bringt immer noch ein solches, selbstidentisches hervor, an dessen Selbigkeit keine Größe etwas ändert. Hier, am definitiven Abgrund allen Identitätsdenkens, gründet sich aber das Selbst, wenn es mit der Diskontexturalität die Grenze des Absoluten im Ich installiert, die den Raum und die Zeit erbringt, in dem und in der es als das Andere seiner selbst vor sich gelangen kann. Hegel hatte recht, dies das absolute Wissen des Geistes zu nennen, auch wenn er es dem mundanen Selbst in Abrede stellte. Er mußte dies tun, denn seine deutlich vernehmbaren Ansätze zu einem polykontexturalen Selbst-Konzept sind fest im Semiotischen situiert, stehen noch bar jeder Möglichkeit, die Komplexität der Vermittlung von Gleichheit und Differenz im simultanen Wechsel von Ordnung und Umtausch über das Geviert des Selbst zu verteilen. Hierzu bedarf es eines Denkens, das selbst einen so dialektischen Geist wie Hegel übersteigt, geht es darum die Dialektik selbst zu vennitteln und zu dialektisieren. Proemialität, die im Denken des Seins schwer vorstellbare Relation, die diesem Denken dazu verhilft, den Selbstbezug auf sich zu bewerkstelligen, nenntg Günther sein wesentliches Instrument im Gefüge der Polykontexturalität. 96 Sie, die es ermöglicht, den Spagat zu denken, daß das Eine sowohl dies als auch (und im gleichen Moment) das Andere ist, die also die dichotome Exklusivität von Form und Stoff zu dialektisieren vermag, sie vennittelt darüber hinaus auch die semantisch-syntaktischen Ebenen, deren Unterscheidung und Betreten unausweichlich wird, wenn Selbes als Anderes erscheinen soll, wenn eine Form für die nicht länger selbstische Form gesucht wird. Denn neben der proemialen Dynamik bedarf der Eintritt des Selbst als das positive (objektive) Selbst in die Negativität seiner (subjektiven) Reflexion ebenso der Fundierung bzw. Abstraktion des Semiotischen in der bzw. hin zur prä-semiotischen Signifizierungsweise, damit die Unmöglichkeit dessen angegangen werden kann, was die größte Kraft erfordert: das 96 Vgl. G. Günther: Cognition and Volition. A Contribution to a Cybemetic Theory of Subjectivity. in. ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bd. Harnburg: Meiner, 1976/79/80. Bd. 2, S. 203-40.

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Tote Jestzuhalten. Die negative Arbeit der Reflexion selbst muß signifizierbar werden, um die Prozessualität der Beschreibung, Beobachtung, Unterscheidung als Beschreibung, Beobachtung, Unterscheidung abbilden zu können, und so einen Sprachrahmen zu schaffen, in dem das Geschehen der Proemialität, das Selbsterkennen im absoluten Andersein, jenseits eines sicherheitsheischenden Absoluten für das Hier und Jetzt konsistent denkbar und kohärent designerbar wird. In den Bereich des Präserniotischen hat Gotthard Günther sich mit dem Konzept der Negativsprachen, also der Kenogrammatik und Morphogrammatik begeben, die er in Identität, Gegenidentität und Negativsprache (s.o.) vorstellt und deren notwendige und wünschenwerte Weiterentwicklung Kaehr/Mahler (nicht allein) in diesem Band verfolgen. Ein Verfolg, der überaus lohnenswert erscheint, wenn wir, die wir den Göttern fern sind, dringend einen Sprachrahmen benötigen, dem das Selbst selbst sich einschreiben könnte, und durch dessen Inskription und Lektüre es sich von allem, was es selbst nicht ist, zu befreien hätte. So könnte es am Ende, das sein ursprunsgloser Anfang ist, in dieser Vor-Schrift die kenograrnmtischen Übersetzung der alten Vorschrift lesen: gnothi sauton.

Proömik und Disseminatorik Von Rudolf Kaehr und Thomas Mahler, Essen

A. Abbreviaturen transklassischen Denkens I. Grenzsituationen klassischer Rationalität 1. Selbstreflexion vs. Selbstbezüglichkeit

Die Rückbezüglichkeit des Denkens, die bei der Infragestellung des Denkens angsichts seiner Grenzen entsteht, stellt es vor zwei Möglichkeiten: a) das Denken bezieht sich auf sich selbst und vollzieht einen Selbstbezug im Modus der durch das Denken selbst bereitgestellten Form des Denkens, der Identität. Dieser Modus der Identität garantiert dem Selbstbezug des Denkens seine Rationalität, opfert diese jedoch im Vollzug der Selbstbeziehung dem Abgrund der Antinomien jeglichen regelgeleiteten selbstbezüglichen Argurnentierens und Kalkulierens. b) das Denken bezieht sich auf sich selbst, nicht im Modus der Identität, d.h. der Selbigkeit, sondern im Modus der Gleichheit als Andere ihrer selbst. Damit vermeidet die Selbstreflexion antinomische Situationen, verliert jedoch die Garantie, d.h. jegliche Form egologisch fundierter Evidenz, daß sie sich in ihrem Selbstbezug nicht selbst verfehlt und nicht im Labyrinth ihrer Aufgabe, den Bezug auf sich selbst zu vollziehen, an sich selbst als Andere ihrer selbst irre wird. Im ersten Fall ist der Ausgangspunkt des Denkens das Ich, "Ich denke (mich)." bzw. "Ich denke etwas und dieses etwas bin ich.", in der zweiten Form ist das Denken selbst der Ausgang und das Ich ein Produkt, eine Kristallisation des Denkprozesses selbst. Die Selbstbezüglichkeit des Denkens geht vom Ich aus und erkennt anderes Denken nur in Ich-Form als Analogie seiner selbst; ihm bürdet die Last der Deduktion des Anderen. Die Antinomien, in die es sich verstrickt, werden entweder verdrängt; durch Verbote, die den Grad des Selbstbezugs einschränken, eliminiert oder aber emphatisch domestiziert. Die Selbstreflexion des Denkens geht aus vom Denken und räumt so die Anerkennung anderen Denkens ein als Du-Subjektivität; verläßt dadurch jedoch das sichere Terrain der klassischen Ontologie und ihre Operativität. 1

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2. Die Grenze des Denkens und das Denken der Grenze

Die Grenze des Denkens ist der identitätsgeleiteten Vernunft als Grenze verborgen. Die Vernunft kennt die Grenze nur von innen als Ab- und Angrenzung. Außerhalb der Vernunft gibt es keine Vernunft. Die Grenze als Grenze der Vernunft läßt sich jedoch nur denken als ein Zugleich von Innen und Außen der Vernunft. Dies ist jedoch im Modus der Identitätslogik nicht möglich, denn ihre Operatoren gelten einzig innerhalb der einen und einheitlichen Logik. Eine immanente Grenze kennt die Logik einzig als metasprachlich formulierter Dualitätssatz, als Eingrenzungen fungieren die Limitationstheoreme. Das Äußere der klassischen Logik zeigt sich in der Morphogrammatik als ihre operationale Unvollständigkeit. 3. Die Ressourcen des Denkens

Das Denken vollzieht sich im Medium des Zeichengebrauchs. Die Semiotik als formalisierte Theorie des rationalen Zeichengebrauchs kennt nur die abstrakte Verknüpfung (Konkatenation / Substitution) von vorgegebenen Zeichen eines (beliebigen, endlichen oder unendlichen) Zeichenrepertoires, das allerdings formal auf zwei Elemente (Atomzeichen und Leerzeichen) reduziert werden kann. Das Zeichen als Zeichengestalt trägt sich im Denken aufgrund der Trägerfunktion der Materialität des Zeichenereignisses. Die Differenz von Zeichengestalt und Zeichenvorkommnis kommt in der Semiotik selbst nicht zur Darstellung; sie ist ihre verdeckte Voraussetzung. Die Zeichengestalt verbraucht sich nicht im Gebrauch ihres Ereignisses. Der Modus der Wiederholung des Zeichens ist abstrakt und gründet sich auf der Abwesenheit des Subjekts und der Annahme der Unendlichkeit der Ressourcen (Raum, Zeit, Materie). 4. Die Ver-Endlichung des Unendlichen

Der Prototyp jeglicher Operativität ist die Arithmetik der natürlichen Zahlen. Die Struktur der Arithmetik kennt Nachfolger und Vorgänger; jedoch keinen Nachbarn. Dies ist ihre Linearität. Zur Bestimmung der natürlichen Zahlen ist die Unendlichkeit des Operierens Voraussetzung. Ihre Einführung verdankt sie den Diensten einer Schrittzahl, die im Vollzug selbst nicht der Arithmetik angehört; sie be1 Kurt Klagenfurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Zur Technikphilosophie Gotthard Günthers, Suhrkamp, Frankfurt/M., stw 1166, 1994; R. Kaehr: Kompass. Expositionen und Programmatische Hinweise zur weiteren Lektüre der Schriften Gotthard Günthers, in: Gotthard Günther - Technik, Logik, Technologie, Ernst Kotzmann (Hrsg.), S. 81-125, Profil-Verlag, München/Wien 1994.

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dient sich der Zirkularität. Desweiteren verbleibt sie im Abstrakten: ihre Unizität läßt sich nur bis auf Isomorphie und nicht auf Konkretion hin bestimmen. Auch ist das Endliche enthalten im Unendlichen. Entfällt das Ideal der Linearität und Unizität der natürlichen Zahlen, und kommen gleichursprüngliche Zahlensysteme als Nachbarsysteme ins Spiel, proörnialisiert sich die Hierarchie von Kardinalität und Ordinalität, von Endlichkeit und Unendlichkeit wie von Abstraktheit und Konkretheit. So ist die Kardinalität einer natürlichen Zahl nicht mehr allein bestimmt durch ihre Nachfolgeroperation, sondern mit durch ihren Ort in der Tabularität. 2

11. Realitäten/Rationalitäten: Das Spiel der Spiele Ein Hauptproblem einer transklassischen Weltauffassung liegt in der philosophischen Neubestimmung des Verhältnisses von Einheit und Vielheit. Zwischen Welt und Logik-Kalkül oder zwischen Semantik bzw. Meontik und Architektonik einer formalen Sprache gibt es in der Graphematik prinzipiell nur vier Stellungen: 1. eine Welt / eine Logik (Tarski, Scholz), 2. eine Welt/viele Logiken (Grosseteste, Wilson), 3. viele Welten / eine Logik (Leibniz, Kripke) und 4. viele Welten/viele Logiken (Günther, Derrida).3 Nach dieser Schematik regelt sich auch das Verhältnis von Realität(en) und Rationalität( en). Bei der 1. Stellung wird das Problem der Vielheit in die Metasprache und ihre Typenhierarchie verlagert. Auf der Ebene der Objektsprache gibt es einen und nur einen allgemeinen Individuenbereich über den Attribuierungen und Sorten gebildet werden können, die letztlich auf eine 2-wertige Wahrheitswertesemantik abgebildet werden. Für die Typentheorie gelten dabei die bekannten Typen-Reduktionssätze. Ausgeschlossen bleibt die Option der Heterarchie, d.h. der selbstbezüglichen und simultan über mehrere Sprachschichten verteilten Begriffsbildungen. Es gibt also eine Realität und eine Rationalität, d.h. es gibt ein Original und ein Spiegelbild davon wie auch Spiegelbilder von Spiegelbildern ohne Abschluß. Zur 2. und 3. Stellung. In der Autopoiesetheorie wird zwischen Realität und Wirklichkeiten und ihren Theorien unterschieden, die Resultat der unerkennbaren Realität sind. Die Unterscheidung von de dicto und de re eines Observers fängt die Vielheit in mehreren Logiken als mehrwertige Produktlogik auf. 2 R. Kaehr: Spaltungen in der Wiederholung, in: Spuren, Heft Nr. 40, S. 44-47, Hamburg 1992. 3 R. Kaehr: Disseminatorik: Zur Logik der ,Second Order Cybemetics'. Von den ,Laws of Form' zur Logik der Reflexionsform, in: Kalkül der Form, Dirk Baecker (Hrsg.), stw 1068, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993.

8 Selbstorganisation, Bd. 6

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Komplementär dazu ist die Situation in der Endo-/Exophysik, wenn die Grundstruktur "zweiäugig" als Modell von (Modellen und Fakten), als Meta-Modell charakterisiert wird. In der Kripke-Semantik gibt es jedoch keine Simultaneität und Synchronizität von Semantiken, denn diese sind fundiert in einer mono-kontexturalen Logik. Soll die Grenze simultan von innen wie von außen bestimmt werden, und nur so ist sie als Grenze und nicht als Limes begriffen, ist eine Logik des Zugleichbestehens von gegensätzlichen Situationen unabdingbar. Dies erinnert an die reflexionstheoretische Situation der Reflexion der (Reflexion in-sich und anderes). Auch hier gibt es nur die Flucht in die Abstraktheit (des letzten Modells) oder die Verstrickung in Zirkularitäten, wenn nicht die letzthinnige Einheitlichkeit des Denkens und Handeins geopfert wird. Die 4. Stellung sprengt den Rahmen der klassischen Logikkonzeptionen und kann nur transklassisch paradox gekennzeichnet werden als ,ein Weltspiel von vielen Welten und vielen Logiken' oder als ,Zusammenspiel vieler Welten und vieler Logiken in einem Spiel'. Solche Spiele sind ohne Grund. Dies ist die Situation der diskontexturalen Option. Ohne diese Kennzeichnung fällt sie in die erste Stellung zurück. Dieses Geviert von Welt und Logik expliziert die Dekonstruktion der Begrifflichkeit von Identität und Diversität im Hinblick auf die jeweils vorläufige Einführung der doppelten und gegenläufigen Unterscheidung von Selbigkeit(en), Gleichheit(en) und Verschiedenheit(en). IH. Proömik vs. Hierarchie 1. Chiasmus und Zirkularität: Nicht jeder Kreis geht rund

Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt durch den Standort der Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den Umtausch von Grund und Begründetem. Es gibt keinen ausgezeichneten Ort der Begründung. Jeder Ort der Begründung ist Grund und Begründetes zugleich. Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer Vielheit voneinander geschieden. Für die Begründung eines Ortes ist eine Vierheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vierheit von Orten? Diese läßt sich ins Spiel bringen, wenn wir die Möglichkeiten der Operativität einer Operation uneingeschränkt gelten lassen. Bei einer Operation unterscheiden wir Operator und Operand. Zwischen beiden besteht eine Rangordnung, der Operator bezieht sich auf den Operanden und nicht umgekehrt. Diese Hierarchie ist bestimmend für alle formalen Systeme und erfüllt die Bedingungen logozentrischen Denkens. Wollen wir aber selbstbezügliche Strukturen erfassen, so haben wir vorerst zwei zirkuläre Möglichkeiten: 1. was Operator war wird Operand und 2. was Operand war wird Operator. Unter den logischen Bedingungen der Identität erhalten wir dadurch zwei komplementäre antinomische Situationen. Obwohl zwischen Operator und Operand eine Dichotomie

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besteht, ist danach ein Operator genau dann Operator, wenn er Operand ist und ein Operand genau dann Operand wenn er Operator ist. Diese doppelte, links- und rechtsläufige Widersprüchlichkeit, die wegen ihrer Isomorphie selten unterschieden wird, läßt sich vermeiden, wenn wir die Umtauschverhältnisse zwischen Operator und Operand über verschiedene Orte verteilen. Diesen Möglichkeitsspielraum eröffnet uns die Unterscheidung von Gleichheit(en) und Selbigkeit(en). Was Operator an einem Ort, ist Operand an einem andern Ort und umgekehrt. Damit wird die Umtauschrelation zwischen Operator und Operand nicht auf sich selbst, am selben Ort und damit zirkulär angesetzt, sondern über verschiedene Orte distribuiert. Am jeweiligen Ort bleibt die Ordnungsrelation zwischen Operator und Operand unberührt. Der chiastische Mechanismus läßt sich bzgl. Umtausch- /Ordnungsrelation und Operator / Operand zusammenfassen: Die Ordnungsrelation zwischen Operator und Operand einer Operation wird fundiert durch die Umtauschrelation, die der Ordnungsrelation ihren jeweiligen Ort eimäumt; die Umtauschrelation zwischen Operator und Operand wird fundiert durch die Ordnungsrelation, die verhindert, daß sich der Umtausch zirkulär auf sich selbst bezieht. Wie leicht einsichtig, werden in diesem Chiasmus vier Orte eingenommen bzw. ge- / verbraucht. Damit sind alle strukturellen Möglichkeiten zwischen Operator und Operand im Modus von Gleichheit und Selbigkeit durchgespielt. Deshalb, und weil mit der Unterscheidung Operator/Operand eine Elementar-Kontextur bestimmt ist, beginnt die Polykontexturalität nicht mit Eins, sondern mit Vier; daher hier die Vierheit. Für die polykontexturale Logik bedeutet dieser sukzessive Aufbau der Beschreibung einer Zwei-Seiten-Form (Operator / Operand), daß insgesamt sechs Logiksysteme involviert sind.

Im Durchgang durch alle strukturell möglichen ,subjektiven' Beschreibungen des Observers wird das Objekt der Beschreibung ,objektiv', d.h. ob server-invariant ,als solches' bestimmt. Das Objekt ist also nicht bloß eine Konstruktion der Observation, sondern bestimmt selbst wiederum die Struktur der Subjektivität der Observation durch seine Objektivität bzw. Objektionalität. Der auf diesem Weg gewonnene Begriff der Sache entspricht dem Mechanismus des Begriffs der Sache und wird als solcher in der subjekt-unabhängigen Morphogrammatik inskribiert. Damit entzieht er sich der logozentrischen Dualität von dekonstruktivistischer Lichtung ,letzter Worte' und dem ironisch-pragmatizistischen Spiel mit ihren Familienähnlichkeiten.

2. Die als-Funktion in der Proemialrelation

In der bisherigen Argumentation wurden identitäts theoretische Implikationen insofern mitgetragen, als die Sprechweise von Operator und Operand diese mit sich 8*

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selbst als "der Operator" bzw. "der Operand" identifiziert haben. Dies war notwendig, weil wir ausgehend von klassischen Vorgaben ein transklassisches Konstrukt eingeführt haben. Ist dieses einmal eingeführt, läßt sich die Komplexion invers neu beschreiben, wobei strukturelle Asymmetrien der Konstruktion entstehen. 1. Es gibt keine isolierten Objekte (Operator bzw. Operanden) zwischen denen nachträglich eine Beziehung (Ordnungs- bzw. Umtauschrelation) hergestellt wird. Erst durch das Beziehungsgefüge wird das Objekt als das bestimmt als das es im Konnex fungiert. (Es gibt also nicht erst die Brückenpfeiler über die dann die Brücke gespannt wird.) 2. Die identifizierende Sprechweise erweist sich als verdinglichende Reduktion der als-Struktur. Danach lautet die Sprechweise nicht mehr etwa "der Operator steht in einer Ordnungs- und simultan in einer Umtauschrelation", sondern "der Operator als Operator steht in einer Ordnungsrelation zu einem Operanden als Operanden und der Operator als Operand steht in einer Umtauschrelation zu einem Operanden als Operator". D.h. der Operator steht als Operator in einer Ordnungsrelation und als Operand in einer Umtauschrelation. Es gibt in einer Komplexion keinen Operator an sich, isoliert vom Ganzen, sondern nur in seiner Autologie als der Operator als Operator. Es ist also bloß eine Abbreviation, allerdings eine irreführende, wenn das Wechselspiel zwischen Operator und Operand klassisch chiastisch formuliert wird als "was Operator war wird Operand und was Operand war wird Operator". Erst durch die Bestimmung des Operators als Operator und als Operand kann er ,simultan und synchron' als beides zugleich fungieren ohne sich dabei in logische Zirkularitäten zu verstricken. Das Zugleich von Operator und Operand ist nicht in Raum und Zeit und nicht im Subjekt und Sein, sondern ,generiert' diese allererst. 4

Als ist nicht als ob

"Du und Ich stellen ein reines Umtauschverhältnis dar. Sie können nicht ineinander übergehen und sich miteinander vermischen." (Günther) Die als-ob-Sprechweise nivelliert die Entschiedenheit des Wechsels wie er in der als-Funktion auftritt durch eine Fiktionalisierung des Objekts im Modus seiner, nun virtuellen Identität. "Versetze dich in seine Situation!": wie soll das funktionieren, wenn ich mir bloß imaginieren kann, wie es ist, wenn ich du wäre. Dann habe ich bloß eine Vorstellung und durch diese induzierte Erlebnisse von deiner Situation, jedoch nicht 4 R. Kaehr: Vom ,Selbst' in der Selbstorganisation. Reflexionen zu den Problemen der Konzeptionalisierung und Formalisierung selbstbezüglicher Strukturbildungen, in: Aspekte der Selbstorganisation, Informatik-Fachberichte 304, W. Niegel/P. Molzberger (Hrsg.), Springer, Berlin/New York 1992.

Proömik und Disseminatorik

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von dir selbst, noch bin ich bei dir. Keine Einfühlung (Husserl) führt letzten Endes von mir zu dir und von dir zu mir; hierbei verbleibst du mir virtuell. 5 Anders ist es, wenn Ich als Du, und Du als Ich, im Wechselspiel ihre Funktionalität vertauschen. Dann kann Ich als Du und Du als Ich handeln, ohne sich dabei aufgeben zu müßen, was ohnehin nicht möglich ist, noch muß ich dir und du mir unerreichbar bleiben. Durch die als-Funktion bleibt die Instanz, von der aus ich du bin und von der aus du ich bist, erhalten. Was ich verdecke, ent-deckst du und was du ver-deckst, entdecke ich; in diesem Zusammenspiel ent-gründen wir unsere Welt und ihr Spiel. Ohne dieses Zugleich der gegenseitigen und gegenläufigen Anerkennung bist weder Du noch Ich. Die logozentrische Form der Rationalität schließt uns beide aus; in ihr gibt es weder Du noch Ich. Du und Ich sind ihr einzig grammatikalische Unterscheidungen ohne letztliche Relevanz für ihr Wirklichkeitsverständnis. Als Ich bin Ich Du und versetze mich modal in deine Situation ohne mich meiner Existenz als Ich entheben zu müßen. Wer garantiert mir sonst meinen Weg zurück zu mir, wenn ich mich voll und ganz mit dir vermische? Auch wenn ich ganz bei dir bin, verliere ich mich nicht in dir. Die Orte bleiben geschieden, ihre Verschiedenheit ermöglicht überhaupt erst unser Wechselspiel. Zu verstehen gibt es hier nichts. 3. Die Sprung-Funktion in der Proemialrelation

"Der Satz des Grundes ist der Grund des Satzes." (Heidegger) Die Proömik regelt den Absprung vom Identitätsdenken, indem es den Mechanismus des Satzes inszeniert. Das Wechselspiel zwischen Operator und Operand erweist sich als Tanz über dem Abgrund; im Gegensatz zu diesem Satz selbst, ist dieser Tanz weder ein Bacchantismus noch eine Narretei noch steht er unter dem Zwang eines Regelsatzes. Gewiß ist dabei weder der Grund noch der Abgrund des Seins in Anwesenheit zu bringen. Er entsteht und vergeht daselbst in diesem kenomischen Spiel ohne jegliche Verbuchung. Die intrakontexturalen Bestimmungen, die die klassische Rationalität binden, werden hintergründig und eröffnen die Freiheiten des Springens. Die Proömik gibt die Regeln an, wie von einer Kontextur zur andem gesprungen wird, sie zeigt den Mechanismus des Satzes auf. Zwischen den Kontexturen einer polykontexturalen Konstellation besteht ein diskontexturaler Abbruch. Keine genuin intrakontexturale Regel ist in der Lage einen Kontexturwechsel zu vollziehen. Mit keiner logischen Folgerung, keiner arithmetischen Operation, keiner Regel einer Grammatik ist diese letztmöglich zu verlassen. In ihr herrscht strenge Monotonie. Transkontexturale Übergänge involvieren immer auch Unentscheidbarkeiten und verletzen den Regelsatz. 5

H. Leinhos: Zur Polykontexturalität des therapeutischen Gesprächs. in diesem Band.

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Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

Die Proömik weist die Wegung und begleitet die Erschlossenheit in der Dissemination der Kontexturen der Polykontexturalität.

IV. Disseminatorik vs. Monokontexturalität

Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wiederholt sich vielfälltigst in jenem Diesseits ohne Jenseits noch Diesseits. Diese Grenze ereignet sich an jedem der Orte. Jeder Ort ist weder diesseits noch jenseits; bar jeglicher angebbarer örtlichkeit noch beschreib- und beherrschbarer Ortschaft ist er immer schon sowohl dieseits wie jenseits. Komplementär zur Polykontexturalität6 , d.h. zur Vielheit ist die Diskontexturalität, die Grenze, der Abbruch und Abgrund zwischen den Kontexturen. Dieses Zwischen der Diskontexturalität, die Dissemination der Kontexturen, ist ontologisch weder substanz-, funktions-, system-, noch struktur-ontologisch faßbar. Hinweise auf Inter- und Trans-Ontologien mögen helfen. Etwas anderes als bei einer vorschnellen Entparadoxierungen in Raum und Zeit ist es in medias res, wie in Part B. Operationale Modellierung der Proemialrelation demonstriert, wenn bei der formalen Modellierung und deren Implementierung in einer (klassischen) Programmiersprache (ML) bewußt und explizit, als Modellierungsbedingung mit allen ihren Einschränkungen der Adäquatheit des Modells und des Implements, die paradoxe Entscheidung vollzogen wird, etwas darzustellen, was sich einer solchen DarsteIlbarkeit grundsätzlich entzieht. Eine weitere Konkretion der Modellierung der Proemialrelation ist erreicht, wenn diese nicht mehr innerhalb der kombinatorischen Logik auf der Basis der Unterscheidung von ,nicht strikten' und ,strikten' Kombinatoren, sondern direkt zwischen disseminierten kombinatorischen Logiken selbst auf der Basis der Kenograrnmatik als nichtstrikter polykontexturaler Kombinator zu verorten ist.

V. Kenomik vs. Semiotik

Die Kenogrammatik läßt sich einführen, direkt und ohne den historischen Umweg über die sog. Wertabstraktion der semantisch fundierten Logik, in Analogie und in Dekonstruktion der formalen Semiotik bzw. der rekursiven Wortarithmetik. Dieser Zugang ist als ein externer zu charakterisieren, da er kenogrammatische Gebilde von außen durch Nachfolgeroperationen generiert auch wenn diese nicht 6 J. Pfalzgraf Logical Fiberings and Polycontextural Systems, in: Fundamentals of Artificial Intelligence Research; Ph. Jorrand/J. KIemen (eds.), S. 170-184, Springer, Berlin 1991; R. Kaehr: Das graphematische Problem einer Forrnalisierung der transklassischen Logik Gotthard Günthers, in: Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung, W. R. Beyer (Hrsg.), S. 254-274, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1981.

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mehr abstrakt, sondern retrograd und selbstbezüglich definiert sind. Im Gegensatz dazu läßt sich die Kenogrammatik auch in Analogie und Dekonstruktion organismischer bzw. genuin systemischer Konstrukte als Selbsterzeugung, intrinsischer evolutiver und emanativer Ausdifferenzierung einführen und ist daher als interne Ausführung zu verstehen. Kenogrammatische Komplexionen entstehen bei der externen Darstellung als Iterationen und Akkretionen eines (vorgegebenen zu dekonstruierenden) Zeichenrepertoires; bei der internen Darstellung jedoch als die Wiederholungsstruktur einer (zu entmystifizierenden) Se1bstabbildung und Autopoiese der kenogrammatischen Komplexionen 7 . Beide Zugangsweisen sind komplementär und haben sich bei der Einführung der Kenogrammatik, d.h. beim Übergang vom klassischen zum transklassischen Denken bewährt, jedoch auch belastet mit einer komplementären Dekonstruktion des Anfangs (Demiurg-, deus absconditusStruktur), d.h. mit dem Anfang als Urgrund und als Abgrund. Semiotische Voraussetzung von Zeichenreihen ist die Unterscheidung von Zeichenvorkommnis bzw. Zeichenereignis (token) und Zeichengestalt (type). Dabei ist die Zeichengestalt definierbar als Äquivalenzklasse aller ihrer Zeichenvorkommnisse. Selbstverständlich ist die Konzeption der Äquivalenzklassenbildung bis ins letzte nur innerhalb einer Semiotik formulierbar, ihre Bestimmung somit semiotisch zirkulär. Für die semiotische Gleichheit ist unabdingbare Voraussetzung, daß die zu vergleichenden Zeichenketten von gleicher Länge sind. Unter der Voraussetzung der Längengleichheit, die durch eine Schrittzahl gemessen wird, die selbst nicht zur Objektsprache der Zeichentheorie, sondern zu ihrer Metasprache gehört, dort selbst jedoch auch wieder als Zeichen zu thematisieren ist, usw., wird die Identität bzw. Diversität der Atomzeichen je Position bzgl. der zu vergleichenden Zeichenreihen geprüft. Zwei Zeichenreihen sind genau dann gleich, wenn jeder Vergleich der Atomzeichen jeweils Identität ergibt. Die Bestimmung der Gleichheit von Zeichenreihen ist also in dieser Sprechweise die Bildung einer Äquivalenzklasse. 1. Abstraktion im Operandensystem

Es liegt nun nahe, innerhalb dieses Mechanismus der Äquivalenzklassenbildung weitere Abstraktionen vorzunehmen. Das vollständige System der Klassisfikation aller Äquivalenzklassen bezüglich Zeichenreihen läßt sich in zwei Typen unterteilen: a) Klassifikation über der Quotientenmenge, b) Klassifikation über der Bildmenge bzw. Belegungsmenge und c) Mischformen von a) und b). 7 R. Kaehr/S. Khaled: Kenograrnrnatische Systeme, in: Information Philosophie, 21. Jahrgang, Heft 5, Dez. 1993, S. 40-50, Lörrach 1993.

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Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

Nur drei Klassen abstrahieren von der Bildmenge, diese sind, da sie von der Identität der Zeichen abstrahieren, von Günther als transklassisch relevant anerkannt und mit Proto-, Deutero- und Tritostruktur der Kenogrammatik klassifiziert und bezeichnet worden. 8 Die Semiotik des Calculus of Indication von Spencer Brown ist als ,,kommutative Semiotik,,9 charakterisiert worden. Diese abstrahiert also nicht von der Identität der Zeichen, d.h. von der Belegungsmenge, sondern von der topographischen Anordnung der identischen Zeichen. Ihre Kommutativität ist jedoch topographisch nicht frei, sondern, induziert durch die Identität der Zeichen, auf Linearität der Zeichenreihengestalten reduziert, daher soll sie auf ,identitive kommutative Semiotik' hin präzisiert werden. D.h. daß die Kommutativität schon auf der Ebene der Definition der Zeichen selbst eingeführt ist und nicht im nachhinein als Axiom in einem Kalkül erscheint. Damit ist eine weitere Sprachschicht der allgemeinen Graphematik charakterisiert. Die verbleibenden und bis dahin nur bzgl. ihrer Kombinatorik erforschten Möglichkeiten graphematischer Schriftsysteme lassen sich als partitiv-identitive, tritopartitive, trito-kommutative und deutero-partitive bestimmen. Es sind somit zur identitiven Semiotik und ihrer Kardinalität (Zahl) acht neue Notations- bzw. Schriftsysteme zu unterscheiden; zu guter Letzt ein Anfang: die Tetraktys. 2. Abstraktion im Operatorensystem

Eine weitere Dekonstruktion des Identitätsprinzips ist in der Kenomik formulierbar, wenn nicht bloß die Basisstruktur analysiert wird, sondern auch Abstraktionen im Bereich der Operatoren zugelassen werden. In der Semiotik ist dieser Schritt nicht sinnvoll, da sie nur einen grundlegenden Operator kennt, die Konkatenation bzw. dual dazu die Substitution. Die Dualität von Konkatenation und Substitution, heißt nicht, daß zwei basale Operatoren existieren, sondern nur, daß die Semiotik entweder mit der Konkatenation eingeführt wird und die Substitutionsoperation in ihr definierbar ist oder aber daß dual dazu die Semiotik mit dem basalen Operator der Substitution eingeführt wird und die Konkatenation in ihr definierbar ist. Die Kenomik kennt eine Vielheit von basalen Operatoren, daher ist es möglich über dieser Menge von Operatoren Abstraktionen vorzunehmen. So gilt als notwendige Voraussetzung der jeweiligen Gleichheit von Objekten, die Gleichheit ihrer Länge bzw. ihrer Kardinalität. Als Basisoperator wird die jeweilige Verkettungsgsoperation (Konkatenation) untersucht.

8 R. Kaehr/Th. Mahler. Morphogrammatik. Eine Einführung in die Theorie der Form, KBT, Heft 65, Klagenfurt 1994. 9 R. Matzka: Semiotische Abstraktionen bei Gotthard Günther und Georg Spencer-Brown, in: Acta Analytica 10, S. 121-128, Slowenien 1993.

Proömik und Disseminatorik

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In der Kenogrammatik, sind u.a. die Operatoren der Verknüpfung und der Verschmelzung basal. Wird nun über der Menge der Operatoren abstrahiert, entstehen völlig neue Situationen. Zwei kenomische Komplexionen können auch dann äquivalent sein, wenn sie sich in ihrer Kardinalität unterscheiden. So sind zwei kenomische Komplexionen genau dann kenogrammatisch äquivalent, wenn sie in gleiche Teile (Monomorphien) zerlegbar sind, wenn sie sich zu gleichen Teilen verteilen. Da zwei Komplexion durch verschiedene Operatoren in gleiche Monomorphien zerlegbar sind, müßen sie nicht von gleicher Kardinalität sein; aus Monomorphien lassen sich Komplexionen verschiedener Kardinalität bilden. Kenomische Objekte haben die Möglichkeit sich zu verschmelzen, zu verknüpfen oder zu verketten und ihre Verbindungen jeweils wieder auf ihre je eigene Weise aufzulösen. 3. Isomorphie und Konkretion

Eine wesentliche Konkretion erfährt ein formales System dadurch, daß es nicht bloß bis auf Isomorphie eindeutig, sondern direkt auf Äquivalenz charakterisierbar ist; dies ist identiven Semiotiken verwehrt. Anders in der Kenogrammatik: die Abstraktion von der Identität der Zeichen setzt jede mögliche Realisierung der Kenogrammatik als formales System kenograrnmatisch äquivalent. Es gibt keinen Unterschied zwischen verschiedenen notationellen Realisationen der Kenogrammatik, sie sind nicht bloß bis auf Isomorphie bestimmt, die Verschiedenheit der Zeichen als Unterscheidungskriterium entfällt, sondern direkt kenogrammatisch identisch. Die Semiotik läßt sich damit verorten in der Graphematik, ihre Idealität dekonstruieren und auf eine innerweltlich realisierbare Konkretion und Dissemination bringen. 10 Der Alphabetismus findet in seiner letztlichen Digitalität und Linearität multimedial zu sich selbst und zu seinem Abschluß in der Objektivation seiner vermeintlichen Vernetzung. Die Graphematik be-wegt den Übergang der Inskription zur Ermöglichung einer nach-schriftlichen und transterrestrischen Epoche des Welt-Spiels. 11

10 R. Kaehr/E. von Goldammer: Again, the Computer and the Brain, in: Journal of Molecular Electronics 4, S. 31-37, New York 1988. 11 R. Kaehr: Einschreiben in Zukunft, in: ZETA 01 - Zukunft als Gegenwart, D. Hombach (Hrsg.), Rotation, S. 191-238, Berlin 1982.

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Rudo1f Kaehr und Thomas Mah1er

B. Operationale ModelIierung der Proemialrelation I. Einführung

Die von Gotthard Günther konzipierte und von Rudolf Kaehr verallgemeinerteProemialrelation stellt eine der grundlegenden transklassischen Begriffsbildungen der Polykontexturalitätstheorie dar 12 . In dem vorliegenden Text wird ein operationales Modell der Proernialrelation vorgeschlagen, das in Anlehnung an Implementierungstechniken funktionaler Programmiersprachen entwickelt wird. Insbesondere wird ein Proemialkombinator PR definiert, dessen operationale Semantik mittels einer parallelverarbeitenden Graphreduktionsmaschine angegeben wird. Diese Modellierung expliziert die Proemialrelation im Kontext der Grundlagenuntersuchungen der Mathematik, Logik und Informatik und weist auf die Relevanz der Polykontexturalitätstheorie für aktuelle Fragestellungen der KI-Forschung hin. 11. Polykontexturale Logik als Distribution und Vermittlung formaler Systeme

Die von G. Günther konzipierte Polykontexturale Logik (PKL) ging aus seinen umfangreichen Untersuchungen zur Formalisierung der Dialektik Hegels und der Reflexionstheorie Fichtes 13 und seinen Arbeiten zur Formalisierung selbstreferentieller Systeme.innerhalb der ,Second Order Cybernetics d4 hervor. Ausgehend von einer an die Philosophie des deutschen Idealismus anschließende Kritik der klassischen Logik, ihrer zugrundeliegenden Ontologie und der von ihr implizierten dualistischen logischen Form 15 entwirft Günther eine polykontexturale Ontologie. Die Ontologie der klassischen Logik reduziert die phänomenolo12 G. Günther: Erkennen und Wollen, in: Gotthard Günther und die Folgen, Klagenfurt; R. Kaehr: Materialien zur Formalisierung der dialektischen Logik und der Morphograrnmatik 1973-1975, in: G. Günther, Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik, Anhang; R. Kaehr: Einschreiben in Zukunft, in: D. Hombach (Hrsg.), Zeta 01. Zukunft als Gegenwart, Verlag Rotation, Berlin 1982; R. Kaehr: Disserninatorik: Zur Logik der ,Second Order Cybernetics'. Von den ,Laws of Form' zur Logik der Reflexionsform, in D. Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1994. 13 G. Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik, Felix Meiner Verlag, Harnburg 1978; G. Günther: Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen, 2. Auflage, Verlag Felix Meiner, Harnburg 1978; G. Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1-3, Verlag Felix Meiner, Hamburg 1976, 1979, 1980, Bd. 1. 14 G. Günther: Cybemetic Ontology and Transjunctional Operations, in: G. Günther (1980), FN 2. 15 Günther (1933), FN 2, Günther (1978), FN 2.

Proömik und Disseminatorik

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gisch beobachtbare Vielzahl der Subjekte auf eine einzige universale Subjektivität, die strikt von der objektiven Welt isoliert ist. Im Gegensatz dazu nimmt Günthers polykontexturale Ontologie "die Immanenz der Subjektivität in der Welt,,16, sowie "die Irreduzibilität von Ich-Subjektivität und Du-Subjektivität aufeinander in einem universalen Subjekt"l? an. Diese grundlegende Ontologie der Subjektivität will Günther in seiner Polykontexturalen Logik formalisieren, deren Anspruch er präzisiert: "Jedes Einzelsubjekt begreift die Welt mit der selben Logik, aber es begreift sie von einer anderen Stelle im Sein. Die Folge davon ist: insofern, als alle Subjekte die gleiche Logik benutzen, sind ihre Resultate gleich, insofern aber, als die Anwendung von unterschiedlichen Stellen her geschieht, sind ihre Resultate verschieden. [ ... ] Ein logischer Formalismus [hat] nicht einfach zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, er muß vielmehr die Distribution der Subjektivität in eine Vielzahl von Ichzentren in Betracht ziehen. Das aber bedeutet, daß das zweiwertige Verhältnis sich in einer Vielzahl von ontologischen Stellen abspielt, die nicht miteinander zur Deckung gebracht werden können. ,,18 Die PKL erkennt also die zweiwertige Logik als Formulierung der ontologischen Stellung eines einzelnen Subjektes zu seiner objektiven Welt an. Die Monokontexturalität der klassischen Logik wird nun nicht durch intrakontexturale Modifikationen, sondern durch die extrakontexturale Ergänzung einer Vielzahl weiterer Kontexturen erweitert. Die PKL bildet komplexe Systeme ab, indem sie deren Subsysteme über mehrere logische Kontexturen verteilt. Innerhalb dieser lokalen Subsysteme, intrakontextural, gilt jeweils eine klassische Logik. Die verteilten Logiken sind durch bestimmte ausserlogische Operationen miteinander verkoppelt, wodurch die Interaktion der das Gesamtsystem konstituierenden Subsysteme modelliert wird. Die PKL zeichnet sich also durch eine Distribution und Vermittlung verschiedener logischer Kontexturen aus, wobei innerhalb einer Kontextur - intra-kontextural - alle Regeln der klassischen Aussagenlogik ihre vollständige Gültigkeit besitzen. Durch die Vermittlung sind die einzelnen Kontexturen nicht im Sinne einer Typenhierarchie voneinander isoliert, sondern durch besondere inter-kontexturale Übergänge miteinander verkoppelt. Da sowohl die Kontexturen in sich, als auch ihre Vermittlung widerspruchsfrei beschreibbar ist, lassen sich somit zirkuläre und selbstreferentielle Strukturen innerhalb der PKL widerspruchsfrei modellieren. Die innerhalb der monokontexturalen klassischen Logik ausschließlich geltende Form der Dualität ist in der PKL nur noch lokal (je Kontextur) gültig, nicht mehr jedoch ausschließlich bzw. global (für das Gesamtsystem). Die strukturelle Erweiterung der dualistischen Form der klassischen Logik zur Reflexionsform der PKL 16

17

18

Günther (1980), FN 2, S. 87. A. a. O. A.a.O.

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Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

ergibt sich aus dem proemiellen (d.h. simultanen und verkoppelten) Zusammenspiel der Distribution und Vermittlung von Kontexturen und ist auf keinen dieser Aspekte allein reduzierhar. Die Distribution regelt die Verteilung von Logiken über Kontexturen und läßt dabei den interkontexturalen Raum unberücksichtigt. Die Vermittlung beschreibt hingegen die interkontexturale Operativität der PKL, kann aber die intrakontexturalen, logischen Aspekte nicht erfassen, da sie von aller logischen Wertigkeit abstrahieren muß. Die Distribution bildet den Hintergrund der Vermittlung, die Vermittlung den Hintergrund der Distribution. Der formale Aufbau der PKL muß dieser fundamental selbstreferentiellen Architektur Rechnung tragen und das proemielle Zusammenspiel der Distribution und Vermittlung vollständig abbilden. Es soll im weiteren Verlauf eine operationale ModelIierung der Proemialrelation entwickelt werden, da diese, wie gezeigt, die fundamentale Struktur der Polykontexturalen Logik bildet. Im nächsten Abschnitt wird die Proemialrelation zunächst informell charakterisiert. III. Die Proemialrelation

Die von Günther eingeführte Proemialrelation "gehört zur Ebene der kenogrammatischen Strukturen ,,19 und beschreibt die in der Kenogrammatik 2o mögliche Notierung von ,Relationalität' und Operativität, die aller dualistischer Aufspaltung in Subjekt-Objekt, Form-Inhalt usw. vorangeht. ,,Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der symmetrischen Umtauschrelation, wie sie zum Beispiel die Negationstafel in der zweiwertigen Logik darstellt, und dem Umtausch von Relator und Relatum. In der klassischen Symmetrierelation wechseln die beiden Relata lediglich ihre Plätze. Formal ausgedrückt: (I)

R(x,y)

wird zu (2)

R(y,x)

Hierbei ändert sich materiell überhaupt nichts. Wenn dagegen der Relator die Stelle eines Relatums einnimmt, dann ist der Umtausch nicht wechselseitig. Der Relator kann zum Relatum werden, doch nicht in der Relation, für die er zuvor die Beziehung einrichtete, sondern nur relativ zu einem Verhältnis bzw. Relator höherer Ordnung. G. Günther: Cocnition and Volition, in: Günther (1979), FN 2. Gr. kenos, leer: Zur Einführung, Forrnalisierung und Implementierung der Kenogrammatik vgl. Th. Mahler: Morphogrammatik in Darstellung, Analyse, Implementierung und Applikation. Arbeitsbericht Nr. I des Forschungsprojektes "Theorie komplexer biologischer Systeme", Ruhr Universität Bochum, 1993. 19

20

Proömik und Disseminatorik

125

Umgekehrt kann das Relatum zum Relator werden, jedoch nicht in Bezug auf das Verhältnis, in dem es als relationales Glied - als Relatum - aufgetreten ist, sondern nur in Bezug auf Relata niedrigerer Ordnung. Wenn

gegeben ist und das Relatum x oder Y zum Relator wird, dann erhalten wir

wobei ~ = Xi oder Yi ist. Wenn dagegen der Relator zu einem Relatum wird, dann erhalten wir wobei ~+l = Xi+l oder Yi+l ist. Der Index i bezeichnet höhere oder niedrigere logische Ordnung. Wir nennen diese Verbindung zwischen Relator und Relatum das Proemialverhältnis, da es der symmetrischen Umtauschrelation und der Ordnungsrelation vorangeht und - wie wir sehen werden - ihre gemeinsame Grundlage bildet. ,,21

Die Ordnungsrelation bestimmt also immer das hierarchische Verhältnis des Relators Ri+1 zum Relatum Xi innerhalb einer logischen Stufe i. Die Umtauschrelation bezieht sich auf den Wechsel zwischen dem Relator R i einer Relation der Stufe i - I und dem Relatum Xi der logischen Stufe i. Dieser Zusammenhang ist im folgenden Diagramm (1) abgebildet. Die Proemialrelation stellt sich somit als ein ineinandergreifender Mechanismus von Umtausch und Ordnung dar und kann in zweifacher Weise interpretiert werden. Zum Einen läßt sich Proemialität als ein Umtausch deuten, der auf Ordnung basiert. Die Ordnung innerhalb einer logischen Stufe i ist jedoch dadurch begründet, daß ein Relator R i der Stufe i - I durch die Umtauschrelation zum Relatum Xi der Stufe i wird und daß gleichfalls der Relator R i+ 1 durch Umtausch des Relatums Xi+1 auf die Stufe i versetzt wird. Somit ist zum Anderen Proemialität auch als Ordnung zu verstehen, die auf Umtausch gründet. i

+ 1: i:

Ri+2 ~

Xi+1

t

R;+I

~

Xi:

--+: l}:

t

R;

i-I: Ri :

.Ti

Relator Ri der Stufe; Relatum Xi der Stufe t Ordnungsrelation zwischen einem Relalor Ri und einem Relatum Xi _ I Umtauschrelalion zwischen einem Relator R; und einem Relatum "'i

Abb. I: Die Proemialrelation 21

~:ri_1

Gr. prooirnion: Vorspiel. Günther, FN 8, S. 33.

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Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

" Weder die Umtauschrelation noch die Ordnungsrelation wären uns begreiflich, wenn unsere Subjektivität nicht in der Lage wäre, zwischen einem Relator überhaupt und einem einzelnen Relatum ein Verhältnis herzustellen. Auf diese Weise stellt das Proemialverhältnis eine tiefere Fundierung der Logik bereit, als ein abstraktes Potential, aus dem die klassischen Relationen des symmetrischen Umtauschs und der proportionalen Ordnung hervorgehen. Dies ist so, weil das Proemialverhältnis jede Relation als solche konstituiert. Es definiert den Unterschied zwischen Relation und Einheit oder - was das gleiche ist - zwischen der Unterscheidung und dem was unterschieden ist - was wiederum das gleiche ist - wie der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt. ,,22 "Der von der Proemialrelation bewirkte Umtausch ist einer zwischen höherer und niedrigerer relationaler Ordnung. Wir können beispielsweise ein Atom als Relation zwischen mehreren Elementarpartikeln betrachten, wobei letztere dann den Part der Relata einnehmen. Wir können jedoch auch sagen, daß das Atom ein Relatum in einer komplexeren Ordnung darstellt, die wir als Molekül bezeichnen. Folglich ist ein Atom beides: ein Relator relativ zu den Elementarpartikeln, jedoch kann es diese Eigenschaft mit der eines Relatums vertauschen, wenn wir es innerhalb der umfassenderen Relation (Relator) eines Moleküls betrachten. ,,23 Die Proemialität läßt sich somit als eine Begriffsbildung verstehen, die es ermöglicht, ein bestimmtes Objekt auf mehrere logische Stufen (Bezugssysteme) verteilt in verschiedenen Funktionalitäten zu erfassen. Der fundamentale Unterschied zwischen der Proemialrelation wie sie von Günther intendiert ist und klassischen Konzepten logischer Stufung in Objekt- und Metaebenen ist die Simultaneität der Ebenen innerhalb der Proemialrelation, die sich der klassischen Darstellung entzieht. So ist ja das von Günther angeführte Beispiel des Atoms so zu verstehen, daß das Atom simultan Relatum (bzgl. des Moleküls) und Relator (bzgl. seiner Partikel) ist, und sich durch dieses Zusammenwirken erst konstituiert. Die zeitliche und räumliche Simultaneität der logischen Bezugssysteme macht das eigentliche Formalisierungsproblem der Proemialrelation aus. Im klassischen Kalkülkonzept gibt es die Begriffe der Zeitlichkeit und Räumlichkeit formaler Systeme nicht. Daß ein bestimmter formaler Prozeß zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfindet, wird von klassischen Kalkülen nicht grundsätzlich thematisiert, sondern findet allenfalls als nachgeschobene sekundäre Interpretation Berücksichtigung. So wird von der obigen Abbildung 1 und den ihr entsprechenden Formalismen zwar die logische Struktur der Proemialrelation erfaßt, nicht jedoch deren zeitliche und räumlichen Aspekte. Ein der Güntherschen Konzeption angemessenes operationsfähiges Modell der Proemialrelation muß sowohl deren logische als auch deren zeitliche und räumliche Struktur abbilden. Dabei kann jedoch nicht auf klassische Raum- und Zeitmodelle zurückgegriffen werden, da 22 23

Günther, FN 8. Günther, FN 8, S. 34.

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diese ja wiederum in klassischen Fonnalismen abgebildet werden. Für eine angemessene Modellierung sind daher transklassische ModelIierungen erforderlich. Dem hier vorgeschlagenen Modell liegt eine parallelverarbeitende Graphreduktionsmaschine zur Implementierung funktionaler Programmiersprachen zugrunde, die - wie gezeigt werden wird - diesen drei Anforderungen genügt. Dieses Modell wird in den nächsten Abschnitten entwickelt. Zunächst wird eine knappe Einführung in den ,\-Kalkül, die grundlegende Theorie funktionaler Programmiersprachen, gegeben (Abschnitt IV). In Abschnitt V wird die parallelisierte Graphreduktion als eine Implementierungstechnik ,\-Kalkül-basierter Programmiersprachen entwickelt. In Abschnitt VI wird dann die Proemialrelation durch eine Erweiterung der operationalen Semantik der parallelen Graphreduktion modelliert. Es werden hier außerdem mögliche Anwendungen sowie die Beschränkungen der Modelliering skizziert. Als Implementierungssprache wurde ML (META LANGUAGE) gewählt, das sich aus mehreren Gründen sehr zur Implementierung der hier entwickelten Fonnalismen eignet24 • IV. Der ,\-Kalkül

Turing-Maschinen, rekursive Funktionen und Register Maschinen sind fonnale Modelle der Berechenbarkeit. Der von Alonzo Church 25 entwickelte ,\-Kalkül ist eine der frühesten Theorien der berechenbaren Funktionen und bildet heute die formale Grundlage der funktionalen Programmiersprachen und ihrer Implementierungen. 24 ML wurde ursprünglich als Spezifikations- und Metasprache für automatische Beweissysteme entwickelt. Aufgrund seiner fortschrittlichen Konzeption, seiner exakten, sicheren, übersichtlichen und effizienten Struktur wird ML inzwischen in vielen Bereichen der Informatik angewandt und neben anderen funktionalen Sprachen (Miranda, Scheme, FP, Haskell) an einer wachsenden Zahl von Universitäten als erste Programmiersprache gelehrt. Zu den fortschrittlichen Konzepten von ML gehören das strikte Typechecking bei Typpolymorphie, Pattern Matching, ein hochentwickeltes Modulkonzept, separate und inkrementelle Compilierung, Interaktivität und Portabilität. Von der Möglichkeit, in ML neben allen Konzepten rein funktionaler Sprachen auch imperative Konstrukte (wie Zuweisungen und verzeigerte Strukturen) zu benutzen, wird bei der Implementierung der Graphreduktionsmaschine ebenfalls Gebrauch gemacht. In ML lassen sich zu mathematischen Definitionen äquivalente, d. h. lediglich syntaktisch verschiedene Implementierungen erstellen, die einerseits als Programm ausführbar sind, andererseits aber auch gut lesbare Definitionen und Spezifikationen darstellen. Die in dieser Arbeit entwickelten Implementierungen sind daher nicht als effiziente Programme gedacht, die bestimmte fixierte Probleme mit einem minimalen Ressourcenaufwand lösen, sondern als formale Definitionen und Notationen in einer formalen Metasprache (eben ML), die in einem gewissen Rahmen auch zu direkten Berechnungen benutzt werden können. Zur Einarbeitung in die Programmiersprache ML sei das Buch ,ML for the Working Programmer' Paulson, L. c.: ML for the Working Programmer. University of Cambridge, Computer Laboratory, Cambridge University Press, 1991, das auch Bezugsadressen für kostenlose ML-Implementierungen enthält, besonders empfohlen. 25 A. Church: The Ca1culi ofLambda-Conversion, Princeton University Press, 1951.

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Rudolf Kaehr und Thornas Mahler

Im Gegensatz zur naiven Mengenlehre, die in einer eher statischen Sichtweise Funktionen als spezielle Teilmengen kartesischer Produkte auffaßt, interpretiert der A-Kalkül Funktionen als Berechnungsvorschriften und betont so die dynamischen Aspekte einer von den Argumenten der Funktion ausgehenden Berechnung der Funktionswerte. 1. A-Terme

A-Terme werden aus Variablen und anderen A-Termen rekursiv aufgebaut. Definition 4.1 (A- Term) Sei V eine abzählbare Menge von Variablensymbolen. Dann gilt:

1. Jede Variable x E V ist ein A-Term. 2. Wenn tein A-Term und x tion).

E

V ist, dann ist auch (.>.x.t) ein A-Term (Abstrak-

3. Sind t und u A-Terme, dann ist auch (t u) ein A-Term (Applikation).

Eine Funktionsabstraktion (.>.x.t) ist das Modell einer anonymen Funktion, x ist die gebundene Variable und t der Rumpf der Funktion. Jedes Vorkommen von x in t ist durch die Abstraktion gebunden. Entsprechend ist das Vorkommen einer Variablen y frei, wenn es nicht innerhalb des Rumpfes u einer Abstraktion (Ay.U) geschieht. In dem Term (AZ.(.>.x.(y x))) ist beispielsweise x gebunden und y frei. Eine Funktionsapplikation (t u) modelliert die Anwendung der Funktion tauf ein Argument u. A-Terme werden in der folgenden Implementierung als rekursiver Datentyp term repräsentiert: datatype term

Free Bound Abs Apply

of of of of

string string string*term term*term;

Der reine A-Kalkül enthält keine Konstanten. Zahlen und andere in Programmiersprachen gebräuchliche Konstanten können durch bestimmte A-Terme modelliert werden. Obwohl verzichtbar, werden im folgenden aus Gründen der Effizienz und Übersichtlichkeit auch Konstanten als Terme zugelassen. Der Ausdruck (+ 1 2) ist dann ein A-Term, weil er eine Applikation der konstanten Operation + auf die Konstanten 1 und 2 notiert. Diese Erweiterung führt zu folgender ML Definition der A-Terme: datatype term

Free of string Bound of string Int of int Op of string Abs of string*term Apply of term*term;

Proömik und Disseminatorik

129

In der weiteren Darstellung werden die gebräuchlichen Konventionen zur Darstellung von >.-Tennen benutzt: x, y, t, ... sind Variablensymbole. Klammem werden nach Möglichkeit fortgelassen. So wird: (>.x.(Ay·(··· (Az.(E)) .. .)))

als >.xyz.E geschrieben. Der Ausdruck:

wird abkürzend notiert als E 1 E 2 E 3 • •• E n . 2. >'-Konversionen

>'-Konversionen sind Regeln zur symbolischen Transfonnation, nach denen

>.-Tenne unter Bewahrung ihrer intuitiven Bedeutung umgefonnt werden können. Die a-Konversion benennt die gebundene Variable einer Abstraktion um: (>.x.t); =>,,(Ay.tIYjx])'

Die Abstraktion über x wird in eine Abstraktion über y umgefonnt und jedes Vorkommen von x in t durch yersetzt. Zwei >'-Tenne sind äquivalent, wenn sie durch a-Konversionen in identische Terme umgefonnt werden können. Für das Verständnis funktionaler Programmiersprachen am wichtigsten ist die ß-Konversion, die eine Funktionsapplikation umfonnt, indem sie die gebundene Variable durch das Funktionsargument substituiert:

Die ß-Konversion entspricht der Substitutionsregel für lokale Variablen in Programmiersprachen. 3. >'-Reduktion und Normalformen

Ein Reduktionsschritt t ==} u formt den >.-Tenn t in den Tenn u durch Anwendung einer ß-Konversion auf einen beliebigen Untertenn von t um. Wenn ein >.Term keine weiteren Reduktionen mehr zuläßt, ist er in Normalform. Einen Tenn zu normalisieren heißt also, so lange ß-Konversionen auf ihn anzuwenden, bis eine Nonnalfonn erreicht ist. Das erste Church-Rosser Theorem 26 besagt, daß die Nonnalformal eines >.Tenns, falls sie existiert, eindeutig ist. Mit anderen Worten: verschiedene Folgen 26 H. P. Barendregt: The Lambda-caIculus. Its Syntax and Semanties, North-Holland, 1980.

9 Selbstorganisation. Bd. 6

130

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

von Reduktionen, die von einem bestimmten A-Term ausgehen, müssen äquivalente Normalformen erreichen. Viele A-Terme besitzen keine Normalform. DD mit D := (Ax.xx) ist ein Beispiel für einen solchen Term, da DD ~ß DD. Ein Term kann eine Normalform besitzen, auch wenn bestimmte Reduktionsfolgen nicht terminieren. Typisches Beispiel ist etwa das Auftreten eines Subtermes u, der keine Normalform besitzt, der jedoch durch bestimmte Reduktionen eliminiert werden kann. Beispiel: Die Reduktion (>.x.a)(DD)

~

a

erreicht sofort eine Normalform und eliminiert den Term (DD). Dies entspricht dem Call-l7y-name Verhalten von Prozeduren: das Argument wird nicht ausgewertet, sondern einfach in den Prozedurrumpf hineinsubstituiert. Wird das Argument hingegen ausgewertet, bevor es in den Rumpf eingesetzt wird, entspricht dies der Call-by-value Technik. Im obigen Beispiel würde diese Auswertungsstrategie keine Normalform erreichen: (>.x.a)(DD)

~

(>.x.a)(DD)

~

....

Wird wie im ersten Fall immer der am weitesten links befindliche Redex reduziert, so wird immer eine Normalform erreicht, sofern eine solche existiert. Eine solche Reduktion ist dann in Normalordnung (normal-order). Besitzt ein Term t eine Normalform u, dann gibt es eine Reduktion in Normalordnung von t nach u (zweites Church-Rosser Theoremi7 • Die die normal-order Reduktion findet daher jede existierende Normalform.

v. Implementierung funktionaler Sprachen Der im vorhergehenden Abschnitt eingeführte A-Kalkül ist berechnungsuniverse1l 28 und kann als Termtransformationssystem (Stringreduktion) implementiert werden. Ein solches System ist jedoch extrem ineffizient und zur praktischen Anwendung als Programmiersprache kaum anwendbar29 • Tatsächliche Implementierungen funktionaler Sprachen bedienen sich häufig abstrakter Maschinen30 . Der hier gewählte Implementierungsansatz bedient sich einer Graphreduktionsmaschine. 27

28 29

30

Barendregt, ebd. Barendregt, ebd. Vgl. Paulson, FN 13. Abelson und Sussl1um (Abelson, H., Sussman, G. J., Sussmann J.: Structure and Inter-

pretation of Computer Programs. Cambridge, Massachusetts, The MIT Press, 1987) behandelten die Implementierung von LISP auf einer abstrakten Registerrnaschine. Die wohl

Proömik und Disseminatorik

131

Die Auswahl dieser modemen Implementierungstechnik soll kurz begründet werden. Die Graphreduktion ermöglicht die Reduktion von Ausdrücken in Normalordnung (alle existierenden Normalformen werden gefunden). Im Gegensatz zur Call-by-name Evaluation der Termersetzungsmethode müssen Argumente von Funktionen jedoch nicht textuell in die Funktionsrümpfe kopiert werden (was zu erheblichen Raum und Zeitaufwand führt), sondern können als verzeigerte Objekte gehandhabt werden. Mehrere Instanzen einer Variablen verweisen so auf ein einziges physikalisches Objekt (node-sharing). Diese Technik reduziert durch die Verzeigerung den Speicheraufwand und, da ein bestimmter Knoten nur ein einziges Mal evaluiert werden muß, auch den Zeitaufwand einer Berechnung. Die Graphreduktion eignet sich desweiteren zu einer einfachen und anschaulichen Implementierung auf Mehrprozess( or)-Systemen. Was ein weiteres Hauptargument für ihre Überlegenheit zu klassischen von-Neumann Architekturen ausmacht 31 . Eine Graphreduktion, die direkt auf .x-Ausdrücken operiert, erfordert erheblichen Kopieraufwand, selbst wenn voller Gebrauch von der Node-sharing Technik gemacht wird. Dieser hohe Resourcenaufwand ist auf das Vorhandensein von Variablen zurückzuführen, wobei jede Variablenbindung eine komplette Kopie des Funktionsrumpfes erforderlich macht. 32 Aus diesem Grund werden in der hier gewählten Implementierung .x-Terme zunächst in variablenfreie Kombinatorausdrükke übersetzt, für die dann effiziente Graphreduktionsmethoden entwickelt werden. Die nun folgende Darstellung dieses Verfahrens orientiert sich an den Arbeiten Turners 33 und Davies 34 .

bekannteste abstrakte Maschine zur Implementierung ist die SECD-Maschine (Landin, P. J.: The Mechanical Evaluation of Expressions. The Computer Journal, Bd. 6, S. 308-320, 1964; Henderson, P.: Functional Programming: Application and Implementation. New York, Prentice Hall 1980; Davies, A. J. T., An Introduction to Functional Programming Systems Using Haskell, Cambridge Computer Science Texts 27. Cambridge University Press, 1992). 31 Davis, FN 19, S. 1 ff. 32 Davis, FN 19, S. 154. 33 D. A. Turner; A New Implementation Technique for AppIicative Languages. Software Practise and Experience, Bd. 9, 1979. 34 A. J. T. Davies, An Introduction to Functional Programming Systems Using Haskell. Cambridge Computer Science Texts 27, Cambridge University Press, 1992. 9*

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

132

1. Übersetzung von >'-Ausdrücken

a) Kombinatoren Funktionen wie etwa: S x y z = (x z)(y z),

(3) (4) (5)

K xy =x, I x=x,

enthalten keine freien Variablen. Solche Funktionen werden Kombinatoren genannt. Der Kombinator S verteilt sein drittes Argument an die beiden ersten. K eliminiert sein zweites Argument und I bildet die Identitätsfunktion. Ausdrücke des >'-Kalküls können mittels einfacher Termtransformationen in Kombinatorausdrücke umgeformt werden, wobei alle Variablen der >.-Terme eliminiert werden. Diese Kombinatorausdrücke können von einer Kombinatormaschine, die die Definitionsgleichungen der Kombinatoren als Reduktionsvorschriften benutzt, evaluiert werden. b) Variablen-Abstraktion Im >'-Kalkül werden Funktionen notiert als:

M.t Die Abstraktion der Variablen x im Ausdruck t wird notiert als:

[x]t. Der resultierende Ausdruck enthält keine Vorkommen von x, besitzt jedoch die gleiche Normalform wie der ursprüngliche Ausdruck. Im Gegensatz zu einer Runtime Bindung eines Wertes an die Variable x, stellt [x] eine Compile-time Transformation dar. Diese Abstraktion verläuft nach folgenden Regeln 35 : (6) (7) (8)

[x]x=l, [x]y =Ky,

[x](el, e2)

= S([x]el)([x]e2) .

Wobei y entweder eine von x verschiedene Variable oder aber eine Konstante ist. Implementiert wird [x] von der ML-Funktion abs x, die auf >'-Termen operiert:

35

Davis, FN 23. S. 155.

Proömik und Disseminatorik

133

exeeption Doublebind fun abs x (Free y) = Apply(Op "K", (Free y)) labs x (Bound y) = if y=x then (Op "I") else Apply(Op "K", (Bound y)) I abs x (Int y) = Apply (Op "K", (Int y)) labs x (Op y) = Apply("K",(Op y)) labs x (Abs(y,body)) = abs x (abs y body) labs x (Apply(a,b)) = Apply(Apply(Op "S" ,abs x a), (abs x b)) j c) Compilierung Der Datentyp snode implementiert eine binäre Kombinatorgraphendarstellung:

datatype snode = satom of value Iseomb of eomb Isapp of (snode*snode)j Die Übersetzung von A-Termen nach Kombinatortermen geschieht nach den folgenden Regeln 36 : c(x) = x, c(t u) = c(t) c(u), C(Ax.U) = c([x]u).

(9) (10) (11)

Implementiert wird c durch die ML-Funktion c:

exeeption Compilej fun e (Free a) = seomb(DEF a) le (Bound a) = raise Compile le (Int a) = sapp(seomb K,satom(int a)) le (Op k) = sapp(scomb K,seomb(mkComb k)) le (Apply(a,b)) = sapp(e a,e b) le (Abs(x,body)) = e (abs x bodY)j fun mkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb 36

"I" I "K" K "S" S "B" B "C" C "Y" Y CONS "CONS" "HD" = HD "TL" = TL "+" = PLUS

A. Diller, Compiling Functiona1 Languages, lohn Wi1ey & Sons, New York 1988, S. 88.

134

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb ImkComb

"-"

MINUS TIMES

"*"

"/"

DIV

"IF" = IF "EQ" = EQ "AND" = AND "OR" = OR "NOT" = NOT "PR" = PR str = DEF stri

Da mit dieser Übersetzungsfunktion selbst kurze Definitionen zu großen, speicheraufwendigen Kombinatorausdrücken führen, schlägt Turner eine Optimierungsfunktion opt vor, die auf der Einführung zweier weiterer Kombinatoren B und C beruht: (12) (13)

B xy z =x(y z),

C xyz =xzy.

Die Optimierungsregeln: (14) (15) (16) (17)

opt(S (K el)(K e2)) = K(el e2), opt(S (K e)I) = e, opt(S (K el) e2) = B el e2, opt(Sel (K e2)) = C el e2,

werden von der ML-Funktion r opt sqlange auf die Resultate der Compilierung angewandt, bis alle möglichen Optimierungen opt durchgeführt wurden: fun opt (sapp(sapp(scomb S,sapp(scomb K,e)), scomb I)) = (e : snode) lopt(sapp(sapp(scomb S,sapp(scomb K,el)) ,sapp (scomb K,e2))) = sapp(scomb K,sapp(el,e2)) lopt (sapp(sapp(scomb S,sapp(scomb K,el)),e2)) sapp(sapp(scomb B,el),e2) lopt (sapp(sapp(scomb S,el),sapp(scomb K,e2))) sapp(sapp(scomb C,el) ,e2) lopt (x snode) = Xi fun ropt x = let val y = opt Xi in if y=x then x else ropt y endi

135

Proömik und Disseminatorik

2. Reduktion von Kombinatorausdrücken

Um Kombinatorausdrücke auszuwerten, müssen die definierenden Gleichungen der Kombinatoren als Reduktionsregeln benutzt werden. Die Auswertung muß zudem in Normalordnung erfolgen, um das Auffinden aller existierender Normalformen zu gewährleisten. Außer den Kombinatoren S,K,I,B und C müssen auch noch arithmetische und andere grundlegende Operationen definiert werden. Die Reduktionsregeln für einige dieser Operationen lauten:

= (eval x) + (eval y) = (eval x) - (eval y) TlMES x Y = (eval x) * (eval y) DN x Y = (eval x)/(eval y) IF true x y = x IF false x y = Y IF exp x y = if (eval exp) = true then x else y

(18) (19) (20) (21) (22) (23) (24)

PLUS x Y

MINUS x Y

EQ x Y = if (eval x) = (eval

(25) (26)

y) then true

else false

CONSxy

= x :: y

Wobei (eval node) die Normalform von node bezeichnet. Die zugrundeliegende Datenstruktur der Kombinatormaschine sind binäre Bäume. Ein Knoten eines Baumes kann entweder atomar sein, oder aber eine Applikation (@) zweier Knoten darstellen. Der Kombinatorausdruck S x y z wird durch folgende Datenstruktur repräsentiert: sappl(sappl(sappl(scornb S, x), y) ,

z) ;

Die Reduktion dieses Ausdrucks anband der Definition S x y Z = (x z)(y z) ist in Abbildung (2) dargestellt.

S

/

@

/

@

"-

/

"-

@

y

"-

@

~

@

~

x

/

/

"-

~ z

Y

/

x

Abb. 2: Die Auswertung von S x y z als Graphreduktion

@

"-

z

136

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

Um die Reduktion der Kombinatorgraphen in Normalordnung durchzuführen, kann folgende Technik angewandt werden. Ausgehend vom Wurzelknoten wird durch Herabsteigen zu den linken Nachfolgern der äußerste linke Kombinator ermittelt. Ist dieser Kombinator gesättigt, d.h. sind alle benötigten Argumente vorhanden, wird eine Reduktion dieses Kombinators (entsprechend der oben beschriebenen Methode) ausgeführt. Dieser Ablauf wird so lange wiederholt, bis keine weiteren Reduktionen mehr möglich sind, der Graph also in Normalform vorliegt. Der verbleibende Ausdruck ist das Resultat der Berechnung. Beispiel: Dem ML-Ausdruck

let fun succ x in succ 2 end;

=

l+x

entspricht der A-Ausdruck (Ax.(+x))2, der zu CI2(PLUSl) compiliert werden kann. Dieser Kombinatorausdruck wird von der Kombinatormaschine wie folgt reduziert (Abbildung 3): -

@

/~

@

/" 2 /" I C @

@

/"

PLUS

/ "2 ~ @

@ -

I

/ " PLUS /" PLUS

@-

/" 2

@

Abb. 3: Die Graphreduktion von C I 2 (PLUS 1]

3. Implementierung der Kombinator-Maschine Im Vorhergehenden wurde angedeutet, daß die Transformationen der Kombinatorausdrücke von der Kombinatormaschine nicht auf ihrer abstrakten Termstruktur sondern auf einer verzeigerten Datenstruktur durchgeführt wird, um alle Effizienzvorteile der Graphreduktion auszuschöpfen. So repräsentieren die breiten gestrichelten Pfeile in den beiden vorhergehenden Abbildungen nicht nur die Termumformung des Kombinatorausdrucks, sondern auch, daß der Wurzelknoten des jeweiligen Redexes durch den resultierenden Ausdruck überschrieben wird37 • Im Fall der Reduktion von S x y z bleibt also der 37 Bei den beiden Knoten rechts und links neben einem solchen gestrichelten Pfeil handelt es sich also um den selben physikalischen Knoten.

Proömik und Disseminatorik

137

oberste Knoten erhalten und erhält neue Verweise auf die dynamisch generierten Repräsentationen von (x z) und (y z). x,y und z selbst brauchen jedoch nicht neu kopiert zu werden, da sie als verzeigerte Objekte vorliegen. Die beiden in einer Stringreduktion textuell verschiedenen Vorkommen von z sind somit physikalisch an einer Speicheraddresse lokalisiert, so daß z, falls es im im weiteren Verlauf der Auswertung benötigt wird, nur einmal berechnet wird. Eine verzeigerte Repräsentierung der Kombinatorgraphen ist durch die Definition des Typs node gegeben: datatype Emark datatype node

=

EvallBusYIReady;

=

atom of (value * Emark ref * (node ref list) ref) I comb of (comb * Emark ref * (node ref list) ref) I app of ((node ref * node ref) * Emark ref * (node ref list) ref);

Die (Emar k re f)- Verweise der Knoten enthalten spezielle Markierungen, die erst für die Einführung einer parallelisierten Evaluation benötigt werden und deren Erläuterung weiter unten geschieht. Mittels der Funktion alloc werden abstrakte Termdarstellungen der Kombinatorausdrücke vom Typ snode in verzeigerte Objekte umgewandelt und so im Speicher alloziert: fun alloc x let fun allocate (satom val) ref []) lallocate (scomb com) ref []) lallocate (sapp(a,b)) ref (allocate b)), ref in ref(allocate x) end;

atom(val,ref Ready, cOmb(com,ref Ready, app((ref (allocate a), Eval, ref [])

Die oben beschriebene Reduktion in Normalordnung kann mit einem left-ancestars-stack (Stack der linken Nachfolge-Knoten) realisiert werden. Der Stack enthält zunächst nur einen Eintrag, einen Zeiger zum auszuwertenden Knoten. So lange, wie der oberste Knoten eine Applikation app ( ( 1 , r ) ,_,_) ist, wird ein neuer Knoten 1 auf den Stack geschoben. Auf diese Weise wird eine Kette von Knoten zum linken spine des obersten Knotens erzeugt. Die Funktion spine node ermittelt den Spine des Knotens node, sowie den Stack der linken Nachfolger von node:

138

Rudolf Kaehr und Thornas Mahler

fun spine (ref(atom(a,m,q))) stack (atom(a,m,q), stack) Ispine (ref(comb(c,m,q))) stack (comb(c,m,q), stack) Ispine (node as (ref(app((l,r),_,_)))) stack = spine 1 (node::stack); Der Spine des Knotens node enthält den äußersten anwendbaren Kombinator, der nun direkt auf seine auf dem Stack gesammelten Argumente angewendet werden kann. Diese Anwendung des Kombinators k auf die in stack gesammelten Argumente geschieht mittels der Funktion apply (k, stack) : fun apply (I,(node as ref(app((_,ref x),_,_)))::_) = node := x lapply (K,ref(app((_,ref x),_,_))::node::_) node := x lapply(S, (ref(app( (_,x) ,_,_))) :: (ref(app( (_,y) ,_,_))) :: (node as (ref(app( (_,z) ,_,_)))): :_) node : = app ( (r ef (app ( (x, z) , ref Eval,ref [])), ref(app( (y,z) ,ref Eval,ref []))), ref Eval,ref []) lapply (PLUS,ref(app((_,ref(atom (int x ,_,_) ) ) ,_,_) ) :: (node as ref(app( (_,ref(atom (int y,_,_))),_,_)))::_) = node := atom(int(x+y),ref Ready,ref []) lapply (PLUS, (stack as ref(app((_,x),_,_)):: ref(app( (_,y) ,_,_)): :_)) node := atom(int((eval x)+(eval y)),ref Ready,ref []) Die schrittweise Durchführung der Reduktion eines Knotens node geschieht mittels der Funktion st ep node: fun step node = let val (c,stack) = (spine node []); in if is_atom c then () else let val comb(k,_,_)= c in apply (k,stack) end end;

Proömik und Disseminatorik

139

4. Parallelisierung

Die Lazy-Evaluation besitzt mehrere nützliche Eigenschaften. Da sie die Reduktion in Normalordnung nachbildet, terminiert sie immer, wenn eine Normalform existiert (im Gegensatz zur Eager-Evaluation). Sie erlaubt außerdem die Verwendung sehr großer, potentiell unendlicher Datenstrukturen, da sie immer nur diejenigen Teile der Strukturen berechnet, die von anderen Teilen der Gesamtberechnung benötigt werden. Das Ziel von parallelisierten Evaluationsmechanismen sollte es offenbar sein, die Semantik der Lazy Evaluation zu bewahren und ihre Effizienz durch Verwendung von Mehr-prozess(or)-Techniken zu optimieren. Im Gegensatz zu den nicht strikten Funktionen (wie etwa den Kombinatoren S, K,l, B, C und CONS, die ihre Argumente vor der Applikation nicht auswerten, erwarten strikte Operationen (wie etwa die arithmetischen und booleschen Operationen) stets vollständig evaluierte Argumente. In den Reduktionsregeln (18) bis (26) ist diese Evaluierung eines Argumentes x einer strikten Funktion durch (eval x) ausgedrückt. Die Evaluation des Terms (+ x y) muß also zunächst die Ausdrücke x und y auswerten und kann erst dann die resultierenden Werte addieren (vgl. Gleichung 18). Dies spiegelt sich in der Implementierung des Kombinators PLUS in der Funktion app ly direkt wider (vgl. Unterstreichung): lapply

(PLUS, (stack as ref(app( L,x) ,_,_))::

node

:=

ref (app (L,y) ,_,_) ) : :_)) = atom(int( (eval x)+(eval y)) ,ref Ready, r ef [1)

x und y müssen also auch im Fall der Lazy Evaluation immer ausgewertet werden. Da die Argumente strikter Operationen immer evaluiert werden müssen, können durch Striktheitsanalyse diejenigen Teile von Berechnungen ermittelt werden, die unabhängig von der Auswertungsstrategie unbedingt berechnet werden müssen. Strikte Operationen bieten daher die Möglichkeit zur Parallelisierung der Lazy Evaluation38 . Im Folgenden wird eine an [Dav92] orientierte Implementierung einer parallesierten Kombinatormaschine entwickelt, die die oben geschilderten Eigenschaften strikter Operationen ausnützt.

Die Reduktionsregeln der nicht-strikten Kombinatoren sind von der Parallelisierung nicht betroffen und operieren weiterhin wie oben definiert. Die Reduktion strikter Kombinatoren geschieht wie am Beispiel der Additionsoperation PLUS gezeigt:

38

Davis, FN 23, S. 201 ff.

140

I apply

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

(PLUS,ref(app( C,ref(atom(int x,_,_») ,_,_» : : (node as ref(app( C,ref(atom(int y,_,_») ,-,-»)::_)

=

node := atom(int(x+y),ref Ready,ref []) lapply (PLUS, (stack as ref(app((_,x),_,_»:: ref(app( (_,y) ,_,_»: :_» (subEval (last stack,x); subEval (last stack,y); (» Falls die Argumente bereits ausgewertet vorliegen (im Falle der Addition als Integer Zahlen), kann direkt operiert werden (erster Teil der Definition), ansonsten müßen zunächst die Argumente x und y ausgewertet werden (zweiter Teil). Die Funktion subEval wertet die Argumente nicht selbst ausm, was wieder eine sequentielle Bearbeitung von x und y zur Folge hätte, sondern erzeugt neue Subprozesse, die dem Schedulingmechanismus übergeben werden: fun subEval (root,node) = let val emark = get_mark node; val wq = get_q node; in if (1 emark = Ready) then () else if (1 emark = Busy) then (make_wait root; wq := root:: (1 wq» else (make_wait root; emark := Busy; wq := [root]; newTask node) end;

Falls die Evaluationsmarkierung des Subknotens node auf Ready gesetzt ist, wurde der Knoten bereits ausgewertet und der subEval Prozess kann sofort beendet werden. Falls die Markierung Busy lautet, zeigt dies an, daß bereits ein anderer Prozeß an der Evaluierung des Knotens arbeitet. Es muß daher kein neuer Prozeß zur Evaluierung von node gestartet werden, jedoch muß der Wurzelknoten von node root, so lange in den Wartemodus gesetzt werden, bis die Reduktion abgeschlossen ist. Dies geschieht durch die Funktion (make_wait root): fun make_wait node = let val (k, (w: :_» = spine node []; val ref(app((ref rator,rand),_,_» = w; in w := app( (ref(app( (ref(comb(WAIT,ref Eval,ref []», ref rator) ,ref Eval,ref []», rand) ,E ,Q) end;

Proömik und Disseminatorik

141

Diese Funktion ersetzt den Spine Kombinator von root durch den Kombinator WAIT. Die Reduktionsregeln für WAIT lautet: (27) (28)

WAIT x WAlTl x

= WAlTl x = WAIT

Diese beiden speziellen Kombinatoren erzeugen eine Endlosschleife, die den Evaluationsvorgang von root solange suspendiert, bis durch Terminierung der Subprozesse der WAIT Kombinator wieder entfernt wird: fun make_unwait node = let val (_,w::_) = spine node [li val ref(app( (_,ref k) ,_,_)) = w; in w := k end;

Damit der Subknoten node bei der Beendung seiner Reduktion auch den Prozess r oot, der ihn ja nicht gestartet hat, reaktivieren kann, muß r oot in die Waitequeue von node aufgenommen werden. Diese Warteschlange enthält alle Knoten, deren Evaluation auf die Auswertung von node wartet. Ist die Evaluation von node abgeschlossen, werden alle diese Prozesse reaktiviert. Falls die Markierung jedoch Eval lautet, muß node evaluiert werden. node wird in den Busy Status gesetzt, was anderen Prozessen signalisiert, daß node gerade bearbeitet wird. Durch die Zuweisung wq : = [r 0 0 t] wird die Warteschlange von node initialisiert, zunächst wartet nur der Knoten root auf die Auswertung von node. Dann wird durch (newTask node) ein neuer Prozeß, nämlich die Evaluation von node, gestartet. fun newTask task = Tasks := (task::(! Tasks));

Die globale Variable Tasks enthält einen Zeiger auf eine Liste aller zu evaluierender Knoten und bildet den Task-pool der Kombinatormaschine. Der Schedulingmechanismus eines parallelverarbeitenden Systems ist für die optimale Verteilung der Tasks auf die physikalischen Prozessoren verantwortlich. Da es hier lediglich um die Modellierung einer parallelen Architektur geht, wird ein rudimentärer stochastischer Scheduler benutzt, der das Verhalten eines Mehrprozessorsystems simuliert: val Seed

=

ref 4.34793;

fun Scheduler () let fun rnd () = let val x (! Seed)* 1475.37697; val res = x-real(floor x);

142

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

in (Seed := res; res) end; floor(rnd()*(real n)); fun intrand n in if (l Tasks) [1 then () else (evalstep (nth(lTasks,intrand (length ( 1Tasks) ) ) ) ; Scheduler()) end; Der Scheduler wählt zufällig einen Knoten aus dem Task-pool 1Tasks aus und führt für ihn einen Evaluationsschritt aus. Diesen Vorgang wiederholt er so lange, bis alle Knoten vollständig evaluiert sind und wieder aus dem Task-pool entfernt wurden. Ein einzelner Evaluationsschritt wird durch die Funktion evalstep node ausgeführt: fun evalstep (node as ref(atom(_,_,_))) remTask node levalstep (node as ref(comb(_,_,_))) remTask node levalstep (node as ref(app((ref rator,ref rand),Emark,WQ))) let val old = copy node in (step node; if ((equal old node) orelse (lEmark = Ready) orelse (not (is_app (lnode)))) then (wakeup WQ; remTask node; Emark := Ready) else ()) end; Falls node atomar, d.h vom Typ value oder comb ist, evaluiert der Knoten zu sich selbst und die Evaluierung kann beendet werden (r emTask node). fun remTask task = Tasks := (remove task (l Tasks)); Andernfalls wird ein Evaluationsschritt (step node) ausgeführt. Danach wird überprüft, ob die Normalform bereits gefunden wurde. Dies geschieht durch den Vergleich des Zustandes vor dem step mit dem neuen. Falls sie gleich sind, ist eine Normalform gefunden und die Reduktion somit abgeschlossen. Die auf das Ergebnis wartenden Prozesse können mit (wakeup WQ) wieder reaktiviert werden:

Proömik und Disseminatorik

143

fun wakeup waitQ (map (fn task => (make_unwait task» (! waitQ); waitQ : = []);

Dann wird node aus dem Task-pool entfernt und die Evaluationsmarkierung auf Ready gesetzt. Falls noch keine Normalform gefunden wurde, ist der Evaluationsschritt direkt beendet. Anschließend kann der Scheduler mit seiner Bearbeitung des Task-pools fortfahren. Beispiel: Das Verhalten der parallelisierten Kombinatormaschine soll an der Auswertung des Ausdrucks x = (ADD(ADD 1 2)(ADD 3 4)) . veranschaulicht werden. Der Ausdruck wird zunächst übersetzt und alloziert: - val x = alloc(ropt(c(r "ADD (ADD 1 2) (ADD 3 4)"»);

Der Task-pool Tasks ist vor der Berechnung leer, durch (newTask x) wird x als erster Prozess in den Taskpool gesetzt: Tasks:

1

ADD(ADD 1 2) (ADD 3 4)

1

Dann wird mit Scheduler () der Scheduler gestartet. Da x der einzige Prozess ist, wird er für die Durchführung eines evalstep ausgewählt, was durch die Unterstreichung markiert ist: 1

ADD(ADD 1 2)(ADD 3 4)

Die Auswertung des äußersten ADD Kombinators erzeugt zwei neue Prozesse (ADD 1 2) und (ADD 3 4) und setzt die äußere Berechnung so lange in den Wartemodus, bis die Subprozesse terminieren (Die parallelen Prozesse in Tasks sind jeweils durch vertikale Doppelstriche 11 von einander getrennt): 1

WAlT(WAIT(ADD(ADD 1 2) (ADD 3 4))) 11 ADD 1 211 ADD 3 4

1

Wählt der Scheduler nun zufallig den ersten Knoten zur Auswertung aus, so wird WAIT durch WAITl ersetzt. Erneute Reduktionen dieses Knotens würden WAITl wiederum durch WAIT ersetzen. Dieser Wechsel zwischen den beiden Kombinatoren wird bei jedem Reduktionsschritt wiederholt. Der Evaluationsprozess des Knoten bleibt daher so lange in einer Warteschleife, bis der Wartekombinator durch Reaktivierung des Prozesses wieder entfernt wird. Wird jedoch der zweite Knoten ausgewählt: 1 WAlT1(WAlT(ADD(ADD 1 2)(ADD 3 4))) 11 ADD 1211 ADD 3 41

144

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

so stellt die Funktion Apply fest, daß die Argumente der Addition bereits atomar (d.h. vollständig ausgewertet) sind und kann eine direkte Addition ausführen. Durch die Verzeigerung des Graphen führt diese Reduktion dazu, daß auch an der Stelle ,(ADD 1 2)' des ersten Knotens nun das Ergebnis ,3' steht. Da durch die einmalige Anwendung von evalstep bereits eine Normalform gefunden wurde, kann der zweite Knoten nun aus dem Taskpool entfernt werden und der wartetende Prozeß reaktiviert werden. Da der erste Prozeß nur noch auf einen Prozeß wartet, wird er nur noch vqn einem WAIT blockiert. Im Pool befinden sich jetzt nur noch zwei auszuwertende Knoten: I WAIT1(ADD 3 (ADD 3 4»

11

ADD 3 4

Wird nun als nächstes der verbleibende zweite Knoten ausgewertet, wird wie zuvor sofort eine Normalform, nämlich 3 + 4 = 7 gefunden. Der Prozess wird entfernt, der wartende Prozess reaktiviert. Somit verbleibt nur noch ein Knoten im Pool:

I ADD 3 7 I Hier kann ebenfalls mit einem Berechnungsschritt das Ergebnis 3 + 7 = 10 bestimmt werden. Dann wird auch dieser letzte Knoten aus dem Taskpool entfernt. Daraufhin beendet der Scheduler seine Arbeit und der Knoten x enthält das Berechnungsergebnis.

>

Xi

- val it

=

value(int lO,ref Ready,ref [])

: node

Der hier verwendete Scheduler simuliert die parallele Auswertung verschiedener Knoten durch die wiederholte Ausführung eines einzelnen Reduktionsschrittes auf einen zufällig aus dem Taskpool ausgewählten Knoten. Dieses quasi-parallele Auswertungsschema entspricht der Arbeitsweise eines Einprozessor Multitasking Betriebssystems. Ein solches System stellt abwechselnd jedem Prozeß eine bestimmte Prozessorzeit zur Verfügung. Das Hin- und Herschalten zwischen den einzelnen Prozessen erfolgt dabei in so schneller Folge, daß für den Benutzer der Eindruck einer simultanen Bearbeitung der Prozesse entsteht. Würde anstelle des Schedulers eine Mehrprozessormaschine zur Bearbeitung der Prozesse im Taskpool verwendet, könnten diese tatsächlich simultan (d.h. zeitgleich) ausgeführt werden. Das im vorhergehenden Beispiel demonstrierte Auswertungsschema kann zu der Funktion eval zusarnmengefaßt werden. Nachdem ein A-Term compiliert und alloziert wurde, kann er von eva 1 zu seiner Normalform reduziert werden: fun eval node = (newTask nodei Scheduler(); node) ;

Proämik und Disseminatorik

val ENV

=

ref []

(string

*

145

node ref) list ref;

fun define name value = ENV := (name, alloc(ropt(c(r value)))):: (lENV); fun run exp

=

eval(alloc(ropt(c(r exp))));

- define "fac" "%n.IF (EQ n 0) 1 (MUL n (fac (SUB n 1)))"; > () : unit - run "fac 7"; > val it = value(int 5040,ref Ready,ref [])

: node

Hiennit ist die Implementierung der parallelisierten Graphreduktionsmaschine abgeschlossen. Im den folgenden Abschnitten wird die operationale Semantik dieser abstrakten Maschine modifiziert und erweitert, um den Rahmen der klassisch funktionalen Sprachen um proemielle Berechnungen zu erweitern.

VI. Modellierung der Proemialrelation

Die Einführung einer parallelisierten Lazy-Evaluation funktionaler Programmiersprachen hatte es zur Aufgabe, die Vorteile einer Multi-prozess-Architektur mit denen der Lazy-Evaluation zu vereinen. Oberstes Gebot war hierbei die Bewahrung der Normal-order-Reduktion und der Semantik der funktionalen Programme. Aus diesem Grund wurden keine Sprachkonstrukte für eine explizite Handhabung der parallelen Architektur durch funktionale Programme eingeführt, sondern die Parallelisierung nur implizit für die Auswertung strikter Operationen, unter strenger Beachtung der Synchronisation der beteiligten Prozesse eingeführt. Daher muß ein Prozeß, der neue Unterprozesse startet, so lange im Wartemodus verbleiben, bis alle Subprozesse tenninieren und ihn reaktivieren. Ein solcher Parallelisierungsmechanismus erfüllt zwar die an ihn gestellten Anforderungen (Einhaltung der Lazy-Evaluation Semantik), deckt jedoch nur einen sehr begrenzten Bereich der parallelen Prozesse ab, die auf einer wie oben modellierten Architektur möglich wären. Im Folgenden soll ein weiteres Parallelitätskonzept entwickelt werden, das eine Modellierung der kenogrammatischen Proemialrelation darstellt. In Abschnitt wurde die Proemialrelation als das simultane Wechselverhältnis von Ordnungs- und Umtauschbeziehungen zwischen Objekten verschiedener logischer Stufen charakterisiert. Aufgrund der speziellen Eigenschaften der Proemialrelation und der Begrenztheit klassischer Kalküle müßte eine algebraische Darstellung der Proemialrelation selbstreferentiell, innerhalb klassischer Formalismen also paradoxal und antinomisch strukturiert sein. Wegen dieser grundlegenden Schwierigkeiten bei der Formalisierung der Proemialrelation wird hier versucht, zumindest eine operationale ModelIierung der Proemialrelation zu entwickeln. 10 Selbstorganisation. Bd. 6

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

146

Hierzu wird die operationale Semantik der abstrakten Kombinatormaschine um einen proemiellen Kombinator PR erweitert. Die in Abschnitt eingeführte Proemialrelation beschreibt das Zusammenspiel einer Ordnungsrelation, ------, und einer Umtauschrelation, :0:, zwischen je zwei Operatoren und Operanden. PR(Ri+t.Ri,Xi,Xi-l) RH!

--+

:=

Xi

:0:

Rj

--+

Xi-I.

Kaehr unterscheidet die offene und geschlossene Form der Proemialrelation 39 . Die geschlossene Proemialrelation ist zyklisch: Ri+l

--+

Xi

Xi-I

+--

Ri

:0:

:0:

Es gilt also PR{PR i ) = PR i • Für die offene Proemialrelation gilt hingegen: = PR(i+1). Sie hat die folgende Gestalt:

PR{PR i )

i

+ 1:

Ri+2

i: i-I:

--+

XHI

:0:

Ri+1

--+

Xi

:0:

Ri

--+

Xi-l

PR wurde bisher nur informell beschrieben als eine Relation, die ein gegebenes Objekt als simultan auf mehrere logische Ebenen verteilt bestimmt. Diese Eigenschaft erinnert an die Möglichkeit des A-Kalküls, identische A-Terme sowohl als Operatoren als auch als Operanden zu verwenden. Die simultane Verteilung des selben A-Terms über mehrere logische Stufen läßt sich jedoch im A-Kalkül nicht modellieren.

Der A-Term (f x) (xf) verwendetf und x innerhalb eines Ausdrucks sowohl als Operator als auch als Operand. Innerhalb des A-Kalküls selbst kann, wie in allen semiotisch fundierten Kalkülen, zwar die Identität von Termen, nicht jedoch deren Selbigkeit als einmalig realisierte Objekte ausgedrückt werden. Die semiotische Gleichheit des Zeichen .t' in , (f x)' mit dem .t' in , (x f)' besagt nichts darüber, ob diese beiden identischen Terme innerhalb einer Reduktion des A-Terms auch als physikalisch gleich, d.h als das selbe Objekt behandelt werden. Der Grund hierfür liegt in der Token-Type-Relation der Semiotik, die den A-Kalkül fundiert. 40 39

Kaehr (1978), FN 1, S. 5 f.

Proömik und Disseminatorik

147

Die Token-Type-Relation subsumiert alle physikalisch verschiedenen, jedoch gleichgestalteten Token unter einen Type. Da mit diesem Schritt von der physikalischen Realisierung der Token abstrahiert wird, kann die physikalische Identität oder Differenz verschiedener Zeichenreihenvorkommen nicht aus den Termen eines semiotisch fundierten Kalküls abgeleitet werden. Ein Kalkül operiert nur mit Types und da die Typegleichheit (oder auch Gestaltgleichheit =sem) nicht auch Tokengleichheit (d.h. physikalische oder Zeigergleichheit =z) impliziert, kann er gar keinen Begriff der Selbigkeit verwenden41 • Aus der syntaktischen Struktur von A-Termen kann des weiteren auch nicht abgeleitet werden, nach welchem Reduktionsverfahren sie auszuwerten sind. Aus dem obigen Ausdruck geht nicht hervor, ob - und in welcher Reihenfolge - (f x) und (x f) sequentiell, oder simultan ausgewertet werden sollen. Die Frage der Se1bigkeit von Repräsentationen von A-Termen bleibt ebenso wie die Wahl der Auswertungsstrategie allein Thema der Implementierungstechniken des A-Kalküls, da sie die (semiotisch fundierte) Semantik der Terme nicht betrifft.

In der Proemialrelation ist nun aber gerade die im A-Kalkül nicht abbildbare simultane Verteilung des selben Objektes über mehrere Bezugssysteme gemeint. Das hier vorgeschlagene Modell der Proemialrelation versucht nun, gerade dieses Verhalten operational abzubilden. Dazu geht es von Günthers Konzeption der Kenogramme als Leerstellen, an denen semiotische Prozesse eingeschrieben werden 40 Alle klassischen Kalküle und Formalismen sind dem klassischen Kalkülbegriff untergeordnet, der wiederum auf der Zeichen- und Zeichenreihenkonzeption der Semiotik basiert. Die Ausdrücke (oder Terme) eines solchen Kalküls sind Zeichenreihen, die durch lineares Aneinanderreihen von jeweils endlich vielen Grundzeichen entstehen, die einern Alphabet von wohlunterschiedenen (d. h. mit sich selbst identischen und von allen anderen verschiedenen) Atomzeichen entstammen. Der Begriff Gleichheit von Zeichenreihen abstrahiert von der physikalischen Realisierung und benutzt die idealisierte Zeichenreihengestalt als Gleichheitskriterium: Zwei Zeichenreihen sind gleich, wenn sie die gleiche Gestalt haben. Die Zeichenreihengestalt oder kurz Zeichengestalt meint also nicht nur eine individuelle Realisation einer Zeichenreihe, sondern stets die gesamte Klasse aller Zeichenreihen, die mit dieser Zeichenreihe gleichgestaltet sind (aber physikalisch durchaus unterschiedlich realisiert sein können). Dieses Verhältnis zwischen den konkreten Zeichenreihenvorkornrnnissen (Token) und der idealisierten Zeichenreihengestalt (Type) ist als Token-Type-Relation bekannt. Das Abstraktum aller gleichen Zeichenreihen-Token ist der Zeichenreihen-Type. Zwei Token sind genau dann gleich, wenn sie dem selben Type angehören. Das lineare Aneinanderreihen von Zeichengestalten geschieht in der Zeichentheorie durch eine im algebraischen Sinne assoziative Verkettungsoperation, die jedem Paar Zb Z2 von Zeichengestalten eine eindeutige bestimmte Zeichengestalt Z3 = ZjZ2 zuordnet. 41 Quine formuliert diese der klassischen Semiotik zugrundeliegende Konzeption wie folgt: "Um was für Dinge handelt es sich denn, genaugenommen, bei diesen Ausdrücken (den Termen eines klassischen formalen Systems)? Es sind Typen, keine Vorkommnisse. Jeder Ausdruck ist also, so könnte man annehmen, die Menge aller seiner Vorkommnisse. Das heißt, jeder Ausdruck ist eine Menge von Inschriften, die sich an verschiedenen Orten des Raum-Zeit-Kontinuums befinden, die aber aufgrund ähnlichen Aussehens zusarnmengefaßt werden". (w. V. Quine: Ontologische Relativität und andere Schriften, RecIam, Stuttgart 1975.)

10*

Rudolf Kaehr und Thomas Mahler

148

können, aus. Die Selbigkeit eines Terms (die auf semiotischer Ebene nicht definiert werden kann) wird dann durch die Selbigkeit des Kenogramms, in das er eingeschrieben wird, bestimmt. Dieser in einem und dem selben Kenogramm realisierte Term kann nun simultan innerhalb verschiedener semiotischer Prozesse sowohl als Operator als auch als Operand dienen42 • 1. Implementierung des Proemialkombinators PR

Von dieser grundlegenden Idee der innerhalb der Kenogrammatik notierten Selbigkeit semiotischer Prozesse ausgehend soll nun die operationale Semantik des Proemialkombinators PR(Ri+l,Ri,Xi,Xi-l) mittels der oben entwickelten Kombinatormaschine bestimmt werden. Dieses Modell nutzt die Homogenität von Programmen und Daten der Graphrepräsentation der Kombinatormaschine aus. So kann ein bestimmter Knoten z, der als physikalisches Objekt an einer bestimmten Adresse im Arbeitsspeicher realisiert ist, innerhalb verschiedener Applikationsknoten sowohl als Operator als auch als Operand dienen. Aufgrund der parallelen Architektur der Kombinatormaschine kann dieser Rollenumtausch (Operator ~ Operand) des selben Knotens z simultan ausgeführt werden.

R, Ri+ 1, Xi und Xi-l können beliebige Knoten des Kombinatorgraphen sein. Die Ordnungsrelation der Proemialrelation, ----, ist hier die Applikation app (r ator, rand) , die stets eine eindeutige Unterscheidung von Operator und Operand gewährleistet: @

@

'\t

..( R H1

.1: i

..(

'\t

Ri

:1:i-1

Zwei solche Applikationsknoten können an beliebigen Stellen innerhalb eines Kombinatorgraphen vorkommen. Innerhalb eines solchen Knotens ist durch die Applikationsstruktur stets determiniert, ob ein Subknoten als Operator oder als Operand dient. Durch die Verzeigerung des Kombinatorgraphen ist es nun möglich, daß Xi und R i das selbe physikalische Objekt z bezeichnen. Innerhalb von app(Ri+l, Xi) fungiert z dann als Operand und in app(R i , Xi-J) als Operator: @

..( R i+1

@

'\t

I

:1.: i

-z

..( Rj

I

'\t Xi-I

42 Zum Verhältnis von Semiotik und Kenogrammatik vgl. Kaehr (1982), FN I; Mahler (1993), FN 9.

149

Proömik und Disseminatorik

=z

Die Zeigergleichheit von Xi und R i , Xi R i , bewirkt also, daß z in verschiedenen Applikationen (Ordnungsverhältnissen) als Operator und als Operand fungiert. Dieser Positionswechsel innerhalb der Ordnungsrelation app (r ator , rand) dient als Modell für die Umtauschrelation der Proemialrelation, 0 ist, so liegt eine notwendige und hinreichende Bedingung für deterministisches Chaos vor. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, die KS-Entropie formal zu behandeln. Eine davon ist ihre Darstellung im Spektrum verallgemeinerter Renyi-Entropien 8 , in dem sie als Renyi-Entropie erster Ordnung vertreten ist. Dieser Ansatz ist von besonderer Bedeutung, weil er bei Verfahren zur experimentellen Bestimmung von K (nach Grassberger und Procaccia9 ) eine Rolle spielt. Außerdem kann die KS-Entropie eines Systems unter bestimmten Bedingungen als die Summe seiner positiven Ljapunov-Exponenten A betrachtet werden: 10 K=L:{Ai falls Ai>O i

0

sonst

Da die Ljapunov-Exponenten das Resultat einer Stabilitätsanalyse sind, charakterisiert K neben dem Informationsfluß auch die Stabilitätseigenschaften des betrachteten Systems. K ist umgekehrt proportional zu der Korrelationszeit, die mit dessen intrinsischer Instabilität zusammenhängt. 11 Für K-Flüsse wurden derartige intrinsische Instabilitäten bereits im späten 19. Jahrhundert von Henri Poincare untersucht. 12 Wesentliche Fortschritte erzielten innerhalb der vergangenen 20 Jahre Prigogine und Mitarbeiter. 13 Auf Ideen des russischen Physikers Krylov aufbauend, entwickelten sie eine Transformationstheorie, mit deren Hilfe die zeitgerichtete Entwicklung der Entropie und die zeitsymmetri7 A.N. Kolmogorov: A new metric invariant of transitive dynamical systems and automorphisms in Lebesgue spaces. Dokl. Akad. Nauk SSSR 119, 861 (1958); Ya.G. Sinai: On the notion of entropy of a dynamical system. Dokl. Akad. Nauk SSSR 124, 768 (1959). 8 A. Renyi: Wahrscheinlichkeitsrechnung. Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1977. 9 P. Grassberger and I. Procaceia: Estimating the Kolmogorov entropy from a chaotic signal. Phys. Rev. A 28, 2591-2593 (1983). 10 Ya. B. Pes in: Characteristic Lyapunov exponent and smooth ergodic theory. Russ. Math. Surveys 32, 55-114 (1977). 11 H. Atmanspacher and H. Scheingraber: A fundamental link between system theory and statistical mechanics. Found. Phys. 17,939-963 (1987). 12 H. Poincare: Les Mithodes Nouvelles de la Mechanique Celeste. Gauthier-Villars, Paris, 1892 (Nachdruck: Dover, New York, 1957). 13 K. Gustafson and B. Misra: Canonical commutation relations of quantum mechanics and stochastic regularity. Lett. Math. Phys. 1,275-280 (1976); B. Misra: Nonequilibrium entropy, Lyapounov variables, and ergodic properties of classical systems. Proc. Natl. Acad. Sei. USA 75, 1627-1631 (1978); T. Y. Petrosky and I. Prigogine: Alternative formulation of classical and quantum dynamics for non-integrable systems. Physica A 175, 146-209 (1991); I. Antoniou and S. Tasaki: Generalized spectral decompositions of mixing dynamical systems. Int. J. Quant. Chem. 46,425-474 (1993).

181

Inforrnationsdynamik

sche (unitäre) Liouville-Dynamik ineinander übergeführt werden können. Man kann beide Arten von Dynamik durch die Wirkung von Operatoren auf die Verteilungsfunktion eines Systemzustandes formulieren und sieht dann unmittelbar, daß die Operatoren nicht kommutieren. Wie Krylov schon in den 40er Jahren andeutete l4 , impliziert dies eine fundamentale Inkommensurabilität zwischen der Beschreibung eines Systems mit Hilfe einer Entropiedynamik und mit Hilfe einer Liouville-Dynamik. Auf der Basis einer informationstheoretischen Beschreibung von chaotischen Prozessen (die K-Flüsse einschließt) ist es möglich, eine entsprechende Inkommensurabilität zwischen dem Liouville-Operator L und einem geeignet definierten Informationsoperator M herzuleiten. 15 Dabei ist L wie üblich als Evolutionsoperator definiert, der auf eine Eigenfunktion p wirkt: L

.8

P=~8t P

Das kontinuierliche Spektrum der Eigenwerte des Informationsoperators M ergibt sich aus der zeitabhängigen Information I(t), die bei einer Messung der Eigenschaften eines Systems im Vergleich zu seinen vorausberechneten Eigenschaften gewonnen werden kann: M

p

= I(t) P = (1(0) + Kt)

p

Kt ist die Information, die das System seit der letzten voraufgegangenen Messung (zum Zeitpunkt t = 0) auf Grund seines intrinsisch instabilen Charakters erzeugt hat.

Als Kommutator von Liouville- und Informationsoperator ergibt sich nun gerade die Informationsproduktionsrate, also die KS-Entropie: i[L,M]

= KI

Das heißt, daß beide Operatoren genau dann vertauschen (kommutieren), wenn das betrachtete System keine Information produziert. Dies Resultat ist deswegen besonders interessant, da es einen empirischen Zugang zu dem von Prigogine und Mitarbeitern vorgeschlagenen theoretischen Ansatz eröffnet: K kann für ein gegebenes System empirisch bestimmt werden. Zugleich entstehen dadurch Hinweise auf eine systematische wissenschaftstheoretische Erörterung des Empiriebegriffes (siehe Kapitel IV).

14 N. S. Krylov: Works on the Foundations 01 Statistical Physics. Princeton University Press, Princeton, 1979. 15 Siehe FN 11.

182

Harald Atmanspacher

2. Aussagenlogische Interpretation

Die Vertauschungsrelation von L und M sieht (trotz Unterschieden im Detail) prinzipiell ähnlich aus wie entsprechende Vertauschungsrelationen in der Quantentheorie. Daher liegt es nahe, zu ihrer Interpretation entsprechende mathematische Methoden zu verwenden. Analog zu dem Vorgehen, das Birkhoff und von Neumann zur Entdeckung einer nicht-Booleschen Quantenlogik führte,16 entsteht so die Frage, welche logischen Grundlagen die Formulierung einer informationsprozessierenden Dynamik mittels der Operatoren L und M hat. Diese Grundlagen wurden, einer Idee von Krueger 17 folgend, auf der Basis einer verbandstheoretisch dargestellten Aussagenlogik studiert. Es zeigte sich, daß die zeitliche Evolution informationsprozessierender Systeme eine Logik impliziert, die - wie die Quantenlogik - nicht-Boolesch iSt. 18 Vereinfacht gesagt, kann daraus, daß die Entwicklung eines Systems in der Weise stattgefunden hat, wie sie aufgrund eines Modells vorhergesagt wurde, noch nicht geschlossen werden, daß das Modell im allgemeinen "wahr" ist. Formal äußert sich dies in der Mehrdeutigkeit des Komplementes (die im übrigen eine rigorose Basis für die Relevanz der Idee eines Theorienpluralismus herstellt 19). Der Aussagenverband, der eine solche Logik beschreibt, ist komplementiert, aber nicht distributiv. Ein fundamentales Kennzeichen von Verbänden als mathematischen Strukturen ist die Dualität aller ihrer Eigenschaften. Formal heißt dies, daß durch Vertauschung der verbandstheoretisch definierten Operationen in einer Relation eine duale Relation mit demselben Wahrheitswert entsteht. Bezüglich quantentheoretischer und evolutiver Inkommensurabilitäten stellte sich heraus,2° daß die Eigenschaft ihrer Nicht-Distributivität genau dieser Dualität Rechnung trägt. Während für die Nicht-Distributivität der Quantentheorie eine Relation der Form a> (al\b)V(al\b') 1\

b> (b 1\ a)

V

(b 1\ a')

gilt (a' ist das Komplement von a, b' ist das Komplement von b), genügt deren zeitlich-evolutives Gegenstück einer Relation der Form: 16 G. Birkhoff and J. von Newrumn: The logic of quantum mechanics. Ann. Math. 37, 823843 (1936); eine Diskussion des gegenwärtigen Standes der Quantenlogik findet man in P. Mittelstaedt: Sprache und Realität in der modernen Physik. BI Verlag, Mannheim, 1986. 17 F. R. Krueger: Physik und Evolution. Parey, Berlin, 1984, Abschnitt 7.2. 18 H. Atmanspaeher: A propositional lattice for the logic of temporal predictions. In Solitons and Chaos. Edited by I. Antoniou and EJ. Lambert. Springer, Berlin, 1991, pp. 58-70. 19 H. Primas: Theory reduction and non-Boolean theories. J. Math. Biol. 4, 281-301

(1977).

20 H. Atmanspaeher: Complementarity of structure and dynamics. In Information Dynamies. Edited by H. Atmanspacher and H. Scheingraber. Plenum, New York, 1991, pp. 205220.

Informationsdynamik

183

a< (a V b) 1\ (a Vb') vb< (bVa)l\(bVa')

Die Logiken von quantentheoretischen und evolutiven Inkommensurabilitäten können daher als duale Aspekte des zugrundeliegenden Verbandes verstanden werden. Quantentheoretische Aussagen, wie sie in typischen Vertauschungsrelationen auftreten, sind prinzipiell zeitfreie Aussagen über Ereignisse oder Fakten, während evolutive Aussagen, zum Beispiel in Form dynamischer Gesetze oder Modelle, immer eine zeitliche Entwicklung betreffen. Die gefundene Verbandsstruktur stellt also eine mathematische Konstruktion dar, innerhalb derer sich Ereignisse (Fakten) und Gesetze (Modelle) als duale Aspekte darstellen. In der Verbandsstruktur selbst fallen beide identisch zusammen. Dieses Resultat weist darauf hin, daß eine konzeptuelle Ebene existiert, auf der Fakten und Modelle keinen Bedeutungsunterschied aufweisen. Genauso, wie Modelle Fakten beschreiben, konstituieren Fakten Modelle. Die verbandstheoretische Dualität von Fakten und Modellen kann mit einer vierwertigen Modallogik in Zusammenhang gebracht werden, die die klassischen Wahrheitswerte "wahr" und "falsch" durch die modalen Wahrheitswerte "notwendig wahr", "notwendig falsch", "möglicherweise wahr" und "möglicherweise falsch" ersetzt. 21 Diese Wahrheitswerte referieren paarweise verschränkt auf Fakten bzw. Modelle. 3. Innen- und Außenperspektive

Im Rahmen der verbandstheoretischen Dualität lassen sich über das Verhältnis von Fakten und Modellen hinaus eine Reihe von Dichotomien verstehen, die in der zeitgenössischen Wissenschaftslandschaft wichtig sind. Dazu zählen zum Beispiel die Begriffe Struktur und Dynamik, die (in einer strengeren physikalischen Fassung) mit Raum und Zeit und darüber hinaus mit dem Zuständigkeitsbereich von räumlicher Quantenlogik und der in Abschnitt 11.2 angesprochenen zeitlichen (evolutiven) Logik22 in Verbindung stehen. Es ist möglich, unter bestimmten Bedingungen die algebraische Formulierung der Verbandstheorie geometrisch so zu deuten,23 daß sie bestimmten Typen von vierdimensionalen Raumzeit-Geometrien entspricht (nämlich sogenannten Quatemionenräumen 24 ). Auch hier spielt der Aspekt der Dualität eine zentrale Rolle, 21 H. Atmanspacher, F.R. Krueger, and H. Scheingraber: A modal propositionaI calculus for quantum facts and dynamicaI theories. In Parallelism, Leaming, Evolution. Edited by J.D. Becker, 1. Eiseie, and F.w. Mündemann. Springer, BerIin, 1991, pp. 304-314. 22 Siehe FN 18. 23 Siehe FN 20. 24 D. Finkelstein, J. M. Jauch, S. Schiminovich, and D. Speiser: Foundations of quaternion quantum mechanics. J. Math. Phys. 3,207-220 (1962).

184

Harald Atmanspacher

so daß jeweils zwei zueinander duale Konzepte von Raum und Zeit in Erscheinung treten. Es ist verlockend, den damit entstehenden "Interpretationsfreiraum" so zu nutzen, daß er die Dichotomie von externen und internen "Realitäten" auffängt, die in vielen Wissensbereichen (z.B. Kognitionswissenschaften, Wissenschaftstheorie) zunehmend an Bedeutung gewinnt. Verwendet man diese Dichotomie zusammen mit derjenigen von Fakten und Modellen, so erhält man eine theoretische Basis, um sowohl von Exo- und Endofakten als auch von Exo- und Endomodellen zu sprechen. 25 Die explizite Einbeziehung der Innen- und Außenperspektive in die Physik ist recht neu und läßt sich zu Vorschlägen von Wheeler 26 und Finkelstein27 zurückverfolgen. (Natürlich existieren darüber hinaus auch frühere Andeutungen, zum Beispiel bei Pauli?s) Die Nomenklatur von "endo" und "exo" wurde von Finkelstein in Korrespondenz mit Rössler vorgeschlagen 29 und von den Protagonisten in diesem Arbeitsbereich beibehalten. Es gibt bislang jedoch noch keine präzise und allgemein verbindliche Definition bzw. Abgrenzung von Endo- und Exoperspektiven. Dies mag unter anderem daran liegen, daß gegenwärtig die Faktenebene oft noch nicht klar genug von der Modellebene unterschieden wird. Sobald diese Unterscheidung explizit berücksichtigt wird, lassen sich meines Erachtens etliche Unstimmigkeiten und Unklarheiten, die in der Literatur existieren, durch Zuordnung des jeweiligen Sachverhaltes zur Modell- bzw. Faktenebene besser verstehen. Unter der Voraussetzung, daß auf der Modellebene der Exostandpunkt eingenommen wird, kann dann für Endo- und Exofakten folgende vorläufige Charakterisierung verwendet werden: - Aus der Exoperspektive gibt es einen externen Beobachter, der die Struktur des Systems von außen beobachtet. Der Beobachter muß dazu das System gegenüber seiner Umgebung abgrenzen (Heisenberg-Schnitt). Aus der Endoperspektive gibt es keinen externen Beobachter, sondern die Dynamik eines Systems wird aus einer internen Teilnehmerperspektive erlebt. Vom Standpunkt dieses Teilnehmers aus sind Grenzen des Systems nicht vorhanden. Exomodelle von Exofakten beschäftigt sich mit der Konzeptualisierung extern meßbarer Variablen, d.h. sie bedienen sich bei ihrer empirischen Bestätigung direkter Operationalisierungsverfahren. 25 H. Atmanspacher: Objectification as an endo/exo-transition. In Inside Versus Outside. Edited by H. Atmanspacher and G.J. Dalenoort, Springer, Berlin, 1994, pp. 15-32. Siehe auch FN 3, Kapitel 6.2. 26 J.A. Wheeler: The uni verse as ahorne for man. In The Nature oi Scientific Discovery. Edited by O. Gingerich. Smithsonian Press, Washington, 1975, pp. 261-296. 27 D. Finkelstein and S.R. Finkelstein: Computational Complementarity. Int. J. Theor. Phys. 22,753-779 (1983). 28 W. Pauli: Brief an Markus Fierz vom 10. 8. 1954. In K.V. Laurikainen, Beyond the Atom, Springer, Berlin, 1988, pp. 144,226. 29 O. E. Rössler: Endophysik. Merwe, Berlin, 1992, S. 47.

Infonnationsdynamik

185

- Exomodelle von Endofakten konzeptualisieren interne Variablen, die zunächst nicht direkt operationalisierbar sind, jedoch auf indirektem Wege unter Umständen operationalisiert werden können, zum Beispiel anhand ihres Einflusses auf externe Variablen. Obgleich die Definition von Endo- und Exoperspektive von verschiedenen Autoren unterschiedlich gesehen wird,3D ist mit dem Begriff der Endophysik wohl übereinstimmend eine Physik gemeint, die sich (in meiner Sprechweise) mit Exomodellen von Endofakten beschäftigt. Im Bereich der Quantentheorie ist die Unterscheidung von Endo- und Exofakten besonders fruchtbar, weil sie eine ganze Reihe von ungeklärten Antinomien auflöst. Entgegen der allgemeinen Tendenz, im Rahmen dieser Antinomien eine gültige im Gegensatz zu einer ungültigen Position zu vertreten, relativiert die Berücksichtigung von Endo- und Exoperspektive die gesamte Problematik zur Standpunktfrage. Als eine mögliche formale Basis für Quanten-Endophysik bzw. Quanten-Exophysik kristallisiert sich die algebraische Quantenmechanik in der Formulierung von Primas 3l heraus. Im wesentlichen geht es dabei darum, daß ein Quantensystem aus der Endoperspektive universell (C* -algebraisch) beschrieben werden kann, während für die Exoperspektive eine kontextabhängige (W*-algebraische) Formulierung erforderlich ist. Im ersteren Fall hat man mit reinen Zuständen zu tun, die die potentiellen Eigenschaften des Systems repräsentieren. Zur Beschreibung des Systems aus der Exoperspektive, aus der aktuelle Eigenschaften durch gemischte Zustände charakterisiert werden, muß im allgemeinen eine Wahl getroffen werden, die den Kontext des Experimentes bzw. einer zu treffenden Vorhersage berücksichtigt. Dies findet seine theoretische Entsprechung darin, daß die eindeutige Konstruktion einer relevanten W* -Algebra nicht universell (kontextfrei) möglich ist. (Die Fälle der Pionier-Quantenmechanik und der klassischen Mechanik sind dabei Ausnahmen, bei denen man von einer "Entartung" der EndolExo-Unterscheidung sprechen könnte. Die Möglichkeit einer "klassischen" Basis für die Quantentheorie, wie sie etwa Rössler vorschwebt,32 wäre hiervon allerdings auszunehmen.) 30 D. Finkelstein: Finite Physics. In The Universal Turing Machine. Edited by R. Herken. Kammerer & Unverzagt, Hamburg, 1988, pp. 349-376; H. Primas: Mathematical and philosophical questions in the theory of open and macroscopic quantum systems. In Sixty-Two Years of Uncertainty. Edited by A. I. Miller. Plenum, New York, 1990, pp. 233-257; O. E. Rässler: Endophysics. In Real Erains - Artificial Minds. Edited by J. L. Casti and A. Karlqvist. North Holland, Amsterdam, 1987, pp. 25-46. Eine zusammenfassende Darstellung bietet die Einleitung zu H. Atmanspacher and G.J. Dalenoort, editors: Inside Versus Outside. Springer, Berlin, 1994. 31 H. Primas: Chemistry, Quantum Mechanics, and Reductionism. Springer, Berlin, 1983. 32 O. E. Rässler: A possible explanation of quantum mechanics. In Advances in Information Systems Research. Edited by G. W. Lasker, T. Koizumi, and J. Pohl. Publ. Int. Inst. Adv. Stud. System Res. Cybemetics, Windsor (Ontario), 1991, pp. 581-589. Siehe dazu auch H. Atmanspacher: The aspect of infonnation production in the process of observation. Found. Phys. 19,553-577 (1989).

186

Harald Atmanspacher

Unter den Antinomien, die sich derjenigen von Endo- und Exoperspektive zuordnen lassen, sind zum Beispiel individuelle und statistische Interpretation, Lokalität und Nichtlokalität, Reversibilität und Irreversibilität - Problemkreise, die in der Physik zu den meistdiskutierten zählen (und, wie es insbesondere im letzten Beispiel anklingt, auf die oben erwähnte Problematik einer zeitgerichteten Informationsdynamik in Quantensystemen zurückverweisen). Auch das Meßproblem der Quantenmechanik zeigt sich im Rahmen der genannten Ansätze unter neuem Blickwinkel: es wird zum Problem einer Transformation von Endo- zu Exoperspektive. Für klassische Systeme (im Sinne von nicht-Quantensystemen) existiert dieses Problem, obschon es nicht so drastisch zu sein scheint, ebenfalls. Nimmt man es ernst, so führt dies ebenso wie in der Quantentheorie zur Aufhebung der Entartung von Endo- und Exoperspektive. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Behandlung komplexer Systeme sowie damit verbundener Probleme. III. Zur Theorie komplexer Systeme Das Konzept der Komplexität stellte sich für die Physik als unumgänglich heraus, seit klar wurde, daß Systeme, wie sie in der "realen" Natur vorkommen, mit den bislang üblichen Idealisierungen oft nicht adäquat behandelt werden können. Beim Studium nichtlinearer dynamischer Systeme zeigte sich, daß selbst eine geringe Anzahl von Freiheitsgraden zu Strukturen und Verhaltensweisen führen kann, die alles andere als "einfach" sind. Dabei genügt es im allgemeinen nicht, nur die Grundmoden einer Fourierentwicklung, die ersten Glieder einer Störungsreihe oder die niedrigsten Momente einer Verteilungsfunktion zu berücksichtigen. Ein beachtlicher Teil des Instrumentariums der Physik (beispielsweise auch zentrale Grenzwertsätze) scheint, um es vorsichtig zu formulieren, nicht mehr so problemlos anwendbar zu sein, wie es in linearen oder linearisierbaren Situationen der Fall ist. Das damit verbundene Erfordernis einer Theorie komplexer Systeme hat bislang allerdings nicht viel weiter als bis zu einer ganzen Reihe von Definitionsvorschlägen geführt, die ich hier aus Platzgründen nicht im einzelnen aufführen kann. 33 Der Inhalt der folgenden Abschnitte m.l bis 111.3 dient der Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen existierenden Maßen für Komplexität sowie ihres Zusammenhangs mit dem Konzept der Bedeutung, das meines Erachtens für ein angemessenes Verständnis von Komplexität entscheidend ist. 1. Komplexität

Um die Komplexität dynamischer Systeme zu charakterisieren, gingen bis vor kurzer Zeit die meisten Ansätze vom Konzept der algorithmischen Komplexität 33 R. Wackerbauer, A. Witt, H. Atmanspacher, J. Kurths, and H. Scheingraber: A comparative classification of complexity measures. Chaos, Solitons, & Fractals 4, 133-173 (1994).

Infonnationsdynamik

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aus?4 Vereinfacht gesagt wird dabei maximale Komplexität mit maximaler Zufälligkeit (oder minimaler Vorhersagbarkeit) assoziiert. Von Crutchfield and Young,35 Grassberger36 und anderen (siehe auch Weaver 37 ) wurde in den letzten Jahren die Überlegung angeregt, sowohl völlig geordnete als auch völlig ungeordnete Strukturen und Verhaltensweisen als minimal komplex zu betrachten, so daß sich ein Maximum an Komplexität für eine Mischung von Ordnung und Unordnung ergibt. Komplexitätsmaße vom letztgenannten Typ werden oft als statistische Maße bezeichnet, während Maße vom Typ der algorithmischen Komplexität detenninistisch heißen. 38 Der wesentliche phänomenologische Unterschied zwischen beiden Typen zeigt sich in der Klassifizierung "zufälliger" Systeme. Während die deterministische Komplexität eines Systems umso größer ist, je zufälliger sich das System verhält, ist die statistische Komplexität eines völlig zufälligen Systems gleich Null. Der Grund hierfür besteht darin, daß seine statistische Beschreibung im Gegensatz zu einer deterministischen Beschreibung sehr einfach ist - anstelle einer Liste aller individuellen Elemente des Systems genügt die Angabe einer sogenannten statistischen Verteilung (und ihrer Momente). Das Gegenteil zufälliger Systeme, nämlich reguläre, geordnete Systeme werden von beiden Ansätzen übereinstimmend als nicht-komplex eingestuft. Die statistische Komplexität eines Systems ist somit maximal, wenn eine Mischung von regulären und zufälligen Elementen, von Ordnung und Unordnung, vorliegt. Etwas umgangssprachlicher könnte man sagen: Statistisch komplexe Systeme sind weder völlig durchschaubar noch ganz und gar unberechenbar. Dort, wo beide Ansätze sich am unterschiedlichsten erweisen, nämlich im zufälligen Grenzfall, zeigt sich auch ihre grundsätzliche Diskrepanz am besten. Im Detail gesehen ist die statistische Beschreibung eines zufälligen Systems nicht eindeutig. Das heißt beispielsweise, daß die globale statistische Beschreibung, die sogenannte Verteilungsfunktion (und ihre Momente) für ein gegebenes zufälliges Muster mit einer ganzen Reihe von anderen Mustern konsistent ist, die jedoch im einzelnen, d.h. lokal, unterschiedlich aussehen können. Eine deterministische Beschreibung dagegen ist eindeutig, indem sie die lokalen Eigenschaften eines jeden individuellen Elementes eines Musters exakt spezifiziert. Die intrinsisch exakten Variablen eines Systems, also gewissennaßen sein Zustand aus der Innenperspektive, im Sinne einer detenninistischen, individuellen Beschreibung sind der direkten 34 A. N. Kolmogorov: Three approaches to the quantitative definition of complexity. Problems in Information Transmission 1,3-11 (1965); G. Chaitin: Algorithmic Information Theory. Cambridge University Press, Cambridge, 1987. 35 J. P. Crutchfield and K. Young: Phys. Rev. LeU. 63,105-108 (1989). 36 P. Grassberger: Toward a theory of self-generated complexity. Int. J. Theor. Phys. 25, 907-938 (1986). 37 W Weaver: Science and complexity. American Scientist 36, 536-544 (1968). 38 Siehe FN 35.

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Messung im allgemeinen nicht zugänglich. Eine solche detenninistische Beschreibung, zum Beispiel in Fonn eines mathematischen Gleichungssystems, kann jedoch zur Fonnulierung empirisch überprüfbarer statistischer Vorhersagen führen. Der Begriff des "detenninistischen Chaos" ist ein gutes Beispiel für eine derartige Verkopplung von individueller Detenniniertheit (aber Nicht-Detenninierbarkeit) und statistischer Detenninierbarkeit (aber Nicht-Detenniniertheit). Eine solche Verkopplung von statistischen und detenninistischen Elementen auf den Ebenen der Beschreibung und der Beobachtung ist für komplexe Systeme typisch. Man kann etwa die statistische Komplexität eines Systems durch die deterministische Komplexität einer Beschreibung angeben, die dieses System zu reproduzieren in der Lage ist. Die so erzielte Verschränkung von Fakten und Modellen relativiert eine strenge Trennung zwischen beiden. Abgesehen von Fällen, in denen zwischen diesen Ebenen gar nicht unterschieden wird (dies ist analog zum entarteten Fall in Abschnitt 11.2), sind sie im allgemeinen beide zugleich erforderlich - es reicht nicht aus, ausschließlich beobachtete Daten auf Faktenebene zu haben, und es reicht nicht aus, nur auf der Modellebene der Beschreibung zu operieren. Dabei zeigt sich erneut, wenn auch aus einem anderem Blickwinkel, die Bedeutung der zweifachen Antinomie, sowohl von Fakten und Modellen als auch von Innen- und Außenperspektive, die in Abschnitt 11.3 diskutiert wurde. Anders als eine einfache Antinomie von detenninistischer und statistischer Betrachtungsebene liefert sie eine vierfache Unterscheidung, die im Bereich der Theorie komplexer Systeme zur Entwicklung eines erweiterten Klassifikationsschema benutzt wurde. 39 Dieses Schema unterscheidet Komplexitätsmaße danach, ob sie strukturelle bzw. dynamische Komponenten enthalten und ob sie auf Fakten- bzw. Modellebene relevant sind. Statistische Komplexitätsmaße sind in diesem Schema dadurch gekennzeichnet, daß sie Beiträge aller vier verschiedenen Kriterien enthalten, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Beispiele sind Fluktuationskomplexität nach Bates und Shepard40 und E-Komplexität nach Crutchfield, als deren "entartete" Version (Fakten- und Modellebene werden nicht differenziert) sich die algorithmische Komplexität zu erkennen gibt. 41 2. Bedeutung

Die Wechselwirkung zwischen Fakten- und Modellebene ist auf der anderen Seite auch ein zentraler Punkt, wenn es um den Begriff der Bedeutung geht. Im 39

Siehe FN 33.

40

J. E. Bates and H.K. Shepard: Infonnation fluctuation as a measure of complexity. Pre-

print, University ofNew Hampshire, Durharn, 1991. 41 J. P. Crutchfield: Observing complexity and the complexity of observation. In Inside Versus Outside. Edited by H. Atmanspacher and G.I. Dalenoort. Springer, Berlin, 1994, pp. 235-272.

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Bereich der Philosophie, wo die Diskussion dieses Begriffes ihre längste Tradition hat, hat sich in der Semiotik (nach Peirce 42 ) eine Richtung entwickelt, die versucht, den Begriff der Bedeutung als Wechselwirkung zwischen einem Symbol und dem, was es symbolisiert, zu fassen. Das dementsprechende Teilgebiet der Semiotik ist die Semantik, die durch die Bereiche der Syntaktik (Beziehung zwischen den Symbolen) und der Pragmatik (Beziehung zwischen Symbolen und ihren Benutzern) ergänzt wird. Gegenstand der Semantik ist also die Wechselwirkung zwischen Elementen der Modellebene, den Symbolen, und Elementen der Faktenebene, den Dingen, die die Symbole symbolisieren. 43 Das Konzept von Shannon44 kann in diesem Rahmen als ein rein syntaktisches Informationskonzept bezeichnet werden. Es schließt sowohl Aspekte der Bedeutung (Semantik) als auch des Gebrauches (Pragmatik) konsequent aus. Bereits einige Jahre nach Shannons Arbeit schlugen Bar Hillel und Carnap 45 einen formalen Ansatz vor, semantische Information zu quantifizieren. Er beruht im wesentlichen darauf, inwieweit der Empfänger einer Nachricht aus dieser logische Konsequenzen zu ziehen imstande ist. Obwohl dadurch im Grunde schon der Gebrauchswert einer Nachricht angesprochen wird, wurde diese pragmatische Komponente erst weitere zwanzig Jahre später explizit ins Spiel gebracht. Sobald semantische Information verstanden wird, zeigt sie Wirkung - sie verändert etwa die Effizienz eines Systems oder hinterläßt andere Spuren. Als einen Ansatzpunkt für eine quantitative Behandlung schlug E. v. Weizsäkker46 das Konzept der pragmatischen Information vor, daß sich insbesondere durch eine radikale Kontextualisierung des Informationsbegriffes auszeichnet. Pragmatische Information verschwindet für völlig redundante Nachrichten (Ereignisse), insofern sie nicht in der Lage sind, das Verhalten des Empfängers zu verändern. Ebenso verschwindet sie für solche Nachrichten (Ereignisse), die überhaupt keine Redundanz in Bezug auf den Informationsstand des Empfängers enthalten: sie können nicht verstanden werden. Sieht man von der dadurch eventuell entstehenden Verwirrung ab (ebenso wie von der Möglichkeit der Langeweile im entgegengesetzten Fall), so kann auf diese Weise keine Wirkung auf den Empfänger erzielt werden. Pragmatische Information ist dann maximal, wenn eine geeignete Mischung von Redundanz und Nicht-Redundanz, von Bestätigung und Erstmaligkeit, vorliegt.

C. S. Peiree: Colleeted Papers. Harvard University Press, Cambridge, 1958. Siehe hierzu auch B.-O. Küppers: Der Ursprung biologischer Infonnation. Piper, Münehen, 1986. 44 Siehe FN 4. 45 Y. Bar Rille! and R. Carnap: Semantic infonnation. Brit. J. Phil. Sei. 4, 147-157 (1953). 46 E. von Weizsäeker: Erstmaligkeit und Bestätigung als Komponenten der pragmatischen Infonnation. In Offene Systeme I. Edited by E. von Weizsäcker. Klett, Stuttgart, 1974, pp. 83113. 42

43

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Das Konzept der pragmatischen Information wurde insbesondere von Komwachs und von Lucadou 47 aufgegriffen und weiterentwickelt. Ein wichtiger Vorschlag, was seine Messung betrifft, stammt von Gemert48 und wurde von uns in einer experimentellen Arbeit über Instabilitäten in Multimode-Lasersystemen angewandt. 49 Er benutzt den Begriff der Effizienz, der sich in Lasersystemen einfach als das Verhältnis von Ausgangsleistung zu Pumpleistung definieren läßt: 50 Pout

1]=-Ppump

Die pragmatische Information PI, die beim Durchgang des Lasersystems durch eine Instabilität relevant ist, kann dann durch die Effizienz des Systems vor (1]1) und nach ('f/2) der instabilen Phase bestimmt werden: PI=1J2-1]1 1]1

Andererseits führen Instabilitäten zu Änderungen in der Komplexität des Systems, die mittels Attraktordimensionen und -entropien verifiziert wurden. Auf diese Weise konnte eine enge Beziehung zwischen der pragmatischen Information eines Ereignisses und der Änderung der Komplexität des Systems nachgewiesen werden, in dem das Ereignis stattfindet. Instabilitäten spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch wenn es sich formal sehr allgemein darstellen läßt, verweist das Konzept der Bedeutung doch im Grunde auf Systeme, die dazu in der Lage sind, Bedeutung zu "verstehen": auf kognitive Systeme. 51 Es ist daher ein Konzept, das in den exakten Naturwissenschaften wie etwa der Physik fast zwangsläufig auf den Einwand des Anthropomorphismus stoßen oder in die Gefahr geraten muß, ein Opfer Ockhamscher Rasierkunst zu werden. Diese Einwände sind zwar nachvollziehbar, greifen jedoch zu kurz. Bei der Beschreibung des Verhaltens physikalischer Systeme mit Hilfe von pragmatischer Information52 zeigte sich, daß solche Systeme eine Anwendung dieses Konzeptes erlauben, aber nicht erfordern. Der erklärende Mehrwert der pragmatischen Information ist, was die rein physikalische Beschreibung dieser Systeme angeht, exakt gleich Null. Das liegt natürlich daran, daß die rein physikalische Be47 K. Kornwachs and W von Lucadou: Pragmatic information as a nonc1assical concept to describe cognitive processes. Cognitive Systems I, 79-94 (1985). 48 D. Gernert: Measurement of pragmatic information. Cognitive Systems I, 169-176 (1985). 49 H. Atmanspacher and H. Scheingraber: Pragmatic information and dynamical instabilities in a multimode continuous-wave dye laser. Can. J. Phys. 68,728-737 (1990). 50 H. Haken: Synergetics. Springer, Berlin, 1983. 51 H. Atmanspacher: Categoreal and acategoreal representation of knowledge. Cognitive Systems 3, 259-288 (1992). 52 Siehe FN 49.

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schreibung - aus guten Gründen - nicht über die Faktenebene (bzw. eine Modellebene, die mit der Faktenebene entartet ist) hinausgeht. Erst dann, wenn der explizite Einbezug der Modellebene notwendig wird, ist zu vermuten, daß auch das Konzept der pragmatischen Information einen Erklärungs-Mehrwert anzubieten hat. Dies könnte bereits der Fall sein, bevor in der Hierarchie zunehmender Komplexität hochentwickelte kognitive Systeme erreicht sind. Die Tatsache, daß pragmatische Information bereits auf relativ niedrigem Komplexitätsniveau als beschreibendes Konzept (ohne Erklärungs-Mehrwert) verwendbar ist, läßt hoffen, daß sie bei höherer Komplexität ein geeignetes Instrumentarium der Beschreibung und Erklärung zur Verfügung stellt. 3. Komplexität und Bedeutung

Ein Zusammenhang zwischen den Begriffen Komplexität und Bedeutung liegt aus diesen Gründen nicht allzu fern. Peter Grassberger, der (abgesehen von Weaver53 ) zusammen mit Atlan 54 und Haken 55 einer der ersten war, der diesen Zusammenhang sah, schreibt dazu: 56 "Im weitesten Sinn ist Komplexität die Schwierigkeit einer bedeutungshaltigen Aufgabe. Genauer gesagt, entspricht die Komplexität eines Musters, einer Maschine, eines Algorithmus etc. der Schwierigkeit der bedeutungshaltigsten Aufgabe, die ihm/ihr zugeordnet werden kann. . .. Als Folge dessen, daß wir auf bedeutungshaItigen Aufgaben insistieren, wird das Konzept der Komplexität subjektiv. Wir können nicht von der Komplexität eines Musters sprechen, ohne Bezug auf den Beobachter zu nehmen .... Eine eindeutige Definition (von Komplexität) mit einem universellen Bereich von Anwendungen gibt es nicht. In der Tat ist es eine der offensichtlichsten Eigenschaften eines komplexen Objektes, daß es keine eindeutig bestimmbare bedeutungshaltigste Aufgabe gibt, die man ihm zuordnen kann." Und John Casti vom Santa-Fe-Institut für das Studium komplexer Systeme bringt es auf den folgenden Nenner: 57 "Der Eindruck von Komplexität erscheint oft wie der Ausdruck einer Erfahrung von Bedeutung." Neben diesen eher allgemein gehaltenen Äußerungen gibt es inzwischen auch ins Detail gehende Ansätze, die Beziehungen zwischen komplexen Systemen und Bedeutung zu präzisieren. Eine interessante Paralle1e58 besteht darin, daß die pragmatische Information als Bedeutungsmaß unter den gleichen Bedingungen verSiehe FN 37. H. Atlan: Self creation of meaning. Physica Scripta 36, 563-576 (1987). 55 H. Haken: Information and Self-Organization. Springer, Berlin, 1988. 56 P. Grassberger: Problems in quantifying self-generated complexity. Helv. Phys. Acta 62,489-511 (1989),pp.494,496. 57 J. Casti: The simply complex: trendy buzzword or emerging new science? Bull. Santa Fe Inst. 7, 10-13 (1992), p. Il. 58 H. Atmanspacher; J. Kurths, H. Scheingraber; R. Wackerbauer; and A. Witt: Complexity and meaning in nonlinear dynamical systems. Open Systems & In! Dyn. 1,269-289 (1992). 53

54

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schwindet, unter denen die entsprechenden statistischen Komplexitätsmaße Null werden. Ebenso scheint es sowohl für statistische Komplexität als auch für Bedeutung ein Maximum zu geben, wenn die Mischung zwischen den Elementen von Erstmaligkeit ("Zufall") und Bestätigung ("Regularität") einer Nachricht in geeigneter Weise ausgewogen ist. Im Verhalten eines jeweils betrachteten Systems ändert sich die Komplexität, wenn Bedeutung in diesem Sinn freigesetzt wird. 59 Doch diese Parallele zeigt zugleich auch einen wesentlichen Unterschied. Während es das statistische Verständnis von Komplexität ist, welches der Mischung von Ordnung und Unordnung einen maximalen Wert zuordnet, geschieht dies im Rahmen des Begriffes Bedeutung für dessen deterministisches Verständnis. Eine zufällige Folge von Symbolen ist bedeutungsleer, weil kein Zusammenhang zwischen den individuellen Symbolen erkennbar ist. Ebenso wie die deterministische Innenperspektive im Bereich Komplexität operational unzugänglich ist, scheint es so zu sein, daß die statistische Außenperspektive im Bereich Bedeutung inadäquat ist. Es liegt demzufolge nahe, die Beziehungen zwischen den Konzepten Komplexität und Bedeutung mit einem wohldefinierten Wechsel der Perspektive in Verbindung zu bringen, der in philosophischer Sprechweise von einer epistemisch-operationalen zu einer ontischen Ebene führt. Man darf sich fragen, ob nicht Komplexität und Bedeutung zwei Konzepte sind, die letztlich aus unterschiedlicher Sicht und mit unterschiedlichen Begriffen dennoch das gleiche Thema haben: die zunehmende Notwendigkeit, bei zunehmend komplexen bzw. bedeutungshaltigen Systemen Faktenebene und Modellebene gleichermaßen zu berücksichtigen. An diese Verbindung ist auf abstrakte Weise die Auflösung der oben angedeuteten Dualitäten geknüpft. Eine konkrete Auflösung dieser Dualitäten ist indessen nicht mehr alleinige Angelegenheit einer Beschreibung mit Exomodellcharakter, sondern hat den Aspekt des internen, individuellen Endomodells mitzuenthalten. An anderer Stelle60 habe ich versucht, auf der Basis einer Kritik traditoneller kognitivistischer Ansätze das mathematisch-physikalische Instrumentarium der nichtlinearen Dynamik im Bereich kognitiver Systeme in diesem Sinn gewinnbringend einzusetzen. IV. Wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte Jede Wissenschaft, auch die Naturwissenschaften (und hier auch die Physik), arbeitet auf der Basis von Grundannahmen, sogenannten regulativen Prinzipien, die sie nicht aus sich selbst ableiten kann. Mit diesen Prinzipien und ihrer historischen Herkunft beschäftigen sich Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte. Die regulativen Prinzipien der heutigen Naturwissenschaften sind in ihren wesentlichen Punkten 400 Jahre alt und gehen auf Vorstellungen von Francis Bacon und 59 60

Siehe FN 49. Siehe FN 51.

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Rene Descartes zurück. Thr Kern besteht gängigen Definitionen zufolge aus den Forderungen nach Objektivität, Rationalität und Empirie. Mit Hilfe eines grundlegenden Begriffes von Objektivierung kann Rationalität als Objektivität auf der (abstrakten) Modellebene und Empirie als Objektivität auf der (konkreten) Faktenebene verstanden werden. 61 Im Hinblick auf die Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive führt der Anspruch der Rationalität auf der Modellebene zur Ausklammerung von Endomodellen aus den Wissenschaften (wie sie konventionskonform in Abschnitt 11.3 übernommen wurde). Objektivität auf der Modellebene steht traditionell mit der Vorstellung universeller und kontextfreier Theorien in Verbindung, die eine wohldefinierte Separation von Theoretiker und Theorie voraussetzen. Diese ist im allgemeinen nicht durchführbar, was zum Konzept der rationalen, aber kontextbehafteten Theorie führt. Besonders krasse Beispiele hierzu finden sich in den Themenbereichen Komplexität und Bedeutung (Kapitel III). Im Gegensatz zur Modellebene können auf der Faktenebene sowohl die Außenals auch die Innenperspektive in naturwissenschaftlichem Rahmen relevant sein. Die entsprechende Akzeptanz von Exo- und Endofakten erfordert jedoch, daß der Sinngehalt von Empirie als Objektivität auf der Faktenebene präzisiert werden muß. Man gelangt so zu einem eingeschränkten Empirie-Begriff, nämlich dem einer direkt operationalisierbaren Empirie. Dabei geht es um das Problem des operationalen Zugangs eines Beobachters zu einem beobachteten System. In anderen Worten handelt es sich dabei um die Frage nach den Kriterien für Operationalisierbarkeit: Was kann wie und unter welchen Umständen beobachtet werden? 1. Kriterienfür Operationalisierbarkeit

Bereits die Beschäftigung mit dem Meßprozeß in der Quantentheorie hat eine strikte Trennung von Beobachter und beobachtetem System als unhaltbar erwiesen. Damit ist die traditionell angenommene Separabilität beider auf einem fundamentalen Niveau wieder diskussionsfähig geworden. Objektivität im Sinne einer derartigen Separation ist im allgemeinen nicht möglich. Trotzdem ist sie in Einzelfällen oder als Näherung oft nützlich. Sie ist dann im Sinne einer Externalisierung zu verstehen, die das zu beobachtende Objekt konstituiert. Als "objektiv" operational zugänglich gelten jeweils Objekte (bzw. Objektsysteme), die durch den sogenannten Heisenberg-Schnitt von ihrer Umgebung konzeptuell "getrennt" werden. Erst dadurch wird eine Beobachtung des Objektes möglich. Was den Beobachter betrifft, so macht es im Rahmen der Quantentheorie keinen Unterschied, ob es sich um automatisierte Meßvorrichtungen oder um menschliche Beobachter handelt. Neben dieser Bedingung der Externalität gibt es eine zweite Grundannahme für den operationalen Zugang zu Systemvariab1en, die der Empirie-Forderung (ci la 61

Siehe FN 25.

13 Selbstorganisation, Bd.6

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Bacon) Rechnung trägt und die ich mit Konkretheit bezeichne. Damit ist direkte Wahrnehmbarkeit gemeint, das heißt, es wird so getan, als ob gewisse Variablen ohne abstrakte Folgerungen unmittelbar zugänglich sind. (Die mathematische Entsprechung dieser Annahme besteht darin, daß die Beobachtungsrelevanz komplexer Variablen immer auf ihren Realteil beschränkt betrachtet wird, soweit deren direkte Operationalisierung betroffen ist.) Der in diesem Sinne verwendete Konkretheits-Begriff definiert die Faktenebene, während deren Gegenstück, die Modellebene, durch den Bereich der Abstraktion gekennzeichnet ist. Um beide zu unterscheiden, ist ebenfalls eine konzeptuelle Trennung erforderlich, für die sich der Begriff des kartesischen Schnittes eingebürgert hat. Um die aufgeführten Grundannahmen mit der Diskussion der Innen!Außen-Unterscheidung zu kombinieren, ist eine innerphysikalische Tatsache entscheidend, die ebenfalls die Operationalisierbarkeit physikalischer Variablen betrifft. Es handelt sich um die Tatsache, daß alle direkten Beobachtungen physikalischer Variabler Ortsmessungen sind, also Messungen von Positionen im dreidimensionalen Anschauungsraum, aus denen dann Eigenschaften anderer Variabler abgeleitet werden können. (Allgemeiner könnte man statt "Ortsmessungen" von Struktur- oder Mustererkennung sprechen.) Sogar (und gerade) Zeitmessungen werden immer in Form von Messungen der Position von Uhrzeigern etc. pp. durchgeführt. Es existiert innerhalb der traditionellen Operationalisierbarkeitskriterien kein Verfahren, mit dessen Hilfe Zeit direkt meßbar ist. Diese Tatsache ermöglicht es, ohne zusätzliche Annahmen die weiter oben angesprochenen dualen Quaternionengeometrien als Raumzeit-Geometrien zu deuten, in denen die Raum- und Zeitvariablen die Antinomien von FaktenIModellen und von Innen!Außen enthalten. 62 Sie tun dies in paarweise miteinander verschränkter Weise, d.h. die Faktenebene ist nicht etwa einfach mit dem Endo- oder Exoniveau identisch, sondern sie referiert bezüglich der konkreten Systemzeit auf das Endoniveau und bezüglich des konkreten Systernraumes auf das Exoniveau. Auf der abstrakten Modellebene ist dann umgekehrt die Variable ,,zeit" exo-relevant, während die Variable "Raum" endo-relevant ist. 63 Diese Klassifikation läßt sich unter genau spezifizierbaren Bedingungen treffen, die sich verändern, wenn räumliche und/oder zeitliche Abstände nicht mehr eindeutig definiert werden können. 64 In solchen Situationen ist zu erwarten, daß die geometrischen Vorstellungen von Raumzeit topologisch verallgemeinert werden müssen.

62 63 64

Siehe FN 25. Siehe FN 25. Siehe FN 18.

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2. Postkartesianische Wissenschaft?

Wie bereits angeklungen ist, kann man die Trennung von Modellen und Fakten mit dem sogenannten kartesischen Schnitt zwischen Geist (res cogitans) und Materie (res extensa) in Verbindung bringen. Durch diese Trennung wird es erst möglich, Fakten von Modellen getrennt zu behandeln; sie ist also notwendig für Operationalisierbarkeit im Sinne objektiver Empirie. Hinreichend ist sie erst zusarnrnen mit einem zweiten Schnitt, dem Heisenberg-Schnitt, der auf der Faktenebene das beobachtete Objekt von seiner Umgebung trennt. Beide Schnitte sind natürlich nicht konkret in der Natur vorhanden, sondern sie sind Gegenstände in res cogitans: sie sind Modelle. Als solche dürfen sie selbst zum Gegenstand der Forschung gemacht werden. 65 Insbesondere liegt es dabei nahe zu untersuchen, wo genau diese Schnitte liegen, wie sie gemacht werden, ob sie verschiebbar sind, und inwieweit sie keine rigorosen, sondern eventuell nur bedingte Trennungen implizieren. Überlegungen, die sich mit der Thematik des kartesischen Schnittes66 beschäftigen, führen zu Modellen über Fakten und Modelle, also zu Meta-Modellen. Die Konzepte "Komplexität" und "Bedeutung" (siehe Kapitel III) sind genau in diesem Sinn zu verstehen. Sie sprechen Tendenzen an, den kartesischen Schnitt von beiden Seiten her zu überbrücken, derjenigen der Physik und derjenigen der kognitiven Wissenschaften. Die Brisanz, die in ihrer Diskussion oft anzutreffen ist, liegt genau darin, daß sie einen Schnitt zu hinterfragen versuchen, der auf der anderen Seite für Wissenschaft konstitutiv ist. Es ist kaum zu erwarten, und es wäre auch kaum sinnvoll, daß derartig grundsätzliche Erweiterungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes, wie sie eine Relativierung des kartesischen Schnittes zur Folge hätte, ohne viel Worte stillschweigend hingenommen würden. Zahlreiche dementsprechende Diskussionen leiden jedoch darunter, daß sie am eigentlichen Problem vorbeigehen. Es kann natürlich nicht darum gehen, Konzepte, mit denen intendiert wird, traditionelle Kriterien für Wissenschaftlichkeit zu kritisieren, mit eben diesen Kriterien als irrelevant zu erklären. Es geht bei den Themen Komplexität und Bedeutung um das Problem, die Zusammenhänge zwischen res cogitans und res extensa auf der Ebene eines Meta-Modells besser zu verstehen. Es geht also um mehr als darum, diese Zusammenhänge unhinterfragt zu verwenden, etwa um mit ihnen Modelle anhand empirischer Fakten zu bestätigen oder zu widerlegen. In diesem Sinn sind Komplexität und Bedeutung Elemente eines Meta-Modells, das - ich wiederhole es - ausdrücklich die Wechselwirkung zwischen res cogitans und res extensa zum Gegenstand hat. Ansätze in diese Richtung zeichnen sich vor allem in den Computerwissenschaften sowie den kognitiven Wissenschaften zunehmend ab. 65 H. Primas: The Cartesian cut, the Heisenberg cut, and disentangled observers. In Symposia on the Foundations of Modern Physics 1992. Edited by K.V. Laurikainen and C. Montonen. World Scientific, Singapore, 1993, pp. 245-269. 66 Siehe FN 65.

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Die Vermutung, daß Komplexität und Bedeutung als Brücke (und zwar als die gleiche Brücke aus verschiedenen Blickwinkeln) über den kartesischen Schnitt betrachtet werden können,67 hat natürlich auch Konsequenzen für ein Problem, das in der Philosophie unter anderem Titel ebenso lange bekannt wie ungelöst ist: das Problem der psycho-physischen Wechselwirkung. Die hier angedeuteten Perspektiven legen eine Behandlung dieses Problems nahe, die ihm vermutlich gerechter wird als viele seiner historischen Vorläufer. Der Grund dafür besteht darin, daß hier erstmals der Versuch gemacht wird, eine "zweiäugige" Vorgehensweise zu praktizieren, die Gebiete zu heiden Seiten des kartesischen Schnittes ausdrücklich einbezieht. Postkartesianische Wissenschaft? Wenn ein Programm, wie es in diesen abschließenden Bemerkungen bestenfalls angedeutet werden kann, tatsächlich Fuß fassen kann, dann wird es notgedrungen zu einer Wissenschaft führen, deren Kriterien weiter gefaßt und differenzierter formuliert sein werden als die des konventionellen Kartesianismus. Zum Beispiel könnte man ergänzend zu demjenigen Fall, in dem beide genannten Kriterien für Operationalisierbarkeit erfüllt sind, von "SemiOperationalisierbarkeit" sprechen, wenn lediglich eines erfüllt ist. Damit wären die (historisch unterrepräsentierten) Bereiche angesprochen, in denen es um externe, abstrakte bzw. interne, konkrete Zeit geht. Weitere Optionen sind in an anderer Stelle68 angedeutet. Es gilt jedoch sowohl bei dieser als auch in anderen denkbaren Möglichkeiten immer im Auge zu behalten, daß das Meta-Modell, welches für derartige Argumentation erforderlich ist, einseitig abstrakt ist. Wenngleich man hoffen darf, daß es Hinweise auf seine eigene Konkretion liefern kann, so ist es doch an sich von solcher Konkretion verschieden. Solange sie noch aussteht, bleibt zumindest in diesem Punkt der kartesische Schnitt als beschränkendes Element erhalten.

67 H. Atmanspacher: Complexity and meaning as a bridge across the Cartesian cut. Journal ofConsciousness Studies 1, 168-181 (1994). 68 Siehe FN 25, 58.

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik Ein Standardvortrag vor Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern 1

Von Lars Clausen, Kiel

Arno Bamme gewidmet

I.

Das Warnen ist als spezielles Problem allgegenwärtig. Große Warnzentren werden eingerichtet, wenn ganze Gesellschaften gefährdet sind; Warnsysteme sind z.T. deshalb außenpolitisch sozial überhaupt erst relevant geworden - nämlich im Bereich der Warnung im Luftkrieg. Ganze Systeme sind gefährdet. Sie stellen sich Überlebensfragen, - außenpolitisch vor allem angesichts kriegerischer Verwicklungen, - innenpolitisch aber durch die ABC-Risiken, die zunächst als Risiken der Kriegsführung angesehen und - angesichts des Hiroshima-Schocks - für im Frieden eigentlich als nicht vorhanden gesehen wurden; denn nach Hiroshima nahm man zunächst allgemein an, daß diese Risiken von den betroffenen Berufsgruppen (Technikern und Physikern) bei friedlicher Nutzung aller Sorgfalt sicher und also beherrschbar wären. Diese Situationsdiagnose ist heute nicht mehr aufrecht zu erhalten. A-, B- und C-Risiken oder in der Reihenfolge der aktuellen Gefährdung C-, Bund A-Risiken, sind auch im Frieden da, und das Warnsystem ist also auch ein System, das nicht nur "angeknipst" wird, wenn kriegerische Entwicklungen drohen, sondern das im Grunde immer mehr die gesamte Gesellschaft beschäftigt - und sie beschäftigt auf einer noch unvollkommen analysierten Ebene. 1 Der Beitrag lehnt sich eng an Lars Clausen/Wolj R. Dombrowsky: Warnpraxis und Warnlogik, in: Zeitschrift für Soziologie 1984, S. 293-307, an; dort auch Literatur; vgl. auch: Lars Clausen: Krasser sozialer Wandel, Opladen 1994. So versucht unsereins, zaghaft die Güntherlogik fruchtbar zu machen. Das Günther-Netzwerk selbst verfolgt Wichtigeres.

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Die übliche Warnproblematik wird meist als Zeitproblematik angesehen: Man soll durch rechtzeitiges Warnen viel Zeit gewinnen, und in dieser Zeit soll man das machen, was die Warnung gegenstandslos machen wird. Da vom Militärischen her die Warnzeiten immer kürzer werden, ist man hier seit langem verzweifelt. Ja, Deutschland hat ein System von Warnämtern. Diese Warnämter sahen im Kalten Krieg ihr Problem weniger darin, daß sie nicht noch warnen konnten, als darin, daß diese Warnung in den verbleibenden Dezirninuten nichts mehr bewirken können. Dieses Manko spielt im internationalen System eine große Rolle. Das Eigentümliche ist aber nicht nur, daß man immer schlechter warnen kann, sondern die frappante Schlinge, in die hier die Kausalität läuft: Man antizipiert einen Zustand, handelt aufgrund der Antizipation, und diese Antizipation geht in die Kausalkette ein. Diese Kausalschleife, daß man eine antizipierte finale Adäquanz von Handlungen bereits "kausal" macht, könnte uns auf einen ersten Schritt bringen, wobei es ganz sicher nicht genügte, daß Kausalprinzip einfach wegzuwerfen. Es handelt sich zunächst einmal darum, daß sich hier das Problembewußtsein schärft. Dann kommt man langsam in einen ganz normalen Alltag hinein: Wo nämlich immer wieder auftaucht, daß das, was in Fragen von Leben und Tod, Rüstung und Gegenständen von Abrüstungsverhandlungen angesprochen wurde, alles einfach Alltag wird und schon immer gewesen ist. Bislang war es jedoch nicht gefährlich, sich durch diesen Alltag unlogisch durchzumogeln, da ganze Systeme nicht in Frage standen. Analytisch gehe ich im folgenden von zwei Formen des Fehlalarms aus: - einmal von dem Risikoalarm, bei dem man auf eine Wahrscheinlichkeit hin warnt, wo jedoch, dank der Vorkehrungen, die von den Gewarnten getroffen werden, das Ereignis nicht eintritt. Man riskiert, daß es nicht eintritt. - Zweites Problem des Fehlalarms ist der Blinde Alarm. Man warnt vor einer Gefahr, die es gar nicht gibt, und infolgedessen tritt sie auch nicht ein. Mit beiden Warnungen gehen stets Handlungsvorschläge einher - auch mit dem Blinden Alarm. Wenn es sich um tödliche Gefahren handelt, dann sind beide Alarmformen einschneidende gesellschaftliche Vorkommnisse. Paradoxerweise können sie beide den gleichen "Erfolg" haben. Auch der erfolgreiche Alarm sprengt übrigens unsere herkömmliche klassische Logik. Es folgen hier und jetzt ein paar praktische Beispiele, es wird dabei versucht, eine praktische Denkfigur vorzustellen, zugleich eine logische Figur, um dann kraft ihrer weiter fortzuschreiten.

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik

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11. Wer das Feuer studiert, darf es nicht löschen wollen. Das ist die Reinheit des Naturwissenschafters, daß er etwas studiert, das er nicht gleichzeitig verändert. Unsauberkeit, Manipulieren von Experimenten auf das gewünschte Ergebnis hin etc., ist kriminell. Wenn es aber unabsichtlich passiert, dann ist es ein Kunstfehler. Man sollte ein besserer Wissenschafter sein.

Das hat aber immer schon viele Wissenschafter in größere Schwierigkeiten gebracht. Naheliegend ist es bei den Literaturwissenschaftern, die die Dichter liebten. Sie hatten schon immer Schwierigkeiten, die Trivialliteratur gerecht zu behandeln. Juristen, die die Gerechtigkeit suchten, waren auch immer sehr stark in Schwierigkeiten. Gibt es doch eine materielle Gerechtigkeit, die gerade nicht Stoff der Jurisprudenz ist (außerhalb der Rechtsphilosophie). Ganz besonders kritisch steht der Mediziner da, der heilen will: Er unterbricht bzw. beendet ein Krankheitsbild, anstatt es zu studieren. Auch der Sozialwissenschafter, der warnt, ist in dieser schwierigen Situation. Es ist zu beobachten, daß Alltagsmenschen mit solchen Situationen besser fertig werden als Denker. Sie entwickeln nämlich logikgestützt eine doppelte Moral: - einmal mithilfe einer klassische Logik, indem sie über "Wahrheit" und "experimentelles Prüfen" sprechen und sich über den Charakter der "Prognose" auslassen, - sodann aber mithilfe einer (noch) infonnellen. Die benutzen sie zum alltäglichen Durchstehen von Problemen. Glücklicherweise sind die Naturwissenschafter nach vorübergehender Entfernung von den Geisteswissenschaftern auch wieder in dieses Dilemma zurückgekehrt, seit sie sich mit Problemen beschäftigen, ja sie generieren, bei denen man in der Tat nicht mehr genau das darstellende Subjekt vom dargestellten Objekt trennen kann. Die ganze Scientific Community steht vor diesem Problem. Aktuell wird es aber erst da, wo es zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem wird. Vorher kann man diese Aporien durch Fachbräuche überbrücken. Die klassische, naturwissenschaftlich lang erprobte, erfolgreiche Logik ist nicht unbekannt. Sie geht davon aus, daß z. B. die Welt der Objekte unabhängig davon ist, was das Subjekt darüber denkt. Das denkend forschende Subjekt darf sich nicht von den Objekten verblenden lassen, sondern muß als Prüfgröße in sich eine feste, unbeirrbare Logik festhalten. Es geht also in der klassischen Logik nur um das räsonnierende und experimentierende Subjekt "S" - und alles, was nicht ,,s" ist, das ist dann die objektive Welt ,,0". So teilt sich für uns die Welt auf. Wir hatten gewisse Probleme damit, da die "Subjekte" in ihrer Objektwelt immer andere "Subjekte", d. h. Kollegen, hatten, und man immer fingieren mußte, es gäbe ein ideelles Gesamtsubjekt. Das wurde dann durch die Bräuche der Gelehrtenrepublik dargestellt oder durch die angebliche (oder wirkliche?) Vergleichbar-

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keit von Experimenten und ihrer Auffassung durch die experimentierenden Subjekte. Man kam sehr gut damit durch und konnte sich also im Einzelfall dennoch damit behelfen, von seiner· eigenen Position her, daß überall dort, wo man nicht sei, die "Objekte" seien. Aber um Eines festzuhalten - und das ist eben ihre ,,zweiwertigkeit" -, muß die Logik auf das Andere immer verzichten: Entweder man hat entweder Subjekt oder Objekt, oder man hat weder nicht-Subjekt noch nicht-Objekt, und das nicht-Subjekt ist eben nicht identisch mit dem nicht-Objekt. Die bekannte logische Tafel dafür fußt auf Aristoteles: Sie hat also nur die konventionellen Werte "wahr" und "falsch". Schaubild 1

2-wertige Wahrheitstafel

....,s

Zeile

S

0

1

W

W

F

2

W

F

W

3

F

W

W

4

F

F

F

;j:

-.0

Das ist die einfache kombinatorische Möglichkeit, die hier zuhanden ist: Subjekt und Objekt könne nicht gleichzeitig "wahr" sein, genauso, wie auch nicht-Subjekt und nicht-Objekt. Auch können sie nicht beide falsch sein. "Wahr" sind also nur die 2. und 3. Zeile (v gl. Schaubild 1). Das ist die zweiwertige Wahrheitstafel und damit kommen wir ganz gut aus. Die Frage, ob das genüge, wird von Leuten aufgeworfen, die nicht Aristoteliker sind. Und wenn Sie im Johannes-Evangelium lesen: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", dann haben sie wahrscheinlich eine l-wertige Logik, die nur diesen gemeinsamen Wert hat, wo das Subjekt, der Allmächtige, und wir, seine Objekte, gemeinsam wahr sind. Nichts für uns: Das ist eine Logik, von der sich die Wissenschafter mit der größten Anstrengung befreit haben, was eine ihrer Bedingungen unseres Erfolges war. Jetzt kommt man an das Dilemma heran. Wer prognostiziert und nicht warnt, der gibt eine Prognose über etwas, worin er nicht vorkommt. Dies gibt ein Bild der Objektwelt, ohne daß man ihr unterworfen ist. Man ist gerade nicht ihr Teil. Das führte schon in der klassischen Philosophie zu der Frage, daß einem eigentlich die

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Dinge an sich unerkennbar fern seien. Das Kantsche Ding-an-sich ist Ihnen sicher allen geläufig. Wir müssen es denken können, aber erreichen können wir es nicht. Wir können nur Eigenschaften wahrnehmen, Eigenschaften messen. Was das Ding aber sei, das diese Eigenschaft trägt, ist uns nicht zugänglich. Das Objekt seinerseits (Schaubild 1,3. Zeile) hat, Gott sei Dank, keine Ohren zu hören. Um des Subjekts willen ändert es sich nicht. Und sein Kausalablauf ändert sich nicht, weil die Prognose keine zusätzlichen Causa hineinbringt. "S" dringt also nicht kausal in die Objektwelt ein. Der ideale, exakte Naturwissenschafter kann nicht warnen. Er müßte denn aufhören, das klar abgegrenzte Subjekt zu sein, er müßte aufhören, klassischer Wissenschafter im Sinne der 2-wertigen Logik zu sein. Damit kommen wir also auf die bekannten Dilemmata, die die Wissenschaftstheoretiker kennen, zu sprechen. Sind Sie einer der Falsifikatoren, der nur Falsifikationsstrategien anerkennt? Das wäre ja das naturwissenschaftliche Modell: "Alle Schwäne sind weiß" ist widerlegbar mit dem ersten schwarzen Schwan, der auftaucht. Dann haben Sie das Problem, daß die Basis-Sätze von Carnap u.a. bodenlos sind. Im Gegensatz dazu werden die Verifikatoren natürlich immer die Schwierigkeit haben, daß sie in das hineinfummeln, dessen Ablauf sie vorgeben. Das ist ja das Problem des Wissenschaftlichen Sozialismus. Er gibt ein ganz typisches Beispiel einer sich selbst als Wissenschafter sehenden Gruppe von Subjekten, die ständig das ändert, was ohnehin geschieht, in die Richtung, in die es "ohnehin" läuft. In diesem Dilemma haben sich viele Wissenschafter zum lebenslangen Durchmogeln entschieden und theoretisch mit dem Vokabular einer noch nicht formalisierten hegeIschen Dialektik argumentiert. Doch von einem gewissen Zeitpunkt an sind selbst Physiker fromm geworden. Damit sind sie dann wieder auf die 1. Zeile (vgl. Schaubild 1) gegangen - und das eben möchte ich vermeiden. Als fundierter, beruflich verpflichteter Wamer nehme ich dann einfach mal die, welche das beruflich tun müssen, zum Musterbeispiel: das Personal eines Warnamtes. Wenn dieses seine berufliche Rechtfertigung und Integrität betonen will, seine Stützen sucht, dann muß es sich im Grunde als gute, angewandte Naturwissenschaftercrew darstellen. Es muß zeigen, daß es das kann, und genau die folgenlose Prognose beherrschen. Das ist im Grunde seine berufliche Basis. Egal, welchen Berufsweg nun in einzelnen Warnämtern die Leute gegangen sind, die dort gelandet sind: Sie haben entweder "on the job" oder eben im Studium eine naturwissenschaftlich geprägte Ausbildung hinter sich gebracht. Aber praktisch beschmutzt man sich doch mit doppelter Moral: Einerseits ist einem "Wahrheit" für "nicht-Subjekt ungleich nicht-Objekt" nur bei folgenloser Prognose (Schaubild 1, Zeile 2), oder nur bei Abwesenheit (Zeile 3) sicher. Und das hält man als beruflicher Wamer nicht durch. (Dies ist auch ein typisches Soziologenproblem.)

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Also muß der Warner das Risiko auf sich nehmen, bereits auf eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Gefahr hin zu warnen. Und jetzt kommen seine drei Warnprobleme - der Risikoalarm, - der Blinde Alarm und - der erfolgreiche Alarm als Karriereprobleme auf ihn zu.

III. Der Risikoalarm Er ist, soweit er von einem Warnamt ausgeht, und einen ernstlichen Luftalarm im Frieden voraussagt, ein hohes Risiko für den Warnamtsleiter selbst. Soweit ein solcher Alarm überhaupt funktioniert, kommt es zu hohen wirtschaftlichen Kosten. Die hohen wirtschaftlichen Kosten liegen zumal - in den Evakuierungskosten und - im Abbruch der Produktion. Auch beim Stillen Alarm als Risikoalarm. (In den großen Produktionsstätten funktioniert er etwas schneller als der Laute Alarm für die Bevölkerung.) Man muß dann z. B. Hochöfen erkalten lassen, andere Aggregate stillegen, die Produktion unterbrechen, und das ist teuer. Wenn die Bevölkerung Schutz sucht, ist es auch teuer - und wenn es an Schutzmöglichkeiten mangelt, dann ist es sogar ungemein teuer, weil ein anschließender Katzenjammer und eine Legitimationskrise für diejenigen auftritt, die Schutzmaßnahmen hätten bereitstellen sollen. (Diese beiden Risiken sind noch ganz unabhängig von dem Risiko, das wieder die Abrüstungstheoretiker beschäftigt, nämlich daß die "eigene Seite" sofort den Gegenschlag auslöst, d. h. den Krieg.) Wenn Sie vor 1990 in ein Warnamt gingen, konnten Sie sich dort berichten lassen, wie die Luftwaffen sich gegenseitig ärgerten. Denn die beiden Seiten wußten, daß die einen bis Polen und die anderen bis Frankreich hineinhören konnten, und daß sie vielerlei auf ihren Bildschirmen sahen. Beide Seiten hatten Alarmgrenzen, von wo ab sie nervös wurden - Stufe 1, 2, 3 - und wo der Warnamtsleiter sich selbst in den großen Saal hinunterbegab. Die Luftwaffen spielten dann miteinander, die flogen ran und drehten wieder ab, und das wußten beide Seiten auch voneinander. Das ist eine Art, sich im Frieden gegenseitig die Zeit zu vertreiben. Dies ist natürlich nicht sehr günstig für die Entschlußkraft der Warnämter. Das wollten die Beteiligten auch. Und immer konnte ein Anflug auch ,echt' sein. Angenommen, man fällt auf einen Anflug herein und warnt, daraufhin dreht die andere Seite ab und greift also nicht an - das wird sehr teuer. Das ist ein Karriereproblem. Der Warnende hat etwas getan, was "vollkommen überflüssig" war. Er

Gesellschaftliche Wamprobleme in mehrwertiger Logik

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hat umsonst einen Risiko-Alarm ausgelöst. Was werden seine Vorgesetzten jetzt mit ihm machen? Churchill war ja bekannt dafür, daß er seine Generale unabhängig vom Ausgang der Schlacht beförderte, sofern sie nur angriffen. Er wußte, andernfalls würden sie nie wieder angreifen, um verlorene Schlachten zu vermeiden. Er hat also rücksichtslos eine Prämie auf Angriff gesetzt. Das sagt er in seinen Memoiren. Aber der Innenminister, der eine Prämie auf Risiko-Alarme setzte, der müßte in unserem System erst noch gesucht werden. Das ist im Grunde das praktische Problem, das ich später theoretisch noch behandeln werde: Es liegt eine berufliche Eventualprämie darin, möglichst spät zu warnen. Angesichts der kurzen Warnzeiten ist das heute nicht ungefährlich. IV. Der Blinde Alarm Nun stellen Sie sich aber einen reinen Blinden Alarm vor, der eine nicht existente Gefahr an die Wand malt und ganz wirkungslose Maßnahmen vorschlägt. Wenn diese dann ergriffen werden - und das ist das Unangenehme -, wenn dem Blinden Alarm entsprechende Maßnahmen folgen, so tritt die Gefahr nicht ein, und das kann ebenfalls sehr kostenträchtig sein. Nur ist es nicht so riskant für den Warner. Zu Blinden Alarmen braucht man nämlich weder ein besonderes Warnwesen, das eher kostenintensiv ist, noch ein besonderes Warnamt unter der Aufsicht des Bundesamtes für Zivilschutz, und auch persönlich riskiert man nicht die Früchte einer vielleicht sehr entbehrungsreichen und langen Ausbildung. Man spart sich Risiken und erspart damit auch seiner Umwelt hohe Investitionen in ihn und die Ämter. Dafür hat man aber gegebenenfalls Erfolg! Wenn man sich selbst betrügt, ist das verlockend. Es ist auch für Leute, die andere betrügen, verlockend. Bei der Alltagsunsicherheit unseres Warnwesens, bei dessen Scheu vor teuren Manöveralarmen (die immerhin der Übung dienlich wären), kann der Warner darauf rechnen, daß das Publikum seine eigenen, unbestimmten und von der offiziellen Warnpolitik praktisch unbeantworteten Ängste auf ihn zulenkt, auf den Blindalarmierenden. Bei Soziologen gilt das als Angebot von "Charisma", d. h. von der Eigenschaft, daß jemand allewelt aus schrecklichen Situationen "erlöst". Das ist eine Qualität, die vielen Leuten angesonnen wird, Amtsinhaber wie z. B. Professoren leben davon, daß sie "Amtscharisma" haben. Es gibt aber recht reines persönliches Charisma: Heilande in schweren Krisen. Dieses Charisma, das auch von der Bevölkerung gewollt sein muß (weswegen viele Heilande nie zum Zuge kommen, es muß auch die aktuelle Konstellation für sie da sein), macht dem professionellen Warnwesen Konkurrenz. Falschen Propheten gibt ihr persönliches Charisma eine ganz gute publizistische Chance. Sie ziehen womöglich dann dem Warnwesen budgetmäßige Ressourcen

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ab, wenn etwa Politiker angesichts Falscher Propheten auf Massenemotionen mit Schutzprojekten reagieren, die symbolisch sind. Das kann sehr teuer sein, wenn es Rüstungs-, Ausländer- oder Rechtspolitik einbezieht. Außerdem gibt es Personalunionen zwischen Politikern und Falschen Propheten. Auch das ist für den authentischen Warndienst ungünstig.

V. Der erfolgreiche Alarm

In Erfolg liegt eine dritte berufliche Gefahr. Das klingt nun sehr paradox. Aber ich möchte versuchen, sie darzulegen. Die erste Frage, die sich erheben wird, ist: Hat man des Guten zuviel getan? Kurioserweise lasten z. B. bei einem Viehseuchenalarm Bauernverbände und Leitartikler dem ministeriellen Alarmgeber an, was er selber als Erfolg seiner Schutzvorkehrungen gewürdigt wissen möchte, daß sich z. B. die Schweinepest trotz Massentierhaltung dank Alarm und gezielter Notschlachtungen nicht ausgebreitet habe. Dies belegt nach Ansicht der Kritiker aber die These, daß der Alarm überflüssig gewesen sei - nach Auffassung des Ministers hingegen, daß der Alarm das Schlimmste eben noch verhindert hat. Das ist ein Risiko im erfolgreichen Alarm. Es bedeutet nämlich, daß der Alarmgeber vom Scharlatan, vom falschen Propheten, nicht richtig zu unterscheiden ist. "Am 31. Mai geht die Welt unter. Betet!" Eine überwiegende Anzahl der Bevölkerung betet - und am 31. Mai geht die Welt nicht unter. Wie wollen Sie das logisch unterscheiden von: "Am 31. Mai gibt es Smog. Stellt die Autos ab!"? Man stellt die Autos ab, und am 31. Mai gibt es keinen Smog. Die Praktiker kommen damit klar, man hat ja sein Urteil; aber logisch ist es im zweiten Fall eine sich selbst anhilierende Prognose; und im ersten ist es sinnloses Beten. Das ist kein Problem, mit dem man nur logischen Spitzentanz üben sollte. Sondern es wird bei wachsenden Gefahren immer wichtiger. Noch ein 2. Problem des erfolgreichen Alarms: Nämlich, daß sich nach vielen erfolgreichen Alarmen das bedrohte Publikum der Gefährlichkeit dessen entwöhnt, vor dem gewarnt wird. Längerfristig kann das nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Warnfachleute fatal werden. Das Problem taucht vor allem im Bereich der B-Risiken auf, wo sie durch die erfolgreiche Bekämpfung von Seuchen - zunächst im Publikum, dann auch bei den Ärzten - die Fähigkeit vernichten, Seuchen zu bekämpfen; beim Publikum ingestalt der aussterbenden Faustregeln, die die Leute hatten, bevor die Medizin soweit war, bei den Ärzten dadurch, daß sie eben nicht mehr diagnostizieren können: Sie sehen es dem vergessenen Krankheitsbild nicht mehr so schnell an. Das ist ein Problem, das im Bereich der Pocken deshalb

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik

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interessant ist, weil durch einen justizfönnigen Akt Pocken als ausgerottet erklärt sind. Darin liegen gerade im B- Bereich ganz gefährliche Risiken. Dann gibt es noch eine 3., besondere Schwierigkeit. Diese kommt schon näher an das heran, was ich in der Zuspitzung sagen möchte. Sie nämlich taucht auf, wenn das Objekt, vor dem gewarnt wird, Ohren hat. Sie warnen als gute Verfassungsschutz beamtin die Ministerpräsidentin eines Bundeslandes vor einem Attentat. Aber irgendeine Stelle leckt, die Attentäterin erfährt es und tritt vom Versuch zurück. Die arme Ministerpräsidentin wird mit einem Zug Wachpersonal mehr losgeschickt, und es passiert nichts. Die Attentäterin sitzt in ihrer konspirativen Wohnung und sieht sich das Infotainment-Fernsehen an. Das ist die klarste und schärfste Form, in der die Prognose das Prognostizierte vernichten kann, wenn sie warnt. Man hat gewarnt, es spielt sich nichts ab. In der Praxis ist also der professionell korrekte Warner vom Falschen Propheten nicht gut unterscheidbar, denn die Abfolge: Warnung, Gegenmaßnahme, NichtEintritt der Gefahr, sie ist für den Laien ähnlich. (Ich lasse mal den Nicht-Scharlatan und Nicht-Fachmann, der das Richtige voraussagt, die Figur des Propheten, hier weg. Er wirft die gleichen logischen Probleme auf wie der Falsche Prophet. Aber für uns ist das beruflich nicht so interessant.) Wenn sich der professionelle Warner schließlich verteidigt, nachdem er gewarnt hat und nichts eingetreten ist, dann ist er als Gefahrenfachmann in der mißlichen Lage, daß er mit jemandem konkurrieren muß, der sich leichter an die Ängste des Publikums schmiegen kann. Er müßte' erklären, wie gut seine Apparate und wie gut seine Ausbildung seien. Das zu vennitteln, fällt ihm wesentlich schwerer als dem mit ihm konkurrierenden Falschen Propheten, der seine Arten der Erleuchtung und des Durchblicks leichter vennitteln kann, weil er einer Charisma-Nachfrage ein Angebot gemacht hat. Eigentümlicherweise ist der falsche Prophet auch in der Lage, wenn die Leute vor dem 31. Mai gebetet haben und der Schaden trotzdem eintritt, zu sagen: "Ihr habt nicht genug gebetet." Er ist dann schön aus dem Dilemmaheraus. Der Warnmann hingegen muß sich andere Sachen einfallen lassen: Er hätte noch bessere Warnämter und noch mehr Geld haben müssen. Das ist aber nicht die Art der Argumentation, die in diesem Fall voraussehbar die größeren Erfolge hat. Denn als professioneller Warner kann er sich mit seinen Vorwürfen nicht an die Ängste des Publikums schmiegen. Stattdessen muß er sich an die Maßstäbe halten, nach denen er ausgebildet ist, und die z. B. naturwissenschaftlich sind. Das ist unbequem, weil sachlich. Um das durchzuhalten, braucht er ein stabiles soziales Se1bstbewußtsein - im Grunde ein Berufsbild wie ein Arzt. Aber die Ärzte haben lange an ihrem Se1bstbewußtsein durch professionelle Abstützen gearbeitet. Die Warnfachleute hingegen haben kein Berufsbild. Man kennt sie ja gar nicht. Und damit haben sie es noch einmal schlechter. Doch das ist kein logisches, sondern ein berufssoziologisches Problem.

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VI. Versuch einer güntherlogischen Bearbeitung

Ich habe versucht, das Problem so darzustellen, wie es sich in der Praxis manifestiert. Die logische Figur, die ich am Anfang aufstellte - eine Objektwelt, die mit dem erkennenden Subjekt unvereinbar ist -, diese ehrwürdige Ausgeburt der 2-wertigen Logik, geht von mehreren Axiomen aus, die Sie wahrscheinlich bei Nachdenken auch noch rekapitulieren könnten. Dasjenige, von dem ich meine, es ausgeht, ist das berühmte tertium non datur. Es gibt nur "A" oder "non-A". Sie erinnern sich seiner gewiß, auch wenn Sie es nicht täglich zitieren. Es hat sich aber gerade dieses Axiom, meine ich, für unser Problem als unbehilflich bis zur Ungeeignetheit bewiesen. Das läßt vermuten, daß die bisherige Logik nicht falsch, aber inkomplett ist. Sie ist also richtig, aber sie genügt nicht. Sie ist zu klein. Ich gehe jetzt einmal vom zunächst unbezweifeltem Subjekt, dem akademisch und professionell geschulten Warner ,,s", aus. Das Subjekt muß damit rechnen, daß, wenn er nun warnt, man entweder (a) nicht auf ihn höre, oder daß man gar (b) auf ihn höre und irgend etwas anderes auf die Gefahr hin Bezogenes tue oder unterlasse, jedenfalls reagiere. Das Unterlassen müßte dann das Warnen reflektiert haben und repräsentierte nicht mehr das taube Fortwursteln des Objekts, wenn eine Prognose gefallen ist. Der Fall (a) ist ganz problemlos für den Logiker: das Objekt ,,0" bleibt abgeschiedenes Nicht-Subjekt (nicht-S = 0). Im zweiten Fall (b) aber ist die nunmehr gewarnte Objektwelt einerseits weder mehr reines Objekt, weil sie vom Subjekt mehr als nur betrachtet, nämlich nach seinem Willen kausal beeinflußt worden ist; noch ist es anderseits, wie immer es den Alarm verarbeitet, zum Subjekt geworden. (Es ist nicht identisch mit dem Subjekt). Es ist nicht mehr "Objekt" und nicht "Subjekt"! Diese eigentümliche Negation des Objekts muß näher betrachtet werden. Sie zwingt uns, aus der klassischen 2-wertigen Logik auszubrechen. Wenn in ihr noch die Verneinung des Subjekts, formal gesprochen, eben das Objekt war (nicht-S = 0), so ist - anders als in der 2-wertigen Logik! - die doppelte Verneinung (nicht-"nicht-S") - nicht eben wie in der klassischen Logik das Subjekt, sondern etwas anderes (nicht-"nicht-S" i- S). Eine andere Form der Negation ist jetzt eingetreten. Ganz vorsichtige Leute würden an dieser Stelle sagen: Junge, du benutzt zwei verschiedene Negatoren als Operatoren. Mag sein. Ich vertiefe hier die Fragen der Operatoren nicht, weil das zur Theorie der Transfunktionen führt, sondern gehe jetzt sehr einfach davon aus: nicht-"nicht-S" i- S. Es liegt nun ein dritter Wahrheitswert vor, der weder "wahr" noch falsch ist. Nennen wir ihn "V". Dieser Ausdruck "V" ist sehr viel reicher als die beiden anderen. Ich bin ziemlich sicher, daß es Ihnen gehen wird wie Logikern vom Fach. Sie werden nämlich nicht nicken und sagen: "Das ist Günther-Logik", weil die Logiker vom Fach die Günther-Logik auch nicht gut kennen.

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik

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Mehrwertige Logik ist den Logikern bekannt, bereits seit längerem, im wesentlichen durch die Warschauer Schule eingeführt. Aber diese Einführung des V-Wertes ist tatsächlich ganz typisch für die Überlegungen des 1984 verstorbenen Gotthard Günther. (Seine Logik ist endlichwertig, anders als die unendlichwertige Modallogik der Warschauer.) Ich erweitere also die Wahrheitstafel.

Schaubild 2

Erste Einführung eines 3. Wertes in die Wahrheitstafel

Zeile

5

0

1

W

W

F

2

W

F

W

3

F

W

W

4

F

F

F

5

W

V

V

.....5

:$

.....0

Hier sehen Sie es. Eine 5. Zeile wird eingeführt. Das Objekt ist verneint, aber weder wahr noch falsch. Es ist zurückgewiesen, "verweigert". Das bedeutet, daß ein solcher Ausdruck einen anderen Wert annimmt. Das ist, solange man sich sozusagen noch in der Subjekt-Objekt-Ebene bewegt, die einzige Möglichkeit, das zunächst einmal darzustellen, was ich meine, was hier künftig erweitert zu werden verdient. Ich versuche jetzt, einen Pfad zu skizzieren, wie man das machen kann. Die Zeile 5 gibt die Subjekt-Objekt-Beziehung wieder, wie sie vom korrekten Wamer aus gesehen wird. Sofort erscheint es unbefriedigend, weil diesem neu-eingeführten "V-Wert" nicht mehr als die nicht zur "Position" zurückkehrende "doppelte Negation" zugewiesen wird. Das ist jedoch ein bißchen dürftig. Läßt sich denn hier nicht Genaueres angeben? Ich urteile, man kann. Eine Differenzierung möchte ich noch einführen, weitere nur andeuten. Diese erste Differenzierung hat bereits tiefgreifende Konsequenzen. Dazu bediene ich mich eines Berufsproblems, das leider nicht das Ihre, sondern wieder eines der Soziologen ist. Unser Problem sind nämlich die Alternativ-Fragen in unseren Fragebögen.

208

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Fragen wir: "Sind Sie für die CDU - ja oder nein?", oder: "Glauben Sie, daß sich alles besser entwickeln wird - ja oder nein?", oder: "Lieben Sie Pudel - ja oder nein?", so antworten die Leute und sagen: "Weiß nicht", oder "Wenn ich einen Pudel hätte, könnte ich es Ihnen vielleicht sagen. Wir hatten noch keinen." Dann kreuzt der Interviewer hinten auf seinem Fragebogen die Kategorie "Weiß nicht" (WN) an. Es kann aber auch sein, daß er dem steinernen Blick eines Umfragegeprüften begegnet oder hört: "Da äußere ich mich lieber nicht." Dann wird "Keine Antwort" (KA) angekreuzt. Das sind zwei verschiedene Verweigerungen: "Ich weiß nicht" und "Keine Antwort". Sie sind logisch ganz unterschiedlichen Charakters und stecken beide in "V", als "VWN" und als "V KA". 1. Die" Weiß nicht "-Kategorie Die "Weiß-nicht"-Kategorie ist uns im Grunde wohlbekannt als Problem der Wahrscheinlichkeit. Sie arbeiten mit dem Problem permanent. Die Wahrscheinlichkeitskategorie ist seit Cartesius rechnerisch oder symbolisch darstellbar durch 0 (= absolut unwahrscheinlich) bis 1 (= absolut sicher). Dazwischen liegt Eventuelles. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich mit der Faust auf das Pult hier schlage und ein Wasserglas zerstöre, liegt zwischen 0 und 1 und ist in der Logik schon lange behandelt worden, nämlich von der Warschauer Schule, insbesondere von Lukasiewicz. "Weiß nicht" ist die typische und hinreichende Kategorie, die der Risikoalarm rechtfertigt. Weder tritt die Gefahr mit Sicherheit ein, noch mit Sicherheit nicht ein. Jede Wahrscheinlichkeit zwischen diesen Grenzwerten ist möglich und charakterisiert die risikoalarm-typische Zurückweisung von W samt F, also unser V. Man kann versuchen, das in die übliche Prädikatenlogik einzuführen, in die Schlußfolgerungen etc. Dann bekommt man als Ergebnis, was die Logiker eben Modallogik nennen. Ihr ist eine Zeitlang nachgegangen worden, dann aber hat man gesagt, es brächte wenig. Im Augenblick ist sie nicht besonders in Mode, steht aber immer noch in den Logikbüchern. Doch mit ihr wird eine ganz bestimmte Form der Verweigerung, nämlich die "wdß nicht"-Verweigerung darstellbar. Freilich stellen wir fest, daß die zweite Form der Verweigerung - dieser steinerne Blick, Sie erinnern sich - nicht damit beschrieben wird. Wir können uns also nicht damit beruhigen, in einer logischen Figur einzig das abzubilden, daß das Subjekt von einer bloß teilweise zugänglichen Objektwelt ausgehen müsse (auf Wahrscheinlichkeit hin also warne), und daß die Objektwelt teilweise eben reagiere (Warnungen für relativ solide halte und in deren Grenzen ernst nehmen). Formal-logisch wurde zwar schon die 2-wertige Logik, die ehemals so nützliche wie jetzt hinderliche, erweitert.

Gesellschaftliche Wamprobleme in mehrwertiger Logik

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Doch ist das Dilemma noch nicht überwunden, das man unter den zusätzlichen Motiven vermuten muß, um deren wegen Leute keine Antwort geben, wenn man sie vor eine Alternative stellt. 2. Die "Keine Antwort "-Kategorie

"Keine Antwort" enthält Reaktionen auf eine besondere Tatsache. Nämlich darauf, daß die gewarnte Objektwelt "Subjekte-für-sich" sind, die eine bestimmte Qualität haben, die auch der Warner hat: Sie können reflektieren! Sie reflektieren ihre eigene Antwort als nicht-mehr "reine" Objekte, und zwar auf deren Wirkungen im Kausalgeschehen: "Werde ich dir sagen, ob ich für oder gegen die CDU bin? Du setzt das doch nur in Kochanweisungen für den Wahlkampf der CDU oder der SPD um. Ich werde mich nicht äußern. Das schädigt dich und vielleicht auch deinen Auftraggeber. Warum soll ich dir das verraten?" Wollte der Interviewer fragen: "Fahren Sie schwarz - ja oder nein?", so wäre noch viel klarer, warum einer überhaupt keine Antwort darauf gibt (oder womöglich lügt). Als Kalkülliegt zugrunde: Was wird der Warnende mit meiner Antwort machen? (Ebenso reflektiert der Warnende: "Was wird der Hörer mit meiner Warnung machen ?") Das ist das Problem der antizipatorischen Adäquanzvorstellungen, die in die Kausalität zurückfließen. Ein Jeder ist der Überlegung fähig, daß er antwortend eine Kausallawine lostreten kann, die möglicherweise ihn selbst verschüttet. Wer das bedenkt, sagt weder ja noch nein. Das ist keine Wahrscheinlichkeitseinschätzung für Schadenseintritt, sondern es ist eine andere Art "V", die ich sehr formal als Aufschub durch Reflexion benenne. Herbert Marcuse hätte gesagt: Der Mensch hält inne. Umgangssprachlich: Ich kann mich bremsen. Es gibt in uns auch Jas und Neins, die diese Art der Reflexion aufgenommen haben, z. B. ich lüge den Befrager an. Aber ich untersuche diese Reflexionen jetzt nicht. Das Problem ufert sonst in alle Richtungen aus. Die Objekt- wie auch die Subjektposition wird verweigert (man ist nicht mehr reines Objekt, aber geht auch nicht im Subjekt auf), weil man sich seine Position vorbehält. Indem "das Objekt" reflektiert, und zwar sich selber als ein Subjekt sieht, das ein Signal aus seiner ihm eigenen Objektwelt aufnimmt (denn das warnende Subjekt ist im 2-wertigen Bereich für ihn nun wiederum Objekt), ändert es seine logische Qualität. Um jetzt die sich abzeichnenden, im Gewarnten wie im Warnenden liegenden, Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Reflexionen skizzenhaft darzustellen und praktisch zu erörtern, hier das heute umfangreichste Schaubild 3 von mir. Es enthält die komplette Wahrheitstafel für 3 Werte mit 9 Zeilen.

14 Selbstorganisation. Bd. 6

V

V V

V V

W

F V

W

F

V

V

V

5

6

7

8

9

V

V

F

4

F

F

3

W

F

F

W

2

F

:1=

W

..... 8

W

W

1

0

W

S

Zeile

hier. Itlaaaiache lIahrheitststel (11:1')

ftanaklaaaiecbe liahrbeltststel (11' 1'. V)

bis

.....0

Schaubild 3: 3-wertige Wahrheitstafel

I

,

f

'"g

in

o

IV

-

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik

211

Im Groben: Es gibt also im Wert "V" einmal die unendlich-vielen Werte, die auf denkbare Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 zurückkehren, VWN , und einmal die endlich-vielen (mehr aber als 2), soviel wie es reflektierende Subjekte gibt, VKA . "V" ist somit vorerst eine Sammelkategorie. Schon begreift man, warum Gotthard Günther sagt: Es gibt überhaupt nur zwei interessante Weisen, in der man über die 2-wertige Logik hinausgehen kann, nämlich eine unendlich-wertige Logik und eine endlich-wertige, wofür im Grunde schon der dritte, aber feste Wert reicht, um zunächst einmal das System zu zerbrechen. Tatsächlich ist aber die endlich-wertige Logik von Günther mit der unendlich-wertigen von ukasiewicz nicht zu vergleichen und sie ist - wie ich versuche darzustellen - imstande, ganz andere Tatsachen zu beschreiben, und das ist wichtig. Wir stellen zum Ingrimm beider streitenden Schulen fest, daß wir beide Logiken brauchen können. Die Zeile 5 des Schaubildes 3 wurde bereits angesprochen, als die Unausweichlichkeit des Wertes "V" behauptet wurde. "V" an der ObjektsteIle ist das Gegenüber des fundiert-korrekt warnenden Subjekts "S". Der reine Risikoalarm ist dargestellt, auch der Fall des erfolgreichen Alarms ist darstellbar. Was aber, wenn wir hier das "V" namens ,,keine Antwort" einsetzen, als Qualität des "V"? Was würde die reflektierende Kritik des gewarnten Objektes (= in seinen eigenen Augen natürlich reflektierendes Subjekt) darstellen, die zwar die professionelle Fundierung womöglich voll akzeptiert, aber das ganze Warnen für falsch hält - ? Und das gibt es auch wirklich. Es gibt also Leute, die aus Kritik am Warnwesen als einem Teil des Zivilschutzes (einerseit Teil der Zivilverteidigung, andererseits Teil der Nato-Gesamtverteidigung) ihm kritisch gegenüberstehen und sich mit der Antwort zurückhalten. Ich behaupte, daß das Signal "VKA" der Inhalt der Verweigerung jener Ärzte und Schwestern ist, die sagten: "Wir lassen uns nicht für den Katastrophenfall ausbilden, denn Katastrophenmedizin, das ist: Verteidigung, Nato; sie erhöht die Kriegsgefahr. Da machen wir nicht mit." Die sehen sich sofort dem Vorwurf gegenüber: "Aha, ihr wollt also keine Ärzte mehr sein. Ihr würdet niemandem helfen". Dann mögen sie sagen: "Natürlich, wenn es soweit ist, wir helfen. Aber Ausbilden und Versprechen kommen für uns nicht in Frage." Ausdrücken können sie es 2-wertig aber nur dadurch, daß sie sagen: "Wir wollen dann keine Ärzte sein". Moralisch ein großes Problem. (Es ist vorhersehbar, daß diese Mediziner auch helfen und desertieren wie andere Mediziner, und daß insofern praktisch kein großer Unterschied besteht.) In der Logik der Sozialwissenschaften sieht man hier ein "VKA " in der Protest-Unterschrift. Jetzt muß der Warner darauf reagieren. Die Zeile 6 erlaubt, noch mehr darzustellen. Das warnende Subjekt ist jetzt ausgeblendet, "F" steht an der Stelle, aber Wahrscheinlichkeitsrechnung und Reflexionspotential lassen es offen, was auf der Objekt-Stelle vorliegt (V). Sie finden es in der Wirklichkeit sehr stark als Haltung von Menschen a la "Alles kann sich ändern, oder nicht, man kann ja doch nichts machen. Kein Mensch kann das vorher14*

212

Lars Clausen

sagen" (das geht in Richtung "VWN") oder: "Die machen mit uns, was sie wollen, die warnen oder vergessen uns" (das geht in Richtung "VKA "). Hier kann man sich, weil Reaktionen auf Nichtwarnungen und Nichtreize und Antworten auf Nichtfragen sinnlos scheinen, einerseits auf "alles Mögliche" gefaßt machen (das ist die typische fatalistische Position, die man auch in der Empirie beobachten kann), andererseits bedeutet das nicht, daß man nicht überleben will. Man sieht sich nur in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis, wo man auf der Subjektseite ein "F" sieht und auf seiner Seite das "VWN " hat. Im Grunde ist man ein "Durchwurstler". Oder man sucht eine "unbetroffene" Position. Dazu verhelfen Religionen, etwa die Position der Unsterblichkeit der Seele: "Mir kann nichts geschehen." "V KA" ist die anspruchsvollere Haltung, denn bei "VWN " kann man in den Tag hineinleben, und das ist der praktische Fatalismus vieler Megapolis-Fellachen. Die Zeilen 7 und 8 erbringen eine ganz typische Problematik: Wir hatten soeben ein Problem und merkten, daß wir mit dem Herkömmlichen nicht auskommen würden. Wir brachen güntherlogisch aus. Gut so. Nur: Die Güntherlogik bietet auf einmal zuviele Lösungen an. Nur um anzudeuten: Ich würde versuchen, mithilfe der Zeilen 7 und 8 biosoziologische, mithin evolutionäre Positionen logisch aufzufangen, so z. B. - in Zeile 7 das Warnen im Tier-Mensch-Übergangsfeld und - in Zeile 8 die Bedeutung des Traumes. Vorerst gehe jetzt nur auf die letzte Zeile - Zeile 9 - ein. Schaubild 4

2-wertige Kombinationen der Zurückweisungen VKA undVwN

VKA

VrIIH

i

W

w

ii

w

F

iii

F

w

iv

F

F

Zeile

Ich baue im Schaubild 4 jetzt noch einmal auf einer 2-wertigen Kombination der Zurückweisungen "V" (KA und WN) auf. Beim einzelnen Menschen kann ja durchaus beides vorhanden sein. Ich möchte also zunächst keine Aussagen darüber

Gesellschaftliche Warnprobleme in mehrwertiger Logik

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machen, was "wahr" und was "falsch" ist, sondern will nur einfach beschreiben, was hier vorliegt. Derjenige, der ein reines "VWN " praktiziert (Zeile iii), ist im Grunde der praktische "Durchwurstler" oder - in vornehmerer Form - der Mann, der als Politiker an piecemeal engineering, z. B. an Jod-Einnahme nach A-Alarm glaubt: "Man muß nach Wahrscheinlichkeiten handeln. Politik ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst". Sie wissen, es gibt viele VwwMaterien, die als Künste gelten (die Kunst des Staatsmannes, die des Feldherm, die medizinische Kunst usw.), und wo der kundige, auf Professionalität aufgesetzte Wagemut (oder die Wagescheu) eine typische Haltung ist. Die andere Position (ii) ist im Grunde die Andere Welt, wo man sich dann also tatsächlich daneben stellt (sehr typisch für spielende Menschen, aber ggf. auch für "Gesinnungs"-Ethiker a la "Laß fahren dahin!"). Sehr viele Verhaltensweisen von Kindern lassen sich so logisch darstellen. Das (i) ist das, was wir eigentlich alle machen: "Durchwursteln". Ein bißehen glauben wir, ein bißehen nicht, und wenn wir daran glauben, dann glauben wir nicht alles. "Anything goes" ist als beliebte Strategie möglich. (Zeile iv) ist die strenge Position: Flucht aus dem 3. Wert, zurück zur alten Zweiwertigkeit, in die klassische Wahrheitstafel ! Dann sind wir wieder da, von wo wir ausgegangen waren.

Das ist eigentlich das, was ich hier notdürftig und unvollkommen anbieten möchte. Die Bosheit, daß der politische Philosoph Helmut Schrnidt und das spielende Kind alle in der 9. Zeile von Schaubild 3 auftauchen, bitte ich zu entschuldigen. Ausgänge? Wie es weitergeht? - Abgesehen davon, daß man viele dieser Sachen empirisch bis jetzt nur plausibel, keinesfalls aber methodisch sauber behandeln kann, liegen Fortschritte vielleicht darin, daß wir im V-Bereich noch immer weitere Erweiterungen vor uns haben (v.a. die iterierende Verweigerung): Ich reflektierte selbstbewußt über mein Reflektieren. Ich reflektiere auch über diesen Vorgang - und auch über diesen Vorgang reflektiere ich nochmals. Das ist ein infiniter Prozeß des Verweigerns, der in einer iterativen Figur auftritt, die zunächst einmal logisch ohne Abbruch scheint. Das ist eine Problematik, die bearbeitet werden muß. Auch wird der "Kontingenz-Begriff' durch die 3-wertige Logik, die ich angeboten habe, gespalten in einen nach Lukasiewicz und einen nach Günther. Und immer kehrt die Frage wieder: "Wie können wir zur Empirie zurückkehren ?"

Zur Polykontexturalität des therapeutischen Gesprächs Annäherungen an ein Projekt

Von Holger Leinhos, Stuttgart

Die in der Psychotherapie bekannten Handlungsmodelle beruhen in der Regel auf linearen Handlungsprinzipien. Für die Behandlung komplexer Prozesse in psychischen und sozialen Systemen greift das zu kurz, oder es erzeugt zusätzliche Probleme. Psychosoziale Systeme sind Ganzheiten und Ganzheiten sind komplex. Sie enthalten sich selbst als Teil und bestimmen selbsttätig, was innen und was außen für sie ist. Man kann sie nicht von außen behandeln, denn jede Intervention schließt den (Be)Handler mit ein. So gibt es für die Akteure einer Ganzheit keinen archimedischen Festpunkt, um von außen wirken zu können. Objektivität und Neutralität werden zu Fiktionen. Daraus ergeben sich manchmal unlösbar erscheinende Widersprüche, Verstrickungen und Paradoxien. Um in einer Ganzheit erfolgreich handeln zu können, ist ein komplexer Umgang mit den in diesen Systemen typischen Problemen der Selbstbezüglichkeit erforderlich. Ganzheitlich zu handeln bedeutet deshalb komplex zu handeln - das Handeln zu (be)handeln. Der Artikel erwägt dazu mögliche heterarchische Handlungsansätze auf der Basis der Polykontexturalitätstheorie Gotthard GÜnthers.

I. Problem- und Fragestellung

Die ideale Karte eines Territoriums müßte die Karte selbst einschließen, wenn die Karte Teil des Territoriums wäre. In jeder Epistemologie, bei jedem Versuch einer vollständigen Beschreibung werden die Kategorien und Klassen, die zur Beschreibung der Welt herangezogen werden, Teil eben dieser Welt, die sie zu beschreiben suchen, so daß sie selbst-rückbezüglich auf sich selbst zurückfallen! I

1

Paul P. Dell: "Klinische Erkenntnis". verlag modemes leben. Dortmund. 1986. S. 39.

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1. Der Beobachter

Wenn ein Beobachter der Welt gegenübersteht und diese zu erkennen sich bemüht, wird er zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß er selber Teil der Welt ist, die er beobachten will. Das erkennende Subjekt teilt sich in ein inneres und ein äußeres, oder anders gesagt, in einen inneren und einen äußeren Beobachter (Heinz von Foerster)? Zwei Beobachter freilich, von denen der äußere den inneren dabei beobachtet, wie er die Welt beobachtet und der innere den äußeren dabei beobachtet, wie er von ihm beobachtet wird. Das logische Verhältnis, welches dabei gesetzt wird, ist das der Selbstbezüglichkeit; um Eigenes vom Fremden unterscheiden zu können, muß die Unterscheidung selber unterschieden werden bzw. der Beobachter muß sich als Beobachter beobachten, um das Beobachtete (das Fremde) als Fremdes feststellen zu können 3 , 4. Dabei braucht jeweils der eine den anderen, um sich selbst von den fremden Objekten seiner Erkenntnis als Eigenes unterscheiden zu können. Das relativiert unseren Begriff von Wahrheit. Die klassische Annahme, Wahrheit sei Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit, muß vor dem Hintergrund der Standortabhängigkeit von Erkenntnis relativiert werden. Die StandortabhängigkeitS einer Beschreibung negiert dabei die ideale Annahme eines universalen Ortes der Erkenntnis, dessen Einnahme prinzipiell jedem Subjekt möglich ist. Subjektive Standorte sind somit nicht länger Abweichungen, Fehler und Irrtümer, sondern notwendige Bedingungen von Erkenntnis überhaupt. Notwendig insofern als das Erkennen (innerer Beobachter) sich selber erkennen muß (äußerer Beobachter), um zu einer Erkenntnis von Welt zu gelangen. Das Wahrheitskriterium kann und muß dabei jeweils innerhalb eines Subjektes gelten, aber nicht mehr zwischen den Subjekten. Damit wird die intersubjektive Übereinstimmung nicht nur zu einer Frage der Konsensfindung, sondern mehr noch der Festlegung einer Handlungskonvention, um die Standorte allererst einmal festlegen zu können, von denen aus Beschreibungen erfolgen sollen. Alle diese Standorte müssen dabei als gleichurspünglich (heterarchisch)6 angesehen werden, so daß sie nicht untereinander im Verhältnis von richtig und falsch stehen.

Heinz von Foerster: "Sicht und Einsicht". Vieweg Verlag. Braunschweig. 1975 Rudolph Kaehr: "Disseminatorik: Zur Logik der Second Order Cybemetics" in: Kalkül der Form. Hrsg.: Baecker, Dirk. Suhrkamp-Verlag. 1993. 4 derselbe: "Vom >Selbst< in der Selbstorganisation". In: W. Niegel, P. Molzberger Hrsg.: Selbstorganisation. Informatik-Fachbericht. Springer-Verlag. Berlin. 1992. 5 Gotthard Günther: "Cybernetik Ontology". In: Vol.I. 1976. Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Vol.I-III. Felix Meiner-Verlag. Hamburg. 6 W.S. McCulloch: "A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets". Bull.Math.Biophys. 7. 1945. 2

3

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2. Selbstverschließung und Autonomie

Wie schon an anderer Stelle treffend bemerkt wurde 7 , ist der Beobachter Teilnehmer und Teilhaber in der Welt seiner Beobachtungen und kein objektives und neutrales Erkenntnissubjekt. Somit wird die Frage, was innen und außen für ein System ist bzw. was die Grenzen eines Systems sind, zu einer beobachterrelativen Frage. Beide Subjekte können mit gleichem Recht behaupten, die Antwort darauf zu wissen. Aus der Annahme der Selbstdefinition der Grenzen eines Systems (Autonomie) folgen bedeutsame Konsequenzen für seine Behandlung in der Psychotherapie. Behandlungen "von außen" maßen sich an zu wissen, was das System und seine Grenzen sind. "Ich weiß, was für dich gut ist" ist die illusionäre Losung aller Theorien, die auf einen Input den prognostizierten und gewünschten Output erwarten. H. von Foerster nannte diesen Vorgang "aus Menschen triviale Maschinen machen wollen"s. 3. Wissen und Wollen

Unser Verhältnis zur Welt ist nicht nur ein erkennendes, sondern in gleichem Maße auch ein wollendes. So ist ein selbstrückbezügliches Verhältnis zwischen Erkennen und Wollen gesetzt; Erkennen ist nur möglich gegenüber einer Welt, die durch Interessen (Wollen) bedeutsam geworden ist, ein Wollen aber, das zu Sinnhaftigkeit führt, bedarf eines Erkannten, an dem es seine Intentionen entzünden kann 9 . Erkennen bedingt Wollen und Wollen bedingt Erkennen. Kognitive und volitive Aspekte unserer Handlungsbezüge stehen in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit und nicht des Nacheinanders. Damit wird aus der Linie (lineare Kausalität) ein Kreis: Der Anfang wird zum Ende, das Ende zum Anfang, aus Kausalität wird Zirkularität. Was im Bereich des Erkennens der Begriff der Wahrheit ist, ist im Feld des Wollens und Handeins der Begriff des Guten. Auch er wird relativiert. Von der aus dem Summum Bonum abgeleiteten Hierarchie wird Heterarchie. Hierarchie (Macht als Ausdruck eines willkürlich gesetzten höchsten Guten) gilt innerhalb eines Subjektes, nicht zwischen den Subjekten. Ihr Handlungszusammenhang ist gleich- und nebengeordnet - heterarchisch; kein Standpunkt kann berechtigt beanspruchen, für andere ein höchstes Gutes zu setzen.

7 Humberto Maturana und Francisco Varela: "Der Baum der Erkenntnis". Scherz-Verlag. Bem/München/Wien. 1987. 8 Heinz von Foerster: "Es gibt keine Wahrheit-nur Verantwortung". In: Psychologie Heute. 23.Jhrg. Heft 3. 1994. 9 Günther Gotthard: "Cognition and Volition". In: Vol.II. 1979. Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. VoLl-III. Felix Meiner-Verlag. Hamburg.

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4. Paradox und Zirkularität

Das Auge sieht nicht sein eigenes Sehen und soll es doch, der Hammer kann sich nicht selbst hämmern und muß es doch. "Alle Kreter lügen", sagt Epimenides, der Kreter. "Dieser Satz ist falsch", sagt der Satz von sich selber. Die Meisterung von Paradoxien wird zur Schlüsselfrage lO , wenn selbstorganisierende Prozesse in psychologischen Behandlungen organisiert werden sollen. Das Problem ist zuerst ein Logisches. Solange vom Auge nicht verlangt wird, sein eigenes Sehen zu sehen, vom Hammer nicht, daß er sich selber hämmere und von der Kreteraussage nicht erwartet wird, daß sie richtig oder falsch sei, existiert kein Paradox. Sobald aber unserem Handeln binäre Unterscheidungen wie wahr oder falsch, gut oder böse zugrunde gelegt werden, befinden wir uns in einem selbstbezüglichen Zirkel, der alle unsere Anstrengungen lähmen oder in ihr Gegenteil verkehren kann. Wie in dem Eingangszitat schon ausgeführt, werden bei dem Versuch der vollständigen Beschreibung der Welt die Beschreibungskategorien Teil der zu beschreibenden Welt, sie stehen damit in einem selbstreferentiellen Verhältnis. Selbstreferenz aber ist die Ursache logischer Antinomien (Paradoxien), da Aussagen, die über sich selbst sprechen (bzw. sich selber enthalten, sich auf sich selber beziehen), keine Zuordnung von Wahrheitswerten erlauben und damit binäres Unterscheiden hintertreiben. Dies sei zunächst verdeutlicht am Paradox der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten (Russell-Paradox, Urvater aller Paradoxien, die auf Selbstreferenz beruhen): Gesetzt, es gäbe Mengen oder Klassen, die sich nicht selbst enthalten und Mengen, die sich selbst enthalten. Beispiele für Mengen der ersten Art sind die Menge aller Stühle (die selbst kein Stuhl ist), die Menge aller Fremdworte, die Menge aller einsilbigen Worte, die Menge aller langen Worte usw. Sie enthalten sich deshalb nicht selbst, da die Eigenschaft, unter der ihre Elemente zu einer gemeinsamen Klasse (Begriff oder Prädikat) zusammen gefaßt wurden, keine Eigenschaft ist, die der Menge, also dem Begriff oder Prädikat, selbst zukommt. Die Eigenschaft "lang" kommt allen langen Worten zu, nicht aber dem Wort "lang" selber. Anders ist es mit den Mengen, die sich selber enthalten. Die Menge (der Begriff) aller kurzen Worte z. B. besitzt selber die Eigenschaft ,,kurz" zu sein. Ebenso die Menge aller Abstrakta, die Menge aller dreisilbigen Worte usw. Fragt man nun, ob die Menge aller Mengen, die sich nicht selber enthalten, zu den se1bstenthaltenden oder den nicht selbstenthaltenden gehört, gerät man in ei10 Rudolph Kaehr: "Skizze einer graphematischen Systemtheorie". In: Organisatorische Vermittlung verteilter Systeme. Forschungsprojekt im Auftrag der Siemens-AG. München. 1984-85.

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nen circulus vitiosus: Da diese Menge ja nur Mengen enthält, die nicht auf sich selber referieren, könnten wir annehmen, daß sie selber zu den "Nicht-Selbstenthaltern" gehört. Damit würde sie sich ja aber selber enthalten, da die klassenbildende Eigenschaft der "Nichtselbstenthaltung" ihr selber zukäme. Also müßte sie zu den "Selbstenthaltern" gehören, was aber nicht geht, da diese nur selbstreferierende Elemente hat, sie aber aus Klassen besteht, die sich nicht selbst ent halten. Also muß sie zu den "Nichtselbstenthaltem" gehören und damit gehört sie sich wieder selbst an usw.... Verallgemeinernd kann man also sagen, daß jede Reflexion (und auch jede Handlung), die eine Negation enthält und die auf sich selber angewendet wird der folglich dann die gleiche Eigenschaft zukommt wie dem, worauf sie sich bezieht - bei dem Versuch der Bestimmung, ob es so oder anders ist, in einen Teufelkreis gerät: es ist genau dann so, wenn es gerade nicht so ist bzw. es ist so und zugleich nicht so. Formallogisch betrachtet: A = Nicht-A! Als kleine Illustration aus dem Bereich Paartherapie sei dazu ein Ehepaar angeführt, dessen häufig wiederholte und stets neu eskalierende Konfliktsituation sich in folgender paradoxer Falle ausdrückt: Sie: "Mach' mir keine Vorschriften und hör auf, immer alles besser zu wissen." Er: "Du bist schon wieder sehr allgemein. Gib mir ein konkretes Beispie1." Beide stecken in der Falle. Er hat besserwisserisch auf ihre Forderung reagiert und weiß es gerade darum nicht besser. Sie müßte, um auf seine Forderung eingehen zu können, ihrem eigenen Vorwurf widersprechen, womit er kein Besserwisser mehr wäre. Ginge sie aber auf seinen Wunsch ein, dann würde sie ihn als Besserwisser bestätigen.

11. Von der Logik der Objekte zur Logik der Subjekte

Der Notwendigkeit binären Unterscheidens können wir angesichts des Bedürfnisses nach Handlungsgewißheit nicht entgehen. Damit ist jedes Subjekt der Ort einer Logik, die stets auf der Zweiheit von Wahr und Falsch, Gut und Böse beruht. Eine solche Logik 1\ die auf den aristotelischen Postulaten der Eindeutigkeit, der Widerspruchsfreiheit und des ausgeschlossenen Dritten basiert, ist tauglich zur Be schreibung und Behandlung von Objekten. Zu eben diesem Zweck wurde sie von den uns vordenkenden Griechen auch geschaffen, und unsere technologische Zivilisation ist Beispiel genug für ihre Objekttauglichkeit. Wendet man diese logischen Mittel aber auf Subjekte an, dann werden Subjekte zu Objekten gemacht und können daher nicht als Subjekte beschrieben und behan11 Gotthard Günther: "Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik". Felix Meiner-Verlag. Hamburg. 1978.

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delt werden. Zum Begriff des Subjektes gehört eben seine Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit und daß es eben jenes Dritte selber ist (das sich auf sich selber Beziehende !), welches gemäß aristotelischem Postulat als verboten gilt. Dichotome Unterscheidungen werden Subjekten nicht nur nicht gerecht, sondern führen - wie oben beschrieben - notwendig zu zirkulären Beschreibungen und damit in Paradoxien, die angemessenes Handeln unmöglich machen. Um zirkulären Beschreibungen zu entgehen, verteilt die von G. Günther entwikkelte und von R. Kaehr weitergeführte Polykontexturale Logik l2 einzelne Logiken über mehrere Orte. Ihre Grundannahme ist, daß jede klassische Logik ein System dualer Begriffe ist - wie wahr/falsch oder gutlböse, Ursache/Wirkung oder Zweck/Mittel. Diese Dualitäten werden miteinander vermittelt und verknüpft durch den Mechanismus der Proemialität l3 : Was Subjekt des einen Systems ist, ist zugleich Objekt des anderen Systems und umgekehrt. Das Beispiel des Vater-Sohn-Verhältnisses mag diese logischen Relationen illustrieren: Der Sohn eines Vaters kann zugleich selber Vater eines Sohnes sein. Aber auf einer anderen Stufe der Relationalität. Er gehört dem einen Verhältnis als Sohn, dem anderen als Vater an. Durch diese beiden Verhältnisse ist damit zugleich ein drittes gesetzt, nämlich das Großvater-Enkel-Verhältnis, das als koinzidentes System die beiden anderen vermittelt und abschließt. la) Klassische Logik: Zirkularität: r--->Subjekt -------->

O~jekt

I I I I IL-_____________________ -JI

1b) Polykontexturale Logik: verteilte Zirkularität: Subjekt --------> Objekt I

& &

I I

I

Subjekt --------> Objekt

I

I I I I

I

Subjekt

I

I

-------------------------->

->: Ordnungsrelation;

&: Umtauschrelation;

I

I

Objekt

I: Koinzidenzre1ation

12 Rudolph Kaehr: "Materialien zur Fonnalisierung der dialektischen Logik und der Morphogrammatik 1973-1975". In: Günther, Gotthard: "Idee und Grundriß ... ". Felix MeinerVerlag. 1978. Hamburg. 13 Gotthard Günther: "Life als Poly-Contexturality". In: Vol.Il. 1979. Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Vol.I-lII. Felix Meiner-Verlag. Hamburg.

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lc) am Beispiel des Vater-Sohn-Verhältnisses: Vater I I I

---------->

I I I

I I I I

Gro~vater

Sohn & &

Vater

---------->

------------------------>

Sohn I

I I I

Enkel

1. Die Ordnungsrelation Das Eigene Als Anderes

Um die grundlegenden logischen Unterschiede zwischen den einzelnen Relationen zu verdeutlichen, sei zunächst noch einmal auf das Problem zirkulärer Selbstbeschreibungen eines Systems hingewiesen. Folgen wir DelIs Annahme (siehe Eingangszitat), wonach zur vollständigen Beschreibung eines Systems auch die Kategorien und Begriffe gehören, die zur Beschreibung notwendig sind, tritt das Problem auf, zu unterscheiden, ob diese Begriffe (und damit das Subjekt der Beschreibung) Beschreibendes oder Beschriebenes, Unterscheidendes oder Unterschiedenes sind. Der Versuch, diese Frage mit den logischen Mitteln der Zweiwertigkeit (wahr/falsch) zu lösen, erzeugt die oben besprochenen Paradoxien: Das Subjekt der Beschreibung ist zugleich Unterscheidendes als auch Unterschiedenes. Es ist zugleich in der Welt als auch nicht von dieser Welt. Als Relator einer Ordnungsrelation ist es eindeutig abgesetzt von seinen Relata. In der Aussage z. B. "der Mensch ist gut" ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, oder - was das Gleiche ist - zwischen Relatum und Relator ein eindeutig geordnetes, so daß beide zweifelsfrei unterschieden werden können. Läßt man aber einen simultanen Vertausch von Subjekt und Prädikat zu, dergestalt, daß das Beziehende zugleich Bezogenes und umgekehrt ist, dann müssen wir eine andere Kategorie von Relation einführen: die Umtauschrelation.

2. Die Umtauschrelation Das Andere Als Selbiges

Sie ist logischer Ausdruck des Umstands, daß das Subjekt der Beschreibung selber zugleich Objekt eben seiner Beschreibung werden kann und muß, die Kategorien der Erkenntnis also die Erkenntnis eben dieser Kategorien einschließen muß. Beispiele solcher Umtauschrelationen sind die Verhältnisse von Rechts und Links, Oben und Unten, Wahr und Falsch, Gut und Böse, Ich und Du usw. Jedes duale Verhältnis also, in denen die dualen Bestimmungen vertauscht werden können, ohne daß sich an den Proportionen des Verhältnisses selbst etwas ändert.

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Das triviale Beispiel einer Links/Rechts-Unterscheidung mag den Charakter des Umtauschverhältnisses zunächst illustrieren: Deute ich nach rechts, ist es für den Anderen automatisch links; was für ihn links ist, ist für mich rechts und umgekehrt. Ein weniger triviales Beispiel für diese Art der Relation aus dem Buch "Sofies Welt": "Erst wenn sie ganz stark empfand, daß sie eines Tages ganz verschwunden sein würde, ging ihr richtig auf, wie unendlich wertvoll das Leben war. Es war wie die beiden Seiten einer Münze, einer Münze, die sie immer wieder umdrehte. Und je größer und deutlicher die eine Seite der Münze war, um so größer und deutlicher wurde auch die andere. Leben und Tod waren zwei Seiten derselben Sache. Man kann nicht erleben, daß man existiert, ohne auch zu erleben, daß man sterben muß, dachte sie. " 14 3. Die Koinzidenzrelation Eigenes Und Anderes Als Gleiches

Werden die ,,2 Seiten derselben Sache" bzw. die 2 Seiten derselben Münze nun über 2 Ordnungsrelationen verteilt und durch die Umtauschrelation vermittelt, entsteht, koinzident, ein drittes Verhältnis - das Verhältnis der Gleichheit zwischen Anderem und Eigenem. Oder anders gesagt, Gleichheit als das Verhältnis nichtidentischer und aber auch nichtfremder Glieder zueinander. Im obigen Beispiel des Vater-Sohn-Verhältnisses ist das Großvater-Enkel-Verhältnis ein koinzidentes. Vater eines Vaters bzw. Sohn eines Sohnes zu sein sind dabei Relationen der Gleichheit und nicht der Selbigkeit. Während das Vater-Sohn-Verhältnis sowohl als Relation der Verschiedenheit (Ordnungsverhältnis: Was Vater in dieser Relation ist, kann nicht zugleich Sohn sein und umgekehrt) wie auch als Relation der Selbigkeit (Umtauschrelation: der Vater in einer Relation ist zugleich Sohn in einer anderen Relation) interpretiert werden kann. 111. Konsequenzen für komplexe und heterarchische (Be)Handlungsansätze

Um mit der aufgezeigten Problemstellung umzugehen, muß ein solches Handeln: a) zwischen Dualitäten vermitteln, b) Subjekte als Subjekte behandeln können, c) sich selber enthalten und 14

lostein Gaarder: "Sofies Welt". earl Hanser-Verlag. München, Wien. 1993. S. 11.

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d) Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit und Eindeutigkeit in Mehrdeutigkeit verwandeln. Zur Erfüllung der obigen Aufgabenstellung sollen zu entwickelnde komplexe Handlungsmodelle die in der Polykontexturalen Logik begründeten Operationen der Permutation, Reduktion und Bifurkation bzw. Polyfurkation 15 utilisieren. Diese logischen Operationen könnten im Handlungsfeld als Interventionen zur Induktion von Standortwechseln (Multiperspektivität einer Komplexion) und Selbstreferenzen aller Akteure erscheinen. Alle Operationen sollen dazu dienen, allgemein gesagt, einen der Komplexität des Handlungssystems Psychotherapie angemessenen komplexen Prozeß der Selbstbeschreibung und Selbst(be)handlung zu ermöglichen. Unter dem Aspekt von Lernen und Entwicklung heißt das, daß die qualitative Veränderung eines Systems definiert wird als die Erhöhung bzw. Erweiterung seiner Komplexität! Diese Art von Veränderung ist folglich eine akkretive l6 , da der bestehende Komplexitätsrahmen erweitert wird. Veränderungen innerhalb des bestehenden Rahmens - Veränderungen im Sinne von "mehr oder weniger des Alten" - werden verstanden als iterative Prozess~o im Prinzip die Fortführung bekannter Handlungsmuster. Iterative und akkretive Prozesse sind aufeinander bezogene und sich selber benötigende Prozesse sind; Akkretion als Erweiterung der Komplexion braucht eine "kritische Masse" von Iterationen als Wiederholungen des Alten, ebenso wie die Iteration einen komplexen Handlungsrahmen voraussetzt. Die folgenden Handlungsansätze sind noch keine Beispiele einer systematischen polykontexturalen Behandlungstheorie. Sie sollten verstanden werden als Experimente zum An-Denken von anderen und möglichen Gesprächsweisen. 1. Permutative Operationen Etwas Als Etwas Sehen

Wenn wir davon ausgehen, daß jedes Denken, Urteilen, Fühlen und Handeln beobachterrelativ und damit perspektiviert ist (und keine dieser Perspektiven als die Eine und Wahre im Verhältnis zu den anderen fungieren kann), folgt daraus noch keineswegs, daß uns diese Perspektiviertheit bewußt wäre. Ich sage zum Beispiel: "Ich sehe einen Baum" und nicht "Ich sehe das da als Baum." Für den alltäglichen Sprachgebrauch besteht auch meistens gar keine Veranlassung, mir den blinden Fleck, den ich bezüglich meiner Perspektive habe, aufzuheben. In professionellen Diskursen aber, die sich mit der Begrenztheit oder Konflikthaftigkeit von Standpunkten beschäftigen, ist die Situation eine ganz andere. 15 16

siehe FN 4 siehe FN 11.

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Ein erster Schritt könnte nun darin bestehen, im Sinne Wittgensteins, den Aspekt selber "aufleuchten" zu lassen 17 . Dies wäre gleichbedeutend mit einer Vertauschung des bisher eingenommen Standpunktes, der als Standpunkt nur von einem anderen aus gesehen werden kann. Für diesen Vorgang scheinen Analogien ("dies Problem erscheint mir wie ...") oder metaphorische Zugänge ("wenn das Problem eine story wäre, wer wären Sie und ich darin?") oder Kontextverfremdungen ("wenn Sie das einem achtjährigen Kind erklären sollten ... ") nützlich zu sein. Etwas Als Anderes Sehen Da - wie schon dargestellt - Polykontexturale Systeme mit einander verknüpfte Dualitäten darstellen, also aus dualen Kategorien komponierte Systeme, ist der Operator eines solchen Systems die Negation. Aufgrund der Verknüpfungsbedingungen solcher Systeme (siehe: Umtauschverhältnis in Abb. Ib) ist Negation 18 aber nicht nur, wie in der klassischen Logik, die inhaltliche Verneinung eines Sachverhaltes, sondern sie führt zugleich zu einem Wechsel des Standorts. Die Verneinung eines Standpunktes ist also zugleich die Einnahme eines der anderen im System vertretenen Standpunkte. Dies bewirkt das oben angesprochene Umtauschverhältnis, durch das je zwei Systeme über ihre Positionen und Negationen miteinander verkoppelt sind. Da das, was Position in einem System ist, Negation im anderen und umgekehrt ist, kommt es zugleich zur Mehrdeutigkeit von Bestimmungen in diesen Systemen: etwas ist positiv (wahr oder gut) in einer Hinsicht und zugleich negativ (falsch oder schlecht) in einer anderen Hinsicht. Daraus könnten Frage- und Aussageformen entstehen, die mit dem Guten am Schlechten und dem Schlechten am Guten operieren und dabei, wie oben beschrieben, zu Standpunktwechseln oder, anders gesagt, zu neuen Bewertungen und Hinsichten führen. Der wiederholte Wechsel von positiver zu negativer Bewertung kann so auch als Aussageform (im Sinne umdeutender Bemerkungen) verstanden werden. Andere Sprechweisen, die die gleiche Handlungsintention realisieren, könnten mit den in komplexen Systemen typischen Autologien, dem Denken des Denkens, Fühlen des Fühlens, Be-Handeln des Handeins usw., operieren. (Beispielhaft: Wie beurteilen Sie es, daß Sie den Sachverhalt so beurteilen?) Wird die Selbstinklusion des Fragenden intendiert, könnte sie lauten: Was meinen Sie zu mir, wenn ich Sie frage, wie Sie es selber beurteilen, daß Sie dem Sach17 Ludwig Wittgenstein: "Philosophische Untersuchungen". In: Werkausgabe Bd. 1. 1984. Suhrkamp-Verlag. Frankfurt am Main. S. 520. 18 Gotthard Günther: "Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts". In: VoI.III. 1980. Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Vol.I-III. Felix MeinerVerlag. Hamburg.

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verhalt eine solche Bewertung gegeben haben? (Um Gedankenakrobatik zu vermeiden, sollte eine Frage dieser Art allerdings als internes Leitschema verstanden werden und in der aktuellen Sprechsituation in ihre Teilelemente ,aufgebrochen' werden.) Zur Selbstidentifikation der Komplexion ,Behandlungsgespräch ' könnten ferner seine rückbezüglichen Verhältnisse utilisiert werden. Zum Beispiel: "Wenn sich mein Verhältnis zum Objekt unseres Gesprächs änderte, welches andere Verhältnis hätten Sie dann dazu? Wenn sich mein Verhältnis zum Objekt unseres Gesprächs änderte, welches andere Verhältnis hätte ich dann zu Ihnen? Wenn Sie sich mir gegenüber anders verhielten, wie würde sich dann mein Verhältnis dem Objekt gegenüber ändern? usw ... "

2. Reduktive Operationen Dieses Und Jenes Als Eines Sehen Wiederholte Standortwechsel und damit Neuperspektivierungen geben einem komplexen System die Möglichkeit der Selbst-Erkenntnis, da alle kombinatorisch möglichen Vertauschungen vorgenommen werden können, dh. alle aufgewiesenen Aspekte (z. B. eines Problems) können in ihrer Bezogenheit aufeinander erlaßt werden. Die vielen Ambivalenzen des Systems und damit seine häufig verwirrende Mehrdeutigkeit können nun mithilfe der Operation des Einschränkens zu größerer Eindeutigkeit geordnet werden. Dabei wird von den erzeugten Bestimmungen nach Maßgabe ihrer Gleichheit bzw. ihrer Verschiedenheit abstrahiert. Das Kriterium der Abstraktion ist dabei nicht objektive Wahrheit, sondern subjektive Sinnhaftigkeit (Evidenz)!

3. Die Selbstbezüglichkeit sehen Das A Von B Ist Das B Von A Um die Selbstreferenz einer Problemstellung auszudrücken, kann man sich der dialektischen Denk- und Redefigur des Chiasmus bedienen: " Will man bestimmtes Gedankengut in seiner dialektischen Beziehung darstellen, muß man sich einer anderen Normierung unterziehen, z. B. der sprachlich normierten Form ,Etwas ist und es ist nicht'. Die konkrete Ausführung dieser allgemeinen Norm war in den Hauptentwicklungsetappen unterschiedlich. Die erste uns bekannte Grundform zur Darstellung von dialektischen Gegensätzen ist mit dem Chiasmus gegeben. Heraklitformuliert z. B.: 15 Selbstorganisation. Bd. 6

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,Das Kalte wird wann, das Wanne kalt . .. ' Die Grund/onn des Satzes besteht in der Verknüpfung eines Begriffes A mit einem Begriff B, der letztere wird von neuem gesetzt und mit dem ersten, also A, verbunden. Der dialektische Gedankengang ist dann abgeschlossen, wenn er zum Ausgangspunkt zurüc/iführt, im obigen Fall ABBA ... ,,19.

Somit ist der Chiasmus also eine Form, in der 2 duale Begrifflichkeiten sich in gekreuzter Stellung wiederholen. Zum Beispiel, wie oben schon einmal formuliert: Das Gute am Schlechten ist das Schlechte am Guten! Oder: "Um in guter Weise unabhängig sein zu können, müßte ich erstmal abhängig sein können. Aber um das zu können, müßte ich in guter Weise unabhängig sein." So könnte eine Beschreibung der selbstbezüglichen Problemregel in einem Fallbeispiel lauten, die zu mannigfachen Schwierigkeiten führt, da die Voraussetzung sich selber voraussetzt und die Konsequenz sich selber folgert. "Um zu lernen, unabhängig zu sein, müßten Sie. in gewisser Weise von mir abhängig werden. Ich müßte Ihre Abhängigkeit von mir also fördern. Dem würden Sie sich aber im Interesse Ihrer Unabhängigkeit widersetzen." Wie in diesem Fallbeispiel ersichtlich umfaßt die Selbstbezüglichkeit zwangsläufig auch den mit der Problemlösung befaßten Behandler. Jede Problemlösungsstrategie, die einseitig nur eine Seite der Alternative aufgreifen würde, griffe zu kurz, würde sich selber notwendig widersprechen und geriete in Gefahr, sich damit selber aufzuheben. Eine angemessene Problemlösungsstrategie sollte also in einer Art von Gabelung (Bifurkation) die dualen Verhaltenstendenzen umfassen. 4. Bifurkationen Das Spiel Von Nicht Und Doch

Ein Zen-Meister drohte seinem Schüler: "Wenn du sagst, daß dieser Stock real ist, werde ich dich damit schlagen. Wenn du sagst, daß er nicht real ist, werde ich dich auch schlagen." Ohne etwas zu sagen, ergriff der Schüler den Stock und zerbrach ihn - zur Zufriedenheit des Meisters. Bifurkationen in polykontexturalen Systemen ähneln dieser Zen-Lösung. Vor eine paradoxe Alternative gesetzt wählen sie eine dritte Möglichkeit, die in der Dualität nicht vorgesehen ist, und diese verwirft. Dieses Dritte ist kein additiver oder gar zufälliger Zusatz, sondern ergibt sich aus der Kompositionsform solcher Systeme, in denen das Dritte als Koinzidenz stets gegenwärtig ist. 19

Günther Schenk: ,,zur Geschichte der logischen Form". Bd. 1. S. 23.

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"Sind einmal Komplexionen von formalen Systemen komponiert, so lassen sich neue Gesetzmäßigkkeiten der Reflexionsform zwischen ihnen und ihren Komponenten, den Elementar-Kontexturen, feststellen. Für Formalismen innerhalb von polykontexturalen Komplexionen gilt nun folgende Konstellation der Abbildungsmöglichkeiten: ... 5. die bifurkative Selbstabbildung, d. h. die Abbildung auf sich selbst und zugleich auf/in andere Kontexturen (Bifurkation bzw. Multifurkation. ,,20.

Setzen wir das von Günther vorgestellte dreiwertig-logische Minimalmodell einer über Ich, Du und Es verteilten Subjektivität voraus und benutzen es als polylogisches Modell eines psychotherapeutischen Gesprächs (Zweiergespräch), dann können wir folgende Beschreibungssystematik gewinnen, um die Rückbezüglichkeiten und Selbstrückbezüglichkeiten dieses Systems darzustellen. Unsere Systematik nähme dann folgende Form an: (bei Ich = i; Du = d; Es = e): ii

d

e

id

ie

ddiddde e ei

ed

ee

Die jeweiligen Buchstabenkombinationen stehen einmal für aufeinander bezogene Bezüge (z. B. id) bzw. Selbstbezüge (z. B. ii). Beispielhaft ließen sich nun etwa folgende rückbezügliche Kombinationen herausgreifen: ii: von meinem Standpunkt aus nehme ich Stellung zu mir selber; di: unter deinem Aspekt beurteile ich meinen Standpunkt; ed: vom Standpunkt des Themas aus beziehe ich mich auf dich usw.... Das obige Schema könnte in anderer pragmatischer Konkretion auch als Systematik zur Generierung von (paradox fungierenden) Handlungsstrategien gelesen werden. Dazu müßten an die Stelle von Ich, Du und Es (die ja für logische Instanzen und nicht für Personen stehen) konkrete, im bisherigen Diskurs gefundene Prädikate gesetzt werden. Angenommen, das zur Rede stehende Problem sei die beklagte Prüfungsangst (a) eines Klienten. Sein Umgang damit sei perfektionistisch (p) und die beraterische Haltung eine ermutigende (e). So könnten daraus 9 paradox wirkende Strategien abgeleitet werden, von denen beispielhaft drei erwähnt werden sollen: Der Berater könnte zur Perfektionierung des Perfektionismus ermutigen (pp); oder sich Hinweise geben lassen, wie er seine Ermutigung perfektionieren könnte (pe), oder vorschlagen, die Angst zu perfektionieren (ae). Andere Möglichkeiten lassen sich bei analoger Anwendung der obigen Systematik unschwer selber deduzieren.

20

15*

siehe FN 4, S. 194.

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IV. Schluß bemerkung Aus dem Postulat der Autonomie lebender Systeme und damit ihrer informationellen Geschlossenheit folgt, daß die Handlungsgewißheit eines professionellen Aktors (Berater, Therapeuten etc.) sich nur innerhalb eines als reflexiv verstandenen Gesprächs realisieren läßt, dessen mitzubehandelnder Teil er selber ist! Die "Architektur" eines solchen Gesprächs ist also nicht vorab festlegbar, sondern kann nur als nachträgliche Theoretisierung aufgefaßt werden. Gespräche sind spontane Phänomene - wie alles Lebendige. Damit gilt aber für sie, was für alles Lebendige gilt: stets ist es ein Einzelnes und Besonderes in einer Vielheit. Wird das Einzelne jedoch in einer Theorie des Lebendigen (notwendigerweise) unter ein Allgemeines subsumiert, verliert es sein Besonderes und damit Bestimmendes. Somit kann eine Theorie des Gesprächs - im pragmatischen Sinne verstanden als Anleitung zur Gesprächsführung - über dieses Bestimmende auch nichts sagen, also auch im eingeschränktesten Sinne keine Konstruktions-Anweisung enthalten. Mit Wiugenstein könnte man aber fragen, ob eine Gesprächsführung denkbar wäre, in der das Nicht-Sagbare Sich-Zeigen kann? Eine Theorie (psychotherapeutischer) Gesprächsführung müßte dann um den Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit des Sich Zeigens bemüht sein.

Kognitive Neurobiologie als Reflexionsproblem Auf der Suche nach neuen Denkformen neurowissenschaftlicher Forschung

VonAxel Ziemke, Klagenfurt/Bochum*

I. Einführung "Wie ist es, eine Fledennaus zu sein?" Keine Frage hat die philosophische Diskussion um die Kognitionswissenschaft so angeregt wie diese. Und das liegt nicht etwa an dem neu erwachten zoologischen Interesse der Philosophen. Thomas Nagell versuchte in seinem Aufsatz unter diesem Titel die Refonnulierung des jahrhundertealten Körper-Geist-Problems als Methodenproblem kognitionswissenschaftlicher Forschung: Wir wissen eine ganze Menge über die neuro- und verhaltensbiologischen Grundlagen der Echoortung von Fledennäusen. Können wir aber auf Grund dieses Wissens auch nur die mindeste Vorstellung darüber gewinnen, wie es "für" eine Fledennaus ist, ihre Welt auf diese Art und Weise wahrzunehmen? Anders als im Falle einer Fledennaus haben wir eine gewisse Vorstellung davon, "wie es ist, ein Mensch zu sein", unsere Welt wahrnehmend, denkend, fühlend zu erleben. Vor diesem Erfahrungshintergrund können wir durchaus die bisherigen und künftigen Ergebnisse neurowissenschaftlicher Forschung - um die soll es hier gehen - als "Korrelationen" unseres Erlebens interpretieren. Ohne diesen Erfahrungshintergrund würden wir aber diesen Ergebnissen am Menschen ebenso hilflos gegenüberstehen wie im Falle der Fledennaus. Kann man aber unter diesen Umständen von einer neurobiologischen Erklärung oder auch nur Beschreibung mentaler Zustände sprechen? Und diese Fragestellung läßt sich noch erweitern: Kann man von der Möglichkeit einer neurobiologischen Kognitionsforschung sprechen, wenn sich gerade die vom "Alltagsverstand" als essentiell für menschliche Kognition erachtete "Erlebnisdimension" dem Zugriff der Naturwissenschaft entzieht?

* Mein Dank für Anregungen, Kritik und Ermutigung anläßlich früherer Versionen dieser Arbeit gilt Rudolf Kaehr (Witten), Ernst Kotzmann (Klagenfurt) und Christoph von der Malsburg (Bochum). Diese Arbeit wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Graduiertenkolleg "Kognition, Gehirn, Neuronale Netze (KOGNET)". I T. Nagel: What is it like to be a bat? The Philosophical Review 83,435-450 (1974)

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Anders als im Falle des philosophischen Schrifttums wird man nicht nur diesen Aufsatz, sondern auch die in ihm thematisierte Problematik schwerlich in einem neurowissenschaftlichen Fachartikel diskutiert finden. Seriöse neurowissenschaftliche Forschung hat sich in der Vergangenheit des Anspruchs weitestgehend enthalten, kognitive Leistungen oder gar "den Geist" naturwissenschaftlich erklären zu wollen. Stattdessen verfolgen die meisten Forscher auf der Suche nach einem biologischen Verständnis des Gehirns das Programm einer "funktionellen Neuroanatomie": Mit den fortgeschrittenen neuro anatomischen Techniken werden die Strukturen des Gehirns verschiedener Species auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Entwicklungsstadien möglichst detailliert beschrieben. Mit den Methoden der Neurophysiologie, besonders der Elektrophysiologie, wird versucht, den so nachgewiesenen Strukturen eine "Funktion" im Rahmen der Transformation neuronaler Aktivität auf den entsprechenden Ebenen zuzuschreiben. Diesem Ansatz, das Gehirn von seiner Struktur her verstehen zu wollen, kommen aber in letzter Zeit auch neuere Entwicklungen der Kognitionswissenschaft entgegen. Die Debatten der 70er Jahre haben nicht nur zu einer Relativierung der Computerprogrammanalogie kognitiver Leistungen in Form der Physical Symbol System Hypothesis 2 zu Gunsten konnektionistischer Modelle 3 geführt, sondern auch die Frage nach der Möglichkeit einer neuro wissenschaftlichen Fundierung kognitions wissenschaftlicher Forschung aufgeworfen. 4 Das Programm einer solchen "kognitiven Neurobiologie" wird sich aber einer Positionierung gegenüber der von Nagel und vielen anderen Philosophen thematisierten Problematik nicht enthalten können; denn nicht nur eine Theorie des Bewußtseins, sondern eine Kognitionstheorie überhaupt impliziert die Fragestellung, wie "für" ein kognitives System ein Objekt, eine Szene, ein Sachverhalt zum "Gegenstand" werden kann. Nicht jede kognitive Leistung muß von bewußtem Erleben begleitet sein. Wie aber Bewußtsein ("zunächst und zumeist") Bewußtsein eines Gegenstandes (im allgemeinen Sinne des Entgegen-Stehenden) ist, ist auch Kognition Kognition eines Gegenstandes. Die Probleme der Subjektivität und Intentionalität mentaler Zustände in einer Theorie des Bewußtseins sind bereits Probleme einer Kognitiven Neurobiologie. Philosophische Ansätze, die eine neurowissenschaftliche Erklärung kognitiver Leistungen für einen oder gar den Ansatz einer angemessenen Kognitionsforschung halten, gehen im Umgang mit der angedeuteten "Spezifik des Mentalen" mindestens zwei verschiedene Wege: Entweder akzeptiert man diese Spezifik und versucht, das Problem soweit zu trivialisieren, daß es im Rahmen neurowissen-

A. Newell/H.A.Simon, Human Problem Solving, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1972 D.E. Rumelhartl J.L. McClelland: Parallel Distributed Processing: Explorations in the microstructure of cognition, Vol.1: Foundations, Cambridge: MIT Press 1986; J.L. McClellandID.E. Rumelhart: Parallel Distributed Processing: Explorations in the microstructure of cognition, Vo1.2: Applications, Cambridge: MIT Press 1986 4 Einen Überblick bietet etwa: L.R. Squire I E.R. Kandel (eds.): Cognitive Neuroscience, Curr.Opin.NeurobioI. 3,203-208 (1993) 2

3

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schaftlicher Forschung lösbar erscheint5 , oder aber, man versucht jene Spezifik zum Scheinproblem einer als Theorie verstandenen "Alltagspsychologie" zu erklären, die sich auf Grund der Ergebnisse künftiger, aber auch schon heutiger neurowissenschaftlicher Forschung schlichtweg als "falsch" erweist. 6 Diese beiden Positionen werden in der wissenschaftstheoretischen Diskussion als "retentiver" bzw. "eliminativer Reduktionismus" bezeichnet. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, daß sie die Methodologie einer kognitiven Neurobiologie als Fortsetzung der bisherigen naturwissenschaftlichen Erforschung des Gehirns verstehen. Wäre es aber nicht auch möglich, das Körper-Geist-Problem und besonders das aus diesem Problem abgeleitete "Kognitionsproblem" auf Grund seiner phänomenalen Evidenz in seiner ganzen Tiefe als Methodenproblem kognitionswissenschaftlicher Forschung zu akzeptieren, und im Sinne der in diesem Sammelband behandelten Thematik als eine Grenze unserer (historisch bestimmten) Rationalität zu verstehen, die in der bisherigen Methodologie neurowissenschaftlicher Forschung zum Ausdruck kommt? Läßt sich vielleicht auf Grund der hier diskutierten Entwürfe einer "neuen Rationalität" eine alternative Methodologie neurowissenschaftlicher Forschung entwickeln, die dieser Problematik angemessen wäre? Gerade Gotthard Günthers Transklassische Logik? als ein Versuch der Operationalisierung von Denkformen der Hegeischen Dialektik könnte hier ein vielversprechender Ansatz sein. Bereits in der "Phänomenologie des Geistes"g als dem Hegeischen Frühwerk begegnet uns die Grundstruktur des ,,Für-uns-sein des Für-es-seins", die eine Antwort auf Nagels Fragestellung zu versprechen scheint, wenn wir das "für uns" durch "für den Beobachter" (den Wissenschaftler, den Philosophen) und das "für es" durch "für das System" (das Bewußtsein, den Menschen, die Fledermaus) ersetzen. Günthers früher Ansatz, eine "neue Logik" aus Hegels Denkformen zu entwickeln, ist ganz in diesem Sinne der Versuch einer "Theorie des Du", in dem dieses "Du" als "objektives Subjekt" nicht auf ein "Es", ein Objekt reduziert wird, aber auch nicht aus der Identifikation mit dem "Ich" erschlossen werden soll. Wenn ein solcher Versuch zur Lösung eines fundamentalen Methodenproblems kognitionswissenschaftlicher Forschung vom Standpunkt eines Aprioirismus Kantscher Manier oder mit dem Nimbus des "absolut wissenden" Philosophen der Hege1schen Naturphilosophie unternommen wird, wäre er sicher zum Scheitern verurteilt. Wenn er hingegen von Methodenproblemen neurowissenschaftlicher Forschung selbst ausgeht (IV.), die Ansätze einer neuen Methodologie in den am Maß dieser Kritik fortgeschrittenen Ansätzen der Theorienentwicklung in den Neurowissenschaften selbst sucht (V.) 5

J.R. Searle: The rediscovery ofthe mind, London 1992

6

P.S. Churchland: Neurophilosophy. Towards a unified science of the mind-brain, Cam-

bridge 1986, aber auch D.C. Dennett: Consciousness explained, London: Lane 1992 7 G. Günther: Die aristotelische Logik des Seins und die nicht-aristotelische Logik der Reflexion, Zeitschr.f.philos.Forschung 12, 360-407 (1958); Idee und Grundriß einer Nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg: Meiner 1959; Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, I-III, Hamburg: Meiner 1976, 1979, 1980 g G. w.F. Hegel: Sämtliche Werke, Ed. Glockner, Bd. 2, Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1932

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und nicht zuletzt das gleiche Maß an formaler Stringenz erreicht wie die Modellierungsmethoden der theoretischen Neurobiologie, wäre ein Erfolg dieses Versuches vielleicht nicht von vorneherein auszuschließen. In diesem Aufsatz sollen die ersten Schritte eines solchen Versuches am Beispiel der neuro biologischen Wahrnehmungsforschung versucht werden. Wir wollen diese Wahrnehmungsforschung als ein "Reflexionsproblem" verstehen, das entsteht, weil der Neurowissenschaftler in seiner Forschung auf ein System "reflektiert", das in seinen Wahrnehmungen selbst "reflexiv" ist; weil seine Forschung einen Gegenstand hat, "für" den in seinem Wahrnehmen selbst ein Gegenstand wird; weil neurowissenschaftliche Forschung (eine methodisch fundierte und sozialkommunikativ vermittelte Form von) Kognition ist, die (Wahrnehmung als) Kognition kogniziert. Dieses Reflexionsproblem ist als der Versuch, "das Denken zu denken" das zentrale Problem der Klassischen Deutschen Philosophie, das in der Philosophie Hegels wohl seine reifste Lösung gefunden hat. Im 11. und III. Abschnitt soll versucht werden, die (für Hegel "nur") formale Struktur dieser Lösung auf Grundlage der Transklassischen Logik Gotthard Günthers zu explizieren. Im IV. und V. Abschnitt wird der Versuch unternommen, diese Struktur als "Reflexionsinstanz" für eine Kritik des repräsentationistischen Forschungsprogrammes und die Entwicklung einer alternativen Perspektive kognitionswissenschaftlicher Forschung am Beispiel der neurobiologischen Wahrnehmungsforschung zu entwikkeIn, die nicht zuletzt das einleitend erwähnte Körper-Geist-Problem zu bewältigen in der Lage sein könnte. 9 11. Die Klassische Logik des Seins In seiner Dissertation aus dem Jahre 1933 versuchte Günther lO in Hegels Logik eine "neue Theorie des Denkens" aufzudecken. Das alte Denken, von dem sich diese Theorie abhebt, ist die Aristotelische Logik. Ausgehend von Hegels Logik entwickelt Günther ll in Auseinandersetzung mit der modemen formalen Logik "Idee und Grundriß einer Nicht-aristotelischen Logik". Gekennzeichnet ist jenes Nicht-aristotelische Denken durch einen grundsätzlichen Wechsel der "Bewußt9 In meinen früheren Arbeiten habe ich die Anwendung jener Denkformen bereits im Rahmen einer theoretischen Biologie auf Grundlage der HegeIschen Logik bzw. der Transklassischen Logik Günthers versucht: A. Ziemke & K. Stöber: System und Subjekt, in: S.J. Schmidt (Hg.), Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt a.M. 1992; A. Ziemke: System und Subjekt. Biosystemforschung und Radikaler Konstruktivismus im Lichte der HegeIschen Logik, Braunschweig, Wiesbaden 1992; Selbstorganisation und Transklassische Logik, Selbstorganisation 2, 27-52 (1991); Biologie der Kognition und Transklassische Logik, Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion 45 (1991); Kybernetik, Systemtheorie und Transklassische Logik, in: IeS (Hg.), Kybernetik und Systemtheorie - Wissenschaftsgebiete der Zukunft? Greven 1992 10 G. Günther: Eine neue Theorie des Denkens in Hegels Logik, Hamburg: Meiner 1938 11 Günther; FN 7,1959

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233

seinsthematik". Thema des Klassischen Denkens war das "Sein des Seienden", Thema des transklassischen Denkens ist das (klassische) Denken selbst oder die "Reflexion". Transklassisches Denken ist dementsprechend eine "Reflexion der Reflexion". Nach Meinung der Philosophen des Deutschen Idealismus kann jenes Reflektieren auf die Reflexion nicht mehr formal sein, da mit der Dualität von Subjekt und Objekt auch jene von Form und Inhalt aufgehoben wird. Diese Auffassung ist nach Günthers Meinung keineswegs zwingend. Er stellt ihr folgende Thesen gegenüber: ,,1) Die Reflexion auf die klassische Reflexionssituation impliziert eine neue, transklassische Logik, die keine einfache Iteration des traditionellen, identitätstheoretischen Denkens darstellt. 2) Die Reflexion auf die Reflexion ist in dem gleichen Sinne formal wie ihr "Objekt", die erste Reflexion. 3) Alle theoretischen Bewußtseins-(Reflexions-)prozesse sind grundsätzlich zweiwertig". 12 Die erste These schließt an Hegels "neue Theorie des Denkens" an. Die zweite These macht die Differenz zu Hegels Verständnis des Verhältnisses von Form und Inhalt aus. Die dritte These begründet, wie wir sehen werden, die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Differenz. Die erste These begründet Günther, indem er darauf verweist, daß das Denken als Gegenstand des klassischen Denkens nur in dessen Thematik des "Seins des Seienden" eingeordnet werden kann und somit seine Reflexivität nicht gedacht werden kann. Dieses Denken wird, wenn es klassisch gedacht wird, in einer Weise "vergegenständlicht", in der nicht eingesehen werden kann, wie diesem Denken selbst ein Gegenstand zukommen könnte. Die in dieser Weise "verdinglichte" Form des Denkens ist der Gedanke als "Wiederholung" des zu denkenden Seienden. Ihre Beziehung läßt sich nicht anders als als "Abbildung" denken. Deutlich wird dieses Abbildungsverhältnis von Gedanke und Gedachtem etwa in Wittgensteins Theorie des "logischen Bildes".13 Die klassische, zumindest bis auf die Aristotelische Syllogistik zurückgehende Tradition erlaubt uns, die (im weiteren Sinne) "formale" Beschreibung einer Tatsache nur über die Zuordnung der Werte "wahr" und "falsch" zu "Aussagen", "Urteilen" oder "Sätzen" über eine "Tatsache". Sätze sind Ausdrücke von "Gedanken" (3.1), Gedanken (3) und Sätze (4.01) aber besondere Formen des (logischen) "Bildes" einer Tatsache. Was Sätze, wie Bilder überhaupt mit der Tatsache gemein haben müssen, ist die "logische Form" der Abbildung (2.2). Durch jene Abbildung stellen sie, unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch sind, ihren "Sinn" dar. "Einen Sinn haben" bedeutet, daß 12 13

Günther, FN 7, 1958,374, 1976,155 L. Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt 1990; Die in Klammem ge-

setzten Zahlen beziehen sich auf die Paragraphen in der Gliederung der Schrift durch den Autor.

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sie zeigen, was der Fall ist, wenn sie wahr sind (4.022). Das "logische Bild" ist, wie Wittgenstein geradezu beiläufig bemerkt, selbst eine "Tatsache" (2.141). Dieses Postulat ist allerdings von entscheidender Bedeutung für die erkenntnistheoretische Interpretation dieser Logik. Nur dadurch, daß auch das Bild eine Tatsache ist, können wir den "Vergleich" von Bild und Tatsache vornehmen, der entscheidet, ob das Bild wahr oder falsch ist (2.223). An eben diesem Punkt setzt etwa die Kritik E.v.Glasersfelds an: "Als ich in den dreißiger Jahren Mathematik studierte, dachte ich, wie viele Angehörige meiner Generation, in Wittgensteins Tractatus meine Bibel gefunden zu haben. Immer wieder habe ich dieses Buch gelesen, bis ich eines Tages beim Paragraphen 2.223 stockte, - und das ganze wunderschöne Ideengebäude auf einmal zusammenbrach. Was ich nämlich zum ersten Mal verstand, war: ,Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen' [... ] Wie aber in Himmels Namen konnte man denn diesen Vergleich durchführen?,,14 Es ist nicht möglich, das Verhältnis von Gedanke und Gedachtem als Verhältnis von Tatsachen zu verstehen. Dieses Vorgehen setzt voraus, sowohl das Denken als auch den Gegenstand des Denkens zum Gegenstand zu machen, indem sie in die Thematik des "Seins des Seienden" eingeordnet werden. Wir können auf diese Weise nicht erklären, wie die eine Tatsache zum Gegenstand "für" die andere, das Gedachte zum Gegenstand "für" das Denken wird. Wir müssen im Gegenteil voraussetzen, daß beide Gegenstand "für" uns werden, und setzen somit das zu Erklärende voraus, ohne diese Voraussetzung begründen zu können. Daß sich hinter diesem Problem der Vergegenständlichung der Reflexion das Kognitionsproblem als Methodenproblem einer Kognitiven Neurobiologie ebenso wie das Körper-Geist-Problem der "Philosophy of Mind" verbirgt, sehen wir, wenn wir die metaphysische Terminologie des "Seins des Seienden" in eine analytischere Sprache zu übertragen versuchen. Die "Unmittelbarkeit", durch die dieses Sein (genauer: Dasein) gekennzeichnet ist, entspräche dann der "Anschaulichkeit", "Beobachtbarkeit" oder gar "Meßbarkeit" des Gegenstandes naturwissenschaftlicher Forschung. Als Gegenstand naturwissenschaftlicher Kognitionsforschung würde die "Reflexivität" des Forschungsgegenstandes, die das "Kognitive" wie auch das "Mentale" an ihm ausmacht, eben auf diese Prädikate reduziert werden und ließe als "unerklärlichen" Rest eben das "Sein" des Gegenstands "für" ein kognitives System wie auch die "Erlebnisdimension" aus einer "Perspektive erster Person" übrig, die sich dieser "unmittelbaren" Betrachtung des klassischen Denkens aus einer "Perspektive dritter Person" verschließt. Die Konsequenz eines Denkens, das sich auf diese klassischen Denkformen beschränkt, muß demzufolge, wie einleitend angedeutet, die "Elimination" des Subjektiven als ,,Reflexionsrest" 14 E. v. Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum Radikalen Konstruktivismus, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1987; Man beachte, daß sich dieses "offensichtliche" logische Problem nur im Falle des "Gedanken", nicht aber des "Satzes" ergibt. Der Satz ist durchaus eine Tatsache. Ob er sich als "logisches Bild" auffassen läßt, ist eine empirischeFrage.

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des klassischen Denkens sein. Wittgenstein überläßt diesen Rest einer mystischen Weltschau: "Das Subjekt gehört nicht der Welt an, sondern es ist eine Grenze der Welt" (5.632). Hegel selbst läßt das Bewußtsein diese Entwicklungsstufe in seiner "Phänomenologie des Geistes" in Form der Schädellehre durchlaufen, die als eine erste Entfaltung der Vernunft durchaus ihre Berechtigung hat. Ihre Wahrheit umschreibt er mit einer These, die man heutzutage wohl "eliminativ-materialistisch" nennen würde: "Die Wirklichkeit und Dasein des Menschen ist sein Schäde1knochen".15 III. Die Transklassische Logik der Reflexion

Das "Neue" der Hegelschen Denkformen, das Günther in seiner ersten These dieser "Iteration" des traditionellen Denkens gegenüberstellt, besteht in ihrem Verständnis von ,,Negativität": "Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andre hüben ohne Gemeinschaft mit dem anderen isoliert und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. [... ] Das Falsche [... ] wäre das Andre, das Negative der Substanz, die als Inhalt des Wissens das Wahre ist. Aber die Substanz ist selbst wesentlich das Negative, teils als Unterscheidung des Inhalts, teils als einfaches Unterscheiden, d. h. als Selbst und Wissen überhaupt. Man kann wohl falsch wissen. Es wird etwas falsch gewußt, heißt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz. Allein eben diese Ungleichheit ist das Unterscheiden überhaupt, das wesentliches Moment ist. Es wird aus dieser Unterscheidung wohl ihre Gleichheit, und diese gewordene Gleichheit ist die Wahrheit. Aber sie ist nicht so Wahrheit, als ob die Ungleichheit weggeworfen wäre, wie die Schlacke vom reinen Metall, auch nicht einmal so, wie das Werkzeug von dem fertigen Gefäße wegbleibt, sondern die Ungleichheit ist als das Negative, als das Selbst im Wahren als solchem noch unmittelbar selbst vorhanden". 16

Zunächst muß einschränkend bemerkt werden, daß das modeme logische Denken weit davon entfernt ist, "das Wahre" und "das Falsche" als "eigene Wesenheiten" zu denken. Heute ist es selbstverständlich, Wahrheit und Falschheit auf das Verhältnis von "logischem Bild" und "Tatsache" zu beziehen, in Hegel-Deutsch also auf das Verhältnis von "Wissen" und "Substanz". Ein logisches Bild/Wissen ist "falsch", wenn es "in Ungleicheit" mit der Tatsache/Substanz befindet, es ist wahr, wenn an die Stelle der Ungleichheit "Gleichheit" tritt. Fraglich ist jedoch, wie diese "gewordene Gleichheit" gedacht wird, ob sie also tatsächlich aus "dieser Unterscheidung" "geworden" ist, in welcher Form die "Ungleicheit" in der Wahrheit erhalten bleibt. Tatsächlich würde auch niemand die nach wie vor vorhandene "Ungleichheit" zwischen Gedanken und Gedachtem leugnen. Ein logisches Bild 15 16

FN 8, 258 FN 8, 38

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ist nicht die Tatsache. Die Zeichen und ihre Verknüpfung sind unterschieden von der Tatsache als Verbindung von Sachverhalten. Ihre Gleichheit bezieht sich "lediglich" auf die "logische Fonn" der Abbildung. Allerdings bestimmt diese Zuordnung völlig die Bedeutung des logischen Bildes und somit den Inhalt des Wissens. Die Natur der Zeichen ist für diesen Inhalt irrelevant. Im Inhalt des Wissens ist die "Ungleichheit mit der Substanz" eben nicht erhalten geblieben.

Nach Hegels Auffassung hingegen ist "das Falsche" als "Negatives" selbst der Substanz wesentlich, und zwar "teils als Unterscheidung und Bestimmung des Inhalts, teils als ein einfaches Unterscheiden, d. h. als Selbst und Wissen überhaupt". Nun ist selbst der Gedanke, daß "das Falsche" essentiell zur "Unterscheidung und Bestimmung des Inhalts" eines logischen Bildes ist, in den philosophischen Grundlagen der fonnalen Logik zumindest implizit mitgedacht: Nicht nur die Kontradiktion, sondern auch die Tautologie wird als "sinnlos" interpretiert, ist als Satz kein "logisches Bild", eben weil sie immer wahr ist, also nicht falsch sein kann. Allerdings spezifiziert das logische Bild nicht, was der Fall ist, wenn es falsch ist. Es drückt also nur die eine Seite der Unterscheidung aus. Es spezifiziert "das Wahre", nicht aber "das Falsche". Die Negativität des logischen Bildes bleibt unbestimmt. Mit dieser Negativität bleibt aber auch das "einfache Unterscheiden" "als Selbst und Wissen überhaupt" unbestimmt. Eben in dieser Bestimmung von Negativität geht Hegel über das klassische Denken vor und nach ihm hinaus: Der Gegenstand - in seiner allgemeinen Bedeutung des "dem Bewußtsein entgegenstehenden" wird zum Inhalt des Bewußtseins, wird zum Gegenstand "für es", das Bewußtsein, indem es diesen Gegenstand "negiert" und somit die inhaltliche Unterscheidung dieses Gegenstandes von dem, was er nicht ist, vollzieht. Die Negation des Gegenstandes ist jener vom Bewußtsein vollzogene "Akt des Unterscheidens", der diese Unterscheidung und somit Bestimmung des Inhalts erzeugt. Wollen wir dieses "Selbst und Wissen" verstehen, wollen wir auf diese Reflexion reflektieren, so haben wir nicht nach den "logischen Bildern" des Gegenstandes zu suchen, sondern - wie man sagen könnte: ganz im Gegenteil- nach der Negation des Gegenstandes durch das Bewußtsein. Doch auch unser Bestimmen der Negativität dieses Bewußtseins wird eine Negation sein müssen. Dem "Für-uns-sein des Für-es-seins" würde somit eine Negation der Negation entsprechen, die nicht im klassisch-logischen Sinne in die Affinnation zurückkehrt. Für Hegel ist jene Negativität die Form des Wissens. In der Bestimmung dieser Negativität wird die Fonn zum Inhalt. Die Differenz von Fonn und Inhalt wird somit "aufgehoben". Wie wir in Günthers zweiter These gesehen haben, geht er im Gegensatz zu Hegel davon aus, daß die Bestimmung von Negativität nicht mit der Auflösung der Unterscheidung von Inhalt und Fonn als Grundlage alles "theoretischen" Denkens verbunden sein muß. Zur Begründung der Möglichkeit der Aufrechterhaltung dieser Unterscheidung führt Günther in seinen späteren Arbeiten die Morphogrammatik ein. Die Operationen der Klassischen Logik erhalten ihre inhaltliche Bindung oder, wie Wittgenstein sagen würde, ihren "Sinn" durch die zugeordneten Wahrheits werte. In der Morphogrammatik wird von dieser inhaltli-

Kognitive Neurobiologie als Reflexionsproblem

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chen Unterscheidung abstrahiert, indem die Wahrheitswerte in den Wahrheitsfunktionen durch "Leerstellen" oder "Kenogramme" ersetzt werden, die sozusagen das "Muster" der Wertsequenz in einer Wahrheitsfunktion darstellen. Diese Kenogramme sind gleichgültig gegen die einzelnen Wahrheitswerte, an deren Stelle sie treten. Innerhalb der Wertsequenz einer Wahrheitsfunktion (und nur dort!) stehen aber gleiche Kenograrnme für gleiche Wahrheitswerte, verschiedene Kenograrnme für verschiedene Wahrheitswerte. So stellen etwa {ooox} und {xxxo} und {$ $ $ § } das gleiche Morphogramm, nämlich Morphogramm (1) dar. Belegt man jenes Morphogramm wieder mit Werten, ergibt sich also entweder die Wertfunktion [wwwf] oder [fffw]. Im Ergebnis erhält man also gemäß Tafel 1 aus den 16 Wahrheitsfunktionen der Klassischen Logik über zwei Variable 8 Morphogramme. p

Op

q

(p~q)

w w w f w f

w w w w w w w w w w f f w f w f w f w f w w f f f f f f w w w w

w w w f f w

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(1)(2)(3)(4)(5)(6)(7)(8) 0 0 0

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0 0

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x 0

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x x x

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x x

Tafel 1: Erzeugung der 8 klassischen Morphogramme aus den Wertetafeln der klassischen Logik

Was hat diese Transformation nun bewirkt? Mit der Abstraktion von den logischen Werten sind eben die Unterschiede des Inhalts auf der Ebene der Wahrheitsfunktionen verschwunden. Was geblieben ist, sind nun die "reinen Akte des Unterscheidens" oder, in Hegels Worten, das "einfache Unterscheiden" als "Selbst und Wissen überhaupt". Wollen wir nun auf diese Reflexionssituation reflektieren, müssen wir auf dieser "prä-semiotischen Ebene" die "Akte des Unterscheidens" des "Für-uns-seins" von den "Akten des Unterscheidens" des "Für-es-seins" unterscheiden, um "Akte des Unterscheidens" hinsichtlich dieser "Akte des Unterscheidens" vollziehen zu können. Zunächst setzt dies mindestens zwei weitere kenogrammatische Differenzen voraus, die man etwa erhält, indem man die in Tafel 1 erzeugte Morphogrammatik ,,kombinatorisch ausschöpft". Es ergeben sich dann die in Tafel 2 aufgeführten 7 zusätzlichen Morphogramme.

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(9)(10)(11)(12)(13)(14)(15) 0

+

0 0

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0

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0

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x x

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+ +

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*

x

Tafel 2: Die 7 transklassischen Morphogramme einer "zweiwertigen" Logik

In den Morphogrammen (9) bis (14) finden sich nun drei Kenogramme und somit parallel zueinander drei Akte des Unterscheidens (in unserer Notation: {o/x}, {o/+} und ( x/+}), in Morphograrnm (15) sogar sechs ({ o/+}, {o/*}, {o/x}, {+/*}, {+/x} und (*/x}). Inhaltlich lassen sich diese ,,reinen Formen" von drei parallelen "Akten des Unterscheidens" in einer dreiwertigen Logik ausgestalten, die wir beispielsweise erhalten, wenn wir jene Morphogramme (9) bis (14) wieder mit logischen Werten belegen. In einer solchen Logik können wir nun die inhaltlichen Unterscheidungen, die durch den einen "Akt des Unterscheidens" (des "beschriebenen Bewußtseins") erzeugt wurden, mit den inhaltlichen Unterscheidungen beschreiben, denen die beiden anderen ("unsere") "Akte des Unterscheidens" zugrundeliegen. Wir reflektieren also auf die klassische Reflexionssituation, indem wir gewissermaßen jede der beiden Seiten der Unterscheidung des Inhalts durch das beschriebene Bewußtsein gemäß der dritten These Günthers über eine zweiwertige Logik beschreiben und somit entsprechend der zweiten These die Differenz von Inhalt und Form aufrechterhalten. Das Reflexionsproblem wird somit gelöst, indem dem beschriebenen "Bewußtsein" in Analogie zu den Beschreibungen dieses Bewußtseins durch "uns" eine wahr-/falsch-Unterscheidung zugeordnet wird. Es ergibt sich eine dreiwertige Logik als "System" von drei zweiwertigen Logiken. Wir unterscheiden im Rahmen dieses Systems ein logisches Subsystem der Werte 1 und 2 (L1/2), eines der Werte 2 und 3 (L2I3) und eines der Werte 1 und 3 (Ll/3). In jedem dieser Subsysteme verstehen wir den zahlenmäßig kleineren Wert als positiven oder designierenden (wahren) Wert, den höheren als negativen oder nicht-designierenden (falschen) Wert. Der Wert ,,1" würde nun in den Logiken L1/2 und Ll/3 "wahr" sein, der Wert ,,2" in L2/3 "wahr" und in L1/2 "falsch" sowie der Wert ,,3" sowohl in L2/ 3 als auch in Ll/3 "falsch".l7 In seinen späteren Arbeiten zu einer "Polykontexturalitätstheorie" nennt Günther eine solche zweiwertige Logik eine ,,Elementarkontextur", ein System dieser Logiken hingegen eine "Verbundkontextur". Die schematische Darstellung einer solchen Verbundkontextur zeigt die Tafel 3. 17 Man beachte, daß sich eine "Reflexionslogik" erst aus dieser bestimmten Wertbelegung ergibt, die eine Hierarchie in die Differenzstruktur einführt. Die Morphogrammatik konzeptualisiert lediglich drei inhaltlich nicht spezifizierte, parallele und heterarchische Differenzen (Akte des Unterscheidens). Alternative Wertbelegungen, die man etwa durch die Umkehr der Ordnungsrelation in LI/3 erhält, ergeben ebenfalls keine Reflexionslogik, da sie diese Heterarchie aufrechterhalten.

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1

Ll/2 L2/3 Ll/3

W I I I I I I I I I I

W

2

--------->

3

f

I I I I

--------->

f

---------------------->

f

w

I I I I

Tafel 3: Schema einer dreiwertigen Verbundkontextur: ,,- - ->" = Ordnungsrelation, ,,- - -" =Umtausch- bzw. Koinzidenzrelation (Erläuterung im Text)

Um die Analogie der Elementarkontexturen zur klassischen Logik zu betonen, haben wir die Werte mit "w" und "f' notiert. Was sich aber in einem solchen System grundsätzlich gegenüber dem klassischen Formalismus ändert, ist die epistemologische Interpretation der logischen Werte. 18 Da das Klassische Denken das Sein, den Gegenstand als das Andere des Bewußtseins, der Reflexion zum Gegenstand hat, muß der irreflexiv-positive Wert als "wahr" interpretiert werden, die Reflexion selbst aber, insofern sie jenes Sein nicht "abbildet", sondern lediglich etwas vortäuscht, was nicht der Fall ist, als "falsch". Insofern das transklassische Denken aber jene Reflexion selbst zum Gegenstand hat, macht die Kennzeichnung der "bloßen Reflexion" als "Falsches" keinen Sinn mehr. Ebenso kann das "Wahre" nur noch in Bezug auf jene erste Reflexion verstanden werden, "für" die es der Fall ist. Insofern letztlich die zweite Reflexion der ersten in ihrer Zweiwertigkeit analog ist, müssen wir aber auch sie in ihrer Reflexivität betrachten. Es ergibt sich folgende Interpretation der drei Wahrheitswerte als Minimalsystem einer Transklassischen Logik: (1) positiv = irreflexiv (2) negativ = einfach reflexiv (3) transklassisch-negativ

= doppelt reflexiv

Insgesamt ermöglicht es eine solche transklassische Logik also, das Denken zu denken, die Reflexion zu reflektieren. Sie zeigt, wie "für uns" als Philosophen oder Wissenschaftler das Sein des Gegenstandes "für es", das (beschriebene) Bewußtsein zugänglich wird. Sie bietet eine logische Organisation, in der jene Grundstruktur der Hegeischen "Phänomenologie des Geistes", das "Für-uns-sein des Für-es18 Mit Hegels Worten in Fortsetzung des o.g. Zitats: "Es kann jedoch darum nicht gesagt werden, daß das Falsche ein Moment oder gar ein Bestandteil des Wahren ausmache. Daß an jedem Falschen etwas Wahres sei - in diesem Ausdruck gelten beide, wie Öl und Wasser, die unmischbar nur äußerlich verbunden sind. Gerade um der Bedeutung willen, das Moment des vollkommenen Andersseins zu bezeichnen, müssen ihre Ausdrücke da, wo ihr Anderssein aufgehoben ist, nicht mehr verwendet werden" (FN 8, S. 38).

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seins" fonnalisiert werden kann. Die Kontextur Ll/2 entspricht dem vom (beschriebenen) Bewußtsein selbst vollzogenen Akt des Unterscheidens und macht eben das "Für-es-sein" des Gegenstandes aus. Die Kontexturen L2/3 und Ll/3 entsprechen von "uns" vollzogenen Akten. Die in Kontextur LI!3 erzeugten Unterscheidungen machen das "Für-uns-sein" des Gegenstands aus. Kontextur L2/3 hingegen unterscheidet das "wovon" der Unterscheidung durch das Bewußtsein. Die beiden letztgenannten Kontexturen beschreiben so das "Für-uns-sein" des "Für-es-seins". Kehren wir nun zu Hegels Interpretation des "Wahren" und "Falschen" ztitück: Die Beziehung des "Wahren" "für uns" in Ll/3 und des "Wahren" "für es" in LI!2 ist jene der "Koinzidenz". Das bedeutet: Das Wissen, das wir erzeugen und seine Wahrheit behaupten, ist ein Wissen derselben "Substanz", desselben Gegenstands, von dem das Bewußtsein sein Wissen erzeugt und seine Wahrheit behauptet. Doch die "Unterscheidung und Bestimmung des Inhalts" erfolgt gegen ein anderes "Falsches", aus einer anderen "Ungleicheit mit der Substanz" heraus. Das "Falsche" unserer Unterscheidung entspricht dem dritten, das "Falsche" der Unterscheidung des (beschriebenen) Bewußtseins dem zweiten Wert. Erst aus dieser Unterscheidung wird ihre Gleicheit mit der Substanz, also die Koinzidenz des Wahren. Die koinzidierenden Wahren "für uns" und "für es" sind also "nicht so Wahrheit, als ob die Ungleichheit weggeworfen wäre [... ] sondern die Ungleicheit ist als das Negative, als das Selbst, im Wahren als solchem selbst noch unmittelbar vorhanden". "Für uns" ist das "Für-es-sein" also nur insofern als wir neben der Koinzidenz des Wahren "für uns" und "für es" auch das "Falsche" beschreiben, das jener Negativität als "Selbst und Wissen" des (beschriebenen) Bewußtseins zugrundeliegt. Eben dies wird in der die beiden Beschreibungen "vermittelnden" Kontextur L2/3 möglich. Die Beziehung des "Wahren" dieser Beschreibung zu jenem "Falschen" in Kontextur LI/2 ist nun allerdings inhaltlich gesehen nicht mehr jene "Koinzidenz", sondern der "Umtausch": Was im Unterscheiden des Bewußtseins das Falsche, Negative ist, muß für uns das Wahre, Positive werden. Dieser "Umtausch" und die mit ihm verbundene "Verteilung" eines logischen Widerspruchs über drei widerspruchsfreie Kontexturen ist auch die Grundlage für eine Logik, in der sich das Körper-Geist-Problem ebenso wie das Kognitionsproblem einer Kognitiven Neurobiologie auflösen läßt. Jede der drei Kontexturen entspricht einer wahr-/falsch-Unterscheidung, in der inhaltlich nicht nur der beschriebene Gegenstand als die positive oder "wahre" Seite dieser Unterscheidung, sondern als Bestimmung dieses Gegenstandes auch die negative oder "falsche" Seite dieser Unterscheidung zum Tragen kommt. Die in Ll/2 konzeptualisierte wahr-/ falsch-Unterscheidung durch das beschriebene System drückt somit das "Sein" des Gegenstandes "für es", dieses System aus. Die in Ll/3 und L2/3 konzeptualisierten wahr-/falsch-Unterscheidungen, die "wir" als Beobachter vollziehen, reflektieren auf diese Unterscheidung, lassen sie "für uns" werden. Die gesamte Verbundkontextur drückt somit eine ("physikalische") Beschreibung des Systems durch den Beobachter aus. Im Rahmen der Kontextur LI!2 macht also jener zweite Wert das "Negative" als "Standpunkt" oder "Perspektive" des kognitiven Systems oder auch

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"erlebenden Bewußtseins" aus, "für" das der mit dem ersten Wert designierte Gegenstand wird, "für" das es irgendwie ist, diesen Gegenstand wahrzunehmen, zu denken, oder zu fühlen. Im Rahmen der Kontextur L2/ 3 wird dieses "Negative" zwar bestimmt, tritt aber als das "Positive", "Anschauliche", "Beobachtbare", "Meßbare" "für uns", den "Beobachter", den "Wissenschaftler" auf. Zusammen mit Kontextur Ll/3 wird über diese Kontextur eine "physikalische" Modellienmg, eine Beschreibung des Systems aus einer "Perspektive dritter Person" möglich, die in Form der Kontextur Ll/2 einen "logischen Raum" schafft, in dem die kognitiven Leistungen des Systems, aber auch das "Erleben" dieses Systems als "Perspektive erster Person" seine Berücksichtigung findet. Wir müssen das Mentale also weder eliminieren, wie es der eliminative Materialismus fordert, noch müssen wir uns dessen Existenz durch eine notwendig physikalisch unvollständige Beschreibung des Gehirns hinsichtlich seiner "Erlebnisdimension" erkaufen, wie es die verschiedenen Spielarten des Dualismus voraussetzen. Das "Körper-Geist-Problem" besteht also in der Konfrontation der "logischen Orte" des Du und des Ich, oder modem gesprochen, des Systems und des Beobachters und findet seine Auflösung in einer polykontexturalen Logik, die jene beiden Orte miteinander vermittelt.

IV. Das repräsentationistische Forschungsprogramm in den Neurowissenschaften als Klassisches Denken? Der Kognitionswissenschaft kommt nicht zuletzt das Verdienst zu, eine neue Interessengemeinschaft von Philosophie und Wissenschaft geschaffen zu haben. Die an der Diskussion um die Kognitionswissenschaft beteiligten Philosophen verstehen sich allerdings - neben zumeist kritisch eingestellten "Phänomenologen" - in der Tradition der auf den logischen Empirismus zurückgehenden analytischen Philosophie. Die Systeme des Deutschen Idealismus sind für diese Philosophen geradezu das Paradebeispiel für die Fruchtlosigkeit eines metaphysisch-spekulativen Denkens. Dieser in vieler Hinsicht berechtigten Kritik sind aber auch die Denkformen dieser Philosophen zum Opfer gefallen, die in einer den Ansprüchen theoretischer und empirischer Forschung angemessen operationalisierten Form wichtige Beiträge für eine Lösung fundamentaler Methodenprobleme kognitions wissenschaftlieher Forschung leisten könnten. Dem Reflexionsproblem als Zentralthema der Philosophien Hegels, Schellings und Fichtes steht auch eine jede Kognitionswissenschaft gegenüber: Kognition ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und philosophischen Nachdenkens. Doch Kognition selbst ist Kognition eines Gegenstands. Kognition als Gegenstand der Forschung hat selbst einen Gegenstand. Kognitionswissenschaft ist wie ihr Gegenstand Kognition, ist Kognition von Kognition. "Kognition" bedeutet in diesem Sinne umgekehrt zunächst nichts anderes, als einen Gegenstand zu haben, der "für" ein reflexives "System" ist. Die Reduktion von Kognition auf eine "Abbildbeziehung" von "Tatsachen", ihre Konzeptualisierung unter der Thematik des "Seins des Seienden" begegnet uns in 16 Selbstorganisation, Bd. 6

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Form des Konzeptes von "Kognition als Repräsentation" als einheits stiftendem Ansatz des kognitionswissenschaftlichen Forschungsprogrammes: Kognitive Leistungen werden erforscht, indem theoretisch abgeleitet und experimentell begründet wird, wie der "Gegenstand" dieser Leistung (ein Reizparameter, ein "Muster" solcher Parameter, ein Objekt, eine Szene, ein Zusammenhang) in dem untersuchten System ,,repräsentiert" wird. Nicht selten wird mit diesem Forschungsprogramm explizit oder implizit ein repräsentationistischer Erklärungsansatz von Kognition verbunden: Eine kognitive Leistung gilt als erklärt, wenn die Repräsentation des "Gegenstands" dieser Leistung im System theoretisch verständlich gemacht und experimentell nachgewiesen werden kann. Theoretisch expliziert wird dieses Verständnis von Kognition als Repräsentation gemeinhin über ein informationstheoretisches Kategoriensystem .. Das ,,Repräsentierte" wird zur "Bedeutung" der ,,zeichen" bzw. "Symbole" eines systemimmanenten "Codes". Die in der Einleitung genannten neuartig orientierten Forschungsansätze seit den 70er Jahren unterscheiden sich von dem ,,klassischen" kognitivistischen Ansatz nicht hinsichtlich der Erforschung von "Kognition als Repräsentation", sondern dahingehend, auf welcher "Ebene" des Verständnisses jener Systeme die relevanten Repräsentationen, Codes oder Symbole zu finden sind und welche Organisation die Symbole oder Repräsentationen aufweisen. Versuche zur Entwicklung einer Kognitiven Neurobiologie verfolgen den Ansatz, Kognition durch die Untersuchung von Repräsentationen auf neuronaler Ebene zu erforschen. Die empirische Grundlage hierfür bilden vor allem die Ergebnisse der elektrophysiologischen Forschung im Kontext neuroanatomischer Untersuchungen und neuropsychologischer Befunde. Seit der Entwicklung von Techniken zur Messung der Aktivität einzelner Nervenzellen am lebenden Versuchstier 19 folgen diese Experimente dem Paradigma der Untersuchung von ,,Reizkorrelaten" in der neuronalen Aktivität. An einem zumeist anästhesierten und paralysierten Versuchstier werden durch systematische Variation eines zu untersuchenden Reizangebotes diejenigen (visuellen, auditorischen, somatosensorischen etc.) Reizparameter bestimmt, bei denen es zur Veränderung der Aktivität einer Nervenzelle kommt. Ziel dieser Untersuchung ist also, allgemein gesagt, die Herstellung einer signifikanten Korrelation zwischen bestimmten Reizparametern einerseits und der über die Zeit registrierten Entladungsrate der Zelle (Aktionspotentiale pro Zeiteinheit) andererseits. Das detaillierteste Wissen hat bislang die Erforschung des visuellen Systems erbracht. Barlow konnte bereits 1953 nachweisen, daß bereits Ganglienzellen der Froschretina spezifisch auf kleine schwarze Flecke reagieren, die über das rezeptive Feld jener Zellen bewegt wurden. Maturana et al. konnten zeigen, daß die Aktivität dieser Zellen weitgehend unabhängig von variierenden Beleuchtungsverhältnissen ist und somit eine Konstanzleistung darstellt. Hubel und Wiesel entdeckten im visuellen Cortex von Katzen und Affen Zellen, deren 19 H.K. Hartline: The response of single optic nerve fibers of the vertebrate eye to illumination of the retina, Am.J.Physiol. 121, 400-415 (1938); The receptive fields of optic nerve fibers, Am.J.Physiol. 130,690-699 (1940)

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Aktivität mit einfachen visuellen Reizparametern wie der Orientierung oder Bewegungsrichtung von Lichtbalken korreliert war. Andere Arbeiten wiesen Korrelationen der Aktivität von Zellen mit verschiedenen Bewegungsparametern, der Disparität oder der Wellenlänge des Lichtreizes, ja sogar mit "Gesichtern" und "Händen" im rezeptiven Feld nach. 2o Viele Himstrukturen zeigen hinsichtlich dieser Reizkorrelationen eine "topologische" Ordnung, d. h. die Aktivität benachbarter Zellen eines Himareals sind korreliert mit der Aktivität benachbarter Orte der entsprechenden sensorischen Oberflächen. Die Hoffnungen, auf der Grundlage solcher Einzelzellableitungen Hierarchien von Zellen nachzuweisen, deren Aktivität von Stufe zu Stufe mit immer komplexeren Merkmalen und letztlich ganzen Objekten korreliert ist, mußten bald aufgegeben werden. Stattdessen hat das Zusammenspiel anatomischer Methoden und physiologischer Experimente zu recht detaillierten, wenn auch keineswegs unumstrittenen Modellen einer parallel-sequentiellen Organisation des visuellen Systems geführt. 21 Bereits das Kardinalzellkonzept von Barlow22 verfolgte recht explizit den Anspruch einer Kognitiven Neurobiologie, indem auf Grund der hierarchischen Organisationsmodelle des Cortex eine Erklärung von Wahrnehmung durch die Konvergenz der neuronalen Aktivität auf objektselektive "Kardinalzellen" unterstellt wurde. Die mißlungene empirische Bestätigung dieses Konzeptes hat dazu geführt, daß neuere Konzepte einer Kognitiven Neurobiologie die reizkorrelierte Aktivität ganzer Neuronenpopulationen für die Erklärung von Wahrnehmung voraussetzen. 23 Allerdings kann man durchaus auch jenen Konzepten, die sich einer "funktionellen Neuroanatomie" verpflichtet fühlen, auf Grund der Verwendung eines inforrnationstheoretischen Kategoriensystems als Interpretationsrahmen einen "im20 H.B. Barlow: Summation and inhibition in the frog's retina, J.Physiol. 119,69-88 (1953); H.B. Barlow, C. Blakemore & J.D. Pettigrew: The neural mechanism of binocular depth discrimination, J.Physiol. 193,327-342 (1967); R.L. DeValois, I.Abramov & G.H. Jacobs: Analysis of response patterns of LGN cells, J.Opt.Soc.Am. 56,966-977 (1967); D.H. Hubel& T.N. Wiesel: Receptive fields of single neurons in the cat's striate cortex, J.Physiol. 148, 574-591 (1959); Receptive fields, binocular interaction and functional architecture in the cat's visual cortex, J.Physiol. 160, 106-154 (1962); Receptive fields and functional architecture of monkey striate cortex, J.Physiol. 195,215-243 (1968); H.R. Maturana, J.Y. Lettvin, W.S. McCulioch & w.H. Pitts: Anatomy and physiology of vision in the frog (Rana pipiens), J.Gen.Physiology 43, 129-175 (1960); c.G. Gros,/C.E. Rocha-MirandaID.B.Bender,:Visual Properties of Neurons in Inferotemporal Cortex of the Macaque Monkey, J.Neurophysiol. 66,170-189 (1972) 21 S.M. Zeki & S. Shipp: The Functional Logic of Cortical Connections, Nature 335, 311317 (1988); S. Zeki: The Visual Image in Mind and Brain, Scientific American September 1992; D.C. Van Essen & J.H.R. Maunsell: Hierarchical Organization and functional streams in the visual cortex, Trends Neurosci. 6, 255-281 (1983); D.C. Van Essen, c.H. Anderson & D.J. FeIleman: Information processing in the Primate Visual System: an Integrated Systems Perspective, Science 255,419-423 (1992) 22 Barlow,H.B., Single units and sensation: a neuron doctrine for perceptual psychology? Perception 1,371-394 (1972) 23 K. Tanaka: Inferotemporal cortex and higher visual functions, CUIT.Opin.Neurobiol. 2,502-505 (1992) 16*

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pliziten Repräsentationismus" unterstellen. Spricht der Neurobiologe nämlich über seine Ergebnisse, so wird aus den Reizkorrelaten ein "neuronaler Code", eine "Merkmalscodierung" oder eine "Populationscodierung" im Gehirn als einem "informationsverarbeitenden System". Die Reizkorrelate erfüllen also die Funktion, jene Reize zu "codieren" oder zu ,,repräsentieren". Es wird somit ein "semantischer Aspekt" von Information vorausgesetzt, der eben jene Bedeutung "für" das System erfaßt. Doch woher gewinnt der "neuronale Code" nun seine Semantik? Welche empirischen Ergebnisse oder zumindest welche theoretischen Annahmen rechtfertigen diese Sprechweise? Zunächst ist es ja nur der Experimentator, der Reize und neuronale Aktivität einander zuordnet und so letztere als "Code" für erstere bestimmt und den "Zeichen" dieses "Codes" eine "Bedeutung" zuschreibt. Eine explizitere Bedeutung als in der experimentellen Neurobiologie gewinnt diese informationstheoretische Begrifflichkeit in den theoretischen Neurowissenschaften. Hier sind es in den letzten zehn Jahren gerade die "Computational Neurosciences", die in ihren Modellen den "constraints" experimenteller Forschung gerecht zu werden versuchen. Im Zentrum des Interesses dieser Ansätze steht wiederum, so Sejnowski et al. in einem Übersichts artikel, das Problem der Informationsverarbeitung: "The ultimate aim of computational neuroscience is to explain how electrical and chemical signals are used in the brain to represent and process information". Die Spezifik des Erklärungsansatzes der Computational Neurosciences bezieht sich ebenfalls auf den semantischen Gehalt von Information: "Mechanical and causal explanations of chemical and electrical signals in the brain are different from computational explanations. The chief difference is that a computational explanation refers to the information content of physical signals and how they are used to accomplish a task".24 Gelöst werden solche Informationsverarbeitungsprobleme, indem jene Algorithmen herausgearbeitet (und implementiert) werden, die die anfangs nur "implizit" in den aufgenommenen Signalen "enthaltene" Information so explizieren, daß eine symbolische Zuordnung vorgenommen werden kann. Marr als einer der Väter jenes Forschungsprogramms definiert in eben dieser Weise seinen Repräsentationsbegriff: "A representation is a formal system for making explicit certain entities or types of information, together with a specification of how the system does this". An die Stelle der Merkmalshierarchien der Neurobiologen tritt nun eine Hierarchie von "Explikationsstufen" der Information mit einer zunehmend "objektiveren" symbolischen Entsprechung. In dem von Marr vorgeschlagenen Modell der visuellen Wahrnehmung werden dementsprechend etwa jene Transformationen entwickelt, die notwendig sind, um das "Bild auf der Reti24 .J. Sejnowski, C. Koch & P.S. Churchland: Computational Neuroscience, Science 241, 1299-1306 (1988); Oft zitierte Arbeiten dieses Forschungsansatzes sind: C. Hurlbert & T.A. Poggio: Synthesizing a Color Aigorithm from Examples, Science 239, 482-485; R. Lehky & T.J. Sejnowski: Network model of shape from shading: neural function arises from both receptive and projective fields, Nature 333, 452-455 (1988); D. Marr & S. Ullmann: Directional selectivity and its use in early visual processing, Proc.R.Soc.London Ser.B 211,151-180 (1981)

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na" sukzessive in einen 2-dimensionalen und systemzentrierten "primal sketch", einen systemzentrierten 2 112-dimensionalen "sketch" und eine objektzentrierte, 3-dimensionale ,,representation" zu verwandeln. Was in jedem dieser Schritte "expliziert" wird, ist die Information über die Intensitätsverteilung, die Geometrie der Intensitätsveränderungen, die Geometrie der Flächentiefen, Flächenorientierungen und Konturen sowie letztlich die räumliche Organisation der Form des Objektes. 25 Doch auch in diesen Modellen wird (ausnahmslos) deutlich, daß die Semantik jener Informationsverarbeitung, d. h. die symbolische Referenz der auf den jeweiligen Verarbeitungs stufen "explizierten" Information immer schon vorausgesetzt ist. Auch hier wird also nicht ersichtlich, wie Information über jene Bedeutung hinaus, die sie "für" den Modellierer hat, Bedeutung "für" das System gewinnt. Unschwer erkennt man in dem Problem des Bedeutungsaspektes neuronaler Aktivität die Problematik des logischen Bildes als Beziehung von Tatsachen wieder. Wie das Objekt, so ist auch die Repräsentation eine Tatsache "für" den Experimentator oder den Theoretiker. Er ist es, der die neuronale Aktivität als "Repräsentation" eines Objektes deklariert - da er diese Zuordnung ja selbst erzeugt hat. "Für" den Neurowissenschaftler, nicht "für" das Nervensystem, hat die neuronale Aktivität "Bedeutung", "expliziert" sie "Information" über die Wirklichkeit, ist sie ein "neuronaler Code" - da er dieser Aktivität Bedeutung, Information und eine Codierungsfunktion ja selbst zugeschrieben hat. Die Frage, wie die neuronale Aktivität "für" das Nervensystem zur "Repräsentation" wird, wie sie "für" das Nervensystem Bedeutung gewinnt, Information expliziert oder zum "neuronalen Code" wird, führt in die altbekannte ,,homunculus fallacy": Es müßte in irgendeinem "höheren Zentrum" des Gehirns eine "Instanz", ein "Subjekt" geben, das die Repräsentation "als solche" erkennt, d. h. in ihrer "symbolischen Entsprechung" zu einer Tatsache erfaßt, ihre "Bedeutung" oder "aboutness" versteht, sie als "Information über" etwas auffaßt. Oder es muß zumindest in Form eines "naiv-realistischen Mißverständnisses" die Beschreibung (nicht als solche, sondern) "als die Wirklichkeit selbst" (miß-)verstehen. Nachdem die Repräsentation des Objektes "im" System gezeigt wurde, gänge es darum, zu erklären, wie das "Subjekt" in einem ,,höheren Zentrum" des Gehirns erkennt, wahrnimmt, zur Kognition fahig ist. Ein repräsentationistisches Erklärungskonzept würde hier wieder Repräsentationen "zweiter Ordnung" postulieren müssen, die die Wirklichkeit und ihre Beschreibung "erster Ordnung", aber zumindest (im Falle des "naiv-realistischen Mißverständnisses") die letztere beschreiben. Diese Beschreibungen "zweiter Ordnung" würden wiederum Beschreibungen "dritter Ordnung" implizieren etc. Um diesen unendlichen Regreß zu umgehen, bleibt im Rahmen eines repräsentationistischen Ansatzes als einzige Lösung die "Elimination von Subjektivität" im Sinne der in der Einführung angedeuteten philosophischen Konzepte. Die Frage nach der "Erlebnisdimension" von Kognition, danach, wie es "für" ein Tier oder einen Menschen ist, seine Welt denkend, wahrnehmend, fühlend zu erleben, muß unter diesen Um25

D. Marr: Vision, New York: Freeman 1982

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ständen sinnlos sein. Vor allem aber wird die Spezifik kognitiver Leistungen überhaupt in Frage gestellt; denn es kann so nicht mehr verständlich gemacht werden, wie sich ein System überhaupt zu seiner Umgebung in Beziehung setzen, diese Umgebung zum Gegenstand "für es" werden lassen kann. Dennett oder Churchland haben gewiß recht, wenn sie gegen Konzepte polemisieren, die einen Homunculus im Gehirn implizieren. 26 Das Problem des Erlebens eines "ganzen" Menschen ist damit aber nicht aus der Welt geschafft. Vielmehr erweist sich die scheinbare Unlösbarkeit dieses Problemes als Symptom eines verfehlten Kognitionsverständnisses, das in nichts weniger als der Begrenztheit unserer ,,klassischen" Rationalität ihren Ursprung hat.

V. Kognitive Neurobiologie als Transklassisches Denken?

Wie läßt sich die "Negativität" von Kognition als Lösung des Körper-Geist-Problemes im Gegensatz zu dem "affirmativen" Verständnis von Kognition im Rahmen des klassischen Denkens und seiner Realisation im repräsentationistischen Forschungsprogramm verstehen? Wie läßt sich, ausgehend von der in diesem Buch antizipierten "transklassischen Rationalität", die Perspektive einer Kognitiven Neurobiologie konzipieren? Nicht nur Hegels Logik, sondern auch sein Wahrnehmungskonzept aus der "Phänomenologie des Geistes" kann uns hier wertvolle Denkanstöße liefern. Der Überzeugung des englischen Sensualismus, daß nichts im Verstande wäre, was nicht von den Sinnen käme, daß unsere komplexen Ideen nichts anderes als die Assoziation jener einfachen Ideen der Sinne seien, setzt Kant27 die "Spontaneität" des Verstandes entgegen. Die "Spontaneität" des Verstandes und die "Rezeptivität" der Sinnlichkeit, so Kant, können nur "in Verbindung" Gegenstände bestimmen". Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (52). Auch Wahrnehmungen als von Empfindungen begleitete Vorstellungen (113) müssen wir in jener gegenseitigen Bedingtheit verstehen. Trotzdem "darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem anderen sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden" (51 f.). Hinsichtlich der Wahrnehmung bedeutet dies: Der "Anteil" der Sinnlichkeit ist t'Iie Empfindung der "Materien", die in Raum und Zeit als den ,,reinen Formen der sinnlichen Anschauung" gemäß der transzendentalen Ästhetik eingeordnet werden; der "Anteil" des Verstandes hingegen ist die Vereinigung dieses "Mannigfaltigen" vieler Materien zu einem Gegenstand gemäß den Kategorien der transzendentalen Logik und der "Einheit der Apperzeption". Vgl. FN 6 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1979. Die nachfolgend in Klammem gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf die Originalausgabe von 1781. 26

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Hegels "Phänomenologie des Geistes,,28 vollzieht in der "Erfahrung des Bewußtseins als Wahrnehmung" (92ft) die Vermittlung oder den Übergang zwischen Sinnlichkeit und Verstand als dualistisch isolierte "Anteile" des Kantschen Wahrnehmungsbegriffs. Das "Ding mit seinen vielen Eigenschaften", das die Wahrnehmung zunächst als ihren Gegenstand betrachtet, ist insofern widersprüchlich, als es einerseits das ,,viele" oder "Auch" der Materien als "Allgemeine" der Wahrnehmung, andererseits aber ihre Zusammenfassung zum "Eins" des Dinges voraussetzt, einerseits die Unabhängigkeit jener Materien voneinander, andererseits aber ihre gegenseitige Bestimmtheit. Das Ding als "Auch" spielt lediglich die Rolle eines Mediums, in dem sich die vielen Materien bewegen, ein Medium, das ermöglicht, daß z. B. das Salz "weiß, und auch scharf, und auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere ist", um Hegels (94) eigenes Beispiel zu verwenden. Diese Eigenschaften können aber, um bestimmt sein zu können, nicht schlechthin gleichgültig gegeneinander sein, sondern müssen sich von anderen Eigenschaften unterscheiden und sich auf andere Eigenschaften als entgegengesetzte beziehen. Ein Ding kann nicht gleichzeitig süß und bitter, wohl aber süß und scharf sein. Oder vielleicht auch: ein (einfarbiges) Ding kann gleichzeitig rot und gelb (orange) sein, nicht aber rot und grün. Hierfür muß die Bestimmung des Dinges als "Eins" angenommen werden, die eben jene Unterscheidungen und Entgegensetzungen vornimmt. Für das Bewußtsein, so müßte man mit Hegel schließen, kann eine "Materie" auf keine andere Weise als diese bestimmt sein. Schließlich kommt aber auch die Bestimmung einer "Eigenschaft" jenen gleichgültigen "Materien" des Dinges als "Auch" noch gar nicht zu, sondern ergibt sich gerade eben aus dem Bezug auf das Ding als "Eins", als die diesem Ding "eigene" Materie. Es gibt keine Röte, Schärfe oder Schwere. Es gibt nur rote, scharfe und schwere Dinge. Das Ding mit seinen vielen Eigenschaften als Gegenstand der Wahrnehmung selbst ist also widersprüchlich, indem es sowohl Eins (nicht Vieles), als auch Vieles (nicht Eins) ist. Im Fortgang der "Phänomenologie des Geistes" sucht das Bewußtsein diesen Widerspruch aufzulösen, indem es sich selbst in der einen Hinsicht im Sinne Kants das "In-eins-setzen" der als gegeben vorausgesetzten vielen Materien zuschreibt, in einer anderen Hinsicht aber das Ding als "Eins" voraussetzt und sich selbst die Erzeugung der vielen Materien zuschreibt. Zunächst faßt das Bewußtsein das Ding als "Eins" auf und sieht sich somit gezwungen, all das, was jenem "Eins"-sein des Dinges widerspricht als seine Reflexion anzusehen. Explizieren wir dies mit Hegel weiter am Beispiel des Salzes: "Dies Ding ist also in der Tat nur weiß, an unser Auge gebracht, scharf auch, an unsre Zunge, auch kubisch, an unser Gefühl, und so fort. Die gänzliche Verschiedenheit dieser Seiten nehmen wir nicht aus dem Dinge, sondern aus uns; sie fallen uns an unserem von der Zunge ganz unterschiedenen Auge und so fort, so auseinander" (99). Im Gegensatz zu jenem Ding als Eins faßt sich also das Bewußtsein als das allgemeine Medium auf, das dem Ding 28 FN 8. Die nachfolgend in Klammem gesetzten Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

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als "Auch" entsprechen würde. Das Ding als "Eins" ist also "für es", indem es das Moment des "Auch" der vielen unabhängigen Materien als dessen Negation erzeugt. Beide Bestimmungen beziehen sich aber, wie wir gesehen haben, notwendig aufeinander. Jene Materien erhalten ihre Bestimmung als Eigenschaften nur in ihrem Bezug auf das Ding als "Eins", das Ding ist "Eins" nur, insofern es gegen andere Dinge durch unterschiedene Eigenschaften bestimmt ist. Wenn aber die Eigenschaften Eigenschaften des Dinges sein sollen, so muß das Ding selbst "für es" ein Vieles solcher Eigenschaften und somit das "Auch" oder gleichgültige Allgemeine oder Medium dieser Eigenschaften sein. Das Bewußtsein schreibt nun sich selbst die Erzeugung des Dinges als "Eins" zu: "Das In-eins-setzen dieser Eigenschaften kommt nur dem Bewußtsein zu, welches sie daher an dem Ding nicht in Eins fallen zu lassen hat" (101). "Für es" ist also das Ding als "Auch" bzw. die unabhängigen Materien, indem es selbst das Moment des "Eins" als dessen Negation erzeugt. Nun können wir allerdings das Spiel von vorne beginnen lassen: Damit aber das Ding mit vielen Eigenschaften "für es" werden kann, müssen jene Materien gegeneinander bestimmt und somit das Moment der ausschließenden Allgemeinheit an sich selbst haben. Das Bewußtsein muß, um das Eins konstituieren zu können, die Bestimmtheit des Dinges durch seine Eigenschaften festhalten etc.etc. Indem das Bewußtsein also das "Auch" der vielen Materien konstituiert, wird "für es" der Gegenstand als "Eins", der jene Materien zu Eigenschaften macht. Indem es das "Auch" jener Materien "in-eins-setzt", werden jene Materien "für es" zu Eigenschaften des Dinges. In dieser gedoppelten Bewegung wird das Ding mit seinen vielen Eigenschaften also "für" das Bewußtsein. Prädikatenlogisch betrachtet ergeben sich im Ergebnis des Wahmehmungskapitels der Phänomenologie recht simple einstellige Prädikate. Die "vielen" Materien würden den "Prädikatoren" entsprechen, das Ding als "Eins" der Variablen. Im Wahrnehmungskapitel der "Phänomenologie" geht es um den Prozeß der Zuordnung dieser Prädikatoren zu den Variablen. Wie läßt sich dieser "Prädikationsprozeß" nun logisch-formal ausdrücken? Die überraschende Antwort ist: Im Rahmen der Klassischen Logik überhaupt nicht! Im prädikatenlogischen Urteil ist die Bindung eines Prädikators an eine Variable immer schon vorausgesetzt. Der Zuordnung von Prädikator und Variable kommt, ebenso wenig wie dem Prädikator und der Variablen selbst, eine wahr-/falsch-Unterscheidung zu. Hierfür wäre es erforderlich, die Variable zu quantifizieren oder als Individuennamen zu bestimmen. Sie hat, formal gesehen, keine Bedeutung. Übertragen wir die Erfahrung des Bewußtseins in der Bewegung der Wahrnehmung gemäß der Hege1schen "Phänomenologie" auf dieses Problem, so kann jene Bindung ausgedrückt werden, indem die Erzeugung der durch die (vielen) Prädikatoren (P h P2 , •.. , Pn ) symbolisierten Materien durch das System bei gegebenem durch die Variable symbolisiertem Ding (als Eins) gezeigt wird und indem die Erzeugung jenes Dinges (als Eins), für das die Variable steht, bei gegebenen Materien, die wieder durch jene Prädikatoren ausgedrückt werden, gezeigt wird - wobei allerdings dieses "und" in seiner offensichtlichen Widersprüchlichkeit noch zu diskutieren sein wird. Das im letzten Ab-

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schnitt als grundlegender Ansatz der experimentellen Neurobiologie diskutierte Konzept der "Merkmalselektivität" soll insofern ein Konzept zum Verständnis der Wahrnehmung sein, als es die Rezeptivität gegenüber einem "Allgemeinen" erklären soll, wie es durch den Prädikator im prädikatenlogischen Ausdruck symbolisiert wird. Den Anspruch einer neurobiologischen Erklärung von Wahrnehmung kann dieses Konzept, vom Standpunkt der "Phänomenologie" betrachtet, nicht einlösen, weil es die gegebenen Eigenschaften nur "wiederholt" oder eben "rezipiert", sie aber weder in ihrer Erzeugung zeigt, noch die Erzeugung des "anderen Moments", nämlich ihr In-eins-setzen deutlich macht. Eben diese beiden Perspektiven werden allerdings in Konzepten der theoretischen Neurobiologie "implizit" gezeigt, ohne daß allerdings die entsprechende Logik expliziert und somit "Wahrnehmung" begrifflich durchdrungen wird. Diese Konzepte sollen im Folgenden diskutiert werden. Die Erzeugung der Prädikatoren bei gegebener Variable (wie wir desweiteren verkürzt sagen wollen) kann im Rahmen von Assemblykonzepten bzw. Neuronalen Netzwerken in Form eines "assoziativen Gedächtnisses" gezeigt werden. Die diesen Modellen zugrundliegenden Algorithmen gehen von einer endlichen Anzahl von Einheiten aus, die über eine Konnektivitätsmatrix verknüpft sind. Eine "Übertragungsregel" definiert in Abhängigkeit von den in dieser Matrix festgelegten Verbindungsstärken die Transformation eines Aktivitätsvektors, der die Aktivität der Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt erfaßt, in einen Aktivitätsvektor, der die Aktivität der Elemente einen Zeitschritt später bestimmt. Weiterhin wird zu der Aktivität aller oder einiger Einheiten ein Input an Aktivität addiert, der den Inputvektor des Netzes bildet. In Abhängigkeit von der Aktivität der verknüpften Elemente verändern sich die Verbindungsstärken der Konnektivitätsmatrix zwischen jenen Elementen gemäß einer "Lernregel". Im Ergebnis des Lernvorganges wird der "Merkmalsraum" des Inputs so auf das Netzwerk projiziert, daß nach Vollzug des Lernens jeder Input eine lokalisierte Aktivität hervorruft, die die wichtigsten Merkmalskoordinaten "repräsentiert".29 Auf diese Weise sollen solche Assemblykonzepte Modelle für die neurobiologischen Grundlagen der Wahrnehmung im Kontext der entsprechenden Lern- und Gedächtnisleistungen liefern. Die Inputschichten würden dann sensorischen oder subkortikalen Eingängen entsprechen, während die Aktivität der Outputschichten unter bestimmten Bedingungen nach langen Lernprozessen "Merkmalskarten" jenes Inputs repräsentieren würden. Auf dieser Grundlage wurden eine Reihe von Modellen entwickelt, die die Erzeugung topographischer Karten, von Okularitätsdominanz, Richtungsselektivität oder von Orientierungsselektivität erklären. 3D Doch nicht die "Repräsentation" des Inputs 29

G. Palm: Neural Assemblies, Beriin I Heidelberg: Springer 1982

30

E.L Bienstock, L.N. Cooper & P. W. Munro: heory for the development of neuron selecti-

vity: Orientation specifity and binocular interaction in visual cortex, J.Neurosci. 2,32-48

(1982); T. Kohonen: Self-organized formation of topologically correct feature maps, Biol.Cybem. 43,59-69 (1982); T. Kohonen: Analysis of a simple self-organizing process, Biol.Cybem. 44,135-140 (1982); R. Linsker: From basic network principles to neural architectu-

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Axel Ziemke

im Ergebnis der Plastizität des Assemblys, die wiederum nur "für" einen Beobachter feststellbar ist, modelliert einen kognitiven Aspekt der Wahrnehmung, sondern es ist jene Plastizität selbst, die einen Aspekt von Wahrnehmung erhellt, nämlich die Erzeugung der Prädikatoren bei gegebener Variable, wobei es unerheblich ist, ob ein Beobachter jene "lokalisierte Aktivität" mit Eigenschaften (Merkmalen in seinem Merkmalsraum) korrelieren kann. 31 Im Gegensatz zu diesen auf "Hebbian leaming" beruhenden Modellen kann jene Erzeugung der Prädikatoren durch das System selbst über Netze, deren "Lernfähigkeit" auf "supervised leaming" (etwa einem back-propagation algorithm) beruht, nicht gezeigt werden; denn hier werden die relevanten Unterscheidungen nicht vom Netzwerk selbst, sondern vom "Trainer" getroffen. Reinterpretiert werden müssen diese Konzepte und ihre empirischen Belege vor dem Hintergrund der Hegeischen Wahrnehmungslogik also dahingehend, daß nicht etwa durch die "Repräsentation" der Merkmale in einem Assembly die "Wahrnehmung" dieser Merkmale konzeptualisiert wird, sondern durch die Erzeugung dieser Merkmale durch das System selbst jenes Moment der Wahrnehmung, in dem durch die Erzeugung der Prädikatoren das durch die Variable symbolisierte Ding als "Eins" "für" das System wird. Daß aber auch die umgekehrte Leistung, die Erzeugung jener (einen) Variable, die die (vielen) Prädikatoren "in-eins-setzt" für die Wahrnehmung eine wesentliche Rolle spielt, zeigt sich an einem fundamentalen theoretischen Problem dieser Netzwerkmodelle, das sich ergibt, wenn im Ergebnis dieser ontogenetischen Plastizität die Prädikatoren in Form der Aktivität merkmalselektiver Einheiten vorausgesetzt werden und entschieden werden muß, welche der Prädikatoren PI. Pb ... , Pn an die Variable zu binden sind. Diese Schwierigkeit ergibt sich, wenn zwei oder mehr Dinge im "Wahrnehmungsfeld" unterschieden werden können. Setzen wir etwa die durch die beiden folgenden Existenzurteile ausgedrückten Dinge mit ihren (jeweils zwei) Eigenschaften voraus: (I)

V(x,) [P,(x,) & P2(x,)]

(2)

V(X2) [P3(X2) & P4(X2)]

re: Emergence of orientation selective cells, Proc.NatI.Acad.Sci.USA 83,8390-8394 (1986); From basic network principles to neural architecture: Emergence of orientation columns, Proc.NatI.Acad.Sci.USA 83,8779-8783 (1986); C v.d. Malsburg: Self-organization of orientation selective cells in the striate cortex, Kybernetik 14,85-100 (1973); Development of ocularity domains and growth behavior ofaxon terminals, Biol.Cybern. 32,49-62 (1979); C v.d. Malsburg & J.D. Cowan: Outline of a theory for the ontogenesis of iso-orientation domains in visual cortex, Biol.Cybern. 45,49-56 (1982) 3' Empirische Belege solcher Konzepte könnten etwa sein: G.H. Recanzone, CE. Schreiner & M.M. Merzenich: Plasticity in the Frequency Representation of Primary Auditory Cortex Following Discrimination Training in Adult Owl Monkeys, J.Neurosci. 13,87-103 (1993); M.M. Merzenich & K. Sameshima: Cortical Plasticity and Memory, Curr.Opin.Neurobiol. 3, 187-196 (1993)

Kognitive Neurobiologie als Reflexionsproblem

251

Das Assembly hätte nun exakt die Aufgabe, die Bindung der in Form der Aktivität merkmalselektiver Einheiten gegebenen Prädikatoren an jeweils eine der beiden Variablen zu erzeugen. Da aber das Assembly diese Prädikatoren nur durch die Koaktivierung dieser Einheiten im Ergebnis seiner Lernprozesse ausdrücken kann, kommt es schon, wenn wir uns auf die Fälle von zwei Merkmalen beschränken, zu den folgenden vier "illusorischen Konjunktionen": (3)

V(X3) [P 1(X3) & P3(X3)]

(4)

V(l4) [P 1(X4) & P4(X4)]

(5)

V(X5) [P2(X5) & P3(X5)]

(6) Ein neuronales Netz kann die Bindung gegebener Prädikatoren an ihre Variablen nicht ausdrücken, kann also die "vielen Materien" nicht "in-eins-setzen". Dieses sowohl bereits in den frühen Arbeiten zum "Perceptron,,32 als auch in der modernen Konnektionismuskritik33 monierte "Bindungsproblem" führt bereits bei der Wahrnehmung wenig komplexer Szenen oder Situationen zur "Superpositionskatastrophe". Einen Lösungsansatz zur Bewältigung jenes Bindungsproblems schlägt C.v.d.Malsburg in seiner "Korrelationstheorie der Hirnfunktion,,34 vor. Im Gegensatz zu der Beschränkung der neuronalen Aktivität auf die über die Zeit gemittelte Entladungsrate der Zellen in den herkömmlichen Konzepten macht dieser Ansatz von der Zeitstruktur dieser Aktivität Gebrauch: Die "Bindung" der Aktivitäten koaktivierter Einheiten könnte ihrerseits über eine Korrelation der Auftrittswahrscheinlichkeiten eines Aktionspotentials über die Zeit in diesen Einheiten erreicht werden: Die Zeitstruktur der Aktivität von Einheiten, die Merkmale desselben Objekts "codieren", würden miteinander korreliert sein, die Zeitstruktur der Aktivität von Einheiten, die Merkmale verschiedener Objekte "repräsentieren", müßte demzufolge dekorreliert sein. Solche Verbundstrukturen merkmalsselektiver Einheiten bezeichnet v.d.Malsburg als "Korrelate" und erklärt die Möglichkeit der Erzeugung der Korrelationen der Zeitstrukturen der Aktivität dieser Einheiten durch die Einführung einer neuen Form dynamischer Kontrolle, die "synaptische Modulation", die wie die Hebbsche Plastizität auf der positiven Rückkopplung zwischen der Korrelation (bzw. Dekorrelation) der Zeitstrukturen zweier Einheiten und der Zunahme (bzw. Abnahme) der Wichtung ihrer Verbindungen beruht, anders als die 32 M. Minsky & P. Papert: Perceptrons, Cambridge 1974 33 i.A. Fodor & Z. W Pylyshyn: Connectionism and cognitive architecture: A critical analysis, Cognition 28,3-71 (1988) 34 C. v.d. Malsburg: The Correlation Theory of Brain Function, Internal Report 81-2, Göttingen: MPI for Biophysical Chemistry 1981; Am I Thinking Assemblies? in: G. Palm & A.Aertsen (eds.): Brain Theory, Berlin/Heidelberg: Springer 1986, 161-175; Synaptic Plasticity as Basis of Brain Organization, in: i.P. Changeux & M.Konishi (eds.): The Neural and Molecular Bases ofLearning, New York: Wiley 1987

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Hebb-Synapsen aber Modulationszeiten unterhalb des Sekundenbereiches aufweist. Die Hebbsche Plastizität würde nun lediglich einen Ruhewert der Wichtungen festlegen, der bei Aktivierung der verknüpften Elemente moduliert wird. Nicht der von v.d.Malsburg vorgeschlagene Mechanismus der "synaptischen Modulation", wohl aber das Prinzip der "Codierung" "globaler Stimuluseigenschaften" durch die Korrelation der Zeitstruktur der Aktivität von Populationen merkmalselektiver Zellen wurde in den letzten Jahren durch einige spektakuläre Experimente belegt, deren Ergebnisse allerdings keineswegs unumstritten sind. 35 Auch die experimentellen Ergebnisse legen nahe, daß diese internen Korrelationen nicht auf einem gemeinsamen Input, sondern der reziproken Aktivierung der Einheiten beruht. Logisch gesprochen: Die Erzeugung der Variable kann nicht aus jenen Prädikatoren selbst abgeleitet werden. Deutlicher würde diese Interpretation werden, wenn die Experimente auf einem reicheren Reizangebot beruhen würden, das verschiedene Möglichkeiten der Bindung von Merkmalen, des "In-eins-setzens" der Prädikatoren - etwa in Abhängigkeit der Verhaltensaufgabe des Tieres - schaffen würde. Die Lösung des Bindungsproblemes bestünde also logisch gesehen in dem Ineins-setzen jener (vielen) Prädikatoren durch die Erzeugung der bindenden Variable durch das System unter Voraussetzung der Prädikatoren. Wiederum ist es jene "synaptische Modulation" oder Veränderung der "effektiven Konnektivität" als besondere Formen neuronaler Plastizität, die jenem kognitiven Moment der Wahrnehmung zugrundliegen, und nicht etwa eine "Objektrepräsentation", wie sie ein Beobachter im Ergebnis dieser Plastizität beschreiben könnte. Reinterpretiert werden müßte die Korrelationstheorie vor dem Hintergrund der diskutierten Logik der Wahrnehmung also wiederum dahingehend, daß durch die Annahme interner Korrelationen der Aktivitäten merkmalselektiver Zellen nicht etwa eine "Objektrepräsentation" konzeptualisert wird, sondern über die Erzeugung des (durch die Variable symbolisierten) Dinges als "Eins" durch das System selbst jenes Moment der Wahrnehmung erfaßt wird, in dem die (durch die Prädikatoren erfaBten) "vielen Materien" als Eigenschaften "für" das System werden. Theoretisch unbefriedigend an der hier dargestellten Logik der Wahrnehmung ist nun, daß Wahrnehmung gemäß der Erfahrungen des Bewußtseins als Wahrnehmung in zwei "Momente" "zerfällt", die der Dualität von Prädikator und Variable entsprechen: das "Für-es-sein" der "vielen" Materien durch die Erzeugung des Dinges als "Eins" und das "Für-es-sein" des Dinges als "Eins" durch die Erzeugung der "vielen" Materien. Ein solcher Widerspruch erweist diese Dualität als ein 35 R. Eckhomet al.: Coherent oscillations: A mechanism of feature linking in the visual cortex? Multiple electrode and correlation analyses in the cat, Biol.Cybemetics 60,121-130 (1988); A.K. Engel, P. König, A.K. Kreiter; T.B. Schillen & W Singer: Temporal Coding in the visual cortex: new vistas on integration in tbe nervous system, Trends Neurosci. 15,6,218-226 (1992); c.M. Gray, P. König, A.K. Engel & W Singer;: Oscillatory responses in cat visual cortex exhibit inter-columnar synchronization which reflects global stimulus properties, Nature 338,334-337 (1989)

Kognitive Neurobiologie als Reflexionsproblem

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relatives Wissen, über das das Bewußtsein in Hege1s "Phänomenologie" auf seinem Weg zum absoluten Wissen (dem wir hier nicht folgen können und wollen), aber auch der Hirnforscher auf dem Weg zu einer Kognitionstheorie (den wir hier durchaus vorbereiten wollen) hinausgehen muß. Hegel sucht die Auflösung jener Dualität in dem "absoluten Unterschied" der "verschiedenen Dinge": Statt das "Eins" und "Viele" zwischen sich und dem Gegenstand zu "verteilen", schreibt das Bewußtsein jene beiden Momente nun wechselseitig zwei Dingen zu. Reflexionslogisch wird somit "für" das Bewußtsein das eine Ding, indem es dessen Unterscheidung von dem anderen Ding als Negation dieses Dinges erzeugt. "Die verschiedenen Dinge sind also für sich gesetzt; und der Widerspruch fällt in sie so gegenseitig, daß jedes nicht von sich selbst, sondern nur von dem anderen verschieden ist. Jedes ist aber hiemit selbst als ein Unterschiedenes bestimmt, und hat den wesentlichen Unterschied von dem anderen an ihm" (102). Von all jenen mannigfaltigen Eigenschaften sind nun nur noch diejenigen wesentlich, die das eine Ding von dem anderen unterscheiden und so den "absoluten Unterschied" zwischen ihnen ausmacht. Die sonstigen Eigenschaften hingegen werden unwesentlich. Das Ding ist somit als sein Verhältnis zu dem anderen Ding bestimmt, jenes Verhältnis aber ist gerade die Negation des Dinges als selbständigem Eins (103). Das Ding ist in jenem Verhältnis "aufgehoben", wie Hegel sich ausdrückt. Wir erkennen somit, das wir nicht Dinge, sondern ihre Unterschiede wahrnehmen. Tatsächlich kehren wir mit dieser "Aufhebung" des Dinges im Unterschied verschiedener Dinge zu der eigentlichen Problemstellung der Korrelationstheorie zurück, in der es ja gerade um die "Superposition" verschiedener Objekte ging. Allerdings sehen wir nun, daß es nicht hinreichend ist, die vielen Materien oder eben "Merkmalsselektivitäten" "in-Eins-zusetzen", um die Wahrnehmung dieser Objekte erklären zu können, sondern daß hierfür eben die Negation des Dinges überhaupt als dessen Unterscheidung von einem anderen Ding erforderlich ist. Wir können uns diese Unterscheidung als Figur-Grund-Unterscheidung vorstellen. Betonen wir den Aspekt der "Szenensegmentation" gegenüber jenem der "Merkmalsbindung", so ist das bestimmende Moment jenes Ansatzes die Dekorrelation einer anfangs kohärenten Aktivität zu zwei in sich korrelierten Korrelaten, die wechselweise entweder die Figur oder aber den Grund verkörpern können. Das System erzeugt also in Form dieser Dekorrelation die Negation des "Dinges mit seinen vielen Eigenschaften", durch die "für" das System dieses Ding als Figur vor einem Grund und schließlich als Objekt in einer Szene wird. Jenseits dieser Interpretation müßte die Korrelationstheorie lediglich dahingehend modifiziert werden, daß als "logischer Urzustand" des Cortex nicht die totale Dekorrelation, sondern die totale Korrelation angenommen wird, wie sie etwa regional während eines epileptischen Anfalls auftritt, aber normalerweise durch weitreichende Inhibierungen unterbunden wird. Erfüllt nun aber diese Diskussion der beiden Theorienansätze vor dem Hintergrund des Prädikationsproblemes tatsächlich die von der Polykontexturalitätstheorie als "Reflexionsinstanz" gesetzten logisch-organisationalen Voraussetzungen, um von "Wahrnehmung" und somit "Kognition" sprechen zu können? Wir haben

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festgestellt, daß die Prädikatenlogik eben jene Bindung von Prädikator und Variable voraussetzt und selbst nicht operationalisieren kann. Nicht die Prädikatoren, wohl aber die Aussagen des Neurowissenschaftlers über das ,,Feuern" merkmalselektiver Einheiten lassen sich hingegen durchaus aussagenlogisch ausdrücken. Wir können den Prädikatoren PI. P2, ... , Pn die Aussagenvariablen PI. P2, ... , Pn zuordnen, deren Bedeutung sein soll: "Die merkmalselektive Einheit, die den Prädikator Pi verkörpert, ist aktiv". Machen wir uns das Problem an dem O.g. Beispiel deutlich: Die Koaktivierung der vier Einheiten, die PI. P2, P3 und P4 verkörpern, könnte man als Konjunktion der entsprechenden Aussagen auffassen: (7)

Auch hier würde sich das Problem der "Bindung" oder "Szenensegmentation" ergeben, weil nicht entschieden werden kann, welche dieser Einheiten für die Merkmale welcher Dinge selektiv sind, welche Konjunktionen von Aussagen also einem Ding entsprechen. Auflösen läßt sich dieses Problem genau dann, wenn wir eine bestimmte Negation einführen, die diese Konjunktionen unterscheidet. Wir könnten dann die beiden Konjunktionen unseres trivialen Beispiels in einer dreiwertigen Verbundkontextur wiefolgt verteilen:

(8)

Die Dekorrelation zweier Korrelate würde nun der bestimmten Negation NI entsprechen. Die Konjunktionen der den Prädikatoren zugeordneten Aussagen würden demgegenüber in unterschiedenen Kontexturen die Korrelationen der Aktivitäten merkmalselektiver Einheiten ausdrücken, ohne daß ihre Koaktivierung zur Superpositionskatastrophe führt. 36 Es scheint also tatsächlich sinnvoll zu sein, jenes Prädikationsproblem im Rahmen derselben logischen Organisation aufzulösen, die wir als Kriterium für ein kognitives System angegeben haben. Wie hätten wir das unter (8) angegebene Formalsystem nun reflexionslogisch zu interpretieren? Die Unterscheidung der beiden Korrelate als deren Dekorrelation entspricht nun der vom System selbst vorgenommenen wahr-/falsch-Unterscheidung in Kontextur Ll/2' die die Unterscheidung der beiden Dinge erzeugt und diese Dinge somit "für" das System werden läßt. Den Prozeß der Unterscheidung kann ein Beobachter über die durch Kontextur Ll/2 vermittelten Kontexturen L2/3 und Ll/3 beschreiben. ,,Für" das System wird also das Ding oder die Figur in Form jener einen Konjunktion, indem es die jeweils andere 36 Man mißverstehe dieses Formelspiel bitte nicht als einen (mißglückten) Versuch, ein Wahrnehmungsmodell zu entwerfen. Vielmehr handelt es sich hier um ein triviales Beispiel zur Verdeutlichung der Kriterien der Organisation einer formalen Sprache, in der ein solches Modell formuliert werden könnte.

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Konjunktion als anderes Ding oder Grund unterscheidet. Gleichzeitig begegnet uns jene Ambivalenz des Dingbegriffes, die dem "Kippen" der Figur-Grund-Unterscheidung entspricht, indem die Belegung der einen oder der anderen Konjunktion mit dem ersten bzw. zweiten Wert austauschbar ist. "Für" das System wird also die jeweils eine Konjunktion als "Figur", indem es die Unterscheidung von der jeweils anderen als Grund vornimmt. Die Figur würde in diesem Unterschied dem "aufgehobenen" "Ding als Eins" entsprechen. Nicht zuletzt würden durch diese Konjunktionen in verschiedenen Kontexturen aber auch die Aktivitäten der merkmalsselektiven Einheiten, die bislang nur durch "unsere" Zuordnung ihre Bedeutung erhielten, eine Bedeutung "für es", das System gewinnen - wenn auch in diesem trivialen System nur in dem trivialen Sinne, daß PI und Pz sowie P3 und P4 einander als Eigenschaften eines Dinges oder einer Figur nicht ausschließen. Die Auflösung des Prädikationsproblemes würde uns also die Auflösung des Reflexionsproblemes liefern. Nach unserer Darstellung und Interpretation der logischen Organisation einer transklassischen Logik vor dem Hintergrund der Hegeischen Reflexionstheorie sollte deutlich geworden sein, daß das "für" der von uns verwendeten Begrifflichkeit durchaus ein Konzept anbietet, in der sich das logische Problem der Frage Nagels auflösen läßt, wie es "für" ein Lebenwesen ist, seine Welt wahrzunehmen, und somit das aus dieser Fragestellung abgeleitete fundamentale Methodenproblem einer Kognitiven Neurobiologie gelöst werden kann. Die wahr-/falsch-Unterscheidungen in der Kontextur Ll/3 und L2/3 beziehen sich auf physikalische Beschreibungen des Systems. Die wahr-/falsch-Unterscheidung·in Kontextur Ll/2 bezieht sich auf Prädikationen des Systems, die eine kognitive Leistung des Systems darstellen und zumindest ihrer logischen Organisation nach der Form des "Erlebens" durch ein "Bewußtsein" entsprechen könnten. In einer entsprechend unserer Reinterpretation umgearbeiteten Form könnten also die Assemblykonzepte und die Korrelationstheorie unter Betonung des Aspektes der Bindung bzw. der Szenensegmentation jene in den Kontexturen Ll/3 und LZ/3 zu konzeptualisierenden physikalischen Theorien sein, die in der Kontextur Ll/2 eine Beschreibung der Wahrnehmung der Merkmale des Dinges und seiner "Einheit" bzw. des Dinges mit seinen vielen Eigenschaften erlauben würden. Die Konzeptualisierung der Erzeugung der zu diesen "Wahrnehmungsinhalten" in Ll/z negativen Momente durch das System selbst in L2/3 (in Bezug auf Ll/3) würde zur Vermittlung der Perspektiven "erster" und "dritter" Person führen. Das fundamentale Methodenproblem einer Kognitiven Neurobiologie besteht in der Konfrontation des dem zweiten Wert entsprechenden "logischen Ortes" des Systems mit dem dem dritten Wert entsprechenden ,,logischen Ort" des Beobachters, beide relativ zu dem dem ersten Wert entsprechenden "Gegenstand" der Wahrnehmung. Seine Auflösung wird in einer mindestens dreiwertigen transklassischen Logik möglich. 37 Die Auflösung eines Grundproblemes 37 Es muß hier allerdings angemerkt werden, daß Günthers Ausführung der Idee einer Transklassischen Logik in Form der Stellenwertlogik die Anforderungen dieser Interpretation nicht erfüllt. Interpretiert man hier L I!3 und Lv3 als physikalische Beschreibungen, so ex-

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der kognitiven Neurobiologie erfordert somit nichts weniger als eine neue, eine "transklassische" Rationalität. Wenn auch mit diesem Kognitionsproblem das logische Problem der Vermittlung von Körper und Geist gelöst werden kann, muß doch bezweifelt werden, ob vor dem Hintergrund der Korrelationstheorie eine (nicht-reduktive) neurowissenschaftliche Erklärung des Bewußtseins möglich wäre. Tatsächlich wird die von v.d.Malsburg postulierte und mittlerweile nachgewiesene Kohärenz neuronaler Aktivität von Autoren wie Crick und Koch 38 als "Korrelat" bewußten Erlebens diskutiert. Doch ist diese Hypothese nicht nur durch den repräsentationistischen Interpretationsrahmen der Autoren fragwürdig, zu dem wir hier ja eine Alternative angeboten haben, sondern auch aus empirischen und theoretischen Erwägungen. So ist es ebenso wenig plausibel, daß die Synchronisation von Oszillationen im Cortex von anästhesierten Katzen ein Korrelat von Bewußtsein sein soll, wie, daß man einem so simplen technischen System wie "gekoppelten Oszillatoren" zumindest Vorstufen von Bewußtsein zuschreiben müßte. Durch unseren Ansatz der Interpretation der Korrelationstheorie als "Dekorrelationstheorie" würde man diese "Kohärenzhypothese" des Bewußtseins zwar durch eine "Inkohärenzhypothese" ersetzen, die empirisch plausibel machen würde, warum diese Oszillationen am wachen Versuchstier so schwer zu finden sind, und auch weit komplexere technische Modelle erfordern würde; doch ist noch immer sehr zweifelhaft, ob den so beschriebenen simplen kognitiven Leistungen auch schon ein "bewußtes Erleben" unterstellt werden sollte. VI. Ausblick Im letzten Abschnitt wurde gewiß das Problem des "bewußten Erlebens" nicht gelöst. Es wurde aber im Bezug auf modeme Konzepte der theoretischen Neurobiologie und Ergebnisse empirischer Forschung gezeigt, wie die logische Organisation einer Sprache aussehen muß, in der das Nagelsehe "What is it like to be ... " und das von dieser Frage abgeleitete Methodenproblem einer Kognitiven Neurobiologie kein Problem mehr ist. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, daß mit der Auflösung dieses Problems nur ein erster Schritt zur Entwicklung einer Kognitiven Neurobiologie geleistet ist. Bislang wurde lediglich gezeigt, daß ein Konzept der "bestimmten Negativität" erforderlich ist, um mit der "Erlebnisdimension" eines kognitiven Systems umgehen zu können. Die eigentliche Aufgabe wird aber demzufolge sein zu zeigen, wie die Bestimmung dieser Negativität durch das System selbst erfolgt. istieren für ein gegebenes System physikalischer Beschreibungen mehrere Möglichkeiten von Beschreibungen von Erlebniszuständen in Ll/2. Eine solche Logik würde also eine dualistische Interpretation implizieren. 38 F. Crick/C. Koch: Towards a Neurobiological Theory of Consciousness, Semin.Neurosei. 2,263-275 (1990); F. Crick/C. Koch: The Problem of Consciousness, Sci.American 267,152-159 (1992)

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Hegels "Phänomenologie des Geistes" kann hier wiederum einen wichtigen Beitrag leisten, auch wenn eine nicht unerhebliche "Sinntransformation" geleistet werden muß, um ihre Denkformen nutzbar zu machen. Es wäre zu zeigen, wie die widersprüchlichen Momente des Dinges als Gegenstand der Wahrnehmung in ihrem Verhältnis als Gegenstand des Verstandes aufgelöst wird, wie er im Widerspruch der Einheit dieses Verhältnisses und des Auseinanderfallens seiner Momente wieder auftaucht und so die "Gegenwelt" des Selbstbewußtseins erzeugt, in der das Bewußtsein sich selbst zum Gegenstand wird, und wie die Wiederholung dieser gesamten Bewegung in Form des sich seiner selbst bewußten Wissens als Vernunft endlich zu der "an und für sich seinenden Individualität" als entfalteter Vernunft führt, die wir als die HegeIsche "Handlungstheorie" interpretieren können. Zur Explikation dieser Denkformen würde uns Günthers Konzept der Proemialrelation im Kontext einer vier- oder gar fünfwertigen Polykontexturalen Logik dienen können, in dem wir eine Vermittlung der "volitiven Relationalität" des Selbstbewußtseins mit der ,,kognitiven Relationalität" des Verstandes zur "Proemialität" der Handlung modellieren würden. Wir könnten so zeigen, daß die "Negativität" der Wahrnehmung durch die Zwecke des HandeIns bestimmt wird. Die Ergebnisse dieses Aufsatzes würden dann dahingehend "aufgehoben" werden können, daß als Gegenstand der Wahrnehmung nicht mehr das "Ding mit seinen vielen Eigenschaften" angesehen werden müßte, sondern die durch den Zweck der Handlung bestimmte Mittel-Objekt-Relation. Konzepte, die eine solche Logik mit Ergebnissen neurowissenschaftlicher Forschung in Beziehung setzen könnten, wären Maturanas Biologie der Kognition oder Varelas "enacting approach,,?9 Besonders aber würde sich eine neue Methodologie empirischer Forschung erforderlich machen, die es erlaubt, die Handlungsbestimmtheit und den Handlungscharakter von Wahrnehmung zu untersuchen. Eine erste Ausführung dieser Ideen wurde an anderer Stelle versucht. 40

39 H.R. Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1982; F.J. Varela: Principles of Biological Autonomy, New York, Oxford: North Holland 1979; F.J. Varelal E. Thomson: Der mittlere Weg der Erkenntnis, Bem, München: Scherz 1992; Thomson,E./ A.Palacios/F.J.Varela, Ways of Coloring: Comparative color vision as a case study for cognitive science, Behavioral and Brain Sciences 15, 1-25 (1992) 40 Axel Ziemke: Was ist Wahrnehmung? Versuch einer Operationalisierung von Denkformen der Hegeischen "Phänomenologie" für kognitionswissenschaftliche Forschung, Berlin: Duncker & Humblot 1994; Teleologie der Wahrnehmung. Eine allgemeine Methodenkritik biologischer Forschung am Beispiel der Neurobiologie der Wahrnehmung, Philosophia Naturalis 2(1994); Das Ding als Wahrnehmung und seine "Aufhebung" in der Handlung, in: O. Breidbach (Hg.) Repräsentationismus. Was sonst? Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1996 (in Vorbereizung)

17 Selbstorganisation, Bd. 6

Methodischer Reduktionismus und biologische Systemtheorie Auf der Suche nach neuen Handlungsformen biologischer Forschung am Beispiel der experimentellen Neurobiologie

Von Axel Ziemke, Klagenfurt/Bochum*

I. Theoretische und methodische Reduktion

Ist die Biologie auf die Physik reduzierbar? Diese Frage wird in der analytischen "Philosophy of Science" in der Tradition des "Logischen Empirismus" als Frage nach der Möglichkeit einer "Theorienreduktion" behandelt. 1 Gemäß der "deduktiv-nomologischen Theorie der Erklärung" des Wiener Kreises kann eine Theorie dann als auf eine andere reduziert gelten, wenn die Gesetze der reduzierten Theorie aus den Gesetzen der grundlegenderen Theorie formal-logisch abgeleitet werden können, wobei allerdings in der Regel "Überbrückungsprinzipien" angewendet werden müssen, um Begriffe der beiden Theorien identifizieren zu können. 2 Die Frage nach der Möglichkeit einer Reduktion von Phänomenen der einen auf Phänomene der anderen Wissenschaftsdisziplin kann nur abgeleitet von der Beantwortung jener Frage der Theorienreduktion beantwortet werden. Allerdings erfüllt praktisch keine der anerkannt erfolgreichen Reduktionen in den Wissenschaften dieses Kriterium der Ableitbarkeit. 3 Bestenfalls ist die reduzierte Theorie nach ihrer Reduktion in mehr oder minder korrigierter Form herzuleiten, nicht selten muß sie jedoch gänzlich verworfen werden. Es ergibt sich ein Spektrum von Möglichkeiten, an dessen einem Ende Theorien stehen, die nach ihrer Reduktion weitgehend erhalten geblieben sind (wie etwa die Optik nach ihrer Reduktion auf die Theorie elektromagnetischer Wellen), an dessen anderem Ende sich aber Theorien

* Diese Arbeit wurde unterstützt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft I Graduiertenkolleg Kognition, Gehirn, Neuronale Netze (KOGNET). 1 P.S. Churchland, Neurophilosophy. Towards a unified science of the mind-brain, Cambridge, London 1986, 277 ff. 2 R. Camap/ H. Hahn/ O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung - der Wiener Kreis, in: H. Schleichert (Hg.), Logischer Empirismus - der Wiener Kreis, München: 1975, 201222. 3 c.A. Hooker, Towards a general theory ofreduction, Part I-lIl, Dialogue 20, 38-59, 201236,496-529 (1981). 17*

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finden, die nach ihrer Reduktion aufgegeben oder "eliminiert" werden mußten (wie etwa die kalorische Theorie der Wärme nach ihrer Reduktion auf die statistische Thermodynamik)4. Diese Kritik an der "deduktiv-nomologischen Theorie" ist gewiß berechtigt. Doch ergeben sich aus diesem Kritikansatz noch sehr viel weitergehende Konsequenzen: Während nämlich der Erfolg einer Reduktion in dem logisch-empiristischen Konzept ohne jede Referenz auf empirische Begründungen bewertet werden kann, muß im Falle einer (mehr oder minder) eliminativen Reduktion empirisch zwischen den Geltungsansprüchen beider Theorien entschieden werden. Wenig problematisch ist diese Entscheidung, wenn die disziplinspezifischen empirischen Methoden einander hinsichtlich ihrer Begründungskriterien gleichen, wie dies in den genannten Beispielen der Fall ist, in denen physikalische Theorien auf physikalische Theorien reduziert worden sind. Die empirische Begründung all jener Theorien beruht auf experimenteller Forschung. Wie soll aber zwischen Theorien verschiedener Wissenschaften entschieden werden, wenn die Kriterien empirischer Forschung und somit die Kriterien dafür, was als empirische Begründung gelten kann, in diesen Wissenschaften unterschiedlich sind? Eben dieses Problem entsteht im Falle der Frage nach der Reduktion der Biologie auf die Physik. Traditionell beruht die Biologie nicht auf experimentellen Methoden, sondern auf Beschreibung und Beobachtung. Auch wenn diese Formen empirischer Forschung heute oftmals auf modernster Meßtechnik beruhen, sind sie keineswegs "experimentell" geworden. Die am Vorbild der Physik orientierte "experimentelle" Biologie, wie sie sich etwa im vorigen Jahrhundert in Form der Physiologie entwickelte, verdient bestenfalls die Bezeichnung "quasi-experimentell", da sie wesentlichen Kriterien experimenteller Forschung im physikalischen Sinne nicht gerecht werden kann (vgl. 11.). Selbst die zum Inbegriff des Reduktionismus gewordenen Disziplinen der modemen Biologie wie Biophysik, Biochemie oder Molekularbiologie arbeiten nur teilweise im strengen Sinne "experimentell". Kann aber eine Theorie, die auf beobachtenden oder beschreibenden Methoden beruht, mit einer inhaltlich dieser widersprechenden Theorie, die durch experimentelle Methoden gestützt wird, hinsichtlich ihrer empirischen Begründbarkeit verglichen werden? Gewiß läßt sich diese Frage nicht pauschal mit "nein" beantworten. Bestes Beispiel hierfür ist der hohe Erklärungswert der experimentellen Physik für die ausschließlich auf Beobachtungen beruhende Astronomie. Eine experimentell fundierte Theorie kann Voraussagen über Beobachtungsergebnisse einer nicht-experimentellen Disziplin machen; durch Beobachtungen begründete Theorien können experimentell überprüft werden. Ob aber beide Methodologien in einem bestimmten Falle wie der physikalischen Erklärung von Lebenserscheinungen kompatibel sind, kann nur aus einem Vergleich der auf Beobachtung/Beschreibung bzw. Experiment beruhenden Theorie und der in das Experiment bzw. die Beobachtung/Beschreibung "investierten" allgemeinen Objekttheorie entschieden werden. 4

FN I, 278f.

Methodischer Reduktionismus und biologische Systemtheorie

261

Das Reduktionsproblem biologischer Forschung ist also nicht nur oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie ein theoretisches, sondern ein methodologisches Problem: Sind die Methoden der Biologie durch die Methoden der Physik zu ersetzen? Nur abgeleitet von dieser methodologischen Fragestellung läßt sich die Frage nach einer Reduktion biologischer auf physikalische Theorien beantworten. Ein solches methodologisches Reduktionskonzept legt etwa B.-O. Küppers vor. In Abhebung von einem "ontologischen Reduktionismus" entwickelt er den Ansatz eines "methodologischen Reduktionismus": "Dieser bezieht sich [... ] allein auf die Forschungsmethoden und behauptet, daß ein tiefergehendes, das heißt ein über die experimentell-deskriptive Ebene hinausgehendes Verständnis der Lebenserscheinungen nur im Kontext von Physik und Chemie möglich ist".5 Die Unmöglichkeit einer solchen methodologischen Reduktion soll im Folgenden gezeigt werden. Damit wird keineswegs behauptet, daß gerade die Anwendung physikalischer und chemischer Meßverfahren, aber auch experimenteller und quasi-experimenteller Methoden für die Biologie wertlos wäre. Im Gegenteil: Es wird zu zeigen sein, wie prinzipiell eine über die "deskriptive" Ebene hinausgehende empirische Forschung in der Biologie möglich ist, ohne daß dies einen "methodologischen Reduktionismus" implizieren würde. 11. Experiment

Experimente sind als Handlungen zweckbestimmt. Die Spezifik experimentellen Handeins besteht in der Setzung und Verwirklichung des "allgemeinen Zwecks" der Manipulation von "Naturgegenständen". Eben in dieser "allgemeinen Zweckbestimmtheit" liegt die Grundlage dafür, die theoretischen Verallgemeinerungen der Ergebnisse von Experimenten technisch zur Erfüllung spezieller technologischer Zwecke anwenden zu können. 6 Theorien gehen in Experimente durch die Ableitung von Handlungsanweisungen ein. Die erfolgreiche (zweckgemäße) Verwirklichung der allgemeinen Zwecksetzung des Experiments auf Grundlage dieser Handlungsanweisung ist die empirische Begründung dieser Theorie. 7 Die Methodologie experimenteller Forschung ist selbst eine solche allgemeine Theorie. Aus ihr lassen sich die folgenden Handlungsanweisungen ableiten: (1) Unterscheide einen Forschungsgegenstand von seiner Umgebung durch die Unterscheidung relevanter, beobachtbarer und/oder meßbarer Variablen von irrelevanten, nicht beobachtbaren oder nicht meßbaren Variablen. Gemessen oder beobachtet werden können diese Variablen quantitativ als mathematische Größen oder qualitativ als Aussagen. 5 B.-O. Küppers, Der Ursprung biologischer Information. Zur Naturphilosophie der Lebensentstehung, München, Zürich 1986. 6 P. Ruben, Wissenschaft als Allgemeine Arbeit, SOPO 2,7-40 (1976). 7 P. Janich, Grenzen der Naturwissenschaft, München: Beck 1992.

262

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(2) Stelle Relationen dieser Variablen her durch die Beobachtung und/oder Messung abhängiger Variablen unter planmäßiger Variation von unabhängigen Variablen. Beschrieben werden können diese Relationen quantitativ als mathematische Funktionen von Größen oder qualitativ als Wahrheits funktion von Aussagen (zumeist Implikation, Replikation oder Identität). (3) Kontrolliere die Umgebung des Forschungsgegenstandes durch das Konstanthalten von Randbedingungen und den Ausschluß von Störungen. Beschrieben werden können nicht konstantzuhaltende Parameter der Umgebung über die Varianz von Meßergebnissen. (4) Reproduziere die Eindeutigkeit der hergestellten Relationen durch Wiederholung des Experiments und statistische Absicherung. (5) Objektiviere Unterscheidung, Herstellung und Kontrolle durch die Beschränkung des Experiments auf explizite, reproduzierbare und protokollierte Operationen mit standartisierten (oder standartisierbaren) und protokollierten Forschungsmitteln.

Zur Methodologie experimenteller Methoden gehört zudem eine "Meßtheorie", die insbesondere sicherzustellen hat, daß die direkt gemessene Größe ein Maß für die unter (1), (2) und (3) zu erfassenden Variablen darstellt, und eine "Auswertungstheorie", die insbesondere die unter (4) angemerkten statistischen Aspekte zum Gegenstand hat. Vor allem aber ist die empirisch zu begründende Theorie im Rahmen des Grundlagenwissens einer bestimmten Disziplin für die Ableitung spezifischer Handlungsanweisungen des Experimentes entscheidend. Die Theorie selbst sagt insbesondere hinsichtlich (2) die HersteIlbarkeit bestimmter Relationen voraus und legt somit den "Versuchsaufbau" fest. Das disziplinspezifische Hintergrundwissen, aber auch die Theorie selbst geben zudem an, welche Variablen relevant sein könnten und daher gemessen werden müssen (1), welche (unabhängigen) Variablen variiert werden müssen und wie der Forschungsgegenstand in Zustände versetzt werden kann, die bestimmten Werten dieser Variablen entsprechen (2), welche Variablen konstantgehalten werden müssen bzw. welche Randbedingungen in welchen Grenzen erforderlich sind und welche Störgrößen erwartet werden müssen (3), welche Anforderungen an die statistische Auswertung zu stellen sind (4) und welche "subjektiven Fehler" zu vermeiden sind (5). Die Verwirklichung dieser Methodologie experimenteller Forschung ist nicht nur die Grundlage für den Siegeszug der experimentellen Physik und Chemie, sondern auch der Hintergrund für den Erfolg (quasi-)experimenteller Forschung in der Biologie. Im Folgenden sollen die genannten Kriterien und ihre notwendige Relativierung im Rahmen biologischer Forschung am Beispiel eines "Standardexperiments" der neurophysiologischen Erforschung des sensorischen Systems von Säugetieren erläutert werden. Ein für die jeweiligen Untersuchungen geeignetes Versuchstier wird mit einem Narkotikum anästhesiert, an einer geeigneten Stelle über den zu untersuchenden Hirnstrukturen die Haut entfernt, der Schädelknochen abgetragen und ein ,,Ableitzylinder" installiert.

Methodischer Reduktionismus und biologische Systemtheorie

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Das Tier wird in einer Halterung fixiert und mit einem Muskelrelaxans paralysiert. Da die Paralyse die Atmungsmuskulatur lahmlegt, muß das Tier in der Regel künstlich beatmet und seine Körpertemperatur reguliert werden. Durch den Ableitzylinder wird eine Mikroelektrode mit einem Schrittmotor in die zu untersuchende Hirnstruktur eingeführt. Wenn die Zielstruktur erreicht ist, werden dem Tier Reize der zu erwartenden Modalitäten angeboten und der Vortrieb Mikrometer für Mikrometer fortgesetzt, bis die Mikroelektrode auf ein aktives Neuron trifft, dessen Aktivität auf einem Oszillographen sichtbar und über einen Lautsprecher hörbar gemacht werden kann. Nun werden durch systematische Variation eines zu untersuchenden Reizangebotes diejenigen (visuellen, auditorischen, somatosensorischen etc.) Reizparameter bestimmt, bei denen es zur Erhöhung der Aktivität dieser Zelle kommt. Bei der Erforschung der "visuellen" Hirnstrukturen geschieht dies in der Regel, indem die Reize auf einen Schirm projiziert werden, der das Gesichtsfeld des Tieres abdeckt. Im auditorischen System verwendet man entsprechend definierte Töne, im somatosensorischen Berührungen etc. Die "Handlungsanweisungen" einer Methodologie experimenteller Forschung kommen hier wie folgt zur Geltung: (1) Als Forschungsgegenstand wird die elektrochemische Aktivität einzelner Nerven-

zellen in ihrer Beziehung zu einem definierten Reizangebot bestimmt. Als relevante Variablen betrachtet man einen bestimmten Reizparameter (etwa die Orientierung eines bewegten Lichtbalkens auf dem Bildschirm in Grad zu einer Referenzorientierung) und die über eine bestimmte Zeiteinheit gemittelte und über die Zeit gemessene Entladungsrate der Zelle (in Aktionspotentialen pro Zeiteinheit).

(2) Hergestellt werden soll eine signifikante Korrelation zwischen Reizparametern und Entladungsrate. Relativ ist diese Verwendung des Begriffs "Herstellung" insofern als jener Beziehung nicht ein ausschließlich vom Experimentator in Gang gebrachter "Kausalprozeß" zu Grunde liegt, sondern Leistungen des Tieres selbst vorausgesetzt werden müssen, wie etwa eine bestimmte Struktur (Konnektivität) des Nervensystems im Ergebnis ontogenetischer Lernprozesse, die elektrochemische Aktivität der Zelle selbst als Ergebnis ihrer Stoffwechselprozesse, die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung der untersuchten und "vorgeschalteten" Nervenzellen etc. Eben diese Relativität des Begriffes "Herstellung" ist ein Grund, lediglich von einer "quasi-experimentellen" Methode zu sprechen. (3) Zu den kontrollierten Störgrößen zählen nicht nur anderweitige modalitätsspezifische Reize, sondern besonders die motorische Aktivität des Tieres selbst. In Experimenten am visuellen System sind Narkose und Paralyse vor allem daher erforderlich, weil jede Bewegung des Tieres, ja selbst das Zittern des Muskeltremors durch die Veränderung der relativen Lage des Tieres zum Reiz (etwa die Verschiebung des Bildes auf der Retina) über die streng geordneten Projektionen zur "Verschiebung" der Aktivität von der untersuchten Zelle zu anderen Bereichen der Zielstruktur führen und ihre systematische Untersuchung so unmöglich machen würde. Erst als Konsequenz der durch die Paralyse ,,kontrollierten" (unterbundenen) Muskelaktivität entsteht das Problem, die Atmung und die Wärmeregulation des Tieres als "Randbedingung" des Experiments zu ,,kontrollieren" (künstlich aufrecht zu erhalten). Bei Experimenten am wachen Versuchstier kann eine solche Kontrolle über Trainingsleistungen erfolgen, die bestimmen, welche Bewegungen das Tier ausführt (z. B. Fixation eines Lichtpunktes) und welche es unterläßt (z. B. Augenbewegungen).

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AxelZiemke (4) Die Reproduktion der hergestellten Relationen zwischen Reizparametem und Entladungsrate erfolgt über die mehrfache Ausführung des Experimentes und Signifikanztests der gemittelten Entladungsraten für die einzelnen Reizparameter. (5) Die Objektivierung des Experiments erfolgt über die Protokolle oder Methodentei1e von Publikationen. Standartisierungen werden beispielsweise reizseitig erreicht durch die Randomisierung der Reizparameter und ihre "Einspielung" über ein Computerprogramm, auf Seiten des Tieres durch die computergestützte Registrierung und Auswertung der Meßwerte und die anatomische und histologische Charakterisierung der Ableitorte.

111. Systemtheorie

Die Frage nach der Möglichkeit einer Reduktion der Lebenserscheinungen auf physikalische Gesetze durchzieht die gesamte Biologiegeschichte der Neuzeit als Auseinandersetzung vitalistischer und mechanistischer bzw. physikalistischer Konzepte zum Verständnis des Lebendigen. Zentrales Argument gegen eine solche Reduzierbarkeit war gewöhnlich die offensichtliche Zweckmäßigkeit der Lebenserscheinungen, die sich einer physikalischen Erklärung gänzlich zu entziehen schien. Erst Darwins Evolutionstheorie schien den Zweckbegriff überflüssig zu machen, indem sie diese Zweckmäßigkeit aus dem Wechselspiel von Variation und Selektion zu erklären suchte. "Maschinenmodelle" des Lebendigen schienen somit endgültig legitimiert werden zu können. Heute hat die Molekularbiologie diesen Erklärungsansatz zu einer durchgängig "physikalistischen" Theorie entwickelt. Doch zeigen sich nach wie vor Grenzen, wenn es um die Erklärung der "Ganzheitlichkeit" eines lebenden Organismus im Ergebnis seiner Ontogenese, aber auch Phylogenese geht. Die Thematisierung dieser Defizite ist zum Gegenstand systemtheoretischer Forschung geworden, die heute zu anspruchsvollen anti-reduktionistisehen Konzepten geführt hat, welche nicht in einer "Lebenskraft", sondern in einem spezifisch-biologischen Organisationsbegriff ihre Legitimation suchen. Ihren Ursprung haben diese Forschungen in der frühen Kybernetik, die sich bereits explizit an jenem Reduktionsproblem orientierte. So erhoben Rosenblueth et al. in dem für das kybernetische Denken programmatischen Aufsatz "Purpose, Teleology and Behavior"s eine Reformulierung des Zweckbegriffes auf nicht-vitalistischer Basis als Referenzwert einer Rückkopplungsschleife zur philosophischen Intention der Kybernetik. Kritisch angemerkt wurde in späteren Arbeiten, daß dieser Referenzwert als "Zweck" eines technischen Systems ja im Gegensatz zu lebenden Systemen von einem De~igner festgelegt wird und somit die immanente Zweckmäßigkeit lebender Organismen nicht erfassen könne. Den Versuch einer alternativen Theorie der "Regelung der Regelung" als "Selbstregelung", also gewissermaßen der Bestimmung der Referenzwerte lebender Systeme durch diese Systeme selbst, 8 A. Rosenbluethl J. Bigelow IN. Wiener, Behavior, Purpose and Teleology, Philosophy of Science 10,18-24 (1943).

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stellt die "Kybernetik zweiter Ordnung" Heinz von Foersters dar. 9 Im Kontext dieser Theorie entwickelte sich eine inzwischen recht breite Denktradition, zu deren bekanntesten "Ablegern" die Theorie der Autopoiese von Humberto Maturanas und Francisco Varela, die Theorie der Autologie von Lars Löfgren, die Konversationstheorie von Gordon Pask oder die Polykontexturalitätstheorie Gotthard Günthers zählen. 10 In Deutschland wurden diese Arbeiten im Rahmen der theoretischen Biologie nur recht sparsam rezipiert II , fanden aber eine breite Resonanz in den Sozial- und Geisteswissenschaften 12. Diese Konzepte sollen hier nicht im einzelnen vorgestellt, sondern die von diesen Theorien herausgearbeiteten Merkmale der Organisation lebender Systeme zusarnmengefaßt werden, auf Grund derer sich der anti-reduktionistische Anspruch dieser "neuen" Systemtheorie begründen läßt. Die Organisation lebender Systeme ist gekennzeichnet durch: (1) ihre Abgrenzung von einer Umwelt, die durch diese Systeme selbst vollzogen wird (Individualität), (2) ihre Organisation als Netzwerk von Prozessen der Produktion von Bestandteilen und/oder Subsystemen, die diese Netzwerke selbst und ihre Abgrenzung als System von einer Umwelt reproduzieren (Autopoiese), (3) die Erzeugung einer der Individualität und Autopoiesis der Systeme angemessenen Umwelt durch das Verhalten dieser Systeme selbst (Autonomie), (4) eine der Individualität, Autopoiese und Autonomie dieser Systeme angemessenen Plastizität der Struktur dieser Systeme, die in ihrem Verhalten zur Kopplung an eine Umwelt führt (Kognition), (5) die der Individualität, Autopoiese, Autonomie und Kognition dieser Systeme angemessene Plastizität der Struktur dieser Systeme, die zur Kopplung an andere (lebende) Systeme in ihrem gemeinsamen Verhalten führt (Kommunikation). 9 H. v. Foerster, Observing Systems, Seaside/Cal. 1982; v.Foerster,H., Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1985. 10 G. Günther, Cybemetic Ontology and Transjunctional Operations, in: M.C. Yovits, G.T. Jacobi & G. Goldstein (eds.), Self-Organizing Systems, Washington: Spartan Books 1962, 313-392; G. Günther, Idee und Grundriß einer Nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg: Meiner 1981; ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, I-III, Hamburg: Meiner 1976, 1979, 1980; L. Löfgren, Complexity of Descriptions of Systems: A Foundational Study, Int.J.Gen.Syst. 3, 197-214 (1977); H.R. Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1982; G. Pask, Organizational Closure of Potentionally Conscious Systems, in: M. Zeleny, (ed.), Autopoiesis: A Theory of the Living Organization, Amsterdam 1981, 263-308; F.l. Varela, Principles of Biological Autonomy, New York, Oxford: North Holland 1979. II An der U. Heiden/G. Roth/H. Schwegler, Principles of self-organization and self-maintenance, Acta Biotheoretica 34, 125-138 (1985). 12 S.J. Schmidt, Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/Main 1987; S.l. Schmidt, Kognition und Gesellschaft: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt I Main 1992.

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Die unter (1) betonte Individualität beruht auf der Abgrenzung lebender Systeme von ihrer Umwelt durch die Erzeugung von Membranen, Haut oder Epidermis. Die Selbsterhaltung des Systems sowie seine Unterscheidung von einer Umwelt, wie er über den unter (2) angeführten Begriff der Autopoiese erfaßt wird, macht den "Zweck" oder besser "Selbstzweck" des Systems aus. M.a.W. sind lebende Systeme in dem Sinne "zweckfrei", daß sie keinen äußerlich vorgegebenen Zwecken unterliegen, wie dies der Systembegriff der frühen Kybernetik impliziert. 13 Die unter (3) thematisierte Autonomie lebender Systeme bedeutet keineswegs Unabhängigikeit von einer Umwelt. Lebende Systeme setzen in ihrer Individualität und Autopoiese eine Umwelt voraus, die etwa als Lieferant von Nährstoffen, Energie oder ,,Negentropie" dient. Doch diese Systeme produzieren ebenso ihre Umwelt, bestimmen, welche Umgebung "für" sie zur Umwelt wird. Im einfachsten Falle geschieht dies durch die selektive Durchlässigkeit und die aktiven Transportprozesse an biologischen Membranen. Doch auch durch die Bewegung des Systems geschieht "vom Standpunkt des Systems gesehen" nichts anderes, als daß das System durch seine Aktivität eine neue Umgebung erzeugt. Darüberhinaus verändert ein System seine Umgebung auch durch direkte Beeinflussung. So verändern Einzeller ihre Umgebung durch die Ausschüttung von Exoenzymen, Spinnen durch das Spinnen von Netzen, Menschen durch das Bauen von Häusern. An einem schönen Beispiel macht schon Ashby diese "fundamentale Autonomie" des lebenden Organismus deutlich: "A frog on the bank of a stream can with one small jump change its world from one ruled by the laws of mechanics to one ruled by the laws of hydrodynamics". 14 Da das Verhalten des Systems eben in der (autonomen) Erzeugung einer durch seine Individualität und Autopoiese "vorausgesetzten" Umwelt besteht, unterliegt es eben diesem "Selbstzweck" und kann daher nicht durch Veränderungen dieser Umwelt nach anderen Zwecken ,,kontrolliert" werden. Allerdings kann das System nicht jede beliebige Umwelt erzeugen. Es kann keine Nährstoffe über seine Membranen aufnehmen, die in seiner Umwelt nicht vorhanden sind, es kann sich durch seine Bewegungen keine Umwelt schaffen, die (vom Standpunkt des Beobachters gesprochen) nicht "erreichbar" ist, es kann aber auch keine Bewegungskoordinationen ausführen, die physikalisch nicht möglich sind. Diese "Störungen" seitens der Umwelt kompensiert das System durch strukturelle Veränderungen interner Prozesse, die Veränderungen des Systemverhaltens bedingen. Es stellt seinen Stoffwechsel auf andere Nährstoffe um und nimmt diese auf, es setzt eine andere Umgebung voraus und erzeugt sie, es führt andere Bewegungskoordinationen aus etc. Diese kompensatorischen Strukturveränderungen kann ein Beobachter gemäß (4) als "strukturelle Kopplung" (Maturana) oder "Kognition" beschreiben. Durch ihren Bezug auf Individualität, Autopoiese und Autonomie dient Kognition nicht dem Zweck einer optimalen

13 A. Ziemke, System und Subjekt. Biosystemforschung und Radikaler Konstruktivismus im Lichte der Hegeischen Logik, Braunschweig, Wiesbaden 1992. 14 W.R. Ashby, Design for a brain, London 1952.

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"Repräsentation" oder "Widerspiegelung" der Umwelt, sondern der Erhaltung der Individualität, Autopoiese und Autonomie des Systems. "Für" das System existiert die Umwelt nicht in Form von Reizkorre1aten oder Objektrepräsentationen, sondern in Form der durch die Abgrenzung "ausgeschlossenen" Umwelt, der an die Prozesse der Autopoiese "anschlußfähigen" Komponenten und des Verhaltens, das diese Aus- und Anschlüsse erzeugt. Die Bestimmung von Kognition als Strukturveränderung des Systems meint zudem, daß alle kognitiven Prozesse Lernprozesse sind. Lebende Systeme setzen jedoch nicht nur eine Umwelt voraus, sondern ebenso gemäß (5) vielfältige kommunikative Beziehungen zu lebenden Systemen, die sich über den Fortpflanzungszusammenhang einer Population oder Art verstehen lassen. Diese kommunikativen Beziehungen sind zunächst selbst "strukturelle Kopplungen" im Sinne von (4). Ihre Spezifik liegt aber darin, daß sie Auslöseereignisse für nicht-kompensatorische (aber ggf. "prospektiv-kompensatorische") Strukturveränderungen des Systems und seines Verhaltens darstellen. So beeinflußt etwa kommunikatives Verhalten eines Systems Strukturveränderungen im Rahmen der Autopoiese und Verhaltens änderungen im Rahmen der Autonomie eines anderen Systems, aber auch die Weitergabe genetischen Materials im Rahmen der Fortpflanzung Strukturveränderungen ("Reifungsprozesse") im Rahmen der Individualität und Autopoiese des Systems. Nichtsdestoweniger sind auch kommunikative Prozesse immer durch das lebende System im Sinne seiner Individualität unterschieden, im Sinne seiner Autopoiese "angeschlossen" und im Sinne seiner Autonomie "erzeugt", wie dies bereits für die Bestimmung der Kognition gezeigt wurde. Nicht zuletzt ist dadurch die Verwendung des Informationsbegriffes für kommunikative Prozesse problematisch, da dieser Begriff immer einen "passiven" Empfänger als "leere Form" voraussetzt. Der Hinweis auf jene spezifische Organisation lebender Systeme wird in der biologischen Systemtheorie allerdings gemeinhin als hinreichend zum Nachweis einer prinzipiellen Irreduzibilität der Biologie auf die Physik betrachtet: Die Strukturen lebender Systeme sind zugegebenermaßen physikalisch-chemisch beschreibbar. Die Organisation lebender Systeme schafft jedoch eine spezifische "biologische Erscheinungswelt". So betont etwa Maturana, "daß eine theoretische Biologie die Theorie der biologischen Erscheinungswelt ist und nicht die Anwendung physikalischer oder chemischer Vorstellungen auf die Analyse biologischer Phänomene, da diese zu einer völlig anderen Erscheinungswelt gehören" (1982,216). Bedenklich ist hier zunächst, daß die Spezifik biologischer Theorien aus der Spezifik biologischer Phänomene abgeleitet und somit ein "Theorienrealismus" vorausgesetzt wird, der in der Auffassung der "Philosophy of Science" zum Problem der "Theorienreduktion" (vgl. 1.) völlig zu Recht als unangemessen verworfen wurde. Im Rahmen dieser Diskussion ließe sich als starkes Argument gegen einen Reduktionismus anführen, daß die genannten Organisationsmerkmale des Lebendigen nur im Rahmen einer Logik gedacht werden können, die den Formenvorrat der klassischen Logik übersteigt: Die Logik der Physik ist klassisch, die Logik der Biologie ist transklassisch. 15 Doch wäre damit noch immer nicht gezeigt, daß Phy-

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sik für alle Zeiten auf einer klassischen Logik beruhen muß. Gerade die Quantentheorie erhebt ja im Rahmen der Physik clJenso den Anspruch, eine ganz neue "Logik" des Denkens zu erfordern. Was macht eine Theorie denn zur physikalischen oder biologischen Theorie? Daß sie mehr oder minder mathematisch ist? Daß ein Physiker oder ein Biologe sie verfaßt? Offensichtlich führt auch hier kein Weg daran vorbei, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Theorienreduktion aus der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Methodenreduktion abzuleiten. Die Notwendigkeit einer "neuen Logik" biologischer Theorien gegenüber physikalischen Theorien ist nur dann ein Argument für eine Irreduzibilität der Biologie auf die Physik, wenn sie eine "neue Logik" empirischer Forschung impliziert, wenn also eine Biologie eben auf Grund jener Organisation lebender Systeme nicht durch die experimentelle Methode der Physik empirisch begründet werden kann.

IV. Kann eine biologische Systemtheorie experimentell begründet (widerlegt) werden?

Eine Gegenüberstellung der unter 11. aufgeführten Anforderungen an eine experimentelle Methode und die unter III. zusammengefaßten Merkmale der Organisation lebender Systeme zeigt, daß die experimentelle Methode der Physik der empirischen Begründung einer theoretischen Biologie nicht angemessen sein kann: (1) Individualität vs. Unterscheidung: Experimente beruhen auf der Abgrenzung

eines Forschungsgegenstandes (seiner meßbaren und relevanten Variablen) von einer Umgebung (Randbedingungen und Störgrößen) durch den Experimentator. Lebende Systeme grenzen sich selbst von einer Umwelt ab (und bestimmen somit ihre ,,relevanten Variablen" selbst). Die vom Experimentator getroffene Unterscheidung verfehlt somit notwendig die Individualität lebender Systeme und kann somit nicht zur empirischen Begründung einer theoretischen Biologie dienen.

(2) Autopoiese vs. Herstellung: Experimente bestehen in der Herstellung von Relationen abhängiger und unabhängiger Variablen durch den Experimentator. Lebende Systeme stellen selbst Relationen ihrer Komponenten in Form von Netzwerken von Prozessen der Produktion von Bestandteilen her, die diese Netzwerke reproduzieren. Die (allopoietische) Herstellung von Relationen durch den Experimentator verfehlt die (autopoietische) Selbstherstellung und -erhaltung der Organisation lebender Systeme und kann somit nicht zur empirischen Begründung einer theoretischen Biologie dienen.

15 A. Ziemke, Selbstorganisation und Transklassische Logik, Selbstorganisation 2, 27-52 (1991); A. Ziemke, Kybernetik, Systemtheorie und Transklassische Logik, in: ICS (Hg.), Kybernetik und Systemtheorie - Wissenschaftsgebiete der Zukunft? Greven 1993, Vgl. auch meinen anderen Beitrag in diesem Band.

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(3) Autonomie vs. Kontrolle: Experimente beruhen auf der Kontrolle der Umgebung des Forschungsgegenstandes durch den Experimentator. Lebende Systeme hingegen erzeugen selbst eine ihrer Individualität und Autopoiese angemessene Umwelt. Lebende Systeme tendieren also dazu, die Kontrolle der Randbedingungen durch den Experimentator zu unterlaufen. Die Kontrolle der Randbedingungen durch den Experimentator verfehlt demgegenüber eben jene Autonomie lebender Systeme und kann somit nicht zur empirischen Begründung einer theoretischen Biologie dienen. (4) Kognition vs. Reproduktion: Experimente beruhen auf der Reproduktion von Relationen durch die Wiederholung des Experiments. Lebende Systeme als kognitive Systeme ändern jedoch ihre Struktur im Rahmen ihrer "Kopplung" an bestimmte Umweltbedingungen (Lernen). Das Experiment führt also zur Veränderung der zu verifizierenden Relationen. Methoden, die diese Veränderungen ausschließen, verfehlen die Kognition lebender Systeme und können somit nicht zur empirischen Begründung einer theoretischen Biologie dienen. (5) Kommunikation vs. Objektivität: Experimente beruhen auf dem Ausschluß der (nicht intersubjektiv explizierbaren) Subjektivität des Experimentators und seines Forschungsgegenstandes. Lebende Systeme erzeugen demgegenüber komunikative Beziehungen untereinander, aber auch zum Experimentator die zur "Objektivierung von Subjektivtät" führen und somit die genannte Anforderung unterlaufen. Der Ausschluß solcher kommunikativer Beziehungen verfehlt die Organisation lebender Systeme und kann somit nicht zur empirischen Begründung einer theoretischen Biologie dienen. Eine Theorie lebender Systeme kann auf Grund der genannten Kriterien der Organisation lebender Systeme nicht durch die experimentelle Methode der Physik empirisch begründet oder widerlegt werden. Umgekehrt verfehlt diese Methodologie in der Erforschung lebender Systeme eben deren spezifische Merkmale. Intuitiv nachvollziehbar ist diese Feststellung sehr leicht, wenn man die "Relevanz" oder "ökologische Validität" experimenteller Methoden in der Biologie hinterfragt. Versuchen wir dies wiederum am Beispiel des unter 11. dargestellten Experiments zu demonstrieren. Die Gegenüberstellung der Organisationskriterien lebender Systeme und der Handlungsanweisungen experimenteller Forschung macht im Falle des unter 11. dargestellten Standardexperiments die folgenden Schwierigkeiten deutlich: (I) Der Experimentator grenzt als relevante Variablen einen Reizparameter und die Entladungsrate einer einzelnen Nervenzelle aus. Die Katze als lebendes System trifft selbst andere Unterscheidungen. Gemäß dieser Unterscheidungen wird der Reizparameter als Umwelt ausgegrenzt und tritt lediglich als "Störgröße" auf. Spezifizierend wirken für das System selbst nur die eigenen Komponenten, also etwa die Aktivität dieser "merkmalselektiven Zellen". Demgegenüber grenzt die Katze als lebendes System jene Aktivität einer isolierten Nervenzelle nicht gegen die durch den Experimentator als Umgebung behandelten Aktivitätszustände anderer Neuronen, neuro-humoralen Wechselwirkungen und organismischen Stoffwechselprozesse ab.

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Axel Ziemke Diese Einflüsse sind "für" die Katze ,,relevante Variablen", "für" den Experimentator hingegen "Störgrößen". Nicht zuletzt scheint es zweifelhaft, ob die über die Zeit gemittelte Entladungsrate für die Funktion des Nervensystems überhaupt eine relevante Variable darstellt. Intuitiv entspricht diesem Problem der oft von Theoretikern gegenüber Experimentatoren geäußerte Einwand, daß man doch solch ein komplexes System wie das Gehirn nicht verstehen könne, indem man einzelne Elemente dieses Systems, also einzelne Neurone studiert. (2) Der Experimentator stellt in Form der Reizkorrelation eine Relation her, in der ein Reizparameter als unabhängige und die Entladungsrate einer Zelle als abhängige Variable auftritt. Die Katze als lebendes System erzeugt im Ergebnis seiner Autopoiese selbst andere Relationen im Dienste seiner Autopoiese. Die Reizkorrelation gehört schon deshalb nicht zu diesen vom System erzeugten Relationen, weil der Reizparameter keine Variable des Systems darstellt. Reizkorrelationen existieren nur "für" den Beobachter, der sowohl den Reizparameter als auch den Aktivitätsparameter messen und beide einander zuordnen kann. Zu den vom System selbst erzeugten Relationen könnten etwa sensorisch-motorische Relationen des Systems oder (interne) Korrelationen der Zeitstrukturen verschiedener Nervenzellen bzw. Gruppen von Nervenzellen zählen. Intuitiv thematisiert dieses Problem etwa eine Variante der "Homunculus Fallacy": Nehmen wir an, die kognitiven Leistungen des Systems würden auf solchen Reizkorrelationen beruhen. Wie würde das System diese neuronalen Korrelate den entsprechenden Reizparametern zuordnen? Sicher wäre dies nur möglich durch eine ,,Instanz", die diese Beziehung von Reizparameter und Aktivitätsparameter "erkennt". Wenn Kognition auf Repräsentation beruht, sollte diese Leistung wiederum auf der Repräsentation dieser Parameter durch Korrelate "höherer Ordnung" geschehen. Wie würde das System aber diesen Korrelaten den Reiz und das Korrelat "erster Ordnung" zuordnen? etc. ad infinitum. (3) Der Experimentator stellt durch die Kontrolle der Umgebung der Katze als seinem Forschungsgegenstand sicher, daß der relevante Reiz während des Experimentes immer im ,,rezeptiven Feld" der untersuchten Zelle verbleibt. Diese Kontrolle bezieht sich nicht zuletzt auf die motorische Aktivität des Tieres selbst und ist die entscheidende Voraussetzung, um die Reizkorrelation überhaupt herstellen zu können. Was durch jene Kontrolle der Aktivität des Tieres ausgeschlossen wird, ist aber eben die (autonome) Erzeugung einer Umwelt durch das Tier - in diesem Falle also die Bestimmung eines "Wahrnehmungsobjektes" durch das Appetenz- oder Erkundungsverhalten des Tieres, die Orientierungsbewegungen des Körpers oder des Kopfes und die Fixations- und Folgebewegungen der Augen. Auch dieses Problem ist intuitiv leicht nachvollziehbar: Das anästhesierte, paralysierte, künstlich beatmete und warmgehaltene Versuchstier ist ungefähr das ganze Gegenteil unserer Vorstellungen von Wachheit, Aktivität und Aufmerksamkeit der Wahrnehmung, die wir aus unserer Selbstbeobachtung oder der Beobachtung des gleichen Tieres in seiner "natürlichen" Umwelt gewinnen. Jener "Handlungscharakter" der Wahrnehmung wird aber nicht nur durch die fließenden Übergänge zwischen Erkundungsverhalten und Wahrnehmung oder die Abhängigkeit dessen, was wir überhaupt wahrnehmen, von unserem Handlungskontext deutlich, sondern auch aus dem (lückenhaften) empirischen Wissen der Neurobiologie selbst über den Anteil effektorischer Leistungen an der Wahrnehmung. So sind die Leistungen der Okulomotorik eine Grundbedingung für unsere visuelle Wahrnehmung. Sofort einsichtig ist dies im Falle der "Sakkaden",

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jener schnellen "Sprünge", die wir mit unseren Augen vollziehen, um ein uns interessierendes Objekt zu betrachten, oder der "glatten Augenfolgebewegungen", mit denen wir bewegte Objekte verfolgen. Doch selbst das scheinbar ruhende Auge vollzieht noch Mikrosakkaden und Tremorbewegungen, deren Lähmung in wenigen Sekunden zum Zusammenbruch der Wahrnehmung führt. Auch die Tastwahrnehmung basiert ganz wesentlich auf dem Muskeltremor und selbst unser Ohr nimmt nicht nur Schallwellen auf, sondern erzeugt sie auch. Neben den fast auschließlich sensorisch innervierten "inneren Haarsinneszellen" gibt es in der Cochlea auch noch die vorwiegend effektorisch innervierten "äußeren Haarsinneszellen", die spontan oder reizinduziert durch ihre Bewegungen Schallschwingungen erzeugen. Der Ausfall der Beweglichkeit dieser Zellen führt zu einer beträchtlichen Abnahme der Sensitivität und Selektivität der auditorischen Wahrnehmung. (4) Das Verfehlen von Individualität, Autopoiesis und Autonomie des Systems bedingt bereits das Verfehlen der kognitiven Leistungen des Systems. Die Reizparameter werden nicht als Variablen der vom System ausgegerenzten Umwelt behandelt, die vom System selbst erzeugten Relationen werden nicht als konstitutiv für die kognitive Leistung verstanden und die (autonome) Erzeugung der Umwelt durch das System (die ja letztlich das Ziel der kognitiven Leistung ist) wird vernachlässigt. Kognition erscheint somit als affirmative Abbildbeziehung oder Repräsentation, nicht jedoch als strukturelle Kopplung eines Systems mit seiner Umwelt. Es werden somit nicht jene strukturellen Veränderungen untersucht, die die eigentlich kognitive Leistung des Systems darstellen, sonder lediglich statistisch verifizierte epiphänomenale Korrelationen zwischen System und Umwelt, wie sie ein Beobachter (und nur ein Beobachter) im Ergebnis solcher Strukturveränderungen feststellen kann. Die Forderung der Reproduzierbarkeit selbst bedingt zudem, daß die im eigentlichen Sinne des Wortes kognitiven Leistungen des Systems, nämlich seine lembedingten Strukturveränderungen, in die Varianz der Meßergebnisse oder aber - im Falle von Experimenten am wachen, sich verhaltenden Versuchstier - in das Training des Tieres als Vorbereitung des Experiments fallen. Es muß somit von der Plastizität der strukturellen Kopplung des Systems abstrahiert werden, um die Ergebnisse des Experimentes reproduzierbar zu machen. (5) Das lebende System wird durch seine experimentelle Manipulation auf einen subejekivitätslosen Mechanismus reduziert, statt seine Subjektivität in einem kommunikativen Verhältnis von Beobachter und (ebenfalls "beobachtendem") System zu verstehen.

V. Ist empirische Systemforschung möglich?

Wurde mit der unter 4. vorgestellten Argumentation die Unmöglichkeit eines methodischen Reduktionismus nachgewiesen? Sicher nicht. Es konnte lediglich gezeigt werden, daß der anti-reduktionistische Entwurf einer biologischen Systemtheorie nicht über die experimentelle Methode der Physik begründet oder widerlegt werden kann. Nun wäre zu zeigen, wie die empirische Begründung dieser Theorie überhaupt aussehen könnte. Eben hier liegt aber der Schwachpunkt all jener in dieser Arbeit genannten anti-reduktionistischen Entwürfe: Sie sind bislang gänzlich

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irrelevant für empirische Forschung in der Biologie geblieben. Entsprechend sparsam ist demzufolge auch ihre Resonanz unter "Fachwissenschaftlern". Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß experimentelle Methoden keineswegs die einzige Möglichkeit zur empirischen Begründung einer Theorie darstellen und alternative beschreibende oder beobachtende Methoden keineswegs weniger "exakt" sein müssen. Doch scheint tatsächlich ein "tiefergehendes [... ] Verständnis der Lebenserscheinungen", wie es in dem von Küppers antizipierten "methodischen Reduktionismus" eingefordert wird, eine systematische Untersuchung dieser Erscheinungen zu erfordern, die mit diesen Methoden nur sehr eingeschränkt möglich ist. In der Tat scheint eine empirische Systemforschung nicht dadurch möglich zu sein, daß man hinter die Standards experimenteller Forschung auf das Niveau einer deskriptiven Biologie zurückgeht, sondern nur dadurch, daß man jene experimentelle Forschung in einer neuen Methodologie systemwissenschaftlicher Forschung "aufhebt". Wir haben ebenso betont, daß die Methoden biologischer Forschung allenfalls die Bezeichnung "quasi-experimentell" verdienen und die Einschränkungen der Möglichkeiten experimenteller Forschung eben aus der "Irreduzibilität der Lebenserscheinungen" erklärt werden können, wie man sie aus der Irreduzibilität der diskutierten Systemkonzepte auf physikalische Theorien ableiten kann. Vielleicht ließe sich eben aus der Explikation dieses "quasi-experimentellen" Charakters eine neue Methodologie ableiten, die diese Einschränkungen in eine neue Zwecksetzung empirischen Handeins integriert und zu Handlungsanweisungen führt, die die Kriterien der Organisation lebender Systeme zu begründen gestatten? Formal gesehen wäre es hierzu lediglich erforderlich, die unter 4. diskutierten Gegenüberstellungen zu den entsprechenden "paradoxen Aufforderungen" zu integrieren: (1) Unterscheide die Unterscheidungen des Systems von seiner Umwelt durch die Bestimmung der Bestimmung relevanter Variablen durch das System. (2) Stelle die Herstellung von Relationen durch das System im Rahmen seiner Autopoiese her. (3) Kontrolliere die (autonome) Erzeugung einer Umwelt durch das System. (4) Reproduziere die Plastizität der Strukturen des Systems als Grundlage seiner strukturellen Kopplung an eine Umwelt. (5) Objektiviere die Subjektivität des Systems durch die Erzeugung kommunikativer Beziehungen mit dem System und die Subjektivität des Beobachterverhältnisses durch die Beschränkung der Kommunikationen mit dem System auf explizite, reproduzierbare und protokollierte Operationen mit standartisierten (oder standartisierbaren) und protokollierten Forschungsmitteln. Diese Aufforderungen können mit den Methoden der Polykontexturalen Logik zumindest quasi-formal expliziert und durch die (gegenüber 3. fehlenden) Beschreibungsanweisungen ergänzt werden. So setzt (1) die Möglichkeit von Unterscheidungen von Unterscheidungen in der einer Polykontexturalen Logik zugrun-

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deliegenden Kenogrammatik voraus. Anweisung (2) erfordert eine Relationstheorie, wie sie sich aus dem Konzept der Proemialrelation ableiten läßt. Der "Kontrolle von Autonomie" unter (3) läßt sich in der volitiven Interpretation einer dreiwertigen Logik ein Sinn geben (Diese Forderung entspricht übrigens formal der aus der Familientherapie bestens bekannten "semantischen Falle" vom Typ: Sei spontan I). Die unter (4) erfaBte "Kognition der Kognition" läßt sich in einer kognitiv interpretierten dreiwertigen Reflexionslogik erfassen und über eine vierwertige "Handlungs logik" mit (3) vermitteln. Der unter (5) gestellten Forderung entspricht eine höherwertige polykontexturale Logik. 16 Die in diesen Erläuterungen angeführten "Worthülsen" sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daB für all diese Konzepte bestenfalls einige Grundlagen entwickelt worden sind, die noch weit davon entfernt sind, eine angemessene "Logik der Forschung" für eine systemwissenschaftliche Methodologie bereitzustellen. Der angemessenste Terminus für eine solche Methodologie ist vielleicht jener der "systematischen Beobachtung". Die Handlungsanweisungen experimenteller Forschung werden nicht auf das System selbst, sondern auf den System-Umgebungs-Komplex bezogen. Das System wird mit einer systematisch variierten und immer mehr den ökologischen Bedingungen des Systems angeglichenen künstlichen Umgebung konfrontiert, in der es sich von einer Umwelt unterscheiden, seine Autopoiese erhalten, seine Umwelt erzeugen, sich an diese Umwelt koppeln und in kommunikative Interaktionen treten kann. Die am Maßstab der Kriterien der Organisation des Systems relevanten Variablen werden messend verfolgt ("beobachtet"), die vom System selbst erzeugten Relationen und die vom System selbst erzeugte nicht-kommunikative bzw. kommunikative Umwelt ermittelt und zu der gegebenen Umgebung und den "Kommunikationsangeboten" in Beziehung gesetzt. Zweck des Experiments ist nicht mehr die Manipulation des Systems, sondern die Kommunikation mit dem System gemäß der Kriterien seiner (Selbst-)Organisation. Inwieweit sich Ansätze für eine solche Methodologie bereits in vorhandenen "quasi-experimentellen" Methoden finden lassen, soll anschließend am Beispiel neurobiologischer Forschung aufgeführt werden. Wie eine "integrative" Methodologie der "systematischen Beobachtung" aussehen könnte, muß jedoch weiteren Arbeiten überlassen bleiben. (112) Der erste Schritt zu einer empirischen Erforschung der Erzeugung von Relationen durch das System über relevante Variablen, die das System selbst unterscheidet, ist die Entwicklung von Methoden, die über die parallele Messung der Aktivität mehrerer Nervenzellen die Untersuchung der Dynamik von Neuronenpopulationen in der Aktualgenese der Wahrnehmung ermöglichen. Anders als über Methoden der Untersuchung von Reizkorrelaten in der neuronalen Aktivität werden über solche Methoden die vom System selbst erzeugten (internen) Relationen seiner Komponenten im Rahmen seiner Autpoiese durch die Auswertung von Korrelationen zwischen Aktivitätsparametern verschiedener Neuronen untersucht. 16 A. Ziemke, Was ist Wahrnehmung? Versuch einer Operationalisierung von Denkformen der Hegeischen "Phänomenologie" für kognitionswissenschaftliche Forschung, Berlin: Duncker & Humblot 1994.

18 Selbstorganisation. Bd. 6

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Axel Ziemke Bereits mit Einzelelektrodenmessungen ist unter Verwendung geeigneter Filterverfahren die Messung der Aktivität mehrerer in der Nähe der Elektrodenspitze liegender Neurone möglich. Diese Ergebnisse haben bereits Anfang der 80er Jahre zu wichtigen Erkenntnissen der Dynamik lokaler Neuronengruppen geführt, wie der Theorie der "Synfire Chains" von Abeles. 17 Entscheidend für ein Verständnis der neurobiologischen Grundlagen von Wahrnehmung scheint aber gerade die korrelierte Aktivität von unter Umständen sehr weit voneinander entfernt liegenden Einheiten zu sein. Die parallele Messung mit mehreren bis vielen Mikroelektroden wird auf diese Weise unumgänglich sein. Neben der Schaffung der aufwendigen apparativen Voraussetzungen gelten die Bemühungen der Forscher dabei besonders der Entwicklung solcher Analyseverfahren, die einerseits die exponentiell wachsenden Datenmengen zu handhaben gestatten und andererseits eine hinreichende Sensitivität gegen schnelle dynamische Veränderungen in den Interaktionen vieler Einheiten aufweisen. 18 Das wichtigste Ergebnis der bislang auf Grundlage dieser Methodik durchgeführten Experimente ist, daß sich die effektive Konnektivität zwischen jeweils zwei Neuronen nicht nur in Abhängigkeit von Stimulus und Stimuluskontext, sondern auch vorn Verhaltensstatus des Tieres sehr schnell (im Bereich von wenigen Zehnern bis Hunderten von Millisekunden) drastisch ändern kann 19 und somit die Erzeugung von Relationen durch das System selbst im Rahmen seiner Autopoiese zugänglich gemacht werden könnte. Die bislang aufsehenerregendsten Ergebnisse gelangen den Arbeitsgruppen um Singer und Eckhorn?O Durch die parallele Messung mit zwei Mikroelektroden an anästhesierten, aber auch wachen Versuchstieren (Katze, Affe) konnten in der Aktivität von jeweils zwei Neuronenpopulationen mit der gleichen Orientierungsselektivität Oszillationen nachgewiesen werden, die unabhängig voneinander sind, wenn die Lichtbalken in ihren rezeptiven Feldern sich unabhängig voneinander bewegen, die sich untereinander synchronisieren, wenn die Lichtbalken sich kohärent bewegten, die aber am stärksten synchronisiert sind, wenn nur ein Lichtbalken beide rezeptive Felder überstreicht. Solche Synchronisationen können innerhalb bestimmter Kolumnen, zwischen verschiedenen Kolumnen, zwischen verschiedenen Hirnarealen und beiden Hirnhemisphären nachgewiesen werden. Sowohl die experimentellen Ergebnisse als auch die Modellstudien legen nahe, daß jene Synchronisation nicht auf einern gemeinsamen Input, sondern der reziproken Aktivierung der Einheiten beruht. Die gemessenen Korrelationen stellen also keine Effekte dar, die durch die "Manipulation" des Systems

17

M. Abeles, Local Cortical Circuits, Berlin, Heidelberg 1982.

A. Aertsen/GL Gerstein/M.K. Harbib/G. Palrn, Dynamics of neural firing correlation: modulation of ,effective connectivity', J.Neurophysiol. 61,900-917 (1989); GL Gerstein/ P. Bedenbaugh/A.M.H.J. Aertsen, Neuronal Assemblies, IEEE Transact.Biomed.Engin.36, 1,4-14 (1989). 19 A. Aertsen, et al., Neural interactions in the frontal cortex of a behaving monkey: signs of dependence on stimulus context and behavioral state, J.Hirnforsch. 32, 735-743 (1991) 20 R. Eckhom, et al., Coherent oscillations: A mechanism of feature linking in the visual cortex? Multiple electrode and correlation analyses in the cat, Biol.Cybernetics 60,121-130 (1988); C.M. Gray/P. König/A.K. Engel/W. Singer, Oscillatory responses in cat visual cortex exhibit inter-colurnnar synchronization which reflects global stimulus properties, Nature 338,334-337 (1989); A.K. Engel/P. König/A.K. Kreiter/T.B. Schillen/Wo Singer, Temporal Coding in the visual cortex: new vistas on integration in the nervous system, Trends Neurosci. 15,6,218-226 (1992). 18

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erzeugt werden, sondern beruhen auf der Erzeugung von Relationen durch das System selbst. Belegen ließe sich eine solche Interpretation durch die Verwendung eines ,,reichhaltigeren" Reizangebots, das die Unterscheidung verschiedener möglicher Kohärenzen (verschiedener "Szenensegmentationen") durch das System in Abhängigkeit des "Verhaltensstatus" erfordern würde. Auf diese Weise würde an die Stelle der experimentellen Erzeugung solcher interner Relationen die "systematische Beobachtung" der vom System selbst vollzogenen Unterscheidungen und hergestellten Relationen treten, die sich im Rahmen seiner Autopoiese interpretieren lassen würden. (3) Die intuitive Unzufriedenheit mit dem offensichtlichen Mangel an "ökologischer Validität" des unter II. diskutierten experimentellen Ansatzes mag auch der Grund dafür sein, daß in letzter Zeit immer mehr an wachen Versuchstieren gearbeitet wird, die in gewissem Umfang zu Bewegungen in der Lage sind. Die Tiere, zumeist Affen, werden in einen "Primatenstuhl" gesetzt, in dem der Kopf des Tieres fixiert ist und die Augenbewegungen durch am Auge implantierte Spulen, die sich in einem Magnetfeld bewegen, gemessen werden können. Der Affe wird trainiert, auf bestimmte Signale bestimmte (ruhende oder bewegte) Punkte auf dem Schirm zu fixieren oder zu verfolgen und/oder einfache Diskriminationsaufgaben auszuführen. Bewegungen der Arme und Hände werden in diese Aufgaben insofern einbezogen, als das Tier das Erkennen des Reizes und/oder die Diskrimination von Reizen entsprechend des Trainings durch Zeigebewegungen oder das Berühren eines "touch bars" signalisieren muß. Je nach dem verwendeten Versuchsaufbau kann dieses Training nun lediglich zu einer neuen Form des Ausschlusses einer Rückkopplung der Bewegung auf das sensorische System entsprechend eines experimentellen Paradigmas werden oder aber diese Rückkopplung selbst zum Gegenstand einer "systematischen Beobachtung" werden. Besteht die Trainingsaufgabe nämlich lediglich darin, auf einen gegebenen Reiz mit einer gegebenen Bewegung zu reagieren, so wird das Verhalten des Tieres wiederum vollständig über eine Stimulus-Response-Beziehung kontrolliert. Minimalforderung eines "relevanten" Experiments wäre die selbständige Unterscheidung von Verhaltensstrategien durch das Tier, die die Unterscheidung verschiedener "Wahrnehmungsstrategien" einschließen und ihrerseits zur Erzeugung und Modifikation des Reizes und seiner Einwirkung auf das Tier führen sollten. An die Stelle der Kontrolle einer vorgegebenen Bewegung würde so die "systematischen Beobachtung" der Bewegungen des Tieres während der Messung seiner neuronalen Aktivitätsparameter und in Bezug auf die Auswertung der vom System selbst erzeugten Relationen neuronaler Akivität stehen. Voraussetzung sind auch hier effektive Verfahren zur Messung dieser Bewegungen. Wie bereits erwähnt sind gerade Augenbewegungen heute sehr elegant "messend zu beobachten". (4) Auch die Plastizität neuronaler Strukturen im Rahmen einfacher Lernprozesse ist in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand empirischer Forschung geworden. So zeigen Läsionsstudien, die kortikale Reorganisationsprozesse etwa im Gefolge von Läsionen der Retina oder Deafferentiationen 21 untersuchen, daß auch das Nervensystem erwachsener Tiere noch eine enorme Plastizität aufweist. Detailliertere Untersuchungen zeigen etwa trainingsspezifische Veränderungen der "Merkmalskarten". So vergößert sich bei Experimenten, in denen das wache Versuchstier auf die Unterschei21 C.D. Gilbert/T.N. Wiesel, Receptive Field Dynamics in Adult Primary Visual Cortex, Nature 356,150-152 (1992); T.P. Pans, et al., Massive Cortical Reorganization After Sensory Deafferentation in Adult Macaques, Science 252,1857-1860 (1991).

18*

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Axel Ziernke dung akustischer Reize einer bestimmten Frequenz trainiert wurde massiv das Gebiet im primären auditorischen Cortex, das den umgebenden Frequenzbereich "codiert", und geht auf die ursprüngliche Größe zurück, wenn das Tier auf weit entfernte Frequenzen "umtrainiert" wird. Ähnliche Effekte lassen sich für den primären somatosensorischen Cortex und für die inferiotemporalen visuellen Areale (bislang also nieht für die primären) zeigen?2 Ein wichtiger Beleg dafür, daß diese Reorganisationsprozesse sich als Erzeugung struktureller Kopplungen eines autonomen und autopoietischen Systems interpretiert werden müssen, ist die Feststellung, daß sich trainingsabhängige Plastizität nur dann zeigen läßt, wenn der Stimulus erwartet und verhaltensrelevant ist, nieht also bei verhaltensirrelevanter "Beschallung". Jene kognitiven Leistungen im Kontext der Autopoiese und Autonomie des Systems zu untersuchen, würde wiederum die "systematische Beobachtung" seines Verhaltens jenseits der manipulierten Stimulus-Response-Beziehungen erfordern.

22 Recanzone,G.H./ W.M.Jenkins / G.H.Hradek/ M.M.Merzenich, Progessive Improvement in Discriminative Abilities in Adult Owl Monkeys Peforming a Tactile Frequence Discrimination Task, J.Neurophysiol. 67,1015-1030 (1992); Recanzone,G.H./ M.M.Merzenich / C.E.Schreiner, Changes in the Distibuted Temporal Response Properties of SI Cortical Neurons Reflect Improvements in Performance on a Temporally Based Tactile Discrimination Task, J.Neurophysiol. 67,1071-1091 (1992); Recanzone,G.H./ C.E.Schreiner / M.M.Merzenieh, Plasticity in the Frequency Representation of Primary Auditory Cortex Following Discrimination Training in Adult Owl Monkeys, J.Neurosci. 13,87-103 (1993); Merzenich,M.M./ K.Sameshima, Cortieal Plasticity and Memory, Curr.Opin.Neurobiol. 3, 187-196 (1993).

Autonomie in Biologie und Technik Kognitive Netzwerke - Artificial Life - Robotik Von Eberhard von Goldammer und Jochen Paul, Bochum

I. Ausgangs-Situation Der Versuch, eine wissenschaftliche Beschreibung lebender Systeme im Sinne einer "ganzheitlichen", d. h. nicht-reduktionistischen ,Theorie des Lebens' zu entwickeln, hat in den 70er Jahren zu einem fundamentalen Wechsel des bis dahin gültigen wissenschaftlichen Paradigmas einer strikten Trennung von Beobachter und Beobachtetem geführt. Der Beobachter wird zum "Teil des zu beschreibenden Systems"! : (l)

,,Ein lebender Organismus ist eine selbständige autonome, organisatorisch geschlossene Wesenheit,

und

ein lebender Organismus ist selbst Teil, Teilhaber und Teilnehmer seiner Beobachtungsweit." Diese beiden sich zueinander komplementär verhaltenden Aussagen setzen zunächst einmal ,Autonomie', d. h. ,Selbst-Regelung' für lebende Systeme notwendig voraus. Dabei ist der Begriff der ,Selbst-Regelung' synonym mit dem Ausdruck ,Regelung der Regelung', und das bedeutet in der Terminologie der Kybernetik: (2)

"Ein lebendes System regelt seine Regelung (selbst)."

Die Akzeptanz einer derartigen Aussage hat erhebliche Konsequenzen für die (kybernetische) Beschreibung autonomer Systeme, denn sie verlangt die organisatorische Geschlossenheit autonomer Systeme im Sinne der "Closure Thesis,,2: (3)

Closure Thesis: "Every autonomous system is organizationally closed. . . . organizational closure is to describe a system with no input and no output ...."

1 H. von Foerster, Kybernetik einer Erkenntnistheorie, in: Sicht und Einsicht, Vieweg Verlag, Braunschweig, 1985. 2 F. Varela, Principles of Biological Autonomy, in: General Systems Research (G. Klir, ed.), Vo!. 11, North Holland Pub!., Amsterdam, 1979.

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul

Diese Anschauung ist mit dem Wiener'schen Begriff des "Feedback" schlechthin unvereinbar. Hier wird der Übergang von der klassischen Kybernetik (1. Ordnung), deren Beschreibungsobjekte ausschließlich ,Input/Output' -Systeme sind, zur "Kybernetik 2. Ordnung" deutlich, die es ganz offensichtlich mit (operativ) geschlossenen, d. h. autonomen Systemen zu tun hat. Der epistemologisch entscheidende Punkt resultiert aus der Erkenntnis, daß ,operative Geschlossenheit' und ,Autonomie' lebender Systeme unvereinbar sind mit einer Beschreibung des Systems aus seinem (vom Beobachter festgelegten) System/Umgebungs-Verhältnis heraus. Mit anderen Worten, die durch den Beobachter definierte Abgrenzung von System und Umgebung, durch die ein Input/Output-Verhältnis erst definiert wird, ist immer unterschiedlich zur Grenzbildung, die das autonome System durch seine (operative) Geschlossenheit relativ zu allen anderen Systemen erzeugt. Es existieren also zwei vollständig unterschiedliche, nicht zu vereinbarende (standortabhängige) Beschreibungsvarianten: (4)

i) einmal vom Standpunkt eines externen Beobachters eines (von ihm definierten) Systems und dessen Umgebung aus, und ii) vom Ort des autonomen (lebenden) Systems selbst (unter Einbeziehung des Beobachters) heraus, also der vom autonomen System festgelegten Grenzziehung zwischen sich und seiner Umgebung.

Parallel zur Entstehung der besonderen Rolle des Beobachters in der Konzeption einer ,Theorie lebender Systeme' steht in diesem Kontext die Fragestellung nach der Relation von System und Umgebung, die wiederum unter dem Aspekt der kognitiven Fähigkeiten als primordialer Eigenschaft von ,Leben überhaupt' verstanden wird 3 : (5)

"Lebende Systeme sind kognitive Systeme, und Leben als Prozeß ist ein Prozeß der Kognition. Diese Aussage gilt für alle Organismen, ob diese ein Nervensystem besitzen oder nicht."

Auf dem Weg zu einer ,Theorie lebender Systeme' kommt der Konzeption der ,Autopoiese' von Maturana und Varela 4 eine zentrale Rolle zu. Dabei stellt die ,Theorie autopoietischer Systeme' den Versuch einer rein semantischen, d. h. nicht-formalen Theorie lebender Systeme dar, mit der erklärten Absicht, eine biologische (nicht-physikalistische) Begrifflichkeit lebender Systeme zu entwickeln das ist ihr Verdienst. Was auf der Basis einer rein semantischen Theorie jedoch nicht gelingen kann, ist eine Symbiose von Computer- und Biowissenschaften im Sinne der Simulation biologischer Systeme und der daraus resultierenden Konstruktion entsprechender technischer Artefakte - das ist das Problem. 3 H. Maturana, Biologie der Kongnition, in Erkennen, die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Vieweg Verlag, Braunschweig, 1975. 4 H. Maturana & F. Varela, Autopoiesis: The Organization of the Living, in: Autopoiesis and Cognition, Boston Studies in Philosophy of Science, Vo!. 42, p. 63-134, (M.S. Cohen, M.W. Wartoisky, eds.) D. Reidel Pub!., Dodrecht 1972.

Autonomie in Biologie und Technik

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11. Wissenschaftlich-technische Problemstellung

Während alle bis heute bekannten Modelle der Neuroinfonnatik ausschließlich klassische Input/Output-Systeme - also offene Systeme - beschreiben, stellen die von der ,Kybernetik 2. Ordnung' geforderten Modelle biologisch kognitiver Netzwerke geschlossene Systeme dar. Hier besteht ganz offensichtlich ein unvereinbarer Widerspruch in der Vorstellung zwischen ,offenen' und ,geschlossenen' Systemen, Netzwerken oder Modellen der Beschreibung. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, daß nur geschlossene Systeme eine Umgebung besitzen können, während offene Systeme prinzipiell keine Umbebung besitzen. Wird also nach einem Modell zur Beschreibung kognitiver Prozesse gesucht, dann muß dieses den Aspekt der ,Geschlossenheit' beinhalten, denn (6)

Kog n i t ion ist die Fähigkeit eines Systems aus eigener Leistung zwischen sich und seiner Umgebung eine Unterscheidung treffen zu können.

Dies wiederum setzt notwendigerweise die Existenz einer Umgebung für das System - vom Standpunkt des Systems aus - voraus und nicht lediglich nur vom Standpunkt eines Beobachters des Systems aus, wie dies heute in aller Regel beim Begriff ,Umgebung' naiverweise angenommen wird (siehe dazu Aussage 4). Es sei hier der Hinweis gestattet, daß bei dieser Definition von Kognition zwischen ,Kognition' und ,Bewußtsein' unterschieden wird. Um bei einem System von ,Bewußtsein' zu sprechen, muß dieses über kognitive Fähigkeiten verfügen; die Umkehrung der Aussage, daß kognitive Systeme über ,Bewußtsein' verfügen, ist nicht allgemeingültig. Sich diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, ist notwendig, wenn ,Kognition' als eine charakteristische Eigenschaft lebender Systeme angesehen wird (vrgl. Aussage 5), durch welche diese sich von den toten Objekten der Physik und Chemie unterscheiden. Eine Definition der jeweiligen Begriffe wie ,Umgebung' oder ,Kognition' ist, wenn (Kognitions-)Wissenschaft ernsthaft betrieben werden soll, zwingend notwendig. Die Bedeutung einer solchen Definition für technische Entwicklungen kognitiver Systeme läßt sich anschaulich an dem Beispiel eines Roboters demonstrieren: Betrachtet sei zunächst der Roboter in einem Automobilwerk, dessen Aufgabe darin bestehen soll, Schrauben an einer Karosserie zu befestigen - selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um ein kognitives System. Ein unvoreingenommener Beobachter dieses Roboters wird ohne weiteres eine Unterscheidung zwischen diesem Roboter und seiner Umgebung (den Schrauben, der Karosserie, etc.) treffen können. Vom Standpunkt des Roboters aus (gemäß Aussage 4), stellt sich die Situation jedoch völlig anders dar: dieser Roboter besitzt keine Umgebung. Die "Schrauben", "ihr Weg vom Regal zur Karosserie", etc. sind Teile des Robotprogramms; sie sind sozusagen als Objekte vom Konstrukteur einprogrammiert und gehören zum Computerprogramm, das die Bewegungsabläufe steuert. Letzteres ist für die Funktion dieses technischen Systems ebenso bedeutsam wie die für den Beobachter sichtbare Stahlkonstruktion. Auf der anderen Seite sollte

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul ein zur Kognition befähigter Roboter in der Lage sein, zwischen sich und seiner Umgebung eine Unterscheidung treffen zu können, damit er sich - um im Bilde zu bleiben nicht selbst auseinander schraubt. Bis heute gibt es noch keine mit kognitiven Fähigkeiten ausgestattete Roboter. Daran ändert sich auch nichts durch die Einführung oder Implementierung von neuronalen Netzwerken, von Fuzzy-Reglem oder gar einer Kombination aus beiden, den sogenannten NeuroFuzzy-Systemen.

J. Physikalische Systeme sind " offene " Systeme

Berücksichtigt man, daß es sich bei der Fuzzy Logik um einen Kalkül und bei den neuronalen Netzwerken um Modelle handelt, denen ein Kalkül zugrunde liegt, so wird schon an dieser Stelle deutlich, daß zumindest aus konzeptioneller Sicht der Begriff des ,NeuroFuzzy-Systems' einem wissenschaftlichen Eintopf gleichkommt, in dem Unterschiedliches miteinander verkocht werden soll, in der Hoffnung, daß durch die Einführung von Prinzipien wie ,Selbstorganisation' oder ,Unscharfes Schließen', getreu der Homunkulus-Idee, ein ,intelligentes' System entstehen möge. Ohne eine klare Definition dessen, was beschrieben, modelliert oder konstruiert werden soll, stellen solche oder ähnliche Begriffskombinationen jedoch eine konzeptionell-wissenschaftliche Sackgasse dar. Die oben gegebene Definition von ,Umgebung' und ,Kognition' erfordert, und das kann gar nicht oft genug betont werden, die Annahme ,geschlossener' Systeme. Um die Konsequenz des Postulats der ,Geschlossenheit' lebender Systeme zu verdeutlichen, ist es angebracht, die entsprechende Begriffsbildung in den Naturwissenschaften einmal zu hinterfragen. Aus Physik und Chemie sind wir gewöhnt, uns über den Systembegriff nur wenig oder gar keine Gedanken zu machen. ,Offene' und ,geschlossene' Systeme werden allenfalls in der Thermodynamik abgehandelt und dort im allgemeinen als geometrische Abgrenzungen verstanden, d. h., die Systeme werden durch einen Raumbereich definiert. Die Unterscheidung zwischen ,geschlossen' und ,offen' bezieht sich in der Physik darauf, ob Materie, die ein solcher Raumbereich enthält, bei Prozessen in dem Raumbereich verbleibt oder nicht. Ein im Rahmen dieser Begriffsbildung als ,geschlossen' festgelegtes physikalisches System läßt im Gegensatz zu einem ,offenen' keine Materie durch seine Begrenzungen strömen. Ist die Begrenzung eines Systems nicht nur für Materieströme, sondern für alle Energieströme undurchlässig, dann wird ein derartig festgelegtes physikalisches System als ,abgeschlossen' oder ,isolier' bezeichnet. Man erkennt, daß bei dieser Systemdefinition an eine räumliche Vorstellung appelliert wird. Diese auf den ersten Blick vermeintlich anschauliche Systemdefinition ist jedoch sowohl aus mathematischer wie auch aus physikalischer Sicht nicht nur unzweckmäßig, sondern im höchsten Maße wissenschaftlich inkonsequent. Sie stammt aus einer Zeit, in der die Stoffmenge (gemessen in ,mol ') als physikalische Größe allgemein noch nicht akzeptiert war und die ,chemische Energie' als Energieform von den Physikern ignoriert wurde.

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Nun haben aber physikalische Systeme immer eine gemeinsame Eigenschaft, nämlich Energie in verschiedenen Fonnen mit anderen (physikalischen) Systemen auszutauschen. Dabei ändert sich der physikalische Zustand des betrachteten Systems von einem, sagen wir Zustand I in einen Zustand 2 - oder anders ausgedrückt von einem Anfangszustand zu einem Endzustand. Die Veränderungen der das System beschreibenden physikalischen Variablen ist das, was in der Physik gemessen wird. Ändert sich der Zustand eines Systems nicht, dann kann man auch nichts messen oder anders herum ausgedrückt, tauscht das betrachtete System keine Energie mit einem anderen System aus, dann ändert sich nichts an dem System und es läßt sich infolgedessen auch nichts messen. Das bedeutet aber im vorliegenden Kontext ,offener' und ,geschlossener' Systeme, daß es in der Physik keinen Sinn macht, Systeme zu betrachten, die keine Energie austauschen können die Physik (und Chemie) kennt nur Systeme, die offen sind, d. h. einen Austausch von Energie mit anderen Systemen zulassen. Für die fonnale Darstellung physikalischer Systeme sind Begriffe wie ,offen' und ,geschlossen' völlig überflüssig 5, was nicht überraschend ist, da sich beide Begriffe wechselseitig bedingen. Nur wenn auch physikalische Systeme, bei denen keine Energie mit anderen Systemen ausgetauscht werden kann - die im sprichwörtlichen Sinne als geschlossen angesehen werden müßten - eine physikalische Bedeutung hätten, müßten die Begriffe von ,Offenheit' und ,Geschlossenheit' im Zusammenhang mit der Systemfestlegung in einer physikalischen Theorie berücksichtigt werden. Solche hypothetischen "geschlossenen" (physikalischen) Systeme befinden sich in einem physikalischen Zustand, in dem sie bis in alle Ewigkeiten verharren, an ihnen läßt sich nichts messen und damit sind sie aus physikalischer Sicht bedeutungslos. Kurz, der Begriff der ,Geschlossenheit' macht in der Physik und Chemie keinen Sinn. Für die Systemdefinition in der Physik und Chemie werden die verschiedenen Energieformen, die an dem System ausgetauscht werden, als Summe bilanziert. Man erhält auf diese Weise eine Differentialgleichung - die sogenannte Gibbs'sche Funktion - die das damit jeweilig definierte physikalische System VOllständig beschreibt, d. h. es handelt sich hierbei um die allgemein gültige Definition eines physikalischen Systems ohne geometrische Begrenzung (näheres siehe Ref. 5): (7)

dE

= ~i ~i . dXi

In der Gleichung (7) stehen links die Änderung der Gesamtenergie E des betrachteten physikalischen Systems und rechts die einzelnen Energieformen, wie mechanische Energieformen (Bewegungsenergie, !. de, Rotationsenergie, ~. d1, etc.), Wärmeenergie, TdS oder chemische Energie, ~jllßnj, etc., die das betrachtete System mit einem anderen System austauscht, und die das betrachtete System auszeichnen. Betrachtet wird die Veränderung der Energie von einem Zustand I, der durch einen konstanten Wert von E = EI (= const.) und konstante Werte der korrespondierenden Variablen ~i,j, Xi,j gegeben ist, und einem Zustand 2, dessen Energie E 2 und die Werte der korrespondierenden 5 G. Falk & W Ruppel, Energie und Entropie - Eine Einführung in die Thermodynamik, Springer Verlag, Berlin, 1976.

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul Variablen ~i,l, X i ,2 wiederum einen konstanten Wert besitzen. Tauscht das System keine Energie aus (Geschlossenheit), d. h. sind alle Werte dXi auf der rechten Seite gleich null (d. h. Xi = const.), dann ist das System für eine physikalische Betrachtung relativ bedeutungslos. Es befindet sich in einem Zustand, bei dem der Wert der Energie und alle das System aus physikalischer Sicht charakterisierenden Größen (definiert durch die Variablenpaare ~i, Xi) einen konstanten Wert besitzen. Das System verharrt in diesem Zustand solange bis ein Energieaustausch mit einem anderen System stattfindet. Würde an dem System keine Energie ausgetauscht, dann verharrt es bis in alle Ewigkeiten in einem Zustand, dessen charakteristische Variablen ohne Energieaustausch auch nicht bestimmbar wären - mit anderen Worten, es wäre dann sinnlos von einem physikalischen System zu sprechen. Wie man sieht, sind geometrische Systemabgrenzungen hierbei völlig überflüssig. Die Systemdefinition ist in der Physik durch eine abstrakte mathematische Beschreibung gegeben, in der Begriffe wie ,offen' oder ,geschlossen' keinen Platz haben. Das "System existiert", d. h. die rechte Seite von GI.(7) ist ungleich null oder das "System existiert aus formaler Sicht nicht", d. h. die rechte Seite der GI. 7 ist null und somit dE=O; daran ändern auch noch so spitzfindige philosophische Argumente nichts. Wie obsolet geometrisch-räumliche Abgrenzungen in der Physik geworden sind, geht schon aus der Atomphysik hervor. In diesem Zusammenhang sei nur an die Heisenberg'sche Unschärferelation erinnert.

Zusammenfassend läßt sich festhalten : (8)

Zur vollständigen Beschreibung des Zustandes eines physikalischen Systems gehört neben der Angabe der Werte verschiedener für das System (von einern Beobachter festgelegten) charakteristischer physikalischer Variablen immer die Angabe des Wertes seiner Energie. Ein physikalisches System ist definiert durch die Angabe des Wertes seiner Energie und der komplementären Variablenpaare {k, Xj, die für eine adäquate Systembeschreibung vom Experimentator als notwendig erachtet und von ihm festgelegt werden.

Der Begriff des ,Gleichgewichts' bezieht sich immer auf einen physikalischen Zustand, stellt also begrifflich nichts Neues dar. Befindet sich ein physikalisches System im Gleichgewicht, dann tut sich aus physikalischer Sicht nichts an dem System. Lebende Systeme sind aus physikalisch-chemischer Sicht immer "fernab" vom physikalisch-chemischen Gleichgewicht, Wären sie im physikalischen Gleichgewicht, dann wären sie im sprichwörtlichen Sinne "mausetot" und damit auch nicht zur Kognition befähigt. Lebende Systeme werden permanent von Energie durchströmt, d. h. in sie strömt sowohl Energie hinein wie auch heraus. Was dagegen niemals aus ihnen heraus oder in sie hineinströmt, ist Information und zwar auch dann nicht, wenn Elektroden im Gehirn angelegt werden. Es strömt immer nur Energie, das gilt auch für den Wahrnehmungsapparat oder die vom Experimentator im Gehirn angelegten Elektroden - hier könnte man allenfalls in der Sprache der Nachrichtentechnik von

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Signalen sprechen, die erst in dem empfangenden System selbst und/oder im Kopf des Experimentators: (Shannon'sche Informationstheorie) zur Information für das System und/oder den Experimentator werden. Dabei ist die Bedeutung der Information für das System nicht notwendigerweise identisch mit der Bedeutung der Information die "im Kopf des Experimentators errechnet" wird - das ist das Problem.

2. Die Reduktion biologischer Systeme zu "offenen" Systemen oder der Reduktionismus in der Biologie

Da durch jede Messung die Veränderung zwischen einem Anfangs- und einem Endzustand bestimmt wird, reduziert jede experimentelle Wissenschaft, bei der die Messung im Vordergrund steht, ein System zu einem offenen (Teil-)System, bei dem es einen ,Anfang' und eine ,Ende', einen ,Input' und einen ,Output' gibt. Das sind Begriffe, die nur im Zusammenhang mit offenen Systemen einen Sinn ergeben, und damit wird auch klar, warum in den klassischen Naturwissenschaften der Begriff des ,Systems' im allgemeinen nur eine untergeordnete Rolle spielt, von ,Geschlossenheit' zu sprechen ist in diesem Kontext sinnlos. Das gilt auch für die Biologie, die, wenn überhaupt von Systemen gesprochen wird, in aller Regel auf die aus formaler Sicht obsoleten räumlich-geometrischen Vorstellungen der Physik und Chemie zurückgreift. Nun wird aber von Seiten der modemen Kybernetik ,Geschlossenheit' eines Systems für die Existenz einer ,Umgebung' und diese wiederum für die Beschreibung ,kognitiver' Prozesse gefordert, und es sind gerade die kognitiven Fähigkeiten, die lebende Systeme von toter Materie signifikant unterscheiden. Damit stellt sich diese Thematik nicht nur den Ingenieur- und Computerwissenschaften bei ihren Bemühungen um eine Modellierung und Simulation kognitiver Prozesse, sondern sie stellt sich auch und gerade den Biowissenschaften. So reduziert sich aus wissenschaftlich konzeptioneller Sicht das System ,Affe', bei dem beispielsweise die Himaktivität als Funktion (vom Experimentator) vorgegebener äußerer optischer Reize durch Elektroden gemessen wird, auf das System eines lebenden, nicht-trivialen Signal- oder Datenfilters, bei dem ein lebendes neuronales Netzwerk eingesetzt wird. Durch die experimentelle Anordnung ist das System ,Affe' bzw. dessen Gehirn (für den Experimentator) zu einem offenen System reduziert worden. Über den (visuellen) Wahrnehmungs- oder Kognitionsprozeß, der sich im System ,Affe' während der experimentellen Situation abspielt, erfährt der Experimentator durch solche oder ähnlich durchgeführten Messungen nichts. An dieser Situation würde sich natürlich auch dann nichts ändern, wenn experimentell die Möglichkeit bestünde, die Aktivität jedes einzelnen Neurons bis ins letzte Detail vermessen zu können. Erfolgreicher dagegen sind derartige Experimente, wenn es sich beispielsweise um Untersuchungen des Stoffwechsels handelt, dann befindet man sich jedoch eindeutig im Kontext von Physik und Chemie, und

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul

das ist ganz offensichtlich eine andere Beschreibungsdomäne als die der kognitiven Prozesse. Wo liegen die epistemologischen Schwierigkeiten bei dem Experiment der Messung von Himaktivitäten im Kontext einer wissenschaftlichen Beschreibung kognitiver Prozesse? a) Da ist zunächst die heute noch immer gebräuchliche, jedoch wissenschaftlich völlig einseitige Verwendung des Begriffs von ,Information', wie er 1948 von Shannon eingeführt wurde, zu nennen. In der von Shannon entwickelten Informationstheorie wird der Informationsgehalt von Signalen in Analogie zu physikalischen Objekten als eine meßbare Größe angesehen. Die Nützlichkeit dieser ausschließlich objektbezogenen Konzeption von Information für die Daten- und Signalübertragung in der Nachrichtentechnik ist unbestritten. Aus der Sicht einer modemen Kybernetik, die sich insbesondere auch mit der Beschreibung lebender Systeme beschäftigt, reicht diese Begriffsbildung jedoch nicht mehr aus, denn ein Signal wird erst in einem von dem empfangenden System (selbst) festgelegten Kontext zur Information für das betreffende System, d. h. Information existiert nicht sui generis. Solange sowohl Biologen wie auch (Neuro-)Informatiker diesen relativ einfach nachzuvollziehenden Sachverhalt ignorieren, werden ihren Bemühungen auf dem Weg zu einer Theorie kognitiver Prozesse keine durchschlagenden Erfolge beschieden sein. b) Die "Festlegung" physikalischer Systeme als "offene Systeme" ist natürlich keine bloße Marotte der Physiker, sondern entspringt dem Bemühen, physikalisch-chemische Systeme und Prozesse auch mathematisch beschreiben zu können. Dabei stellt die Mathematik als formale Sprache ein extrem effizientes Hilfsmittel für die wissenschaftliche Kommunikation dar. Die formale Beschreibung eines geschlossenen Systems im Sinne der ,Closure Thesis' (vgl. Aussage 3) ist auf der Basis der klassischen Mathematik nicht möglich 6 ,7. An dieser Stelle taucht sofort die Frage auf, wie technische Systeme mit kognitiven Fähigkeiten konstruiert werden sollen, wenn diese Prozesse mathematisch nicht darstellbar sind? Hier offenbart sich ein Problem, welches sowohl die Fundamente der KI-Forschung, der Neuroinformatik aber auch der Robotik tangiert - es zu ignorieren, löst das Problem nicht. 6 H. von Foerster, Entdecken oder Erfinden - Wie läßt sie Verstehen verstehen?, in: Einführung in den Konstruktivismus (H. Gumin & A. Mohler, eds.), Oldenburg Verlag, München, 1985. In dieser Publikation wird das Problem der ,Geschlossenheit' bei kognitiven Prozessen an Hand einer unendlichen Rekursion verdeutlicht - eine unendliche Rekursion ist mit keiner Turing Maschine bearbeitbar und damit auch nicht mit Hilfe eines Computers berechenbar. 7 E. von Goldammer & R. Kaehr, Poly-contextural modeling of heterarchies in brain functions, in: Models of Brain Functions (Cotterill, R.M.J., ed.), Cambridge University Press, 1989, p. 483-497.

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Bis heute ist diese Erkenntnis der Nicht-Fonnalisierbarkeit kognitiver Prozesse mit den Mitteln der klassischen Mathematik sowie die sich daraus ergebenden wissenschaftlich-technischen Konsequenzen von Seiten dieser Disziplinen noch nicht einmal im Ansatz erkannt worden. Daraus resultiert auch der ungebrochene Glaube, man werde mit Hilfe der Modelle neuronaler Netzwerke und/oder ihrer Kombination mit den Methoden der Fuzzy-Logik, wenn man denn nur die Rechenleistungen (massive Parallelität) genügend steigern kann, eines Tages zu kognitiven, und damit zu autonomen Systemen in der Technik gelangen; aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Vorstellung naiv. Die Modelle der Neuroinfonnatik sind mit ihren Input- und OutputSchichten offene Systeme par exellence, und damit sind sie NON_KOGNI-

TIV.

c) Selbst wenn es gelingen sollte, die Aktivitäten aller Neuronen des Gehirns zu messen, so wäre dieser Erfolg mikro-elektro-mechanischer Experimentierkunst noch kein Garant für einen Erkenntnisfortschritt auf dem Gebiet der Kognition. Dies soll im folgenden am Modell eines finiten Automaten demonstriert werden 8 .

Inp

f_----J1 0" t~"t. Y

u t. ;L.I__

Abb.l: Prinzip eines "Trivialen Automaten"

In der Abb. 1 ist das Prinzip eines extrem einfachen Automaten dargestellt. Es soll angenommen werden, daß dieser Automat durch vier Werte (A,B,C,D) der Eingangsvariablen x und durch zwei Werte (0,1) der Ausgangsvariablen y charakterisiert sei. Zwischen den Werten der Eingangs- und Ausgangsvariablen existiere ein funktionaler Zusammenhang wie z. B. der in Tab. 1 angegebene. D. h., liegt am Eingang die Sequenz (ABCD) an, dann wird die Sequenz (0110) durch den Automaten errechnet, die am Ausgang anliegt. Anders ausgedrückt, wann immer der Maschine als Eingangssignal (Ursache) das Symbol x = A angeboten wird, ist das Resultat ihrer Operation das Ausgangssymbol (Wirkung) y = O. Eine solche Maschine wird von Von Foerster als "triviale Maschine" bezeichnet, ihre Funktion in der Datenverar8

Siehe dazu auch Ref. FN 6.

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul

beitung wäre z. B. die eines digitalen Filters, wie etwa die (adaptierten) neuronalen Netzwerke, die ebenfalls zur Klasse der trivialen Maschinen gehören. Die Adaptionsphase bei den neuronalen Netzwerken kann sozusagen als Trivialisierungsprozess dieser Netzwerkmodelle angesehen werden. Triviale Automaten sind: 1) synthetisch detenniniert; 2) analytisch detenninierbar; 3) vergangenheitsunabhängig; und 4) vorhersagbar. Automaten dieser Art sind nicht nur langweilig, mit· ihnen könnte man noch nicht einmal einen herkömmlichen Computer bauen. Tabelle 1

Funktionaler Zusammenhang y =f (x) für einen" Trivialen Automaten"

f x

y

A

0 1 1 0

B

C D

In der Abb. 2 ist ein Automat angegeben, der sich von seinem trivialen Pendant dadurch unterscheidet, daß die Operationen dieser Maschine von den jeweiligen "inneren Zuständen" z der Maschine abhängen. Der Maschinentyp wird im folgenden mit dem Akronym NTA (Nicht Trivialer Automat) abgekürzt. Betrachtet sei wiederum der einfachste Fall eines NTA mit nur zwei internen Zuständen I und 11, wie dies in der Tab. 2 angezeigt ist. Wird an den Eingang (Ursache) das Signal x = A angelegt, so ist das Resultat der Operation (Wirkung) y = O. Eine Sequenz (A,A,A, ... ) ergibt die Sequenz (0,0,0, ... ) am Ausgang. Entsprechend ergibt die Sequenz (B,B,B, ... ) als Resultat die Sequenz (1,1,1, ... ) am Ausgang. Will man nun wissen, was C bewirkt, d. h. wird an den Eingang das Signal (Ursache) x = C angelegt, dann ist das Resultat der Operation (Wirkung) y = 1. Die Wiederholung dieses Vorgangs (erneutes Anlegen von C an den Eingang) liefert jedoch y = 0, da der Automat beim ersten Anlegen von C vom Zustand I in den Zustand 11 übergegangen ist. Wird jetzt an den Eingang wiederum x = B angelegt, dann ist das Resultat in diesem Fall y = 0 und die Sequenz (B,B,B, ... ) würde jetzt zu (0,0,0, ... ) führen, da sich der Automat jetzt im Zustand 11 befindet. Wird x =D angelegt, dann ergibt sich y = 1. Eine Sequenz (D,D,D,. .) ergibt, wie man der Tab. 2 entnehmen kann, die Sequenz (1,0,1,0, ... ) bzw. wenn vom Zustand I aus gestartet wird, (0,1,0,1, ... ).

287

Autonomie in Biologie und Technik

F

Output Y

Input x

z"

Abb. 2: Prinzip eines "Nicht-Trivialen-Automaten"

Tabelle 2

Funktionaler Zusammenhang y f (x, z) für einen "Nicht-Trivialen-Automaten"

Zustand I

f

Zustand 11 z

x

y

z

x

y

A

0 I I 0

I

A

I

I

I

B C 0

0 0 1

II

B C 0

1I 1I

II I

Angenommen der NTA stellt ein zu untersuchendes unbekanntes Objekt dar, dann wird ein Experimentator, der den funktionalen Zusammenhang y = F (x,z) und z' = Z (x,z) aus der Tab. 2 durch wiederholtes Experimentieren erst finden soll, diesen Zusammenhang zwischen x, y und z nach einer Reihe von Versuchen möglicherweise finden. Die interessante Frage ist, wie groß ist die Anzahl der möglichen NTA's, die durch jeweils eine Tabelle (entsprechend der Tab. 2) repräsentiert werden? Nehmen wir an, daß sich die Eingangsgrößen durch zweistellige Binärzahlen darstellen lassen, also A =00, B =0 I, C = 10, D = 11, dann gibt es für diesen relativ einfach Fall bereits insgesamt 6 . 1076 verschiedene Kombinationen, wobei jede Kombination einem NTA bzw. einer Tabelle entspricht (siehe Ref. 6). Die Anzahl der möglichen NTA's wächst astronomisch an, wenn sich die Zahl der Eingangsvariablen und/oder der Zustände erhöht9 •

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Eberhard von Goldammer und Jochen Paul

Maschinen dieser Art werden in Ref. 6 als 1) synthetisch detenniniert, 2) analytisch unbestimmbar, 3) vergangenheits abhängig und 4) unvoraussagbar bezeichnet. Es ist in diesem Kontext nicht weiter relevant nach dem wissenschaftlichen Nutzen von Messungen der Himaktivität bei Tieren zu fragen, das steht hier nicht zur Debatte. Fest steht jedoch, daß auf diese Weise keine Erkenntnisse über den Prozeß der Kognition gewonnen werden können, der Vergleich mit einem NTA liegt auf der Hand. Wenn aber die Fähigkeit zur Kognition ein wesentliches Merkmal lebender Systeme ist, dann tragen Experimente dieser Art, wenn überhaupt, nur wenig zu einer "Theorie lebender Systeme" bei und damit nützen sie einem Ingenieur, der kognitive Fähigkeiten in einem technischen System abbilden möchte, nichts. An dieser Stelle ist es angebracht, sich in einem Gedankenexperiment folgenden hypothetischen Fall vorzustellen: Angenommen, einem Ingenieur sei die Konstruktion eines technischen Systems mit kognitiven Fähigkeiten gelungen - wie will die "Nachwelt" den Algorithmus eines solchen Systems erforschen, wenn dieser nicht publiziert wurde? Durch Messungen der elektrischen Signale, d. h. deren Amplituden und/oder Frequenzen, gelingt dies aus den oben dargelegten Gründen ebensowenig, wie es einem Biologen gelingt, aus elektrophysiologischen Messungen der Himaktivität etwas über den Prozeß der Kognition zu erfahren. Schlimmer noch, selbst der Algorithmus eines einfachen Programms, wie es heute in jedem gewöhnlichen Computer abläuft, läßt sich auf diesem Weg nicht finden (vrgl. dazu Ref. 9). Fassen wir kurz zusammen: Die Systemdefinition in der Physik erfolgt über mathematische Differentialgleichungen. Alle räumlich-geometrischen Systemdefinitionen sind spätestens seit Einführung der Quantenmechanik in die Physik völlig obsolet geworden. Das komplementäre Begriffspaar ,offen' und ,geschlossen' hat in einer physikalischen Theorie, in der meßbare Größen dominieren, keinen Platz. - Kognitive Prozesse gehören in eine andere Domäne der Beschreibung und nicht in die Beschreibungsdomäne physikalisch-chemischer Prozesse. Benutzt man für die Beschreibung kognitiver Prozesse den Sprachrahmen, der durch die klassische (zweiwertige) Logik aufgespannt wird, dann führt die Beschreibung kognitiver Prozesse zu Systemen bzw. Modellen, die als ,geschlossen' im Sinne eines logischen circulus vitiosus angesehen werden müssen. Der Versuch ihrer Beschreibung auf der Basis offener Systeme oder Modelle ist identisch mit einer Systernreduktion (Reduktionismus); nur in diesem Falle sind 9 Unbestimmbarkeitsprinzip nach A. Gill: Gill hat gezeigt, daß es funktionale Organisationen solcher finiter Automaten gibt, die prinzipiell nicht durch eine endliche Versuchsfolge erschlossen werden können: A. Gill, Introduction to the Theory of Finite-State-Machines, Mc-Graw-Hill, N.Y., 1962.

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die Kalküle der klassischen (mono-kontexturalen) Logikkonzepte widerspruchsfrei anwendbarIO. 11. 12, der zu beschreibende Prozeß jedoch ist für das formale Modell verloren gegangen. Das Problem das es zu lösen gilt, ist seit mehr als 2000 Jahren unter verschiedenen Etiketten wie die ,Dichotomie von Geist und Materie' oder die ,Subjekt-Objekt-Spaltung' bekannt. Heute tritt es als das Problem einer Verknüpfung verschiedener Beschreibungsdomänen erneut auf, nämlich einmal der physikalischchemischen Prozesse auf der einen Seite und der kognitiven Prozesse auf der anderen Seite. Die Entwicklung einer vereinheitlichten Theorie beider Beschreibungsdomänen ist primär ein wissenschaftslogisches und kein experimentelles Problem, worauf in der Vergangenheit schon mehrfach hingewiesen wurde - siehe dazu Ref. 1012. III. Autonome Systeme: Beschreibung und Konstruktion

Sowohl die Modellierung autonomer Systeme, deren Simulation sowie die Formulierung einer Theorie lebender Systeme stellen eine äußerst komplexe interdisziplinär orientierte Aufgebe dar, die, ebenso wie die Konstruktion autonomer Fahrzeuge, d. h. zur Kognition befähigter technischer Artefakte, eine (formale) Sprache als Kommunikationshilfe und Konstruktionsgrundlage voraussetzt. Eine adäquate formale Sprache muß, wie in Abschnitt 11 dargelegt wurde, so strukturiert sein, daß verschiedene Beschreibungsdomänen durch dafür geeignete Operatoren miteinander vernetzt werden können, und nicht wie bisher beziehungslos irgend wie nebeneinander stehen. Das ist sozusagen die minimale Voraussetzung für eine vereinheitlichte Theorie physikalischer (und chemischer) mit kognitiven (und volitiven) Prozessen, wie sie nun einmal in lebenden Systemen ganz offensichtlich auftreten. Da alle wissenschaftlichen Aussagen logisch fundiert sein müssen, ist als formale Sprache zunächst ein Logik-Kalkül gefordert, bei dem verschiedene logische Domänen 13 durch geeignete Operatoren bereits so miteinander vernetzt sind, daß eine Beschreibung, d. h. ModelIierung und Simulation, simultan-parallel ablaufender physikalisch-chemischer und kognitiv-volitiver Prozesse möglich wird. 10 R. Kaehr & E. von Goldammer, Again Computers and the Brain, Journal of Molecular Electronics, Vol. 4, 1988, p.S31-S37. 11 E. von Goldammer & R. Kaehr, Problems of Autonomy and Discontexturality in the Theory of Living Systems, in: Analyse dynamischer Systeme in Medizin, Biologie und Ökologie, Reihe: Informatik-Fachberichte (D.P.F. Möller & O. Richter. Hersg.), Springer Verlag, 1990, p. 3-12. 12 E. von Goldammer & R. Kaehr, Lernen in Maschinen und lebenden Systemen, Design und Elektronik, März 1989, p. 146-151. 13 In einer logischen Domäne sind jeweils alle logischen Opertionen gültig.

19 Selbstorganisation. Bd. 6

290

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Ein derart parallel vernetzter Kalkül ist durch die Poly-Kontextural-Logik (PKL) und die ihr zugrunde liegende Stellenwerttheorie bereits gegeben. Das Problem einer formal wissenschaftlichen Beschreibung lebender Systeme in einem "ganzheitlichen" Sinne besteht in der Aufgabe, diesen Kalkül in adäquater Weise mit Semantiken zu füllen. Dies stellt die bereits erwähnte komplexe interdisziplinäre Aufgabe dar, für die es keine historischen Vorbilder gibt. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist dies eine völlig neue Situation, denn in der Vergangenheit wurde parallel zur Entwicklung der begrifflichen Fassung einer Theorie, die aus der experimentellen Beobachtung abgeleitet wurde, ein Formalismus entwickelt. Die mathematisch formale Weiterentwicklung einer solchen Theorie führte dann zur Reduktion der Bedeutungsvarianz der verwendeten Begriffe 14. Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit auf dem Weg zu einer ,Theorie lebender Systeme' resultiert aus der Tatsache, daß wir nicht über die Fähigkeit verfügen, Begriffe simultan-parallel zu denken, schlimmer noch, eine. derartige Parallelität von Prozessen kann weder gemessen noch sonst in irgendeiner Weise unmittelbar wahrgenommen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß solche Prozesse möglicherweise gar nicht existieren - für das Verständnis lebender Systeme sind sie von fundamentaler Bedeutung. Erst die Begrifflichkeit einer derartigen Prozessualität, bei der Probleme wie z. B. Mehrzeitigkeit, Polyrhythmie, etc. auftauchen und theoretisch zu bewältigen sind, führen zu einer ,Therorie des Lebens'. Alle heute bekannten parallelen Rechnerarchitekturen und die auf diesen Plattformen ablaufenden Algorithmen lassen sich grundsätzlich auch sequentiell abarbeiten, ohne daß der durch sie abgebildete Prozeß eine qualitative Veränderung erfährt - was sich dabei verändert ist die Bearbeitungsgeschwindigkeit des Algorithmus. Diese Art von Parallelität ist nicht gemeint, wenn hier von simultaner Parallelität die Rede ist. Da menschliche Denkprozesse sequentiell ablaufen, und sich simultan-parallel ablaufende Prozesse prinzipiell nicht messen lassen, ist für die Entwicklung einer ,Theorie des Lebens' der Computer ein unverzichtbares Hilfsmittel (zur Modellierung) und Werkzeug (zur Simulation). Der Weg zu einer ,Theorie des Lebens' führt sowohl methodisch wie auch methodologisch über die Computerwissenschaften im Sinne einer Symbiose von Computer- und Biowissenschaften. Obwohl die Bezeichnung ,Neuroinformatik' den Eindruck erweckt, als wäre durch die Renaissance dieses Gebietes zu Beginn der 80er Jahre eine derartige Symbiose bereits erfolgt, trügt der Schein, wie dies auch aus den Argumenten des Abschnitts 11 hervorgeht. Berücksichtigt man, daß einige Modelle der Neuroinfor14 So versteht man heute unter einem physikalischen "Teilchen" den Energie- und Impulstransport durch den freien Raum. Damit hat sich die Bedetung des Begriffes "Teilchen" von etwas Greifbarem ins Abstrakte hin gewandelt. Dies ist eine unmittelbare Folge der Atomphysik, in der z. B. Licht sowohl als Welle wie auch als Teilchen (Photon) bechrieben werden kann. Bei einem Billiardspiel sind nicht die greifbaren Kugeln von physikalischem Interesse, sondern wiederum nur der Energie- und Impulstransport sowie deren Austasch beim Stoß.

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matik in den Lehrbüchern der Physik bzw. der Elektrotechnik unter anderen Bezeichnungen abgehandelt werden, wie beipielsweise als nicht-lineare Signal- und Daten-Filter und als solche seit Jahren bekannt sind und technisch erfolgreich appliziert werden, dann wird wiederum deutlich, daß es auf diesem Weg zu einer wirklichen Symbiose von Bio-. und Computerwissenschaften kaum kommen kann. So stellt beispielsweise das Paradigma der Neuroinformatik (bzw. des Neo-Konnektionismus) für die Psychologie einen Rückfall in den Behaviorismus dar, der heute unter Psychologen als überholt angesehen wird. Das Problem wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die adaptierten Netzwerkmodelle zur Kategorie der ,trivialen Automaten' gezählt werden müssen, was aus Sicht der Lempsychologie allenfalls der "Konzeption des Nürnberger Trichters" entsprechen würde, wenn es denn eine solche überhaupt gibt. Interessanter und vielleicht auch wegweisender sind in diesem Zusammenhang Entwicklungen anzusehen, die unter der Bezeichnung ,Artificial Life d5 oder ,Multiple Agents' 16 bekannt wurden sowie alle Bemühungen seitens der modemen Robotik, autonome Systeme zu konzipieren 17. Hier wird zumindest der Versuch unternommen, Eigenschaften zu simulieren und nachzubilden, die lebende Systeme auszeichnen. Auch wenn man diese Experimente noch als sehr rudimentär und aus wissenschaftlicher Sicht teilweise vielleicht sogar als naiv ansehen muß, so sorgen zumindest alle jene Ansätze, die zu technisch-wirtschaftlichen Umsetzungen führen, wie die der Robotik, für den notwendigen Druck, um eine Umsetzung des eingangs erwähnten Paradigmenwechsels in den (Bio-)Wissenschaften zu beschleunigen, wo diese Entwicklungen bisher kaum zur Kenntnis genommen wurden. Im folgenden soll die Thematik autonomer Systeme im Zusammenhang mit der Robotik etwas näher beleuchtet werden. 1. Konzeption eines adaptiven Reglers supervised & unsupervised learning

In der Regelungstechnik besteht ein Problem darin, geeignete Regler so zu entwerfen, daß sie nicht nur sehr allgemein anwendbar, sondern vor allem stabil und robust sind. Dabei kommen heute auch neuronale Netzwerke (NN), Fuzzy-Regler (FR) und die Kombination aus beiden, die NeuroFuzzy-Systeme (NFS) zur Anwendung. Der Vorteil dieser "unkonventionellen" Methoden liegt vor allem darin, daß ohne die Kenntnis des genauen mathematischen Modells einer Rege1strecke bzw. der mathematischen Beschreibung von Mustern oder Objekten diese mit Hilfe von FR- und/oder NN-Techniken erfaßt und als ,Look-Up-Table' für Echtzeit-AnCG. Langton (ed.), Artificial LIfe, Addison-Wesley Publ., 1989. I. Müller (Hrsg.), Verteilte Künstliche Intelligenz, BI-Wissenschaftsverlag, Mannheim, 1993. 17 P.I. Antsaklis & IK.M. Passino (eds.), An Introduction to intelligent and Autonomous Control, Kluwer Academic Publ. 1993. 15

16

19*

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wendungen vorgehalten werden können. An einem Beispiel soll das Problem verdeutlicht werden. Beispiel: "UNTERWIESENES und NICHT_UNTERWIESENES LERNEN" Ein Roboter soll von Punkt A einen Gegenstand nach Punkt B transportieren (z. B. in einem Krankenhaus das Essen oder in einem Hotel das Gepäck zwischen der Rezeption und den Zimmern verteilen). Dies Beispiel gehört nicht dem Bereich der Science Fiction an, solche Systeme gibt es bereits. In der Abb. 3 ist die Situation für die folgende Diskussion nochmals etwas vereinfacht skizziert. Ein Fahrzeug soll in einem begrenzten Raumbereich selbständig auf einen Parkplatz P fahren. Dazu sei das Fahrzeug mit Sensoren ausgestattet, die auf einer Achse befestigt sind und von einem Schrittmotor um definierte Winkel gedreht werden können. Damit läßt sich die Position des Fahrzeugs bestimmen, die durch die Variablen x,y und den Winkel W' repräsentiert werden. Das Fahrzeug sei mit einer eigenen Recheneinheit zur Auswertung der Sensordaten sowie zum Ansteuern der Aktoren (Schrittrnotor-Lenkung/Winkel-Vorderrad; Motor/Geschwindigkeit vor und zurück) ausgestattet. Das Fahrzeug ist ferner über eine Funkfernsteuerung mit einem externen Rechner bzw. einem Operateur verbunden.

Y:

O··~.'l'·_--------_··_ .. ··, X

Abb. 3: Regelungskontext "Einparken in eine vorgegebene Position"

In der I. Phase (UNTERWIESENES LERNEN) wird das Fahrzeug von unterschiedlichen Startpositionen aus über die Funkfernsteuerung vom Operateur auf die Parkfläche gesteuert. Die über die Sensoren jeweils ermittelten Positionen werden zusammen mit den korrespondierenden Aktordaten registriert. Sie bilden die Datensätze für den Regler, die in einer ,Look-Up-Table' verwaltet werden: Eingangsdaten: x,y,W'; Ausgangsdaten: Einstellwinkel-Vorderrad, Geschwindigkeit (Betrag vorwärts bzw. rückwärts). In der 2. Phase (NICHT_UNTERWIESENES LERNEN) findet das Fahrzeug aus allen möglichen Positionen selbständig den Platz P, d. h. auch aus Positionen, die vorher nicht eintrainiert wurden. Die ,Look-Up-Table' wird sozusagen ergänzt. Darüber hinaus soll das Fahrzeug die Anfahrwege, die Trajektorien, zum Ort P aus eigener Leistung nach vorgegebenen Kriterien optimieren.

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293

Letzteres wird in einer 3.Phase der Adaption von Bedeutung, wenn ein vorher nicht vorhandenes Hindernis auf der Fahrt zur Parkposition P eingebracht wird, und dieses Hindernis wiederholt angetroffen und umfahren werden muß. In diesem Fall ist es zweckmäßig, das Hindernis als Objekt in die ,Look-Up-Table' mit aufzunehmen, um den Fahrtweg zu optimieren. Hier muß das System in der Lage sein, selbständig eine Entscheidung zu treffen, ob die Look-Up-Table ergänzt werden soll oder nicht.

In diesem Beispiel wird im I.Schritt das System in einer Anlernphase, die als ,Lernen 0' bezeichnet werden soll, sozusagen vorprogrammiert. Konzeptionell gesehen entspricht diese Form des Lernens dem sogenannten ,Supervised Learning', wie es im Sprachgebrauch des Konnektionismus benannt wird. Aus dem Beispiel wird deutlich, daß in Schritt 2 und 3, also nach der Adaptionsphase, mit einer ,Look-Up-Table' gearbeitet wird, die im l.Schritt erstellt wurde. Die Veränderungen der Daten dieser ,Look-Up-Table' durch Ergänzung und/oder Optimierung sowie die Implementierung der Koordinaten möglicher Hindernisse in die ,Look-Up-Table' durch das System selbst wird im folgenden als ,Lernen I' bezeichnet. Konzeptionell entspricht dies dem ,Unsupervised Learning' der Neuroinformatik. Ohne an dieser Stelle darauf einzugehen, wie die Phasen I bis 3 jeweils konkret realisiert werden können - dies ist keine triviale aber dennoch lösbare Aufgabe ist im vorliegenden Zusammenhang der in allen drei Phasen zeitlich invariante, d. h. sich nicht verändernde Kontext des Prozesses entscheidend, nämlich "Einparken in eine vorgegebene Position". Prozesse dieser Art besitzen sozusagen fließbandähnlichen Charakter, d. h. sich ständig wiederholende gleiche Situationen. Dies gilt auch für das neu aufgetauchte Hindernis aus Phase 3, das als eine Störung oder "starkes Rauschen" angesehen werden kann, bei dem der globale Kontext des Prozesse "Einparken in eine vorgegebene Position" trotz Störung erhalten bleibt. Das Beispiel steht exemplarisch für sehr viele Regelungsaufgaben, bei denen die klassischen Methoden der Regelungstechnik ihre Anwendung finden. Ob dabei neuronalen Netzwerken, Fuzzy-Reglern oder Kombinationen davon der Vorzug gegeben wird, ist ausschließlich eine Frage der Zweckmäßigkeit, d. h. man wird die flexiblere, robuste und vor allem die am einfachsten zu realisierende und damit die wirtschaftlich günstigste Lösung wählen. Mit anderen Worten, Prozesse, die hier mit dem Etikett des ,Lernen 0' bzw. ,Lernen I' gekennzeichnet wurden, lassen sich sowohl mit den herkömmlichen Regelalgorithmen wie auch mit den NN-, FR- oder NFS-Techniken erfolgreich realisieren.

2. Lernen zu lernen - Lernen 1I

Betrachtet man das Beispiel aus dem vorstehenden Abschnitt m.l als eine Vorstufe für den Antrieb eines Haushaltsroboters, dann ist eine Regelung auf der Basis von Lernen 0 und Lernen I ganz offensichtlich noch nicht ausreichend. Um dies

294

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einzusehen, stellen wir uns vor, die Parkposition im obigen Beispiel sei durch ein Hindernis derart blockiert, daß das Fahrzeug das Hindernis nicht umfahren und somit die Parkposition nicht erreicht werden kann. Wenn der oben beschriebene Regler technisch vernünftig konzipiert ist, dann wird das Fahrzeug stoppen und eine Fehlermeldung anzeigen. Niemand wird erwarten, daß unter den gegebenen Voraussetzungen das Fahrzeug - aus eigener Leistung - den Versuch unternimmt, das Hindernis beiseite zu schieben oder eine neue Parkposition zu definieren, es sei denn, eine solche Option wurde vorher einprogrammiert. Selbstverständlich ist es möglich, eine derartige Option vorher einzuprogrammieren. Dies bedeutet lediglich, daß der Kontext, in dem sich der betrachtete Prozeß abspielen soll, durch diese Veränderung des Algorithmus entsprechend erweitert wurde, d. h. für das betrachtete Beispiel ,Einparken in eine vorgegebene Position und wenn nötig ein Hindernis beiseite räumen oder eine neue Position definieren'. Eine strukturell neue Lernsituation wird dadurch nicht erzeugt und deshalb ist diese Option für die weitere Diskussion uninteressant. Stattdessen fordern wir von dem System, daß es auf ein derart unerwartetes Ereignis aus eigener Leistung eine Erweiterung des Kontextes vornimmt. Das bedeutet, daß das System in der Lage sein muß, den eigenen Algorithmus zu verändern und nicht nur den Datensatz wie bei ,Lernen 1'. Genau das würde man im alltäglichen Leben unter ,Lernen' in einer entsprechenden Situation verstehen. Bei diesem Lernen ändert sich das Verhältnis zwischen dem lernenden System und seiner Umgebung, und das stellt technisch gesprochen eine Veränderung des Algorithmus dar, der das betreffende System charakterisiert. Ein System, welches dazu in der Lage ist, muß über kognitive und volitive Fähigkeiten verfügen. Es muß eine neue Situation wahrnehmen, sie reflektieren und entscheiden, d. h. einen Kontext festlegen, in dem die empfangenen Signale eine Bedeutung für das System erhalten. Mit anderen Worten, der Prozeß ,Lernen_eines_Systems_miCUmgebung', d. h. Lernen 11 umfaßt wenigstens zwei sich wechselseitig bedingende, simultan-parallel ablaufende Prozesse (vrgl. Ref. 7): (9)

(i)

a volitive (decision making) process structuring the environment by a determination of relevances and a corresponding context of significance within the semantical domain produced by (ii) ...

IW . . .

(ii) ... a classification and abstraction of the data by cognitive processes producing a

representational structure of content and meaning within the context chosen in (i) llF

Beide Prozesse sind komplementär zueinander, d. h. sie bedingen sich gegenseitig und es macht keinen Sinn sie einzeln, d. h. voneinander unabhängig, betrachten zu wollen. Da unsere Vorstellungen heute sehr stark durch eine physikalische Begrifflichkeit und Anschauung geprägt ist, werden diese Prozesse häufig als getrennt ablaufend betrachtet. Damit wird aus logischer Sicht jedoch eine vollständig andere Prozessualität beschrieben. Der durch die Beziehung (9) gegebene Prozeß läßt

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295

sich weder auf einen hierarchisch strukturierten Entscheidungsbaum abbilden, noch läßt er sich sequentiell darstellen oder beschreiben. Die formale Darstellung derartiger Prozesse verlangt vom System die logische Unterscheidung zwischen einem Objekt (z. B. dem konkreten Hindernis) und dem Abbild des Objekts: Der Tisch, der vor einem steht, ist logisch gesehen von anderem Typus wie der Begriff des Tisches, also sein Abbiild, oder um es in der Sprache der Mengenlehre auszudrücken, die Menge ist von logisch höherem Typus als ihre Elemente, gleiches gilt für das Verhältnis von Operator und Operand. Ein System, welches lernt, wie es lernt, also der Prozeß ,Lernen lernen' wird als ,Lernen 11' bezeichnet 18. Die formale Darstellung eines derartigen Prozesses, bei dem das System die gesamte Situation reflektiert und seinen eigenen Algorithmus verändern soll, erfordert demnach ein Vertauschen von Operator und Operand, d. h. was von einem Standpunkt ein Operator war, wird im Prozeß der Reflektion zum Operanden und umgekehrt. Dieser Umtauschprozeß muß simultan-parallel ablaufen. Das ist das Problem, welches der Aussage (9) zugrunde liegt und das es zu lösen gilt, wenn Prozesse wie ,Lernen 11' technisch realisiert werden sollen. Aus der Abb. 4 läßt sich anhand zweier Muster der Prozeß von ,Lernen 11' am sogenannten "Umkehrungs-Lernen" nochmals verdeutlichen: Einem neuronalen Netz wird das Muster 1 angeboten, das Netz wird auf dieses Muster trainiert. Danach wird das Muster 2 angeboten und das Netz wird auf das Muster 2 adaptiert. Danach wird wiederum Muster 1 angeboten, dann wieder Muster 2 usw. Die entscheidende Frage lautet, was lernt das System (in diesem Fall das neuronale Netzwerk) aus eigener Leistung über die Umkehrung? Bei einem lernfähigen System im Sinne von ,Lernen 11' würde sich nach einiger Zeit die jeweilige Dauer der einzelnen Trainingsphasen verkürzen. Ein herkömmliches neuronales Netzwerk lernt aus eigener Leistung nichts über die Umkehrung des Adaptionsprozesses. Obwohl jeder Kognitionsprozeß ein Prozeß ,2. Ordnung' im Sinne von ,Lernen 11' ist, und obwohl lebende Systeme sich von toten Objekten gerade durch ihre Fähigkeiten zur Kognition signifIkant unterscheiden, gibt es bisher weder eine technische Realisierung von ,Lernen 11', noch gibt es bis heute technische Realisierungen kognitiv-volitiver Prozesse. Die Modelle der Neuroinformatik gehören zur Kategorie der Lernprozesse 1. bzw. O. Ordnung und stellen konzeptionell gesehen, wie schon in Abschnitt 11 erwähnt, digitale Datenftlter, d. h. NON_KOGNITIVE Netzwerke dar. Die Frage stellt sich, "ob es überhaupt notwendig ist, derartige Prozesse formal zu beschreiben, um sie anschließend technisch zu realisieren?" Dazu sei nochmals auf das Beispiel des parkenden Fahrzeuges in der Variante mit ,verbarrikadierter Parkposition' zurückgegriffen. Die gestellte Frage läuft technisch gesehen auf die Alternative hinaus, den Kontext für die Aktionen des Sy18

Siehe Ref. FN 12

296

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sterns entweder durch vorherschauendes Programmieren adäquat zu erweitern, d. h. das vom Standpunkt des Systems unerwartete Ereignis wird vom Konstrukteur vorausschauend einprogrammiert, oder das System reagiert selbst auf das unerwartete Ereignis und modifiziert den eigenen Algorithmus (Lernen 11), um auf diese Weise seinen Handlungskontext (selbst) zu erweitern. Dabei könnte das System zu unterschiedlichen Entscheidungen gelangen, nämlich eine neue Parkposition aufsuchen oder das Hindernis beseitigen. Beide Resultate stellen eine adäquate Erweiterung des globalen Handlungskontextes "Einparken in eine vorgegebene Position" dar.

Muster

Muster 2

Abb. 4: "Umkehrungs-Lemen"

Die Notwendigkeit der technischen Realisierung von ,Lernen 11' wird sofort deutlich, wenn man zu dem Szenarium ,Haushaltsroboter' übergeht. Die Vorstellung, jede mögliche Situation vorausschauend einprogrammieren zu können, ist absurd, insbesondere wenn ein solcher Roboter in irgendeinem realen Haushalt und nicht in einer künstlichen Klötzchenwelt agieren soll. Eine flexible Signalund Datenverarbeitung verlangt hier nach Prozessen wie ,Lernen 11', das bedarf keiner weiteren Begründung. Prozesse von ,Lernen I' alleine sind für die Konzeption eines Haushaltsroboters nur bedingt von Nutzen, denn es macht keinen Sinn, jede beliebige, neue Situation in eine ,Look-Up-Table' aufzunehmen. Genau hierin, nämlich in der Frage, ob eine neue Situation in den Datensatz eines globalen Kontextes übernommen werden soll oder nicht, muß vorher vom System selbst entschieden werden. Solche Entscheidungsprozesse werden aber erst durch die Realisierung von ,Lernen 11' ermöglicht.

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297

Fassen wir kurz zusammen: - ,Lernen 0' steht für Prozesse, bei denen sich weder der Algorithmus noch der Datensatz verändert. Der Datensatz ist entweder in der Form einer ,Look-Up-Table' oder in Silikon oder in beliebig anderer Hardware (z. B. in den Genen) gespeichert. - ,Lernen I' steht für adaptive Prozesse, bei denen das System aus eigener Leistung den gespeicherten Datensatz, die ,Look-Up-Table' einer veränderten Situation anpaßt, sie ergänzt oder zielorientiert (gemäß Regelungskontext) optimiert. Die Veränderungen sind dabei von ,lokaler' Natur, der ,globale Kontext', in dem das System agiert, bleibt ebenso wie der das System charakterisierende Algorithmus unverändert. - ,Lernen 11' steht für adaptive Prozesse, bei denen nicht nur der Datensatz (die Operanden), sondern vor allem der Algorithmus (die Operatoren) vom System selbst verändert werden. Dies entspricht einer Erweiterung des Regelungskontextes, in dem das System agiert - das System lernt (aus eigener Leistung) etwas über seine Umwelt. - ,Lernen 0' und ,Lernen I' lassen sich mit den Modellen der Neuroinformatik sowie mit Methoden der Fuzzy Logik, aber auch allen anderen mathematischen Hilfsmitteln nachbilden und technisch applizieren. In die Kategorie von ,Lernen I' gehören auch die genetischen Algorithmen, die sich technisch zur Lösung von Optimierungs- und Klassifikationsaufgaben besonders bewährt haben. - Kognitive Prozesse gehören in die Kategorie von ,Lernen 11' und wurden bis heute technisch noch nicht realisiert. IV. Resümee

Der Stand wissenschaftlicher Erkenntnis stellt sich heute i. allg. so dar, daß von Autonomie, Kognition, Lernen usw. im Kontext biologischer und technischer Systeme zwar gesprochen, die Problematik der Geschlossenheit jedoch nicht zur Kenntnis genommen wird. Dabei wird in aller Regel auch übersehen, daß autonome Systeme nicht nur über kognitive sondern auch über volitive Fähigkeiten verfügen müssen 19 . Damit nimmt die Komplexität des Problems der (formalen) Beschreibung autonomer Systeme noch erheblich zu. Begriffe wie ,Offenheit' und ,Geschlossenheit' resultieren nicht aus experimentellen Messungen, sondern sind wie ,rechts' und ,links' standpunktabhängige Beschreibungskategorien, die erst im Rahmen einer formalen Darstellung ihre eigentliche Bedeutung erlangen. Alle räumlich-geometrischen Vorstellungen sind somit für die begriffliche Fassung einer Theorie autonomer Systeme völlig obsolet. Jede 19

Siehe Ref. 7

298

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experimentelle Messung reduziert das zu untersuchende Objekt zu einem System mit einem Anfangs- und einem Endzustand und damit zu einem "offenen System", an dem generell nur physikalisch-chemische Parameter gemessen werden können. Kognitive Prozesse lassen sich damit nicht erfassen, d. h. die Thematik von "Kognition und Autonomie" geht auf diesem Weg verloren. Was benötigt wird, ist ein geeigneter Kalkül zur Entwicklung eines Modells biologisch kognitiver Netzwerke, der eine simultane (formale) Darstellung offener und geschlossener Netze (Systeme) erlaubt. Dafür werden jedoch wenigstens drei unterschiedliche, miteinander jeweils vermittelte Beschreibungspositionen benötigt, aus denen heraus sich das Modell biologisch kognitiver Netze (Systeme) - als offene Netzwerke (Systeme-physikalisch-chemische Beschreibungsdomäne) - als geschlossene Netzwerke (Systeme-kognitive Beschreibungsdomäne) und - als Relation von offenen und geschlossenen Netzwerken (Systemen) widerspruchsfrei thematisieren läßt. Die wissenschaftliche Umsetzung dieser Forderung stellt primär ein wissenschaftslogisches, interdisziplinär-orientiertes Problem dar, worauf in der Vergangenheit schon mehrfach hingewiesen wurde 20 und begründet gleichzeitig das formale Fundament einer modemen allgemeinen Systemtheorie.

20

siehe Ref. FN 10, 11 und 12.

Wider das Ende der Geschichte Der andere Gotthard Günther

Von Arno Bamme, Klagenfurt

Daß Gotthard Günther Grundlegendes für eine neu zu konzipierende transklassische Logik geleistet hat, eine Logik, die der höheren Komplexität und Vielfalt ihres Gegenstandes eher gerecht wird, aber gleichwohl so exakt ist wie ihr klassischer Vorläufer, dieser Sachverhalt rückt zusehends ins Zentrum des Erkenntnisinteresses unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen, vor allem auch der Sozialwissenschaften. 1 Noch kaum diskutiert wird, daß Gotthard Günther sein Konzept einer transklassischen Logik eingebettet hat in eine ansatzweise entworfene Geschichtsphilosophie2 , ein Vorhaben, das gegenwärtig deshalb Interesse beanspruchen kann, weil wir uns weltweit offenbar in einer sozialhistorischen Umbruchsphase befinden, in der die traditionellen ökonomischen Syntheseprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft abgelöst werden von technologischen Integrationsmechanismen 3 . Bemerkbar macht sich dieser Wandel unter anderem in der Rede vom "Ende der Geschichte,,4, vom "Verschwinden der Gesellschaft"S, in der Unentschiedenheit, ob "Technologisches Zeitalter oder Postmodeme,,6 das rechte Etikett für diese Situation sei. Für Fukuyama stellt die liberale Demokratie die "endgültige menschliche Regierungsform" dar. Sie markiere "den Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit", "das Ende der Geschichte". Als Begründung dafür, daß es eine zielgerichtete Universalgeschichte der Menschheit gebe, führt er die Ökonomie an. 1 Hans-Peter Barteis, Logik und Weltbild, Opladen 1992; Kurt Klagenfurt, Technologische Zivilisation und transklassische Logik, Frankfurt am Main 1994; Ernst Kotzmann (Hrg.), Gotthard Günther - Technik, Logik, Technologie, München und Wien 1994; Fred Pusch, Entfaltung der sozialwissenschaftlichen Rationalität durch eine transklassische Logik, Dortmund 1992. 2 Arno BammtfiErnst Kotzmann/Utrike Oberheber, Basic Questions About Metaphysics of Technology: Spengler, Heidegger, Günther, in: The Journal of Speculative Philosophy, Vol. VII, No. 2, 1993, S. 143 ff. 3 Arno Bamme / Peter Fleissner, Was hält die Welt zusammen? Gesellschaftliche Synthese durch Technologie oder Ökonomie?, in: Kurswechsel (1994), Heft I, S. 63 ff. 4 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992. 5 Ste/an Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg 1992. 6 Walther C. Zimmerti, Technologisches Zeitalter oder Postmoderne, München 1988.

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Bei näherem Hinsehen stellt sich aber heraus, daß es ihm um eine durch Technologie geprägte Ökonomie geht. Es sei die Naturwissenschaft, die als Regulator oder Mechanismus bewirke, daß die Geschichte zielgerichtet und kohärent verläuft. Die Naturwissenschaft stelle die einzige wichtige soziale Aktivität dar, die sowohl kumulativ als auch zielgerichtet ist, und zwar unabhängig davon, welche Auswirkungen sie für das Glück der Menschheit hat. Für die vereinheitlichende Wirkung der modemen Naturwissenschaft in allen Gesellschaften, in denen sie Platz greift, so unterschiedlich im einzelnen sie von ihrer Tradition und Kultur her auch sein mögen, führt Fukuyama zwei Gründe an, Gründe, die nur sehr mittelbar ökonomischer Natur sind. Zum einen verschaffe die in Technologie geronnene Naturwissenschaft einem Land entscheidende militärische Vorteile, und kein Staat, der Wert auf seine Unabhängigkeit legt, könne angesichts der auch weiterhin drohenden Gefahr von Kriegen im internationalen Staatensystem darauf verzichten, seine Verteidigung auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Zum anderen werde durch die modeme Naturwissenschaft ein einheitlicher Horizont wirtschaftlicher Produktionsmöglichkeiten geschaffen. Technologie ermögliche die grenzenlose Anhäufung von Reichtum. Dieser Prozeß habe zwangsläufig eine Homogenisierung aller menschlichen Gesellschaften zur Folge, ungeachtet ihres historischen Ursprungs oder ihres kulturellen Erbes. Alle Länder, die einen wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß durchlaufen, werden einander zwangsläufig immer ähnlicher. Traditionelle soziale Organisationen wie Stämme, Religionsgemeinschaften oder Familien werden durch wirtschaftlich rationale Organisationen, die auf den Prinzipien der Funktionalität und Effizienz beruhen, ersetzt. In der Logik der modemen Naturwissenschaften scheint, so wenigstens vermutet Fukuyama, eine universale Entwicklung in Richtung auf kapitalistische Strukturen angelegt zu sein. Wir werden später sehen, daß Gotthard Günther die Homogenisierungsthese teilt, ihre Ursachen und Auswirkungen aber anders akzentuiert. Bei Fukuyama vermischen sich das Medium, in dem die stoffliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur erfolgt, die Technologie, mit der Form, in der das in der bürgerlichen Gesellschaft geschieht, der Ökonomie. Es wird nicht ganz klar, ob das letztlich entscheidende Moment die Ökonomie oder die Technologie ist. Marx hatte noch eindeutig die Waren- und Mehrwertproduktion als dynamisches, (die bürgerliche) Gesellschaft konstituierendes Antriebsmoment ausgemacht, also ökonomische Antriebskräfte. Als soziales System organisiert sich (die bürgerliche) Gesellschaft selbst, von anonymen Kräften geleitet, hinter dem Rükken der beteiligten Individuen. Es ist der Markt, der die gesellschaftlichen Integrations- und Syntheseleistungen vollzieht, der die Entwicklungsrichtung und -dynamik der bürgerlichen Gesellschaft festlegt und vollzieht, blind, ohne Bewußtsein, selbstgesteuert. Mit dem Zerfall der Welt in ein bürgerliches und in ein sozialistisches Gesellschafts- und Staatensystem artikuliert sich Anfang der dreißiger Jahre zunächst vorsichtig, angesichts des aufkommenden und aufgrund der Erfahrungen mit dem

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Nationalsozialismus und Stalinismus dann aber bald sehr massiv eine kulturkonservative Gesellschaftstheorie bzw. Geschichtsphilosophie, die eindeutig der Technologie Priorität einräumt bei der weiteren Entwicklung und Formung der (Welt-) Gesellschaft. Für Hans Freyer ist die Technik ein "System von eigener Herkunft, eigener Entwicklungstendenz und planetarischem Ausmaß", das durchaus "eigene Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den Menschen zu stiften" vermag. 7 Damit gerät Technik nicht mehr nur als Instrument, sondern als Ordnung, als Gesellschaft gestaltende Kraft ins Blickfeld. Für Friedrich Georg Jünger ist nicht mehr der Kapitalist das Subjekt der Technik, obwohl dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, wie er einräumt, eine Schlüsselrolle als Wegbereiter der Technik zukommt. Das Maschinenwesen wachse aus der bürgerlichen Eigentumsordnung hervor, werde durch sie vorangetrieben und ausgeweitet, bis eine bestimmte Schwelle erreicht sei. Dann, so formuliert Friedrich Georg Jünger in seinem 1939 abgeschlossenen Buch, erfolge ein Umschlag. Aus dem privaten Eigentum werde Scheineigentum. "Die Eigentumsordnung wird zu einer Fassade, hinter der ein System anonymer Beteiligung arbeitet. Hier beginnen die Schachtelungen, hier beginnt die Verdunkelung der Einflüsse. Es bilden sich Kontrollen aus, die sich der Kontrollierbarkeit entziehen. Die Disposition verselbständigt sich. Sie wird nicht mehr vom Eigentum her begriffen, sie begreift das Eigentum als etwas Disponibles. "g Die Technik lasse sich nicht länger auf ein ökonomisches Bezugssystem zurückführen. Vielmehr müsse die Ökonomie als eine Funktion der Technik betrachtet werden. 9 Dafür spreche auch, daß die Grundprinzipien der Mechanik schon zu einem Zeitpunkt formuliert wurden, als von einer spezifisch bürgerlichen bzw. kapitalistischen Gesellschaft noch keine Rede sein konnte. Es gehe deshalb auch nicht um eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft, sondern um eine Krise der Welt schlechthin, ein Sachverhalt, der seine Wurzeln in keiner anderen Kultur als der des Abendlandes habe. Für Martin Heidegger 10 ist die Herrschaft der modemen Technik die späte Folge einer sehr alten technischen Auslegung der Welt, der Metaphysik. Ihr Ursprung findet sich bereits in Platons Auslegung des Seins als Idee, ihre Rechtfertigung erfährt sie in Kants transzendentaler Deduktion der Verstandeskategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit und ihren Höhepunkt erreicht sie in Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht. Die Technik ist für Heidegger nicht nur der letzte Ausläufer und Vollender dieser abendländischen Metaphysik, sondern zugleich ihr innerster Wesenskern. Wenn Heidegger von Metaphysik spricht, dann thematisiert er von Anfang an ihren technischen, das heißt, ihren stellenden, rechnenden und berechenbaren Charakter. Heideggers Frage nach der Technik ist Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1925, S. 176f. Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 1953, S. 276. 9 Jünger (FN 8), S. 229ft.. 10 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962; derselbe, "Nur noch ein Gott kann uns retten", Spiegel-Gespräch vom 23. 9. 1966, in: Der Spiegel (1976), Heft 23,S. 193ff. 7

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nicht die Frage nach technischen Geräten, sie zielt auf das Wesen der Technik als einer Weise des Entbergens, der Produktion von Wahrheit. Demzufolge auch gründen für Heidegger die naturwissenschaftlichen Verfahrens weisen in der Technik, nicht umgekehrt. Die Bedingungen der Möglichkeit technischen Herstellens sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit. Auch für Arnold Gehlen "zeigt die Gesamtentwicklung der Technik eine hintergründige, bewußtlos aber konsequent verfolgte Logik, die sich allein mit den Begriffen der fortschreitenden Objektivation menschlicher Arbeit und Leistung sowie der zunehmenden Entlastung des Menschen beschreiben läßt", ein Prozeß, der historisch schließlich im Automaten gipfelt, ein Apparat, der den geistigen Aufwand des Menschen technisch entbehrlich macht. Die Faszination durch den Automatismus bildet für Gehlen den vorrationalen und überpraktischen Antrieb in der Technik, der sich viele Jahrtausende lang in der Magie, der Technik des Übersinnlichen, auswirkte, bis er seine vollkommene Erfüllung in der Maschine fand H. Hieran knüpft Helmut Schelsky an, wenn er für die neuzeitliche Technologie präzisiert: Sie sei "eben nicht Technik schlechthin, sondern eine bestimmte Art der Wissenschaft als Technik." Das, was die modeme Technik ausmacht, Analyse und Synthese, sei der menschliche Geist selbst. Kant, der eigentliche Philosoph der modernen Technik, habe die entscheidende Wahrheit der Modeme fonnuliert: daß wir erkennen, weil wir konstruieren. Und Schelsky ergänzt: "Wir produzieren die wissenschaftliche Zivilisation nicht nur als Technik, sondern notwendigerweise in viel umfassenderem Maße dauernd auch als Gesellschaft und als Seele. Damit ist jene Zwischenphase, in der eine nach außen gehende Beherrschung der Natur in Technik und planender Organisation als Zivilisation von dem Weg nach Innen in schöpferisch geistiger Selbststeigerung des Menschen und ihrer Dokumentation in den geisterfüllten sozialen Gebilden als Kultur unterschieden werden konnte, nicht mehr aufrechtzuerhalten: der Mensch ist sich selbst als soziales und seelisches Wesen eine technisch-wissenschaftliche Aufgabe der Produktion geworden. Hierin liegt das unvenneidliche Vordringen und Vordrängen der Sozialwissenschaften und Psychologie im Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften begründet wie auch ihre unvenneidbare Entwicklung zu Funktionswissenschaften und das heißt letzten Endes zu Produktionswissenschaften. ,,12 Wenn der Sündenfall nicht mit der bürgerlichen Ökonomie eingetreten, sondern historisch früher zu verorten ist, wenn es sich dabei gleichwohl nicht um ein anthropologisches, sondern um ein spezifisch abendländisches Phänomen handelt, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Ursprung. Alfred Sohn-Rethel\3 ist dieser Frage nachgegangen. Für ihn hat die Entwicklungslinie technischer Vernunft ältere Wurzeln. Sie geht zurück auf die ersten Ansätze der fonnalen Logik Amold Gehlen, Die Seele im technischeri Zeitalter, Hamburg 1957, S. 15, S. 19. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln und Opladen 1961, S. 16f. 13 Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, Weinheim 1989. II

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der Griechen des Altertums. Bemerkenswert an der Argumentation Sohn-Rethels ist, daß die Formen und Kategorien reinen Denkens, so wie es sich schließlich auf Maschinen implementieren läßt, nicht der Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer stofflichen, mit ihrer physischen Umwelt entspringen, sondern einer bestimmten Weise ihres sozialen Zusammenlebens: der gesellschaftlichen Synthese ihrer Lebenszusammenhänge durch Warenproduktion. Konstitutiv für die Formen des intersubjektiven Bewußtseins ist die Sphäre des Tausches, nicht die der Produktion. Hierin dürfte zugleich die tiefe Affinität von früher griechischer und später bürgerlicher Kultur ihre Ursache haben. Entscheidend für die Geschichtsphilosophie Gotthard Günthers wurden aber nicht, so erstaunlich das auch sein mag, die Arbeiten Sohn-Rethels, sondern die Oswald Spenglers. Oswald Spenglers Vision vom Untergang des Abendlandes 14 ist aus zweierlei Gründen von Interesse: einmal durch seine radikale Neugliederung weltgeschichtlicher Zäsuren, die später von Gotthard Günther aufgegriffen wird und im Prinzip die gegenwärtige Kritik am eurozentristischen Denken vorwegnimmt, zum anderen durch die Ahnung vom weltgeschichtlichen Bedeutungsverlust abendländischer Kultur. Oswald Spengler deutet Geschichte als Auflehnung des Menschen gegen die Natur. Im bisherigen Verlauf menschlicher Geschichte unterscheidet er zwei Entwicklungsstufen: die primitive, archaische Kultur oder auch Frühzeit. Sie sei im wesentlichen Naturgeschichte. Die Bedeutung des Menschseins in ihr erschöpfe sich weitgehend im Biologischen; sie sei kaum mehr als natürliches Dasein. Davon hebe sich die eigentliche Weltgeschichte ab. Sie bestehe aus einer beschränkten Anzahl zeitlich und räumlich voneinander abgegrenzter Hochkulturen. Sie erst mache die eigentliche Kulturgeschichte des Menschen aus. Als letzte dieser Hochkulturen, die sich weltweit durchsetzt, trete die faustische Kultur des Abendlandes auf. In ihrem Zentrum stehe die Technik, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur im Sinne der Ingenieurskunst bestimmt. Allerdings, so Spengler, befinde sie sich im Auflösungsstadium und mit ihr neige sich auch die Zeit der Hochkulturen ihrem Ende zu. Spengler begründet seine Neueinteilung der Weltgeschichte mit einer Kritik am traditionellen geschichtsphilosophischen Schema. Mit der Klassifikation in Altertum, Mittelalter und Neuzeit werde die geschichtliche Entwicklung außereuropäischer Kulturen ignoriert. Aber auch innerhalb der europäischen Geschichte zeige sich anband der Neuzeit, daß dieses Schema zur Definition immer neuer Epochen zwingt, so daß Spengler es insgesamt als mißlungenen Versuch, die Weltgeschichte als geschichtsphilosophische Einheit und Kontinuität zu deuten, betrachtet. Für Spengler gibt es kein gemeinsames metaphysisches Schicksal des Menschen. Die Menschheit an sich, wenn denn von ihr gesprochen werden solle, sei nur ein zoologischer Begriff. Vom Menschen als einer historischen Figur könne allenfalls in Ka-

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tegorien des abendländischen, des indischen, des aztekischen usw., als Träger seiner Kultur, die Rede sein. Jede dieser Hochkulturen verkörpere ein gesondertes metaphysisches Schicksal. Geschichte als übergreifendes philosophisches Deutungskonzept habe zum Gegenstand den Kampf des Geistes gegen die Natur, aus dem die Natur schließlich als Sieger hervorgehen wird. Will man über Spenglers Vision und die Konsequenz des Zurücksinkens in einen Zustand der Geschichtslosigkeit hinaus gelangen, so stellt sich die Frage, wie die von ihm beschriebenen Gegebenheiten für das Ende einer Epoche als strukturelle Bedingungen für den Anfang einer neuen Epoche genommen werden können. Im Unterschied zu Spengler unterscheidet Günther 15 drei welthistorische Entwicklungsstufen des menschlichen (Bewußt-) Seins. Das primitive oder archaische (Bewußt-) Sein der ersten Stufe zeichne sich dadurch aus, daß es vollständig in seiner Außenwelt aufgeht. Aufgehoben in einer mystischen Einheit von Selbst und Umwelt, könne es seine eigenen Wesenskategorien nur insoweit verstehen, wie sie sich ihm direkt aus der objektiven Gegenstandswelt ins Bewußtsein zurückspiegeln. Seine eigenen seelischen Bestimmungen erscheinen ihm deshalb als Götter, Geister und Gespenster. Magie und Animismus, Totem und Tabu sind die entsprechenden institutionellen Korrelate. Günther bezeichnet diese Existenzform menschlichen (Bewußt-) Seins als Geschichte erster Ordnung bzw. als einwertige (Bewußt-) Seinsform. Der Übergang zur Geschichte zweiter Ordnung bzw. zweiwertiger (Bewußt-) Seinsform vollzieht sich in den regionalen Hochkulturen durch Ablösung des Menschen von seiner Umwelt, durch die Trennung von Subjekt und Objekt. 16 Zum ersten Mal erfährt sich der Mensch gegenüber seiner Umwelt als das absolut Verschiedene, als totale Negation der in die unermeßliche Vielfalt der Objekte aufgebrochenen Umwelt. Und zugleich entfaltet er eine über alle Maßen besitzergreifende, gestaltende und instrumentelle Beziehung zu ihr. Diese Form der Beziehung durchzieht, so Günther, alle regionalen Hochkulturen. In dieser gemeinsamen Abgrenzung von der Stufe des archaischen (Bewußt-) Seins stimmen sie überein. Worin sie sich aber voneinander unterscheiden, sei die inhaltliche Ausgestaltung und Begründung dieser Ablösung. Hier gehe die faustisch-abendländische Kultur einen Sonderweg. Sie konzipiere die von allen Inhalten losgelöste aristotelischzweiwertige Logik des Entweder-Oder. Während alle anderen regionalen Hochkulturen in ihren Objektivationsbemühungen im Bereich inhaltlich gebundener Subjektivität verharren und die inhaltlichen Substrate ihrer Kultur in die Umwelt proji15 Gotthard Günther, Maschine, Seele und Weltgeschichte; derselbe, Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts; beide in: derselbe, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Band 3, Hamburg 1980, S. 211 ff., S. 260ff. 16 Ein Prozeß, der sich recht eindrucksvoll veranschaulichen läßt an der Figur des Achilleus (vgl. Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Reinbek 1988, S. 88 ff., S. 109 ff.) und des Odysseus (vgl. Bemhard Andrae, Archäologie des europäischen Menschenbildes, Frankfurt am Main 1982).

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zieren, ihr in symbolischer oder institutioneller Form, sei es in der Religion, in der Kunst oder im Alltag, Geltung verschaffen, vollziehe sich in der faustisch-abendländischen Kultur der radikalste Projektions schritt : die Übertragung des leeren Handlungsschemas aus der subjektiven Erfahrung des tätigen Menschen in die physische Wirklichkeit. Das Ergebnis dieser Projektion sei die Maschine. Mit der auf der formalen, inhaltsleeren Entweder-Oder-Logik basierenden Maschine vollziehe sich die radikalste Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Für Günther ist die Maschine die letzte und endgültige Manifestation des inneren Antriebs aller Hochkulturen, die archaische Kultur dadurch zu überwinden, daß sie von der Idee der ontologischen Einwertigkeit zum Zweiwertigkeitsprinzip übergehen. In ihr erkenne jede Hochkultur ihre je eigene Antriebskraft wieder, durch die sie sich von der Frühzeit abgelöst hat. Darin haben sie etwas Verwandtes und sie Verbindendes, das die Abgründe zwischen den einzelnen Kulturkreisen überbrückt. Deshalb und weil die Maschine seelenlos und indifferent gegenüber dem historischen Apriori einer jeden Hochkultur ist - und hierin unterscheidet sich die Argumentation Günthers von der Fukuyamas - deshalb also könne sie auf allen Kontinenten des Erdballs, sei es in Japan, im Iran oder anderswo, übernommen werden. Die praktische Durchschlagskraft der bürgerlichen Ökonomie - hierin ist Fukuyama allerdings recht zu geben - hat diesen Prozeß ungemein beschleunigt. Oswald Spengler hat die faustische Kultur als diejenige bezeichnet, in der der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen im großen und ganzen zu Ende geführt ist. Für ihn offenbart sich der religiöse Ursprung alles technischen Denkens im seligen Grübeln frühgotischer Mönche. Sie zwangen der Gottheit ihr Geheimnis ab. Sie belauschten die Gesetze des kosmischen Taktes, und sie schufen so die Idee der Maschine als einen kleinen Kosmos, der nur noch dem Willen der Menschen gehorcht. Hier sei die Gestalt Fausts entstanden, und darum kann Heidegger von der Technik als einer Vollendung der Metaphysik sprechen. Aber die Natur, von der sich der Mensch hier mit Hilfe seiner Technik losgesagt hat, wendet Günther gegen Spengler ein, sei ausschließlich Dingwelt. Und die Technik, derer er sich dabei bedient, könne ihrerseits nichts anderes, als Verhaltensweisen eines leblosen Gegenstandes nachzeichnen. Durch die klassische, die mechanische Maschine befreie sich der Mensch bis zu einem gewissen Grade von der Herrschaft des toten Objekts. Soweit, aber eben nur soweit, sei die Auflehnung gegen die Natur in der Epoche der regionalen Hochkulturen geglückt. Darin sei Spengler zuzustimmen. Wie aber, so fragt Günther, verhält es sich mit der Auflehnung gegen die Natur als einer lebendigen, beseelten Macht, in der komplexe Organisationsstrukturen auffindbar sind, die über das bloß Materialhafte der Natur hinausweisen? Inhaltlich geht es um die Fähigkeit des Menschen zum Perspektivenwechsel, zur Kommunikation, um Funktionen und Aufgaben, die bislang dem mit Geist versehenen Subjekt vorbehalten schienen, ein Sachverhalt, der bereits in Hegels Dialektik thematisiert wird. Für Günther aber geht es um mehr als um philosophische Kontemplation, es geht um die Frage, welche Anteile des bislang als absolut gedachten Subjekts als geistige auf einer Maschine implementierbar sind. Die Beantwortung 20 Selbstorganisation. Bd. 6

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dieser Frage steht als technologisches Problem auf der Tagesordnung: in Gestalt der transklassischen Maschine, in ersten Ansätzen der Computer. Die Konstruktion der transklassischen Maschine schließt Aspekte ein, die bislang unwidersprochen dem Bereich des Subjektiven zugeordnet wurden. Es geht nicht um jenen Bereich des Denkens, der Ausdruck des je individuellen Ichs der menschlichen Subjektivität ist, dessen Privatheit als höchste und radikalste Gestalt des Besonderen gilt, sondern um das Allgemeine, das Objektivierbare im Denken. Die Behandlung dieser Frage als technologisches und nicht als philosophisches Problem leite zur Geschichte dritter Ordnung bzw. zu mehrwertigen (Bewußt-) Seinsformen über. Komplementär zur Geschichte des reflexionslosen Weltverständnisses müsse eine Geschichte des Verständnisses selbstreflexiver Prozesse betrachtet werden. Was bisher als Idee der Subjektivität konzipiert worden ist, so Gotthard Günther, sei ein trübes Gemisch aus subjektiven und objektiven Komponenten. Mit der Betrachtung selbstreflexiver Prozesse, die innerhalb der als Natur verstandenen Umwelt des Menschen auftreten, sei ein Thema gegeben, das eine Redefinition der Begriffe "Subjekt" und "Objekt" erforderlich macht. Zu seiner Bearbeitung sei eine mehrwertige Logik vonnöten, die zugleich die Konstruktion einer transklassischen Maschine ermögliche. Sie sei das Charakteristikum der Geschichte dritter Ordnung bzw. der dreiwertigen (Bewußt-) Seinsstufe, die gekennzeichnet ist durch eine mehrwertige (Bewußt-) Seinsform. Individuelle und kulturelle Vielfalt nehmen zu, allerdings auf der Basis einer Technologie, die die gesellschaftlichen Subsysteme weltweit miteinander zu vernetzen beginnt. Die stoffliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur ist eine absolute Notwendigkeit des Menschseins selbst. Aber die gesellschaftliche Form, in der das geschieht, unterliegt historischen Veränderungen. Auch die Marktökonomie der bürgerlichen Gesellschaft ist kein Naturkonstrukt. Sie ist ein Sozialkonstrukt im wahrsten Sinn des Wortes. Als solches unterliegt auch sie historischen Veränderungen. Die Geltungsdauer der gesellschaftlichen Synthese, die uneingeschränkt auf Warentausch basiert, begrenzt Sohn-Rethel auf einen Zeitraum, der etwa 1880 endet. Seit 1880 beginne sich die Konstellation der gesellschaftlichen Synthese zunehmend und grundlegend zu wandeln: Mit der Entwicklung der modernen Großchemie und der Elektrotechnik, im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, wird die industrielle Produktion zur angewandten Wissenschaft. Der moderne Produktionsprozeß ist nichts anderes als die Nachbildung eines wissenschaftlichen Experiments auf erweiterter sozialer Stufenleiter. In der Technologie wird Naturerkenntnis unmittelbar sozial wirksam. Die Entwicklungslinien dieser Technologie werden zunehmend immer weniger durch den Markt, sondern politisch gesteuert, wohlgemerkt: politisch, nicht demokratisch. Tatsächlich sind technologische Zukunftsprojekte, die in ihrer Größenordnung und zeitlichen Folgewirkung die Menschen dieser Erde als Gattung insgesamt tangieren, nicht (mehr) durch den Markt (allein) initiiert und gesellschaftlich implementiert, sondern politisch auf den Weg gebracht worden, sei es nun die militärisch-industrielle Nutzung der Kernenergie oder des Weltraums. Die Eroberung des Weltraums nahm ihren Ausgang im Peene-

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münder Raketenprogramm Wernher von Brauns, die Kernspaltung im US-amerikanischen Manhatten-Projekt 17 , und selbst bei der Implementierung des mitteleuropäischen Autobahnnetzes, den "Straßen des Führers", war von Marktüberlegungen keine Spur. Die ökonomischen Risiken bei der gesellschaftlichen Implementierung dieser Technologien, ihre Größenordnung und die Risiken ihrer Folgewirkungen übersteigen bei weitem die Investitionskraft, die Verantwortungsfähigkeit und den Zeithorizont einzelner Unternehmen, zum Teil sogar kleiner Staaten. Wenn aber zentrale technologische Implementierungs- und Zukunftsentscheidungen, die zugleich immer auch gesellschaftliche Zukunftsentscheidungen sind, nicht mehr "selbstgesteuert" durch den Marktmechanismus getroffen werden, sondern "subjektiver" (politischer) Willkür unterliegen, dann muß der bisherige Entscheidungsmechanismus und das auf ihm ruhende (partei-) politische System der (parlamentarischen) Demokratie zwangsläufig an Legitimationskraft verlieren. 18 Marx hatte darauf hingewiesen, daß die bürgerliche Demokratie ihre ökonomische Basis in der Zirkulationssphäre, im Marktmechanismus habe. Die Sphäre der Zirkulation oder des Warentausches sei das wirkliche Eden der angeborenen Menschenrechte. "Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum, und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware (... ) sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigentumes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den anderen lebt, vollbringen alle, infolge einer prästabilisierten Harmonie der Dinge, oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.,,19 Nun, so wie zur Zeit des Hochkapitalismus funktioniert gesellschaftliche Synthese heute nicht mehr. Gesellschaftliche Zukünfte werden politisch, im vorparlamentarischen Raum, unabhängig von Marktgesetzen getroffen. Ein Amalgam, ein trübes Gemisch aus Industrie-, Militär- und Parteiinteressen ist dafür verantwortlich, ohne jedoch Verantwortung für die Folgen zu übernehmen. Es ist die Forrnkraft des politischen (nicht des demokratischen) Prinzips, das die Entwicklungslinien der Technologie und damit die Zukunft der Gesellschaft festlegt. Es bilden sich Kontrollen aus, wie Friedrich Georg Jünger formuliert, die sich der Kontrollierbarkeit entziehen.

Vgl. Heinz HüZsmann, Die technologische Formation, Berlin 1985, S. 18 ff. Die demokratischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie werden unglaubwürdig und leiden zunehmend unter Legitimismusverlust. Exemplarisch dazu: Kämpfen und Kungeln, in: Der Spiegel (1993), Heft 43, S. 50 ff. 19 KarZ Marx, Das Kapital, Erster Band, Berlin 1968, S. 189f. 17

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Zwar bietet der Markt als geradezu ideale Verkörperung des Prinzips der Selbstorganisation20 unüberbietbare Vorteile: Seiner anonymen Entscheidungsgewalt unterliegen alle, der Unternehmensführer ebenso wie der kleine Angestellte. Der Markt kennt keine Moral und kein Mitleid. Er ist unbestechlich. Die Zwänge, die er ausübt, sind objektive Zwänge, frei von persönlicher Willkür. Ihnen unterliegt der Industriemanager ebenso wie der Fließbandarbeiter. Aber der Markt, als soziale Instanz, hat eine stoffliche Entwicklung eingeleitet, eine Technologie ins Leben gerufen, die ihre gesellschaftliche Form sprengt. Die Technologie und die durch sie konstituierte Gesellschaft ist durch den Markt, durch die bürgerliche Ökonomie nicht (mehr) steuerbar. Es zu versuchen, hieße, Probleme des 21. Jahrhunderts mit dem Instrumentarium des 19. Jahrhunderts zu lösen. Versuche, die in diese Richtung zielen, simulieren Verhältnisse, die längst nicht mehr existieren. 21 Es käme also darauf an, der Politik bewußt und willentlich Priorität einzuräumen, also das, was unter der Hand, in einem trüben Gemisch unterschiedlicher Interessen, ohnehin geschieht, in demokratisch legitimierte Bahnen zu lenken. Allerdings, der Politik bewußt Priorität einzuräumen bei der Gestaltung gesellschaftlicher Zukünfte, birgt erhebliche Gefahren in sich. Zwei gesellschaftliche Modemisierungsversuche der jüngsten Vergangenheit, die sich über den blinden Zwang ökonomischer Gesetzmäßigkeiten versuchten hinwegzusetzen, das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion, belegen das in sehr eindringlicher Weise. 22 Es gibt bislang wenig soziologische Phantasie hinsichtlich po20 Wenn Stafford Beer schreibt, daß menschliche Gesellschaften biologische Systeme seien, daß soziale Institutionen nach dem biologischen Prinzip der Selbstorganisation funktionieren und daß kluge Politiker dieser Eigendynamik intuitiv folgen - als Beispiele führt er an: Firmen und Industriezweige, Schulen und Universitäten, Kliniken und Hospitäler, Berufsverbände, Ministerien und ganze Länder - dann haben wir es mit einer Apologie des Marktes zu tun in einer Zeit, in der der Markt gerade der bewußten Außensteuerung, der Einbettung in politische Rahmenbedingungen bedarf, weil er historisch als gesellschaftliches Syntheseprinzip versagt (Vorwort von Stafford Beer, in: Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1985, S. 177ff.). Nach wie vor fehlt eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Selbstorganisation wie sie etwa Ferdinand Tönnies in vergleichbarer Situation geleistet hat hinsichtlich der Übertragung der biologischen Deszendenztheorie auf soziale Sachverhalte. Für ihn handelte es sich bei dieser Übertragung nicht um "eine Förderung der sozi al wissenschaftlichen Erkenntnis", sondern um die Äußerung "eines unklaren Dilettantismus" (Ferdinand Tönnies, Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 29. Jg. (1905), S. 27ff., S. 1.283ff., 30. Jg. (1906), S. 121 ff., 31. Jg. (1907), S. 487ff., 33. Jg. (1909), S. 879ff.). Tatsächlich handelt es sich in dem einen wie in dem anderen Fall nicht um eine Übertragung biologischer Erklärungsmuster auf soziale Sachverhalte, sondern um die Rückübertragung sozialer Erklärungsmuster aus der Biologie, die zuvor in biologische Sachverhalte hineinprojiziert wurden (Amo Bamme ... sub specie machinae, München und Wien 1994, S. 49 ff.). Die Vefahrensmuster sind in bei den Fällen, der Darwinschen Abstammungslehre wie dem Prinzip der Selbstorganisation, dieselben. 21 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. 22 Für die Sowjetunion schon sehr früh Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und Berlin 1964, für das nationalsozialistische Deutschland

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litischer Institutionen, die den zukünftigen gesellschaftlichen, technologie-vennittelten Problemen gerecht werden und gleichwohl aber nicht der Gefahr subjektiver Willkür unterliegen. Wie und durch wen kann demokratisch kontrollierte und legitimierte politische Macht ausgeübt werden, die oftmals gegen die aktuellen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu handeln genötigt ist, um zukünftige Überlebensmöglichkeiten der Menschen nicht zu gefährden? In seiner Kritik der neueren regulationstheoretischen Ansätze spricht Joachim Hirsch von einem eklatanten Theoriedefizit. Insbesondere beklagt er das "Fehlen einer Formanalyse gesellschaftlicher Institutionen". Paradoxerweise handle es sich bei den regulationstheoretischen Ansätzen um eine "institutionalisierte Theorie ohne Theorie der Institutionen. ,,23 Im Prinzip geht es darum, plebiszitäre Elemente, Expertenkompetenz und Elemente der parlamentarischen Demokratie in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen, um die anstehenden langfristigen Probleme und Perspektiven einer sich zunehmend enger vernetzenden Weltgesellschaft zu strukturieren und zu lösen. Beachtenswerte Überlegungen in diese Richtung hat in jüngster Zeit Burkhard Wehner angestellt. Auch er konstatiert: Daß vernünftige Erkenntnisse über das Wachstum der Weltbevölkerung, über ökologische Gefahren und Vorbehalte gegenüber bestimmten technologischen Entwicklungen nicht zuverlässig in reales politisches Handeln umgesetzt werden, habe zu einer wachsenden Politikverdrossenheit geführt. Daß der Staat in seiner herkömmlichen Form sich für alles und jeden zuständig fühle, sei ein Relikt aus der Frühzeit kollektiver Organisationsformen. Durch die wachsende Spannweite der öffentlichen Aufgaben seien Staatsführungen und politische Parteien zunehmend überfordert. Unmut erzeuge vor allem die öffentliche Zuspitzung der Politik auf die Spitzenakteure, die dem anonymen politischen Prozeß aufgesetzt sind. Sie präsentieren sich als "allzuständige" Problemlöser, bei denen die Verantwortung für das gesamte Spektrum der Politik gebündelt ist, und müssen sich daher eine entsprechende gebündelte, universelle Sachkompetenz anmaßen. Daß diese Kompetenzanmaßung angesichts der wachsenden Komplexität des Problemspektrums illusorisch geworden ist, ahne längst auch der politische Durchschnittsbürger. Solche "allzuständigen" Verantwortungsträger werden als überforderte Politikdarsteller durchschaut, die lediglich die ihnen zugeschobenen Lösungsformeln für politische Probleme in der Öffentlichkeit präsentieren können. Mit dieser Öffentlichkeitsarbeit sei die politische Führungsspitze weitgehend ausgelastet. Wehner schlägt deshalb zweierlei vor. Zu den Tagespolitik betreibenden Institutionen der repräsentativen Demokratie, die regelmäßig, üblicherweise alle vier Jahre, ausgewechselt werden und je eigene Interessen verfolgen, müssen zum einen neuerdings Michael PrinzlRainer Zittelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991. 23 Joachim Hirsch, Kapitalismus ohne Alternative?, Hamburg 1990, S. 26f.; einen Überblick gewährt Kurt Hübner, Theorie der Regulation, Berlin 1989.

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zusätzliche Institutionen geschaffen werden, die über die Tagesbelange hinaus die Möglichkeit haben und dann auch demokratisch legitiert sind, langfristige Ordnungspolitik zu betreiben. Wehner denkt dabei unter anderem an einen Umweltrat, an einen Bevölkerungsrat, an einen Verteilungsrat usw., vergleichbar etwa dem deutschen Zentralbankrat. 24 Ihnen können von der Tages- und Parteipolitik keine Weisungen erteilt werden, gleichwohl seien sie demokratisch legitimiert. Zum anderen seien Alternativen zum bisherigen Nationalstaatsprinzip zu entwickeln. Er denkt dabei an räumlich und zeitlich flexible, an Sachproblemen orientierte "Spartenstaaten", die quer zu den bisherigen Nationalstaaten liegen und deren "Staatsgebiete" sich wechselseitig überlappen können. Solche Spartenstaaten wären etwa der Währungsstaat, der Solidarstaat, der Sicherheitsstaat, der Identifikationsstaat (eine Traditions- und Kulturgemeinschaft) USW. 25 Mir scheint, hier werden recht konkrete Utopien menschlichen Zusammenlebens in einer zukünftigen Weltgesellschaft entwickelt, die in Gotthard Günthers Geschichtsphilosophie zwar enthalten sind, dort aber noch sehr abstrakt bleiben. Günther skizziert ansatzweise eine Kommunikationsgesellschaft, eine Weltgesellschaft der Zukunft, die ihre Synthese nicht mehr (ausschließlich) über den Markt, also hinter dem Rücken ihrer Mitglieder vollzieht. Die stoffliche Basis dieser Gesellschaft, ihre infrastrukturelle Voraussetzung, ist eine entwickelte Informations- und Kommunikationstechnologie. Sie erst ermöglicht überhaupt demokratische Kommunikationsprozesse weltweit. Bereits Marx hatte die Vision einer solchen historischen Zukunftsperspektive entworfen. Er betonte dabei die Rolle der stofflichen Basis. Sie, die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, vermittelt über Technologie, werde gegen die gesellschaftliche Form, in der sie zunächst noch eingebunden ist, rebellieren. Die Tendenz des Kapitals, sagt er, bestehe darin, der Produktion wissenschaftlichen Charakter zu verleihen und die unmittelbare Arbeit zu einem bloßen Moment dieses Prozesses herabzusetzen. Damit arbeite das Kapital zugleich an seiner eigenen Auflösung als einer die Produktion beherrschenden Form. Denn in dem Maße, wie die große Industrie sich entwickelt, werde die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden. Diese Macht ist wesentlich bestimmt durch den allgemeinen Stand der Wissenschaft und den Fortschritt der Technologie. Der Arbeiter tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. Er verhält sich als sein Wächter und Regulator. Damit ist nicht mehr die unmittelbare Arbeit, sondern das Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben der Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums. Sobald aber die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, so Marx, die Arbeitszeit sein Maß zu sein. Damit bricht die auf Burkhard Wehner, Die Katastrophen der Demokratie, Darmstadt 1992. Derselbe, Nationalstaat, Solidarstaat, Effizienzstaat. Neue Staatsgrenzen für neue Staatstypen, Darmstadt 1992. 24

25

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dem Tauschwert beruhende Produktion zusammen. Es ist dann nicht mehr die Arbeitszeit, sondern, wie Marx formuliert, die disposable time das Maß des Reichtums. Und er fügt hinzu, die Entwicklung des capital fixe zeige an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist. 26 Wie für Heidegger so gibt es auch für Gotthard Günther keinen Weg in eine zukünftige Weltgeschichte, es sei denn über die Brücke der Technik. Was er aber an Heidegger kritisiert, ist die Zukunftslosigkeit seiner Philosophie. Sie habe ihre Ursache im Fehlen einer Theorie des Wollens und der Freiheit, die dem Primat des Wollens Ausdruck verleiht. Das Willensproblem, das in die Zukunft deutet, könne auf dem Boden einer Seinslehre nicht abgehandelt werden: Sein sei gewesene Freiheit. Das Sein sei der Geburtsort des Denkens, das Nichts aber sei die Heimat des Willens. Im Nichts sei nichts, solange, bis wir uns entschließen, dort eine Welt zu bauen. Diese Welt sei noch nicht geschaffen und es gebe auch keinen Weltplan für sie. Die Geschichte, an der menschliche Subjektivität beteiligt ist, verfüge zwar über potentielle Zukunftsdimensionen, aber in den Grenzen der zweiwertigen Logik lasse sich über sie nicht annähernd präzise sprechen. Traditionelles Denken könne präzise sein nur hinsichtlich der Wahrheit des Seins; denn es sei selbst weiter nichts als die zweite, die wiederholte Gestalt des Seins. Das Nichts, die Zukunft verfüge über eine höhere logische Mächtigkeit als das Sein. An ihr müsse die zweiwertige Logik scheitern. Um den Prozeß der Bedeutungsproduktion und Willensentscheidung in das Kalkül einbeziehen zu können, bedarf es eines komplexeren Formalismus, als er in der klassischen Logik vorgegeben ist. Gotthard Günthers Konzept einer nicht-aristotelischen Logik stellt den bislang wohl reflektiertesten Versuch einer solchen Erweiterung dar. Durch ihn wird die Gültigkeit der klassischen Logik auf lokale Bereiche eingeschränkt. Diese Bereiche sind miteinander vermittelt. Dadurch läßt sich die Gültigkeit hierarchischer Strukturen in diesen Bereichen aufrechterhalten. Weil es eine Vielzahl logischer Bereiche gibt, sog. Kontexturen, läßt sich kein einheitliches Prinzip mehr formulieren, das die Gesamtheit der Phänomene strukturieren könnte. Der Günthersche Ansatz ermöglicht aber, heterarchische Strukturen zu beschreiben und zwischen verschiedenen gleichwertigen Standpunkten zu vermitteln. Parallele Prozesse können so nicht nur ausgeführt, sondern gleichzeitig analysiert und mit den Ergebnissen der Analyse in Wechselbeziehung gebracht werden. Die Günther-Logik wird, zumindestens ihrem Anspruch nach, der höheren Komplexität und Vielfalt ihres Gegenstandes eher gerecht. Sie vermittelt nicht nur in dem uns vertrauten Sinn Erkenntnisse, sie ist zugleich ein allgemeiner Code für Handlungsvollzüge. In ihr geht es nicht nur um Sachverhalte, die festgestellt werden, sondern um eine Aufforderung, durch einen Wahlakt zu entscheiden, was werden soll. Sie ist, wenn sie sich denn realisieren läßt, die logische Basis einer reflektierten Theo26 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (RohentwurD, Berlin 1953, S. 587 ff.

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rie gesellschaftlichen Handeins und zugleich eine wissenschaftliche Alternative zu New-Age-Mystizismen. Sie ist die Voraussetzung zur Konstruktion einer transklassischen Maschine. Die Bedeutung der transklassischen Maschine, in ersten Ansätzen der Computer, liegt darin, daß Eigenschaften, Denk- und Verhaltensweisen des Menschen als materielle Maschine objektive Gestalt angenommen haben. Ein Teilbereich menschlichen Denkens und Verhaltens hat begonnen, sich zu verselbständigen. Dieser Vorgang läßt sich mit Günther als Entmythologisierung geistiger bzw. psychischer Qualitäten des Menschen begreifen, so wie zuvor durch die klassisch-mechanisch verfahrenden Naturwissenschaften Erscheinungen der toten Natur entmythologisiert wurden, etwa das Phänomen von Gewittern, also Blitz und Donner. Schon die Schriftzeichen stellten ja einen, wenn auch noch primitiven Objektivierungsprozeß des Geistes dar. In ihnen gibt sich der Geist gleichsam eine äußere Gestalt. Zwei Aspekte verdienen dabei Beachtung. Zum einen erlauben die Möglichkeiten, die der Computer bietet, die enge Verzahnung von Maschinerie und bürokratisch-hierarchischer Organisation, die bislang als unvermeidlich angesehen wurde, aufzuheben. Während bislang auf unmittelbare menschliche Organisations-, Synthese- und Integrationsleistungen nicht verzichtet werden konnte, weil die klassisch-mechanischen Maschinen nicht flexibel genug waren, zeichnet sich jetzt eine Verlagerung der Organisations-, Synthese- und Integrationsleistungen auf die Maschinerie selbst ab. Zum zweiten, und das gilt es sich vor allem bewußt zu machen, wirken die neuen Maschinen und Maschinensysteme nicht nur verändernd auf die Gesellschaft, sondern sie haben ihre Voraussetzungen in eben dieser Gesellschaft. Etwas über den Charakter von Maschinen zu wissen, heißt, etwas über die Denkrnuster, Verhaltens- und Verkehrsformen der ihnen zugrunde liegenden Gesellschaft zu wissen. Die Handmühle, hatte Marx gesagt, steht für eine Gesellschaft der Feudalherren, die Dampfmühle für eine Gesellschaft der industriellen Kapitalisten. 27 Wofür steht der Computer? Hilfreich ist vielleicht eine mikrosoziologische Argumentation, wie sie Bettina Heintz auf dem Soziologentag in Frankfurt vorgetragen hat. 28 Sie geht davon aus, daß zeitspezifische gesellschaftliche Organisationsprinzipien in technischen Artefakten materialisiert sind, und konstatiert, daß seit den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Computerarchitekturen entwickelt werden, die einen qualitativen Bruch markieren gegenüber der sequentiellen Von-Neumann-Architektur mit ihrer hierarchischen Konstrollstruktur. Wenn die mit dem Prozeß der formalen Rationalisierung verbundenen Erfahrungen in den 30er Jahren einen Einfluß hatten auf die Art und Weise, wie Alan Turing seine Maschine konzipierte und John von Neumann sie architektonisch umsetzte, so fährt sie fort, dann lassen sich die neuen Karl Marx, Das Elend der Philosophie, Berlin 1971, S. 110. Bettina Heintz, Modemisierungsstrategien und Computerarchitekturen, hektographiertes Manuskript, Frankfurt am Main 1990. 27

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Computerarchitekturen, die sich durch qualitativ andere Konstruktionsprinzipien auszeichnen (Parallelität, Dezentralisierung, Koordination durch "Kommunikation"), als Hinweis auf einen Wandel im sozialen Modernisierungsprozeß deuten. Technische Entwicklung, so Bettina Heintz, sei ein selektiver und kontingenter Prozeß, der vor dem Horizont alternativer, teils realisierter, teils nicht realisierter Möglichkeiten interpretiert werden muß. Welche technischen Lösungen entwickelt werden, welche davon sich schließlich durchsetzen, das sei nicht allein durch technikimmanente Gegebenheiten bestimmt. Neben ökonomischen und politischen Regulativen spielen auch die sozialen Erfahrungen und die kulturellen Orientierungen jener Personen eine Rolle, die an der Entwicklung und Diffusion technischer Neuerungen beteiligt sind. Turing entwickelte sein Maschinenkonzept aus einer Analyse menschlichen Denkens und als Modell diente ihm dabei der in Teilbereichen zur Maschine gewordene Mensch, so wie er durch den Prozeß der formalen Rationalisierung in dieser Zeit realhistorisch erzeugt worden war. Weshalb, fragt Bettina Heintz, werden (erst) in den 70er Jahren Architekturen entwickelt, die eine radikale Abwendung vom sequentiellen Kontrollmodell bedeuten? Technische Faktoren allein, wir vernahmen es bereits, lassen sich dafür nicht verantwortlich machen. Entscheidend sei ein Wandel im Modemisierungsprozeß, der durch einen Bedeutungszuwachs verständigungsorientierter Kommunikationsformen charakterisiert ist. Sie vermutet, daß die Bedeutung, die Begriffe wie Kommunikation, Vernetzung, Dezentralisierung usw. in den letzten Jahrzehnten bekommen haben, eine grundlegende und allgemeine Verschiebung in den gesellschaftlichen Koordinationsmechanismen anzeige. Sie begründen einen neuen Erfahrungsraum, der sich unter anderem auch niedergeschlagen haben kann in der Art und Weise, wie Computerdesigner ihre Maschinen konzipieren. Formale Rationalisierung und kommunikatives Handeln seien neben dem Marktmechanismus die grundlegenden Koordinationsmechanismen der Modeme, so resümiert Bettina Heintz ihre Überlegungen. Kommunikation schaffe und reproduziere den Konsens, der früher normativ gesichert war. Formale Rationalisierung setze im Unterschied dazu nicht an den Orientierungen an, sondern am Verhalten. Beide haben aber gleichermaßen strukturbildende Funktion. Sie reduzieren Unsicherheit und Komplexität. In dem einen Fall wird Sicherheit durch Konsensbildung gewonnen, in dem anderen durch rigorose Einschränkung des Handlungsspielraumes. Wichtig ist nun für Bettina Heintz, daß die Durchsetzung der beiden Koordinationsprinzipien zeitlich nicht synchron verlief. Das Prinzip der kommunikativen Koordination gewann erst in einer zeitlich späteren Phase Bedeutung. Als Beleg dafür gilt ihr, daß die Klassiker der Soziologie wenig von Kommunikation, aber viel von formaler Rationalisierung sprachen. Erst mit der Umorientierung von einer Handlungs- zu einer Kommunikationswissenschaft, wie sie am prononciertesten von Luhmann, aber auch von Habermas vertreten wird, reagiere die Soziologie auf diesen Wandel der gesellschaftlichen Koordinationsmechanismen, und zwar in ähnlicher Weise wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die klassische Soziologie auf die zunehmende Rationalisierung der sozialen Beziehungen reagiert habe.

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Fonnale Rationalisierung und kommunikatives Handeln sind neben dem Marktmechanismus die grundlegenden Koordinationsmechanismen der Moderne. Der Markt als gesellschaftliches Syntheseprinzip verliert zwar zunehmend an Bedeutung zugunsten technologisch vermittelter Integrationsleistungen, etwa durch die Infonnations- und Kommunikationstechnologien, sowie durch verständigungsorientierte Kommunikation. Die materiale Basis fonnaler Rationalität, der klassisch-abendländischen Logik schlechthin, findet sich aber in der Warengesellschaft, so wie sie im alten Griechenland ihren historischen Ausgang nahm. Werden nun die Grundmechanismen der Warengesellschaft brüchig, so kann begründet vermutet werden, daß auch die Grundsätze fonnaler Rationalität zur Disposition stehen, etwa in der Art, wie Gotthard Günther durch Kritik der Aristotelischen Logik, durch Konstruktion mehrwertiger logischer Kalküle die Basis zu legen beabsichtigt für eine transklassische Maschine, für eine Computergeneration, die Denkweisen realisiert, die zuvor nur dem Menschen zugesprochen wurden. Im Gegensatz zu vielen Konzepten der Selbstorganisation betont der Ansatz Gotthard Günthers die Dialektik der durch Technologie erzeugten gesellschaftspolitischen Möglichkeit kommunikativ zu nutzender Freiräume einerseits und der durch sie erzeugten gesellschaftspolitischen Notwendigkeit einer globalen Gesamtsteuerung andererseits. Für ihn umfaßt die Weltgeschichte Wollen und Denken. Sie sei universal-thematisch eine Weltgeschichte des Nichts?9 Aus diesem Nichts und niemals aus dem Sein, das gewesene Freiheit, Verlust der Entscheidung ist, entspringe die Freiheit des Willens. Mit der Ankunft der Technik sei die Weltgeschichte noch längst nicht am Ende, denn die technische Tätigkeit produziert dadurch, daß sie die Dimension gewesener Freiheiten unaufhörlich erweitert, neue, noch nicht dagewesene und nicht antizipierbare Gegenstände, über die zu kommunizieren notwendig ist. "Die Weltgeschichte geht weiter," heißt es bei Günther lapidar. Ähnlich hatte bereits Schelsky argumentiert. Die wissenschaftlich-technische Selbstschöpfung des Menschen und seiner neuen Welt eröffne neue Möglichkeiten. Sie folge keinem festgelegten universalen Arbeitsplan. "Weil es sich um eine Rekonstruktion des Menschen selbst handelt, gibt es kein menschliches Denken, das diesem Prozeß als Plan und Erkenntnis seines Ablaufes vorausliefe. Alle solche Versuche, diesen Vorgang durch eine weltanschaulich-politische, philosophische oder religiöse Lehre vorauszudenken, geraten sehr bald in die peinliche Situation, sich selbst, aber nicht den Entstehungsvorgang der wissenschafttichen Zivilisation manipulieren zu müssen. Die Zukunft ist nie so offen gewesen wie heute, wo wir erkennen, daß sie von unserer eigenen Produktion abhängt. Diese Lage führt oft zu der paradoxen These, daß die Mittel die Ziele dieses Prozesses bestimmen. In der Tat ist damit eine entscheidende Struktur dieses Vorganges getroffen: seine Unvordenklichkeit als Plan. Wohl ist es möglich, für alle Einzelvorgänge innerhalb der wissenschaftlich-technischen Rekonstruktion der Welt Pläne und Zwecke aufzustellen und die Technik als Mittel zu behandeln, für das Ganze 29

Günther (FN 15), S. 294 ff.

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aber ist dieses Denkschema unanwendbar. Das Gesamt der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten, das wir dauernd selbst umschaffen, bestimmt die Weiterführung des Prozesses der wissenschaftlichen Zivilisation. Es gibt keine Form menschlichen Wissens, das die Welt und den Menschen, die so entstehen, im voraus deduzieren könnte. In unserer Erkenntnis der Zukunft bleiben wir angewiesen auf die Sachgesetzlichkeiten, die in den Mitteln stecken. Aber die Phrase, daß damit die Technik uns beherrscht, ist doch falsch; die Technik ist ja kein in sich ruhendes, dem Menschen gegenüberstehendes absolutes Sein, sondern sie ist der Mensch als Wissenschaft und als Arbeit selbst. Sie als Ganzes als Mittel zu bezeichnen, verkennt die Tatsache, daß sie ihrem Wesen nach der sich entäußernde Mensch selbst ist, der sich aus seinen Werken niemals ganz zurücknehmen kann.,,3o Bei Fukuyama kommt die Geschichte zum Stillstand, weil und soweit sich die Demokratie weltweit als Staatsform durchgesetzt hat. Gemeint ist die repräsentative Demokratie, die ihre materielle Basis in der Marktökonomie hat. Was aber, wenn durch die Technologie Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die durch die Marktökonomie nicht (mehr) zu steuern sind und die Kompetenzen des parlamentarischen Parteiensystems übersteigen? Wer entscheidet darüber, ob die Menschheit den Weltraum erobern, ob das Leben auf dieser Erde gentechnologisch verändert oder Energie durch Kernspaltung gewonnen werden soll? Offensichtlich sind unsere im 19. Jahrhundert entwickelten demokratischen Institutionen nicht (mehr) in der Lage, die Zukunftsprobleme der Menschheit zu bewältigen. Es wird erheblicher sozialer Phantasie und politischer Anstrengungen bedürfen, um zeitgemäße demokratische Institutionen zu entwickeln, die den räumlichen und zeitlichen Fernwirkungen der von uns ins Leben gerufenen technologischen Zivilisation gerecht werden. Kompetenz, Motivation und Zeithorizont traditioneller Parlamente dürften hierfür nicht mehr ausreichen. Das zum einen. Die Entwicklung der transklassischen Maschine, in ersten Ansätzen der Computer, zeigt, daß das "tote" Objekt, der Mechanismus, in der Lage ist, Funktionen und Aufgaben zu erfüllen, die bislang dem mit Geist versehenen Subjekt vorbehalten schienen. Mit dem Computer entsteht eine Maschine, die über die Möglichkeiten der klassischen Mechanik hinaus in der Lage ist, nicht bloß die "Auflehnung" gegen die Dingwelt zu vollziehen, sondern, wie Gotthard Günther in bewußter Anknüpfung an Spengler formuliert, die Emanzipation des Subjekts von einem überlieferten, falsch verstandenen Subjektivitätsbegriff einzuleiten. Bereiche, die bislang als subjektspezifisch und -konstitutiv erachtet wurden, werden aufgrund der Leistungsfähigkeit der transklassischen Maschine zu großen Teilen zu objektiven Eigenschaften der Umwelt. Das zum anderen. Der Prozeß dieser Korrektur, so ergänzt Günther, sei die zentrale Aufgabe der nächsten Epoche der Weltgeschichte. 31

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31

Schelsky (FN 12), S. 17 f. Günther (FN 15), S. 225.

Edition Number and Logos G. Günther 1975

Editorial

"Numbers and Logos. Unforgeuable Hours with Warren St. McCulloch." gibt Auskunft über die Entstehung der Kenogrammatik und ihrer arithmetischen Interpretation und darüber, welchen Anteil Warren McCulloch an ihr hatte. Er ist Zeugnis einer einmaligen Freundschaft. Die ersten Resultate zur Kenogrammatik und der dialektischen Zahlentheorie hat Gotthard Günther in seiner dem Begründer der Kybernetik gewidmeten Arbeit "Natural Numbers in trans-c1assical Systems." (Journal of Cybernetics 1971) publiziert. Mit dieser Arbeit wird ein Fundament der Second Order Cybernetics eröffnet, das weit über die heute geläufigen Ansätze, wie sie etwa in der BRD rezipiert und propagiert werden, hinausführt. "Number and Logos." wurde für die McCulloch-Festschrift (um 1975) geschrieben. Obwohl der Text mit Begeisterung aufgenommen wurde - "Rook (McCulloch) and I (Nilo Lindgren) are very excitet ... " -, liegt er hier in Erstpublikation vor. Die Einführung der dialektischen Zahlen hat sich systematisch dadurch ergeben, daß die Konstruktion der Stellenwertlogik bzw. später der polykontexturalen Logik als Erweiterung der klassischen Logik über die Mehrwertigkeit bislang sich der klassischen Natürlichen Zahlen bedient hatte, wodurch eine gewisse Abhängigkeit und Rückbindungsmöglichkeit auf die Monokontexturalität entstand. Erste Ergebnisse wurden u. a. am Interdisziplinären Forschungsinstitut in Bielefeld 1969 vorgetragen. "Number and Logos." ist neben "Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas'." ("Philosophie in Selbstdarstellungen", (Hrsg.) L. J. Pongratz, Hamburg 1975) die einzige Arbeit Günthers, die einen auch biographischen Einblick in die Entstehung polykontexturaler Begrifflichkeit gibt. Der Lebensweg Gotthard Günthers (1900-1984) ist zwar durch die Flucht vor dem Nationalsozialismus bestimmt worden, hat jedoch wie wohl bei keinem anderen (ehemals) deutschen Denker zu einem entschieden Planetarischen Denken geführt. Rudolf Kaehr

Gotthard Günther

Number and Logos Unforgettable Hours with Warren St. McCulloch

The author of these remembrances (from now on only the 'author') feels painfully that he is in an awkward position. He intends to show a side of Warren McCulloch which is not very weIl - if it all - known and which hardly becomes visible in the publications of this very great man and first rate scientist: we refer to his importance and profundity as a philosopher. He was aware - and very intense1y so - of Cybemetics as a discipline sui generis that needed a nove1 philosophic foundation to distinguish if from the conventional disciplines. This conviction of his finally led to the meeting with the author - a contact which lasted almost a decennium. The quandary the author finds hirnself in sterns from the fact that he entertained and still entertains almost identical views about the relation between cybemetics and philosophy as McCulloch and finds it therefore almost impossible to perform a clean separation of his own ideas from those of McCulloch. He is only sure that the thoughts he expressed on cybemetic topics are fully his own up to the publication of his "Cybemetic Ontology and Transjunctional Operations" which came out in 1962. Although McCulloch is already quoted in this essay it was done solely with the intent to appeal to his authority for ideas which the author had entertained for quite a while. The contact between the author and Warren McCulloch was established after Dr. lohn Ford, then at the George Washington University, had given McCulloch in 1959 a German paper of the author "Die aristotelische Logik des Seins und die nicht-aristotelische Logik der Reflexion" which had come out in Germany in 1958. He is still intensely grateful to Dr. Ford for having made this connection which was bound to change his total outlook on philosophy. However, it took some time before he really understood what had attracted Warren MaCulloch to his paper. It was not so much its potential applicability to cybemetics but a hidden relation that it revealed between number and logical context. When the author wrote it he opined that a non-Aristotelian Logic is nothing but a place value system of innumerable logical sub-systems of Aristotelian (two-valued) character. His interest was at that time wholly conceptual and he did not even dream that a hidden arithmetical issue might lead into deeper foundational layers of Cybemetics. Here McCulloch was far ahead of hirn.

Gotthard Günther: Number and Logos

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Their intellectual collaboration started in earnest when some evening - the author had made a stop-over on his yearly trip to New Hamsphire - McCulloch led the talk to the Pythagoreans and their theorem that numbers describe the ultimate core of Reality. Although the author pressed for a detailed explanation all he was told at that time was that to find out more was exactly his own business. It was the first time that the author encountered a peculiar reticence of McCulloch's regarding ontological or - more precisely - 'metaphysical' questions. It led hirn to grossly underestimate McCulloch's gifts and intuitions in this direction. He was confirmed in his faulty judgment when he noticed that McCulloch never bothered to make corrective remarks when a paper which was read at a congress or symposion where he was present obviously implied metaphysical assumptions which had to be partly or totally wrong. First he assumed that McCulloch was not aware of it; later however the author knew better. Nevertheless he must confess that during the whole duration of his acquaintance and - as the author hopes - friendship McCulloch never gave up his reluctance to criticise the course cybernetics was taking with relation to Philosophy. Only after McCulloch's death he learned that his mentor in Cybernetics had been as dissatisfied as he hirnself with the lack of fundamental ontological orientation that characterized - and still characterizes - the pursuit of cybernetic theories. But he came to understand very soon how much McCulloch saw his own endeavours within a novel metaphysical frame. The revelation came one evening when McCulloch started to talk about Martin Heidegger and produced a copy, very shabby and dilapidated from intensive use, of "Sein und Zeit". The book had originally belonged to his friend and coworker Eilhard von Domarus, so he explained; he in his turn had studied it carefully and he now wanted to give it to the author for renewed study because the latter had confessed that he did not care very much for Heidegger's philosophy. The expressfon of thanks for the unexpected present must have sounded rather reluctant because McCulloch grew very eloquent and insisted that the "Nichts" (Nought) in Heidegger's philosophy was precisely the ontological locus where the central problem of cybernetics was located, namely the mapping of the process of Life onto matter per se inanimate. BEING is both: subject and object as weIl; but western philosophy has fallen into "Seinsvergessenheit" (oblivion of ultimate Reality) since the time of the Greek. Which in McCulloch's view meant: it did not focus on the woblern of cybernetics. In c1assic philosophy mere objectivity without self-reference is mistaken for "Sein". When McCulloch commented on Heidegger with these remarks the author knew he had underestimated his philosophical gifts. His detailed knowledge of "Sein und Zeit" and especially his discussion of this "Nichts" gave the author's metaphysical thinking a new direction and made hirn look for the roots of Cybernetics in the ultimate and primordial recesses of the Universe. Since the spiritual contact point between McCulloch and the author happened to be their common interest in the transcendental relevance of logic - in other words: how much and what information logic conveys about the worId that surrounds us -

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- it was only natural that the author wanted to know from his partner what he meant by the term 'metaphysical'. For astart he was referred to the "Mysterium Iniquitatis ... " and the notions that "prescribe ways of thinking physically about affairs called mental ... " It stands to reason that this answer left the philosopher dissatisfied and it surely did not cover McCulloch's own - very ambivalent - appreciation of Heidegger. This was admitted; and then McCulloch started to express thoughts which went far beyond the metaphysical references imbedded in papers like the "Mysterium Iniquitatis" "Through the Den of the Metaphysician", "What is a Number ... " and others. He drew the author's attention to the fact that any logic or ca1culus Man may ever conceive is nothing but a more or less competent formalization of ontological concepts. This ideas was, of course, not new and may be easily extracted from his writings as ever present implication. But it showed that he had wandered much deeper into the grottoes of metaphysics than he was inc1ined to express explicitly in his papers. At this juncture the author thinks it fitting to remind the reader of the quotation of Clerk Maxwell appearing in "Through the Den of the Metaphysician" about the relation between thoughts and the molecular motions of the brain: "does not the way to it lie through the very den of the metaphysician, strewn with the bones of former explorers and abhorred by every man of science?" McCulloch comments this quotation with a "Let us peacefully answer the first half of this question 'Yes', the second half 'No', and then proceed serenely." While there can be no doubt that he never abhorred the den of metaphysics his texts show a pronounced reluctance to analyze in detail the accoutrements of Transcendence. On the other hand, this reluctance disappeared almost completely when speculating on the pertinent issues in the presence of a person who was much more at horne in the realms of the Transcendental than in the empirical ways of Cybemetics as happened to be the case with the author. From Heidegger's "Nichts" the discourse went to Kant and Hege!. The author must confess that he was somewhat surprised when he discovered that McCulloch understood that Kant's philosophy c10ses an epoch of philosophical thought and that Hegel opens a new one. He knew this, of course, hirnself, - that was after all his business - but he had interpreted it in terms of the distinction between 'Naturand Geisteswissenschaft' and the pseudo-systematic deve10pment of the latter in the Hegel-Renaissance since 1900. Of the Hegel-Renaissance and its concomitant intellectual events McCulloch was hardly aware. Even if he had been familiar with it: the metaphysical gap between matter and mind or subject and object which was emphasized by the Geisteswissenschaft could not be accepted by any cybemeticist, least of all McCulloch. Consequently, he explained the distinction between Kant and Hegel by pointing out the different view of Dialectics entertained in the Critique of Pure Reason and in Hegel's Logic. Kant deals with Dialectics in the sense of the Platonic tradition and in the Critique of Pure Reason the dialectic argument ends in the transcendental illusion as the unavoidable admixture of error that infiltrates all metaphysical assertions. Thus Kant's evaluation of Dialectics is basically

Gotthard Günther: Nurnber and Logos

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negative and the less we imbibe of this poisonous drink the better off we irre. For Hegel, on the other hand, he explained, the dialectic structure is a legitimate element of thought as weIl as of objective existence and it furnished the transcendental link that connects both. Seymour Papert has referred to this situation when he reports in his Introduction to the Embodiments of Mind that McCuIloch insisted "that to understand such complex things as numbers we must know how to embody them in nets of simple neurons. But he would add that we cannot pretend to understand these nets of simple neurons until we know - which we do not except for an existence proof - how they embody such complex things as numbers. We must, so to speak, maintain a dialectical balance between evading the problem of knowledge by dec1aring that it is 'nothing but' an affair of simple neurons, without postulating 'anything but' neurons in the brain. The point is, ifI understand hirn weIl, that the 'something but' we need is not of the brain but of our rninds: namely, a mathematical theory of complex relations powerful enough to bridge the gap between the level of neurons and the level of knowledge in a far more detailed way than can any we now possess." (p. XIX) After the author had read this introduction he asked McCuIloch whether he really intended to introduce dialectics only in a loose and logically non-coercive manner or whether he realized that Hegel employed the term as a linguistic cover for a hidden exact mechanism which the Universe as a whole employed but which we were still incapable of unravelling. McCuIloch remained silent for a few moments and then asked the author to rephrase the question, which the latter did by simply inquiring whether he thought that the term 'dialectics' merely referred to a quirk or weakness of the human rnind or whether it indicated an intrinsic property of Reality. This time McCuIloch answered that the term should designate an objective quality of the universe and he added: I think this is what separates Kant from Hegel. The author and McCuIloch agreed that the "so to speak" in the lengthy quotation above was not a proper expression because it suggested only a vague. analogy. It did not indicate that in the term "dialectical" a very precise systematic foundation problem of mathematical theory was at hand. The author cannot now remember how the talk got to a paper of Barkley Rosser "On Many-Valued Logic", which was published in the American Journal of Physics (Vol. 9,4; pp. 207-212,1941), and from there to the question whether a dialectical analysis of natural numbers rnight help to bridge the gap between the level of neurons and the level of knowledge which is conveyed by present mathematical theory. Everything was still very vague, and it took an almost nightlong discussion to c1ear the realm of discourse somewhat. It helped greatly that McCuIloch was farniliar with the distinction of number by Plato and Aristotle and how much nearer to the Pythagoreans Plato's ideas were than those of Aristotle. And then he surprised the author by saying that, what Hegel meant by number was a not very successful attempt to rebuild again the general concept of numerality which had been divided by the antagonism of Platonic and Aristotelian philosophy. He finally added that Hegel fai1ed to develop a novel theory of mathematical foundation be21 Selbstorganisation. Bd. 6

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cause he thought more about number in the Aristotelian than in the Platonic sense. This was a most astounding conc1usion and seemed questionable to the author. He believed that he knew more about Hegel and feIt unable to accept McCulloch's thesis. Since the whole history of mathematics from the Greeks to the present time owes all its success to the instinctive acceptance of the Aristotelian way of thinking about numbers McCulloch had to be wrong. The author left Shady Hill Square somewhat dissatisfied and went skiing. Six weeks later he was back, very contrite and humble. He was not a mathematician, only a logician, moreover reared in the atmosphere of the Geisteswissenschaften. But it had, in the meantime, dawned upon hirn how much better a philosopher McCulloch was when the mind tumed to the problem of the transcendental relation between mathematics and the Universe. Conceding McCulloch his Hegel interpretation the discussion doubled back to the essay of Barkley Rosser. Rosser's attempt seemed now extremely interesting; Rosser had demonstrated in his paper, that one can get numbers from four ideas in two-valued logic which have been formalized in terms of a likewise two-valued ca1culus. The first idea is 'conjunction' ( ... and ... ); the second idea is 'negation' (not ... ); the third idea is 'all'; and the final idea is 'is a member of'. Rosser then suggests a projection of these ideas onto the structure of a many-valued calculus. For the purpose of demonstration and to retain a comparative simplicity he exemplifies his case with a three-valued logic. As values he chooses 'true' (T), 'probable' (?), and 'false' (F). McCulloch and the author agreed that this interpretation of three-valuedness has proved its usefulness in cybemetics and elsewhere but that it could not lead to a trans-c1assic theory of natural numbers because it has been established since at least 1950 (Oskar Becker) that the introduction of probability or modal values destroys the formal character of a logical system. For if strict formality is insisted on any such spurious manyvalued system reduces itself automatically to a two-valued ca1culus. In order to convince McCulloch that Rosser's approach to the problem needed a weighty correction the author pointed to something which he considered Rosser's second rnistake. The latter deterrnines conjunction in c1assic logic by the following matrix:

T

F

T

T

F

F

F

F

and the stipulation that T is not permitted to re-occur in any of the empty places which originate if we extend the places for the functional result from 4 to 9. Thus he defines, in strict analogy, three-valued conjunction by the matrix:

Gotthard Günther: Number and Logos

T

T

.,

?

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F

T

F We repeat: in order to retain the meaning of conjunction T is not to go in any of the empty places which are left open in the above matrix. However, (?) and (F) may go indiscriminately in any of the other squares. Since 8 squares are left to be filled and since two choices are available in the case of each square there are 28 , i. e. 256 possible choices for filling the squares. In Rosser's opinion all of them represent the general meaning of conjunction in a three-valued logic. This claim was easily refutable if one recognized - as McCulloch did - the interpretation of trans-classic logic as given by the author in his "Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations". In order to demonstrate Rosser's too generous interpretation of conjunction the author filled out the matrix in the following way:

1

2

3

1

3

3

2

3

2

3

3

3

3

2

In order to avoid the ontological consequences which are implied in Rosser's use of the symbols T for truth, ? for probability or modality, F for false we have denoted the values in the same order with the first three integers. This choice of values is quite in accordance with Rosser's stipulation for the meaning of conjunction. However, there it not the remotest chance to interpret this arrangement as a matrix of a conjunctive functor. To render a minimum sense of conjunction a three-valued logic would have to retain the structural feature of conjunctivity in at least one of the two-valued alternatives 1 or 2,2 or 3, or 1 or 3. This is not be case, because or the two-valued system encompassing the first and the second value we obtain the morphogrammatic structure which can only be filled by trans-junctional value-occupancy. For the two-valued system constituted by 2 and 3 we obtain a 21*

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morphogrammatic structure for value-occupancy which is demanded in the case of equivalence, and for the final two-valued system the morphogramrnatic structure of transjunction re-occurs. But let us, for argument's sake, assurne that Rosser is right and we have to deal with 256 possible kinds of conjunction in a three-valued system. What shall we do with this embarrassing wealth? Rosser hirnself gives the answer: "Apparently the only thing that can be done about the matter is to pick out the 'and' that one likes best, and try to ignore the rest." (Emphasis by G. G.). McCulloch pointed out that the arbitrariness which Rosser suggested could not be tolerated in the deve10pment of a more basic theory of natural numbers. But he added meditatively: It hints at something in the relation between matter and form. The author is not quite elear whether this was McCulloch's exact wording; at any rate, he asked his mentor what he meant and McCulloch spun a long tale which seemed to the hearer to go far beyond what he had learned from the essay "Wh at is a Number that Man may know it ... 1". Finally a spark of tentative understanding jumped from the speaker to the listener. McCulloch was talking about Hermeneutics and about the possibility that, if numbers were subject to hermeneutic procedures in the sense of Dilthey's 'Verstehen' in the Geisteswissenschaften, this would definitely elose for the scientist the gap between Nature and Geist. The idea of a basic 'arithmetization' of the Geisteswissenschaften seemed to the author at that time not only bizarre but outrageous and he voiced his violent objections. McCulloch did not answer any of them; he only asked curtly: and what do you make of Rosser's "sidewise motion"? (The reader who is not familiar with this paper should be informed that Rosser said in his somewhat loose manner that the mapping of natural numbers on a many-valued logic produces something like a "sidewese motion" of these numbers.) It is the purpose of this essay to present the author's theories but to show the philosophic profundity of McCulloch and the author's spiritual indebtedness to hirn. So we shall return to the remarks McCulloch made about subterranean relations between arithmetic and the hermeneutics of the humanities. From Dilthey McCulloch went back to Hegel as idealist and materialist were equally untenable because Idealism and Materialism both implied that they were sets of statements about what there is instead of what the uni verse means to the brain. In any case Hegel's philosophy recognizes an existence as a context of stateable facts. In this respect Hegel was still dependent on Immanuel Kant who "spawned two fertile succubi" as we read in "The Past of a Delusion". One was "the Dynamic Ego as Unconscious Mind. Upon (it) Freud begat his bastard, Psychoanalysis. The other, causality, the Category of Reason, flitted transcendentally through Hegel's Dialectical Idealism. Upon Causality herself Karl Marx begat his bastard, Dialectical Materialism." The author being astout defender of the Theory of Dialectics then asked McCulloch whose opinion of dialectics in the "Embodiments of Mind" seemed to be extremely low whether dialectics would playa role in a not ontological, but hermeneutical alternative of idealism and materialism. McCulloch conceded that

Gotthard Günther: Number and Logos

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there might be something to it provided a satisfactory interpretation could be found for the "indeterminate duality" (a6QLm:o~ Ö1Ja~) of Greek philosophy. According to Aristotle's metaphysics Plato called the forms numbers and stated that each number has two constituents: the One or unit which Aristotle defines as the formal constituent; and something which he calls a material constituent. This is supposed to be the mysterious a6QLm:o~ Ö1Ja~. It stands to reason, of course, that dialectics has its root in a duality. So a renewed and critical analysis of dialectics should start from here. McCulloch seemed to be very well versed in these antecedents of number theory but he voiced some doubt whether the problem of the indeterminate duality was as yet properly understood. He was ready to admit that the testimony of Aristotle seemed to be unimpeachable with regard to what Plato said but it seemed to be a different question as to what Plato really meant. The author who had studied the relevant passages in Aristotle's metaphysics could not help imparting to McCulloch his impression that Aristotle totally misunderstood Plato's reflections conceming the theory of numbers. Aristotle hirnself refers to the lectures Plato delivered in the Academy as the "unwritten doctrine" (aYQa'lpu MY!lTU) which means that Plato did not produce a written text of his academic teaching. Therefore his listeners handed on several different versions of his famous lecture on "the Good" which has intrigued students of Plato up to the present time. McCulloch was intimately familiar with Alfred North Whitehead's essay "Mathematics and the Good". Whitehead keeps quite elose to the tradition which connects the Platonic "duality" with the "indefinite" or the "unlimited" (ä:rtELQOV) of the Pythagoreans. Whitehead interprets this in the following way: "The notion of complete self-sufficiency of any item of finite knowledge is the fundamental error of dogmatism. Every such item derives its truth, and its very meaning, from its unanalyzed relevance to the background which is the unbounded Universe. Not even the simplest notion of arithmetic escapes this inescapable condition for existence." ("Essays in Science and Philosophy" 1947, p. 1Ol.) McCulloch could not agree entirely with this viewpoint. Seymour Papert correctly pointed out that the famous 1943 paper by McCulloch and Pitts demonstrated that a 10gical calculus that would permit the embodiment of any theory of mind had to satisfy "some very general principle of finitude". McCulloch was thinking of some such limitation in the indeterminateness of "indeterminate duality" when he questioned the traditional and conventional interpretations of Plato's ideas on numbers. It was elear to hirn that in this respect the difference between Plato and Aristotle is basically this that Aristotle permitted only one single concept of number, producing a gradual accumulation of uniform units (!lOVUÖLXO~ äQL'!9!l6~), but that Plato's philosophy involved a second concept of number resulting from the break between the real of ideas and our empirical existence. He became very insistent that the author should delve deeper into the philosophical aspects of number theory when the latter told hirn about Hegel's speculation on a "second" system of mathematics "welche dasjenige aus Begriffen (erkennt), was die gewöhnliche mathematische Wissenschaft aus vorausgesetzten Bestimmungen nach der Methode des

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Verstandes ableitet". (Hegel, ed. Glockner IX, p. 84.) With this idea of a "second" system of mathematics in the background McCulloch began to urge the author to develop his ideas on the connection between number and logical concept further. Very soon an agreement was reached that the starting point should be the fact that the notation of the binary system of numbers coincided in an interesting way with the method by which two-valued truth tables demonstrated in the propositional calculus the meaning of logical concepts like conjunction, disjunction, implication and so on. It was only necessary to reduce the value sequences to their underlying morphogrammatic structures of which eight could be obtained in order to see that there was a peculiar correspondence between the method by which the binary numbers from 0 to III were produced and eight 4-place morphograms which used only the idea of sameness between places or difference. We do not have to repeat all of the next steps here because they have, almost without philosophic background, been reported by the author in Vol. I. in the Journal of Cybernetics. Almost - which means that the formal philosophical concept of universal contexture at least was introduced. But neither Plato's ä6QL