Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 2 (1991). Der Mensch in Ordnung und Chaos [1 ed.] 9783428472512, 9783428072514

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 2 (1991). Der Mensch in Ordnung und Chaos [1 ed.]
 9783428472512, 9783428072514

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SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 2

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 2

1991

Der Mensch in Ordnung und Chaos

Herausgegeben von Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann

Duncker & Humblot · Berlin

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-07251-0

Inhaltsverzeichnis

Einführung

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Aufsätze Niklas Luhmann, Selbstorganisation und Information im politischen System

11

Axel Ziemke, Selbstorganisation und transklassische Logik

27

Ewald Johannes Brunner und Wolfgang Tschacher, Selbstorganisation und die Dynamik von Gruppen — Die systemische Perspektive in der Sozial- und Organisationspsychologie 53 Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek, Synergetik in der Psychiatrie: Simulation schizophrener Verläufe auf der Grundlage nicht-linearer Differenzengleichungen

69

Rainer-M. E. Jacobi, Die Chancen der Krise — Mensch und Kultur im Spannungsfeld von Ordnung und Chaos

103

Judith Bartel und Hans-Georg Bartel, Der Selbstorganisationsgedanke in Richard Wagners Werk „Der Ring des Nibelungen"

131

Günter Küppers und Rainer Paslack, Chaos — Von der Einheit zur Vielheit. Zum Verhältnis von Chaosforschung und Postmoderne Ludwig Pohlmann und Uwe Niedersen, Jenseits der linearen Zeit Helmut Gebauer, Determinismus versus Konstruktivismus

151 169 185

Peter Schuster, Katastrophen, Chaos und Fraktale. Modeströmungen in der Wissenschaft oder Beginn eines Verstehens komplexer Systeme?

203

Marie-Luise Heuser-Keßler, Georg Cantors transfinite Zahlen und Giordano Brunos Unendlichkeitsidee

221

Uwe Niedersen, Energie, Glück und Autopoiese. Ostwalds Vorstellungen über Transformationen zwischen Energieflüssen und physiologischen sowie psychischen Zusammenhängen 245

6

Inhaltsverzeichnis Editionen

Wilhelm Ostwald, Die Technik des Glücks (Uwe Niedersen, Hans-Jürgen Krug und Ludwig Pohlmann)

257

Wilhelm Ostwald, Theorie und Technik des Glücks (Uwe Niedersen, HansJürgen Krug und Ludwig Pohlmann)

261

Buchbesprechungen Briggs, John und Peat, F. David, Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaostheorie {Frank Schweitzer)

271

Gleick, James, Chaos — die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik {Ludwig Pohlmann)

273

Gerok, Wolfgang u. a. (Hrsg.), Ordnung und Chaos in der unbelebten und belebten Natur {Ludwig Pohlmann)

274

Kratky, Karl W. und Wallner, Friedrich (Hrsg.), Grundprinzipien der Selbstorganisation {Hans-Jürgen Krug und Uwe Niedersen)

275

Krohn, Wolfgang und Küppers, Günter (Hrsg.), Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution {Frank Schweitzer)

277

Eigen, Manfred und Winkler, Ruthild, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall {Uwe Niedersen)

279

Wuketits, Franz M., Konrad Lorenz. Leben und Werk eines großen Naturforschers {Uwe Niedersen)

280

Autorenverzeichnis

282

Einführung „Der Mensch in Ordnung und Chaos", unter diesem Thema entwickeln im vorliegenden Jahrbuch ,Selbstorganisation' Autoren von unterschiedlichen theoretischen Positionen aus ihre Gedanken, die interessante Aufschlüsse über den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses komplexen Geschehens vermitteln. Als ein grundsätzliches Problem der jeweils ausgeführten Konzeption erscheint in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung des Menschen in seinem zweckorientierten Handeln. Eine Notiz aus der Sicht der selektiven Selbstorganisation zum Thema, die Hans Sachsse uns zusandte, verdeutlicht die Problematik: „Der Mensch zwischen Ordnung und Chaos: Seit alters sind die Meinungen, ob unser Leben in Ordnung und Glück stattfindet oder zu Verfall und zu Untergang führt, entgegengesetzt. Es gibt den Mythos von dem goldenen Zeitalter, das zum silbernen, zum kupfernen und eisernen führt, und die umgekehrte Vorstellung von der fruchtbaren Entfaltung. Beides sind nicht zu leugnende Tatsachen, sowohl die unmenschlichen Greuel wie die Entwicklung zum Höheren. In welcher Richtung liegt die Entwicklung der Weltgeschichte? Wie kann das Nebeneinander von Glück und Unglück möglich sein? Es gibt eine naturwissenschaftliche Theorie, die einen Hinweis zur Erfahrung bringt, den man beachten sollte. Was entsteht, ist rein zufällig, das Gute wie das Schlechte. Aber das Leben übt einen Maßstab über das Bestehende aus, das Fähige setzt sich durch und das Unfähige geht zugrunde. Bei der Vielfalt dessen, was der Zufall bringt, ist das Unbrauchbare bei weitem überwiegend. Daher ist das Bild des Guten, das wir erleben, getrübt von den zahlreichen Fehlversuchen der Evolution. Die sorgfältige Auswahl verlangt einen Überschuß an Unbrauchbarem. Unser Leben ist das Spiel von Versuch und Irrtum, bei dem aber logischerweise das Richtige die besondere Chance hat. Die biologische Entwicklung hat gezeigt, was biologisch das Beste ist. A n der modernen Entwicklung ist der Mensch als Mitwisser und Mithandelnder beteiligt. Seine Aufgabe ist es, in gegenseitiger Übereinstimmung das Richtige für die exakte Auswahl herauszufinden."

Trotz der hier versuchten Wissenschaftlichkeit in der Form des Optimierungsgedankens bleibt unberührt, was es eigentlich konkret bedeutet, wenn der Mensch an der modernen Entwicklung als Mitwisser und Mithandelnder beteiligt ist und in gegenseitiger Übereinstimmung das Richtige herauszufinden hat. Wir müssen bereits an dieser Stelle konstatieren, daß es eine einzige,

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Einführung

die Bedürfnisse umfassend befriedigende Antwort nicht gibt. In diesem Jahrbuch wird eine Vielfalt der Meinungen und versuchter Lösungsansätze angeboten. Luhmann überträgt die Idee des autopoietischen Systems direkt auf sozialwissenschaftliche Inhalte; daraus resultiert, daß nicht die Subjekte selbst, sondern Operationen das soziale System konstituieren. Im Aufsatz wird dann behandelt, welche Folgen sich für eine Theorie des politischen Systems ergeben, wenn es als operativ geschlossenes autopoietisches Gebilde aufgefaßt wird. Ziemkes Kritik an der klassischen Trennung zwischen Beobachter und Umwelt ist radikal, so daß er keine Überwindung der „statistischen" Logik in den physikalischen Selbstorganisationslehren (Prigogine, Haken) erkennen kann. Gotthardt Günthers Ansatz einer transklassischen formalen Logik wird von ihm als Alternative angeboten. In dem von uns als generell angesehenen Problem bleibt, besonders deutlich bei Luhmann, die Seite „Mensch / Vernunft" ausgeblendet. In den folgenden Beiträgen von Brunner und Tschacher sowie Schiepeck und Schoppek werden Möglichkeiten der Anwendung der Synergetik auf bio-psycho-soziale Systeme aufgezeigt. Die Beschreibung der Bifurkationsszenarien wird im letzteren Aufsatz mit Hilfe eines in Analogie zum LotkaVolterra-Ansatz für Ökosysteme stehenden nicht-linearen Modells versucht. Eine empirische Verifikation des Modells wäre ein wünschenswerter weiterer Schritt. Jacobi vertritt folgend die Meinung, daß es überhaupt fragwürdig sei, den Menschen in Ordnung- und Chaossituationen mit dem Instrumentarium der mathematisierten Naturwissenschaft erkennen zu wollen. Er verweist auf eine zweite Traditionslinie, die Wissenschaft eher als Kunst aufgefaßt sah. So würde das menschliche Leiden und das Wohlergehen durch einen Rückgriff auf die Darstellungs- und Wahrnehmungsweise der Kunst erst wirklich verstanden. Die Kunst methodisch so einzusetzen, wird im Aufsatz selbst nicht realisiert. Die komplexe Dynamik in einem Kunstwerk Richard Wagners beschreiben mittels des Begriffssystems der physikalischen Selbstorganisationsauffassung Judith und Hans-Georg Bartel. Küppers und Paslack berichten über einen kulturellen Umbruch in der gegenwärtigen Kunst, deren ästhetisches Programm strukturelle Analogien zum wissenschaftlichen Chaosverständnis aufweist. Wenn Kunst an dem Fortschritt der Lehre von der Selbstorganisation, einschließlich der Chaosforschung, partizipiert, dann ist zu fragen, ob die o.g. Empfehlung, Kunst als eine Art Methode zu gebrauchen, präzisiert werden muß, weil eben auf eine Komplexitätsbearbeitung im Rahmen des neuen Weltbildes der Selbstorganisation nicht verzichtet werden kann.

Einführung

Inhalte in Anlehnung an die naturwissenschaftlichen Selbstorganisationsprobleme treten dann in den drei folgenden Beiträgen in den Vordergrund der Bearbeitung. Pohlmann und Niedersen versuchen aus dieser Ideenwelt heraus, einen neuen Zugang zur Philosophie der menschlichen (inneren) wie auch einer objektiven Zeit zu finden. Die Darlegungen verstehen sich als ein Versuch, die Grundlagenforschung zu einer möglichen Wissenschaft von der Komplexität zu bereichern. Gebauer vergleicht den autopoietisch-konstruktivistischen Standpunkt Luhmanns mit der in den Anfängen von Niedersen konzipierten „Singulären Determination". Schließlich wird von Schuster eine brillante und allgemeinverständliche Übersicht des mathematisch-naturwissenschaftlichen Chaosproblems gegeben. Das Jahrbuch schließt mit zwei Aufsätzen zur Geschichte des Selbstorganisationsgedankens und einer Edition zweier bisher unveröffentlichter Ostwald-Schriften über das „Glück". Heuser-Keßler stellt sowohl die Auffassung von Cantor als auch die von Bruno über das Unendliche in eine gemeinsame Traditionslinie, welche wahrscheinlich durch die gegenwärtige Erforschung der fraktalen Dimension wieder Aufmerksamkeit finden wird. Das aktual-Unendliche, von Cantor als ein „zweites Erzeugerprinzip" gedacht, steht in einem direkten Zusammenhang mit Strukturen innovativer Prozesse. Hieraus leitet sich dann auch die Chance ab, den Menschen in Ordnung und Chaos als Geschehen, einem Lebenslauf gleich, abzubilden und ganze Prozeßstrukturen zu vergleichen. Niedersen kann mit seiner Einführung in die Edition demonstrieren, daß Ostwald mittels der Kombinatorik, die die Energetik mit dem Biotischen und dieses dann auch mit dem Sozialen koordiniert, zukünftige Forschungsgebiete erschloß, die heute spezifiziert als Synergetik und Autopoiese einen gesicherten Bestand in der Wissenschaftslandschaft besitzen. Ostwalds Auffassung, „Glück" aus dem dynamischen Wechselspiel willensgemäßer und gegen den Willen auszuführender Aktionen heraus bestimmen zu können, ermöglicht die Überleitung dieser Zusammenhänge in das aktuelle Spektrum der Komplexitätsbearbeitung. Die Herausgeber danken Dr. Hans-Georg Bartel, Rainer Jacobi, Dr. Hans-Jürgen Krug und Dr. Frank Schweitzer für die Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit. Halle und Berlin im Juni 1991 Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann

Selbstorganisation und Information im politischen System Von Niklas Luhmann, Bielefeld

I. Von Selbstorganisation spricht man seit den 50er Jahren, und annähernd zur gleichen Zeit ist der Begriff der Information in Mode gekommen. Beide Begriffe hatten von vornherein eine interdisziplinäre Ausrichtung. Sie wurden vor allem im theoretischen Kontext der neuen „Kybernetik" und sowohl im Hinblick auf informations verarbeitende Maschinen als auch an lebenden Systemen diskutiert. Psychologie, Organisationswissenschaft und politische Wissenschaft übernahmen diese Terminologie, wenngleich nur als Enklave in einer viel breiter laufenden innerdisziplinären Diskussion. Unbestritten profitierten eine Reihe von Disziplinen von wechselseitigen Anregungen; und insofern kann man sagen, daß interdisziplinäre (oder besser: transdisziplinäre) Hoffnungen, vielleicht kann man sogar von „Regelkreisen" sprechen, an die Stelle der verblichenen „unity of science" Bewegung traten. Vor allem gilt dies für die damals führenden Entwicklungen in den USA. 1 Selbst die Theorie des allgemeinen Handlungssystems von Talcott Parsons, die auf ganz anderen Grundlagen angetreten war, geriet in den Bann dieser Bewegung und holte sich dort neue Anregungen, zumindest terminologischer Art (Informationsbegriff, Input / Output, Codierung, kybernetische Hierarchie der Steuerung und Konditionierung). Rückblickend, und es gibt inzwischen historische Forschung in diesem Bereich 2 , ist schwer auf den Punkt zu bringen, worin eigentlich die Innovation bestand. Sicher war eines der Probleme, wie man gegen die Gesetze der Thermodynamik den Aufbau von Ordnung („Negentropie") erklären könne. Schon dabei saß gleichsam der Beobachter im System, aber die Frage blieb 1

Ein bemerkenswerter Beitrag aus der Sowjetunion ist: /. V. Blauberg/ V. N. Sadovsky / E. G. Yudin, Systems Theory: Philosophical and Methodological Problems, Moskau 1977. 2 Siehe vor allem die vom Centre de Recherche Epistemologie et Autonomie (CREA) veröffentlichten Hefte 7-9 zu den Themen Histoires de Cybernétique, Généalogies de PAutoorganisation und Cognition et Complexité, Paris 1985-1986. Auch die Zeitschrift Revue internationale de systémique (seit 1987) veröffentlicht regelmäßig Reminiszenzen.

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Niklas Luhmann

ungeklärt: wer beschreibt eigentlich die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls oder des Aufbaus von Ordnung und wer organisiert eigentlich die dafür notwendigen ZufälleV Aber diese Frage wurde zunächst nicht weiter verfolgt. Statt dessen stellte man die Systemtheorie auf eine Theorie offener Systeme (bzw. eine Theorie von Systemen im Ungleichgewicht) um. Die Biologie brachte die Abhängigkeit des Lebens von Austauschprozessen mit der Umwelt ein, und auch logisch strengere Analysen innerhalb der Kybernetik konnten zeigen, daß eine Selbstorganisation von Systemen nicht ohne Anstöße aus der Umwelt möglich ist, daß andere Systeme nicht über die Komplexität verfügen, die für eine Kontrolle ihrer Umwelt erforderlich wäre. 4 Daraus entstanden Schlagworte wie Reduktion von Komplexität oder order from noise5 mit Kontakten zu der evolutionstheoretischen Einsicht, daß Evolution auf eine Zufallskomponente (das heißt: auf eine mit dem System nicht koordinierte Umwelt) angewiesen sei. Dies alles gab der Maschinentheorie aufregende Perspektiven 6, denn hier konnte man an Maschinen denken, die ihre eigene Komplexität steigern oder andere Maschinen mit höherer Komplexität konstruieren können. Für die Soziologie und die politische Wissenschaft blieb der Anregungswert gering, denn hier hatte ohnehin niemand mit Wärmetod gerechnet. Die Gesetze der Thermodynamik hatten in der Fachtradition keine Rolle gespielt, und es war geradezu trivial, zu sagen, daß soziale Systeme eigene Strukturen festlegen, also das politische System etwa selbst den Staat organisiere, politische Parteien bilde, das Wahlrecht einrichte und gegebenenfalls ändere. Selbstorganisation — so what?

II. Will man deutlicher sehen, welche Konsequenzen der Begriff der Selbstorganisation für soziale Systeme und speziell für das politische System haben 3 Siehe dazu zeitgleich, aber wenig beachtet, George Spencer Brown, Probability and Scientific Inference, London 1987. 4 Vgl. W. Ross Ashby, An Introduction to Cybernetics, London 1956; ders Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems, Cybernetica 1 (1958), S. 83-99; dersPrinciples of the Self-Organizing System, in: Heinz von Foerster / George W. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. 255-278; neu gedruckt in: Walter Buckley (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcebook, Chicago 1968, S. 108-118. 5 Hierzu Heinz von Foerster , On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: Marshall C. Yovits / Scott Cameron (Hrsg.), Self-Organizing Systems, New York 1960, S. 31-50 (Dt. in ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985, S. 115-130); ferner vor allem Henri Atlan, Entre le cristal et la fumée, Paris 1979. 6 Siehe vor allem John von Neumann, The Theory of Self-Reproducing Automata, Urbana 111. 1966.

Selbstorganisation und Information im politischen System

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kann, muß man weitere Unterscheidungen einführen. Selbstorganisation kann einmal heißen, daß Systeme in der Lage sind, eigene Strukturen zu bilden: das sie also nicht ausschließlich auf externe Programmierung angewiesen sind: daß Organismen zum Beispiel nicht nur genetisch programmiert sind, sondern auch somatisch (eingeschlossen: neurophysiologisch) lernen können. Davon zu unterscheiden sind stärkere begriffliche Anforderungen, die besagen, daß ein System sich nur selbst organisieren, das heißt: eigene Strukturen nur durch eigene Operationen bilden und ändern kann. Man spricht in diesen Fällen auch von strukturdeterminierten Systemen oder von operativ geschlossenen Systemen und meint damit, daß solche Systeme sich durch die Art ihrer Operationen von ihrer Umwelt unterscheiden, daß sie eigene Operationen nur rekursiv im Anschluß an eigene Operationen produzieren können und daß dafür Strukturen vorausgesetzt werden müssen, die nur durch eben diese Operationen auf- und abgebaut werden können. Nichts anderes besagt der Begriff des autopoietischen (sich selbst produzierenden) Systems. Selbstverständlich ist mit operativer Geschlossenheit nicht eine Isolierung gegenüber der Umwelt gemeint, also nicht jene bekannte Bedingung eines thermodynamischen Zerfalls in Richtung auf Entropie. Die Frage ist dann aber, mit welchen Begriffen, mit welchen zusätzlichen Unterscheidungen das Verhältnis von System und Umwelt dargestellt werden kann. Einerseits besteht kein Zweifel, daß ein Materialitäts- oder Energiekontinuum vorauszusetzen ist, für das die Systemgrenzen keine Rolle spielen. Oder genauer: es gibt ein Medium, in dem die Systemgrenzen Differenzen erzeugen, Formen einzeichnen können, also zum Beispiel Körpertemperatur konstant halten können trotz gewisser Schwankungen der Außentemperatur; oder Sprache zu erkennen und zu sprechen ermöglichen trotz gewisser Geräuscheinwirkungen der Umwelt. Außerdem verhilft der Begriff der strukturellen Kopplung zu einer deutlicheren Vorstellung über die möglichen Zusammenhänge zwischen System und Umwelt. Strukturelle Kopplungen binden das System an bestimmte Ausschnitte der Umwelt und erlauben ihm Indifferenz in allen anderen Hinsichten. So ist Kommunikation strukturell an Bewußtsein gekoppelt, Bewußtsein strukturell an Gehirne, diese wiederum an Zellen, die als Neuronen dienen, diese wiederum an eine Vielzahl von Bedingungen der „inneren Umwelt" (Claude Bernard) des Organismus und diese an körperexterne Bedingungen wie Luft, gemäßigte Temperaturen, Schwerkraft etc. Innerhalb des Bereichs struktureller Kopplungen vermittelt die Umwelt dem System Irritationen, die dem System, um mit Piaget zu sprechen, Assimilationen und Akkommodationen erlauben, ohne es in diesen Hinsichten zu überfordern. Langfristig gesehen ergeben sich aus solchen strukturellen Kopplungen daher auch Trends der strukturellen Entwicklung des Systems. Das zeigt für psychische Systeme zum Beispiel die Sozialisationsforschung. Außerhalb struktureller Kopplungen, auf deren Impulse das System einge-

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Niklas Luhmann

stellt ist und die es im Kontext operativer Geschlossenheit verarbeiten kann, kann die Umwelt nur destruktiv auf das System einwirken. Um es an einem aktuellen Beispiel zu verdeutlichen: Die ökologischen Probleme, die das Gesellschaftssystem nicht über Wahrnehmung (also Bewußtsein) und dadurch irritierte Kommunikation als Informationen aufnehmen und verarbeiten kann, können sich nur destruktiv auswirken. Das kann durch keine Eigenleistung des Systems definitiv ausgeschlossen werden. Aber konstruieren kann das System nur selbst. Als Zwischenbilanz halten wir fest: Systeme sind operativ geschlossene Systeme. Sie können anders gar nicht existieren. Der Systembegriff könnte anderenfalls nur einen Weltausschnitt eines Beobachters bezeichnen, was dann die Frage offen ließe, wie dieser Beobachter existiert (doch nicht nur als Weltausschnitt eines anderen Beobachters?). Auf der Ebene ihrer Operationen sind Systeme strukturell an Teile ihrer Umwelt gekoppelt, aber ihre Operationen verlaufen gleichwohl blind, sie wissen es nicht. In dieser Form ist die Theorie jedoch zweifellos ergänzungsbedürftig. Nicht zufällig hat sich daher, in ungeklärter Parallele zum Begriff der operativ geschlossenen Systeme, in der Erkenntnistheorie der sogenannte „Radikale Konstruktivismus" entwickelt, der weitgehend von einer Provokation klassischer Epistemologien und ihrer Korrespondenzannahmen lebt oder jedenfalls in diese Richtung schießt. Außerdem kam es in vielen jetzt so genannten „cognitive sciences" zu einer Erweiterung des Begriffs der Kognition, der für Neurophysiologen und Biologen wie Maturana fast gleichbedeutend wird mit: Interaktion mit der Umwelt. Es liegt daher nahe, zu sagen, Systeme seien operativ geschlossene und zugleich (oder dadurch, oder sogar: deshalb) kognitiv offene, selbstreproduzierende (autopoietische) Einheiten. Will man nun genauer wissen, wie das gemeint ist, muß man das begriffliche Instrumentarium der Systemtheorie schärfer einstellen. Dies kann mit Hilfe der Unterscheidung von Operation und Beobachtung geschehen. Formal gesehen entspricht diese Unterscheidung genau der von System und Umwelt. So wie ein System entstehen muß, damit etwas anderes Umwelt wird, so ist auch die Beobachtung immer ihrerseits eine Operation. Wie die Unterscheidung von System und Umwelt, so ist auch die Unterscheidung von Beobachtung und Operation asymmetrisch (unumkehrbar) gebildet. Dabei kann die Unterscheidung selbst auf ihrer einen (aber nicht: auf der anderen) Seite wieder vorkommen. Das System selbst kann zwischen System und Umwelt unterscheiden. Die Beobachtung kann sich selbst und anderes mit Hilfe der Unterscheidung von Beobachtung und Operation beobachten. Beides sind Fälle von „reentry" im Sinne des Formenkalküls von Spencer Brown. 7 7 Siehe George Spencer Brown, Laws of Form ( 1969), zit. nach dem Neudruck New York 1979, S. 56 f., 69 ff. Anzumerken wäre vielleicht, daß das reentry der Form in die Form (der

Selbstorganisation und Information im politischen System

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Als Operation ist und bleibt auch die Beobachtung blind. Weder sie selbst noch das System, das sie rekursiv reproduziert, noch die Welt, in die hinein sie diskriminiert, werden für sie transparent. Diese fundamentale Intransparenz verhindert jedoch das nicht, was das Beobachten vor anderen Operationen auszeichnet, nämlich das Unterscheiden und Bezeichnen. Beobachten ist Erzeugen und Organisieren von Referenzen, indem etwas (unterschieden von anderem) zum Ausgangspunkt weiterer Beobachtungen gemacht und dadurch einerseits kondensiert (identifiziert) und andererseits bestätigt, generalisiert, für weitere Beobachtungen bereitgestellt wird. Und nur in dem Maße, als dies geschieht, sollte man von Erkennen, Erkenntnis usw. sprechen. Das setzt, wie leicht zu erkennen (zu erkennen!) Systembildung im Sinne von rekursiver operationaler Geschlossenheit voraus. Die Unterscheidung von Operation und Beobachtung erläutert mithin die Unterscheidung von System und Umwelt in einem Sinne, der es erlaubt, von operativer Geschlossenheit als Bedingung der Möglichkeit kognitiver Offenheit zu sprechen. Diese komplizierte Begriffsarchitektur hat den Vorteil, einen naheliegenden Fehlschluß zu verhindern, der in der Annahme bestünde, Beobachtungen bzw. Kognitionen bezögen sich immer auf die Umwelt des Systems. Das ist offensichtlich, weil Selbstbeobachtung ausschließend, falsch. Vielmehr ist, wenn Systeme überhaupt mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt beobachten, immer diese Unterscheidung mitgegeben und mit ihr die Möglichkeit des Oszillierens zwischen Fremdreferenz und Selbstreferenz. Bezeichnungen jeder Art sind nur möglich auf Grund von Unterscheidungen, die die Welt „potentialisieren" 8 , das heißt: für derzeit inaktuellen aber möglichen Zugriff vorsehen. 9 Das derzeit viel diskutierte Problem der Referenz ist daher falsch gestellt. Die Frage ist nicht, wie Systeme operativ ihre Grenzen überschreiten und Kontakt mit ihrer Umwelt aufnehmen können, das ist unmöglich; sondern das Problem ist, wie (unter welchen strukturellen Einschränkungen) Systeme mit internen Beobachtungsoperationen die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz handhaben. Akzeptiert man diesen Begriff des operativ geschlossenen und kognitiv offenen Systems (wie immer man dann seine empirische Reichweite beurteilen mag), hat das Konsequenzen für den Begriff der Information. Informatio-

Unterscheidung in das Unterschiedene) der Punkt ist, an dem der Formenkalkül die Kalkulierbarkeit aufgibt. 8 Ein Begriff von Yves Barel, Le paradoxe et le système: Essai sur le fantastique social, 2. Aufl. Grenoble 1989, S.71;f., 185f., 302f. 9 Zu einem auf diese Unterscheidung von Aktualität und Potentialität gegründeten Begriff von Sinn vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S.92ff.

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Niklas Luhmann

nen sind Überraschungen, also Ereignisse, die keinen Bestand haben. 10 Formal bezeichnet der Begriff der Information eine Selektion aus einem vorgegebenen Bereich von Möglichkeiten, und zwar eine Selektion, die einen Systemzustand verändert. Nach einem Diktum von Gregory Bateson handelt es sich um Unterschiede, die Unterschiede machen. 11 Differenzen zwischen vorgestellten Möglichkeiten und aktuell realisierten Ereignissen sind aber immer systeminterne Differenzen. Die Umwelt enthält keinerlei Informationen darüber, welcher Auswahlbereich für ein System relevant ist, noch darüber, welche Selektion für ein System einen Unterschied macht. Die Umwelt enthält also keinerlei Information. 1 2 Sie ist, wie sie ist, und alle Information, ja alle Unterscheidung überhaupt, ist stets Eigenleistung eines Systems. Das steckt auch hinter der Aussage, daß kybernetische Systeme offen in Hinsicht auf Energie und geschlossen in Hinsicht auf Information operieren. Würden sich die Sozialwissenschaften auf dieses Konzept der operativen und informationellen Schließung einlassen, hätte das nun in der Tat weittragende theoretische Konsequenzen. Das Resultat wäre alles andere als trivial. Humberto Maturana und Francisco Varela lehnen die Anwendung auf soziale Systeme (bei allen Meinungsverschiedenheiten untereinander) mit Entschiedenheit ab. 1 3 Auch Heinz von Foerster hält den Gedanken für schockierend. 14 Der Grund dieser Ablehnung ist jedoch die Voraussetzung, daß soziale Systeme aus menschlichen Individuen bestehen, die schon 10 Darauf muß explizit hingewiesen werden, weil das der von Fritz Machlup inaugurierten „Informationsökonomie", aber auch vielen diffusen Vorstellungen von „Informationsgesellschaft" widerspricht. Wenn etwas Bestandsfestes gemeint ist, auf das man bei Bedarf zurückkommen kann, sollte besser von Wissen gesprochen werden und nicht von Information. Für Machlup selbst war dieser Unterschied noch klar. Siehe: The Production and Distribution of Knowledge in the United States, Princeton 1962. Erst die Aufnahme des Informationsbegriffs in diese bereits laufende Diskussion hat ihn verwischt. Zur Kritik vgl. Jennifer Daryl Slack / Fred Fejes (Hrsg.), The Ideology of the Information Age, Norwood Ν. J. 1987. 11 Vgl. etwa: Ökologie des Geistes: Anthropologisches, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, dt. Übers. Frankfurt 1981, S. 582, oder: Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, dt. Übers. Frankfurt 1982, S. 123, 137 ff. 12 Deshalb kann man übrigens Kommunikation auch nicht als „Übertragung von Information" zwischen unabhängig bestehenden Einheiten auffassen, denn das würde nicht nur eine einheitliche Codierung, sondern auch einen vorweg gemeinsam definierten Auswahlbereich voraussetzen, also gerade nicht etwas, was „übertragen" werden kann. Siehe dazu Benny Shanon, Metaphors for Language and Communication, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 43-59. Vgl. auch Terry Winograd / Fernando Flores , Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Reading Mass. 1987, S. 76 f. (dt. Übers.: Erkenntnis Maschinen Verstehen, Berlin 1989). 13 Siehe nur Humberto Maturana, Biologie der Sozialität, Delfin 5 (1985), S. 6-14, und im Anschluß an Maturana Peter M. Hejl, Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme, Frankfurt 1982. 14 So in einem Interview in: Généalogies de Fauto-organisation, a.a.O., S. 263.

Selbstorganisation und Information im politischen System

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ihrerseits autopoietische Systeme aus eigenem Recht sind. Gibt man diese Voraussetzung auf — und das dürfte Soziologen eigentlich nicht schwer fallen —, ändert das die Geschäftsgrundlage. Man muß dann zwar präzise angeben, aus welchen Operationen, wenn nicht aus Menschen, soziale Systeme bestehen.15 Aber dann hat man freie Hand, auszuprobieren, welcher Begriff einer Operation die Vorstellung eines operativ geschlossenen Systems ermöglicht, wenn nicht erzwingt. Wir können die Konsequenzen eines solchen Theoriespiels hier nicht in abstracto durchprüfen. Zu viel hängt auch von weiteren Theorieentscheidungen ab, die nötig sind, wenn man die Soziologie oder die Theorie des politischen Systems auf das Paradigma des operativ geschlossenen autopoietischen Systems einbalancieren will. Wir müssen uns darauf beschränken, zu überlegen, welche Konsequenzen sich für eine Theorie des politischen Systems ergeben, wenn man davon ausgeht, daß es ein solches System ist.

III. Politik ist, was immer sonst darüber gesagt werden mag, die Bildung von Formen im Medium der Macht. Das Medium Macht 1 6 entsteht durch Ausdifferenzierung der Möglichkeit, mit Sanktionen zu drohen, und zwar vorzüglich mit der Anwendung von (im Konfliktfalle jedenfalls überlegener) physischer Gewalt. M i t „Medium" ist gesagt, daß mit der Möglichkeit zu drohen ein Überschuß an weiteren, daran anschließbaren Möglichkeiten geschaffen wird, Verhaltensweisen zu erzeugen, die es anderenfalls nicht geben würde, seien dies Handlungen oder Unterlassungen. Da durch Drohung mit letztlich physischer Gewalt oder funktionalen Äquivalenten (etwa: Entlassung aus Organisationen, also Verlust des Arbeitsplatzes) sehr viel erreicht werden kann, was damit in keinem inneren (natürlichen) Zusammenhang steht, ist der Spielraum von Möglichkeiten sehr viel größer als das, was faktisch realisiert werden kann. Und dies ist keine Frage der Stärke der Macht, denn stärkere Macht würde nur zu noch mehr Möglichkeiten, also zu noch schärferer Selektivität dessen führen, was faktisch erzwungen wird. 1 7 Macht kann, mit anderen Worten, nur selektiv gebraucht werden. Im Medium werden Formen gebildet — das heißt: die lose gekoppelten Mög15

Hierzu eingehend Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O. Zu begrifflichen Voraussetzungen vgl. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975. 17 Sichtbare Machtstärke führt deshalb, wie wir schon hier notieren können, auch zur sichtbaren Diskrepanz zwischen dem, was geschehen könnte und dem, was tatsächlich geschieht. Da Machteinsatz, um wirken zu können, im System beobachtbar sein muß, ist Machtsteigerung ein zweischneidiges Mittel, da im Vergleich zu dem Mehr an Möglichkeiten die Enttäuschungen überproportional ansteigen und die Macht dann mehr und mehr eingesetzt werden muß, um das Wirksamwerden dieser Enttäuschungen zu verhindern. 16

2 Selbstorganisation, Bd. 2

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Niklas Luhmann

lichkeiten des Mediums werden zu festen Formen gekoppelt, mit denen das System sich bis auf weiteres zu dieser oder jener Politik bindet. Man kann die Einrichtung und Nutzung dieser Möglichkeit als Funktion von Politik beschreiben. Diese Funktion bestünde dann im Bereithalten und Realisieren eines Potentials für kollektiv bindendes Entscheiden, und dies mit Bindungseffekten, die auch den Entscheider (als zum Kollektiv gehörig) einschließen, solange er nicht neu und anders entscheidet. 18 Theoriegeschichtlich gesehen ist damit sowohl ein kausalistischer Machtbegriff 19 als auch ein handlungstheoretischer Politikbegriff abgelehnt (was selbstverständlich nicht heißt, daß keine Kausalitäten oder keine Handlungen zu beobachten seien). Sie werden ersetzt durch eine (oder: aufgehoben in einer) differenztheoretische(n) Analyse, die es darauf anlegt, zu beobachten und zu beschreiben, wie Operationen Differenzen erzeugen und wie Beobachtungen unterscheiden. Eben damit gewinnt der Begriff der Information einen zentralen Stellenwert, während die rein kausale Betrachtungsweise ihn überhaupt nicht und die handlungstheoretische Betrachtungsweise ihn nur als ein Mittel zum Zweck erfassen kann. Wir dagegen können sagen: das politische System erzeugt seine jeweiligen Zustände durch Verarbeitung von Informationen, das heißt: durch Benutzung von Unterschieden zur Erzeugung von Unterschieden. Alle Zwecke, Ziele, Werte sind Momente der Selbstorganisation dieses Prozesses und daher ihm selber unterworfen. Die Autopoiesis von Politik ist ein endloses, von außen nicht dirigierbares Geschehen, das sich selber reproduziert, solange Macht für die Bildung von Formen zur Verfügung steht, und die Garantie für Selbst- und Grenzerhaltung liegt genau darin, daß alles auch anders sein kann. 2 0 Im Schema von Medium und Form begriffen (und wir können auch sagen: beobachtet) ist Politik daher immer die Realisation einer Möglichkeit, die auch nicht hätte realisiert werden können. Erst vor dieser Hintergrundannahme können sich politische Präferenzen ausbilden. Erst sie erklärt, daß es so gut wie unausweichlich ist, politische Operationen als Entscheidungen zu beschreiben. Solche Beschreibungen verdichten dann freilich die Sachverhalte in einer Weise, die sich bei näherem Zusehen wieder auflöst. Von 18 Das klassische Souveränitätsparadox der Selbstbindung wird damit aufgelöst durch ein Argument, das Komplexität und Zeit ins Spiel bringt. Der Souverän kann zwar jederzeit anders entscheiden, aber nur unter Selektion von Themen, also unter Akzeptieren der Bindung an andere eigene Entscheidungen und nur nach und nach. „Revolutionen" sind nur scheinbar eine Ausnahme. 19 Dazu Niklas Luhmann, Klassische Theorie der Macht: Kritik ihrer Prämissen, Zeitschrift für Politik 16 (1969), S. 149-170. 20 Dies ist, wie leicht zu sehen, ein Theoriebruch auch im Verhältnis zu älteren strukturfunktionalen Systemtheorien, die Selbst- und Grenzerhaltung als Ziele der Operationen verstanden hatten und deshalb zu eher handlungstheoretischen Ausführungen tendierten.

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Entscheidung schließt man ganz unreflektiert auf Entscheider und findet sich damit dann schon mitten im politischen Getriebe, in dem es um Positionsmanagement und Präferenzen für oder gegen bestimmte Entscheider geht. Das Medium Macht wird durch ein anderes Medium, nämlich durch Personen, Ämter, Organisationen ersetzt, die auf vielerlei Weise entscheiden könnten, es aber nur auf bestimmte Weise tun. Und Politiker finden ihre Qualitäten neben physischer Robustheit vor allem in ihrer Fähigkeit, die Möglichkeiten der Kombinierung dieses Sekundärmediums der Personen/Ämter/Organisationen einschätzen und benutzen zu können. Auch bleibt in dieser Perspektivierung der Auswahlbereich der Formgewinnung auf einige Alternativen zur anstehenden Entscheidung beschränkt, ja oft nur auf die extrem verkürzte Alternative von Entscheidung / Nichtentscheidung an Hand eines bestimmten Vorschlags. Konstellationen dieser Art sind stets Ergebnisse anderer Entscheidungen. Das System arbeitet mit zirkulärer, „heterarchischer" Vernetzung, mehr an „lokalen" Bedingungen und an konkreten Problemen als an Hierarchien orientiert, wenngleich Hierarchien für das Abtasten von Entscheidungsmöglichkeiten und vor allem für Konfliktlösungen durchaus eine Rolle spielen. 21 Das System setzt Entscheidungen in Entscheidungen um, es transformiert Entscheidungen in Prämissen für andere Entscheidungen, und da die Zeit vergeht, ist es ausgeschlossen, jemals zu einem Anfang zurückzukehren. Diese operative Relevanz des Entscheidens und des darauf eingestellten Beobachtens hat nichts mit „Dezisionismus" zu tun, wenn das heißen soll, daß das System ohne festes Fundament und letztlich willkürlich operiere. Wer „Vernunft" erwartet, mag enttäuscht sein und aus diesem Zustand dann nicht mehr herausfinden. Wer wissen will, was faktisch geschieht und wie man dem eigene Bemühungen zuordnen kann, erhält den Rat: beobachte den Entscheidungsprozeß, beobachte die Beobachter, und D u wirst sehen, daß von Willkür keine Rede sein kann. Dem entspricht, daß das System als Einheit für sich selbst intransparent bleibt, sich auf der operativen Ebene mit selbstgeschaffenen (und rasch vorübergehenden) lokalen Transparenzen begnügen muß und für die Selbstbeschreibung auf stark simplifizierende Reflexionstheorien angewiesen ist, etwa auf den Begriff der Souveränität, auf die liberale Theorie des Verfassungsstaates oder auf die Lob- und Klagegesänge des Wohlfahrtsstaates; alles in allem also auf eine Sequenz von Beschreibungen, deren jede auf die Schwächen der vorherigen und auf inzwischen abgelaufene Strukturveränderungen reagiert. 22

21 Hierzu illustrativ Renate Mayntz / Fritz W. Scharpf, Policy-Making in the German Federal Bureaucracy, Amsterdam 1975. 22 Die Strukturänderungen, von denen der Text spricht, waren in Kurzfassung: (1) die Ausdifferenzierung von nur noch territorial beschränkten Entscheidungszentren mit

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Entscheider sind Beobachter, denn sie unterscheiden Ziele und bezeichnen davon abweichende Zustände. Ein System, das für politisches Entscheiden ausdifferenziert ist, operiert daher selbst bereits auf der Ebene der Beobachtung von Beobachtungen. Es verbietet sich eine ungebrochene, „naive" Weltsicht, auch wenn die Naivität des guten Willens gelegentlich erfolgreiche Politik oder erfolgreiche Politikdarstellung sein kann. Solches Operieren auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung scheint für alle ausdifferenzierten Funktionssysteme typisch zu sein. 23 Eine systemtheoretische Beschreibung muß dem Rechnung tragen können; sie selbst muß also auf der Ebene einer Beobachtung dritter Ordnung operieren können, nämlich ein System beschreiben können, das seinerseits operativ (und das heißt immer: in bezug auf eigenes Unterscheiden blind) die eigene autopoietische Reproduktion auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtern durchführt und daher auch Selbstbeschreibungen (Ideologien, politische Theorien, politische Begriffe) politisch kontextiert im Seitenblick auf ein „für wen" und „wozu". 2 4 Für jede Beobachtungsebene gelten dabei spezifische Unterscheidungsweisen, also auch jeweils andere Auswahlmöglichkeiten, Blindheiten und Informationswerte 25 , und das muß beachtet werden, wenn von „Selbstorganisation" und von „Information" die Rede ist.

IV. Im politischen Entscheidungsprozeß geht man selbstverständlich davon aus, daß jede Entscheidung von anderen Entscheidungen abhängt und die Verfügung über jedenfalls überlegene physische Gewalt; (2) der Verzicht auf Kontrolle der Wirtschaft ( = bürgerliche Gesellschaft) mit diesem Instrumentarium, also die Anerkennungrationalen Wirtschaftsverhaltens; und (3) die Spaltung der Spitze des politischen Systems (nicht: des Staates!) nach dem Schema Regierung / Opposition mit der Folge, daß alles, was geschieht, zugleich gelobt und getadelt werden kann. 23 Für Wirtschaft siehe Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988; Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988. Für Familie Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen 1990, S. 196-217. Für Wissenschaft Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990. Für Kunst Weltkunst, in: Niklas Luhmann / Frederick D. Bunsen / Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt: Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45. 24 Eine historische Begriffsanalyse, die diesen Bedingungen gerecht zu werden versucht, wird von Quentin Skinner und seiner Schule vertreten. Sie zieht dabei natürlich eine Ebene der Beobachtung in Betracht, die den zeitgenössischen Erfindern und Benutzern politischer Begriffe nicht präsent war. Vgl. z. B. Terence Ball / James Farr / Russell L. Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge England 1989, insb. den programmatischen Beitrag von Skinner. 25 Zu den logischen Problemen eines solchen Aufbaus vgl. Elena Esposito, Die Operation der Beobachtung. Unterscheidungstheorie und Theorie sozialer Systeme (L'operazione di osservazione. Theoria della distinzione e teoria dei sistemi sociali), Diss., Bielefeld 1990.

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Spielräume für weitere Entscheidungen ausdehnt oder einschränkt. Die Politik beobachtet die rekursive Vernetzung des Entscheidungsprozesses und die darin liegende Reflexivität, das heißt die Unvermeidlichkeit, daß alles Entscheiden immer auch Entscheidung über Prämissen von Entscheidungen ist. 2 6 A u f dieser Ebene können auch, und dazu dient sie vor allem, unterschiedliche Präferenzen und Optionen sichtbar gemacht werden. Und man kann entscheiden, welche Präferenzen und Optionen man selber wählen bzw. blockieren will im Hinblick auf das, was an weiteren Entscheidungsmöglichkeiten daraus folgt. In einer Begrifflichkeit, die um 1900 lanciert wurde und damals als Antwort auf unlösbare „metaphysische" und „erkenntnistheoretische" Schwierigkeiten gehandelt wurde, kann man diese Beobachtungsweise auch als „pragmatisch" bezeichnen im Unterschied zu „dogmatisch", wobei die Unterscheidung pragmatisch / dogmatisch auf das Ende der ontologischen Metaphysik und das Universellwerden des Ideologieverdachts reagierte. Die Leitfrage bleibt dabei: „Was kommt dabei heraus", und an Hand dieser Frage kann man dann über „Interessen" disponieren. Theoretisch kann diese Frage sich selbst „autologisch" rechtfertigen durch ihre eigene Nützlichkeit. Kritiker müßten, so meinte bereits Bentham 2 7 , behaupten, diese utilitaristische Sichtweise sei schädlich — und sich ihr eben damit unterwerfen. Diese theoretische Aufbereitung bestätigt jedoch nur das, was auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ohnehin läuft und legitimiert es mit dem verlegenen Lächeln des Wissenden. Die systemtheoretische Analyse hat einen anderen Ehrgeiz. Sie organisiert und entwickelt, wie oben (unter I. und II.) angedeutet, ein eigenes begriffliches Beobachtungsinstrumentarium, um ein sich selbst beschreibendes, auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen autopoietisches System beschreiben zu können. Deshalb verfährt die Theorie konsequent differenztheoretisch ohne jeden Rekurs auf letzte Einheiten (und auch in ihrer Logik ohne jeden Rekurs auf in sich einsichtige Axiome), und deshalb kann man vom Begriff des „operativ geschlossenen Systems" ausgehen und damit eine Form bezeichnen, mit der die Differenz von System und Umwelt erzeugt und reproduziert wird. Die Konsequenzen lassen sich unter einem anderen Begriff der Information verdeutlichen. Politische Information kann danach nur im politischen System produziert werden und nicht aus der Umwelt des Systems in das System überführt werden. Die Umwelt kann das politische System über strukturelle Kopplungen irritieren und damit einen Anlaß geben zur systemeigenen Informations26 Vgl. für diese Sichtweise Niklas Luhmann, Politische Planung, in: ders., Politische Planung: Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S. 66-89. 27 Siehe Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), zit. nach der Ausgabe New York 1948, S.4f.

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gewinnung. Aber wenn Information heißen soll: ein Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson), ist der zweite Unterschied immer ein solcher des Systemzustandes, in unserem Falle also ein Unterschied im politischen System. Er kann in der Begrifflichkeit von Medium und Form, also als Machtchance von Ereignissen und Handlungen, auftreten oder auch als Unterschied von Entscheidungen, die im einen oder anderen Fall sich empfehlen je nach weiterer Konditionierung durch Präferenzen oder Interessen. Immer bleibt es ein interner Unterschied. Informationen sind also keine Wissenspartikel, die man haben oder nicht haben, beschaffen, ergänzen, verwenden oder nicht verwenden könnte; es sind Transformationsereignisse, die das System von einem Zustand in einen anderen bringen. Das liegt schon in der immanenten Zeitlichkeit des Begriffs. Eine Information ist ein Einmalereignis. Wird sie nochmals mitgeteilt, enthält die Wiederholung keine Information mehr oder allenfalls die neue Information, daß der Mitteilende die Information bestätigen möchte oder Wert darauf legt, daß sie beachtet wird. Daher die Provokation durch scheinbare Unnötigkeit in dem Satz, der Gertrude Stein berühmt gemacht hat: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. 28 Dieser Informationsbegriff darf selbstverständlich nicht ausschließen, daß das politische System seine Umwelt beobachtet. Die Zweiteiligkeit des Begriffs bewahrt uns vor diesem Mißverständnis. Sie muß allerdings hinreichend komplex begriffen werden. Der erste Unterschied (der einen Unterschied macht), kann sowohl im System als auch in der Umwelt des Systems liegen. Dies setzt voraus, daß das System Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden kann, also die eigenen Grenzen kennt. (Das gilt für alle psychischen und sozialen, für alle sinnhaft operierenden Systeme.) Dabei bleibt die Beobachtung in beiden Richtungen immer eine systemeigene Operation (denn anders gäbe es gar keine Möglichkeit, SWtoreferenz und Fremdxtïzxznz zu unterscheiden). Das heißt auch, daß ihr immer systemintern generierte Unterscheidungen zugrunde liegen. Der zweite Unterschied, den die Information erzeugt, ist immer ein systemeigener Zustand, verglichen mit dem, was ohne die Information oder auf Grund einer anderen Information der Fall wäre. Der Informationsbegriff bildet also genau ab, was die Theorie operativ geschlossener Systeme postuliert: die interne Erzeugung des Unterschieds von Innen und Außen, von System und Umwelt. Das System operiert zwar blind insofern, als diese Unterscheidungsver28

Eva Meyer interpretiert dies als Herstellung einer Umgebung, die den ersten Satzteil so setzt, daß man zu ihm mit dem zweiten Satzteil, der Dasselbe sagt und nicht Dasselbe meint, Distanz gewinnen kann. Siehe: Der Unterschied, der eine Umgebung schafft, in: Dirk Baecker et al., Im Netz der Systeme, Berlin 1990, S. 110-122. Die Interpretation beruht auf der Unterscheidung von Gotthard Günther zwischen primären logischen Werten und der Akzeption bzw. Rejektion ihrer Unterscheidung — also auf einer Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung.

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hältnisse, die das Beobachten ermöglichen, nicht ihrerseits beobachtet, nicht ihrerseits Information werden können — es sei denn mit Hilfe weiterer Beobachtungsoperationen, wie wir sie soeben vollziehen. Aber es operiert deshalb keineswegs umweltblind. Es kann durchaus umweltbezogene Informationen in die eigene Informationsverarbeitung aufnehmen; ja es muß diese Umweltreferenz handhaben können, weil es sich selbst sonst ständig mit seiner Umwelt verwechselt (was ohnehin häufig genug geschieht). Sehr häufig dienen dem politischen System quantitative Bestimmungen dazu, den eigenen Informationsverarbeitungsprozeß auszudifferenzieren und die Umweltsensibilität von innen her zu regulieren. Beispiele dafür bieten die so viel kritisierten Grenzwerte der ökologischen Politik, die eine einfache, in der Umwelt so nicht vorzufindende Unterscheidung erlauben, so daß man unterschiedlich reagieren kann je nach dem, ob die Grenze überschritten ist oder nicht. Dabei ist die Grenze variabel, das System kann in dieser Hinsicht lernen; aber das Prinzip solcher Zäsuren ist nicht variabel, denn wenn man es aufgeben würde, würde die Differenz von System und Umwelt kollabieren und Politik überhaupt nicht mehr möglich sein. Es wird nicht schwer fallen, weitere Beispiele aufzutreiben, etwa die Armutsgrenzen der Sozialpolitik. Immer bleibt das System operativ geschlossen, auch was die Operationen der Informationsverarbeitung betrifft, aber zugleich kognitiv offen, da es auf Umwelt reagieren kann. Voraussetzung ist nur die interne Einrichtung bistabiler Formen, das heißt: Formen, die zwei Zustände diskriminieren, die sich wechselseitig ausschließen und gleichwohl beide Ausgangspunkte bieten für die weiteren Operationen der Autopoiesis des Systems. Diese Begriffsbildung läßt, und auch das dank ihrer Komplexität, Spielraum für sehr unterschiedliche Verwirklichungen von Politik, und zwar auch und gerade im Hinblick darauf, wie informationsmäßig mit der Umwelt umgegangen wird. Es gibt politische Systeme, die auch die Produktionsplanung als politische Aufgabe ansehen.29 Bei diesem Ausgangspunkt wird wirtschaftliches Geschehen politisch als Erfüllung bzw. Abweichung von den Produktionsplänen zur Information und löst entsprechendes politisches Handeln aus. Die Wirtschaft selbst erscheint nur im Kontext politischer Unterscheidungen, nur auf dem Bildschirm der Politik, die sich daher auch Erfolge bzw. Mißerfolge nicht erklären kann. Das politische System beobachtet sich selbst und hat im eigenen Informationsschema kaum Platz für das, was unabhängige Beobachter als Wirtschaft erkennen könnten. Es kann gar nicht feststellen, ob eine Produktion rein wirtschaftlich gesehen rational ist oder nicht. (Man hört von Produktionsunternehmen auf dem Gebiet der D D R , daß sie mit einem Gemeinkostenanteil von über 800% gearbeitet 29 Wir vermeiden hier und im folgenden die terminologische Unterscheidung sozialistisch / kapitalistisch, die ohnehin nur begriffsgeschichtlich erklärbar ist und zur Analyse selbst nichts beiträgt.

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haben und dies sie nicht gestört hatte.) In anderen Systemen bleibt die Produktionsplanung von unternehmensspezifischen Bilanzierungen abhängig, die sich auf Beobachtung der Märkte stützen und entsprechend laufend nachkorrigiert werden. 30 Für das politische System kann die Unterauslastung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit, abgelesen an bestimmten Meßwerten, zu einem politischen Problem werden. Nicht zuletzt deshalb propagiert man politisch die Idee des wirtschaftlichen Wettbewerbs, der dies angeblich verhindert. So beobachtet eine „marktwirtschaftlich" orientierte Politik die Wirtschaft an Hand von Datenaggregationen (Bruttosozialprodukt, Arbeitslosigkeit, Inflation usw.), die für politische Zwecke angefertigt werden und für unternehmensspezifische Entscheidungen (die Börse natürlich ausgenommen) kaum von Bedeutung sind. Auch hier bleibt das, was die Politik als Information über die Wirtschaft behandelt, ein politikinternes Konstrukt, das vor allem im Hinblick auf Veränderungen im Zeitablauf, im Hinblick auf politisch willkommene/unwillkommene Zunahmen bzw. Abnahmen zur Information wird und das von Regierung bzw. Opposition verschieden gelesen werden kann. Aber in den Informationsverarbeitungsprozeß geht die Annahme mit ein, daß die Unterschiede, die einen Unterschied machen, durch die Wirtschaft selbst erzeugt werden und durch Politik nicht oder nur indirekt beeinflußt werden können; und erst auf dieser Grundlage gibt es dann recht unterschiedliche Auffassungen über Möglichkeiten staatlicher „Steuerung", die ihrerseits mit Erfahrungen im Beobachtungsbereich Wirtschaft, also etwa mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit oder, in den letzten beiden Dekaden, mit den Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärken variieren. 31 Es kommt uns nicht darauf an, zu einem Urteil über „besser" oder „schlechter" im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Bewertung zu kommen. Der Punkt ist: daß das politische System sich im Hinblick auf Wirtschaft (und das Gleiche könnte für Wissenschaft, für Erziehung, für die Beurteilung von Personen-in-Karrieren usw. sagen) mehr auf Selbstbeobachtung oder mehr auf Fremdbeobachtung einstellen kann — aber in beiden Fällen operativ in der Form einer rein intern vollzogenen Informationsverarbeitung. V. Erst nachdem geklärt ist, wie das politische System als operativ geschlossenes System arbeitet, indem es Eigenkonstrukte als Informationen prozes30 Genauer müßte hier von einer Beobachtung der Beobachtungen des Marktes die Rede sein, und erst das würde vollends verdeutlichen, welche Vorteile die dezentrale Kalkulation bietet. Vgl. Anm. 23. 31 Hierzu Fritz W. Scharpf,\ Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa, Frankfurt 1987.

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siert, kann man den Problemen nachgehen, die sich unter den Titel der Selbstorganisation stellen. Hier lohnt zunächst ein Rückblick auf die alteuropäische Tradition in ihrer aristotelischen Fassung. In diesem Denken war die politische Gesellschaft (civitas, dann auch regnum) allopoietisch gedacht gewesen. Die Natur gab ihr die Elemente und die Einteilungen vor, insbesondere das tätige Leben der Menschen und die Unterschiede wie Herr und Knecht, Stadt und Haus, natürlicher Reichtum und Geld, Perfektion und Korruption. Staatskunst (Politik) und Haushaltskunst (Ökonomik) unterscheiden sich entsprechend durch das, was sie von der Natur empfangen (freie Menschen im einen Falle, Nahrung, Materialien usw. im anderen), und durch die Art, wie sie gekonnt damit umgehen. Daher ist Politik wie auch Ökonomik eine Lehre vom Können und, auf individuelle Perfektion der Lebensführung bezogen, eine Ethik. Nur in diesem Sinne kann man von Autonomie sprechen als Bedingung der Möglichkeit, das Können zu entfalten. Die Natur wächst gleichsam in die politische Gesellschaft hinein, aber sie erzeugt zugleich eine différente Zeitlichkeit, insofern als das, was die Natur wird, in der Gesellschaft als Gabe in eigenen Zeithorizonten zu verwenden ist. Der christlich gewordenen Gesellschaft ist es nicht schwer gefallen, diesen Sachverhalt religiös zu interpretieren und damit eine Semantik von nie wieder erreichter Geschlossenheit zu produzieren — eben das, was uns als alteuropäischer Humanismus, als ethisch-politische Theorie der societas civilis überliefert ist. Ob man dies nun begrüßen oder bedauern will — der Begriff des selbstreferentiellen, operativ geschlossenen Systems bricht radikal und restlos mit dieser Tradition. Er läßt auch die transitorische Begriffswelt der Vernunftaufklärung, des Deutschen Idealismus, des Politikbegriffs der nationalen Historiker und der verschiedenen Fassungen von „Staatslehre" in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts fallen. 32 Keine Aussage über Einheiten (Elemente) und keine Aussagen über Unterschiede läßt sich danach ohne Angabe einer Systemreferenz formulieren. Die Theorie wird für Beobachter zweiter Ordnung, für Beobachter von Beobachtern formuliert. Sie kann nur in diesem Sinne den Anspruch erheben, Wissenschaft zu sein. Es gibt, die Naturwissenschaften wissen es längst, keine Natur. Daher kann auch der Begriff der Selbstorganisation, um den es hier geht, nicht länger im Duktus alter Kunstlehren und Prudentien als geschickter (tüchtiger, rationaler, schließlich „vernünftiger") Umgang mit Sachverhalten gefaßt werden. Vielmehr geht es um Strukturen, die ein System selbst erzeugt allein dadurch, daß es Operationen an Operationen anschließt. 33 Das Verhältnis von Struk32

Eine genau parallellaufende Entwicklung ließe sich für die Erkenntnistheorie und damit für Wissenschaft nachzeichnen, und eine weitere für Kunst. Siehe dazu Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O.; ders., Weltkunst, a.a.O. 33 Ein Modell dafür bieten die bereits zitierten „Laws of Form" von George Spencer

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tur und Operation muß deshalb zirkulär begriffen werden: Die Verknüpfung von Operationen kann nur selektiv erfolgen an Hand von einschränkenden Bedingungen, die im System selbst dadurch, daß dies geschieht (und ohne dies Geschehen gäbe es das System nicht) produziert und reproduziert werden. Die Operationen produzieren Strukturen, sie hinterlassen gleichsam Strukturen so, wie sie Geschichte produzieren, und Strukturen wie Geschichte können bei hinreichender Selbstbeobachtungskapazität dann selektiv erinnert, rekonstruiert und unter Annahme ihrer Bewährung wiederverwendet — oder eben vergessen werden. Damit verliert der Begriff der Selbstorganisation seinen provokativen Charakter. Auch wissenschaftliche Revolutionen verzehren ihre Kinder, ersetzen die Konzepte des Beginns durch radikalere Varianten und in diesem Falle: durch das Konzept der Autopoiesis. 34 Was damit erreicht wird, ist eine Steigerung des Auflösevermögens und der Genauigkeitsansprüche wissenschaftlicher Analyse. Das liegt an der Verlagerung des Konzepts selbstreferentieller Bestimmung von der Strukturebene auf die Operationsebene der Systeme. Freilich sind dann auch entsprechende Theorieanstrengungen gefordert und letztlich wird es darauf ankommen, ob es gelingt, den Phänomenbereich, der damit einsichtig gemacht werden kann, spürbar zu erweitern. Daß dies möglich sein sollte, wollten die hier vorgetragenen Überlegungen zeigen.

Brown, und zwar bezogen auf Arithmetik und Algebra, die im Anschluß an Boole als Grundlagen jeder Logik vorgestellt werden. 34 Man kann dieses Konzept natürlich ablehnen — und dann bei „Selbstorganisation" bleiben. So z. B. Wolf gang Kr ohn / Günther Küppers, Wissenschaft als selbstorganisierendes System — Eine neue Sicht alter Probleme, in: dies. (Hrsg.), Selbstorganisation: Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig 1990, S. 303-327, für das Sozialsystem Wissenschaft. Die Diskussion stagniert derzeit in einem Austausch immer derselben Argumente. Eine Entscheidung hängt offensichtlich davon ab, wie man Begriffe wie Operation, Produktion, Geschlossenheit, Strukturdetermination etc. versteht.

Selbstorganisation und transklassische Logik Von Axel Ziemke, Bochum

I. Problemstellung „Die klassische, oft als ,galileische4 bezeichnete Wissenschaftsauffassung betrachtete die Welt als ein ,Objekt 4 und versuchte, die physikalische Welt so zu beschreiben, als würde sie von außen als ein zu untersuchender Gegenstand, der uns nicht einschließt, gesehen. Diese Haltung ist in der Vergangenheit ungeheuer erfolgreich gewesen. Jetzt stoßen wir jedoch an die Grenzen dieser galileischen Auffassung. U m weitere Fortschritte zu erreichen, müssen wir unsere Position, den Standpunkt, von dem aus wir die physikalische Welt beschreiben, besser verstehen. Das heißt nicht, daß wir zu einer subjektivistischen Wissenschaftsauffassung zurückkehren müßten, doch müssen wir die physikalische Erkenntnis in einem gewissen Sinne mit den charakteristischen Merkmalen des Lebens in einen Zusammenhang bringen" 1 .

Zweifellos erfüllen die Arbeiten Prigogines und anderer Theoretiker der physikalischen Selbstorganisationstheorien diesen Anspruch zumindest insoweit, als es ihnen gelingt, den scheinbaren Gegensatz zwischen dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und den komplexen biologischen Ordnungsbildungen auf allen Stufen des Lebendigen physikalisch aufzulösen. Doch ist dies auch mit der Lösung jener der galileischen Wissenschaftsauffassung zuzuschreibenden theoretischen Grundprobleme der Biologie verbunden? Gewiß stieß die galileische Sichtweise zuallererst in der Biologie auf ihre Grenzen, hier dominierte am längsten ein aristotelisches Wissenschaftsverständnis und hier entwickelte sich, nicht was die Position des Beobachters, wohl aber, was den Charakter der Gesetzesaussagen betrifft, im Darwinismus eine echte Alternative. Doch war der Einwand vieler großer Biologen gegen eine mechanistische wie überhaupt physikalistische Erklärung des Lebendigen gar nicht so sehr derjenige eines mechanischen Determinismus, ja nicht einmal vordergründig der des Ganzheits- oder Entwicklungsproblems, sondern zunächst und zumeist das Problem der Zweckmäßigkeit biologischer Phänomene. 1 I. Prigogine, Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften. München, Zürich 1988, S. 15.

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Es bestand (und besteht) der fundamentale Widerspruch, daß sich der lebendige Mensch als Erkenntnissubjekt in dieser seiner Subjektivität im Gegenstand der Erkenntnis nicht wiederfindet. Prigogine und Stengers bezeichnen dies im Anschluß an Lenoble als die „Angst des modernen Menschen": „Wie können wir uns selbst in der zufälligen Welt der Atome wiedererkennen? Beinhaltet die Wissenschaft einen Bruch zwischen dem Menschen und der Natur?" 2 In der Geschichte der Philosophie fanden all jene Polaritäten ihre Vermittlung wohl spätestens mit dem transzendentalen Idealismus der klassischen deutschen Philosophie. Und es ist gewiß kein Zufall, daß sich viele frappierende Übereinstimmungen zwischen den spekulativen Konstrukten der Naturphilosophie Schellings3 oder der Logik Hegels4 und den modernen Theorien der Selbstorganisation finden lassen. Jene Philosophen waren sich jedoch mit vielen Denkern unserer Zeit in einem Punkte einig: In den Problemen des Lebens, der Subjektivität, der Freiheit stößt unsere Logik, die Mathematik und letztlich auch der experimentelle Zugriff auf unüberwindliche Grenzen. Es kann keine „formale" Lösung jener Probleme geben. Demgegenüber werden in den letzten Jahrzehnten all jene Probleme mehr und mehr auch Gegenstand „exakter" Zugänge jenseits der Physik. So findet insbesondere die Kybernetik Möglichkeiten für deren Modellierung, die unabhängig von einem bestimmten physikalischen „Substrat" sind. Rosenblueth, Wiener und Bigelow konzeptualisierten in ihrem klassischen Aufsatz „Behavior, Purpose and Teleology" 5 den Zweck als Schlüsselbegriff zum Verständnis biologischer Organisation in Form des Referenzwertes einer Rückkopplungsschleife. Die Ansätze W. R. Ashbys, H. v. Försters und vieler anderer wiesen Wege, wie diesem Zweckbegriff die logische „Äußerlichkeit" genommen werden könne. In enger Verbindung mit jenen Arbeiten war es G. Günther, der das Gedankengut des deutschen Idealismus mit der neuen kybernetischen Denkweise verknüpfte und so die Grundlagen für eine neue, eine transklassische formale Logik lieferte, die nun als formales Kriterium für wissenschaftliche Ansätze zur Lösung des Subjektivitätsproblems dienen kann. Die vorliegende Arbeit versucht den Ansatz einer solchen logischen Analyse physikalischer bzw. biologischer Theorien der Selbstorganisation, 2

/. Prigogine /1. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. München, Zürich 1990, S. 11. 3 M.-L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften. Berlin 1986. 4 A. Ziemke / Κ Stöber, System und Subjekt, in: S.J. Schmidt, Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus II. Frankfurt a.M. 1991. 5 A. Rosenblueth/N. Wiener/ J. Bigelow, Behavior, Purpose and Teleology. Philosophy of Science 10(1943), 18-24.

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wie sie von I. Prigogine und H. Haken bzw. H. Maturana und F. Varela vorgelegt wurden.

II. Subjektivität und Zufall 1. Selbstorganisation

— eine neue Logik des Gegenstandes?

Die Logik unseres Denkens geht wesentlich auf eine philosophische Tradition zurück, die mit den Schriften des Aristoteles ansetzt. Wenn auch die Wissenschaft der Neuzeit methodisch wie theoretisch weit über Aristoteles hinausging, so bedient sie sich jedoch bis heute der schon von ihm formulierten Gesetze des Denkens. Wissenschaft ist wesentlich ein Verfahren, mit einer definierten Methodologie zwischen „wahren Aussagen" und „falschen Aussagen" über die Welt zu entscheiden. Mehr noch: Viele Errungenschaften der neuzeitlichen Wissenschaft brechen unter der Kritik neuerer Ansätze zusammen und führen zu Erkenntnissen zurück, die Aristoteles in einem mehr oder weniger metaphorischen Sinne schon einmal „besser gewußt" hatte. Prigogine 6 bezieht sich gewiß auf eine mehr metaphorische Korrespondenz, wenn er auf die biologische Sicht der „sublunaren Natur" durch den großen Griechen verweist. Weit interessanter ist m. E. das mit dieser Sicht zusammenhängende Verständnis des Verhältnisses von Logik und Zeit, das uns in seiner Schrift „Peri Hermeneias" überliefert ist. Prigogine fundiert durch seine physikalische Theorie zum Zusammenhang von Zeit und Komplexität über solche Prinzipien wie denen der Energiedissipation, der Ordnung durch Schwankung und der Bifurkation den philosophischen Übergang von einer galileischen Wissenschaft der ewigen Gesetze des Seins zu einer solchen des in die Zukunft offenen Werdens: „Nur weil das Morgen nicht in der Gegenwart enthalten ist, kann eine irreversible, gerichtete Zeit auftreten" 7 . Als Illustration mag hier das Bifurkationsprinzip dienen (Abb. la). Logisch betrachtet bedeutet dies: Die Wahrheit einer Aussage über ein System in der Gegenwart ist von dessen Geschichte abhängig. Aussagen über die Zukunft können bezüglich der Alternative wahr / falsch nicht sicher entschieden werden. Dieses Problem führt nun tatsächlich zu Aristoteles zurück: In der o. g. Schrift finden wir die Unterscheidung, daß jenes fundamentale Tertium Non Datur, welches nur die Wahrheit oder die Falschheit einer Aussage als exklusive Alternativen zuläßt, zwar für die Zukunft gelte 6 7

Prigogine (FN 1), S. 14 f. Prigogine (FN 1), S. 261.

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Abb. la: Zweistufige Bifurkationskaskade

wie für die Vergangenheit, jedoch nur für die Vergangenheit anwendbar sei8. M. a. W.: Die Logik hat eine fundamentale Richtung der Zeit zu beachten. A u f dieses Prinzip soll im dritten Teil zurückgekommen werden. Sie hat im Zusammenhang damit in der Entscheidung von Aussagen über die Zukunft darüber hinaus den logischen Wert der „Unentscheidbarkeit" einzuführen. A n eben diesem Punkt setzen die Ansätze zu einer „nichtklassischen" mehrwertigen Logik an, wie sie etwa von Lukasiewicz, Post oder Lewis erarbeitet wurden. Der Tatsache, daß über die Zukunft prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind, entspricht die Einführung von Quasi Wahrheiten zwischen „wahr" und „falsch", die jene Wahrscheinlichkeitsunterschiede (in beliebiger Dichte) designieren (Abb. 1 b — wir wollen hier von „intraklassischer Mehrwertigkeit" sprechen).

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1/iî

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Abb. I b: Graph einer mehrwertigen stochastischen Logik

Ganz offensichtlich läßt sich die Bifurkationskaskade aus Abb. la völlig zwanglos auf eine Logik wie die in Abb. I b abbilden. So beträgt etwa der Wahrheitswert der Aussage „Das System wird sich, wenn der Parameter über die kritischen Werte P c 'und Pc auf den Parameter Ρ / erhöht worden ist, in dem 8 G. Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Bd. I-III. Hamburg 1976, 1979, 1980; II, S. 183; III, S.96ff.

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durch den Ordinatenwert x 3 gekennzeichneten Zustand befinden" 1/4 (vorausgesetzt, die Wahrscheinlichkeiten der Bifurkationsäste sind gleich). Das Gesetz der großen Zahlen mag hier versagen — die Grenzen einer statistischen Logik sind jedoch nicht sichtbar; die Logik des Gegenstandes bewegt sich völlig in den Bereichen des klassischen Denkens.

2. Selb st organisation — eine neue Logik der Forschung? Nun besteht tatsächlich die Fundamentalität der Einsichten Prigogines zum Verhältnis von Gesetz und Zufall nicht einfach im Konstatieren der praktisch schon immer zugegebenen mangelnden Voraussagbarkeit des Zukünftigen, sondern in jener „merkwürdigen Idee einer Vorhersage des Unvorhersagbaren" 9 : Die Zukunft ist nicht in der Gegenwart enthalten. Der Mangel an Vorhersagbarkeit resultiert nicht aus dem mangelnden Wissen des Beobachters, sondern aus systemimmanenten Instabilitäten. Die Unentscheidbarkeit von Aussagen über die Zukunft wird durch das Objekt und nicht durch das Subjekt des Erkennens bewirkt — in eben diesem Punkt geht Prigogine nun tatsächlich implizit nicht nur über die galileische Wissenschaftsauffassung, sondern auch über die aristotelische Logik hinaus. Es ist von größter Wichtigkeit zu sehen, daß sich die Unterscheidung zwischen Verursachung der Unentscheidbarkeit durch Subjekt oder Objekt in der klassischen Logik wie auch im Falle einer intraklassischen Mehrwertigkeit zwar hermeneutisch, nicht jedoch formal fassen läßt. Die (eine) klassische Logik läßt zwei völlig symmetrische und deshalb austauschbare Interpretationen zu (Abb. 2a, b 1 0 ).

Umwelt

Subjekt

Abb. 2a: Kognitive Situation

9 10

Prigogine / Stengers (FN 2), S. 302. Günther I I (FN 8), S. 213 ff.

Umwelt

Subjekt

Abb. 2 b: Volitive Situation

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Die Abbildung eines Sachverhaltes auf einen Formalismus beruht auf dem Austausch der Werte „wahr" und „falsch" bzw. „positiv" und „negativ". Dieser Austausch wird durch eine vom Abgebildeten ausgehende Ordnungsrelation strukturiert. Eine Aussage als Abbild ist wahr, wenn sie mit dem Abgebildeten (wie auch immer) übereinstimmt, und falsch, wenn sie dies nicht tut. Aus der Wahrheit einer Aussage folgt die Falschheit ihrer Negation und umgekehrt. Diese grundlegende Struktur kann nun einmal als „kognitive Situation" gedeutet werden: Die Ordnung der Umwelt strukturiert den Austausch als kognitive Operation. Der Austausch erlaubt es, die Umwelt abzubilden. Ebenso ist jedoch die Interpretation als „volitive Situation" möglich: Die Ordnung des Subjekts strukturiert einen Austausch in der Umwelt. Jener Austausch bildet nun das Subjekt ab. Eine falsche Aussage kann also in eine wahre Aussage überführt werden, indem entweder „kognitiv" jene Aussage negiert oder aber „volitiv" der entsprechende Sachverhalt verändert wird. Eine intraklassische mehrwertige Logik, wie sie zur Beschreibung etwa einer Bifurkationskaskade erforderlich ist, ändert an all dem lediglich, daß nun der Austausch nicht mehr über zwei, sondern beliebig viele dazwischenliegende Werte erfolgt. Ob jener Austausch einer kognitiven oder einer volitiven Situation entspricht und somit die Unentscheidbarkeit von Aussagen über das selbstorganisierende System in der Zukunft vom mangelnden Wissen des Subjekts oder von systemimmanenten Instabilitäten verursacht ist, bleibt formal ununterscheidbar. Die „Vorhersage des Unvorhersagbaren" läßt sich klassisch-logisch nicht denken, sondern nur hermeneutisch behaupten. 3. Ein Widerspruch Die Darstellung jenes neuen Wechselverhältnisses von Gesetz und Zufall, das aus Prigogines Arbeiten resultiert, verlangt also tatsächlich, daß „wir unsere Position, den Standpunkt, von dem aus wir die physikalische Welt beschreiben, besser verstehen". Diese neue Logik der Forschung übersteigt nun aber, wie wir gesehen haben, die logischen Mittel, die in der Logik des Gegenstandes angelegt sind. Jene neue Position des Erkenntnissubjekts läßt sich nicht aus dem Erkenntnisobjekt heraus erklären — beide stehen in dem alten epistemo-logischen Widerspruch: Noch immer findet sich der Selbstorganisationstheoretiker nicht in der zufälligen Welt der dissipativen Strukturen wieder. Die intraklassische mehrwertige Logik, die in der Logik des Gegenstandes angelegt ist, liefert keine formale Basis für das transklassische Denken, das in der Forschungslogik vorausgesetzt wird. A u f konzeptioneller Ebene entspricht jenem epistemologischen Widerspruch der vielfach geäußerte Vorwurf, daß trotz des Versagens der statisti-

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sehen Betrachtungsweise für Prigogine der Zufall das entscheidende Erzeugungsprinzip von Ordnung bleibt 1 1 . Tatsächlich läßt sich dieser Widerspruch erst durch eine transklassische „Bio-Logik" auflösen, die die Subjektivität des Lebendigen selbst zu ihrem Gegenstand hat. Um einen Unterschied zwischen Verursachung der Unentscheidbarkeit von Aussagen über die Zukunft durch das Subjekt oder das Objekt zu machen, bedarf es der Vermittlung von volitiver und kognitiver Situation, wie sie G. Günther über das Konzept der Proemialrelation vornimmt 1 2 : Der hermeneutischen Dualität der klassischen Logik als Beschreibung von Objekt oder Subjekt entspricht die formale Dualität von Relator und Relatum in der beschreibenden Relation selbst. In der kognitiven Situation erzeugt die Umwelt als Quelle der Ordnung die Relata, die im Subjekt dem Austausch durch den Relator unterliegen. In der volitiven Situation hingegen erzeugt die Ordnung des Subjekts über die Relata einen Relator als Austausch in der Umwelt. Relator und Relatum verhalten sich also wie Austausch und Ordnung zueinander, die wechselseitig entweder dem Objekt oder dem Subjekt zugeschrieben werden können. Die Vermittlung von kognitiver und volitiver Situation verlangt also auf formaler Ebene den Umtausch von Relator und Relatum. Dieser Umtausch ist in der klassischen Logik nicht notwendig, weil die Verknüpfung beider zu einer Relation immer schon vorausgesetzt ist. Auch die Theorie der Metasprachen stellt hier keine Ausnahme dar, da hier Relationen, aber nicht Relatoren als Relata behandelt werden. Die Proemialrelation macht jenen Umtausch durch die Einführung verschiedener (wie hier nicht gezeigt werden kann: heterarchisch vermittelter) logischer Ordnungen möglich: Wir betrachten Ri + \ als den Relator der beiden Relata χ/ und y f.

(1)

yd

Wir können nun ein Relatum in einen Relator überführen, indem wir x/oder yi als den Relator Rj in bezug auf die Relata niederer logischer Ordnung x z _i und yi_ι fassen: (2) Ri(xi-V,yi-i) Umgekehrt können wir einen Relator in ein Relatum transformieren, indem wir /?,·_, ι als ein Relatum Xj+\ oder y i+\ in bezug auf den Relator höherer logischer Ordnung R ^ i betrachten: (3) 11 12

Ri+i(xu\\yi+\) Heuser-Keßler (FN 3), S. 76 ff. Günther I I (FN 8), S. 203-241.

3 Selbstorganisation, Bd. 2

34

Axel Ziemke

Mittels dieser Proemialrelation wird die Vermittlung von kognitiver und volitiver Situation und somit die Zuschreibung einer Unentscheidbarkeit zu Subjekt oder Objekt möglich, indem ihr Umtausch in einem logischen System generiert werden kann: Interpretiert man etwa Xj und y ι in (1) als Ordnung der Umwelt, die als Relatum den Relator im Subjekt strukturiert, so erscheint die Unentscheidbarkeit des Wahrheitswertes als mangelndes Wissen des Subjekts ((1) ist kognitiv interpretiert). Interpretieren wir dementsprechend und yj_\ in (2) als Ordnung des Subjekts, die als Relatum den der Umwelt zugeschriebenen Relator strukturiert, so erhält man jene Unentscheidbarkeit, die nach Prigogine als objektimmanente Instabilität auftritt ((2) ist nun volitiv interpretiert). Epistemologisch wichtig ist, daß eine Unterscheidung zwischen „subjektiver" oder „objektiver" Verursachung der Unentscheidbarkeit von Aussagen über die Zukunft entsprechend des Wechsels der logischen Ordnung die Einbeziehung des Subjekts in den Gegenstandsbereich, seine Beobachtung durch einen Beobachter (der es selbst sein kann) erfordert. Logisch vorerst wichtiger ist, daß jede der verschiedenen logischen Ordnungen, die für diese Unterscheidung unumgänglich sind, einen logischen Wert beansprucht. Obwohl jede der Relationen (1) bis (3) strikt zweiwertig fundiert ist, erfordert die vollständige Proemialrelation vier „echte" logische Werte, von denen die hinzukommenden Werte nicht „zwischen" den beiden ursprünglichen liegen, wie im Falle der intraklassischen Mehrwertigkeit, sondern mit diesen zu einem Stellenwertsystem verbunden sind (nichtsdestoweniger können diese vier Werte untereinander durch Skalen von Quasiwahrheitswerten verbunden sein). Zur Illustration dieses und Vorbereitung des nächsten Abschnittes ist es nützlich, jenes Verfahren zu zeigen, mittels dessen G. Günther bereits in seinen früheren Arbeiten 1 3 jene zusätzlichen Werte eingeführt hatte: Die klassische Logik kennt 16 zweistellige Operationen (Abb. 3), die über ihre Wahrheitswerttafeln definiert sind. Durch eben jene Wahrheitswerte

Ρ

q

w w f f

w f w f

Op ( p ; q ) w w w f

w w wf f w f f

w f f f

w w w w

w f w w

WW w f f f WW

f f f f f f Ww f w f w WW w w

f f f f

f w f f

f f w f

f w w f

Abb. 3: Wertetafel der zweistelligen Operationen der klassischen Logik 13

Günther I (FN 8), S. 141 ff., 189 ff., 249 ff.

Selbstorganisation und transklassische Logik

35

erhält das System der klassischen Logik eine „materiale" Bindung, die notwendig zur „Schwächung" des Formalismus führt. Jene Schwächung läßt sich umgehen, indem an Stelle der Werte Leerstellen (Kenogramme) notiert werden, die mit einem der beiden Werte besetzt werden können. Ordnet man in den Wertetafeln jener 16 Operationen verschiedenen Werten verschiedene Kenogramme zu, erhält man 8 „Morphogramme" als „Leerstrukturen" der klasssischen Operationen (Abb. 4a). Während nun aber die Wertstruktur der klassischen Logik vollständig ist, bleibt die morphogrammatische Struktur unvollständig. U m sie zu vervollständigen, müssen noch 7 weitere Morphogramme notiert werden, die auch die Fälle von drei oder vier verschiedenen Kenogrammen berücksichtigen (Abb. 4 b). Jene morphogrammatisch vollständige Struktur schafft nun Raum für die für unsere Zwecke erforderlichen „transklassischen" Werte 3 und 4. 1

2

3

4

-

5

6

7

9 10 11 12 13 14

8

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

X

X

0

X

0

X

+

0

+

X

+

X

0

X

0

X

0

0

X

X

0

+

X

+

+

+

X

X

X

X

0

0

0

0

X

X

X

X

X

0

Abb. 4a: Morphogramme der zweistelligen Operationen der klassischen Logik

Abb. 4 b: Morphogramme der transjunktionalen Operationen einer „zweiwertigen Logik" im vierwertigen System

Wir erhalt m nun eine „zweiwertige Logik", die ihre morphogrammatische Vollständigkeit in einem vierwertigen System erreicht. Eine der Wertstruktur nach vollständige „dreiwertige Logik" erhalten wir durch die Kombination von drei Werten über zwei Variable als „Stellenwertsystem" von drei zweiwertigen Logiken (vgl. Abb. 6). Die Abstraktion von den Werten ergibt 3 281 neunstellige Morphogramme. Morphogrammatisch vollständig ist eine „dreiwertige Logik" in einem neunwertigen System. Die hinzukommenden 17 866 Morphogramme ergeben insgesamt 21 147. Ein Übergang zu einer vierwertigen Logik wird im Verlauf dieses Teils der Arbeit nicht notwendig sein. Die hier angedeutete transklassische Logik, die in der Forschungslogik zum Problem der Selbstorganisation implizit angelegt ist, muß nun, folgt man dem Universalitätsanspruch des einleitenden Zitats, im Gegenstandsbereich der Forschung expliziert werden. Als logisches Kriterium des Übergangs zu einer Theorie der Selbstorganisation, die tatsächlich die Grenzen 3*

36

Axel Ziemke

des klassischen Denkens überwindet, legen die bisherigen Ausführungen nun eine mehrwertige Logik des Gegenstandes nahe, die nicht mehr auf stochastischen Differenzierungen beruht, sondern dem transklassischen Übergang zu den logisch „tiefer" als die Wertstrukturen liegenden kenogrammatischen Strukturen entspringt. Doch — sollte nicht gerade in jenen von Prigogine nicht beantworteten Fragen, warum sich das System am Bifurkationspunkt als „Ganzes" verhält, wie kohärente Strukturbildungen möglich sind, warum welche Strukturen entstehen, ein Ansatz zur Überwindung jenes Gegensatzes liegen?

4. Ein Ansatz zur Auflösung des Widerspruchs:

Synergetik

Einen möglichen Zugriff auf die am Ende des vorigen Abschnittes gestellten Fragen bietet die Synergetik H. Hakens mit den gegenüber Prigogines Arbeiten neuen Prinzipien der Versklavung und Selektion. A m Bifurkationspunkt verstärkt auftretende Fluktuationen führen zur Ausbildung einzelner „Moden" oder „Ordnungsparameter", die die Tendenz haben, die Parameter der kooperativ gekoppelten Elemente zu „versklaven", d. h. ihrer Ordnung unterzuordnen. A u f diese Weise entsteht eine Konkurrenz verschiedener sich autokatalytisch verstärkender Moden, unter denen die unter den gegebenen Randbedingungen stabilsten sich selektiv durchsetzen, d.h. das gesamte System „versklaven". Im Gegensatz zu der ausschließlich „zufälligen" Bestimmung der Veränderungsrichtung des Systems ist hier deutlich die „innere Zweckbeziehung" der klassischen deutschen Philosophie zu erkennen. Jene „zyklische Kausalität", die Haken 1 4 als neuartiges Verursachungsprinzip betont, entspricht der „teleologischen Tätigkeit" der Hegeischen Logik 1 5 . Die „Innerlichkeit" dieser Zweckbeziehung ist dabei dadurch fundiert, daß jener Zweck als Ordnungsparameter vom System selbst generiert ist und nicht, wie der Referenzwert der klassischen Rückkopplungsschleife, dem System äußerlich gegeben ist. A l l das legt nahe, dem System, wie es bereits der Name „Selbstorganisation" verlangt, ein „volitives Moment" zuzuschreiben, das mindestens durch einen dritten logischen Wert jenseits der Alternative positiv / negativ zu designieren wäre. Eine genauere logische Analyse zeigt jedoch, daß die hierzu notwendigen formalen Voraussetzungen in Hakens Ansatz noch nicht gegeben sind.

14 H. Haken / M. Haken-Krell, Entstehung von biologischer Information und Ordnung. Darmstadt 1989, S. 56. 15 G.W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Bd. III. Leipzig 1965, S. 238 ff.; vgl. Ziemke/ Stöber (FN 4).

Selbstorganisation und transklassische Logik

37

G. Günther 1 6 hat jenen Zusammenhang bereits in seiner klassischen Arbeit zur Selbstorganisation „Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations" dargestellt: Betrachten wir die Morphogramme 9-15 im Gegensatz zu den Morphogrammen 1-8, so wird deutlich, daß die klassischen Operationen, die durch letztere dargestellt sind, die gegebenen Werte 1 und 2 in dem Sinne „akzeptieren", daß sie einen der beiden Werte bevorzugen, während die transklassischen Operationen, die durch erstere dargestellt sind, sich mit den Werten 3 und 4 gegen diese „absetzen". Die klassischen Operationen führen also ausschließlich zu „Akzeptanzwerten", während die transklassischen Operationen darüber hinaus "Rejektionswerte" generieren. Diese transklassischen Operationen nennt Günther „Transjunktionen" und stellt explizit heraus: „Wenn ein Kybernetiker feststellt, daß ein beobachtetes System die Verhaltensmerkmale von Subjektivität zeigt, so tut er das mit dem strikten Verständnis, daß er lediglich meint, die beobachteten Ereignisse würden teilweise oder gänzlich die logische Struktur der Transjunktion aufweisen" 17 . Der dritte bzw. vierte logische Wert designiert dabei Subjektivität als Voliton des lebenden Systems (zunächst) in Form einer Grenze, die dieses System gegen seine Umwelt abhebt: „Wenn ein (logisches — A. Z.) System rejeziert wird, platziert sich der Wert, der als Rejektor wirkt, außerhalb von ihm. A u f diese Weise etabliert er eine Grenze oder eine logisch geschlossene Oberfläche für das rejezierte System. Mit anderen Worten: er macht eine Unterscheidung zwischen dem System und etwas anderem, i. e., einer Umgebung" 1 8 . Für diese logische Grenze, diese Unterscheidung von System und Umwelt findet sich weder in der Synergetik noch in Prigogines Theorie eine Entsprechung. Zwar besitzt das selbstorganisierende System in Hakens Synergetik ein „Moment" von Subjektivität, indem es sich in nichtzufälliger Weise dem Austausch seiner Zustände durch die Volition des Experimentators gegenüber „absetzt" (und so „teilweise... die logische Struktur der Transjunktion" aufweist), jedoch „diffundiert und verteilt sich" dieser dritte Wert „über einen Bereich von unbestimmtem Charakter" 1 9 — in der experimentellen Situation entspricht dies der weitgehenden Manipulierbarkeit des Systems über die Randbedingungen, in der theoretischen Darstellung der extremen Sensibilität des Systems gegenüber Veränderungen dieser Randbedingungen 20 . 16

Günther I (FN 8), S. 249-328. Günther I (FN 8), S. 288. 18 Günther I (FN 8), S. 320. 19 Günther I (FN 8), S. 316. 20 Prigogine (FN 1), S. 117; H. Haken, Synergetik. Eine Einführung. Berlin, Heidelberg 1983, S. 211; M. Eigen/R. Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall. München 1975, S. 119, 197. 17

38

Axel Ziemke

Deutlicher wird dieser Sachverhalt durch einen Blick auf die grundsätzliche Struktur einer dreiwertigen Logik: Das System einer dreiwertigen Logik ist, wie bereits angedeutet, darstellbar als Stellenwertsystem von drei zweiwertigen Logiken, die durch die einfachen Negationsoperatoren N { und N 2 sowie die zusammengesetzten Negationsoperatoren N U2, N 2A u n d N lm2A (^2.1.2) generiert werden (Abb. 5). Jede dieser zweiwertigen Logiken unterliegt also dem Tertium Non Datur.

1

N2

1 2

2 1

1

2

3

3

3 2

3 1

N

N

2 . 1 »1.2 3 1 2

N

1.2.1/N2.1.2 3 2 1

Abb. 5: Negationstafel einer dreiwertigen Logik

In seinen späteren Arbeiten führt Günther den Begriff der „logischen Kontextur" zur Kennzeichnung dieser Subsysteme ein, der über das übliche Tertium Non Datur dadurch hinausgeht, „daß die Alternative von Affirmation und Negation so universal sein muß, daß sie durch keinen höheren Bestimmungsgesichtspunkt von Positivität und Negativität in der denkenden Reflexion überboten werden kann". Dem „zweiwertigen Strukturbereich" ist so „durch seine Zweiwertigkeit eine strukturelle Schranke gesetzt" 21 . Universal ist dieses Tertium Non Datur aber nur dann, wenn es einer vom System selbst bestimmten Unterscheidung von System und Umgebung entspricht, die der Beobachter nachvollzieht, nicht aber seiner willkürlichen Bestimmung unterliegt. Eine solche „universale" Unterscheidung findet sich aber in den physikalischen Systemen nicht, die Haken und Prigogine beschreiben. Die Grenze des Systems ist experimentell wie theoretisch vom Beobachter, also „durch einen höheren Bestimmungsgesichtspunkt" gegeben. Die Grenze, wie die Randbedingungen des Systems überhaupt, sind nicht vom System selbst bestimmt. A u f die hiermit verbundenen einzeltheoretischen bzw. empirischen Schwierigkeiten wurde bereits an anderer Stelle aufmerksam gemacht 22 .

21

Günther I I (FN 8), S. 187 f. Ziemke / Stöber (FN4); detaillierter: A. Ziemke, System und Subjekt. Biosystemforschung und Radikaler Konstruktivismus im Lichte der Hegeischen Logik. Braunschweig, Wiesbaden 1991 (in Vorbereitung). 22

Selbstorganisation und transklassische Logik

39

Die physikalische Systembeschreibung ist somit „monokontextural" im Sinne einer unreflektierten Einbeziehung des Beobachters. Jene offensichtliche „Diskontexturalität" von Welt und Geist, Ich und Du, Subjekt und Objekt, System und Umgebung etc. als Grundlage unserer Subjektivität begegnet uns noch immer nicht im Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung. 5. Die Auflösung des Widerspruchs:

Autopoiese

Die fundamentale Rolle der „Grenze" in der logischen Analyse von Subjektivität erinnert natürlich sofort an den Begriff des „topologischen Bereiches" bei H. Maturana oder des „autonomen Randes" bei G. Roth. Und tatsächlich lassen sich enge Verbindungen zwischen dem Begriff der „geschlossenen logischen Kontextur" und dem der „operationalen" oder „organisationalen Geschlossenheit" in den Arbeiten von H. v. Förster 23 und F. Varela 24 zeigen. Dieser Umstand ist freilich nicht verwunderlich, war doch G. Günther über Jahre Mitarbeiter von H. v. Förster und H. Maturana am Biological Computer Laboratory Urbana. So definiert H. Maturana: „Autopoietische Maschinen sind homöostatische Maschinen . . . , die als ein Netzwerk von Prozessen der Produktion (Transformation und Destruktion) von Bestandteilen organisiert (als Einheit definiert) sind, das die Bestandteile erzeugt, welche (1) auf Grund ihrer Interaktionen und Transformationen kontinuierlich eben dieses Netzwerk von Prozessen (Relationen), das sie erzeugte, neu generieren und verwirklichen und die (2) dieses Netzwerk (die Maschine) als eine konkrete Einheit in dem Raum, in dem diese Bestandteile existieren, konstituieren, indem sie den topologischen Bereich seiner Verwirklichung als Netzwerk bestimmen" 25 .

I m Gegensatz zu den bisher diskutierten physikalischen Systemen, die lediglich vom Beobachter nach übergeordneten Bestimmungsgesichtspunkten von ihrer Umgebung abgegrenzt werden, ist die vom System selbst vollzogene Abgrenzung gegen das Medium (die Bestimmung des topologischen Bereiches, die Konstitution als Einheit) der „universale" Bestimmungsgesichtspunkt für den Beobachter. Das System weist die für den Übergang zu einer transklassischen Sichtweise notwendige (aber nicht hinreichende) „strukturelle Schranke" auf. In dieser (transjunktiven) Abhebung gegen das Medium ist das System „subjektiv". Jene logische Abgeschlossenheit entspricht der „funktionellen Autonomie" 2 6 der Einheit, die besonders 23 Η. v. Förster, Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig, Wiesbaden 1985, S. 207 ff. 24 F. Varela , Principles of Biological Autonomy. New York, Oxford 1979, S. 55 ff. 25 H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden 1982, S. 184 f. 26 Günther I I (FN 8), S. 192.

40

Axel Ziemke

von Varela 27 als fundamentale Eigenschaft lebender Systeme herausgestellt wird. Es ist nun entscheidend zu sehen, daß jene „logische Geschlossenheit" bzw. „operationale Geschlossenheit" keinesfalls Indifferenz gegenüber dem Medium bedeutet. So wie sich in einem operational geschlossenen System die Operationen dieses Systems ausschließlich auf andere Operationen eben dieses Systems beziehen, „endet" in der zweiwertigen Beschreibung jede logische Operation in der Kontextur, in der sie „entspringt". So wie alle Zustände des autopoietischen Systems durch seine Autopoiese, alle Zustände des Nervensystems durch dessen rekursiven und zyklischen Selbstbezug spezifiziert sind, so führen jene klassischen Operationen immer nur zu Akzeptanzwerten. Das ändert sich jedoch sofort, wenn wir die Beschreibung in einer dreiwertigen Logik vornehmen: Der dritte Wert designiert nicht nur die Abgrenzung von System und Medium, sondern ebenso ihre Vermittlung. Die zur Erzeugung einer dreiwertigen „Verbundkontextur" erforderliche Vermittlung von drei „Elementarkontexturen" zu einem Stellenwertsystem entspricht der „strukturellen Kopplung" von System und Medium über den (beobachterrelativen) Interaktionsbereich (Abb. 6). Lebende Systeme bestimmen nicht nur ihre Grenze, sondern über diese Grenze auch, welche Interaktionen das System mit seinem Medium eingehen kann, d. h. welche Komponenten „an" die Grenze und „in" das System gelangen. A u f diese Weise bestimmt das autopoietische System im Gegensatz zu physikalischen selbstorganisierenden Systemen seine Randbedingungen selbst: „Ein lebendes System setzt die Randbedingungen, die spezifizieren, was dem System zustößt und was dem System nicht zustößt" 28 . A n anderer Stelle setzt sich Varela explizit gegen die Arbeiten von Nicolis und Prigogine ab: „Eine dissipative Struktur entspricht einer komplementären Sicht der Einheit; sie faßt die Einheit als eine offene oder allopoietische Einheit, die durch die Flüsse durch den Rand charakterisiert ist" 2 9 . Über transjunktionale Operationen läßt sich entsprechend nicht nur das rejektive Absetzen des Systems gegen das Medium beschreiben, sondern auch die das System an das Medium koppelnde „Perturbation". In dieser Interpretation erscheint der Rejektionswert in der das System designierenden Kontextur als eine sehr spezifische Form der „Abbildung" des Mediums in das System: So wie wir die dreiwertige Verbundkontextur nur als Stellenwertsystem von drei Elementarkontexturen denken können, 27

Varela (FN 24); F. Varela, Autonomie und Autopoiese, in: S. J. Schmidt, Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M. 1987, S. 119-132. 28 Varela (FN 24), S. 67. 29 Varela (FN 24), S. 204.

41

Selbstorganisation und transklassische Logik

1

1

1

2

1

3

2

1

2

2

2

3

3

1

3

2

3

3

X

Ζ

y

y

ζ

ζ

M

S

I

Abb. 6: Darstellung einer dreiwertigen Logik als Stellenwertsystem von drei zweiwertigen Logiken zur Beschreibung der strukturellen Kopplung von System (S) und Medium (M) über einen Interaktionsbereich (I)

so lassen sich die als Transjunktionen beschreibbaren Perturbationen nur als Störung des Beschreibungszusammenhangs des Systems unmittelbar beobachten bzw. experimentell erzeugen, die mit einer Destabilisierung der Homöostase des Systems korrespondiert. Die Stabilisierung des Systems entspricht somit seiner kosistent-zweiwertigen, also von Rejektionswerten freien Beschreibung als Elementarkontextur in der in Abb. 6 gezeigten Verbundkontextur. Die als dreiwertige Verbundkontextur von drei Elementarkontexturen beschreibbare strukturelle Kopplung von System und Medium über den Interaktionsbereich läßt sich also über als Transjunktion beschreibbare Perturbationen generieren 30 . 30 Ein Versuch zur Anwendung der Güntherschen Logik als Analysesprache auf die Theorie Maturanas findet sich in: A. Ziemke, Biologie der Kognition und transklassische Logik. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion 45 (1991).

42

Axel Ziemke

Fassen wir also mit Günther transjunktionale Operationen als logisches Kriterium für die Subjektivität lebender Organismen, so sind autopoietische Systeme genau darum subjektiv, weil sie sich in ihrer Verwirklichung als Einheit gegen die (logisch zweiwertig beschreibbare) Determination durch ihre Randbedingungen absetzen, indem sie sich über die (logisch dreiwertig beschreibbaren) Perturbationen strukturell an ihr Medium koppeln. In der elementaren Form des autopoietischen Systems begegnen wir dem Phänomen der Subjektivität nun auch im Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung. Der im Abschnitt 3 formulierte Widerspruch ist zumindest auf einer abstrakten Ebene aufgelöst. Insbesondere können wir nun die für die Explikation der neuen Forschungslogik in der physikalischen Selbstorganisationsforschung fundamentale Proemialrelation in diesem biologischen Systemkonzept anwenden: Sowohl das autopoietische als auch das Nervensystem sind, wenn wir Maturana folgen, konsequent volitiv zu interpretieren, indem die Zustände der Autopoiese des Systems bzw. Zustände relativer neuronaler Aktivität des Nervensystems als Relata die topologische Grenze bzw. stabile sensorischmotorische Koordinationen als Rektoren über das Medium erzeugen. Wir können nun aber über die Proemialrelation diese volitive Situation in eine kognitive transformieren, indem wir den Umtausch der Zustände des Systems als Relata in Relatoren über das System vollziehen, die in ihrer Erzeugung durch die Relata des vom Beobachter definierten Interaktionsbereiches beschrieben werden können. Der Preis für die Überwindung dieses Widerspruches ist jedoch hoch: Unser Bewußtsein wie unser praktisches Handeln unterliegt einer fundamentalen Zweiwertigkeit. Experimentell wie mit den vorhandenen mathematischen Methoden können wir lediglich „zweiwertig operieren". Der Weg, den uns Günthers Logik eröffnet, ist, daß wir von verschiedenen „ontologischen Orten" aus das gleiche Phänomen in unterschiedlichen Kontexturen untersuchen und mathematisch beschreiben, um anschließend die Vermittlung dieser Kontexturen zu einer Verbundkontextur zu zeigen — letzteres bleibt jedoch bislang der philosophisch-metatheoretischen Reflexion vorbehalten. Eben hier liegt wohl auch der „handgreifliche" Vorzug solcher mathematisierter Theorien, wie der von Prigogine und Haken vorgeschlagenen. Die Versuche zu einer Mathematisierung des Konzeptes der operationalen Geschlossenheit, wie sie von v. Förster und Varela vorliegen, müssen heute als gescheitert betrachtet werden 31 . Zu schnell erweisen sich die Versuche, innerhalb einer zweiwertig fundierten Mathematik eine „Pseudo-Mehrwer31

Varela (FN 27); J. Ditterich, Selbstreferentielle Modellierungen. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion 35 (1990), S. 138 ff.; R. Kaehr, Neue Tendenzen in der KIForschung, in: Gotthard Günther und die Folgen. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion 22 (1988), S. 38 f.

Selbstorganisation und transklassische Logik

43

tigkeit" zu erzeugen als ein „über den Umweg durch das Unendliche" zurechtgebrachter „spekulativer Trick" 3 2 .

I I I . Subjektivität und Zeit 6. Zufall und Zeit Für Prigogine besteht wohl der herausragende Erfolg seiner Arbeiten besonders in der Vermittlung der verschiedenen Zeitbegriffe von Dynamik, Thermodynamik und Biologie bzw. Soziologie. Dies gelingt ihm durch die Einführung der Begrifflichkeit einer „zweiten Zeit": „ Z u den interessantesten dieser neuen Begriffe gehören der mikroskopische Entropieoperator M und die Operatorzeit T. Wir haben es hier mit einer zweiten Zeit zu tun, einer inneren Zeit, die ganz verschieden ist von der Zeit, welche in der klassischen oder Quantenmechanik nur als Index von Trajektorien oder Wellenfunktionen vorkommt" 3 3 . Daß diese „zweite Zeit" in der Physik wiederum eine revolutionierende Rolle zu spielen in der Lage ist, soll hier in keinem Moment bezweifelt werden. In Frage gestellt werden soll lediglich, ob jene „zweite Zeit" bereits die Zeit der Geschichte in Biologie und Soziologie ist oder ob es hier nicht vielleicht einer „dritten Zeit" bedarf. Prigogine selbst legt dies nahe, wenn er die UnUnterscheidbarkeit quasi des „Richtungssinnes" der monotonen Abnahme der Ljapunow-Funktion mit der Zeit in Richtung Zukunft oder Vergangenheit mit den Worten begründet: „Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist so etwas wie ein ,ursprünglicher Begriff, der in einem gewissen Sinne der wissenschaftlichen Aktivität vorausgeht. Er kann allein der Erfahrung entstammen" 34 . Die Annahme einer „dritten Zeit" von Biologie und Sozialwissenschaften sei durch die gleiche grundlegende Unterscheidung fundiert, wie schon die Argumentation im ersten Teil: Auch der Zeitbegriff Prigogines wurzelt letztlich im Zufall: „ I n der Irreversibilität manifestiert sich auf makroskopischem Niveau die ,Zufälligkeit' auf mikroskopischem Niveau" 3 5 . Die historische Zeit hingegen ist wesentlich subjektiv. Das bedeutet nicht, sie wäre „individuell beliebig" oder „reines Bewußtseinsphänomen" oder auch „reine Form der sinnlichen Anschauung", sondern sie vollzieht sich in subjektiver 32 U. Oberheber, Spiel der Ordnungen. Einführung in die Philosophie Gotthard Günthers. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion 33 (1990), S. 27. 33 Prigogine (FN 1), S. 217. 34 Prigogine { FN 1), S. 221. 35 Prigogine (FN 1), S. 186.

44

Axel Ziemke

Aktivität, über systemische Tätigkeit, als Entwicklungszusammenhang komplex vermittelter geschlossener logischer Kontexturen.

7. Bifurkation,

Emanation, Evolution

Wiederum mag das Phänomen der Bifurkationskaskade als Illustration dienen. Prigogine bemerkt hierzu: „Interessant ist, daß die Verzweigungen gewissermaßen Geschichte in die Physik einführen" 36 . Er sieht hierin ein „historisches Element", das sich bislang nur in Biologie und Sozialwissenschaften nachweisen ließ. Verändert man etwa in Abb. la den Parameter Ρ über die Zeit und erhält bei Parameter den Wert x 3 , so setzt dieser Zustand eine bestimmte „Geschichte" der Bifurkationen bei den kritischen Parametern Pç und P c" voraus. Ein „Systemgedächtnis" kann als das Faktum interpretiert werden, daß das System bei Abnahme des Parameters unter bestimmten Bedingungen wieder die Zustände in umgekehrter Reihenfolge durchläuft, die es bei seiner Zunahme durchlaufen hatte. Aus der Philosophiegeschichte kennen wir demgegenüber zwei fundamentale Entwicklungsprinzipien als Interpretationen von Zeitlichkeit: das wesentlich mit dem Namen Heraklits verbundene „evolutive" Verständnis eines ewig fließenden Werdens und das bei Empedokles am deutlichsten hervortretende „emanative" Verständnis der Entfaltung von immer schon vorhandenen Tendenzen eines ewigen Seins 37 . Logisch stellt dieses Problem nun die Frage dar, ob das Sein als letzter Bestimmungsgesichtspunkt einer Universalkontextur gelten kann, dem die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft untergeordnet ist (Abb. 7a 3 8 ), oder ob die Zeit ein logisch „höherer" Bestimmungsgesichtspunkt als das Sein ist, so daß dem Tertium Non Datur in seiner Geltung für die Vergangenheit die Zukunft als „Drittes" gegenübergestellt werden muß (Abb. 7 b 3 9 ). Affirmation

(1)

vergangen ( 1 )

zukünft i g (2)

zukünft i g (2)

vergangen ( 1 )

Negation (2)

vergangen

Negation

vergangen ( 1 ) zukünft i g (2)

(2)

vergangen ( 1 ) (1)

Abb. 7 a: Emanatives Zeitverständnis 36

negativ (2)

negativ (2)

affirmat i v (1)

zukünft i g (2)

Affirmation

37

(1/2)

affirmat i v (1)

Prigogine (FN l), S. 120. Vgl. Günther I I I (FN 8), S. 97 f.

zukünftig

(3)

zukünftig

(3)

affirmat i v (1)

negativ (2)

negativ (2)

affirmat i v (1)

vergangen

(1/2)

Abb. 7 b: Evolutives Zeitverständnis

Selbstorganisation und transklassische Logik

45

Welchem jener beiden Entwicklungsprinzipien haben wir nun Prigogines „zweite Zeit" zuzuordnen? Sein philosophisches Motto „Vom Sein zum Werden" würde natürlich das evolutive Verständnis verlangen. Demgegenüber können wir jene mangelnde Voraussagbarkeit der Zukunft eines Systems seiner Logik des Gegenstandes folgend keineswegs mit einem „transklassischen" dritten Wert, wie in Abb. 7 b belegen, sondern hätten eine intraklassische mehrwertige (stochastische) Logik anzuwenden. Darüber hinaus hätten wir auch zu beachten, daß das „emanative" Zeitverständnis ebenfalls nur wenig mit der Zeit der klassischen oder Quantenmechanik zu schaffen hat. U m zu entscheiden, ob jenes Prigoginesche „Werden" tatsächlich die Zeit von biologischer und sozialer Evolution ausmacht, benötigen wir auch hier konkrete formale Kriterien, die auf ihren Sinngehalt am theoretischen Material der entsprechenden Wissenschaften zu überprüfen wären. Hierzu soll wiederum die Differenzierung zwischen Evolution und Emanation dienen, die G. Günther auf der Grundlage seiner transklassischen Logik vorschlägt (Abb. 8 4 0 ). Protoatruktur

D«ut eroetruktur

Tritostruktur

( Morph ogr ai

>)

Wort·

0

0

0

1

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ο 0 0 χ

0 0 0 χ

1 1 2 2 ~2 12 1 2 "

O 0 ο Ο 0 χ 0 X •

0 0 0 ο 0 χ 0 χ +

0 0 0 χ 0 0 ο χ 0 χ 0 χ 0 0 +

ι ... 1

• 0 • ο· • χ + 0 · χ 0 χ • -

0 0 0 0

0 0 0 χ

0 0 ο 0 ο ο ο 0 • χ • 0 0 χ + χ + — • χ • —

ο 0 0 0 0

0 ο ο ο 0 0 0 • 0 0 χ 0 χ χ χ χ χ • +

• ·



0 ο χ χ

0 0 0 χ χ +

0 ο ο 0

+ -

ο ο 0 χ χ + + — -



0 ο 0 0 0

0 0 0 χ

0 0 χ 0

0 χ 0 0

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Abb. 8: Kenogrammatische Strukturen zur Differenzierung von evolutivem und emanativem Zeitverständnis

Neben den Wertbesetzungen wurden in Abschnitt 4 bereits die Morphogramme als Elemente der „Tritostruktur" eingeführt. Die Proto- und Deuterostruktur stellen weitere Abstraktionen jener Tritostruktur dar, indem bei letzterer auf das Ordnungskriterium der verschiedenen Plazierbarkeit individueller Kenogramme im Morphogramm und bei ersterer zusätzlich auf deren unterschiedliche Anzahl verzichtet wurde. Neben diesen Differenzie38 39 40

Günther I I I (FN 8), S. 99. Günther I I I (FN 8), S. 101. Günther I I I (FN 8), S. 97 f.

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Axel Ziemke

rungen in horizontaler Richtung verändert sich in vertikaler Richtung die Anzahl der Stellen im Morphogramm, so daß das System mit jeder Zeile eine Stelle für ein zusätzliches Kenogramm und somit in der Wertestruktur für einen zusätzlichen Wert gewinnt. G. Günther identifiziert nun die (horizontalen) Zusammenhänge zwischen der kenogrammatischen Proto-, Deutero- und Tritostruktur mit dem emanativen Zeitverständnis als Ausdifferenzierung der in Form der Stellenzahl festgelegten strukturellen Möglichkeiten und die (vertikale) Zunahme dieser Stellenzahl selbst als Zunahme logischer Komplexität mit dem evolutiven Zeitverständnis. Er selbst führt diese Interpretation in einem geschichtsphilosophischen Kontext aus. Nun lassen sich durchaus, wenn auch in einem noch recht metaphorischen Sinne, gewisse Parallelen zwischen jenem von G. Günther dem emanativen Prinzip zugeordneten Formalismus und Prigogines Bifurkationskaskade herstellen. Zu nennen wäre hier zunächst die wesentliche Eigenschaft einer platonischen Hierarchie, die beide gemeinsam haben: Geht man mit Prigogine davon aus, daß „eine Verzweigung (Bifurkation) nichts anderes als das Auftreten einer neuen Lösung der Gleichungen bei einem kritischen Wert" 4 1 ist, so findet man auch bei den Übergängen von Proto- zu Deutero- und Deutero- zu Tritostruktur neue kenogrammatische Strukturen als Spalten im ersten und individuelle Morphogramme im zweiten Falle. Dem Systemgedächtnis als Möglichkeit der Rückverfolgung der Zustände des Systems entspricht hier die eindeutige genetische Zuordnung der Morphogramme zu bestimmten Spalten der Deutero- und letztlich Protostruktur. Dieses Moment ist von besonderer Bedeutung, weil es in der vertikalen Entwicklung gerade nicht auftritt (vgl. 8). Über diese Eigenschaften der Platonischen Hierarchie hinaus kann auch die Neuartigkeit der Prigogineschen „zweiten Zeit" angedeutete werden: Die zufällige Entscheidung für je einen der „Äste" läßt sich durch den Übergang von den kenogrammatischen zu den Wertstrukturen veranschaulichen — jene Werte müßten allerdings wieder stochastisch, also im Sinne einer intraklassischen Mehrwertigkeit, interpretiert werden. So wie dieses selbstorganisierende Verhalten mit einer hinreichenden physikalischen Komplexität des Systems verbunden ist, so finden sich „emanative" Unterschiede zwischen den kenogrammatischen Strukturen erst bei hinreichender logischer Komplexität, d. h. Anzahl von Stellen der kenogrammatischen Strukturen. Als dem Zeitoperator vergleichbares logisches Element, welches jene emanative Zeit generiert, kann die „Wiederholung" betrachtet werden: Während in der Protostruktur lediglich ein Kenogramm wiederholt werden darf, so gilt dies in der Deuterostruktur für jedes; während in der Deuterost41

Prigogine (FN 1), S. 118.

Selbstorganisation und transklassische Logik

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ruktur die Platzierung der Kenogramme keine Rolle spielt, so dürfen in der Tritostruktur die gleichen Kombinationen von Kenogrammen bezüglich ihrer Platzierung wiederholt werden. Diese Analogien sind notwendigerweise sehr abstrakt, weil die entscheidenden quantitativen Momente des Prigogineschen Ansatzes, wie etwa die kritischen Parameterwerte, nicht logisch darstellbar sind. Mit um so größerer Sicherheit läßt sich jedoch feststellen, daß sich die wesentlichen Eigenschaften der vertikalen Entwicklung des Formalismus, die G. Günther mit dem „evolutiven" Zeitverständnis identifiziert, in Prigogines Ansatz nicht vorkommen. Es läßt sich auf seiner mathematischen Basis nicht zeigen, wie ein Zuwachs logischer Komplexität entsteht, der mit der Zunahme der Anzahl möglicher Kenogramme und somit letztlich logischer Werte vergleichbar ist. Der Zuwachs an Stellen in vertikaler Richtung, der mit der Zunahme physikalischer Komplexität identifiziert werden kann, zeugt somit logisch betrachtet nichts „Neues", sondern verändert lediglich die Ausgangsbedingungen der ewig gleichen Emanationen. Sollte es uns gelingen, diese mit dem evolutiven Zeitverständnis verknüpfte vertikale Entwicklung als Zuwachs an Kontexturen im Vermittlungszusammenhang als wesentliches Moment biologischer Entwicklungsprozesse herauszustellen, so wäre die Zeit in Biologie und Geschichte nicht auf jene zweite physikalische Zeit Prigogines zu reduzieren. Der Widerspruch zwischen epistemologischem Anspruch und theoretischer Tragfähigkeit, der im 3. Abschnitt formuliert und mit den Worten Prigogines im 6. Abschnitt auch für das Zeitproblem nahegelegt wurde, würde dann auch in diesem Zusammenhang explizierbar sein: Theoretisch bewegen sich die Zeit des beobachteten und die des beobachtenden Systems (trotz verschiedener Zeitoperatoren) in einer logischen Kontextur. Epistemologisch verlangt jedoch die Zuschreibung eines Richtungssinnes der Systemzeit die Diskontexturalität beider Systeme und somit Systemzeiten.

8. Evolution und Polykontexturalität Auch im Falle des Problems der Zeit scheint H. Hakens Ansatz der spekulativen Betrachtung eine Lösung zu eröffnen. Jeder Verzweigungspunkt ist durch das Generieren neuer Ordnungsparameter als systemimmanenter Referenzzentren im Wechselspiel von Selektion und Versklavung mit einer Zunahme logischer Komplexität verbunden. Andererseits wird jedoch die Reduktion jener „Dreiwertigkeit" durch deren „Diffusion und Verteilung" im Entwicklungskontext besonders deutlich — mit jeder Versklavung des Systems durch neue Ordnungsparameter verschwinden die bisherigen Ordnungsparameter oder sie werden den neuen vollkommen unter- oder

48

Axel Ziemke

unvermittelt nebengeordnet. Die Zunahme logischer Komplexität wird also immer wieder durch deren Reduktion im Ergebnis des Gesamtprozesses kompensiert. Diese mangelnde Autonomie der versklavten Parameter auf Grund fehlender struktureller Schranken verhindert eben jenes Zusammenspiel zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, das für den lebenden Organismus so kennzeichnend ist und von Hegel treffend beschrieben wurde als der „Trieb jedes einzelnen spezifischen Moments, sich zu produzieren und ebenso seine Besonderheit zur Allgemeinheit zu erheben, die anderen ihm äußerlichen aufzuheben, sich auf ihre Kosten hervorzubringen, aber ebensosehr sich selbst aufzuheben und sich zum Mittel für die anderen zu machen" 42 . Offensichtlich verlangt auch im Entwicklungskontext die Kennzeichnung der Spezifik des Lebendigen das Generieren höherwertiger logischer Systeme durch das Auftreten „logischer Grenzen" bzw. „struktureller Schranken", die die funktionelle Autonomie der Elementarkontexturen in der Verbundkontextur gewährleisten. Doch auch Maturanas Theorie der Autopoiese stellt hier nur einen ersten Schritt dar. G. Günthers Polykontexturalitätstheorie vermag nun zu zeigen, wie jenes erste Tertium Non Datur der vom Organismus selbst getroffenen Innen-/Außenunterscheidung mit jeder neuen Stufe der „evolutiven Zeit" in Abb. 8 immer weiter in das System vermittelt wird. Jede Besetzungsmöglichkeit mit einem weiteren logischen Wert erlaubt eine neue Innen-/Außenunterscheidung. Wie im Falle des autopoietischen Systems die Definition des topologischen Bereiches über so etwas wie einen „autonomen Rand" jene Elementarkontextur mit ihrer strukturellen Schranke realisiert, so entspricht jene Polykontexturalität des Lebendigen der funktionalen Kompartimentierung lebender Systeme als fundamentalem biologischen Prinzip. Bereits auf zellulärem Niveau treten solche Kompartimente phylogenetisch spätestens im Falle der Eukaryonten in Form intrazellulärer Membransysteme wie dem endoplasmatischen Retikulum, dem Golgiapparat und dem Zellkern oder in Form endosymbiontisch entstandener semiautonomer Zellorganellen wie den Mitochondrien oder Chloroplasten auf. Die phylogenetische Herausbildung der Mehrzelligkeit, die Maturana mit dem Begriff des autopoietischen Systems zweiter Ordnung faßt, stellt eine neue Stufe transkontexturaler Vermittlung dar, die ebenfalls durch die Etablierung immer neuer Innen-/Außenunterscheidungen zu semiautonomen Teilsystemen auf verschiedenen Organisationsstufen führt. In der Ontogenese läßt sich dieses evolutive Entwicklungsprinzip etwa in den frühen Embryogenesestadien sehr eindrucksvoll demonstrieren 43 . 42 43

Hegel (FN 15), S. 269. Ziemke (FN 30), S. 50 ff.

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In jedem Falle heben die für die Kompartimentierungen entscheidenden biologischen Grenzen die Kompartimente nicht nur voneinander ab, sondern vermitteln sie ebenso miteinander durch ihre vielfältigen funktionellen Leistungen wie Transportprozesse, Bindung verschiedener Stoffklassen, elektrochemische Aktivitäten, Reizbarkeit und Bewegung etc. Die aufgebaute Diskontexturalität der Elementarkontexturen wird also in jedem Falle transkontextural vermittelt (vgl. 5.). Sowohl Phylo- als auch Ontogenese lebender Organismen lassen sich also über eine solche Zunahme logischer Komplexität zu immer höherwertigen transkontexturalen Vermittlungen beschreiben, die dem evolutiven Zeitprinzip der Güntherschen Kenogrammatik entspricht und der „emanativen" Entwicklung etwa der Bifurkationskaskade völlig verschlossen bleibt. Sowohl von der annähernd als Elementarkontextur beschreibbaren prokaryontischen Zelle als auch von der als Vermittlung einer überschaubaren Anzahl von Kontexturen beschreibbaren menschlichen Zygote führt die Entwicklung hin zu der „enormen Diskontexturalität" des menschlichen Körpers als hochkomplexe Vermittlung einer „superastronomischen" Anzahl von Kontexturen 4 4 . Diese essentiellen Unterschiede zwischen emanativer und evolutiver Selbstorganisation bedingen selbstverständlich tiefgreifende Unterschiede in der Entwicklungsdynamik, die sich formal illustrieren lassen, indem wir die platonische Hierarchie (Abb. 9a), die phänomenal betrachtet Eigenschaften der Bifurkationskaskade widerspiegelt, mit einer „transklassischen Hierarchie" vergleichen, die sich aus der Evolution der Protostruktur der Güntherschen Logik ergibt (Abb. 9 b 4 5 ): Während die Platonische Hierarchie gerade in dem von Prigogine betonten Sinne „historisch" ist, daß sich der Entwicklungsgang des Systems eindeutig bis zum Ursprung der Pyramide zurückverfolgen läßt, besteht die Historizität der evolutiven Hierarchie ganz im Gegenteil darin, daß jede Alternative immer wieder in sich zurückvermittelt ist. Diese Rückvermittlung beruht auf der Kombination zweier Erweiterungsprinzipien — der „Iteration" als Hinzusetzen des ursprünglichen Kenogramms und der „Akkretion" als Hinzusetzen eines neuen. So kann beispielsweise die Sequenz „oox" einmal durch Iteration von „ox", aber auch durch Akkretion von „oo" erhalten werden. Die Platonische Hierarchie scheint so fest in unsere Denktradition eingeprägt, daß wir permanent geneigt sind, die fundamentale Rückvermittlung 44 Günther I I (FN 8), S. 304 f. — entscheidend für die Relevanz der Güntherschen Logik für biologische Modellierungen ist allerdings, daß dies keine „superastronomisch-wertige" Logik erfordert. Entsprechend der jeweiligen Problemstellung müssen die Elementarkontexturen nach den relevanten Innen-/Außenunterscheidungen so bestimmt werden, daß die Modellierung in einer überschaubaren Verbundkontextur erfolgen kann. 45 Günther I I (FN 8), S. 294 f.

4 Selbstorganisation, Bd. 2

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(nicht Rückkopplung!) biologischer Hierarchien in systemischer wie historischer Hinsicht zu übersehen. Verstärkt wird jene Tendenz durch die Möglichkeit, bestimmte Momente polykontexturaler Hierarchien durch die Monokontexturalität Platonischer Hierarchien anzunähern 46 .

Abb. 9 a: „Transklassische Hierarchie zur Differenzierung von evolutivem und emanativem Zeitverständnis

Abb. 9 b: Platonische Hierarchie

Jene Verwechslung geht immerhin soweit, daß etwa B. O. Küppers das Bohrsche Komplementaritätsprinzip von physikalischer und biologischer Beschreibung des Lebendigen mit dem Verweis ablehnt, organismische Selbstreproduktionsprozesse wären „lediglich die makroskopische Äußerung von Phänomenen . . . , die bereits auf der mikroskopischen Ebene der biologischen Makromoleküle auftreten" 47 . Tatsächlich lassen sich nun Selbstreproduktionsprozesse auf molekularer Ebene einschließlich der involvierten mutativen Veränderungen (unter Abstraktion von den relativ unwahrscheinlichen Rückmutationen) durcn Platonische Hierarchien darstellen. Dies ist allerdings für Rekombinationsprozesse auf der Ebene des Chromosoms oder des Genoms nicht mehr möglich. Die der transklassischen Hierarchie entsprechenden Rückvermittlungen treten spätestens durch das Phänomen der Sexualität auf, dessen ungeheure funktionale Bedeutung allein daran zu ermessen ist, daß es keine Lebewesen gibt, die nicht wenigstens gelegentlich Vorformen von Sexualität aufweisen. Logisch läßt sich dies so fundieren, daß das genetische Material in seiner mutativen Veränderung in immer wieder andere Kontexturen bzw. deren 46

Günther I I (FN 8), S. 300 f. Β. Ο. Küppers, Inwieweit lassen sich die Lebenserscheinungen physikalisch-chemisch erklären?, in: ders., Leben = Physik + Chemie? München, Zürich 1990, S. 22. 47

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Vermittlungszusammenhänge gebracht wird. Wie ein transklassisches logisches System die gleiche Logik auf verschiedenen logischen Stellen anwendet, so taucht auch das relativ gleiche genetische Material im Evolutionsprozeß an immer wieder anderen „ontologischen Stellen" (verschiedene Organismen, verschiedene Stellen im Genom etc.) auf. Die Evolutionsdynamik wird so durch alles andere bestimmt als Prigogines „historisches Element" einer eindeutigen Rückführbarkeit im Sinne einer Platonischen Hierarchie. Freilich verbirgt die Haeckelsche Stammbaumsicht der Makroevolution dieses dynamische Moment genauso, wie die molekulare Mutationsgeschichte. Auch in der Ontogenese des lebenden Organismus sind die biologischen Differenzierungsprozesse alles andere als die Entfaltung einer PlatonischPrigogineschen Bifurkationskaskade 48 . Auch hier entfaltet das identische genetische Material seine „Logik" an verschiedenen „ontologischen Orten" im sich entwickelnden Lebewesen und produziert so den Organismus als eine gigantische polykontexturale Vermittlung mit ständig steigender logischer Komplexität. 9. Physik und Biologie des Lebendigen Die vorliegende Arbeit sollte gezeigt haben, daß zwischen physikalischer Komplexität und Organisation des Lebendigen, zwischen „zweiter" physikalischer Zeit und Historizität des Lebendigen, kurz zwischen physikalischer und biologischer Selbstorganisation, fundamentale logische Differenzen bestehen — die Logik der Physik ist klassisch, die Logik der Biologie ist transklassisch. In der Trias von Komplexität, Zeit und Methode hat dies natürlich auch für letztere Konsequenzen, die Maturana hervorhebt, wenn er schreibt, „daß eine theoretische Biologie die Theorie der biologischen Erscheinungswelt ist und nicht die Anwendung physikalischer oder chemischer Vorstellungen auf die Analyse biologischer Phänomene, da diese zu einer völlig anderen Erscheinungswelt gehören" 49 . Wenn Prigogines Anspruch einer grundsätzlichen Neuorientierung von Wissenschaft auch am Erklärungsbedarf biologischer Phänomene scheitert, so ist ihm doch bezüglich des eingangs aufgeführten Zitats in der Hinsicht zuzustimmen, daß weitere Fortschritte der Wissenschaften ein neues Verständnis unserer Position als Beobachter erfordern, die diese mit den charakteristischen Merkmalen des Lebendigen in Verbindung bringt. Zu diesem 48

Vgl. L. Pohlmann / U. Niedersen, Dynamisches Verzweigungsverhalten bei Wachstums· und Evolutionsprozessen. Selbstorganisation 1 (1990), S. 71 ff. 49 Maturana ( FN 25), S. 216.

4*

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neuen Verständnis zählt zweifellos die bewußte Reflexion der Diskontexturalität des Gegenstandsbereiches von Wissenschaft und unseres Verhältnisses als Beobachter zu diesem Bereich. Wir leben nicht in einem Universum, sondern in einem Pluriversum — der Monismus der klassischen Wissenschaft bedarf der Ablösung durch den „Multilismus" 5 0 einer transklassischen Wissenschaft.

50 Diesen Terminus verwendet Maturana in: V. Riegas / C. Vetter, Interview mit Humberto Maturana, in: dies., Zur Biologie der Kognition. Frankfurt a.M. 1990, S. 67 f.

Selbstorganisation und die Dynamik von Gruppen — Die systemische Perspektive in der Sozialund Organisationspsychologie Von Ewald Johannes Brunner und Wolf gang Tschacher, Tübingen

Die Betrachtung sozialer Dynamik unter einer systemischen Perspektive hat in der Psychologie bereits eine gewisse Tradition. Insbesondere in der Klinischen Psychologie trug die Familien- bzw. Systemtherapie dazu bei, dem Systemcharakter von Interaktionssystemen gegenüber der herkömmlichen personenzentrierten Perspektive mehr Beachtung zu schenken. Die systemische Sichtweise hat sich in den vergangenen Jahren in zahlreichen Gebieten psychologischer Praxis bewährt, während jedoch die wissenschaftlich-empirische Fundierung unzureichend blieb 1 . In dieser Situation stellt der Ansatz der „psychologischen Synergetik" einen neuen Versuch dar, systemische Praxis und theoretische Analyse mit empirischen Zugangsweisen zu verbinden 2 . So wie gewisse Systeme, die in den Naturwissenschaften untersucht werden, die Fähigkeit zur Selbstorganisation, also zur spontanen Ordnungsbildung haben, so können wir auch im psychologischen und sozialwissenschaftlichen Bereich Phänomene der Selbstorganisation beobachten. Sozialpsychologische und organisationspsychologische Untersuchungsergebnisse erscheinen in einem ganz neuen Licht, wenn sie aus der Perspektive der Selbstorganisationsforschung betrachtet werden. Wenn wir in den folgenden theoretischen und konzeptuellen Ausführungen den Selbstorganisationsansatz aus psycho-sozialer Perspektive auf soziale Gruppen und Organisationen anwenden wollen, ist klar, daß wir es bei Organisationen und den in ihnen aktiven Gruppen zunächst mit zweckorientierten Gebilden zu tun haben. Organisationen und Unternehmen verlassen sich nicht auf spontane Ordnungsbildung, sondern werden gegründet, um 1 H.-R Heekerens, Familientherapie bei Problemen von Kindern und Jugendlichen: Eine Sekundärevaluation der Effektivitätsstudien, in: System Familie, Forschung und Therapie 3 (1990), S. 1-10. 2 G. Schiepek, Systemtheorie der Klinische Psychologie, Wiesbaden 1991; Wolfgang Tschacher, Interaktion in selbstorganisierten Systemen (Grundlegung eines dynamischsynergetischen Forschungsprogramms in der Psychologie), Heidelberg 1990.

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Dienstleistungen oder Produkte rational zu erzeugen. Sie haben aber zugleich mit der Dynamik selbstorganisierender Systeme zu rechnen. Wie kann hier das Verhältnis zwischen Organisation und Selbstorganisation bestimmt werden? Wie kommen diese gegensätzlichen Dynamiken zusammen? Wir werden zunächst einen Blick auf einige sozialpsychologische Beobachtungen werfen und von dort zu organisationspsychologischen Fragestellungen weitergehen.

1. Systemische Betrachtung von sozialen Gruppen Der systemische Gedanke in der Gruppenpsychologie ist nicht neu. Aus sozialpsychologischer Warte ist längst bekannt und anerkannt, daß Gruppenprozesse anders verlaufen als Prozesse bei einzelnen Individuen. Schon in der Alltagssprache findet man entsprechende Hinweise, etwa wenn davon die Rede ist, daß eine Gruppe von Personen in „gespannter Atmosphäre" tage, daß „die Luft geladen sei", o.ä. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß es nicht die Aufsummierung einzelner individueller Charakteristika ist, die hier wirkt, daß vielmehr gruppenspezifische Prozesse auf höherem Emergenzniveau ablaufen. Phänomene auf diesem übergeordneten Systemniveau sind gleich mehrfach in der Sozialpsychologie beschrieben worden. So besagt eine empirische Beobachtung, daß mit zunehmender Kontaktdichte der Gruppenmitglieder die Gruppenkohärenz ebenfalls zunimmt. Ein anderes gruppendynamisches Gesetz besagt, daß sich beim Prozeß einer Gruppenbildung relativ stabile Gruppenrollen herausbilden, die das Gruppenleben bestimmen. Z. B. scheinen größere Arbeitsgruppen ein Führungsdual in Form eines „Tüchtigkeitsführers" und eines „Beliebtheitsführers" (und häufig zusätzlich einen Sündenbock) aufzubauen 3 . Verschiedene Aspekte der Herausbildung von Gruppenregeln bis hin zum „Group T h i n k " 4 sind Gegenstand sozialpsychologischer Forschung. Hierunter fallen die in Organisationen stets zu beobachtenden spontanen Gruppenbildungen, die als informelle Gruppen oder „Cliquen" quer zu den vorgegebenen Strukturen entstehen. Meist wird diese sich selbst organisierende Dynamik in zielgerichtet organisierten Gebilden (eben den „Organisationen") als störend und dysfunktional eingestuft — Selbstorganisation gilt als Fehlorganisation, da man nicht erwartet, daß sie die Organisationsziele erreichen hilft. 3 K. Lukasczyk, Zur Theorie der Führer-Rolle, in: Psychologische Rundschau 11 (1960), S. 179-188. 4 J. L. Janis , Victims of Group Think (A Psychological Study of Foreign Policy Decisions and Fiascoes), Boston 1972.

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Solche Beobachtungen einer spontanen Systemdynamik werden von Familientherapeuten bestätigt, die darauf hinweisen, daß sich jedes einzelne Familiensystem durch typische Interaktionsfolgen beschreiben läßt: „Es sind die starren, sich ewig wiederholenden Abfolgen, die pathologisch wirken" 5 . Unter den sich in Familien einstellenden Interaktionsmustern gelten besonders Triangulationen als potentiell dysfunktional, etwa wenn ein Kind in Konflikte des Elternpaares miteinbezogen wird 6 . Als therapeutische und systemisch-beratende Aufgabe gilt es, solche „psycho-social patterns", die als dynamische Attraktoren aufgefaßt werden können, zu identifizieren und zu modifizieren 7 .

2. Der Rahmen der Selbstorganisationstheorie Wenn im weiteren in der theoretischen Diskussion der Begriff der Selbstorganisation ins Zentrum rückt, so ist damit ein eingeführter terminus technicus bezeichnet, der nicht von vornherein einen Gegensatz zum in der Organisationspsychologie gebrauchten Organisationsbegriff darstellt. In populären Adaptationen der Selbstorganisations- und der Chaostheorie für den Bereich der Organisationslehre werden häufig alltagssprachliche Konnotationen zentraler Begriffe eingebracht, die zu voreiligen Folgerungen für die Managementpraxis verarbeitet werden. U m dem vorzubauen, soll zunächst ein kurzer Abriß der Selbstorganisationstheorie angeführt werden. Von Selbstorganisation eines Systems zu sprechen, macht nur dann Sinn, wenn dieses System aus sehr vielen einzelnen (Mikro-)Komponenten aufgebaut ist, die Bausteine von Struktur und Organisation sein können. Diese Komponenten stehen jeweils in Wechselwirkung zueinander. Grundlegende thermodynamische bzw. statistische Überlegungen lassen erwarten, daß etwa vorhandene Ordnungsstrukturen (Asymmetrien) auf dieser Mikroebene sich im Laufe der Zeit abschleifen; alle Entwicklung sollte insofern in Form einer Desorganisation 8 dem Entropiegradienten folgen. Aus diesem Szenario heraus ist es nun erklärungsbedürftig, weshalb es dennoch unter gewissen Bedingungen zur spontanen Bildung und Zunahme von Ordnung 5 J. Haley , Direktive Familientherapie (Strategien für die Lösung von Problemen), München 1977, S. 112. 6 Ewald Johannes Brunner, Grundfragen der Familientherapie (Systemische Theorie und Methodologie), Berlin 1986; S. Minuchin / B. Rosman / L. Baker, Psychosomatische Krankheiten in der Familie, Stuttgart 1981. 7 G. Schiepek / Wolfgang Tschacher , Synergetic Modeling in Clinical Psychology, in: Wolfgang Tschacher / G. Schiepek / Ewald Johannes Brunner (Hrsg.), Self-Organization and Clinical Psychology (Empirical Approaches to Synergetics in Psychology), Berlin 1991, in Vorb. 8 E. Jantsch , Die Selbstorganisation des Universums (Vom Urknall zum menschlichen Geist), München 1979.

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kommt. Solche Ordnungsphänomene sind in vielen Systemen, besonders der naturwissenschaftlichen Disziplinen, mittlerweile gut untersucht. Abstrakt gesprochen ist dabei die Herausbildung einer makroskopischen Ebene 9 bzw. von — verglichen mit den Korrelationen zwischen Mikrokomponenten — Korrelationen langer Reichweite erfolgt 10 . Welches sind nun die erwähnten Bedingungen, unter denen makroskopische, d. h. der unmittelbaren Beobachtung zugängliche Strukturen in Systemen spontan entstehen? — Selbstorganisierte Systeme haben sehr viele Komponenten. In den paradigmatischen Systemen, an denen Haken und Prigogine Selbstorganisation systematisch untersuchten, stellt die molekulare Feinstruktur der Materie diese Komplexität der Mikroebene bereit. Die Komponenten können aber selbst bereits komplexe Systeme sein, z. B. Nervenzellen des Gehirns oder menschliche Individuen. Hierbei ist zu sagen, daß der Komplexitätsbegriff soziologischer Selbstorganisationstheorien 11 und der Kybernetik nicht mit der von Haken verwendeten Fassung des Begriffs korrespondiert. In der Synergetik ist ein komplexes System ein System mit vielen Freiheitsgraden aufgrund der vielkomponentigen Mikroebene, gleichgültig wie „komplex" oder einfach die resultierende Dynamik ist. — Selbstorganisierte Systeme sind immer offene Systeme. Flüsse von Energie und Materie zwischen System und Umwelt sorgen dafür, daß sich das System im (thermodynamischen) Ungleichgewicht halten und weiterentwickeln kann. — Das Schlagwort der Nichtlinearität kennzeichnet selbstorganisierte Systeme in verschiedener Hinsicht. Die Terminologie ist hier recht diffus. In Fällen analytisch beschreibbarer Systeme ist damit gemeint, daß die das Systemverhalten abbildenden Gleichungen nichtlinear sind. Damit können Phasenübergänge und Bifurkationen modelliert werden, an denen das System sensibel abhängig von Fluktuationen ist, vergleichbar dem Verhalten chaotischer Systeme. A n solchen kritischen Punkten können kleine Wirkungen positive Rückkopplungen auslösen, die das System rasch in ein neues dynamisches Regime hineintragen. A n anderen Punkten ihres Parameterraums sind selbstorganisierte Systeme wiederum nonlinear im Sinne von stabil bzw. homöostatisch: Auch hier überlagern sich Wirkungen nicht additiv, sondern werden auf den Attraktor des Systems hin „geregelt". In diesen Zusammenhängen wird „nonlinear" deskriptiv verwendet insofern, 9 Hermann Haken, Synergetik: eine Einführung (Nichtgleichgewichts-Phasenübergänge und Selbstorganisation in Physik, Chemie und Biologie), Berlin 1983. 10 Grégoire Nicolis / Ilya Prigogine, Die Erforschung des Komplexen (Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften), München 1987. 11 Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ M. 1984.

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als die Beziehung zwischen einem Kontrollparameter und einer Systemobservablen nicht linear ist. Diesen Phänomenen liegt letztlich zugrunde, daß zwischen Variablen zirkuläre (also wiederum nicht „lineare") Kausalbeziehungen vorhanden sind. Die angeführten Punkte zeigen, daß es sich um eine interdisziplinäre Theorie handelt: Von Interesse sind die Formen und Muster, die sich in ganz unterschiedlichen Substraten auf gleiche Weise herausbilden. Diese „strukturalistische", gegenstandsunabhängige Konzeptualisierung ist auch ein Grund dafür, daß die Synergetik und ähnliche Ansätze zunehmend von Psychologen und Sozialwissenschaftlern beachtet werden.

3. Selbstorganisation und Gruppe Zunächst ist der Begriff der Gruppe von anderen Begriffen wie Menge (eine Ansammlung oder ein Aggregat von Individuen ohne nennenswerte Interaktion, Struktur, gemeinsame Normen), Masse (eine strukturlose Menge mit einem gemeinsamen Ziel) und Kategorie (Individuen mit ähnlichen Eigenschaften) zu unterscheiden 12 . Eine Gruppe als ein selbstorganisiertes System kann wie folgt bestimmt werden 13 : (1) Gruppendynamik ist immer nonlinear, also durch rekursive Kausalzusammenhänge geprägt; diese zeichnen sich durch Rückmeldeschleifen aus: Jeder Gruppenprozeß konstituiert sich sowohl durch positive als auch zugleich durch negative Rückkopplungen. (2) Eine Gruppe differenziert sich von ihrer Umwelt, d. h., auch das Verhalten in Abhängigkeit von Kontrollparametern ist nonlinear (Phasenübergänge, Bifurkationen). (3) Gruppen sind (z. B. bezüglich Kommunikation) offene Systeme. (4) Gruppendynamik erwächst aus einer komplexen Mikroebene (den Kognitionen, Emotionen und Kommunikationen). (5) Gruppen sind hierarchisch in dem Sinn, daß sie über der Mikroebene makroskopische kohärente Muster ausbilden. In diesen Bestimmungen einer Gruppe sind die Voraussetzungen für die Emergenz von Selbstorganisation (der 1., 3. und 4. Punkt) enthalten, wie sie durch die Synergetik und die Theorie Prigogines formuliert wurden.

12

H.-D. Schneider, Kleingruppenforschung, Stuttgart 1985; W. Shalinsky, One-Session Meetings: Aggregate or Group?, in: Small Group Behavior 14 (1983), pp. 495-514. 13 Ewald Johannes Brunner / Wolf gang Tschacher, Distanzregulierung und Gruppenstruktur beim Prozeß der Gruppenentwicklung, I. Theoretische Grundlagen und methodische Überlegungen, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 22 (1991), S. 87-101.

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In der empirischen Gruppenforschung wird nun — analog zur Synergetik — ein phänomenologisches Vorgehen vorgeschlagen. Die Selbstorganisationsprozesse werden auf der Makroebene observiert, d. h., Ordnungsparameter werden direkt bestimmt. Die Systemelemente auf der Mikroebene des psycho-sozialen Systems, nämlich die Kognitionen, Emotionen und Kommunikationen, die während der Gruppeninteraktion „ablaufen" und produziert werden, sind uns in ihrer Komplexität nicht empirisch zugänglich (hierzu sind spezifische experimentelle Untersuchungsdesigns nötig, die dann freilich nur im Labor und im statistischen Querschnittsverfahren Ergebnisse liefern, also kein idiographisches zeitreihenanalytisches Vorgehen ermöglichen). Eine solche makroskopische Modellierung, wie sie Haken als „zweites Fundament der Synergetik" 14 vorgeschlagen hat, kann das Gleichgewichtsverhalten in Abhängigkeit von Kontrollparametern untersuchen. A u f dieser Basis können lauffähige Simulationen entwickelt werden. Weitere Untersuchungsdesigns, etwa auf mesoskopischer Ebene, sind im Rahmen der synergetischen Auffassung von verschiedenen Ebenen eines selbstorganisierten Systems ebenfalls möglich 2 .

4. Selbstorganisation und Organisation Was für die sozialpsychologische Gruppe gilt, ist auch für die Analyse von Organisationen bedeutsam. Formal können wir uns an den organisationspsychologischen Grundsatz halten, „eine Organisation im Sinne eines sozialen Gebildes als Ganzes mit dem Wechselspiel seiner Elemente zueinander aufzufassen" 15 . Dabei ist lediglich noch nichts darüber ausgesagt, welche Elemente das im einzelnen sind. Wenn Organisationstheoretiker davon sprechen, daß die Spannung zwischen Person und Organisation grundlegend für jede Organisation sei 16 , so verkennen sie unseres Erachtens die bestimmende Funktion von Gruppen in Organisationen. Organisationen sind aus verschiedenartigen Kleingruppen zusammengesetzt, die in mannigfacher Weise miteinander interagieren. Alle Gruppen sind dadurch miteinander verbunden, daß sie gemeinsame Mitglieder haben 17 oder weil sie in das gleiche soziale Netzwerk, in die Hierarchie 14 Hermann Haken , Information und Self-Organisation (A Macroscopic Approach to Complex Systems), Berlin 1988. 15 W. Bungard , Organisationspsychologie als angewandte Sozialpsychologie?, in: J. Schultz-Gambard (Hrsg.), Angewandte Sozialpsychologie, München 1987, S. 131-151. 16 K. Berkel, Zur Sozialpsychologie des Konflikts in Organismen, in: J. SchultzGambard (Hrsg.), Angewandte Sozialpsychologie, München 1987, S. 153-167; AT. //. Wiedl / S. Greif,\ Störungen betrieblicher Organisationen: Intervention, in: M. Perrez / U. Baumann (Hrsg ), Lehrbuch Klinische Psychologie, Bd. 2: Intervention, Berlin 1991, S. 395-407. 17 R. Likert, New Patterns of Management, New York 1961.

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der Organisation eingebunden sind. Industriebetriebe beispielsweise lassen sich als Miniatur-Gesellschaften darstellen, die sich aus vielen interdependenten Subgruppen konstituieren. Diese Gruppen tendieren je für sich dazu, Normen, Standards und Traditionen herauszubilden, die für die „Arbeitsatmosphäre" in ihnen ausschlaggebend sind. Kommen neue Mitarbeiter in die Firma, so durchlaufen sie die entsprechenden Sozialisationsprozesse 18. Auch auf Organisationsebene kann sich eine identitätstiftende „Kultur", eine „corporate identity", etablieren, die diejenigen Normen und Werte umfaßt, die die Organisation charakterisieren, bis hin zu Riten und Verhaltensmustern im Stil des Hauses 19 . Die Verbesserung bzw. Schaffung eines geeignet erscheinenden Organisationsklimas wird heute als ein wichtiger Aspekt erfolgreicher Organisationen angesehen. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, daß es sich um ein durch psycho-soziale Selbstorganisation entstandenes, emergentes Phänomen handelt, das schwerlich „per Dekret von oben" quasimechanisch eingeführt werden kann. Doctoroff 2 0 verweist denn auch auf die Bedeutung der informalen Organisation, die etwa durch „unpurposeful meetings" Synergieeffekte erzeugt. Voraussetzungen für positive synergistische Effekte sind „Vertrauen, effektive Kommunikation, schneller Feedback und Kreativität" 2 1 ; die Bereitstellung dieser Voraussetzungen zählen zu den wichtigsten Aufgaben des Managements. Es zeigt sich also, daß die Herausbildung von solchen Normen, Standards und Traditionen in den Gruppen und der gesamten betrieblichen Organisation zu einem großen Teil auf den Selbstorganisationsprozessen der Kleingruppen basiert. Die Gruppen (besonders auch die informellen) liefern mit ihren stehenden Interaktionsmustern 22 die Grundlage der emergenten und kreativen Eigenschaften von Organisationen. Damit wird es notwendig, die Dynamik selbstorganisierter Gruppen stets in das Kalkül zu ziehen, wenn es um Fragen des Managements und der Organisationsentwicklung geht. „Nicht das Verhalten einzelner Menschen, sondern das Verhalten sozialer Systeme ist Gegenstand der Managementlehre" 23 . 18 J.W. McDavid/H. Harary, Social Psychology (Individuals, Groups, Societies), New York 1968, p. 434. 19 D. Matenaar , Entwicklungstendenzen der Unternehmenskulturforschung, in: Ε. Seidel/ D. Wagner (Hrsg.), Organisation (Evolutionäre Interdependenzen von Kultur und Struktur der Unternehmung), Wiesbaden 1989, S. 325-340; E. H. Schein, Organizational Culture and Leadership, San Francisco 1985. 20 M. Doctoroff ; Synergetic Management: Creating the Climate for Superior Performance, New York 1977. 21 K. Spriingli , Evolution und Management (Ansätze zu einer evolutionistischen Betrachtung sozialer Systeme), Berlin 1981. 22 R. G. Barker, Ecological Psychology, Stanford 1968. 23 H. Ulrich, Management, Bern 1984, S. 87.

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Wichtig ist, daß der Kleingruppe in der Organisation eine Schlüsselfunktion zukommt: Ohne die Vermittlung über die vielen (formellen und informellen) Gruppen innerhalb einer Organisation funktioniert nichts. Alles, was sich auf der Makroebene als Organisationsstruktur manifestiert, basiert auf Selbstorganisationsprozessen der genannten Elemente auf der Mikroebene sowie auf den diese überformenden Einflüssen des (organisierenden) Managementbereichs.

5. Systemmodelle für die Gruppen- und Organisationspsychologie Implizit haben wir die Frage nach möglichen Systemmodellen für die Gruppen- und Organisationspsychologie bereits in den vorangegangenen Abschnitten behandelt. Was implizit gesagt wurde, soll nun noch expliziert werden. „Systeme" im wissenschaftlichen Sprachgebrauch sind stets Konstrukte: Es steht dem Forscher frei, die Grenzen seines Untersuchungsbereichs zu wählen (wenn auch nicht unbeeinflußt von institutionellen, methodischen usw. Konventionen). Welchen Systembegriff haben wir unseren Ausführungen zugrundegelegt? Besonders groß ist die Freiheit des Systemdesigns dann, wenn dieses als Variablensystem konzipiert wird. Diese Vorgehensweise war für die Übernahme systemischer Modelle in den Sozialwissenschaften zunächst charakteristisch. Bereits sehr früh haben sich die Sozialwissenschaftler Bateson und Mead von kybernetischen Modellvorstellungen leiten lassen, wie Wiener 24 rückblickend schreibt. Familientherapietheoretiker benutzen die Begrifflichkeit der Allgemeinen Systemtheorie, um ihre Beobachtungen konzeptionell fassen zu können. So beschreibt zum Beispiel McClendon 2 5 Familien als „Systeme", die sie als „Komplexe von Elementen in Interaktion" definiert. Ein soziales System wird demnach so verstanden, daß es sich aus Elementen (z. B. den Mitgliedern des sozialen Systems) und aus der Menge der Relata konstituiert, in denen die Elemente untereinander in Beziehung stehen. Brunner kommt auf diese Weise zu folgender Definition: „Ein soziales System (wie z. B. die Familie) verstehe ich also als ein System, dessen Mitglieder derart in einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander stehen, daß das individuelle und kollektive Verhalten und Erleben mutuell simultan kontingent ist." 2 6 24

Norbert Wiener, Kybernetik, Düsseldorf 1963. R. McClendon, Phasen der Familientherapie, in: G. Barnes et al. (Hrsg.), Transaktionsanalyse seit Eric Berne, Bd. 1: Schulen der Transaktionsanalyse, Berlin 1979, S. 145. 26 Brunner (FN 6), S. 62. 25

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Analog zu den Familientherapietheoretikern verfährt Miller 2 7 , der alle lebenden Systeme („living systems") auf die Weise beschreibt, daß jedes lebende System aus 19 Elementen (Subsystemen) besteht. Miller postuliert eine Strukturähnlichkeit auf sämtlichen sieben Systemebenen: Jedes System enthält die von ihm postulierten 19 Elemente (jeweils auf dem entsprechenden Emergenzniveau), sowohl die biologische Zelle, das Organ, der Organismus, die Gruppe, die Organisation, die Gesellschaft und das supra-nationale System. Die von Miller vorausgesetzte Strukturähnlichkeit ist zunächst evident: Die Elemente der Gruppe sind, um unser Thema aufzugreifen, mit denen der Organisation vergleichbar. So entspricht dem Subsystem „Distributor" auf der Ebene der Gruppe (Beispiel: die Mutter, die der Familie das Essen ausgibt) funktional einem solchen Distributor auf der Ebene der Organisation (Beispiel: ein Fahrer, der innerhalb einer Firma Waren verteilt). Während aber innerhalb der Systemebene ,Gruppe 4 die Positionen der Elemente immer mit einzelnen Personen besetzt sind, ist dies in Millers Systemebene Organisation' nicht durchgehend der Fall. Das Gruppenmitglied, das für Nahrungsnachschub sorgt (Subsystem „Ingestor"), hat seine Parallele auf der Organisationsebene beispielsweise in der Empfangsabteilung. Dem Koch in der Gruppe (Subsystem „Producer") entspricht die Produktionsabteilung in der Organisation. Dem Gruppenmitglied, das Signale an andere weitergibt (Subsystem „Channel and Net"), entspricht auf der Organisationsebene das betriebseigene Telefonnetz. Millers Orientierung an der Systemstruktur biologischer Organismen gerät auf den Ebenen sozialer Systeme in Schwierigkeiten. Wenn er Systeme auf der Ebene der Zelle, des Organs oder des Organismus beschreibt, dann sind die Elemente stimmig. Sobald er aber zu sozialen Systemen fortschreitet, paßt die biologistische Beschreibung nicht mehr so recht. So kritisiert Parsons an Millers Konzept: „The most important point I think is that in Miller's series of what he calls levels in the world of living systems he jumps directly from organism to group without any serious analysis of the relevance of the concept of species."28 Millers Systemkonzept leidet darunter, daß mit der Definition „konkreter Systeme" eine Tendenz zur Ontologisierung implementiert wird: Die Modellvorstellungen über lebende Systeme und die lebenden Systeme selbst werden begrifflich (und logisch) vermischt. Von solchen „konkreten" Systemen, wie Miller sie bezeichnet, sind „abstrakte" Systeme abzugrenzen. Abstrakte Systeme werden für die Modellie27

J. G. Miller, Living Systems, New York 1978. T. Parsons , Concrete Systems and „Abstracted" Systems, in: Behavioral Sciences 25 (1980), p. 48. 28

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Ewald Johannes Brunner und Wolfgang Tschacher

rung sozialer Systeme in Form von Variablensystemen eingesetzt. Variablensysteme bestehen aus mathematischen Größen, die in Wechselwirkung miteinander stehen. In kybernetischen Analysen und bei der Modellierung von Simulationssystemen finden solche Variablensysteme Anwendung. Bei den Variablensystemen sind die Anzahl der Variablen, ihre Anfangswerte und die Art der Wechselwirkung zwischen ihnen leicht zu variieren. Jedes Hinzufügen eines dieser drei Aspekte kann sensibel über die entstehende Dynamik entscheiden. So ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, ein chaotisches System entworfen zu haben, groß: Es genügen drei Variablen und eine Nichtlinearität (vgl. das Beispiel eines chaotischen Rösslersystems in Abb. 1, das abhängig von den Parametern a, b und c chaotisches Verhalten zeigen kann).

Abb. 1: Das Rössler-System als Beispiel eines Variablensystems. Rechts: zugrundeliegende Differentialgleichungen. Links: schematische Darstellung

Wie wir oben schon beschrieben haben, sind selbstorganisierte Systeme dagegen wesentlich voraussetzungsreicher. Wenn ihre Dynamik ebenfalls chaotisch sein kann, so liegt das daran, daß die Makroebene eines solchen Systems als Variablensystem beschrieben werden kann. Die emergenten, Ordnungsparameter genannten, Variablen wechseln sich in chaotischer Weise ab, wenn das System sehr weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt ist, d. h. Materie- und Energieeinflüsse durch das offene System hoch sind. Auch niedrigdimensionales Chaos kann somit selbstorganisiert sein. Von ebenso großem Interesse sind aber die einfacheren Gleichgewichtszustände von Vielkomponentensystemen, die bei der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion und beim Laser die Selbstorganisationsforschung erst angeregt haben. Soziale Systeme in diesem Sinne sind offene Systeme. Sie bestehen — wie oben schon ausgeführt — aus sehr vielen Komponenten; es gelten nonlineare Beziehungen zwischen Komponenten und zwischen System und Umwelt. Nur dann kann sich das Phänomen Selbstorganisation (das spontane Auftre-

Selbstorganisation und die Dynamik von Gruppen

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ten kollektiven, geordneten Verhaltens der Komponenten in Form makroskopischer Muster) entfalten (vgl. Abb. 2).

Makroebene

Emergenz Versklavung

Abb. 2: Schematische Darstellung eines selbstorganisierten Systems

Das hierzu erforderliche Systemmodell kann in Anlehnung an den Autopoiesebegriff formuliert werden: Ein autopoietisches System erzeugt durch sein Operieren fortwährend seine eigene Organisation. A n der Heiden, Roth und Schwegler sprechen hier von „selbsterhaltenden Systemen": „Systeme sind selbsterhaltend, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: (I) Das System bildet zu jeder Zeit ein räumlich zusammenhängendes Gebilde (Einheit); (II) Das System bildet einen freien, vom System erzeugten Rand, der nicht unabhängig vom System existiert (autonomer Rand); (III) Das System existiert in einer Umwelt, aus der es Energie und/oder Materie aufnimmt (materielle und energetische Offenheit); (IV) Jede der konstitutiven Komponenten existiert nur für eine endliche Zeit (Dynamizität); (V) Alle konstitutiven Komponenten partizipieren zu jeder Zeit an den Anfangsbedingungen der Komponenten, die zu einer späteren Zeit existieren, so daß das System sich dauernd erhält (Selbstreferentialität)." 29 29 U. an der Heiden / G. Roth / H. Schweiler, Die Organisation der Organismen: Selbstherstellung und Selbsterhaltung, in: Funkt. Biol. Med. 5 (1985), S. 330-346.

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6. Intervention in selbstorganisierten Systemen und in Organisationen Ein Ziel der obenstehenden theoretischen Vorbereitung war es, das Problem der Intervention differenziert angehen zu können. Extrempositionen in der Art eines Nicht-Interventionismus werden von einigen systemisch-psychologischen Theoretikern vertreten. Hierfür werden im wesentlichen zwei Gründe angegeben: Das Konzept der nichttrivialen Maschine vertritt, daß Input und Output nicht direkt verknüpft sind, sondern über eine Zustandsvariable vermittelt werden; aus der Überzahl der möglichen Kombinationen von Input, Zustand und Output folge die Nichtvoraussagbarkeit selbst einfacher nicht-trivialer Maschinen 30 . Das zweite Argument ist das der Selbstreferenz: Wenn in sozialen Systemen die Intervention von innerhalb des Systems erfolgt, drohen Paradoxien durch die Vermengung unterschiedlicher logischer Typen; jede Beobachtung wird zur Beobachtungsbeobachtung, jede Planung zur Selbstplanung 31 . Auch von anderer Warte her, etwa aus der Kognitionspsychologie, sind Befunde bekannt, die die Schwierigkeiten von Interventionen in multikausale Systeme belegen. Demnach können auch wohlmeinende lineare Eingriffe in komplexen Systemen zu negativen Resultaten führen, die geradezu einer „Logik des Mißlingens" folgen 32 . A u f der anderen Seite steht ein in der Praxis häufig praktizierter Interventionismus, der unerwünschtes Verhalten (Symptome) diagnostiziert und ohne Umwege in gewünschtes Verhalten zu transformieren sucht. Beispiel hierfür ist die Verhaltenstheorie in ihrer naiven Frühphase, als man glaubte, Verhalten von Individuen und Gruppen durch Stimulus- und Kontingenzkontrolle beinahe beliebig formen zu können. Das Repertoire an angewandten Methoden hat sich inzwischen stark vergrößert (multimodale und verhaltensmedizinische Verhaltenstherapie), und die anfängliche Ausklammerung kognitiver Konstrukte wurde aufgegeben (kognitive Lerntheorie); allerdings blieb das lineare Ursache-Wirkungs-Denken interventionistischer Theorien implizit erhalten. In etablierten betriebswirtschaftlichen Organisationstheorien, die Unternehmen vor allem als hierarchische Systeme ansehen, findet man in handlungs- und entscheidungstheoretischen Annahmen gleichermaßen eine interventionistische Ausrichtung 33 . 30

Η. v. Foerster, Entdecken oder Erfinden, Wie läßt sich Verstehen verstehen?, in: H. Gumin / A. Möhler (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 1985, S. 27-

68.

31 Wolf gang Krohn / Günter Küppers, Selbstreferenz und Planung, in: Uwe Niedersen / Ludwig Pohlmann (Hrsg.), Selbstorganisation, Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 1 (1990), S. 109-127. 32 D. Dörner, Die Logik des Mißlingens, Reinbek 1989. 33 C. Ochsenbauer, Organisatorische Alternativen zur Hierarchie, München 1989.

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Aus unserer Sicht, die die Selbstorganisationsforschung einbezieht, sind beide Haltungen zum Interventionsproblem nicht sinnvoll, v. Foersters nicht-triviale Black-Box-Maschine ist in den meisten Fällen nicht analytisch bestimmbar und in ihrem Verhalten nicht vorhersehbar — Eigenschaften, die an eine deterministisch-chaotische Dynamik denken lassen 34 . Chaos ist aber in komplexen Systemen nicht notwendigerweise vorherrschend oder typisch. So ist beispielsweise auch das Argument irreführend, daß selbst einfache (Variablen-)Systeme chaotisches Verhalten zeigen können (zutreffend), also komplexe Systeme mit noch größerer Wahrscheinlichkeit chaotisch sein müssen (falsch). Gerade zu dieser Frage hat die Synergetik und Selbstorganisationsforschung 9 ' 10 aufgezeigt, daß es in sehr komplexen rekursiven Systemen zu der gegenläufigen Erscheinung einer enormen Reduktion von Freiheitsgraden kommen kann. Eines der frappierenden Ergebnisse dieser naturwissenschaftlichen Forschung ist also eher: je komplexer, desto einfacher. A n dieser Stelle scheint es uns entscheidend, daß Begriffe wie Komplexität, Selbstorganisation und Chaos klar und nicht lediglich metaphorisch verwendet werden und ihr gegenseitiger Bezug herausgestellt ist. Diese Begriffe sind durch zunehmenden, auch alltagssprachlichen Gebrauch unscharf geworden. Diesen Ausführungen gemäß folgt, daß man differenzierter zu Interventionsmöglichkeiten und Planbarkeit Stellung nehmen kann und muß. Die Frage ist nicht: Kann man überhaupt zielgerichtet planen und intervenieren?, sondern eher: Welche Einschränkungen, aber auch, welche neuen Optionen sind mit der Auffassung verbunden, in Organisationen spiele Selbstorganisation eine wichtige Rolle? Zunächst ist mit der Irreversibilität selbstorganisierter Systeme zu rechnen: Einwirkungen und Kommunikationen sind, wenn sie erfolgt sind, nicht mehr ungeschehen zu machen. Die Dissipativität dieser Systeme führt zu Folgerungen, die etwa in der systemischen Therapie gut bekannt sind: Weder kann man nicht kommunizieren 35 , noch kann man Kommunikationen durch die Wahl einer inversen Kommunikation zurücknehmen. A u f diese Weise differenziert sich das System über Bifurkationen in neue Verhaltensmuster — derselbe Weg zurück ist verwehrt. Entsprechendes gilt für Managemententscheidungen 36 . Hier gibt es also Zusammenhänge zwischen dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik und den Axiomen einer Interventionspragmatik. 34 P. Bergé / Y Pomeau / C. Vidal , Order within Chaos (Towards a Deterministic Approach to Turbulence), New York, Paris 1984. 35 P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson , Menschliche Kommunikation (Formen, Störungen, Paradoxien), Berlin 1969. 36 Vgl. H. Ulrich / G. J. B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln (Ein Brevier für Führungskräfte), Bern 1990.

5 Sclbstorganisation, Bd. 2

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Zum zweiten wird langfristige Planung nur in seltenen Fällen möglich sein. Die Evolution des Systems kann überraschende Verzweigungen nehmen, denn in der Nähe von Instabilitätspunkten können Zufallsfluktuationen darüber entscheiden, wie es sich weiterentwickelt. Bei Chaos ist diese Sensibilität permanent vorhanden und das Problem der Prognostizierbarkeit verschärft. Schließlich: Attraktoren, d.h. durch Selbstorganisation entstandene Gleichgewichtszustände, können nicht direkt und beliebig verändert werden. Innerhalb einer gewissen Spannbreite der Randbedingungen (Kontrollparameter) und unter dem permanenten Einfluß von Zufallsschwankungen (Fluktuationen) münden die Zustände des Systems stets wieder in das Gleichgewicht ein (vgl. Abb. 3). Der Versuch, das Verhalten direkt zu beeinflussen, kann also zu einem vergeblichen Ankämpfen gegen die Dynamik des unveränderten Systems werden; anstatt diesen „Widerstand" zu brechen, kann ein indirektes Vorgehen (bzw. ein Eingreifen auf der „Metaebene" 37 ) die Methode der Wahl sein.

Abb. 3: Schematische Darstellung von Selbstorganisation und Organisation in einem Unternehmen 37

Vgl. F. Malik , Strategie des Managements komplexer Systeme (Ein Beitrag zur Management-Kybernetik komplexer Systeme), Berlin 1984.

Selbstorganisation und die Dynamik von Gruppen

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Die systemische Sichtweise kann andererseits jedoch davon ausgehen, daß in selbstorganisierten Dynamiken Optionen begründet liegen, die durch lineares Vorgehen verschüttet werden. Ein Beispiel ist die Nutzung der Anpassungsfähigkeit und Kreativität evolvierender Systeme. Das Tolerieren von auf den ersten Blick unbrauchbaren „Mutanten" kann unvermutete Problemlösungen eröffnen. Aus der Selbstorganisationsperspektive scheint es sinnvoll, wenn man dem derzeitigen Trend zu partizipativen Modellen der Führung und Organisationsentwicklung folgt. Es gilt, das kreative Potential der Dynamik der konstitutiven Kleingruppen eher zu nutzen, statt diese lediglich als informelle, also störende, Schattenorganisation zu bekämpfen. Als Beispiel für eine erfolgversprechende Anwendung von Delegationsweisen seien die Einrichtung von teilautonomen Arbeitsgruppen und Qualitätszirkeln genannt 38 . Ein evolutionärer Gesichtspunkt scheint uns besonders beim Design von Gruppen angebracht, die ein Produkt oder Projekt zu entwickeln haben. Hier ist es zunächst sinnvoll, die gesamte Breite des Raums von Entwicklungsmöglichkeiten lange zu erhalten, anstatt unverzüglich ein (notwendigerweise fiktives) Ziel anzustreben. Führung muß also neu verstanden werden als ein indirekter, allenfalls strategischer Eingriff. Bei Interventionen geringerer Reichweite kann als ein verwandtes Prinzip in der systemischen Psychotherapie und Trancetherapie auf die Abfolge pacing-leading hingewiesen werden (im Managementbereich vgl. das Jiu-Jitsu-Prinzip 39 ). Wie kann man sich ein solches indirektes Management vorstellen? Bei der Beeinflussung von Attraktoren in selbstorganisierten Systemen ist vorrangig an das Verstellen der Kontrollparameter, also der Bedingungen in der Umwelt des Systems zu denken. Interessante Kontrollparameter der (betrieblichen) Gruppe werden zunächst solche Variablen sein, die mit der Entfernung vom (thermodynamisch-statistischen) „Gleichgewicht" zu tun haben; diese Entfernung ist durch Flüsse von Materie, Energie und Information durch das offene System realisiert. Entsprechend wäre ein Forschungsansatz naheliegend, der Systemverhalten in den von Umsatz, Kapitaldurchsatz oder Budget aufgespannten Parameterräumen untersucht. Die Dissipation von Information ist vermutlich schwieriger formal zu fassen bzw. zu operationalisieren — es wäre gleichwohl lohnend, etwa politische Randbedingungen, Zielsetzungen, Erwartungs- und Effizienzdruck in Observable zu fassen. Als Ergebnis solcher Forschungsansätze könnte eine Beschreibung der Bifurkationsszenarien von sozialen Systemen in Organisationen erfolgen, die systemisches Verhalten zwischen Ordnung und Chaos umfaßt. 38

A. B. Weinert, Lehrbuch der Organisationspsychologie (Menschliches Verhalten in Organisationen), München 1987. 39 P. Gomez, Modelle und Methoden des systemorientierten Managements, Berlin 1981.

5*

Synergetik in der Psychiatrie: Simulation schizophrener Verläufe auf der Grundlage nicht-linearer Differenzengleichungen* Von Günter Schiepek, Bamberg, und Wolfgang Schoppek, Bayreuth

Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, Schizophrenie als dynamische Krankheit (sensu Mackey und an der Heiden) zu verstehen. Im Sinne der Synergetik werden die unterschiedlichen Verlaufsformen der Schizophrenie als kohärente dynamische Muster interpretiert, die auf der Grundlage eines komplexen bio-psycho-sozialen Systems entstehen. Eine entsprechende Computersimulation schizophrener Verlaufsmuster beruht auf der nicht-linearen Interaktion von fünf, in der Forschung als wesentlich erachteten Variablen (bzw. Konstrukten): Kognitive Störungen, Streß, Rückzug, Expressed Emotions und Wahn. Es läßt sich zeigen, daß das entwickelte Modell je nach Parametereinstellung ganz unterschiedliche Verlaufsmuster zu erzeugen in der Lage ist.

1. Einleitung und Problemstellung Die Suche nach der einen, zentralen Kausalursache für Schizophrenie ist bisher ergebnislos verlaufen. Mehr noch: die gesamte Fragestellung, auf der diese Suche beruht, hat sich als Sackgasse erwiesen. Lineale Ätiologiemodelle der Schizophrenie werden selbst in einer multifaktoriell erweiterten Form praktisch nicht mehr verfolgt, denn ob einer oder mehrere statische Kausalfaktoren hypostasiert werden, ändert an der Unfruchtbarkeit linealen Kausaldenkens in diese Bereich wenig. Dies nicht nur, weil begründete Zweifel bestehen, ob es sich bei der Schizophrenie überhaupt um ein einheitliches * Dieser Beitrag stellt eine Weiterentwicklung eines Vortrages dar, der v on G. Schiepek, W. Schoppek und F. Tretter auf der 1. Herbstakademie „Selbstorganisation und Klinische Psychologie" im Oktober 1990 in Bamberg gehalten wurde. Für anregende Diskussionen danken wir Herrn Dr. Dr. F. Tretter (Bezirkskrankenhaus Haar) und der Arbeitsgruppe um Prof. L. Ciompi (Sozialpsychiatrische Universitätskiini, Bern).

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Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek

Krankheitsbild bzw. einen einheitlichen Prozeß handelt 1 — bereits E. Bleuler 2 sprach von der „Gruppe der Schizophrenien" —, sondern auch und vor allem weil Jahrzehnte der Forschung deutlich machten, wie sehr die einzelnen Prozesse, mit denen sich die Forschung bisher befaßt hat, im Lebenslauf eines als schizophren diagnostizierten Menschen rekursiv vernetzt sind. „Wir brauchen Modellvorstellungen", schreibt Ciompi 3 , „die sich vor allem auf die Interaktion zwischen biologischen und psychosozialen, intrapsychischen und zwischenmenschlichen, kognitiven und affektiven, produktiven und unproduktiven Aspekten konzentrieren." Eben dies versuchen verschiedene neuere Metamodelle der Schizophrenie, etwa — das Diathese-Streß-Modell (schizophrene Störungen entstehen aufgrund einer erblichen Disposition („Diathese") unter Streß) 4 , — das interaktive Entwicklungsmodell (Schizophrene und andere Störungen entwickeln sich in dauernden, komplexen Wechselwirkungen mit günstigen und ungünstigen Umwelteinflüssen) 5 , — die neuronale Plastizitäts-Hypothese (Interaktion zwischen unspezifischen Erb- und Umwelteinflüssen können aufgrund der Plastizität synaptischer Inter-Neuronen-Verdrahtungen über zerebrale Strukturveränderungen zur spezifischen Vulnerabilität Schizophrener führen) 6 und am bekanntesten vielleicht — das Vulnerabilitätsmodell 7 oder — das integrative biologisch-psychosoziale Schizophreniemodell 8 . 1 T. R. Sarbin/ J. C. Mancuso, Schizophrenie, München 1982,7. S. Strauss , Intermediäre Prozesse in der Schizophrenie: Zu einer neuen dynamisch orientierten Psychiatrie, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Schizophrenie als systemesche Störung, Bern 1989, S. 3950. 2 E. Bleuler, Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien, Leipzig 1911. 3 L. Ciompi, Auf dem Weg zu einem kohärenten multidimensionalen Krankheits- und Therapieverständnis der Schizophrenie: Konvergierende neue Konzepte, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Schizophrenie als systemische Störung, Bern 1986a, S. 49. 4 1.1. Gottesmann/ J. Shields , A Critical Review of recent Adoption, Twin and Genetic Perspectives, in: Schizophrenia Bulletin, Heft 2, 1976, S. 360-398. 5 J. S. Strauss/W. T. Carpenter , Schizophrenia, New York 1981. 6 J. L. Haracz, A Neural Plasticity Hypothesis of Schizophrenia, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews, Heft 8, 1984, S. 55-71. 7 K. H. Nuechterlein/M. E. Dawson , A Heuristic Vulnerability-Stress Model of Schizophrenic Episodes, in: Schizophrenia Bulletin, Heft 10, 1984, S. 300-312; J. Zubin/B. Spring , Vulnerability: A New View of Schizophrenia, in: J. Abnorm. Psychol., 1977, S. 103-123. 8 L. Ciompi, Affektlogik, Stuttgart 1982; L. Ciompi (FN 3); L. Ciompi, Zur Integration von Fühlen und Denken im Licht der „Affektlogik". Die Psyche als Teil eines autopoietischen Systems, in: K. P. Kisker et al. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, Bd. 1, 1986b, S.

Synergetik in der Psychiatrie

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Verschiedene weitere M o d e l l e k ö n n t e m a n aufzählen, z. B. das StimulusW i n d o w - M o d e l l , das K o n z e p t der Basistörungen, verschiedene I n f o r m a tionsverarbeitungstheorien. A l l e genannten M o d e l l e beanspruchen ein m e h r oder weniger umfassendes I n t e g r a t i o n s p o t e n t i a l für Einzelbefunde

und

M i k r o t h e o r i e n . So stellt etwa das V u l n e r a b i l i t ä t s m o d e l l genau g e n o m m e n k e i n eigenständiges Ä t i o l o g i e m o d e l l dar, sondern weist einzelne spezifische Ä t i o l o g i e n seinen S u b m o d e l l e n z u 9 . Einen Ü b e r b l i c k über diskutierte Einzelaspekte, deren I n t e r a k t i o n bei der E n t w i c k l u n g einer schizophrenen Episode eine R o l l e spielen k ö n n e n , g i b t N u e c h t e r l e i n 1 0 . Personal Vulnerability Factor«

I



SCHIZOTYPAL PERSONALITY TRAITS

INTERMEDIATE STATES Personal Protectors

COPING AND SELF EFFICACY

ANTIPSYCHOTIC MEDICATION

Environmental Protectors

m

FAMILY PROBLEM SOLVING

I

AUTONOMIC HYPERREACTIVITY TO AVERSIVE STIMULI

REDUCEO AVAILABLE PROCESSING CAPACITY

DOPAMINERGIC DYSFUNCTIONS

*

PROCESSING CAPACfTY OVERLQAO

TJL

*ΓΛ f

INTERACTION

j

SUPPORTIVE PSYCHOSOCIAL INTERVENTIONS

^

TONIC AUTONOMIC HYPERAROUSAL

DEFICIENT PROCESSING OF SOCIAL STIMULI

Environmental Potentiators & Stressors

CRITICAL OR EMOTIONALLY 0VERINV01VED FAMILY CLIMATE

OVER STIMULATING SOCIAL ENVIRONMENT

STRESSFUL LIFE EVENTS

Feedback Loop PREMORBIO OR REMISSION PERIOD

PR00R0MAL PERIOD

Quelle : Nüchterlein & Zaucha 1990, S. 81. Abb. 1: Netzwerk von Faktoren, die an der Entstehung schizophrener Episoden beteiligt sein können. 373-410; L. Ciompi, Zur Dynamik komplexer biologisch-psychosozialer Systeme: Vier fundamentale Mediatoren in der Langzeitentwicklung der Schizophrenie, in: W. Böker/ H. D. Brenner (Hrsg.), Schizophrenie als systemische Störung, Bern 1989, S. 27-38. 9 J. Zubin, Die Anpassung therapeutischer Interventionen an die wissenschaftlichen Modelle der Ätiologie, in: W. Böker/H. D. Brenner, (Hrsg.) Schizophrenie als systemische Störung, Bern 1989, S. 14-26. 10 K. H. Nuechterlein , Vulnerability Models for Schizophrenia: State of the Art, in: H. Häfner/W. F. Gattaz/W. Janzarik (Eds.), Search for the Causes of Schizophrenia, Berlin 1987; vgl. auch Κ. H. Nuechterlein/ Κ. M. Zaucha, Similarities between InformationProcessing Abnormalities of Actively Symptomatic Schizophrenic Patients and High-Risk Children, in: E. R. Straube/K. Hahlweg (Eds.), Schizophrenia: Concepts, Vulnerability and Intervention, Berlin 1990, S. 77-96.

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Ciompi 1 1 teilt sein biologisch-psychosoziales Modell zum Langzeitverlauf der Schizophrenie in drei Phasen ein (1. Prämorbide Entwicklung; 2. Ausbruch einer Psychose, 3. Langzeitentwicklung), wobei er Feedbackschleifen zwischen den an den einzelnen Phasen beteiligten Prozessen postuliert, welche wiederum den weiteren Verlauf beeinflussen können (Abb. 2). So ist die Vulnerabilität für weitere akutpsychotische Phasen eine andere, je nachdem, ob bereits schon ein akuter Schub durchlaufen wurde oder nicht. Dauwalder 1 2 ordnet den einzelnen Phasen verschiedene Teilprozesse zu, die an ihrer Konstitution wesentlich beteiligt sein sollen. Aus der Tatsache, daß es sich bei diesen Teilprozessen um prominente und in der SchizophrenieLiteratur umfassend diskutierte Theorieansätze bzw. empirische Befundkomplexe handelt, wird einmal mehr der integrative Anspruch von Ciompis Modell deutlich. Phase I Prämorbide Entwicklung

ι I

Phase 11 Ausbruch der Psychose

ι I

Phase III Langzeitentwicklung

Quelle: Ciompi 1989, S. 35. Abb. 2: Dreiphasiges Feedback-Modell zum Langzeitverlauf der Schizophrenie

Derartig umfassend formulierte Synopsen weisen allerdings neben ihrem heuristischen, integrativen und didaktischen Wert einige Problerne auf: (a) Das Problem der validen Identifikation und reliablen Erfassung der relevanten biologischen, psychologischen und sozialen Variablen bzw. „Marker" 1 3 . 11

L. Ciompi , Dynamik (FN 8). J. P. Dauwalder , A Comprehensive View on Affect and Logic: Some Implications for Treatment and Prevention of Schizophrenia, in: Psychopathology, Heft 21, 1988, S.9512

110. 13

L. Ciompi , Dynamik (FN 8), S. 35.

Synergetik in der Psychiatrie

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(b) Das Problem einer genauen Beschreibung der postulierten Wechselwirkungs- und Rückkoppelungsprozesse zwischen den einzelnen Konstrukten, Variablen bzw. Subsystemen. (c) Das Problem einer dynamisch-prozessualen Betrachtungsweise, die über das Postulat a-priori angenommener Phasen hinausgeht. Phasen wie „akute Psychose", „intermediärer nicht-psychotischer Zustand", „Chronifizierung", etc. sind zwar phänomenologisch hochplausibel, dennoch aber — zumindest wenn sich die Theorie auf konkrete Einzelfälle beziehen soll-erklärungsbedürftig oder noch anspruchsvoller: vorhersagebedürftig. Sie stehen auf der Seite des Explanandums und nicht auf der des Explanans. Das heißt, sie sollten nicht vom Modellkonstrukteur als gegeben angenommen, sondern vom (System-)Modell selbst aufgrund dessen rekursiv-vernetzten Prozessierens erzeugt und damit: erklärt werden. Problem (a) ist ein methodisch/methodologisches und wird in diesem Beitrag nicht näher behandelt. Zu Zwecken der Validierung von dynamischen Modellen, insbesondere von Simulationen muß das Problem von validen und reliablen Verlaufsindikatoren für die beteiligten Konstrukte allerdings gelöst sein. Problem (c) setzt eine zumindest versuchsweise Antwort auf Problem (b) voraus, denn bloßes Malen von Pfeilen zwischen Kästen (Konstrukten, Teilprozessen) reicht natürlich nicht. Üblich ist es, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen psychischen oder zwischen psychischen und sozialen Prozessen verbal, d. h. qualitativ zu beschreiben und auf diesem Wege zu ganz bestimmten Verlaufsannahmen zu gelangen. Dies ist im Grunde der Stand des Theoretisierens in der Psychologie. Daß man damit klärendes Licht auf hochkomplexe Probleme werfen kann, belegen einige gelungene Beispiele 14 . Um aber mit Hilfe eines Modells dynamische Prozesse in einem konkreten Sinne zu erzeugen, wird man diese Modelle simulieren und quantifizieren müssen. Hierfür stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung 15 . Eine davon besteht „. . . in der Konstruktion heuristischer mathematischer Verlaufsmodelle" 16 . Eben dies wird im folgenden versucht, womit ein Beitrag zur Beantwortung von Problem (b) und (c) geleistet werden soll.

14

N. Bischof,i Das Rätsel Ödipus, München 1985; L. Ciompi, Affektlogik (FN 8). H. Schaub/G. Schiepek , Simulation of Psychological Processes — Basic Issues and Illustration within the Etiology of Depressive Disorder, in: W. Tschacher/G. Schiepek/E. J. Brunner (Hrsg.), Self-Organization and Clinical Psychology, Springer Series in Synergetics, Berlin 1991 (in press). 16 L. Ciompi , Dynamik (FN 8), S. 35. 15

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2. Schizophrenie als dynamische Krankheit Nimmt man die Forderung ernst, das dynamische Muster eines Prozesses (z. B. einer Krankheit) solle von einem geeigneten mathematischen Modell erzeugt werden, hat man sich mit dem dynamischen Verhalten psychiatrischer Zustandsbilder zu befassen. In der Medizin kennt man zahlreiche Funktionsstörungen biologischer Systeme, die durch ganz bestimmte zeitliche Verlaufsmuster, also reguläre oder irreguläre Periodizitäten charakterisiert sind (sog. „dynamische Krankheiten"): Cheyne-Stokes-Atmung, periodische Hämatopoiese, epileptische Anfälle und Herzrhythmusstörungen sind Beispiele hierfür 17 . Symptomatisch dabei ist, daß funktionell entscheidende Größen wie Atemfrequenz, Blutkörperchen-Anzahl, neuronale Aktivität oder Herschlagfrequenz, die sich normalerweise nahezu konstant verhalten oder periodisch (mit definierter Frequenz) oszillieren, unter pathologischen Bedingungen veränderte, für die jeweilige Erkrankung typische Verhaltensmuster zeigen. Je nach Art und Verlauf der Erkrankung treten dabei verschieden komplexe, periodische oder aperiodische Muster mit charakteristischen Übergängen auf. Nicht immer jedoch ist der Übergang von Periodizität zu Irregularität und Chaos mit dem Übergang von Gesundheit zu Krankheit gleichzusetzen, wie unter anderem die Forschungen zur Endokrinologie der Osteoporose gezeigt haben 18 : Messungen der Calziumund Parathormonkonzentrationen in kurzen Zeitabständen von zwei Minuten ergaben, daß gerade beim Gesunden die Konzentrationen des Parathormons chaotisch schwanken, wobei regellose MikroSchwankungen noch von unregelmäßig auftretenden Makropulsen überlagert werden, während bei an Osteoporose Erkrankten diese Schwankungen im zeitlichen Ablauf nahezu völlig fehlen. Offensichtlich ist ein normaler Knochenumsatz an die regellosen Schwankungen des Signals Parathormon gebunden, während ein Verlust dieser chaotischen Schwankungen, d. h. Erstarrung in einer Ordnung mit Nivellierung der Konzentration, kennzeichnend für die Erkrankung der Osteoporose ist. Gesundheit umfaßt — so könnte man mit Gerok 1 9 schließen — Dynamiken von Ordnung und Chaos, Krankheit dagegen bedeutet je nach Fall ein Umkippen entweder in „erstarrte" Ordnung oder in „ungesteuertes" Chaos.

17 M. C. Mackey/U. an der Heiden, Dynamical Diseases and Bifurcations: Understanding Functional Disorders in Physiological Systems, in: Funkt. Biol. Med., Heft 1, 1982, S. 156-164. 18 R. D. Hesch, Sein im deterministischen Chaos: Ansätze einer neuen Systemtheorie der Medizin, Hannover 1990; W. Gerok, Ordnung und Chaos als Elemente von Gesundheit und Krankheit, in: W. Gerok (Hrsg.), Ordnung und Chaos in der unbelebten und belebten Natur, Stuttgart 1989, S. 19-41. 19 W. Gerok (FN 18).

75

Synergetik in der Psychiatrie

Es stellt sich n u n die Frage, o b derartige dynamische Betrachtungsweisen auch i m Bereich der Psychiatrie n u t z b a r zu machen sind, u n d zwar n i c h t n u r a u f der Funktionsebene neurobiologischer Systeme (ζ. B. zur A u s w e r t u n g v o n E E G - D a t e n m i t M e t h o d e n der nicht-linearen D y n a m i k 2 0 ) oder a u f der Zeitskala z i r k a d i a n e r R h y t h m e n 2 1 , sondern auch a u f der Ebene v o n L a n g z e i t e n t w i c k l u n g e n bio-psycho-sozialer Systeme, die w i r z u m Verständnis psychiatrischer E r k r a n k u n g e n beanspruchen. F ü r manisch-depressive Psychosen oder auch u n i p o l a r e zyklische Depressionen ist die Bedeutung längerfristiger, zeitlicher R h y t h m e n u n m i t t e l b a r e v i d e n t 2 2 , w o m i t sie als dynamische K r a n k h e i t e n i m p o n i e r e n (s. A b b . 3).

0

50

100

150

200

250

300

Days

Quelle: aus Wehr & Goodwin 1979. Abb. 3: Vom Pflegepersonal angefertigte tägliche Stimmungsratings eines Patienten mit kurzphasiger manisch-depressiver Erkrankung. Die vertikalen Linien über den Ratings bezeichnen die Zeitpunkte, zu denen der Ubergang zwischen manischen und depressiven Phasen erfolgte; die Zahlen zwischen den vertikalen Linien geben die Phasendauer in Tagen an. Die dicke Linie unter den Ratings bezeichnet die Dauer der Desipramine-Medikation, die anschließende dünne Linie die Dauer der LithiumCarbonat-Gabe. 20 A. Babloynantz/A. Destexhe, Strange Attractors in the Human Cortex, in: L. Rensing/U. an der Heiden/M. C. Mackey (Eds.), Temporal Disorder in the Human Oscillatory Systems, Berlin 1987, S. 48-56; G. Mayer-Kress/J. Holzfuss, Analysis of the Human Electroencephalogram with Methods from Nonlinear Dynamics, in: L. Rensing/U. an der Heiden/M. C. Mackey (Eds.), Temporal Disorder in the Human Oscillatory Systems, Berlin 1987, S. 57-68. 21

B. Pflug , Circadian Rhythms and Depression, in: L. Rensing/U. an der Heiden/M. C . Mackey (Eds.), Temporal Disorder in the Human Oscillatory Systems, Berlin 1987, S. 194-201. 22 T. A. Wehr/F. K. Goodwin , Rapid Cycling in Manie-Depressive Induced by Tricyclic Antidepressants, in: Arch. Gen. Psychiatry, Heft 36, 1979, S. 555-559.

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Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek

Aber auch bei den Schizophrenien rückte deren zeitliche Struktur zunehmend mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Dominierte früher die noch in der Tradition der Kraepelin'schen Dementia praecox stehende Auffassung eines unstrukturiert-progredienten Verlaufs mit ungünstiger Prognose, werden heute sehr unterschiedliche Verlaufsmuster beschrieben. Strauss 23 nennt drei typische Verlaufsformen: (a) Das Schneckenhaus. Patienten bleiben nach einer psychotischen Episode für einen langen Zeitraum auf einem relativ niedrigen, durch Apathie und Rückzug gekennzeichneten Funktionsniveau. Es könnte sich dabei um einen autoprotektiven Mechanismus 24 handeln, der vor dem Wiederauftreten positiver Symptome schützt, indem er für einen Aufschub von UmweltAnforderungen sorgt. Plötzlich aber verbessert sich der Zustand der Patienten und sie erreichen ein höheres Funktionsniveau als jemals zuvor in ihrem Leben (Abb. 4a). (b) Der tiefe Wendepunkt. Hierbei handelt es sich um den Übergang zwischen psychischer Organisiertheit, psychischer Desorganisiertheit und schließlich neuer und eventuell sogar verbesserter Organisiertheit (Abb. 4b). In der Terminologie der Selbstorganisation würde man wohl von einem zweistufigen Ordnungs-Ordnungs-Übergang (oder Phasenübergang) sprechen, da eine schizophrene Phase, obwohl phänomenologisch als Desorganisiertheit erlebbar, ein hochgeordnetes Muster darstellt (und Qualitäten von Übergangsmuster „state of mind" 2 5 ; in der Terminologie von Schiepek, Fricke und Kaimer 2 6 : ein Lifestyle-Szenario mit starken Attraktor-Eigenschaften). Ein Verhalten, welches ursprünglich als Bewältigungsversuch eingesetzt worden war, wird in zunehmendem Maße fehlangepaßt. Es folgt eine massive Desorganisation (ein schizophrener Ordnungszustand), welche trotz ihrer „Krankheits"-Merkmale den Weg zu einer neuen Form der Bewältigung als Teil der Reorganisation zu eröffnen scheint. (c) Oszillierende Funktionsniveaus. Dieses Verlaufsmuster zeigt sich in einem Oszillieren zwischen überdurchschnittlicher Anpasung und psychischem Funktionieren einerseits und psychotischer Dekompensation andererseits (Abb. 4c). 23

J. S. Strauss , Intermediäre Prozesse in der Schizophrenie: Zu einer neuen dynamisch orientierten Psychiatrie, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Schizophrenie als systemische Störung, Bern 1989, S. 39-50. 24 W. Böker, Zur Selbsthilfe Schizophrener: Problemanalyse und eigene empirische Untersuchungen, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Bewältigung der Schizophrenie, Bern 1986, S. 176-188; G. Gross, Basissymptome und Coping Behavior bei Schizophrenen, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Bewältigung der Schizophrenie, Bern 1986, S. 132141. 25 M. J. Horowitz , States of Mind, New York 1987. 26 G. Schiepek/B. Fricke/P. Kaimer , Synergetics of Psychotherapy, in: W. Tschacher/ G. Schiepek/E. J. Brunner (Eds.) Self-Organization and Clinical Psychology, Springer Series in Synergetics, Berlin 1991.

Synergetik in der Psychiatrie

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Abb. 4: (a) Das Schneckenhaus (b) Der tiefe Wendepunkt (c) Oszillierende Funktionsniveaus (F = psychisches Funktionsniveau)

Strauss 27 betont, daß alle drei Muster ein gemeinsames Merkmal aufweisen, nämlich die zeitliche Diskontinuität in der Entwicklung des psychischen Funktionierens. Derartige qualitative Wechsel im Verhalten eines Systems, die üblicherweise in Abhängigkeit einer Parameteränderung (des oder der Kontrollparameter) erfolgen, werden als Phasenübergänge bezeichnet. Es liegt daher nahe, zur Modellierung dieser dynamischen Muster nicht-lineare Modelle heranzuziehen, die es erlauben, Phasenübergänge zwischen verschiedenen Ordnungszuständen psychischen Funktionierens mit mathematischen Mitteln einerseits zu analysieren, andererseits zu produzieren bzw. zu simulieren 28 . Eben dies versucht der Ansatz der dynamischen Krankheiten, der sich im Rahmen der mathematischen Theorie dynamischer Systeme speziell der Analyse von Bifurkationsphänomenen widmet. Von besonderem theoretischen wie therapeutischen Interesse ist dabei, daß trotz dramatischer Veränderungen im Verhalten funktioneller Variablen das zugrunde liegende Regelsystem intakt und unverändert sein kann, mit Ausnahme eines einzelnen (oder einiger weniger) Parameter, der seinen natürlichen („gesunden") Funktionsbereich verlassen hat. Dies konnte für physiologische und biochemische Systeme bereits gezeigt werden 29 . Zu prüfen, wie weit dieses Modell für den Phänomenbereich der Schizophrenie trägt, ist ein Versuch wert. Dieser Versuch könnte sich um so mehr lohnen, als auch für die Langzeitentwicklung der Schizophrenie sehr unterschiedliche und von diskontinuierlichen Phasenübergängen zwischen psychotischen Schüben, psychisch gesundem Funktionieren und chronifizierten Zuständen geprägte Verlaufs27

J. S. Strauss (FN 23). H. Haken , Synergetics. An Introduction, Springer Series in Synergetics, Vol. 1, Berlin 1983; H. Haken, Synergetik. Eine Einführung, Berlin 1990a. 29 L. Glass Coupled Oscillators in Health and Disease, in: L. Rensing/U. an der Heiden/M. C. Mackey (Eds.), Temporal Disorder in Human Oscillatory Systems, Berlin 1987, S. 8-14; U. an derHeiden/M. C. Mackey , Mixed Feedback — A Paradigm for Regular and Irregular Oscillations, in: L. Rensing/U. an der Heiden/M. C. Mackey (Eds.), Temporal Disorder in Human Oscillatory Systems, Berlin 1987, S. 30-46; M. C. Mackey/U. an der Heiden (FN 17); für einen Überblick siehe L. Rensing/U. an der Heiden/M. C. Mackey (Eds.), Temporal Disorder in Human Oscillatory Systems, Berlin 1987. 28

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muster gefunden wurden 30 . Sicher spielen verbesserte Versorgungsmöglichkeiten und differenziertere Therapieangebote eine Rolle, wenn in diesen Studien gezeigt werden konnte, daß in ca. 25 % der Fälle mit einer definitiven Heilung, in 40-50 % der Fälle mit Residualzuständen leichten bis mittleren Grades, und nur in ca. 30% der Fälle mit einer andauernden psychischen Behinderung zu rechnen ist. Abbildung 5 gibt einen differenzierten ÜberBeainn

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Abb. 5: Verschiedene zeitliche Muster der Langzeitentwicklung der Schizophrenie 30 Siehe z. B. die Studien von M. Bleuler, Die schizophrenen Geistesstörungen im Lichte langjähriger Kranken- und Familiengeschichten, Stuttgart 1972; L. Ciompi/C. Müller, Lebensweg und Alter der Schizophrenen. Eine katamnestische Langzeitstudie, Berlin 1976; C. M. Harding , Long-term Outcome Functioning of Subjects rediagnosed as meeting the DSM I I I Criteria for Schizophrenia, University of Vermont 1984; G.Huber/G. Gross/ R. Schüttler, Schizophrenie. Eine Verlaufs- und sozialpsychiatrische Studie, Berlin 1979.

Synergetik in der Psychiatrie

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blick über die verschiedenen Verlaufsmuster einschließlich der prozentualen Häufigkeiten, mit der diese in der Studie von Ciompi & Müller 3 1 gefunden wurden 32 . Die Muster resultieren aus einer Kombinatorik aus schleichendem vs. akutem Beginn, schubartigem vs. chronischem Verlauf und remittiertem vs. chronischem Endzustand unterschiedlichen Ausprägungsgrades. Sie stellen die empirische Basis (das Explanandum) für das im folgenden zu entwickelnde Simulationsmodell dar.

3. Entwicklung des Strukturmodells Die Ätiologie der Schizophrenie haben sich sehr unterschiedliche Disziplinen zu ihrem Forschungsanliegen gemacht: phänomenologische und experimentelle Pychopathologie, Psychologie, Physiologie, Biochemie, Neurobiologie, Kommunikations- und Familienforschung, Psychoanalyse, Soziologie, Ethnologie, um nur einige zu nennen. Jede dieser Disziplinen untersucht andere Teilaspekte des hochkomplexen bio-psycho-sozialen Systems „Schizophrenie", so daß ein Überblick kaum mehr möglich erscheint. Die im folgenden getroffene Auswahl an Variablen und Parametern erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern liefert lediglich die Grundlage für ein Strukturmodell, das seinerseits keinen Theoriestatus beansprucht. Die Auswahl beruht auf Überblicksarbeiten zur psychiatrischen und psychologischen Forschung der letzen Jahre 33 sowie auf Ciompi 3 4 . Jedes der benannten Konstrukte könnte auf einer feineren Auflösungsebene als eigenes komplexes System analysiert werden (vgl. das Konzept der Mikroebene in der psychologischen Synergetik als virtueller Horizont der Feinauflösung eines Systems 35 ), was jedoch für die hier vorgenommene Modelierung nicht notwendig ist. 3.1 Die Variablen Das Modell setzt fünf Variablen bzw. Konstrukte untereinander in Beziehung: (1) Kognitive Störungen (k) Gemeint sind damit kognitive Beeinträchtigungen, die bei Kurt Schneider den Symptomen 1. Ranges (z. B. Gedanken31

L. Ciompi/C. Müller (FN 30). L. Ciompi, Dynamik (FN 8). 33 W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Bewältigung der Schizophrenie, Bern 1986; W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Schizophrenie als systemische Störung, Bern 1989. 34 L. Ciompi, Dynamik (FN 8). 35 G. Schiepek/W. Tschacher, Synergetic Modeling in Clinical Psychology, in: W. Tschacher/G. Schiepek/E. J. Brunner (Eds.) Self-Organization and Clinical Psychology, Springer Series in Synergetics, Berlin 1991 (in press). 32

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entzug, Gedankenabreissen, Gedankenlautwerden) oder in der Einteilung von E. Bleuler den Assoziationsstörungen zugerechnet werden. Auch sollen darunter die kognitiven Basisstörungen subsumiert werden, wie sie von Süllwold, Huber und anderen Autoren beschrieben wurden 36 (s. auch die Items des Frankfurter Beschwerde-Fragebogens). Es handelt sich dabei um Konzentrationsstörungen, Verlust kohärenten Denkens und um Wahrnehmungsstörungen, die als Reizüberflutung im optischen oder akustischen Bereich erlebt werden (Filterdefekt). (2) Streß (s) Als Streß kann jede Art von Überforderung gelten, z. B. im perzeptiven, kognitiven und Leistungsbereich, aber auch im Bereich zwischenmenschlicher Erfahrungen. Bekanntermaßen wirkt ein diffuser, stark emotionalisierter oder überkritischer Interaktionsstil rückfallgefährdend, ebenso sensorische Überstimulation oder Überlastungen am Arbeitsplatz. Streß führt nicht nur zu endokrinen Veränderungen, sondern auch zu physiologischen und solchen des Zentralnervensystems, die sich langfristig in der Funktionsweise biochemischer und physiologischer Systeme, aber auch im zerebralen Substrat manifestieren können. (3) Rückzug (r) Dieses Konstrukt bezeichnet schizophrenietypische Phänomene des inneren (emotionalen) und äußeren (räumlichen) Rückzugs, z. B. geringe emotionale Resonanz, Unzugänglichkeit, soziale Isolation, verstärkte Absorption durch das psychische Innenleben bis hin zum faktischen Sich-Einschließen im Zimmer. I m Extremfall gehören dazu auch Phänomene der Katatonie. In der Einteilung von E. Bleuler, der das psychopathologische Spektrum der Schizophrenie im wesentlichen nach Assoziationsstörungen, Affektstörungen und Autismus einteilt, soll mit dieser Variablen der Bereich des Autismus abgedeckt werden. In der neueren Unterscheidung zwischen Plus- und Minussymptomatik steht sie für den Bereich der Minussymptomatik. (4) Expressed Emotions (e) Eine Fülle von Untersuchungen befaßten sich mit der streßinduzierenden und rückfallgefährdenden Wirkung eines emotional angeheizten und insbesondere überkritisch-zurückweisenden Familienklimas. I m Gegensatz zu den älteren familiendynamischen Konzepten wie dem des Double-bind, der Pseudo-Gemeinschaft, der Mystifizierung, etc. 37 , die wohl theoretisch anspruchsvoller waren, aber an der empirischen Validierung scheiterten, stimulierte das Konstrukt der Expressed Emotions einen Boom in der empirischen Familienforschung. Es wurden verschiedene Operationalisierungsverfahren entwickelt (z. B. das Camberwell Family Interview), das Konstrukt nach inhaltlichen und zeitlichen Verlaufsgesichts36 L. Süllwold, Basisstörungen: Instabilität von Hirnfunktionen, in: W. Böker/H. D. Brenner, Bewältigung (FN 33), S. 42-46. 37 Im Uberblick siehe G. Bateson et al., Schizophrenie und Familie, Frankfurt am Main 1984.

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punkten differenziert, physiologische Korrelate in Abhängigkeit von Interaktionsstil und Bewältigungsmechanismen des Patienten gemessen, aus dem Konstrukt abgeleitete Therapie- oder besser: Managementmethoden (Angehörigeninformation, Begrenzung des Face-to-face-Kontakts; Training eines klaren, vorwurfsfreien Interaktionsstils) erprobt, etc. (5) Wahn (w) Dieses Konstrukt umfaßt neben der Entwicklung eines kohärenten Wahnsystems auch passagere Wahnideen, Wahnwahrnehmungen, Wahnstimmungen und wahnhafte Verkennungen. In einem umfassenderen Sinne sei damit die produktive oder Plussymptomatik der Schizophrenie bezeichnet. 3.2 Die Parameter Als Parameter werden Größen bezeichnet, die in Gleichungen als Konstanten eingehen. In unserem Gleichungssystem verwenden wir daher solche Konstrukte in der Funktion von Parametern, die im Vergleich zur Dynamik der Variablen invariant sind oder einer nur langsamen zeitlichen Veränderung unterliegen. Ihre Funktion besteht darin, die Wirkung der Variablen aufeinander in spezifischer Weise zu vermitteln oder, anders ausgedrückt, deren Interaktion zu mediieren. (1) Diffusität der kognitiv-emotionalen Schemata (o). Besonders im Theorierahmen der Affektlogik 3 8 spielt das Konstrukt der kognitiv-emotionalen Schemata eine zentrale Rolle. Es handelt sich um Denk-, Fühl- und Verhaltensprogramme, die zum kondensierten Niederschlag der gesamten konkreten Erfahrung eines Menschen geworden sind: eine zur inneren Struktur geronnene äußere Dynamik 3 9 . Aufgrund der Diffusität und Widersprüchlichkeit zwischenmenschlicher Erfahrungen mit engen Bezugspersonen scheinen bei Schizophrenen die psychischen Bezugssysteme, welche emotionales Erleben und interpersonelles Handeln mediieren, in besonderer Weise diffus und unklar. Allerdings darf man auch hier nicht von einseitigen Kausalverhältnissen ausgehen, da sich erstens die zunächst latent vulnerable und später manifest schizophrene Person ja von allem Anfang an der spezifischen (z. B. familiären) Kommunikationsdynamik beteiligt und zweitens zur Störung der Schemaentwicklung auch biologische Faktoren, wie z. B. eine genetisch bedingte synaptische Übererregbarkeit beitragen. Ciompi 4 0 bezeichnet die Störung (Diffusität) der kognitiv-emotionalen Bezugssysteme (Schemata) als den eigentlichen Träger der schizophrenogenen Vulnerabilität. Interessant ist, daß sich zur Diffusität psychischer Bezugssysteme offenbar eine unmittelbare Korrespondenz auf der Ebene des neuronalen Sub38 39 40

L. Ciompi, Affektlogik (FN 8), ders., Integration (FN 3). L. Ciompi, (FN 3), S. 51 f. L. Ciompi, (FN 3).

6 Sclbstorganisation, Bd. 2

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strats finden läßt, die auf dem Prinzip der „neuronalen Plastizität" beruht 41 . Die Entwicklung von Schemata bedarf wie alle Lernvorgänge biologischer Grundlagen, die in funktionellen und anatomischen Veränderungen des neuronalen Systems zu suchen sind (z. B. in bestimmten elektrophysiologischen Bahnungen, im Dendritenwachstum oder in der interneuronalen synaptischen Verdrahtung). (2) Dopamin- und Serotoninstoffwechsel (δ). Ein wichtiger vermittelnder Faktor in der Genese der Schizophrenie scheint im Neurotransmitterstoffwechsel von Dopamin, Serotonin oder Norepinephrin zu bestehen. Viele Befunde sprechen bekanntermaßen für eine Überaktivität des dopaminergen und serotoninergen Systems bzw. für eine Hyperrezeptivität der Dopaminund Serotoninrezeptoren. So beruht die Wirkung von Neuroleptika offenbar auf einer Blockade der Dopaminrezeptoren. Neuere Medikamente (ζ. B. Pipamperon, Setoperon, Ritanserin, Risperidone) greifen als Antagonisten in den Serotoninstoffwechsel ein 4 2 . Psychoseauslösende Stoffe wie Amphetamine intensivieren die Dopaminaktivität. Der Plasmaspiegel des Dopaminabbauprodukts Homovanillinsäure korreliert mit der Intensität psychotischer Symptome. Auch wurden erhöhte Serotoninkonzentrationen im Serum chronisch schizophrener Patienten gefunden. Kürzlich gelang zudem der postmortem-Nachweis vermehrter Dopaminrezeptoren bei Schizophrenen. Da der Dopaminstoffwechsel streßempfindlich reagiert 43 , ist darin ein wichtiger Mediationsmechanismus zwischen Umweltreizen und zerebralem Substrat zu vermuten. Theoretische Bedeutung kommt — zumindest für die Theorien, die eine enge Verbindung zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen postulieren 44 — der neuroanatomischen Lage des dopaminergen wie des serotoninergen Systems zu: Das dopaminerge System verknüpft die älteren basalen Hirnregionen über das limbische System mit dem Cortex, insbesondere dem Frontalhirn. Ähnlich konnte gezeigt werden, daß sich Serotonin-(S2)-Rezeptoren im mesolimbischen System, im Frontalcortex und im Striatum konzentrieren. (3) Soziale (In-)Kompetenz (κ). Der schizophrenierelevante Parameter der sozialen Kompetenz ist — wie die Parameter σ und δ so gepolt, daß eine höhere Ausprägung in Richtung größerer Vulnerabilität weist, in diesem Fall also in Richtung ausgeprägterer Inkompetenz. Vulnerable Risikopersonen scheinen bereits vor Beginn der Erkrankung in ihrem Sozialverhalten 41

J.L. Haracz (FN 6); J. L. Haracz, Neural Plasticity in Schizophrenia, in: Schizophrenia Bulletin, Heft 11, 1985, S. 191-229. 42 Y G. Gelders, Thymosthenische Wirkstoffe, ein neuartiger Ansatz in der Behandlung der Schizophrenie, in: W. Böker/H. D. Brenner, Systemische Störung (FN 33), S. 65-74. 43 J. L. Haracz (FN 6) (FN 41); M. E. Trulson/D. W. Pressler , Dopamine-containing Ventral Tegmental Area Neurons in freely Moving Cats: Activity during the Sleep-waking Cycle and Effects of Stress, in: Experimental Neurology, Heft 83, 1984, S. 367-377. 44 L. Ciompi , Affektlogik (FN 8).

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sowie in ihrem Kontaktspektrum beeinträchtigt zu sein, insbesondere bei schlechter prämorbider Anpassung. I m Rahmen eines belastenden Familienmilieus, widersprüchlicher Kommunikationsstrukturen sowie der damit einhergehenden Diffusität sozialer Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen (Schemata) können sich interpersonelle Kompetenzen kaum ausreichend entwickeln. Deswegen setzen zahlreiche Therapieprogramme (z. B. das IPT von Brenner und Mitarbeitern oder das Training interpersoneller Problemlösungs-Fertigkeit von R. P. Liberman) eben daran an, die sozialen Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen Schizophrener zu verbessern. Über den pathogenetischen Aspekt hinaus müssen Beeinträchtigungen der sozialen Kontaktfähigkeit als zentrales Charakteristikum akuter wie chronischer schizophrener Zustände, sowie zudem noch als HospitalisierungsArtefakt gelten. Soziale Kompetenz kann als protektive Strategie gegenüber Streß und belastenden emotionalen Interaktionen (high expressed emotions) eingesetzt werden, ein Schutzschild, das bei entsprechenden Beeinträchtigungen eben durchlässig wird. In einer methodisch aufwendigen Untersuchung von Käsermann & Altorfer 4 5 konnte gezeigt werden, daß physiologische Reaktionen (z. B. die Pulsrate) eines Patienten unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob es ihm gelingt, invasiv-belastenden Gesprächssequenzen mit seinen Eltern sachlich-angemessen zu begegnen oder ob er ausweichend reagiert. (4) ßk 9 (5) ßS9 (6) ßn (7) ße9 (8) ßw: Die fünf ^-Parameter mediieren in unserem gemischten Feedback-Modell den Grad der negativen Rückkoppelungen. Ein höherer ß-Wert bedeutet also, daß die Ausprägung einer Variablen stärker gedämpft und rückreguliert wird. In populationsdynamischen Modellen 4 6 bestimmen vergleichbare Parameter die Wirkung von Ressourcenbegrenzungen (z. B. aufgrund von Konkurrenz oder hoher eigener Populationsdichte) auf die Abnahme der Populationsdichte (Ressourcenbegrenzungsparameter). In unserem Zusammenhang könnte man die Ausprägung der Parameter ßk, ßp und ßw (bezogen auf die Variablen „Kognitive Störungen", „Rückzug" und „Wahn") im Sinne einer natürlichen Gesundungs- oder antipsychotischen Tendenz, die der Parameter ßs und ße als natürliche Entkrampfungstendenz (bezogen auf Streß und überemotionalisiert-kritisches Familienklima) interpretieren. (5) Genetische Disposition (y). Dieser Parameter spielt für unser Modell keine unmittelbare Rolle. Eine bestimmte genetische Disposition muß vielmehr als konstante Hintergrundbelastung angenommen werden, damit sich 45 M. L. Käsermann/A. Altorfer, Physiologische Korrelate unterschiedlich belastender Situationen in Familiengesprächen, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Systemische Störung (FN 33), S. 300-314. 46 C. J. Krebs , Ecology, New York 1985; J. Kriz , Synergetics in Clinical Psychology, in: H. Haken/M. Stadler (Eds.), Synergetics of Cognition, Springer Series in Synergetics, Vol. 45, Berlin 1990, S. 393-404; E. P. Odum , Grundlagen der Ökologie, Bd. 1, Stuttgart 1983.

6*

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die in den Parametern σ, δ und κ ausgedrückte Vulnerabilität überhaupt entwickeln kann (vgl. unten, Kap. 5c). Die genetische Disposition allein reicht offenbar kaum aus, um eine schizophrenogene Vulnerabilität zur Manifestation zu bringen. Wie eine neuere finnische Adoptionsfamilienstudie. 47 überzeugend belegen konnte, ist hierzu eine spezifische Wechselwirkung mit einem belastenden Familienmilieu notwendig.

3.3 Das Modell Im folgenden werden nun die Hypothesen zu den Interaktionen zwischen den in 3.1 beschriebenen Variablen skizziert. Ebenso wie zu den Punkten 3.1 und 3.2 ließen sich auch hierzu eine Fülle von Literaturbelegstellen zitieren, worauf wir hier wie dort aus Platzgründen verzichten. Die verbale Darstellung der Interaktionen kann unmittelbar mit den Differenzengleichungen (l)-(5) in Kapitel 4 sowie mit Abb. 6 verglichen werden. fl -e-

ß.

δ,σ

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| _ J I _ J 6,0 Quelle: Ciompi & Müller 1976; Abb. aus Ciompi 1989, S. 30. Abb. 6: Das der Simulation zugrunde liegende Strukturmodell 47

P. Tienari/I. Lahti/A. Sorri/M. Naarala/J. Moring/K. E. Wahlberg, Die finnische Adoptionsfamilienstudie über Schizophrenie: Mögliche Wechselwirkungen von genetischer Vulnerabilität und Familien-Milieu, in: W. Böker/H. D. Brenner (Hrsg.), Systemische Störung (FN 33), S. 52-64.

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(1) Es wird angenommen, daß die Zunahme kognitiver Störungen (k) linear von der bereits erreichten Ausprägung kognitiver Störungen abhängt, und zwar mediiert von Parameter σ. Je diffuser die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschemata interner (psychischer) und externer (Umwelt-)Ereignisse sind, desto schlechter können wahrgenommene Anomalien des kognitiven Funktionierens eingeordnet, verarbeitet und kontrolliert werden und desto leichter kommt es zu einer Ausweitung bzw. Intensivierung kognitiver Störungen. Weiterhin interagieren kognitive Störungen in nicht-linearer Weise mit Streß, da sie einerseits Angst und Verunsicherung auslösen und damit Streß erzeugen, andererseits durch kognitiv und emotional überforderende Ereignisse (Streß), die bei gegebenen kognitiven Störungen ja mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auftreten, aktiviert werden. Als Mediator dieser Interaktion wird die Aktivität des dopaminergen und serotoninergen Systems angenommen (Parameter δ), was u. a. deswegen als sinnvolle Annahme erscheint, weil eine medikamentöse Reduktion dieser Aktivität die Symptomatik von Denkstörungen abschwächen und auch den Einfluß von Streßerfahrungen auf Denkstörungen abdämpfen kann. Schließlich geht das Modell von einer nicht-linearen negativen Rückkoppelung der kognitiven Störungen auf sich selbst aus, mediiert von Parameter ßk. (2) Die Zunahme der Variable Streß (s) hängt linear von der Ausprägung des Streß ab, ein Zusammenhang, der von Paramter κ mediiert wird: Streß führt zu noch mehr Streß, wenn soziale Kompetenzen der Abgrenzung, der Situationsbewältigung und des Streßmanagements gering ausgeprägt sind. Auch die Abnahme von Streß hängt von sich selbst ab, und zwar in nichtlinearer Weise. Bei hohen Ausprägungen erfolgt daher die Rückregulation (ζ. B. durch Erschöpfung, Habituation) schneller als die weitere Zunahme. Auch die Interaktion mit Rückzug und Wahnbildung spielt bei der Rückregulation von Streß eine Rolle: Psychischer oder räumlicher Rückzug (Ausdem-Felde-Gehen) bedeutet Streßvermeidung (bzw. Flucht), und Wahnbildung reduziert den Streß, der durch Inkohärenzerfahrungen, Zerfall des gerichteten Denkvermögens, Reizüberflutung und Erlebnissen der Ich-Entgrenzung entsteht (vertreten durch die Variable „Kognitive Störungen"). Eben diese nicht-lineare Interaktion zwischen Streß und kognitiven Störungen wirkt natürlich auch streßerzeugend, und zwar vermittelt über die Dopamin- und Serotonin-Aktivität (Begründung wie oben). Streß wird zudem von Interaktionserfahrungen der Kategorie „High Expressed Emotions" aktiviert, und zwar um so deutlicher, je ausgeprägter die Streßbelastung des Patienten ohnehin schon ist (nicht-lineare Interaktion). Diese Streß Wirkung ist um so deutlicher, je weniger belastende zwischenmenschliche Erfahrungen kognitiv-emotional eingeordnet und bewältigt werden können. Daher wird die Streßaktivierung der Interaktion e-s durch den Parameter σ (Diffusität der Schemata) mediiert.

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Da das Auftreten von Streßereignissen nicht allein von dem in diesem Modell enthaltenen Prozessen determiniert wird, sondern auch von zufälligen, weder vorhersehbaren noch kontrollierbaren Ereignissen in der Umwelt des betreffenden Patienten abhängt, müssen Zufallsfluktuationen (fl) als Streßgenerator mitbedacht werden. (3) Wie sehr sich ein Patient zurückzieht, wird zunächst als linear abhängig vom bereits bestehenden Grad des Rückzugs (r) betrachtet, da — so die Annahme — autistische Einkapselung und räumliche Isolation selbstverstärkende Tendenzen aufweisen. Dies um so mehr, je weniger Kompetenzen zur sozialen Kontaktaufnahme zur Verfügung stehen (Parameter κ). Eine nicht-lineare Wechselwirkung besteht — speziell bei geringen sozialen und streßbewältigenden Kompetenzen (Parameter κ) — mit der Variable „Streß": vorliegende Rückzugstendenzen führen bei auftretenden Streßerlebnissen, gleich ob diese intrapsychisch oder umweltbedingt zustande kamen, zu Rückzug als Selbstschutzstrategie. Lediglich ein Spezialfall davon ist die Erfahrung von stark emotionalisierten und kritischen Interaktionsepisoden (e), für die analoges gilt. Auch das Auftreten von Wahn führt interaktiv mit bestehenden Rückzugstendenzen zu weiterem Rückzug: Wahn bedeutet per definitionem das „Sich Verspinnen" in eine idiosynkratische Eigenwelt. Da produktive Symptome wie Wahn und Halluzinationen in besonderer Weise auf Neuroleptikamedikation ansprechen, wurde als vermittelnder Parameter δ (die dopaminerge und serotoninerge Aktivität) gewählt. Die Stärke der quadratischen negativen Rückkoppelung des „Rückzugs" auf sich selbst wird von ßr bestimmt. (4) Die Variable e (für „Expressed Emotions") steht in diesem Modell nicht nur für das „objektive" Verhalten von Bezugspersonen, sondern auch und vor allem für das subjektive Erleben von EE. Die Veränderung von e über die Zeit wird in zweifacher Weise als lineare Funktion von e behandelt: zum einen mediiert über den Parameter σ, zum anderen über den Parameter κ, da sich Bewältigungsschwierigkeiten gegenüber emotional aufgeheizten und überkritischen zwischenmenschlichen Begegnungen sowohl aufgrund diffuser Schemata als auch aufgrund fehlender sozialer Kompetenzen ergeben. Auch tragen sozial inkompetente Reaktionsformen auf Expressed Emotions zu weiterer Kritik und Emotionalisierung auf Seiten der Bezugspersonen bei. Die nicht-lineare Rückregulation (mediiert von ße) erfolgt über die Interaktion von e mit r, da Rückzug als Unterbrechung von Face-to-face-Kontakten bzw. als emotionaler Ausstieg aus belastenden Kommunikatonssituationen wirkt, sowie über die (quadratische) Interaktion von e mit sich selbst. Hinzugeschaltet wird ein Zufallsfluktuations-Term(/7), da e ja auch für das von externen Bedingungen abhängige Verhalten von Bezugspersonen steht. (5) Die Veränderung der Wahnausprägung (w) über die Zeit ist im Modell zunächst eine lineare Funktion des Wahns selbst, was einer Ausbreitungs-

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und Verfestigungstendenz von Wahnprozessen entspricht. Diese Wachstumsfunktion ist an neurochemische Prozesse des Dopamin- und Serotoninstoffwechsels gebunden (δ). Die psychologischen Wahnprozesse werden aus der nicht-linearen Interaktion zwischen kognitiven Verarbeitungsstörungen, die — insofern sie bewußt als solche erlebt werden — auch inhaltlich Anlaß für Wahninterpretationen sein können, und der zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen Tendenz zur Wahninterpretation erklärt. Vermittelnder Parameter ist σ, da die Unfähigkeit, komplexe oder mehrdeutige psychische und soziale Situationen angemessen einzuordnen und entsprechend darauf zu reagieren, eine Grundlage für die Tendenz zu absonderlichen Interpretationen und paranoiden Wahrnehmungen darstellt. Schließlich enthält die Gleichung zur Wahndynamik noch einen quadratischen Rückregulationsterm, der die Wahnausprägung mit dem Parameter ßw verknüpft.

3.4 Produktion

und Protektion

Differenziertere Betrachungsweisen der schizophrenen Entwicklungsdynamik machen deutlich, daß verschiedene Symptome als Bewältigungsversuche primärer Krankheitsprozesse oder als Bewältigungsversuche anderer, mißglückter Bewältigungsversuche aufgefaßt werden können (vgl. das Konzept der „autoprotektiven Strategien" 48 ). Dies ist für Rückzugserscheinungen gegenüber Reizüberflutung, überhöhten Anforderungen oder belastenden zwischenmenschlichen Kontakten unmittelbar einsichtig. Zudem aber „ . . . werden in den von Hughlings Jackson (1958), Bleuler (1950) und Freud (1959, Original 1911) vertretenen Auffassungen sogar Symptome wie Wahn und Halluzination als Bewältigungsmechanismen angesehen, denen dann die primären Krankheitsmechanismen wie formale Denkstörungen gegenüberstehen" 49 . Es ist nachvollziehbar, daß ein zwar intersubjektiv nicht geteiltes, aber doch kohärentes Interpretationsmuster erträglicher ist als eine inkonsistente, unkontrollierbare, zerfallene und somit ängstigende Erlebniswelt. Wahnbildung ist in diesem Sinne als Selbstheilungsversuch interpretierbar. Gemäß einer Theorie der Selbstheilungsversuche Schizophrener 50 lassen sich unsere fünf Variablen nun in solche einteilen, die eher an der Produktion von Schizophrenie beteiligt sind (Kognitive Störungen, Streß, Expressed Emotions), und in solche, die eher der Protektion, also Selbstheilungsversuchen dienen (Rückzug, Wahn) (s. Abb. 7).

48

W. Böker (FN 24); G. Gross (FN 24). J. S. Strauss 6FN 23); ausführlicher hierzu W. Böker/H. D. Brenner, Selbstheilungsversuche Schizophrener: psychopathologische Befunde und Folgerungen für Forschung und Therapie, in: Nervenarzt, Heft 54, 1983, S. 578-589; W. Böker (FN 24). 50 W. Böker, H. D. Brenner (FN 49); W. Böker (FN 24). 49

Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek therapeutische Ansatzpunkte

A b b . 7: Synergetisches Modell der Schizophrenie

Diese Auffassung korrespondiert unmittelbar mit dem Konzept der dynamischen Krankheiten, in dem die Veränderungsrate einer bestimmbaren Substanz (in unserem Zusammenhang, einer Variablen) über die Zeit [x(0] als Funktion der Differenz zwischen Produktionsrate und Abbau- (oder Ausscheidungs-)rate dieser Substanz konzipiert wird. Allgemein:

wobei ρ für den Produktions- und d für den Abbauterm steht. Es sei daraufhingewiesen, daß die in Kapitel 3.2 eingeführten Parameter in der Terminologie der Synergetik als Kontrollparameter eines komplexen bio-psycho-sozialen Systems interpretierbar sind, welches auf der makroskopischen Ebene durch die Variablen k, s, r, e und w repräsentiert wird 5 1 . Die Interpretation der Parameter σ, δ und κ als Kontrollparameter ist um so plausibler, als damit drei der bedeutendsten therapeutischen Ansatzpunkte der Schizophrenie gekennzeichnet sind: Klarheit und Eindeutigkeit der Kommunikation mit dem Patienten sowie die daraus abgeleitete Angehörigenarbeit und andere Methoden des Aufbaus funktionstüchtiger kognitivemotionaler Schemata für soziale Situationen (σ), Neuroleptikamedikation (δ) und soziales Kompetenztraining (κ) (vgl. Abb. 7). 51

H. Haken , Information and Self-Organization: A Macroscopic Approach to Complex Systems, Springer Series in Synergetics, Vol. 40, Berlin 1988.

Synergetik in der Psychiatrie

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4. Umsetzung des Strukturmodells in ein Gleichungssystem Mathematische Modellierungen dynamischer Muster der Schizophrenie wurden bereits mehrfach versucht. Cronin 5 2 beispielsweise beschreibt die bei der periodischen katatonen Schizophrenie auftretenden periodischen Variationsmuster motorischer Symptome und biochemischer Stoffwechselprozesse mittels eines Systems von Differentialgleichungen. King und Barchas 53 nutzen die Theorie dynamischer Systeme zur Analyse von Funktionsstörungen im Feedbacksystem des Dopaminstoffwechsels, und Elkaim, Goldbeter und Goldbeter 54 versuchen eine Analyse symmetriebrechender Bifurkationen im Bereich intrafamilärer Transaktionsmuster. Nicht-lineare Differential- bzw. Differenzengleichungen bieten sich zur Modellierung komplexer Dynamiken in besonderer Weise an, da sie in der Lage sind, je nach Parameterwahl asymptotisch stabile, einfach oder komplex periodische sowie schließlich chaotische Verlaufsmuster zu erzeugen 55. Ein weiteres Argument besteht in der Übersetzbarkeit von graphischen Strukturmodellen in Gleichungssysteme, was anhand der bekannten LotkaVolterra-Gleichungen veranschaulicht werden soll. Das System beschreibt eine idealisierte Wechselwirkung zwischen einer Beutetierpopulation (x) und einer Räuberpopulation (y): χ = ax — ßxy y = —yy + ôxy

wobei die Parameter α, β, y und δ positive Konstanten darstellen (Hinweis: Die Parameter in diesem Beispiel sind nicht mit den in Kap. 3.2 eingeführten identisch). Gemäß der ersten Gleichung würde die Beutepopulation unbeschränkt wachsen (der Differentialgleichung χ = αχ entspricht die exponentielle Wachstumsfunktion x(/) = eat), wenn es die Räuber nicht gäbe (y = 0) (Abb. 8a), und sie kann naturgemäß nur abnehmen (x < 0), wenn sowohl Beutetiere als auch Räuber vorhanden sind (Abb. 8b). Die zweite Gleichung besagt, daß ohne Beutetiere (x = 0) die Räuberpopulation unwiderruflich aussterben müßte (y(t) = e~y t) (Abb. 8c). Die Räuber vermehren sich jedoch, 52

J. Cronin , Mathematical Aspects of Periodic Catatonic Schizophrenia, in: Bull. Math. Biol., Heft 39, 1977, S. 187-197. 53 R. King/J. D. Barchas , An Application of Dynamic Systems Theory to Human Behavior, in: E. Basar/H. Flohr/H. Haken/A. J. Mandell (Eds.), Synergetics of the Brain, Springer Series in Synergetics, Vol. 23, Berlin 1983. 54 M. Elkaim/A. Goldbeter/E. Goldbeter , Analyse des transactions de comportement dans un système familial en termes de bifurcation, in: Cahiers Critiques de Thérapie Familiale et de Pratique des Réseaux, Heft 3, 1980, S. 18-34. 55 M C. Mackey/U. an der Heiden, (FN 17); H. G. Schuster , Deterministic Chaos. An Introduction, Weinheim 1988; W. Seifritz, Wachstum, Rückkoppelung und Chaos, München 1987.

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Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek

wenn ein Bestand an Beutetieren vorhanden ist. Dieser nimmt dann aber wieder ab, weil er von der wachsenden Räuberpopulation zunehmend reduziert wird (Ab. 8d) 56 . Es resultiert das bekannte oszillierende Muster von Räuber- und Beutepopulation.

(b)

(a)

.

ß δ

(c)

+

(d)

Abb. 8: Strukturmodell der populationsdynamischen Wechselwirkung zwischen einer Räuber- (y) und einer Beutepopulation (x) gemäß den Lotka-Volterra-Gleichungen

Die Analogie zwischen dem Strukturmodell eines Systems und den entsprechenden Gleichungen macht deutlich, daß die systemische Analyse der Wechselwirkungen zwischen den relevanten Größen (Variablen) des Systems eine wesentliche Voraussetzung für die darauf aufbauende mathematische Formalisierung darstellt. Das Vorgehen bei der Entwicklung von Strukturmodellen bio-psycho-sozialer Systeme wird im Detail bei Schiepek 5 7 unter der Bezeichnung „idiographische Systemmodellierung" beschrieben. Erkennbar ist dabei die für die Systemwissenschaften charakteristische Verbindung zwischen Reduktionismus und Holismus 58 . 56 Vgl. R. M. May, Modelle für zwei interagierende Populationen, in: R. M. May (Hrsg.), Theoretische Ökologie, Weinheim 1980b, S. 5-23; W. Seifritz (FN 55). 57 G. Schiepek, Systemische Diagnostik in der Klinischen Psychologie, München 1986; G. Schiepek, Systemtheorie der Klinischen Psychologie, Braunschweig 1991. 58 Für die Ökologie siehe hierzu E. P. Odum (FN 46); F. Tretter, Humanökologische Medizin, in: B. Glaeser (Hrsg.), Humanökologie, Opladen 1989, S. 209-224.

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Die Grundlage für die Simulation des Schizophrenie-Modells liefert die sogenannte Verhulst-Gleichung x= ax (1 — x/K)

(mit a. = Wachstumsrate (anstelle von a findet man oft r), χ = Populationsgröße, Κ — erreichbarer Maximalwert von x). Die Verhulst-Gleichung bzw. Varianten davon werden in der Ökologie üblicherweise zur Modellierung logistischer (bzw. sigmoider) Wachstumsprozesse einer einzelnen Population verwendet 59 . Eine andere Darstellungsform der Verhulst-Gleichung lautet: χ = (a — ßx)x.

Die Wachstumsrate a resultiert dabei aus der Differenz zwischen Geburtenrate y und Sterberate δ, welche art- und nischenspezifisch als konstant angenommen werden (a — y — δ). Der Faktor β — \/K bezeichnet die Begrenzung von Futter- und Raumressourcen, was bei wachsender Populationsdichte zu einer Reduktion der Population über deren genuine Sterberate hinaus führt (— β χ 2 ). Asymptotische Stabilität erreicht das System bei χ = a / ß weitgehend unabhängig von den Anfangsbedingungen x 0 (aber mit x 0 > 0). Der Differentialgleichungsterm ax ist als autokatalytischer Prozeß des Systems zu verstehen und beschreibt die exponentielle Wachstumsfunktion χ (/) = eat. Autokatalyse ist ein zentraler Mechanismus vieler selbstorganisierender Systeme 60 . Die Größe oder Dichte einer Population (die Variable x) spielt die Rolle eines Ordnungsparameters der Systemdynamik, welche auf der Mikroebene durch Geburt und Tod sehr vieler Einzelindividuen konstituiert wird. Analog dazu dienen die makroskopischen Variablen des Schizophrenie-Modells als Ordnungsparameter eines dynamischen Musters, das auf der Mikroebene durch ein hochkomplexes bio-psycho-soziales System gebildet wird (vgl. Abb. 7). Eine weitere Analogie zum Schizophrenie-Modell in Abb. 7 besteht darin, daß die Veränderung der Populationsgröße χ eine Funktion aus Produktions- und Abbauprozessen ist 6 1 (vgl. die obigen Ausführungen zum Konzept der dynamischen Krankheiten). M i t a = y — δ ist 59

Vgl. R. M. May, Populationsmodelle für eine Art, in: R. M. May (Hrsg.), Theoretische Ökologie, Weinheim 1980a, S. 5-23; C. J. Krebs (FN 46), Kap. 12; für mathematische, insbesondere chaostheoretische Details der Verhulst-Dynamik siehe W. Seifritz (FN 55), Kap. 2. 60 Vgl. G. Nicolis/I. Prigogine, Die Erforschung des Komplexen, München 1987. 61 Η Haken, Synergetik (FN 28), Kap. 10.

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Günter Schiepek und Wolfgang Schoppek

λ: = (y -

δ)χ - ßx 2

= y χ — (δ + βχ)χ

=

p - d

so daß der Produktionsterm ρ aus Populationsgröße mal genuiner Geburtenrate, der Abbauterm d aus genuiner Sterberate mal Populationsdichte und aus dem Ressourcenbegrenzungsparameter mal quadrierter Populationsgröße gebildet wird. Es sei daraufhingewiesen, daß die Wahl populationsdynamischer Modelle zur Simulation psychosozialer Prozesse 62 aufgrund anschaulicher Analogien getroffen wurde und nicht etwa weil wir annehmen, die Entwicklung von Tierpopulationen in Ökosystemen hätte inhaltlich irgendetwas mit seelischem Leiden oder zwischenmenschlichen Konflikten zu tun. Hinzu kommt, daß es sich auch nicht um eine direkte Übertragung von ökologischen Modellen in den Bereich der Psychiatrie handelt. Vielmehr wird anhand dieser Paralleln die disziplinübergreifende Leistungsfähigkeit der Theorie dynamischer Systeme für Modellierungen komplexer, dynamischer Phänomene in unterschiedlichen Anwendungsfeldern deutlich. Ökologie und Populationsdynamik sind so gesehen ebenso Anwendungsbereiche der Synergetik wie die Psychiatrie (ζ. B. im Bereich ätiologischer oder therapeutischer Prozeßforschung) und zahlreiche andere Wissenschaften 63 . Eine weitere Leistung populationsdynamischer Modelle besteht darin, fördernde oder blockierende Wechselwirkungen zwischen Variablen analog zu den Wechselwirkungen zwischen Tierpopulationen in einem Ökosystem modellieren zu können. Der fördernde Einfluß einer Variablen (x) auf eine andere (y) (Crosskatalyse) kann als symbiotische Kooperationsform zwischen diesen Variablen (bzw. Populationen) interpretiert werden: *=(