Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 4 (1993). Ästhetik und Selbstorganisation [1 ed.] 9783428478132, 9783428078134

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 4 (1993). Ästhetik und Selbstorganisation [1 ed.]
 9783428478132, 9783428078134

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SELBSTORGANISATI ON

Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 4

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 4 1993

Asthetik und Selbstorganisation Herausgegeben von Uwe Niedersen und Frank Schweitzer

DUßcker & Humblot . Berliß

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-07813-6

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Wolfgang Welsch, Übergänge

11

Rainer E. Zimmermann, Ästhetik der Differenz. Strukturbildung im Weltprozeß

17

Alfred K. Treml, Ästhetik der Differenz. Schönheit und Kunst aus konstruktivistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Andreas Göbel, Friedrich Nietzsche: Physiologisches Kunstprogramm und die Selbstorganisation des Kunstsystems. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstorganisationsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Friedrich Cramer, Schönheit als dynamisches Grenzphänomen zwischen Chaos und Ordnung - ein Neuer Laokoon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

loachim Wilke, Landscape revisted. Naturästhetik und Selbstorganisation

103

Hans-Christian von Dadelsen, Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus. Zur Selbstorganisation rhythmischer Valenzen . . . . . . . . . . . . . . 121 Hans-Georg Bartel und ludith BarteI, " ... selbst dann bin ich die Welt". Zur Komplexität und Evolution in "Tristan und Isolde" von Richard Wagner ...... 141 Hans-Iürgen Krug, Der Schwindel und das Trübe. Dynamische Prinzipien in Ästhetik und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 August Nitschke, Alternative Selbstorganisationsmodelle - Der Wandel der Indianer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Gerhard PorteIe, Kreative Selbstorganisation. Gegenseitige kreative Anpassung von Person und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Rainer-M. E. lacobi, Die aisthetische Dimension ärztlichen Wissens. Anmerkungen zur Phänomenalität und Wahrnehmung menschlichen Krankseins ..... 217 Gerard Wormser, Mer1eau-Ponty - Die Farbe und die Malerei . . . . . . . . . . . . 233 Uwe Niedersen, Ästhetik und Zeit. Wilhelm Ostwald über Kunst

251

Edition Wilhelm Ostwald, Kalik oder Schönheitslehre (Uwe Niedersen) . . . . . . . . . . . 271

6

Inhaltsverzeichnis

Buchbesprechungen Peat, F. David, Der Stein der Weisen. Chaos und verborgene Weltordnung (Ludwig Pohlmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Küppers, Bernd-Olaf, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie (Thomas Gil) ........... 299 Haken, Hermann und Haken-KreU, Maria, Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung. Synergetik als Schlüssel zum Gehirn (Uwe Niedersen) . . . . . . . . . . . . . . . 301 Wyss, Dieter, Die Philosophie des Chaos oder das Irrationale. Die Bestimmung des Menschen in einer irrationalen Welt (Rainer-M. E. Jacobi) ......... 302 Coveney, Peter und Highfield, Roger, Anti-Chaos. Der Pfeil der Zeit in der Selbstorganisation des Lebens (Ludwig Pohlmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Paslack, Rainer, Urgeschichte der Selbstorganisation. Zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas (Hans-Jürgen Krug) . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Ziemke, Axel, System und Subjekt. Biosystemforschung und Radikaler Konstruktivismus im Lichte der Hegeischen Logik (Uwe Niedersen) . . . . . . . . . . . . 309

Autorenverzeichnis

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Einführung Der Vorstellung vom Schönen fehlt ein Begriffssystem, das allgemein akzeptiert werden könnte. Während in der modernen Naturwissenschaft das Schöne zunehmend in den Blickpunkt gerät - sei es als heuristisches Argument bei der Konstitution von Theorien oder in den Strukturen, die am Rande des Chaos entstehen - ist das Schöne an sich, das traditionell als Leitmotiv der Kunst galt, heute geradezu obsolet geworden und an die Stelle der Frage: Was ist Kunst?, tritt aus der Sicht des Konstruktivismus die Frage: - Wie ist Kunst möglich? Auch die verschiedenen Wissenschaftszweige, die sich mit der Selbstorganisation komplexer Zusammenhänge beschäftigen, entwickeln entsprechend ihren jeweiligen konzeptionellen Ansätzen und ihren inhaltlichen Charakteristika, die ihnen adäquaten Vorstellungen über das Schöne. Der vorliegende Band stellt sich dem daraus resultierenden Spannungsfeld, indem die Autoren das Thema "Selbstorganisation und Ästhetik" von ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten aus aufgegriffen haben. Walfgang Welsch geht von der Erkenntnis aus, daß seit der Moderne die Autonomie der Kunst durch das Leben bzw. durch den Alltag überschritten worden ist. Die Kunst ist von ihrer Eigengesetzlichkeit abgerückt und zu einem Lebens-Mittel, im besonderen auch zu einer modisch-ästhetischen Nutzanwendung geworden. Der theoretische Ansatz von Welsch zielt auf die Überbrückung, d. h. auf mögliche Übergänge der beiden sich (heterogen) gegenüberstehenden Kunstauffassungen. Mit dem Wahrnehmungssystem für Kunst, mit ästhetischen Fiktionen will Welsch den Alltag (und auch die Wissenschaft) konstruiert wissen. Rainer E. Zimmermann befaßt sich ebenfalls mit der aktuellen Forderung nach einer Rückbesinnung auf die Autonomie der Kunst. Er setzt der Argumentation für eine Hinwendung zum klassischen Kunstbegriff eine Kunstauffassung entgegen, die als Ästhetikproduktion die gesellschaftlich vermittelte Subjektivität zu beachten hat. Philosophisches Denken, das mit den Namen Schelling, Bloch und Sartre verbunden ist, wird bemüht, um diesen Standpunkt facettenreich zu belegen. Alfred K. Treml unternimmt den interessanten Versuch, auf der Grundlage des radikalen Konstruktivismus ein Begriffssystem zu schaffen, das die Frage beantwortet, wie Kunst möglich wird. Im Ergebnis erscheint Kunst hierbei als

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Einführung

ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Sprach spiel. Schönheit liegt als ein Konstrukt von Beobachtern im Beobachtungsbereich der eigenen Beobachtung jeweils schon vor. Schönheit kann somit nur kognitiv beobachtet werden. Das Gebiet der Beobachtung der Selbstbeobachtung und -beschreibung des Kunstsystems in der Form ästhetischer Theorien bearbeitet auch Andreas GÖbel. Sein Rekurs bezieht sich im besonderen auf Friedrich Nietzsches verstreute Fragmente zu einer Physiologie der Kunst. Göbel versucht einen Ansatz für eine innovative Beschreibung des Gesellschaftssystems "Kunst" zu formulieren. Dem Konstruktivismus direkt entgegengesetzt, plädiert Friedrich Cramer für eine "Schöne Form", die normativ erwartet werden kann. Natürliche Übergänge zwischen Ordnung und Chaos bringen Schönheit hervor. Der Mensch besitzt die dazugehörigen Empfindungsqualitäten, welche Schönheit als solche zu erleben vermögen. Joachim Wilke fragt im besonderen nach Hinweisen auf ästhetische Aspekte des Naturbegriffs unter Heranziehung des Selbstorganisationsparadigmas.

Das von Friedrich Cramer angesprochene dynamische Prinzip, das Bestandteil der physikalischen Chaostheorie ist, wird in einigen weiteren Aufsätzen auf ästhetische Zusammenhänge bezogen. Christian von Dadelsen zeigt Wirkkräfte innerhalb des "musikalischen Organismus" auf, die eine Harmoniefolge, einen Rhythmus oder eine ganze Musikgeschichte hervorbringen. Hans-Georg und Judith Bartel gelingt es, die Komplexität des Werkes "Tristan und !solde" von Richard Wagner vom Standpunkt einer allgemeinen (physikalischen) Komplexitätstheorie zu beleuchten. Hans-Jürgen Krug unternimmt einen ähnlichen Exkurs, indem er aus der Literatur Beispiele hervorhebt, die spannungsreiche Übergangssituationen aufzeigen und hier mit den Worten der "Schwindel" und das "Trübe" bezeichnet werden. Sie finden eine konkrete Entsprechung in der Prozeßstruktur für nichtlineares Geschehen.

Alle drei Aufsätze plädieren dafür, daß die "normative Erwartung" oder mit anderen Worten, die auf Objektivität sich gründende Voraussage von Schönheit, real ist. Auch wenn für das Chaosfeld aus erkenntnistheoretischer Sicht die Voraussage der Nichtvoraussagbarkeit gilt, bleibt jedoch die Objektivität als die Grundlage der physikalischen Selbstorganisationsforschung weiter bestehen. August Nitschke deutet zwei indianische Kultformen nach Prinzipien, die er auch aus der Physik und Chemie folgert. Seine Bestrebungen gelten letztlich dem Auffinden von strukturwissenschaftlichen Gesetzen, die von einem naturwissenschaftlichen Substanzbegriff weggerückt sind.

Einführung

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Gerhard PorteIe beschäftigt die aktuelle Diskussion, wie aus fremdorganisierten Systemen selbstorganisierte werden. Er gibt darauf keine verbindliche Antwort, sondern entwirft, diese Problematik gleichsam überwindend, eine Ästhetik der "kreativen Anpassung". Sein "Tun des Nichttuns" meint den Ungehorsam gegenüber dem Anspruch, den die Objektivität mit sich bringt. Selbst den für autopoietische Systeme so wichtigen Unterschied zwischen Subjekt und Umwelt wird durch seine Ästhetik der Partnerschaft überwunden. Rainer-M. E. Jacobi nähert sich ebenfalls Zusammenhängen, die mit "kreativer Ästhetik" bezeichnet wurden: Arzt und Patient begegnen sich in einem Zusammenhang gegenseitigen Respektierens.

Wiederum ist es die besondere Form der "kreativen Anpassung", die auch von Gerard Wormser angesprochen wird, wenn er an Merleau-Ponty anknüpfend, Ausführungen über Farbwahrnehmungen vornimmt. Auf Cezanne verweisend wird eine Ästhetik erwünscht, die das jeweils andere nicht beschädigt; die eine von menschlichen Projektionen freie, unentstellte Natur wiedergibt. Einer der Vorläufer der bereits oben angesprochenen objektivistischen Ästhetik ist der Physikochemiker Wilhelm Ostwald. Dessen in den zwanziger Jahren aufgestellte Schönheitslehre, die er Kalik nannte (bisher unveröffentlicht), wird in diesem Band ediert. Uwe Niedersen zeigt in den Vorbemerkungen zur Edition die begriffliche Logik, die von Ostwaids Gedanken zu einer "dissipativen Zeit" und biologistischen "Überzeitlichkeit" zu einer Lehre vom Schönen führt.

Halle und Berlin, im April 1993 Uwe Niedersen und Frank Schweitzer

Übergänge Von Walfgang Welsch, Bamberg I. Überschreitungen

Was ist Kunst? Seit der Moderne wissen wir es nicht mehr. Duchamp zeigte, daß die institutionelle Definition von Kunst lächerlich ist, obgleich wirksam: sie absorbiert noch ihre Kritik - kein Museum moderner Kunst ohne Duchamps Flaschentrockner. Vom Monte Verita bis zu Joseph Beuys ist Kunst nicht um der Kunst, sondern um des Lebens willen betrieben und auf das Leben hin überschritten worden: ,Lebens-Kunst statt Kunst-Kunst', ,Kunst als Lebens-Mittel' lauteten die Schlagworte. Andere - man denke an die Aktionen von Fluxus oder an Yves Kleins Ausstreuung einiger Goldbarren in die Seine - haben die Stabilität der Werke in flüchtige, ephemere Gesten aufgelöst. Drei Überschreitungswege also: Kunstwerke sind alltäglichen Artefakten gleich; die eigentliche Kunst ist nicht die der Kunsthistoriker, sondern die fürs Leben; Kunst ist nicht eine Sache der Ewigkeit, sondern des Augenblicks, mithin ihrer Aufhebung im nächsten Moment. Drei Überschreitungen dessen, was den Lexika noch immer für Kunst gilt. - Aber allzu viele scheinen nur die Lexika zu kennen. Sie sprechen von Kunst - auch von moderner - noch immer so, als hätte die Kunst im zwanzigsten Jahrhundert nicht die größten Energien in solche Grenzüberschreitungen gelegt. Muß man solche Überschreitungen gut finden? Mancher wendet ein, die Einlösung der genannten Intentionen sei so fatal ausgefallen, daß man besser am alten Kunstbegriff festhalte. Denn zwar werden die Programme in der gegenwärtigen Lebenswelt eingelöst: Heute sind Artefakte, etwa Designprodukte, mindestens so kunstvoll wie die Kojenbestände der Kunstmessen ; unsere Lifestyle-Inszenierungen übertreffen die kühnsten Erwartungen der Lebenskunst-Apologeten von einst; und nichts ist flüchtiger und wechselt schneller als die Kunst- und Dekor-Moden. Gleichwohl sind diese Einlösungen offensichtlich die falschen. Es verhält sich wie so oft: Die hochfahrenden Träume erfüllen sich - aber sie tun es pervertiert, schauderhaft, wie zur Strafe. - Verständlich, daß mancher da lieber am alten, sei's auch tausendfach überholten Begriff der hohen, hehren und autonomen Kunst festhalten möchte.

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Wolfgang Welsch

11. Gegen die Stillstellung der Kunst

Dennoch: Zwischen zwei falschen Extremen sollte es auch Richtiges geben. Die Reibung zwischen Kunst und Alltag, die Übergänge zwischen beiden, ja ihre Ununterscheidbarkeit gehören zu den aufregendsten Themen unserer Zeit. Man wird die Energie der Werke nicht an deren Rahmen, an der Museumsschwelle, mit dem Moment ihrer Betrachtung enden lassen dürfen. Die Kraft der Werke geht weiter. Sie vermögen uns Welt zu zeigen - nicht nur metaphorisch, wie man immer gesagt hat, sondern real, und dies gälte es heute zu erkennen. Die Potenz der Werke strahlt auch auf die Wirklichkeit aus. Zu den Schlüsselerfahrungen mit Kunst (und umgekehrt zu den Tests, ob jemand der Kunst tatsächlich Wirksamkeit zuerkennt oder sie bannen will, indem er Lobreden auf ihre Autonomie hält) gehört die Tatsache, daß man, wenn man eine Ausstellung verläßt, plötzlich die Welt mit den Augen des Künstlers, durch die Optik seiner Arbeiten, im Licht seiner Ästhetik wahrnehmen kann. Schon Goethe hat dies beschrieben und gewürdigt. Beim Betreten einer Schusterwerkstatt glaubte er plötzlich ein Bild von Ostade vor sich zu sehen, "so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. [ ... ] Es war das erste Mal, daß ich auf einen so hohen Grad die Gabe gewahr wurde, die ich nachher mit mehrerem Bewußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen, dessen Werken ich soeben eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Diese Fähigkeit hat mir viel Genuß gewährt." (Dichtung und Wahrheit, 11. Teil, 8. Buch) Dies ist geradezu das natürliche und unverbildete Verhalten: daß man die Wahrnehmungsform der Kunst auch zur Wahrnehmung der Wirklichkeit einsetzt, daß man sich gegen die Wirksamkeit künstlerischer Optiken nicht sperrt, sondern ihnen Raum gibt, ihnen folgt, gerne mit ihnen operiert und experimentiert. Die ästhetische Elementarerfahrung ist nicht, daß die Kunst etwas Eigenständiges ist, sondern daß sie einem die Augen für die Welt aufzuschlagen vermag. Was Künstler entwickeln, sind spezifische und intensive Optiken, die auf die Wirklichkeit übertragbar und anwendbar sind. 111. Autonomie?

Das erkennt man, sobald man sich von einer modernen Kunstideologie befreit. Ihr Name lautet: Autonomie. Gewiß hatte das Autonomiekonzept seine Notwendigkeit und seine Verdienste - gegen eine religiöse, moralische oder gesellschaftliche Bevormundung der Kunst. Falsch aber war der Umkehrschluß, den man daraus allzu oft zog: daß eine von solchen Vorgaben befreite Kunst dann ihrerseits für die Wirklichkeit nichts mehr bedeuten könne oder dürfe. Damit wurde das Autonomietheorem zu einer Ideologie, die sich de facto gegen die Kunst selber wandte, indem sie deren Energie

Übergänge

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beschnitt, kasernierte, stillstelIte - in Museen, die sich als Ghettos verstanden, in Goldkäfigen des rart po ur rart, in der scheinbar selbstverständlichen Einteilung der Welt nach Kunst und Nicht-Kunst. Manche Künstler ersehnen heute eine Renaissance dieser Ideologie. Sie wollen ihre Werke wieder als Solitäre und Heiligenschreine verstanden wissen. Es gelte, die Werke vor jeder Befleckung durch die Wirklichkeit rein zu halten. Kunst soll ein Arkanum für Eingeweihte, Jünger oder Adepten sein. Lassen wir diese Autonomie-Apostel, diese Hohepriester einer retrograd gewordenen Kunstreligion in ihrem ,Studiolo'. (Nur schade, daß sie selbst nicht auf Dauer darin bleiben mögen.) IV. Kunst, Alltag, Rezeption

Spannende Kunstformen entstehen heute dort, wo dieses Ghetto gesprengt wird, wo die Energie der Kunst sich mit den Spannungen des Alltags kreuzt, wo auch die Rezipienten und andere Akteure mitsamt ihrer Subjektivität, Unterschiedlichkeit und Unberechenbarkeit einbezogen werden, weil man erkannt hat, daß Kunstwerke ohne Wahrnehmung und Praxis nicht existieren, sondern erst über solche Prozesse sich erfüllen. Rezeptionsvorgänge und Aktionsalternativen sind ohnehin bereits der Produktion eingeschrieben - die Künstler schaffen ja nicht blind, sondern ihrerseits wahrnehmend, kontrollierend und neuen Wahrnehmungs- und Handlungsimpulsen folgend. Generell hat Ästhetik ihren Schwerpunkt nicht, wie ein altes Vorurteil lautet, in der Schönheit, sondern - wie es ihr Name besagt - in der Wahrnehmung (aisthesis). Alltags-Wahrnehmung und Kunst-Wahrnehmung vermögen einander zu durchdringen und zu befruchten. Die Werke der Kunst können oft als Werk-zeuge verstanden werden, als Werk-zeuge einer veränderten und intensivierten Wahrnehmung, die in die Wirklichkeit eingreift. V. Wirklichkeit als Konstruktion

Solche Übertragung künstlerischer auf alltägliche Wahrnehmung hat nicht nur in Goethe einen klassischen Fürsprecher und in der Gegenwart zahlreiche überzeugende Realisationen gefunden, sondern sie hat auch in der aktuellen Epistemologie - insbesondere in der "Konstruktivismus" genannten Richtung - eine aufschlußreiche Erklärung und Rechtfertigung erfahren. Die Wirklichkeit ist der Kunst näher, als man gemeinhin glaubt. Die Überschreitung der Grenze zwischen beiden ist nicht so spektakulär, wie es scheint, denn die Grenze ist unscharf, untergründig bestehen Verwandtschaften zwischen Kunst und Wirklichkeit, der Wirklichkeit gehören selbst schon kunstartige Momente zu.

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Wolfgang Welsch

Der Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick u. a.) hat uns gezeigt, daß Wirklichkeit nicht ,an sich' existiert, sondern auf Aufbauleistungen beruht, für die Wahrnehmungsmuster, Erwartungen, Fiktionen grundlegend sind. Was wir gemeinhin Fakten nennen, sind tatsächlich im wörtlichen Sinne Fakten: sie sind gemacht. Unsere elementarsten Konstruktionselemente sind dabei ästhetischer Natur: Leitbilder, Wahrnehmungskonfigurationen, Ordnungsmuster. So gesehen, ist die Übertragung von Kunstoptiken auf die Wirklichkeit keine Absurdität, sondern geradezu selbstverständlich. Nietzsehe lehrte, die Wirklichkeit "unter der Optik des Künstlers" zu sehen. Bornierte Geister aber halten diesen Überschritt für einen banausischen Irrtum, für das Kainsmal des Naiven, der zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden gelernt hat. Dabei ist in Wahrheit nicht jene Übertragung, sondern dieses Veto töricht. Kunst wie Wirklichkeit sind im Grunde ästhetisch verfaßt. Deshalb können ästhetische Prägungen des einen Bereichs für den anderen relevant werden. Die Übertragung von Kunstoptiken auf Wirklichkeitswahrnehmungen ist aufschlußreich für die prinzipiell konstruktivistische Verfassung von Wirklichkeit. VI. Transversale Kreativität

In dieser Perspektive rücken Alltag, Kunst und Wissenschaft auf neue Weise zusammen. Bereits die alltägliche Wirklichkeit beruht auf Konstruktionen - nur sind diese seit langem bewährt und Allgemeingut, daher sind sie nicht auffällig, wir bemerken sie nicht. Spezifischere und neuartige - oft geradezu in einem wörtlichen Sinn ver-rückte - Konstruktionen bringt die Kunst hervor. Gerade die moderne Kunst zeigt, daß man bei nur einiger Konsequenz aus Beliebigem eine Gesamtsicht, eine Welt aufbauen kann. Ebenso ist sich die Wissenschaft in den letzten Jahren (von den Naturwissenschaften, wo man die grundlegende Rolle ästhetischer Fiktionen erkannt hat, bis hin zur Wissenschaftstheorie, wo beispielsweise Paul Feyerabend auf die Analogie von Kunst und Wissenschaft hingewiesen hat) ihres prinzipiell konstruktivistischen Charakters bewußt geworden. Das hat zu einer neuen, hochinteressanten Konstellation geführt: Aktuell geschieht Kreativität gerade dort, wo im Medium solcher Gemeinsamkeiten, Analogien und Überschneidungen operiert wird. Heutige Kreativität geschieht transversal. Die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltag werden dabei zwar unscharf, aber das hat nichts mit Zufälligkeit, sondern mit neuen Einsichten zu tun. Die Gebiete von Kunst, Wissenschaft und Alltag sind nicht so klar geschieden, wie man ehedem gemeint hatte. Übergänge sind möglich, zu erwarten, nötig. Wichtiger als die Fortsetzung der Eigen- und Binnenlogik eines Bereichs wird das Aufspüren von Querverbindungen, auch die gewollte ,Infizierung'. Neue Paradigmen werden entlang solcher Verflechtungslinien, werden transversal generiert.

Übergänge

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Beispielsweise kann etwas, was uns im Kontext Kunst entgegentritt, von etwas ganz anderem inspiriert sein, etwa von Einsichten aus dem Kontext Wissenschaft. Man denke an Künstler, die sich von der Chaostheorie haben anregen lassen - und dafür dann von Kunst- wie Wissenschaftspuristen gescholten wurden. Die Saubermänner ertragen solche Grenzüberschreitungen eben schwer. Aber offensichtlich ist ihre Kritik obsolet und reaktionär. Spannend ist gerade, daß die Gebietsgrenzen fragil, durchlässig, unsicher und verschiebbar sind. Die territorialen Denkformen mit ihren Abschottungsdekreten sind überholt. Es gehörte schon zu den Errungenschaften der modernen Kunst, daß es eine wohldefinierte Sphäre der Kunst allenfalls zum Zweck ihrer Überschreitung geben kann. Heute sind wir vollends gehalten, in Vernetzungen und Verflechtungen zu denken und zu operieren - philosophisch wie künstlerisch, wissenschaftlich wie alltäglich, gesellschaftlich wie individuell. Wer heute noch absolut eindeutige Kategorien einklagt und zum alleinigen Maßstab machen möchte, muß ein Antiquitätenhändler sein. Verflechtungen, Übergänge und Durchdringungen sind zum Thema der Gegenwart geworden. Weiterführende Buchveräffentlichungen des Autors - Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre (Stuttgart 1987) - Unsere postmoderne Moderne (Weinheim 1987, 4. Auf!. Berlin 1993) - Postmoderne - Pluralität als ethischer und politischer Wert (Köln 1988) - Ästhetisches Denken (Stuttgart 1990, 3. Auf!. 1993) - La terra e l'opera d'arte. Heidegger e il Crepusculo di Michelangelo (Ferrara 1991) - Ästhetische Zeiten? Zwei Wege der Ästhetisierung (Saarbrücken 1992) - Vernunft heute (Frankfurt a. M. 1994) - Hrsg.: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion (Weinheim 1988) - Hrsg.: Die Aktualität des Ästhetischen (München 1993) - Mithrsg.: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Fran~ois Lyotard (Weinheim 1991)

Ästhetik der Differenz Strukturbildung im Weltprozeß

Von Rainer E. Zimmermann, Berlin

I. Der im September 1992 in Hannover veranstaltete Kongreß zur Aktualität des Ästhetischen hat im Hauptergebnis die kontroversen Sichtweisen dieser Aktualität offengelegt, wie sie sich in der von Bohrer zugespitzten Polarität zwischen der Erfassung formaler Ausdrucksqualitäten eines Kunstwerks auf der einen Seite (von Bohrer selbst eingeklagt) und der Entgrenzung des Ästhetischen als eine hedonistische Lebensqualität anzielend auf der anderen Seite (als durch "postmodernes" Denken repräsentiert verstanden) darstellen. 1 Bohrer kritisiert vor allem eine Kunst, die in der "Verpackung von Kulturgeschichte" eine "Popularisierung des Ästhetischen" befördert, die einen "hedonistisch-egalitären Ästhetikbegriff" unterstellt und somit auf die "Akzeptanz bei einer au fond für das Ästhetische nicht aufgeschlossenen Konsumentenmehrheit" zielt, die Kunst als Prestige und "Distinktionsqualität" ansieht. Deshalb erkennt er eine explizite Grenzziehung zwischen der allenfalls soziologischen oder historischen Kategorien zugänglichen Alltagserfahrung und jener Ausdrucksgestaltung des Lebens durch die Kunst als notwendig an, weil sonst "banalisierende Mißverständnisse des Ästhetischen als das Hedonistische oder das Humane oder das Soziale" auftreten. In diesem Falle gehe das genuin Subversive der Kunst gar verloren: "Gerade, weil der generelle Diskurs selbst ... keine ästhetischen Elemente besitzt ... kann die ästhetische Subjektivität subversiv auf ihn zurückwirken. " In seiner zusammenfassenden Beschreibung des Kongresses hat Ulrich Greiner ebenfalls mit dieser Distanzierung Bohrers von den Mißverständnissen des modisch-Ästhetischen zugunsten einer Betonung "der Eigengesetzlichkeit (von) Kunst gegen (alle) grassierenden Nutzanwendungen" angesetzt.2 Allerdings zielt er bereits genauer auf jenen "flottierenden Mehrwert" , der sich im "Spiel des Luxus und der Moden" dokumentiert und auf diese Weise einen zunehmenden Bedeutungsverfall hervorruft. Gleichwohl erkennt 1

2

K. H. Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen, in: Die Zeit (4.9.92), S. 56f. U. Greiner, Hereinbrechende Dämmerung, in: Die Zeit (11. 9. 92), S. 63.

2 Selbstorganisation, Bd. 4

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Rainer E. Zimmermann

er eine Rückkehr der Künstler "zum alten Werkbegriff, zurück zur Autonomie des Ästhetischen" als Zeichen der hereinbrechenden Dämmerung, in der der Kongreß auf ähnliche Weise überhaupt erst zu denken begann, wie die Eulen der Minerva ihren Flug bekanntlich erst in ihr zu beginnen pflegen. Einige Einwände erscheinen hier jedoch am Platze: Zum einen vermischt Bohrer unzulässig unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen Prozesses. Darauf hat auch Greiner nur unzureichend hingewiesen. So ist gegen eine "Popularisierung des Ästhetischen" (verstanden als breit angelegte Vermittlung des Ästhetischen) apriori nichts einzuwenden. Sie unterstellt keineswegs zwangsläufig einen "hedonistischen Ästhetikbegriff" , sondern nur dann, wenn Konsum und Prestige in Absehung von Form und Gehalt der Kunst selbstbezogen Maßstäbe setzen. Das ist aber unmittelbare Konsequenz allein der gesellschaftlichen Entfremdung, insofern kein neuer Aspekt und vor allem nicht Ästhetisches ausschließlich betreffend, aber um das Ästhetische war es uns zu tun. Im übrigen ist das Erzeugen von "Distinktionsqualitäten" - gerade im kulturellen Bereich - fester Bestandteil bürgerlichen Lebensstils (was bereits Bourdieu ausführlich zu belegen wußte 3 ). Und die Wortverbindung "hedonistischegalitär" verweist offenbar in die Ursprünge eben dieser bürgerlichen Auffassung zurück, in denen Distinktion allemal an Arroganz grenzte. Eine Konsumentenmehrheit ist deshalb nicht notwendig au fond dem Ästhetischen unaufgeschlossen. Vielmehr bedarf es der genauen Differenzierung, wer der Wirkung des Ästhetischen aufgeschlossen ist oder nicht, bzw. was diese Wirkung begründet und was aus ihr folgt. Kriterien hierfür sind schon seit Sartres grundlegendem Aufsatz "Was ist Literatur?" bereitgestellt. Und an eben dieser Stelle verflechten sich Alltagserfahrung bzw. Alltagsdiskurs, Bewußtsein von dieser Erfahrung und Ästhetikproduktion miteinander auf das engste. Es muß deshalb zumindest als fraglich gelten, dem Ästhetischen eine Autonomie zuzuschreiben, die die Autonomie gesellschaftlich vermittelter Subjektivität in irgendeiner Weise zu übersteigen vermag. Auch scheint es unangebracht, den Künstlern zu einer Rückkehr zum alten Werkbegriff und mithin zu einer Beförderung jener Autonomie des Ästhetischen überhaupt zu raten, es sei denn, sie wollten die anbrechende Dämmerung als persönliche Deckung nutzen. Insofern sich Bohrer gegen die sinnentleerte (und sinnentleerende ) Beliebigkeit "postmodernen" (Nicht-) Denkens wendet, ist ihm unbesehen zuzustimmen. Aber in der Exposition ähnelt sein Petitum eher dem kürzlichen non placet im Sinne Cambridges, nicht jedoch einer geforderten "nüchternden Gegenargumentation " .4 3 P. Bourdieu, La distinction. Critique social du jugement, Minuit, Paris, 1979 (deutsche Ausgabe bei Suhrkamp, FrankfurtIM., 1982).

Ästhetik der Differenz

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Zum anderen verstellt ohnehin jedes Einklagen von Autonomie (oder gar Eigengesetzlichkeit: Heautonomie) für die Kunst den Blick auf die anthropologische Relevanz der Ästhetikproduktion, mithin auf den Grund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Diesen Aspekt weitgehend übersehen zu haben, ist einst ein Defizit Frankfurter Kritischer Theorie gewesen. Dagegen hat die existentialistische Denklinie in der Philosophie, von Fichte bis Sartre reichend 5 , neue Perspektiven für eine grundlegende Diskussion von Kunst und Ästhetikproduktion eröffnet. Dabei ist der Unterschied zwischen den letzteren beiden konstitutiv für eine theoretische Erfassung und Aufarbeitung: Kunst ist insofern nämlich vom (rein) Ästhetischen zu unterscheiden, als sie zusätzliche Fremdbedeutsamkeiten aufnimmt, die sie mit überschießendem, semiotischen Gehalt aufladen, während Ästhetik das ontologische Feld bestimmt, in dem primär die Erscheinung als das, was sie ist, konstituiert wird, Ästhetik somit an eine philosophische Deutung von Wahrnehmung (aisthesis) bindend. 6 Diese Wechselbeziehung von Bedeutung für sich und für andere verweist Probleme des Ästhetischen somit von vornherein auf kontextuelle Vermittlungszusammenhänge, aus denen weder Kunst noch Ästhetik zu lösen sind. "In der Kunst erscheinen (daher) ontologische Weltverhältnisse als Strukturen, die man am besten als das Prinzip der inneren Organisation der Form erklären kann. "7 Dem liegt aber immer das individuelle Weltverhältnis des Einzelnen zugrunde, so daß jede Vermittlung des Subjekts sich im Werk je widerspiegelt, das "nicht nur Allegorie des von ihm dargestellten Seins" ist, "sondern zugleich Symbol der Seinsverfassung des Wirklichen. "8 Notwendige Voraussetzung für die Vermittlung ist dabei allemal Kommunikabilität, und "wie unvollkommen ... die Beschreibung (für sich) ... durch den, der kein Künstler ist, auch sein mag, ... sie kann durchaus eine (wenn auch undeutliche) ästhetische Wirkung vorstellen ... Der Künstler kann diese Wirkung auch in anderen und zudem deutlicher (d. i. differenzierter) hervorbringen. "9 Das heißt letztlich, daß ästhetisch relevante Wirkungen nicht originär durch den Künstler hervorgerufen werden, sondern von jedem beliebigen Menschen aus seinem sozialen Kontext heraus. Der Künstler verdichtet lO lediglich die M. Frank, Wörter, Wörter, Wörter, in: Die Zeit (11.9.92), S. 74f. Ders. (Hrsg.), Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Suhrkamp, FrankfurtIM., 1991. 6 H. H. Holz, Ästhetik, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Meiner, Hamburg, 1990, Bd. I, S.53 - 70. - Vgl. R. E. Zimmermann, Poetik des sozialen Seins. Sartres Auffassung vom Unbewußten, Lendemains 42, 1986, S. 61 - 69, besonders: S. 64f. 7 Holz (FN 6), S. 56. 8 Ebd.,S.59. 9 Ebd., S. 60f. 10 Zimmermann (FN 6), S. 64. 4

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Rainer E. Zimmermann

Wirkungen, indem er die gewöhnliche perceptio confusa mittels künstlerischer techne zuspitzt, die Darstellung des Wirklichen dehydriert und eben kondensiert (dabei aber durchaus über bloße mimesis hinausgehend auf Innovatives zielt) . Als Widerspiegelung von Wahrnehmung des Wirklichen ist Ästhetikproduktion zugleich Entwurf auf eine Überschreitung des Wirklichen hin. Der jener Produktion immanente Entwurf läßt ein Feld von Möglichkeiten vorscheinen, das die Alltagserfahrung des wahrgenommenen Wirklichen auf anthropologisch begründete (menschliche) Potentialität (d. i. Freiheit) projiziert und somit verallgemeinert: "Indem die Kunst utopisch ist, verhält sie sich kritisch zum Bestehenden. "11 Anders gesagt: Das Subversive der Lebenspraxis (u. a. auch der Kunst) ermöglicht sich durch seine Immanenz. Gerade, weil der generelle Diskurs selbst ästhetische Elemente besitzt, kann die ästhetische Subjektivität subversiv auf ihn zurückwirken. 12 Streng genommen, ist die Entwurfs struktur der Praxis selbst (also der ontologische Grund des Weltprozesses) schon Kritik an der Banalität des Alltagsdiskurses, in deren Tiefe hinabzusteigen Bohrer sich scheut. Aber nur aus dieser Tiefe heraus können Produktives und Innovatives emergieren.

Im vorliegenden Aufsatz soll diese These zur ästhetischen Strukturbildung genauer dargelegt werden. In den beiden folgenden Abschnitten wird zunächst das philosophische Denken, das dieser Auffassung zugrundeliegt und das hauptsächlich mit den Namen Schelling, Bloch und Sartre verbunden ist, kurz umrissen. Anschließend wird gezeigt, auf welche Weise ästhetische Strukturbildung im Weltprozeß mit allgemeiner Strukturbildung korreliert. Der Begriff der Ästhetikproduktion bedarf dabei einer Verallgemeinerung, die "postmoderne" Beliebigkeit vermeiden kann, gleichwohl aber die Grenzen klassischen Ästhetikverständnisses bei weitem sprengt und sogar für die Naturwissenschaften - entgegen mancher Erwartung - bedeutsam ist. 11.

Der Ausgangspunkt für ein ganzheitliches Denken, das Ästhetik mit in den Weltprozeß einbezieht, fällt mit dem Ausgangspunkt für die Tübinger Axiomatik 13 zusammen und ist im wesentlichen - in einer ethischen Fragestellung nämlich - im permanenten Konflikt von Kausalem und Normativem, von Sein Holz (FN 6), S. 64. Als Paradigma hierfür kann - offenbar entgegen der Auffassung Bohrers - die Literatur Virginia Woolfs angesehen werden. Vgl. meinen Aufsatz im Sartre-lahrbuch Eins, Momente des Seins. Gelebte Erfahrung bei Virginia Woolf. Eine Vorstudie zur Anwendung der progressiv-regressiven Methode Sartres, Westfälisches Dampfboot, Münster, 1991, S. 23 - 53. 13 P. Kondylis, Die Entstehung der Dialektik, Klett-Cotta, Stuttgart, 1979, S.19, S.56. 11

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und Sollen, zu sehen, in jenem Aufbrechen des Zusammenhanges von Ontologie und Ethik also, das sich bereits bei Herder in einer ersten existenzphilosophischen Fragestellung findet: im Versuch der Aufklärung des Gegensatzes von Liebe und Selbstheit. 14 Als Hauptanliegen der zu einem frühen Zeitpunkt zunächst von Schiller und Hölderlin vorbereiteten Grundform der Tübinger Axiomatik kann - hieraus folgend - die Suche nach der ontologischen Begründung von Freiheit gelten. Bereits hier stehen (ganz im Sinne der Vereinigungsphilosophie Herders) Sinnlichkeit und Moral einander nicht mehr unversöhnlich gegenüber: Freiheit im Sinne einer vereinigenden, ontologisch fundierten Moral bedeutet vor allem harmonische Entfaltung menschlicher Kräfte. 15 Eben hierin wurzelt der Entwurfscharakter späterer Existenzphilosophie. Dieser wird sich noch bei Bloch in der realen Utopie des Prinzips Hoffnung widerspiegeln, bei Sartre wird er sich als konstituierende Eigenschaft menschlichen Für-sich-seins erweisen. In beiden Fällen - und dieser Sachverhalt ist schon in der Perspektive Schillers angelegt - sind Freiheit und die Entfaltung von Kräften (also menschliche Entäußerung) mit der expliziten Verfaßtheit des Seins verknüpft: "Der Mensch ist organischer Teil und zugleich Spiegel der Welt. (Das heißt,) die Entwicklung der Kräfte (ist) um so mehr der natürliche Weg zur Erlangung wahrer Freiheit, als sie sich in einer Welt vollzieht, die diesen Kräften ursprünglich wesensgleich ist. "16 Die Entwurfsstruktur bewirkt zugleich eine Ausrichtung auf Künftiges hin. Besonders deutlich ist das an der Beeinflussung F. Schlegels durch Schiller zu sehen: Er erkennt in den Projekten des Lebens Fragmente aus der Zukunft, Spuren des Künftigen, die sich vor allem im Ästhetischen zeigen. Dabei hebt Schlegel noch stärker als Herder auf den Sinn von Geschichte ab. Poetik wird als eine künftige Geschichtsphilosophie der Dichtung vorbereitet. Noch klarer allerdings wird der Aspekt des Vorscheins, wird der Hoffnungsaspekt praktisch fundierter Utopie bei Hölderlin formuliert. Im Ältesten Systemprogramm wird sich niederschlagen, daß das reine Vernunftideal sich in einer sinnlichen Gestalt von sozial geschichtlicher Tragweite verkörpern muß - in diesem Sinne spricht Hölderlin von Mythologie.J7 Diese verweist dabei nicht primär auf eine Erinnerung des Gelebten, sondern auf dessen Vorschein. Geschichte erscheint so einerseits als Selbstbewegung des Seins, ihre Deutung wird Selbstdeutung ihres Geistes. Andererseits vollzieht sich diese Selbstdeutung bei Hölderlin im Gedicht, das dem Geist der Geschichte entspringt. Im Gedicht will der Geist der Geschichte zu sich selbst finden, sich selbst 14 D. Henrich, Hegel und Hölderlin, in: ders., Hegel im Kontext, Suhrkamp, FrankfurtIM., 3. Auflage 1981, S. 9 - 40. 15 Kondylis (FN 13), S. 28. 16 Ebd.,S.29. 17 P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1980, Bd. I, S. 118ff., S.133.

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erkennen. So entdeckt Hälderlin die bildhafte Substanz des Gedankens und läßt diese im Gedicht gegenständlich werden. t8 Binder hat die daraus folgende teleologische Verflechtung von Selbstreferenz, Existenz und Intersubjektivität auf der einen und Philosophie und Kunst auf der anderen Seite treffend beschrieben: "Der Geist aber weiß von sich, sein Bewegen und Ordnen verfolgt Ziele, die er selber entworfen hat, und seine Kraft lenkt ein Wille. Er ist, mit einem Wort, menschenähnlich gedacht, so daß das Medium, worin er wirkt, es sei die Natur oder die Geschichte, Subjektcharakter erhält. Dabei sind die Reaktionen der Menschen ... eigentlich Antworten in einem Dialog. "19 Wir wollen diese erhellende Formulierung, die immerhin schon aus dem Jahre 1982 stammt, mit Blick auf die neueren Theorien von Selbstorganisation und Strukturbildung im Gedächtnis behalten. Es ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, daß es erst vor kurzem Manfred Frank gelungen ist, die seit längerem vermutete 20 Durchgängigkeit einer ganzen Denklinie, basierend auf den genannten Grundgedanken, von Fichte bis Sartre reichend - bei Schiller bereits vorgezeichnet, bis hin zur Frühromantik, zur Heideggerschen Existenzphilosophie und zur Blochschen Utopietheorie - in aller Anschaulichkeit zu belegen. 21 In der Tat kann die zentrale Denkfigur der Moderne, nämlich die immanente Selbstreferenz der Welt (die Irreduzibilität des Selbstbewußtseins einbegriffen, ein Aspekt, der auf das engste mit der Frage nach einem adäquaten Substanzbegriff zusammenhängt22 ), als Ausgangspunkt sowohl zur Begründung einer instrumentalisierenden, auf Identität zielenden Welt- und Natursicht (wie bei Fichte) als auch zur Begründung einer auf Offenheit gerichteten, auf übergreifende Heuristik und plurales Denken verweisenden, somit auf Differenz zielenden Welt- und Natursicht (wie bei Schelling) dienen. Gerade mit Blick auf die letztere Variante, bildet sich bei Schelling auf diese Weise erstmals eine existentielle Linie der Philosophie aus. 18 W. Binder, Der Geist der Geschichte, in: ders., Friedrich Hölderlin. Studien, Suhrkamp, FrankfurtIM., 1987, S.31 - 49. 19 Ebd., S.32f. - Offensichtlich bietet es sich hier an, das Buch von lIya Prigogine und Isabelle Stengers (La nouvelle alliance) von 1980 zu assoziieren, dessen deutsche Übersetzung bei Piper (1981) "Dialog mit der Natur" lautet. 20 Vgl. R. E. Zimmermann, The Anthropic Cosmological Principle. Philosophical Implications of Self-Reference, in: J. L. Casti / A. Karlquist (Eds.), Beyond Belief. Randomness, Prediction and Explanation in Science, CRC Press, Boca Raton, 1991, S. 14 - 54. 21 M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Rec1am, Stuttgart, 1991. - Vgl. auch ders. (FN 5). 22 Vgl. für eine Übersicht meine Arbeiten: Selbstreferenz und poetische Praxis. Zur Grundlegung einer axiomatischen Systemdialektik, Junghans, Cuxhaven, 1991 und Combinatorial Aspects of Emergence, in: M. J. Manthey (Ed.), Alternatives in Physics and Biology, Proc. 12th Annual Int. Meeting of ANPA, ANPA London, 1991, S. 236 258.

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Sartre - und im übrigen Bloch - haben als späte Protagonisten dieser Denklinie beide "Seiten" der Selbstreferenzfigur in ihren Systemen aufgehoben. Obwohl der Naturphilosophie grundsätzlich fernstehend, hat doch gerade Sartre in seiner konsequenten Durchführung existentialistischer Differenzphilosophie das methodische Inventar bereitgestellt, das es ermöglicht, auf eine neue Grundlegung der Philosophie (auch kritischer Metaphysik) auszugreifen, die zugleich neues, erhellendes Licht auf den praktischen Wirkzusammenhang von Ontologie, Erkenntnistheorie und Ethik zu werfen in der Lage ist. Der Dialog zwischen dem Menschen und (dem Geist) der Natur wird in diesem Ansatz vor allem deshalb möglich, weil die geschichtliche Existenz a priori Teilhabe am Geist der Geschichte bedeutet. Wirklich aber wird diese erst, wenn sie in Freiheit vollzogen wird, wenn sie geschichtliches Existieren wahrmacht. 23 Dieser auf die Selbstreferenz historischer Bewegung gegründete Dialog ist bereits bei Hölderlin in der berühmten Formel Hen kai pan thematisiert, wie sie sich auch in der Schellingschen Naturphilosophie schließlich niederschlagen wird. 24 Dabei ist die enge Verbindung von Poetik und Philosophie ebenso grundlegend, wie jene zwischen Naturphilosophie und Psychoanalyse. Letztendlich dominiert dabei die ästhetische Fundierung von Philosophie sogar das Primat der Freiheit. Bereits Schiller hat in diesem Zusammenhang (in einem der Kallias-Briefe von 1793) formuliert: "Der Ausdruck Natur ist mir darum lieber als Freiheit, weil er zugleich das Feld des Sinnlichen bezeichnet, worauf das Schöne sich einschränkt, und neben dem Begriffe der Freiheit auch zugleich ihre Sphäre in der Sinnenwelt andeutet. "25 In diesem Sinne letztlich also auf der Grundlage der Erweiterung des Naturbegriffs - bindet Ontologie sich an Ästhetik. 26 Im Ältesten Systemprogramm ist dieser Grundgedanke weiter ausgeführt. 27 Das hier geschilderte philosophische Denken ist eng mit dem Begriff der dialektischen Theorie (zunächst auf der Grundlage des deutschen Idealismus mit seinen verschiedenen Weiterungen) verbunden. Wenn wir uns daher der allgemeinen Dialektikdefinition anschließen, wie sie Kondylis vorgeschlagen hat 28 , insofern wir darunter "die (allgemeine Lehre von der) sich objektiv vollziehende(n) Entwicklung im Schoße eines einheitlichen Seins, die stufenweise 23 Der Begriff "wahrmachen" (verifica) hat hier deutliche Anklänge an die auf Grundlagen Sartrescher Philosophie gestützte italienische Antipsychiatrie im Sinne Basaglias. 24 Kondylis (FN 13), S. 331, S. 559. 25 Schiller, Sämtliche Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1989, Bd. V, S. 411. - Vgl. Kondylis (FN 13), S. 290. 26 Kondylis (FN 13), S. 299. 27 Vgl. R. E. Zimmermann, Neue Fragen zur Methode. Das jüngste Systemprogramm des dialektischen Materialismus, in: ders. (Hrsg.), Jean-Paul Sartre, Junghans, Cuxhaven, 1989, S. 44 - 57. 28 Kondylis (FN 13), S. 526.

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und durch Gegensätze die Einheit des Seins zielgerichtet wiederherstellen soll" verstehen, so können wir der Auffassung zustimmen, daß seit dem Frühjahr 1795 die systematische Grundlegung der hier geschilderten Grundgedanken bereitgestellt ist, auf der Basis einer ganzheitlichen und dialektischen Denkweise, vollzogen durch Hölderlin. Dieser Systematik unterliegt vor allem ein immanent ästhetischer Kern, und um diesen war es uns zu tun. In vollständiger Systematik entfaltet wird dieser Ansatz jedoch erst bei Schelling. Dieser hat die vom Ältesten Systemprogramm vorgegebene Richtung (vor allem mit Blick auf die Betonung des ästhetischen Kerns im Weltprozeß) niemals mehr verlassen, trotz der zeitweise unterschiedlichen Gewichtung einiger wesentlicher Komponenten des Ansatzes. Die zur spekulativen Physik verdichtete frühe Naturphilosophie Schellings, die noch in der "Weltseele" eher poetisch-systematische Kraft entfaltet, weniger naturwissenschaftliche Stringenz, hebt die Signifikanz einer (disziplinär-) übergreifenden Fundamentalheuristik auf eine (geradezu welt-hermeneutische) Weise hervor, die noch für die moderne Naturphilosophie verbindlich geblieben ist (soweit sie denn augenblicklich überhaupt ernsthaft noch betrieben wird). Im Entwurf der Identitätsphilosophie von 1801 erscheinen sodann Transzendentalmethodik und Naturphilosophie bei Schelling als verschiedene, perspektivisch begründete Aspekte derselben Sache. Die Ästhetik steht hierbei in der Nähe zur frühromantischen Auffassung: sie wird als die Erfassung der Welt dort gewährleistend angesehen, wo die Philosophie (aufgrund ihrer perspektivischen Eingeschränktheit) versagen muß. Zwar hat Schelling keineswegs die Abkehr Hölderlins von der Philosophie (angesichts ihres Vers agens) und die Zuwendung zur Kunst geteilt, für ihn muß vielmehr eine Lösung des Selbstreferenz-Problems innerphilosophisch erreicht werden, aber, indem er Ästhetik in die Philosophie einholt, gewinnt sie gleichwohl an methodologisch zentraler Position. Ist sie noch in der Frühphilosophie abschließendes Stadium philosophischer Instrumentation, so wandelt sie sich später zum expliziten Organon der Philosophie und gewinnt schließlich in der späten Offenbarungsphilosophie große Teile ihrer Autonomie wieder zurück. Eng verknüpft ist der Bedeutungswandel des Ästhetikbegriffs im Schellingschen Werk mit jenem des Freiheitsbegriffs. Der letztere zieht sich als roter Faden durch das Gesamtwerk Schellings, unverkennbar im Ältesten Systemprogramm wurzelnd. 29 Dieser in der Grundkonzeption Tübinger Axiomatik bereitstehende Begriff von Freiheit wird bei Schelling zum Grund des Seins 30 , indem Freiheit selbstspinozistisch formuliert - als Bedingung der Möglichkeit von Substanz und 29 Für eine Übersicht sehe man R. E. Zimmermann, Axiomatische Systemdialektik als Differenzphilosophie. Zur Denklinie Spinoza, Schelling, Bloch, in: ders. (Hrsg.), System und Struktur. Neue Aufsätze zur spekulativen Physik, Junghans, Cuxhaven, 1992, S. 29 - 64. 30 Ebd., S. 52.

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diese umfassendes Prinzip zugleich aufscheint. Freiheit impliziert insofern Kontingenz (und Akzidenz). Die Entwurfsstruktur des Weltprozesses (aufgefaßt als dynamischer Rahmenentwurf für eine he autonome natura naturans, diese zugleich als Produktivität (in der Natur) und Subjektivität (im sozialen System) wirkend) wird dabei noch stringenter als im Tübinger Ansatz gefaßt, weil die von Schelling propagierte progressiv-regressive Methode (im Vorgriff auf Sartre etwa) übergreifender Heuristik eine detaillierte Erforschung von Freiheit (sowohl auf dem Felde ihrer Möglichkeiten als auch auf dem Felde ihrer Wirkungen) ermöglicht. Zum einen wird dadurch der Grund für eine dialektische Theorie moderner Naturphilosophie gelegt (auf Bloch vorausweisend), zum anderen deutet dieses Vorgehen auf eine Erforschung der Freiheit des individuellen Subjekts, wie sie sich später in Freudscher Psychoanalyse dokumentieren wird. 3! Ästhetik verbleibt dabei stets immanent und gewinnt zudem an einer vermittelnden - an den Diskurs sozialer Kommunikation geknüpften - Funktion, insofern die von Freiheit eröffneten Spielräume der konkret-realen Welt nicht nur deren Struktur durch subversive Innovationen prägen und verändern, sondern auch deren faktische Qualität von der hermeneutischen Vindizierung (also von ästhetischer Interpretation) abhängig machen, die in der Erfassung der Welt im Entwurf je schon immer emergiert. 32

In der Philosophie Schellings findet sich somit der Vorgriff auf die modernen Existenzphilosophien - namentlich Sartres und Blochs - ebenso, wie ein Vorscheinen naturphilosophischer Methodik, das auf die philosophische Bedeutsamkeit des heute gerade konstatierbaren Paradigmen wechsels in den Naturwissenschaften verweist (im Zuge der Einführung neuerer Theorien von Selbstorganisation und Strukturbildung im Sinne Prigogines oder der Theorie des determinierten Chaos im Sinne Mandelbrots ). III.

Bei Sartre existiert der Mensch als doppelte Differenz: Er ist zunächst Differenz zu sich, insofern erst die Selbstdistanzierung Reflexion ermöglicht. Wie Sartre gezeigt hat, ist das Cartesianische cogito nur als Bedingtes vorstellbar. Seine Bedingung der Möglichkeit ist das prä-reflexive cogito. 33 In diesem Sinne sagt Sartre, der Mensch wisse schon immer, daß er existiert, so, wie bei 31 Dies ist erstmals ausführlich dargelegt in O. Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Dinter, Köln, 1987 (Neu-Auflage). 32 R. E. Zimmermann (FN 6), S. 68f. sowie ders., Imagination und Katharsis. Zum poetischen Kontext der Subjektivität bei Sartre, in: T. König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongreß. Rowohlt, Reinbek, 1988, S. 107 - 131. 33 J.-P. Sartre, Conscience de soi et connaissance de soi, Bulletin Soc. Franc. Phi!. XLII, 1948, deutsche Ausgabe bei Rowohlt, Reinbek, 1973.

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Moliere Jourdain Prosa mache. Das prä-reflexive cogito ist somit notwendige, aber nicht zureichende Bedingung für ein reflexives Bewußtsein (es wird sich insofern als das über die Diskursivität sozial vermittelte Unbewußte im Sinne Lacans erweisen34 ). Der Übergang vom prä-reflexiven zum reflexiven cogito wird durch einen Akt der Selbstdistanzierung bewirkt (durchaus mit Anklängen an das Fichtesche Modell): Das reflektierende Selbst ist Distanz und somit Differenz zu sich. Es ist daher Singularität, als solche irreduzibel und selbst nicht (durch sich oder andere) bis ins Letzte erfaßbar. In diesem Sinne ist menschliche Realität ent-fernend (im doppelten Sprachsinne )35 und Möglichkeit des Nichts. Sie führt das Nichts ins Sein ein, und insofern ist sie der Sartreschen Diktion gemäß Freiheit. 36 Konsequent ist der sozial vermittelte je Andere Differenz dieser ersten Differenz: Ich selbst erkenne mich nur jeweils durch den Anderen hindurch (insofern ich für mich interpretiere, wie der Andere mich sehen mag).37 Auf diese Weise begründet sich ein ursprünglicher Spielraum des gegenseitigen Einander-Verfehlens, da ich für mich annehme, was der Andere für sich von mir (vielleicht) erkennt. Das Gleiche gilt für den Anderen auf reziproke Weise. Dieser zirkuläre Prozeß, der die soziale Vermitteltheit auf ontologischer Ebene trägt und der auf diese Art das Sein mit der Erkenntnis von Sein verknüpft, kann in dem von ihm bewirkten Feld der Interpretationen nicht die singulären Quellen dieses Feldes selbst erfassen. Die interpretative Lücke, die somit unausgefüllt bleibt, verweist auf jenen Spielraum des Verfehlens, der zugleich Bedingung und Objekt für eine jede (diskursive) Kommunikation ist. Jedes Verfehlen des je Anderen macht diesen zur Kehrseite meines Handeins (als Folge meiner, stets abberativen, interpretatorischen Bemühungen) und begründet die Kontingenz meiner Welt. 38 Der soziale Vermittlungszusammenhang ist daher auf strenge Weise dialektisch: Er ist nämlich Differenzierung von Differenzen, permanenter dynamischer Prozeß der wechselseitigen Abarbeitung von Differenz, stets der Bemühung dienend, Differenz (und somit Komplexität) zu reduzieren (Differenz zu Identität zu machen), dabei aber - im harten konfliktträchtigen Wettbewerb jener Differenzen, die einander ontologisch die Hölle sind39 - erst recht neue Differenzen (und mehr Komplexität) kreierend, somit kreativ das Neue schöpfend, aus jenem Spielraum, der im gegenseitigen Verfehlen vermittelter Differenzen aufgespannt wird. 4o 34 J. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Walter, Olten, Freiburg/Br., 2. Auflage 1980. 35 J.-P. Sartre, L'Etre et le neant, Gallimard, Paris, 1943, TEL-Ausgabe, 1986, S. 55. 36 Ebd., S. 59. 37 Ebd., S. 266. 38 Ebd., S. 31H. 39 Von Sartre in Anlehnung an Flaubert formuliert, vgl. ders., Huis cIos, Gallimard, 1947, S. 92 (Folio), dazu Flaubert, Oeuvres completes, du Seuil, Paris, 1964, vol. I, S. 42.

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So werden Sein und Erkenntnis von Sein auf intrinsische und generische Art als mit ethischer Forderung (besser: Orientierung) verknüpft erwiesen: Indem ich nämlich erkenne, auf welche Weise das Sein beschaffen ist, wird mir ermöglicht, mich seinsgemäß zu verhalten (im eigentlichen Sinne von "res ilient"41). Einziger ethischer Imperativ ist somit: Verhalte dich seins gemäß ! Und hier befindet sich ein charakteristisch stoisches Element im existentiellen Denken. 42 Dieser Imperativ verweist jedoch auf einen dynamischen Prozeß, nicht auf ein statisches, sanktioniertes Verhaltensinventar (hierdurch unterscheidet er sich von der Kantischen Imperativethik). Denn das Sein des Menschen ist seine Existenz. Und Existenz ist Negation der Faktizität. 43 Der Mensch ist nicht, er wird ständig. Er ist insofern Differenzierung der Differenz (Sartre sagt: Totalisierung). Der Mensch ist ein einzelnes Allgemeines (ein singuläres Universelles, wie es wörtlich heißt); er produziert und reprozessiert seinen eigenen Vermittlungszusammenhang permanent. Als einzelnes Allgemeines verinnert er das Allgemeine im Verlaufe seiner Sozialisation (er interiorisiert den objektiven Geist, in den er hineingeboren wird). Sodann re-exteriorisiert er das (zuvor für sich fokussierte und ver-dichtete) Allgemeine in das Allgemeine zurück. So sind das soziale Feld (wesentlich ein Feld der Interpretationen und der Möglichkeiten) und alle singulären Quellen dieses Feldes miteinander reziprok vermittelt. Aber in diesem Prozeß der singulären VerdichtUng steckt der Kern der Differenzierung als ein dem sozialen Vermittlungsprozeß immanenter (und wegen seiner Kontingenz erweist er sich zudem als ästhetischer Kern von Sozialität). Wenn der Mensch als in seiner Seinsweise befindlich existiert, wenn er sich somit stets im Aufschub befindet, sich permanent auf künftige Ziele hin entwerfen muß, die er als die seinen erkannt zu haben meint, die aber aufgrund des Vermittlungszusammenhanges zugleich die (allerdings vielfach gewendeten) Ziele der Anderen sind als die ihren, so kann seinsgemäßes Verhalten nur bedeuten, seine Seinsweise als differenzierende auf sich zu nehmen. 44 Die ontologisch begründete Rettung aus dem Dickicht des Einander-Verfehlens ist mithin nichts anderes als die Anerkennung der Differenz als Differenz. Man muß (mit Bloch formuliert) "mit der Differenz rechnen. "45 40 R. E. Zimmermann, Authenticity and Historicity. On the Dialectical Ethics of Sartre, in: S. H. Lee (Ed.), Inquiries into Values, Meilen Press, Lewiston, Queenston, 1988, S. 413 - 426. 41 C. S. Holling, Resilience and Stability of Ecosystems, in: E. lantsch, C. H. Waddington (Eds.), Evolution and Consciousness, Addison-Wesley, Reading (Mass.), 1976, S. 73 - 92. 42 Synoptisch dargestellt im unerreichten Text Marc Aurels Ta ELC; Eau"tov. 43 Sartre (FN 35), S. 499. 44 Ebd., S. 490, vgl. ders., Cahiers pour une morale, Gallimard, Paris, 1983, S.129, S.156.

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Makroskopisch ist somit der soziale Prozeß Differenzierung der Differenz des je Anderen. Mikroskopisch ist der (psychische) soziale Prozeß Selbstdifferenzierung des individuellen Subjekts. Mithin muß auch mit der eigenen Differenz zu sich gerechnet werden. Und die Erfassung von Differenz ist im wesentlichen selbst ästhetisch. Auf diese Weise verknüpft sich die soziale Ontologie der Vermitteltheit mit der praktischen Psychoanalyse, die zum einen die erkenntnistheoretische Erfassung der Ontologie sichert, zum anderen als praktische Methode zugleich explizite Bedeutungsverweisungen für eine Ethik bereitstellt. Die hier erörterte Denklinie läuft (vorerst) auf Blochsehe Philosophie zu. Raulet hat die Ontologie des Noch-nicht-seins bei Bloch als "postontologische Hermeneutik als Philosophie der symbolischen Formen" bezeichnet. 46 Insbesondere wird hierbei Hermeneutik subversiv gefaßt, als "spezifische Erkenntnisweise säkularisierter Hoffnung. "47 Sodann charakterisiert sie in einer sprachlichen Verweisung auf die immanente Verknüpfung von Prozeß und Methode eine Welt, die auf ontologischer Ebene von vornherein dialektisch verfaßt ist als Ganzheit. (Insofern differenziert Bloch von Beginn an nicht - im Gegensatz zu Sartre - zwischen Naturphilosophie und Sozialphilosophie.) Die Ausrichtung auf den u-topos als vom Entwurf angezielte zusich-gekommene Substanz (durchaus im Sinne Spinozas) wird besonders hervorgehoben. Und die enge Verknüpfung von Ontologie, Erkenntnistheorie und Ethik bleibt mithin erhalten: "Als unerläßliche Komponente dialektischer Erkenntnis," schreibt dazu Raulet48 , "entdeckt die zur dialektischen Forschungsweise beitragende Hermeneutik die Unfertigkeit der Welt in der Wirklichkeit selber. Hoffnung wird zum Prinzip einer Erforschung wirklicher Tendenzen. Dieses Prinzip verweist auf eine historisch noch geschehene Genesis im Gegensatz zu allen Varianten ,fixer Ontologie' ... " Blochsehe Ontologie des Noch-nicht-seins (ausgedrückt in objektiv-realer Hermeneutik und sich insofern mit den Manifestationen der Welt als deren Auszugsgestalten befassend) kann somit (ganz auf der Linie Schellings) im Rahmen einer konsequent neu gedachten Metaphysik gesehen werden (die nach Theunissen ultima philosophia ist und den Einzelwissenschaften von der real gegenwärtigen Welt nachgängig, gleichwohl aber von übergreifender Heuristik befördert49 ). E. Bloch, Experimentum Mundi, Suhrkamp, FrankfurtIM., 1975, passim. G. Raulet, Blochs Ontologie des Noch-nicht-seins, in: G. Flegö, W. SchmiedKowarzik (Hg.), Ernst Bloch - Utopische Ontologie, Germinal, Bochum, 1986, S. 115 - 126. 47 Ders., Der dritte Hiob. Zu Ernst Blochs dialektisch-materialistischer Hermeneutik, in: B. Schmidt (Hrsg.), Materialien zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, Suhrkamp, FrankfurtIM., 1978, S. 104 - 111. - Vgl. E. Bloch, Atheismus im Christentum, ebenda, 1985, S. 42 und ders., Das Prinzip Hoffnung, ebenda, 1982, S. 1627f. 48 Raulet (FN 46), S. 115. 45

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Bei Bloch wird die (von Schelling herkommende und bei Sartre ebenfalls ausgebildete) Entwurfssystematik noch weiter differenziert: Gesucht wird die "Erfüllung im Moment der Identität (des Daß, das nach seinem Was sucht), als Umschlag des Was-Wesens in den Daß-Grund, so daß der Grund wie der Ursprung nie ist, sondern vielmehr im Mangel immer fortbesteht. Nichts und Alles stecken hermeneutisch das Feld des dialektischen Abenteuers der Bestimmung ab (Sartresch: das Feld der Möglichkeiten), das insbesondere die Möglichkeit des Scheiterns immer mitbedenkt. "50 Bloch folgt insofern der Linie der Aristotelischen Linken, in die sich jene von der Tübinger Axiomatik herstammende einfügt: in einen Prozeß, den Raulet "Realallegorese des Materiebegriffs" genannt hat 5l : "Der Mensch deutet nicht allein die Realallegorien oder Realsymbole, sowenig wie er sie allein produziert hat; in ihnen bringt (vielmehr) eine sich selbst bedeutende ... Natur ihren Sinn heraus - ein Realsymbol, dessen Bedeutungsgegenstand sich selber, im realen Objekt, noch verhüllt ist und nicht etwa nur für die menschliche Erfassung seiner. Es ist mithin ein Ausdruck für das im Objekt selber noch nicht manifest Gewordene, wohl aber im Objekt und durch das Objekt Bedeutete. "52 Die objektiv-reale Hermeneutik bezeichnet das Moment des Herausbringens, der "eductio formarum ex materia"53 - mit spinozistischem Tenor, keineswegs aber mit deterministischem54 - als Entzifferungsarbeit. "Welt erlangt das Sein ihrer Wahrheit und die Wahrheit des Seins in dem noch nicht Vorhandenen, das von den Realchiffren ... antizipiert wird. "55 So gewinnt Hermeneutik neben dem ontologischen noch einen anthropologischen Bezug (wie er auch bei Sartre deutlich wird): Diesem liegt der Aspekt zugrunde, daß es immer um die "Suche nach einem Sinn jenseits des wörtlichen geht" (was bei Sartre noch als Hermeneutik des Unsagbaren erscheint, wie Manfred Frank sagt56 ) - "bis hin zur Unterstellung radikaler Undurchsichtigkeit von Sinnproduktion. "57 Hier kehrt der von Bruno übernommene Gedanke Schellings wieder, von der Esoterik des philosophischen Denkens. 49 M. Theunissen, Möglichkeiten des Philosophierens heute, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Suhrkamp, FrankfurtfM., 1991, S. 13 - 36. 50 Raulet (FN 46), S. 117f. 51 Ebd., S. 120. 52 Bloch (FN 47), S. 188, ders. (FN 45), S. 219. 53 E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Suhrkamp, FrankfurtfM., 1985, S. 501. 54 Dies entgegen der Auffassung in P. L. Eisenhardt, Formerhaltung und Zeit, in: R. E. Zimmermann (Hrsg.), System und Struktur (FN 29), S. 9 - 29, vor allem S. 22. 55 Bloch (FN 45), S. 226f. - Vgl. Rautet (FN 47), S. 121. 56 M. Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, Suhrkamp, FrankfurtfM., Neu-Ausgabe 1989. 57 Raulet (FN 47), S. 106.

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Hermeneutik - als Herstellung von zumindest partieller Transparenz - wird auf diese Weise als je kommunikativ fundierte selbst wieder hermetisch, ihr Wesen "verhüllt" (spinozistisch) ihre Existenz und deren Grund zugleich. Die "Natur dichtet (somit) sich selbst in Symbolen, mit welchen sie sich selbst bedeutet. "58 Sie bietet sich aber ebenso der Exegese und Hermeneutik dar. Das heißt, ihre Existenz erregt gewissermaßen ständigen Verdacht, dem der Mensch begegnen muß. "Die Welt tritt so, an ihren eigenen Modellen beachtet, in einer Prozeßreihe immer wieder emergierender, immer wieder dialektisierter Real-Allegorien, Real-Symbole auf. "59 Untersuchung des sich darbietenden Verdächtigen (im Benjaminschen Sinne) meint aber nicht durch die Welt, namentlich die Natur, als Objekt hindurchgreifende Instrumentalisierung. Sie will nur besagen, daß, wer das "Reich der Freiheit" erstrebt, als Produzent "mit der Natur rechnen" muß.60 Objektiv-reale Hermeneutik verweist so stets auf Allianztechnik61 , und eine Praxis, die unter anderem "mit Natur rechnet", erfordert eine neue Methodologie als Übertragung der hermeneutischen Kategorien der Ästhetik auf das objektive Gebiet der Geschichte. 62 Raulet sieht in der Erkenntnistheorie Blochs Elemente des an Eduard von Hartmann angelehnten "transzendentalen Realismus". Die überlieferte epoche wird hier stoisch rückbezogen auf analytisch-synthetische Methodik (progressiv-regressiv eben) - mit phantasia kataleptike auf Apokalypsis zielend. Das Novum als reine Emergenz von Sinnverweisung ist dabei stets implizit, worauf Burghardt Schmidt in seiner "Kritik der reinen Utopie" hingewiesen hat: Der Zufall, der das Novum bewirkt, als Sinnschöpfung, gewinnt dabei an Mallarmeschem Bezug63, wie auch bei Sartre diskutiert 64 , ,,(darin) deutet sich schon jener andere Charakter des Zufalls an, der nicht Chaos und Willkür meint, sondern im durchgängig Bedingten das Nichtbedingte merkbar macht. 65 Das Nichtbedingte ermöglicht den relativ freien Eingriff des menschlichen Subjekts, zu wenden und zu entscheiden. "66

Ebd., S.107. E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Suhrkamp, FrankfurtIM., 1985, S.343. 60 Raulet (FN 47), S. 110. 61 Ders., Natur und Ornament, Luchterhand, Neuwied, 1987, S. 29. 62 Ebd., S. 57ff. 63 Ders., Gehemmte Zukunft, Luchterhand, Neuwied, 1986, S.247f. - Vgl. Bloch (FN 45), S. 133f. sowie B. Schmidt, Kritik der reinen Utopie, Metzler, Stuttgart, 1988. 64 J.-P. Sartre, Mallarme, in: ders., Situations IX, Gallimard, Paris, 1972. 65 Zimmermann (FN 29), S. 41. 66 Schmidt (FN 63), S. 265. 58

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IV. Wir haben nun bereits sehen können, auf welche Weise philosophisches Denken mit Blick auf die Ausgangsbasis Tübinger Axiomatik für eine ganzheitliche WeItsicht auch heute noch von Bedeutung sein kann - gerade in Hinsicht auf jene umfassende Konzeption, die durch die neueren Theorien in den Naturwissenschaften bereitgestellt wird. Zudem ist dabei die Relevanz der Ästhetik offensichtlich geworden. Im Gefolge der diskutierten Denklinie eröffnen sich somit mannigfaltige Perspektiven für die moderne N aturphilosophie ebenso wie für eine modern gewendete, kritische Metaphysik. Die Relevanz von Ästhetik ist in diesem Zusammenhang vor allem auf die realprozessuale Entfaltung der hermeneutischen Grundfrage gestützt, der Deutung der sich darbietenden Welt, die in ihrem innersten Kern ästhetisch ist und auf die Notwendigkeit einer permanent die Welt ver-dichtenden Existenz verweist. Überhaupt ist das gesamte Konzept von Zeitlichkeit, in dem sich die evolutive Entwurfsstruktur der Seinsverfassung der Welt praktisch widerspiegelt, auf hermeneutische Grundlegung verwiesen. In der Fortführung Sartrescher Theorie (und im Rückbezug auf Freudsche Psychoanalyse) hat dies J acques Lacan besonders deutlich herausgearbeitet. Für ihn ist die Existenz (klarer noch als bei Sartre) stets an eine Bewegung elementaren, divinierenden Schließens gebunden. Blochsche Ungleichzeitigkeit von Weltwahrnehmung und -deutung bzw. von diskursiver Abarbeitung dieser Wahrnehmung ebenso wie Sartresche Kontrafinalität im Wechselspiel von je individueller Interiorisierung und Re-Exteriorisierung - werden im Lacanschen Sinne durch suspendierende Skandierungen zugleich aufgebrochen, vermittelt und aufgehoben 67 . Auf sprachlicher Ebene spiegelt sich diese immanente Temporalisierung als Aporie für die klassischen Formen der Logik wider. So gewinnt die zeitliche Struktur des logischen Prozesses den Vorrang vor der räumlichen, was Lacan in seinem berühmten Beispiel von den Gefangenen explizieren kann, die sich durch die Lösung einer Rätselaufgabe die Freiheit erstreiten sollen. Er formuliert: "Was die suspendierten Bewegungen verraten, ist nicht das, was die Subjekte sehen, es ist das, was sie positiv herausgefunden haben über das, was sie nicht sehen, nämlich den Anblick der schwarzen Scheiben. "68 Auf eben diese Weise hört man auch das Schweigen im Text Flauberts oder das insgesamt Unsagbare. 69 67 J. Lacan, Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit, in: ders., Schriften III, Walter, Olten, FreiburgIBr., 1980, 101 - 121, hier S. 107. 68 Ebd., S.109 (Es geht bei der Aufgabe darum, die Farbe von auf dem eigenen Rücken angebrachten Scheiben zu erschließen aus der Beobachtung der anderen, schwarzen und weißen, Scheiben auf den Rücken der beiden Mitgefangenen.)

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So bestimmt sich die Signifikanz des schließenden Prozesses der Existierenden nicht aus der Richtung der Bewegung, sondern durch den Zeit-Takt des Stockens. Es geht nicht um die binäre Wahl zwischen zwei bewegungslos nebeneinander gestellten und durch visuelle Ausschließung ungleich gemachten Kombinationen, sondern um die der Bewegung durch einen logischen Prozeß gestifteten Verifikation, in der das Subjekt mögliche Kombinationen in Zeiten der Möglichkeit transformiert hat. Auf diese Weise wird eine zunehmende Ordnung zeitlicher Instanzen produziert.70 "Wie man in der logischen Bestimmung der durch (die Bewegung) konstituierten Zeiten des Stockens (temps d'arret) sieht, die sich ... jedesmal als subjektive Entwicklung einer zeitlichen Instanz, oder besser gesagt, als Flucht des Subjekts in ein formales Erfordernis erweist"7!, scheint hierbei die Suspendierung der objektiven Zeitordnung als Bedingung der Möglichkeit subjektiver Produktion von neuer Zeitordnung auf, die sodann Objektivität wird. Anders gesagt: Die faktische Aufhebung von Zeitlichkeit ist Voraussetzung für Zeitlichkeit. Diese Sicht erinnert uns unmittelbar an die Momente des Seins im Sinne von Virginia Woolf.72 "Zu zeigen, daß die Instanz der Zeit sich in jedem (dieser) Momente (von Evidenz) in einem unterschiedlichen Modus darstellt, bedeutet, ihre Hierarchie zu bewahren, indem man hier eine für ihren Wert wesentliche tonale Diskontinuität enthüllt. In der Modulation der Zeit aber die Funktion selbst zu erfassen, durch die jeder dieser Momente beim Übergang zum folgenden in diesem sich resorbiert, wobei allein der letzte, der sie absorbiert, bestehen bleibt: das heißt, ihre reale Aufeinanderfolge wiederherstellen und wahrhaft ihre Genese in der logischen Bewegung begreifen. "73 Genau in diesem Sinne ist die progressiv-regressive Methode Sartres (oder die existentielle Psychoanalyse) Modulation der Zeit als Verzeitlichung der Person oder der Gruppe. 74 So ist die Grundhaltung des Menschen eine schließende und somit eine hermeneutisch (mithin ästhetisch) fundierte. In der ihm eigenen Weise hat Lacan den wesentlichen Sachverhalt aphoristisch zusammengefaßt: "Nach Ablauf der Zeit, um den Moment des Schließens zu begreifen, kommt der Moment, die Zeit zum Begreifen zu schließen. "75 Erneut verbinden sich hier also ontologische, erkenntnistheoretische und ethische Aspekte mit einer grundsätzlich Vgl. M. Frank (FN 56), vor allem S. 256ff. und S. 334ff. Vgl. J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud (L'Instance de la lettre ... ), in: ders., Schriften II, 15 - 59. 71 Lacan (FN 67), S. 110. n Zimmermann (FN 12), S. 43. 73 Lacan (FN 67), S. 110f. 74 Vgl. die zentrale Passage in Sartres Flaubert-Biographie, L'Idiot de la famille, Gallimard-Neuausgabe, Paris, 1988, vol. III, S. 436 - 439 (deutsch bei Rowohlt, Reinbek, Bd. IV, S. 449 - 451). 75 Lacan (FN 67), S. 113. 69

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an klassischer epoche orientierter Haltung auf eine existentielle Ästhetik hin. Hierauf hat - obgleich in anderem Zusammenhang - bereits früher Odo Marquard hingewiesen.?6 Und insofern handelt es sich hierbei lediglich um eine konsequente Ausdeutung der Schellingschen Interpretation Tübinger Axiomatik. Die hier diskutierte Denklinie wird somit zu einem aktuellen Feld von Orientierungen, das sowohl für die Philosophie moderner Naturwissenschaft als auch für die Sozialphilosophie von großer Relevanz ist. Diesen Sachverhalt hat B.-O. Küppers völlig mißverstanden, so daß er zu dem eklatanten Fehlschluß gelangt, Schellingsche Philosophie erwecke lediglich den Eindruck scheinbarer Aktualität, stehe im übrigen aber der Tendenz der neueren Theorien von Selbstorganisation und Strukturbildung geradezu diametral entgegen.?7 Keineswegs nämlich widerspricht die Ausführung Schellings, der Organismus besitze gegenüber dem Mechanismus Priorität und die Philosophie habe sich auf den ersteren zu konzentrieren, den heutigen Auffassungen über die Reduktionsrichtung der Ableitungszusammenhänge in den Einzelwissenschaften. Denn zum einen steht bei Schelling "Mechanismus" nur für ein äußerliches, die Produktivität der natura naturans nicht in Rechnung stellendes Konzept klassischer (d. h. Newtonscher) Naturwissenschaft. Gleichwohlle,itet sich auch bei Schelling das Komplexe, Organismische aus dem Einfachen (Strukturärmeren) ab - wie unter anderem gerade in der "Weltseele" deutlich zu sehen sein dürfte. Dabei muß zudem noch beachtet werden, daß es für Schelling eine teleologische Verfaßtheit der Weltentfaltung gibt: Phänomene der unbelebten Materie erscheinen ihm daher als unvollkommener als jene der belebten, weil sie der letztlichen Aufhebung des Weltprozesses (wenn sich nämlich das An-sich in seinem bis zum Ende entwickelten Für-sich wiederfindet - als zu sich gekommen er Geist) ferner stehen als diese. Es darf nicht vergessen werden, daß das Sein gemäß idealistischer Auffassung nur einen (wenn auch notwendigen) Abfall von initial er Ganzheit bedeutet und insofern von defizitärem Charakter ist. Das hat daher gar nichts mit einer Reduktion von Physik auf Biologie zu tun, wie Küppers mit Blick auf das reduktionistische Forschungsprogramm unserer Tage unterstellt.?8 Zum anderen ist folgendes zu beachten: Die bei Schelling konstatierbare Zirkularität des Weltprozesses findet heute durchaus in der zeitgenössischen Kosmologie ihre (wenn auch unseren modernen Vorstellungen gemäß materialistisch gewendete) Entsprechung. Wie ich an anderem Orte gezeigt habe 79 , tritt dies vor allem im Rahmen der Twistortheorie von Penrose deutlich zutage. Dabei gibt es im übrigen einen engen Zusammenhang zwischen Raum-Zeit-Singularitäten (speziell der Initialsingularität), deren thermodynamischer Ausdeutung 76

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78 79

Marquard (FN 31), S. 163, S. 223. B.-O. Küppers, Natur als Organismus, Klostermann, Frankfurt/M., 1992, S.15.

Vgl. ebd., S. 86ff., S. 116ff. Zimmermann (FN 20), vor allem Abschnitt 6, S. 37ff.

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und dem determinierten Chaos. Eine der das letztere definierenden Eigenschaften ist die Selbstähnlichkeit der zugrundeliegenden Struktur (neben deren Sensibilität gegen Veränderungen der Randbedingungen und der Irreduzibilität ihrer Komponenten 80 ). Die jene Selbstähnlichkeit bestimmende Menge periodischer Punkte des Prozesses verweist gerade auf einen (determinierten) Kern von Regularität, der diese Form des Chaos wesentlich vom stochastischen Chaos unterscheidet. Aber gerade im Wechselspiel der realen, welthaften Prozeßentfaltung im determinierten Chaos emergiert wesensmäßig Neues (nämlich innerhalb eines vom Grundentwurf der der Welt unterliegenden, prä-geometrischen Struktur aufgespannten Rahmens, der ein Feld der Möglichkeiten vorgibt). Somit wird das Konzept Schellings keineswegs von den "Fesseln der Selbstähnlichkeit" im Zaume gehalten und steht mitnichten mit modernen Vorstellungen im Widerspruch. Im Gegenteil ist Schellings Ansatz gerade deshalb so aktuell für die heutige Naturphilosophie, weil er auf das Wesen schöpferischer Freiheit verweist und diese ihrerseits auf innovative Strukturbildung und auf den ästhetischen Kern des Weltprozesses.

80 R. L. Devaney, Chaotic Dynamical Systems, Addison-Wesley, Redwood City (Ca!.), 1989, S. 50.

Ästhetik der Differenz Schönheit und Kunst aus konstruktivistischer Sicht

Von Alfred K. Treml, Hamburg Winckelmanns oft zitiertes Diktum, wonach die Schönheit "eins von den großen Geheimnissen der Natur" (sei), "deren Wirkung wir sehen und alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner deutlicher Begriff unter die unerfundenen Wahrheiten gehört"l, kann auch heute noch, und das wohl mehr als je zuvor, auf uneingeschränkte Zustimmung hoffen. So unverzichtbar und klar der Gebrauch des Wortes "schön" im jeweils besonderen Falle immer noch sein mag, so unklar, vieldeutig und widersprüchlich sind die vielen Versuche der philosophischen Ästhetik ausgefallen, die Vorstellung des Schönen auf einen allgemeinen Begriff zu bringen. Analoges kann man auch über den Begriff der Kunst behaupten, ein Begriff, der schon lange nicht mehr bloß die Hypostasierung des Schönen meint. Allein die Antwort auf die Frage, was denn Kunst überhaupt sei, ist inzwischen zu einer Kunst geworden - einer Kunst, die gelegentlich mit Unwissenheit kokettiert: "Seit über 2000 Jahren bringt man in großartiger Kontinuität Kunst hervor, aber jedes Gespräch über sie gelangt unweigerlich auf den Punkt, wo zugegeben werden muß, daß man nicht weiß, wovon man spricht"2. Das hat aber dem großen Gespräch über Schönheit und Kunst keinen Abbruch getan, im Gegenteil, es scheint so zu sein, als ob die allgemeine Irritation über alles und jedes in der Kunst den ästhetischen Diskurs angeregt hat. Eine Vielzahl von Positionen, eine Anarchie der ästhetischen Systeme ist die Folge. Wir wollen im folgenden nicht diese vielen Versuche rekonstruieren und dokumentieren, sondern vielmehr von ihnen als Tatsache ausgehen und zunächst versuchen, eine gewisse Ordnung in diese Wirrnis zu bringen. Diese Ordnung wird die diversen traditionellen Antworten auf die Frage nach dem Schönen erkenntnistheoretisch drei Kategorien zuordnen, deren Vor- und Nachteile jeweils andeuten und ihre antinomische Logik herausarbeiten (I). Auf dem Hintergrund dieser epistemologischen Analyse wird schließlich eine 1 Johann J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, hg. v. Goldscheider, Wien 1934, S.139. 2 Max Bense: Aesthetica, Baden Baden 1965, Einleitung.

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weitere, vierte Perspektive eingeführt, erläutert und deren Vor- und Nachteile diskutiert (11.). Der Beitrag zielt auf eine erkenntnistheoretische Begründung der Kunst aus konstruktivistischer Sicht. I.

Wenn man einen sehr heterogenen und unübersichtlichen Gegenstandsbereich ordnen will, ist es angebracht, zunächst auf Distanz zu ihm zu gehen. Nur durch Abstraktion wird man der Gefahr entgehen, sich im Gestrüpp der Details zu verirren und die Übersicht zu verlieren. Wir werden uns deshalb im folgenden oberhalb der diversen Erscheinungsformen der Kunst bewegen, sei es die Poesie, die Literatur, die bildende Kunst, die Musik, der Tanz, die Architektur, das Theater, und uns zunächst auf die allgemeine Logik des Schönen beschränken (allerdings das sog. "Naturschöne" dabei nur am Rande berücksichtigen). Ich gehe davon aus, daß diese Logik des Schönen (der Kunst), wenn man nur die allgemeine Form beobachtet, im Verhältnis eines Betrachters zu einem Kunstobjekt besteht und will dieses Verhältnis als "ästhetischen Bezug" bezeichnen 3 • Hier spiegelt sich die uns aus der Erkenntnistheorie vertraute Subjekt-Objekt-Figur wider, und das bedeutet, daß auf dieser basalen Ebene die theoretische und die ästhetische Erkenntnis noch nicht getrennt sind. Ausgehend von diesem ästhetischen Verhältnis lassen sich nun in erkenntnistheoretischer Sicht durch Kreuztabellierung drei einflußreiche allgemeine Begriffe des Schönen sortieren. Man kann zum ersten das Schöne als Element der Realität selbst begreifen. Dies impliziert zunächst Objektivität, denn der Realitätsbegriff ist im ästhetischen Bezug nicht auf der Seite des betrachtenden Subjekts, sondern auf Seiten des betrachteten Objekts angesiedelt. Weil mit dem Realitätsbegriff weiterhin unterstellt wird, daß es Realität nur im Singular geben kann, supponiert dieser Begriff des Schönen gleichzeitig Allgemeingültigkeit, denn eine Realität, die es nur in der Einzahl geben kann, verlangt von jedem einzelnen Individuum gleichermaßen Unterwerfung. Unterhalb dieser allgemeinen Ebene des Realitätsbegriffs lassen sich jedoch ontologisch mehrere Positionen denken. Die beiden wichtigsten könnte man als platonische und nominalistische Position bezeichnen. Die platonische Position geht von der Existenz des Schönen als Universalie aus, die nominalistische von der Existenz des Schönen als feststehende Kriterien. In den jeweili3 Analog zum Begriff des "pädagogischen Bezugs" bzw. des "pädagogischen Verhältnisses". Diese theoretische Grundfigur der Pädagogik bezeichnet das idealtypische Verhältnis eines Educandus zu einem Educator. Der ästhetische Bezug als logische Grundfigur einer jeden Ästhetik gründet auch in der Etymologie des Begriffes Ästhetik (= griech. "aist nomai") = Wahrnehmen, empfinden. Ästhetik ist also im Objektbereich ihrer Erkenntnis auf Wahrnehmung, nicht auf abstrakte Begriffe begründet.

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gen Kunstobjekten spiegelt sich also in platonischer Hinsicht die Schönheit qua Universalie wider, oder aber sie sind in nominalistischer Hinsicht die besonderen Anwendungsbeispiele allgemeiner Regeln. Gemeinsam ist beiden Positionen jedoch die Unterstellung, daß die Schönheit als Realität objektiv und allgemeingültig vorgegeben ist. Die Vorteile dieser Position - ich will sie als "Realismus" bezeichnen - sind schnell aufgezählt: Wenn Schönheit objektiv und allgemeingültig in der Realität vorgegeben ist, braucht man nur die Augen aufzumachen, um sie zu sehen. Das beobachtende Subjekt kann sich erkenntnistheoretisch auf die Funktion eines Spiegels beschränken, und braucht sich um keine weiteren darüber hinausgehenden Anstrengungen zu bemühen. Unterschiedliche Ergebnisse in der Bewertung des Schönen sind ausschließlich Defizite der Beobachter und können (und müssen) durch eine bessere Beobachtungstechnik vermieden werden. Ein weiterer Vorteil dürfte darin bestehen, daß der erkenntnistheoretische Realismus im vorwissenschaftlichen Raum nach wie vor weit verbreitet ist und deshalb dem Kriterium der Vertrautheit entspricht. Die Nachteile einer realistischen Ästhetik sind allerdings erheblich: Zunächst widerspricht die Tatsache, daß wir eine Vielzahl sich oft widersprechender Begriffe von Schönheit und Kunst kennen, eklatant der realistischen Einheitsunterstellung. Realisten können deshalb mit der Anarchie der ästhetischen Systeme nur kontrafaktisch umgehen und andere Positionen nicht mehr in das eigene System integrieren. Aber dieses empirische Argument spiegelt bei Lichte besehen nur ein systematisches Problem wider, nämlich die Unmöglichkeit jeder realistischen Erkenntnistheorie, die aufgestellten Geltungsansprüche zu beweisen. Um die Aussagen über die Realität mit der Realität selbst zu vergleichen, bedürfte es einer weiteren Metaebene, der sog. "Gottesperspektive" , die wir nicht (mehr) besitzen können, so daß eine realistische Ästhetik ihre Geltungsansprüche zirkelfrei nicht zu begründen vermag. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Wenn die Kriterien der Schönheit real vorgegeben wären, bräuchte man sie ja nur anzuwenden, um eo ipso damit schöne Kunstobjekte herzustellen. Damit ließe sich aber kein Unterschied zwischen Handwerk, Technik und Kunst mehr feststellen. Die teleologische Herstellung eines Objektes nach feststehenden Regeln wäre per definitionem Kunst und sei es die Produktion von Autospoilern. Diese Probleme vermeidet die zweite Position, die wir als" Objektiven Idealismus" bezeichnen wollen. In dieser erkenntnistheoretischen Position ist das Schöne nun kein Prädikat des Objekts mehr, sondern ausschließlich eine Kategorie des erkennenden Subjekts - in den Worten von Kant, der diese Position vertritt: "Es kann keine objektive Geschmacksregel , welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d. i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund"4. Anstatt zu sagen: "Das Bild ist schön" müßte der

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Objektive Idealist deshalb sagen: "Ich finde dieses Bild schön", denn "schön" sagt jetzt nichts mehr über das betrachtete Kunstobjekt aus, sondern nur noch etwas über den subjektiven Betrachter bzw. über dessen Maßstab der Beurteilung. Dieser subjektive Beurteilungsmaßstab des Schönen wird vom Objektiven Idealisten allerdings als allgemeingültig (und notwendig) unterstellt. Die (scheinbare) Paradoxie dieser Position besteht darin, daß sie behauptet: es ist nur ein subjektives Prinzip der Kunst möglich, aber dieses ist objektiv (und das heißt: allgemeingültig). Das Schöne wird also gleichzeitig subjektiviert und universalisiert. Wohl ist - etwa bei Kant - "schön" kein Prädikat des betrachteten Objekts mehr, sondern eine Art "interesseloses Wohlgefallen" des betrachtenden Subjekts angesichts der Natur oder eines Kunstwerkes, aber dieses ist ein "allgemeines Wohlgefallen": "Das Schöne ist das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird"5. Die Vorzüge dieser Position sind vor allem im Vergleich mit der vorhergehenden augenscheinlich: Weil keine realistische Ontologie mehr vertreten wird, stellt sich das Erkenntnisproblem nicht in der unlösbaren Fassung des Realismus - man kann es sich "ohne Begriffe", also gewissermaßen begründungsfrei, "vorstellen". Es benötigt hier kein Brückenprinzip, das zwischen Objekt und Subjekt vermittelt, denn ein ästhetisches Urteil will ja gar keine Erkenntnis von einem Objekt geben und benötigt deshalb auch keine Erkenntnisbegründung mehr6 . Die Frage, die sich nun aber aufdrängt, lautet: Wie kann das Subjektive objektiv sein? Wie kann man überhaupt von einem subjektiv Allgemeinen wissen? Kant war der Meinung, daß jedes ästhetische Werturteil das Allgemeine bloß postuliert, also normativ einfordert, und deshalb gewissermaßen schon in der Bedeutung des Wortes "schön" enthalten sei. Über dieses semantisch in Anspruch genommene "Ideal des Schönen" (als Idee der Einbildungskraft) kann und darf man inhaltlich nichts weiter aussagen. Eine Begründung der subjektiven Allgemeinheit (bzw. der Allgemeingültigkeit der subjektiven Idee des Schönen) ist nicht möglich, weil hier ja gar keine Erkenntnis begründet werden soll, sondern etwas, was in der bloßen Betrachtung mit Anspruch auf Allgemeinheit - und deshalb notwendig gefällt. Würde man diese subjektive Allgemeinheit nach Regeln (nach Begriffen) begründen, würden diese wiederum ihre handwerkliche Anwendung ermöglichen und die Kunst damit gerade verfehlen. Kunst aber vermag nur das Genie bzw. der Künstler produzieren, und Künstler kann man nicht werden, wenn man nur aus Regeln zu deduzieren vermag bzw. wenn man sich mit dem Nachmachen begnügt. 4 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU), hg. von Gerhard Lehmann, Stuttgart 1963, § 17, S.l13. 5 Kant KdU (FN 4), § 6 (Hervorhebungen durch mich A. K. T.). Vgl. zum Kantischen Objektiven Idealismus des Schänheitsideals auch K. Kuypers, Kants Kunsttheorie und die Einheit der Kritik der Urteilskraft, Amsterdam, London 1972, S. 99f. 6 Vgl. Kant KdU (FN 4), S. 107f.

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Aber die Antinomie des Objektiven Idealismus ist hier mit Händen zu greifen, insofern die von ihm in Anspruch genommene Vernunft die Allgemeinheit der ästhetischen Urteile postuliert und gleichzeitig ihre Begründung als unmöglich einsieht. Zwischen den beiden Sätzen "Über Geschmack läßt sich streiten" und "Über Geschmack läßt sich nicht streiten" ließe sich nicht mehr mit Gründen streiten, sie wären beide gleichermaßen gültig oder ungültig7 . Kant löst diese Antinomie ganz analog zu seinem Antinomiekapitel der Kritik der reinen Vernunft auf, nämlich dadurch, daß er beide Urteile auf unterschiedliche Bereiche verteilt und damit den Widerspruch als einen nur scheinbaren Widerspruch entlarvt. Aber die Kosten dieser Operation sind hoch. Die Einführung einer transzendentalen Ebene befreit wohl die Deduktion (Begründung) der als universell gültig unterstellten ästhetischen Urteile von ihrer antinomischen Logik, aber mit der Folge, daß man nichts, aber auch gar nichts mehr (inhaltlich) über sie aussagen kann; es handelt sich hier um einen Begriff, "der sich gar nicht durch Anschauung bestimmen, durch den sich nichts erkennen, mithin auch kein Beweis für das Geschmacksurteil führen läßt"8. Ein Urteil über ein ästhetisches Urteil läßt sich nicht formulieren, es wäre denn selbst ein ästhetisches Urteil, und das führte in einen logischen Zirkel. Folglich bleibt nur das Begreifen der Unbegreiflichkeit dieser letztlich übersinnlichen Idee des Schönen. Diese Inanspruchnahme des Übersinnlichen ist nicht jedermanns Sache. Sie kann bestenfalls in ihrer Möglichkeit eingesehen, keineswegs aber begründet werden. Was aber bleibt übrig, wenn die Verallgemeinerbarkeit nicht begründet werden kann? Die bloße Subjektivierung des Schönen! Gadamer hat deshalb recht, wenn er schon bei Kant "den Beginn einer gefährlichen Subjektivierung" sieht9 • Ich will diese Position, der damit Raum gegeben wird, als "Subjektiven Idealismus" bezeichnen. Hier wird, wie der Name schon sagt, das Schöne ebenfalls auf Seiten des beobachtenden Subjektes lokalisiert, aber diesmal nicht mit dem - bislang unlösbaren - Anspruch auf Allgemeingültigkeit (bzw. Notwendigkeit) überlastet. Das Urteil "Diese Skulptur finde ich schön" impliziert nun nicht mehr den zeitlosen Anspruch, daß alle sie schön finden (sollen), sondern einfach: "Ich und nur ich finde sie schön, andere Menschen mögen sie häßlich finden". Das ist nun der absolute Relativismus in der Ästhetik, die Position des "anything goes". Sie kann mit beiden, scheinbar widersprüchlichen Sätzen leben: "Über Geschmack läßt sich streiten" bedeutet einfach: weil jeder seinen eigenen Geschmack hat, läßt sich über Geschmacksurteile endlos streiten. Der Satz aber "Über Geschmack läßt sich nicht streiten" zieht die Konsequenz daraus, daß ein solcher Streit kein Ende Vgl. Kant KdU (FN 4), § 56. Kant KdU (FN 4), S. 287. 9 Hans-Georg Gadamer, Die Wahrheit des Kunstwerks, in: ders., Neuere Philosophie I, Tübingen 1987, S. 249 - 261, hier S. 254. 7

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aus Gründen, aus Begriffen - finden kann und bedeutet deshalb schlicht: es lohnt sich nicht mehr, über Geschmack (und damit über Kunst) zu streiten, weil wir kein Kriterium mehr besitzen, einen solchen Streit mit Argumenten zu entscheiden. Die Vorteile dieser heute weit verbreiteten Position sind klar: Wir sind aller theoretischen Begründungsprobleme einer solchen Ästhetik ledig, denn es werden hier gar keine mehr erhoben. Das Schöne gerinnt zum Prädikat eines momentanen und damit kontingenten psychischen Erregungszustandes eines und nur eines Subjektes. Die Nachteile dieser Position sind aber nicht zu übersehen: Ästhetische Urteile werden beliebig, gleich gültig und damit gleichgültig. Sie sagen nichts mehr, aber auch gar nichts mehr über das "Kunstwerk" aus, sondern bringen nur noch einen individuellen Beurteilungsmaßstab zum Ausdruck. Jede Objektivation der Kunst und des Schönen oberhalb subjektiver Meinungen wäre obsolet. Der Kunstunterricht wäre überflüssig, die Kunsthochschulen könnten schließen, die Bildungspolitik viel Geld sparen und die Künstler nach Hause gehen und angeln, denn jetzt gilt nur die Prämisse: jeder ist sein eigener Künstler. Dazu kommt, daß dort, wo diese Position des Subjektiven Idealismus nicht nur als postmoderne Variante einer allgemeinen Gleichgültigkeit, sondern als explizite theoretische Position vertreten wird, sie in die paradoxe Lage kommt, daß sie die Geltungsansprüche zweier sich widersprechender ästhetischer Urteile gleichermaßen akzeptieren muß, also antinomisch ist. Der subjektive Anspruch auf Schönheit impliziert ja durchaus für sich genommen eine universelle Geltung - das betrachtete Objekt "ist" schön -, aber gleichzeitig "ist" es auch wieder nicht schön, vielleicht sogar häßlich, nämlich aus Sicht eines anderen Beobachters. Beides kann aber gleichzeitig nicht widerspruchsfrei gedacht werden. Nun ist diese paradoxe Logik kein charakteristisches Kennzeichen dieser Position. Wie unsere kurze Analyse gezeigt hat, sind alle drei dargestellten Positionen letztlich antinomisch aufgebaut und deshalb erkenntnistheoretisch nicht unproblematisch. Wir wollen sie noch einmal in den Zusammenhang stellen und dadurch vergleichbar machen: objektiv und allgemeingültig Realismus: Objektiver Idealismus: subjektiv und allgemeingültig Subjektiver Idealismus: subjektiv und nicht allgemeingültig

Diese Darstellung ermöglicht es, die allgemeinen Begriffe des Schönen erkenntnistheoretisch einzuordnen. Die Frage ist nun naheliegend: Ist dieses Raster vollständig? Lassen sich alle (real vorkommenden oder auch nur möglicherweise denkbaren) ästhetischen Positionen hier zuordnen? Nun, ich bin der Überzeugung, daß wir zumindest eine weitere Position berücksichtigen

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müssen, eine Position, deren erkenntnistheoretische Grundlagen erst seit wenigen Jahren diskutiert werden. Ich bezeichne sie als (radikalen) "Konstruktivismus" 10. 11. Wir haben bisher jede inhaltliche Bestimmung des "Schönen" (der "Kunst" ect.) vermieden und uns nicht in den Streit um den "richtigen", "wahren" Begriff eingelassen. Stattdessen haben wir uns ausschließlich auf einer erkenntnistheoretischen Metaebene bewegt, auf der die Anarchie der ästhetischen Systeme als eine Tatsache erscheint, mit der die unterschiedlichen Positionen allerdings sehr unterschiedlich umgehen. Für einen Realisten und für einen Objektiven Idealisten ist sie der "horror vacui" schlechthin, empirisch ein ständiges Ärgernis, philosophisch eine Katastrophe, die es schnellstmögliehst zu überwinden gilt. Für den Subjektiven Idealisten ist es dagegen der Normalfall, der zumindest solange nicht aufregt, als man die antinomische Grundfigur nicht durchschaut hat. Aber, so könnte man hier kritisch fragen: Wird hier nicht nur das Nichtkönnen als Nichtwollen kultiviert? Ist der Subjektive Idealismus nicht einfach nur die postmoderne Niederlage der Vernunft vor der Anarchie der ästhetischen Systeme? Zwischen normativer Beschwörung und resignativem Verzicht scheint es keinen dritten Weg zu einer Logik des Ästhetischen zu geben. Oder doch? Läßt sich nicht eine Position denken, die die Nachteile der Positionen vermeidet und ihre Vorteile bündelt? Ich denke, daß der (radikale) Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Position hier eine Chance bietet, die man ergreifen und erproben sollte. Es ist dem Namen angemessen, diese Position hier nicht rekonstruktiv-hermeneutisch, entlang vorgegebener Texte, die man exegetisch auslegt, sondern konstruktiv zu entwickeln, also entlang einer fiktiven Argumentationslinie. Der Vorzug dieser Methode, nämlich Zeit und Raum zu sparen, ist so gewichtig, daß er den unvermeidlichen Nachteil, nämlich über weite Strecken ohne Netz und doppelten Boden arbeiten zu müssen, in Kauf zu nehmen erlaubt. Um nicht den ganzen Ballast traditioneller Semantik mitzuschleppen, gehe ich nicht vom Begriff des Schönen (oder der Kunst) aus, sondern von einem weit abstrakteren Begriff, der den wichtigen Vorzug besitzt, daß er nicht mit traditionellen Konnotationen befrachtet und überlastet ist, nämlich vom Begriff der Differenz. Dieser Begriff ist ein Grundbegriff einer (konstruktivistischen) Erkenntnistheorie und interdisziplinär anschlußfähig ll . Da jede 10 Vgl. zur Einführung: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1987, und die dort angegebene weiterführende Literatur. 11 Vgl. etwa bei Georg Spencer-Brown, Laws of Form, New York 1979 ("Distinction") und bei Gregory Bateson, Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frankfurt a. M. 1982 ("Unterschied").

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ästhetische Erkenntnis zunächst eine theoretische Erkenntnis voraussetzt 12 , sind dies zwei gewichtige Vorteile. In jedem ästhetischen Verhältnis wird ja zunächst eine Erkenntnis aktiviert, d. h. ein Beobachter beobachtet ein Objekt und aktiviert dabei Ein- und Ausschließungen, die wir als Grundelement der Beobachtung "basale Differenz" bezeichnen wollen. Die Auszeichnung als "ästhetisch" kommt der theoretischen Erkenntnis hinzu. Damit soll nicht die eigenständige Qualität einer ästhetischen Welterfahrung geleugnet werden, sondern nur zum Ausdruck gebracht werden, daß auch sie mit der Erkenntnis einer Differenz beginnt, die zunächst als solche keine ästhetische Bedeutung besitzt. Spencer-Brown hat die Logik dieser basalen Differenz mit den Begriffen "distinction" und "indication" bezeichnet 13 und deutlich gemacht, daß es sich hierbei um eine Art quasi transzendentalen Schematismus handelt, der Erkenntnis unhintergehbar vorausliegt. Die Operation des Unterscheidens und Bezeichnens ermöglichen erst die Erkenntnis eines Objekts, und gerade das nenne ich "basale Differenz"; ein Unterschied wird gemacht und die eine Seite ein- und die andere ausgeschlossen l4 . Auch alle Kunstobjekte, die wir beobachten, können zunächst nur als basale Differenz erkannt (aist nomai: wahrgenommen) werden: da ist etwas und nicht nichts. Um diese Aussage zu konkretisieren, bedarf es eines minimalen inhaltlichen Abgrenzungskriteriums, sonst bleibt der Sinn bloß formal (bzw. quasi transzendental). In Anlehnung an einen Vorschlag von Fritz Heider, der von Niklas Luhmann wieder aufgegriffen wurde l 5, nenne ich dasjenige, was die Übermittlung von Sinn (qua basaler Differenz) überhaupt erst ermöglicht, "Medium". In der Kunst kann das sein: Holz, Metall, Farbe, Leinwand, Sand, Firnis, Glas, aber auch Geräusche, Bewegung ... , kurz: alles was sinnlich wahrnehmbar ist. Eine Differenz, sei sie nun akustisch, visuell oder haptisch wahrnehmbar, ist aber noch kein Kunstobjekt an sich, sondern gewissermaßen nur sein virtueller Rohstoff, die empirische Bedingung seiner Möglichkeit. Diese Ressource erscheint nie "nackt", sondern immer und unweigerlich als Figuration, als Relationierung der ihm eigentümlichen Differenzen, als "Form". Ich nenne diese zweite Art von Differenz deshalb die "relationale Differenz". Form ist die Ordnung des Mediums und kann deshalb unter 12 "Das Gute beschäftigt unsre Vernunft, das Wahre und Vollkommene den Verstand, das Schöne den Verstand mit der Einbildungskraft ... " heißt es bei Schiller (Friedrich Schiller, Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792), in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Literatur und Geschichte, München o. J. S. 5 - 17, hier S. 8. 13 Vgl. Spencer-Brown (FN 11), S. Hf. 14 Vgl. auch dazu Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 68ff. 15 Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst, in: Delfin VII (1986), Heft 4, S. 6 - 15. Fritz Heider, Ding und Medium, in: Symposion 1 (1926), S. 109 - 157.

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Umständen selbst wiederum zum Medium (zu einer Art Metamedium) werden. Beispielsweise kann man Graphitmoleküle als Medium für eine Zeichnung interpretieren, aber gleichzeitig auch die damit zum Ausdruck gebrachten Buchstaben des Alphabets als Medium für die Literatur bezeichnen. Auch jede Kunstkritik nimmt die Form der Kunst als ihr Medium und abstrahiert damit vom Primärmedium der Kunst. Medium und Form unterscheiden sich in der Kunst also nicht durch ihre unterschiedliche Ontologie, sondern durch ihre unterschiedliche Funktion: Das Medium ist eine Art Variationspool für die Form, die Form relationiert die möglichen Kombinationen des Mediums und macht sie damit beobachtbar. Deshalb gibt es immer ein Überangebot an Medium und ein Unterangebot an Form 16 - in den Worten von Jean Cocteau: "Ein Dichter hat immer zu viel Worte in seinem Vokabular, ein Maler zu viel Farben auf seiner Palette, ein Musiker zu viel Noten auf seiner Klaviatur"17. Noch immer sind wir nicht bei jener Emergenzebene angelangt, die Kunst als Kategorie von anderen Kategorien (etwa Religion, Erziehung, Handwerk ect.) unterscheidet bzw. - in der Sprache Heideggers - das "Kunstwerk" vom "Ding" abzugrenzen erlaubt. Noch ist die Differenz von Medium und Form zu allgemein, zu unspezifisch und sagt nichts über ein Unterscheidungskriterium aus, das ästhetische Objekte von nichtästhetischen Objekten zu trennen erlaubt. Ich nenne jene Differenz, die genau diese Unterscheidung konstituiert die "kategoriale Differenz". Damit sind wir bei jener Frage angelangt, die in der Ästhetik die Gemüter immer schon erhitzt und bis heute unbefriedigt gelassen hat: Was ist das Unterscheidungs kriterium von Kunst und Nichtkunst? Was macht ein beliebiges Ding zu einem Kunstwerk? Woran erkennen wir beim Beobachten eines Objekts, daß es ein Kunstobjekt ist? Wir wollen im folgenden versuchen, diese Frage aus konstruktivistischer Sicht zu beantworten, um dann in einem zweiten Schritt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem Schönen zu verengen. Was hierbei "konstruktivistisch" bedeutet, werden wir allerdings erst vom Ende her richtig verstehen können, dann nämlich, wenn die Bedingungen der Argumentation in doppelter Hinsicht als Konstruktionen durchschaubar werden. Zunächst aber wollen wir als eine erste Orientierung die Position des Konstruktivismus unseren anderen Positionen zuordnen und kommen zu folgender Bestimmung: Konstruktivismus:

objektiv und nicht allgemeingültig

16 Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von "lockerer und strenger Kopplung" (zwischen Primärmedium und Form). Die Kombinationsmöglichkeiten des Mediums sind größer als jene der Form (FN 15, S. VII). 17 Jean Cocteau, Randnotizen, in: Heinz Stuckenschmidt (Hg.), Neue Musik. Mit einem Vorwort von earl Dahlhaus. Frankfurt a. M. 1981, S. 304 - 308, hier S. 305. Man erinnere sich: Die sieben Töne unserer traditionellen Tonleiter bergen 5040, die 12 Töne der modernen Zwölftonmusik gar 479001600 Melosmöglichkeiten. Auf die Frage, wie er komponiere, sollte Debussy einmal gesagt haben: "Ich nehme alle Töne, die es gibt, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende alle andern" .

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Das Schöne, sei es das Naturschöne, sei es das Kunstschöne, finden wir im Objektbereich unserer Beobachtungen vor und ist so gesehen (qua empirische Tatsache) "objektiv" vorgegeben. Diese These ist unsere erste Prämisse, und sie ist in gewissem Sinne - zumindest auf den ersten Blick - trivial, denn sie bedeutet schlicht: es gibt Kunst, und es gibt in der Kunst das Schöne. Diese sehr realistisch klingende Prämisse besagt auf das Schöne bezogen aber auch: es gibt - historisch und systematisch gesehen - viele verschiedene Definitionen des Schönen. Das Schöne ist also aus dieser Beobachtungsperspektive nicht allgemeingültig. Wer das Schöne nicht normativ erwartet, sondern kognitiv beobachtet, findet das Schöne immer schon als Konstrukt von Beobachtern im Beobachtungsbereich der eigenen Beobachtung vor. Die eigene Beobachtung ist gewissermaßen eine Beobachtung zweiter Ordnung, weil sie die Beobachtung eines Kunstbetrachters - qua Beobachtung erster Ordnung - beobachtet. Wir sehen also, daß ein Beobachter erster Ordnung nach Maßgabe basaler Differenzen einen Beobachtungsbereich konstituiert, den er "das Schöne" oder "die Kunst" nennt, und daß ein Beobachter zweiter Ordnung genau dies beobachten kann. Der Vorzug einer solchen Beobachtung zweiter Ordnung ist also, daß das Schöne nicht nach Maßgabe der eigenen, immer einschränkenden, normativen Vorentscheidungen in den Blick kommt, sondern die ganze Bandbreite möglicher Begriffe des Schönen im Gegenstandsbereich seiner Beobachtung vorgefunden wird. An welchen empirischen Indikatoren können wir diese Beobachtung (erster Ordnung) aber festmachten? Das Schöne ist ja ebenso wie die Kunst nicht direkt beobachtbar, sondern nur über die Beobachtung einer Beobachtung. Mit Hilfe welcher empirisch beobachtbarer Kriterien können wir diese Beobachtung (erster Ordnung) rekonstruieren? Ich schlage vor, die Kunst als ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Sprachspiel zu bestimmen und damit als eine spezifische Form von KommunikatIOn. Die Kunst als Kommunikationssystem zu bestimmen, mag zunächst irritieren, weil es traditionelle Erwartungen enttäuscht und Mißverständnisse provoziert. Etwa das Mißverständnis, Kunst hätte nichts mit Gefühlen zu tun. Selbstverständlich korreliert die Kommunikation über Kunst mit psychischen Faktoren wie etwa Gefühlen. Aber diese sind nur beobachtbar als Kommunikation (über Gefühle). Das Schöne mag ein subjektives Lustgefühl sein, es wird nur beobachtbar, wenn ich sage: das Schöne mag ein subjektives Lustgefühl sein. Das Schöne korreliert selbstverständlich auch mit externen Objekten, etwa einem Gemälde, aber es - das Schöne - wird (im Gegensatz zum Gemälde) nur beobachtbar, wenn ich sage: das Gemälde ist schön. Weil Kommunikation nur durch Kommunikation, und durch nichts anderes, fortgesetzt werden kann, ist Kunst qua Kommunikationssystem operatIOnal geschlossen 18.

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Eine direkte Determination von außen in dieses operativ geschlossene System ist deshalb nicht möglich. Mit anderen Worten: Kunst ist ein selbstorganisiertes System, das operation al geschlossen und energetisch offen ist 19 . Wie König Midras verwandelt es alles, was mit ihm qua Kommunikation in Berührung kommt, in das Gold der Kunst. Es verschluckt wie ein "schwarzes Loch" jeden externen Beobachter, denn auch seine Erkenntnis, seine Kritik, ist Kommunikation über Kunst und damit Teil des Kunstsystems 2o • Deshalb kann es (in diesem Sprachspiel) auch keine "Anti-Kunst" und keine "entartete Kunst" geben, denn auch die Diskussion um die Kriterien "richtige (= deutsche) Kunst" versus "falsche (= entartete) Kunst" ereignet sich qua Kommunikation im Kunstsystem. Auch Dadaismus, russischer Produktivismus, Surrealismus und Conceptual Art sind natürlich auch dann Kunst, wenn sich deren Protagonisten als Anti-Künstler verstehen. Nicht die basale Differenz selbst, sondern nur ein spezifisches Programm seiner Interpretation steht hier zur Disposition. Die Wahl bleibt nur ganz am Anfang offen: Was will ich beobachten? Welche Leitdifferenz benutze ich bei der Beobachtung? Aber schon die erste Beobachtung realisiert die basale Differenz und ermöglicht die Erkenntnis der kategorialen Differenz. Hier gilt der Diktum des Mephisto (aus dem "Faust"): "Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wird Knechte" . Wenn wir uns nun auf die basale Unterscheidung der Kunst einlassen, was können wir dann beobachten? Kommunikation über Kunst - das ist zu wenig, zu allgemein, zu unspezifisch. Es würde bei der Tautologie stehen bleiben: Kunst ist das, was Kunst ist (weil wir nur das beobachten können, was wir beobachten können und nichts anderes). Betrachten wir also das Kommunikationssystem Kunst genauer und beginnen zunächst mit dem Phänomen der Kommunikation. Kommunikation transportiert Selektionsentscheidungen und damit Sinn. Wenn ich kommuniziere, beschränke ich das Medium der Geräusche auf jene Form, die in einer bestimmten Sprache als Selektion Selektion im Bereich der Syntax, der Semantik und der Pragmatik - transpa18 Zu diesem für den modernen Diskurs zur Selbstorganisation zentralen Begriff (bzw. seinem Synonym "kognitive Abgeschlossenheit") - und seinen Problemen vgl. vor allem: Gerhard Roth, Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Schmidt (FN 10), S. 229 - 255, insb. S. 240ff. Sowie ders., Autopoiese und Kognition: Die Theorie Humberto R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: ebd. S. 256 - 286, insb. S. 271ft. 19 Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, daß es von außen irritiert werden kann, etwa durch Bugetkürzungen im Kunstbereich, durch einen anregenden Urlaub auf einer einsamen Insel, vielleicht sogar durch Kunstunterricht. 20 Allerdings ist der auch der stille Kunstliebhaber denkbar, der sich mit seiner Gefühlswelt zufrieden gibt und nicht an der Kommunikation des Kunstsystem partizipiert. Novalis spricht hier (analog zum Naturliebhaber) von einem "inneren Dichterleben" (vgl. Novalis: Die Lehrlinge zu Sais, in: Monolog und andere Schriften, Reinbek 1963, S. 16). Aber hier handelt sich um eine Art innere Kommunikation, das Subjekt dupliziert sich selbst und kann nur mit und durch diese Differenz Kunst beobachten.

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rent wird, und das wollen wir mit "Sinn" bezeichnen 21 . Diese sinnhafte Überführung von Limitionalität durch Kommunikation können wir - in Anlehnung an Niklas Luhmann - wiederum sinnhaft in drei Dimensionen einteilen und damit der folgenden Analyse eine gewisse Ordnung geben: Sachdimension, Zeit dimension , Sozialdimension. In allen drei Sinndimensionen können wir entlang von Differenzen beobachten, die wir als "Codes" bezeichnen (um deutlich zu machen, daß es Beobachtungsunterscheidungen sind). Deren inhaltliche Limitionalitäten werden von "Programmen" definiert, die historisch und damit kontingent sind 22 . Traditionellerweise geht man davon aus, daß sich das Kommunikationssystem Kunst in der Sachdimension entlang des Codes von "schön - häßlich" ausdifferenziert hat. Aber diese scheinbar triviale Prämisse hat sich zusehends als problematisch erwiesen 23 . Ein erstes Problem ist zunächst die Abgrenzung von Kunst und Natur bzw. des "Kunstschönen" vom "Naturschönen" , denn schließlich kann nicht nur ein Kunstwerk, sondern z. B. auch ein Sonnenuntergang schön sein. Im Griechischen war im Begriff der "techne" noch die Einheit von Natur und Kultur bewahrt und zwar über den Brückenbegriff der "poiesis": Natur ist ein Hergestelltes durch einen Gott bzw. durch einen Demiurgen, Kultur ist ein Hergestelltes durch einen Menschen. Noch bei Kant ist das Naturschöne nur deshalb "schön", weil wir eine teleologische Logik als eine Als-Ob-Fiktion (analog zur Herstellung eines Kunstwerks) annehmen, und die schöne Kunst ist nur deshalb ästhetisch, weil wir sie ebenfalls teleologisch - als "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" interpretieren 24 . Man müßte also zunächst die Kunst per definitionem auf jene Kommunikation einschränken, die sich entlang des Codes von "schön - häßlich" auf artifizielle Objektivationen bezieht, also gewissermaßen auf das, "was nicht von selbst geschieht"25 und reziprok dazu das Naturschöne auf natürliche Objektivationen, also auf das, "was von selbst geschieht". 21 In lockerer Anlehnung an Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 92ff. 22 Diese Unterscheidung von "Code" und "Programm" lehnt sich wiederum (locker) an einen Vorschlag von Niklas Luhmann (in einem anderen Zusammenhang) an. Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, S.89ff. Ders. 1990 (FN 14), S. 184ff., passim. 23 Deshalb fragt Luhmann auch vorsichtig: "Ist Kunst codierbar?" (in: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Opladen 1981, S.245 - 266) und die Antwort ist eindeutig uneindeutig. 24 Kant KdU (FN 4), § 61ff. Das ist der Grund, warum die Kritik der Urteilskraft in ihre zwei, zunächst völlig unterschiedliche, Teile zerfällt. Vgl. zu den Kantischen Fiktionen in der Kritik der Urteilskraft auch: Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1927 (Neudruck Aaalen 1986), S. 667f. 25 "In der allgemeinen anthropologischen Bedeutung bezeichnet Kunst alles, was von Menschenhand aufgrund von vorgegebenen Ideen, Plänen, Zielen oder Absichten zustande gebracht wird" schreibt Kuypers (FN 4, a.a.O., S. 25) und fährt kurz danach fort: "Es muß dabei jedoch auch immer ein Werk, ein opus - d.h. ein Kunstwerkzustande gebracht worden sein" (dito).

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Aber selbst nach dieser Präzisierung bleibt es höchst fraglich, ob wir damit den Kunstbegriff angemessen codiert haben, denn inzwischen spielt das Begriffspaar "schön" und "häßlich" (mit seiner Präferenz auf "schön") eine zunehmend geringere Rolle in der Kunstkommunikation. Ja es läßt sich über viele Kunstwerke kommunizieren, ohne dabei diese Begriffe überhaupt noch zu gebrauchen26 • An deren Stelle treten dann Ersatzbegriffe wie z. B. "originell", "kreativ", "schockierend", "ausdrucksreich" u. a. m. Es deutet alles darauf hin, daß nach der Auswanderung des Wahrheits co des aus der Kunst (in der Antike) zunehmend auch der Schönheitscode (in der Neuzeit) seine universelle Dominanz verliert und zu einem, wohl nach wie vor wichtigen, aber im Einzelfall auch durchaus verzichtbaren Begriffspaar im Sprachspiel der Kunst herabsinkt. Als ein solches kontingentes Begriffspaar (unter anderen) taugt der Code aber nicht mehr zur Leitdifferenz bei der Beobachtung des Kunstsystems. Was tritt aber dann an seine Stelle? Aus Sicht einer naturalistischen Erkenntnistheorie, hier aus konstruktivistischer Sicht, bleibt nur der Weg offen, den Abstraktionsgrad noch einmal zu erhöhen und einen binären Code zu wählen, der diesen Prozeß (des Kontingentwerdens traditioneller Codes) selbst noch einmal zu beobachten erlaubt. Dieser Abstraktionsprozeß darf aber nicht auf Kosten der empirischen Beobachtungsfähigkeit gehen, d. h. wir müssen mit Hilfe empirischer Indikatoren den Code eindeutig im Beobachtungsbereich festmachen können. Von der einschlägigen Literatur können wir hier nicht viel Hilfe erwarten, weil diese in der Regel nicht diesen Beobachtungsstandort wählt. Ich schlage deshalb vor, die kategoriale Differenz der Kunst mit einem Kunstwort zu bezeichnen, mit dem binären Code von "Opus - Negopus". Die Sache der Kunst kann schön oder nicht schön, häßlich oder nichthäßlich, fest oder flüssig, schwer oder leicht, hörbar oder nich.t hörbar sein, kann aus Holz, Stein, Beton, Papier, Styropor, Seife, Geräuschen oder aus Stille bestehen, ja gelegentlich selbst aus nichts (wie in manchen Werken der modernen Kunst), kurz: sie kann in der Sachdimension alles sein, aber eines muß sie sein: ein Werk, ein Opus. Kunstwerke sind also keine Gedanken oder Gefühle oder Erkenntnisse (obwohl diese durchaus eine Folge oder eine Ursache von Kunstwerken sein können). Ein Opus wird auf der Ebene des kategorialen Codes nicht durch irgendwelche Kriterien (etwa der Vollkommenheit) bestimmt - das Werk braucht nicht einmal ein "Machwerk" eines Künstlers sein -, sondern allein durch seinen Kontext, durch den "Negopus". Es ist die Einheit der Differenz von Opus und Negopus, die als Leitdifferenz die Kunst 26 " ••• jemanden, der schön ist, so zu nennen (ist) fast schon eine Beleidigung" meint Gemot Böhme in einem Kapitel, das die bezeichnende Zwischenüberschrift hat: "Über die moderne Verlegenheit angesichts der Schönheit" (Gernot Böhme, Schön-Sein, in: ders.: Natürlich Natur. Über die Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 160 - 180, hier S. 161).

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kategorial bestimmt, und das bedeutet, daß es keinen Opus ohne Negopus (und vice versa) geben kann. Das Poietische am Opus wird im allgemeinen auf die Produktion des Opus selbst beschränkt. Das Opus ist traditionellerweise ein Mach-Werk eines Künstlers. Aber das ist, wie beispielsweise die Stilrichtung des "Ready-made" beweist, (noch) nicht das Charakteristische der Kunst. Wir müssen deshalb abstrakter ansetzen und sagen: Das Poietische bezieht sich auf die Differenz von Opus und Negopus, also auf das was in der Tradition - etwa bei Goethe und Schiller - mit (ästhetischem) "Schein" bzw. "Fiktion" bezeichnet wird 27 . Ohne Negopus wird das Fiktive des Opus, das ästhetische Moment des "Als-ob", nicht erkennbar, sondern als bloßer Sachverhalt der übrigen Realität zugeordnet. Das Opus ist hier die reale Fiktion bzw. die fiktive Realität, insofern sie eine Realität zweiter Ordnung konstituiert, die sich vom Negopus genau durch die Fiktionalität abgrenzt. Als Werk ist das Opus real, aber als Opus ist das Werk fiktiv, weil es zusätzlich zu seiner basalen Differenz und zusätzlich zu seiner relationalen Differenz noch die kategoriale Differenz voraussetzt 28 • Ein Fettstuhl bleibt solange ein Fettstuhl, der bei nächstbester Gelegenheit von der Putzfrau auf den Grobmüll gestellt wird, bis der Betrachter nicht mit Hilfe der binären Codierung von Opus und Negopus diesen Stuhl als Kunstwerk (von Beuys) identifiziert. Ein Stück Holz, das man im vorletzten Sommer im Großen Walsertal am Wegrand gefunden hat, bleibt so lange ein Stück Holz, das man demnächst im Kamin verheizt, bis nicht ein Betrachter es mit Hilfe der binären Codierung von Opus und Negopus als Kunstwerk identifiziert und an die Wand seines Arbeitszimmers gehängt hat. Ein Urinoir ist so lange nichts anderes als ein Urinoir, das man auf jedem Baumarkt kaufen kann, bis zu dem Augenblick, als Marcel Duchamp es signierte und (1917 in New York) unter dem Titel "Fountain" bei einer Kunstausstellung ausstelltedie Kunst des "Ready-Made" war geboren 29 • Das Geräusch einer Kreissäge 27 "Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben" (Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit. Teil 3 u. 4, München 1962, S. 42). 28 Die Fiktionalität der Kunst - eine Art Duplizierung der Wirklichkeit -, ist eine Differenz, die vom Beobachter (erster Ordnung) entdeckt (besser: konstruiert) werden muß und deshalb häufig ein Erstaunen freisetzt. Ich denke, daß dieses Erstaunen über die kategoriale Differenz tiefer liegt - gewissermaßen eine basale Qualität besitzt -, tiefer als die bloße Überraschung in Anbetracht des Neuen. So gesehen muß man zwei Arten von Erstaunen in der Ästhetik unterscheiden: das Erstaunen in Anbetracht der kategorialen Differenz (der fiktiven Realität des Opus) und das Erstaunen in Anbetracht der Realität eines neuen Kunstwerks. Nur die zweite Art des ästhetischen Erstaunens hat etwas mit dem Stilbegriff zu tun, wie er von Luhmann funktional analysiert wird (in Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Delfin 3/1984, S. 51 - 69). 29 Duchamp war einer der ersten, der die Differenz von Opus und Negopus als basales Unterscheidungskriterium von Kunst durchschaute - mit erheblicher Resonanz in

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bleibt solange nur und nur das Geräusch einer Kreissäge, bis ein Hörer es nicht mit Hilfe der binären Codierung von Opus und Negopus als Element eines Kunstwerkes (sagen wir einmal des neuesten Werkes von Stockhausen) identifizieren kann. Diese Beispiele machen deutlich, daß auf der Sachebene das Unterscheidungskriterium von Kunst und Nichtkunst nicht in der Kunst (etwa im Kunstwerk selbst), aber auch nicht in der Nichtkunst zu finden ist, sondern genau auf der "Grenze". Es ist der Kontext, der "Rahmen", der das Bild zum Bild macht, selbst wenn auf dem Bild absolut nichts zu sehen ist, ja selbst, wenn das Bild gar keinen Rahmen hat. "Rahmen" ist hier die fiktive Grenze, die zwischen Opus und Negopus die reale Differenz ausmacht, genauer: die Einheit der Differenz3o • Veranschaulichen wir uns aber noch ein letztes Beispiel aus der traditionellen Kunst. Auch ein Gemälde bleibt solange eine Ansammlung von Farbklecksen (getrocknetem Pflanzenöl) auf einer Leinwand, die man achtlos in den Papierkorb wirft, bis ein Beobachter es nicht mit Hilfe der binären Codierung von Opus und Negopus als Kunstwerk (z. B. von van Gogh) interpretiert (= autopoietisch konstruiert!). Daß uns dieses Beispiel etwas merkwürdig vorkommt, hängt damit zusammen, daß wir den binären Code von Opus und Negopus in der Regel immer im Licht inhaltlicher Kriterien und Regeln wahrnehmen, die kulturell tradiert sind und unseren Beurteilungsgeschmack geprägt haben. Dieses Regelwerk, das die formale Codierung von Opus und Negopus inhaltlich einschränkt, nenne ich in (lockerer) Anlehnung an einen Vorschlag von Niklas Luhmann: "Programm".

In der Regel geht es in der traditionellen Ästhetik um das Verhältnis des traditionellen Schönheitscodes zu speziellen Programmen, die die Freiheit im Umgang mit Form und Medium beschränken und so die Zuordnung zum Code ermöglichen. Das ist einerseits verständlich, weil ohne Beschränkung sich nicht nur der Meister erst zeigt, sondern auch die Freiheit der inhaltlichen Varianz im Umgang mit dem Code leerlaufen würde: erst "das Gesetz nur kann uns Freiheit geben" (Goethe). Man übersieht aber damit leicht die vorgelagerte Ebene der Selbstorganisation des Codes von Opus und Negopus. Alle Kriterien der Programme (Kunst stil richtungen , ästhetische Gesetze, Kunstdogmatiken ect.) setzen aber als Bedingung der Möglichkeit ihrer Anwendung die vorgängige Unterscheidung von Opus und Negopus schon voraus. Erleichtert wird diese Erkenntnis allerdings durch den immer schnelder modernen Ästhetik (vgl. dazu den lesenswerten Beitrag von Thierry De Duve, Kant nach Duchamp, in: Kunstforum Bd. 100/ April, Mai 1989, S. 187 - 206). 30 Man könnte die Erfahrung dieser Differenz als Einbildungskraft bezeichnen, als Imagination. Den "Rahmen" darf man sich natürlich nicht nur räumlich, sachlich, sondern auch zeitlich vorstellen, als Anfang und Ende. Deshalb muß das nichtgespielte Klavierkonzert ,,4.33" von John Cage, um als Opus identifizierbar zu sein, zumindest einen Anfang (das Aufklappen des Konzertflügels) und ein Ende (das Schließen des Konzertflügels) haben. 4 Selbstorganisation, Bd. 4

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ler werdenden Wandel des ästhetischen Geschmacks. In dem Maße wie die Programme sich gegenseitig überholen und abwechseln, wird der Blick frei auf die Konstitutionsbedingungen des Codes. Betrachten wir deshalb jetzt die Zeitdimension .

In der Zeitdimension beobachten wir Kunst entlang der Differenz von Variation und Selektion, also als Evolution. Variationen werden zufällig produziert und zur Selektion der Evolution offeriert. Diese selektiert davon unabhängig und stabilisiert ggf. die Selektion. Das alles kostet Zeit und ist nicht planbar. Eine solche Betrachtungsweise hat weitreichende Folgen. Zum Beispiel, daß Kunst nicht mehr poietisch (im Sinne von techne) herstell bar ist. Das Kunstwerk ist nicht mehr die hergestellte Hypostasierung der ästhetischen Idee (etwa des "Schönen", des "Erhabenen", des "Vollkommenen") oder gar wie bei Hegel Ausdrucksform des absoluten Geistes. Herstellbar ist nur, selbstverständlich, das Werk (ein Gemälde, eine Komposition, ein Gedicht). Aber das ist zunächst nur eine Kommunikationsofferte für das soziale System "Kunst". Was im Kunstsystem nicht kommuniziert wird, gibt es nicht als Kunst. Erst wenn über ein "Werk" im Kunstsystem kommuniziert wird, ist es ein "Kunst-Werk", ein Opus3!. Die Kommunikation über Kunst ist hier die Form und das Kunstwerk bloß das Medium. Das bedeutet also, daß es natürlich keine Kunst ohne Kunstwerk geben kann, wohl aber ein Werk ohne Kunst. Kunst ist also nicht "herstellbar", nur dessen Medium, das "Werk". Hier gibt es keine Grenzen; alles was man wahrnehmen kann, das haben unsere Beispiele schon gezeigt, kann man machen. Nichts sinnlich Wahrnehmbares ist hier ausgeschlossen. Folglich kann das "Wesen" der Kunst auch nicht im Werk selbst liegen, sondern im Kontext, der die Bedeutung macht. Erst wenn das Kommunikationssystem Kunst es selektiert, wird es zur Kunst, und das nicht, weil es einem Kriterium der Kunst entspricht, sondern weil die Form des Werks als Medium der Kunst erscheint. Der stattfindende Selektionsprozeß hat zur Folge, daß es immer ein Überangebot bei der Variation gibt und das Problem in der Selektion des Kunstsystems liegt. Dieses Kunstsystem ist zunächst Umwelt für den individuellen Produzenten von Werken, was nur ein anderer Begriff dafür ist, daß beide evolutiven Prozesse, Variation und Selektion, voneinander unabhängig, d. h. selbstorganisiert, verlaufen. Ihre gegenseitige Berührung ist deshalb - aus Sicht eines Beobachters - zufällig. Die Engstelle liegt also in der Wahrnehmung im (und durch das) Kunstsystem, nicht bei der Produktion von Werken (die qua Variation zunächst nur Negationspotential für die Evolution der Kunst ist). Das Bestreben des Künst31 Das bedeutet natürlich viel mehr als eine Wiederholung von Arnold Gehlens polemischem Satz von der Kommentarbedürftigkeit des modernen Kunstwerkes, nämlich: die Kommentarbedürftigkeit der Kunst selbst.

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lers, der genau das durchschaut, wird deshalb in erster Linie auf die Resonanz im Kunstsystem ausgerichtet sein und nicht auf die Produktion von Schönheit. In dem Maße, wie Programme, die Schönheit von Häßlichkeit zu unterscheiden erlauben, selbst kontingent und brüchig werden, wird das Bestreben des Künsters immer mehr auf die Erzeugung von Resonanz im Kunstsystem zielen und sich dabei an Signalen orientieren, an denen sich Resonanz ausbildet. Da Aufmerksamkeit im System ein knappes Gut ist, werden es vermutlich in erster Linie solche Merkmale sein, die von der Differenz zum Bekannten und Vertrauten, von der Provokation, der Auffälligkeit, kurz: von der Traditionslosigkeit leben 32 . Auch Selektionen im Kunstsystem sind evolutionären Prozessen unterworfen. Sie können selbst wiederum selektiert oder aber als Selektion stabilisiert, d. h. auf Dauer gestellt werden. Im ersten Falle haben wir die Mode, das Strohfeuer eines bestimmten Programms, das schon morgen wieder aus der Szene verschwunden sein wird. Im zweiten Falle erhalten wir das "unsterbliche", "echte" Meisterwerk 33 . Zum unvergänglichen Meisterwerk wird ein Werk, wenn die Kommunikation darüber auf Dauer gestellt wurde. Diese Formulierung signalisiert, daß das eigentlich Entscheidende im Kommunikationssystem der Kunst geschieht, der Künstler und sein Werk ist dabei nur eine Art Irritation der Autopoiesis dieses Kunstsystems, die diese anreichert. Selbstverständlich braucht Kommunikation Referenzpunkte, also beispielsweise das Werk eines Komponisten, aber auch diese Referenz ist aus konstruktivistischer Sicht eine Beobachtungsoperation. In der Sozialdimension schließlich beobachten wir das Kunstsystem entlang der Unterscheidung von "Künstler" und "Kunstliebhaber"34. Wenn man Kunst als ein soziales System betrachtet, das durch eine spezifische (selbstorganisierte) Kommunikation sich von anderen Systemen autonom setzt, wird klar, daß Künstler und Kunstliebhaber sich als Kommunikationsteilnehmer nicht unterscheiden. Hier ist das Verhältnis symmetrisch und gekennzeichnet durch die aller Kommunikation innewohnende doppelte Kontingenz. Asymmetrisch ist allerdings ihr gegenseitiges Verhältnis was ihre unterschiedliche Beziehung zum Kunstwerk (Kunstobjekt) betrifft. Der Künster ist der Produzent, der Kunstliebhaber der Konsument des Kunstwerks, ohne das es keine Kommuni32 Luhmann spricht hier von einem ;,Profilierungs- und Überbietungszwang zur Originalität" (FN 15, S.78) und der Gefahr, sich bald zu erschöpfen. Die "allgemeine Funktion des Stutzigmachens" (Luhmann, FN 28, S.63) ist also eine Sekundärfunktion; sie kompensiert den Verlust einheitlicher programmatischer Normen, an denen man das Gelingen beurteilen konnte. 33 "Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren" (Goethes "Faust" Teil I, Vorspiel). Eigentlich müßte es heißen: "Das was der Nachwelt unverloren, das ist das Echte", denn das Echte ist keine ontologische Qualität, sondern Folge evolutionärer Bewährung. 34 Bzw. von "Profis" und "Publikum" (Luhmann FN 28, S. 58ff.).

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kation über Kunst gibt 35 . Beide Komplementärrollen sind aber schicksalshaft aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Betrachten wir diese gegenseitige Abhängigkeit von Künstler und Kunstliebhaber etwas genauer. Wenn Kunst die autopoietische Kommunikation über ein Werk ist, das poietisch hergestellt wurde, dann ist der Künstler als Produzent des Werkes darauf angewiesen, daß ein Kunstliebhaber sein Werk als Opus erkennt und darüber im System Kunst kommuniziert. Mit anderen Worten: der Künstler muß, um als Künstler anerkannt zu werden, im Kunstsystem Resonanz finden. Resonanz - ein Begriff aus der Musik - bedeutet, daß die Umwelt - beispielsweise ein Instrument - in Eigenschwingungen versetzt wird. Nur über Resonanz kann ein Künstler Reputation gewinnen, also mit dem Effekt der positiven Wiedererinnerung wuchern, was zur Folge hat, daß sein Werk den Status als bloßes Negationspotential verliert. Evolutionstheoretisch formuliert: die Funktionen Variation und Selektion werden im sozialen System der Kunst durch Reputation kurzgeschlossen; Reputation kann deshalb für den Kunstliebhaber ein Selektionskriterium sein. Für den Künstler ist deshalb Reputation häufig das primäre Ziel, weil dies das Risiko der wiederholten evolutionären Überprüfung vermeidet. Sein Bestreben wird folglich eher auf Reputation und nicht etwa auf "Schönheit" (oder andere inhaltliche Kriterien von Kunst) ausgerichtet sein, denn Reputation und nicht Schönheit ist unmittelbar karrierewirksam und erhöht den Marktwert des Kunstwerkes. Aber der Künstler besitzt keinen unmittelbaren Zugriff auf die Resonanz seiner Werke im operational geschlossen operierenden Kunstsystem. Sie ist zufällig (wenn wir unter Zufall die Koinzidenz zweier voneinander unabhängiger selbstorganisierter Systeme verstehen). Es ist deshalb für den Künstler alles andere als einfach, Reputation zu erlangen. Reputation muß, wenn sie als Selektionskriterium fungieren soll, eine knappe Ressource bleiben. Deshalb gibt es immer mehr Künstler als Reputation. Aber hat es ein Künstler dann einmal geschafft und Resonanz erzeugt und in Reputation überführt, wird er nach dem Matthäus-Effekt belohnt: Wer hat, dem wird gegeben. Dort wo dieser Selektionseffekt gar auf Dauer gestellt wird - das heißt: auf Stabilisierung umschaltet -, haben wir den Klassiker, das Genie - in den Worten von Hans Werner Henze: "der herabgestiegene Gott"36. 35 In der (hier mißverständlichen) Sprache Kants, müßte man wie folgt formulieren: Der Künstler bei der Hervorbringung des (schönen) Kunstwerks hat "Genie", der Kunstbetrachter "Geschmack". Das eine ist ein aktives, produktives Vermögen, das andere bloß ein (bezogen auf die Herstellung des Werkes) passives "Beurteilungsvermögen". 36 Hans Werner Henze über Mozart (Hans Werner Henze, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955 - 1984, München 1984, S.240). Dieser Begriff des Genies unterscheidet sich von Kants Geniebegriff, der auf jeden Künstler schlechthin ausgeweitet ist, sofern dieser "schöne Kunst" fabriziert. Der systematische Stellenwert dieses Begriffs in Kants Kritik der Urteilskraft ist durchsichtig; er ist gen au an der Stelle angesiedelt, wo zwischen handwerklicher HersteIlbarkeit (nach Regeln) des Kunstwerks

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Über den Klassiker, über das Genie löst der Kunstliebhaber sein Selektionsproblem, denn er muß ja auch aus einem völlig unübersichtlichen Variationspool auswählen und ist dabei, seit die verbindliche Kraft kollektiver Programme verloren gegangen ist, chronisch überfordert. Mit Hilfe der Kunstklassiker kann er diese Komplexität reduzieren. Klassiker erlauben es dem Kunstrezipienten, relativ risikolos Kunst zu selegieren. Sie fungieren angesichts der überbordenden Komplexität als Kontingenzunterbrecher , als eine Art Geländer, die "das Leben sicherer machen"37. Mit Hilfe der Klassiker kann man den Kunstgebrauch reputierlich beginnen oder beenden oder einfach: strukturieren (d. h.: in eine fortsetzbare Ordnung überführen). Schließlich ist Kommunikation über Klassiker gesellschaftlich akzeptierte Kommunikation und deshalb ohne großes Risiko 38 . Ursprünglich war dieser Selektionsprozeß eng an Programmen (sprich: an Kunstrichtungen, "Schulen", ästhetischen "Gesetzen") orientiert, deren Geltungskraft kulturell ungebrochen war. In dem Maße wie die Geltungskraft von solchen Kunstprogrammen brüchig und kontingent wird, muß ersatzweise mit anderen Selektionskriterien experimentiert werden. Nachdem zunächst die adaequatio zwischen Idee und Abbild (in der Antike) verloren ging, konnte man sich nun auch auf die interne adaequatio zwischen Programm anspruch und Ausführung (in der Moderne) nicht mehr verlassen und die erhöhte Kontingenz mußte anders kompensiert werden. An diese Leerstelle tritt nun zunehmend der Künstler als Individuum, bzw genauer: der Bezug von Werk und Künstler. Er konstituiert die Fiktion des Nichtfiktiven : das Original. Nicht mehr im Werk selbst (das nun nichts mehr abzubilden braucht39 und und der darüber hinausgehenden Entstehung des Schönen (aus transzendentaler Idee) eine empfindliche Lücke besteht. Das Kunstwerk als Opus ist beabsichtigt, daß es auch schön ist, bleibt Zufall. Die Überlistung des Zufalls geschieht durch das "Genie". Das impliziert, daß das Genie nicht weiß wie, denn Schönheit kann (im Gegensatz zum Werk selbst) nicht intendiert, nicht absichtlich hergestellt werden (vgl. dazu Kuypers (FN 5, S. 128f.). 37 "Ja, so ist es. Meisterwerke & Genies gehören zusammen und wenn wir, indem wir vom einen zum andern laufen, das Leben sicherer machen als es tatsächlich ist, werden wir wohl nie die Gefahren zeitgenössischer Musik kennen" (lohn eage: Silence, übersetzt von Ernst Jandl, Frankfurt a. M. 1987, S. 97). 38 Auch in der Jugendkultur wird so operiert, wobei man hier allerdings den Begriff des "Klassikers" nur im übertragenen Sinne verwendet. Für das Mitglied einer bestimmten Peer-Group ist beispielsweise Michael Jackson jener personelle Referenzpunkt, der Kommunikation über Musik risikolos macht, für einen anderen wiederum mag das Karel Gott oder die "Wildecker-Herzbuan" sein. 39 Und zwar tatsächlich "nichts", wie beispielsweise in John Cages berühmt-berüchtigtem Klavierkonzert "Opus 4'33", bei dem der Klavierspieler 4 Minuten und 33 Sekunden vor seinem Klavier sitzend dieses nicht spielt. Aber wie es nicht Nichtkommunikation geben kann, wenn erst einmal kommuniziert wird, entgeht dieses Nichtspielen durch seinen Kontext (und damit durch seine kategoriale Differenz) nicht dem Schicksal, Kunst zu sein. Daß das Nichts (in der Musik die Stille) im Kommunikationssystem Kunst durchaus als Medium einer Form fungiert, beweist auch eine andere Kommunikation des gleichen Komponisten, nämlich die Komposition "Silence" (Stille!), ein

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beliebig oft kopiert werden kann 40 ), sondern in der singulären personalen Autorenschaft findet der moderne Kunstliebhaber seinen letzten und wahrhaft modernen Kontingenzunterbrecher. Jetzt gilt: alles könnte anders sein, nur die Signierung des Künstlers nicht. In dem Maße wie die Programme ihre Kraft verlieren, wird der Name des Künstlers zum Programm41 und sein Kunstwerk zum singulären Original. Abschließend sollten wir uns aber noch einmal an unsere Ausgangsfrage erinnern. Was ist nun das Schöne (bzw. die Schönheit) aus konstruktivistischer Sicht? Ich glaube, daß die Antwort jetzt nicht mehr schwerfällt: Schönheit ist jenes Konstruktionsprinzip eines Kunst- oder Naturliebhabers, das die Überführung der Selektion einer Form in Stabilisierung auf (eine gewisse) Dauer stellt42 • Wer etwas schön findet, selektiert nicht nur eine Form (genauer: die Einheit der Differenz von Medium und Form), sondern er versucht gleichzeitig, diese Selektion zu stabilisieren, ihr Dauer zu verleihen. Wer als Mann eine Frau schön findet, sucht eine Beziehung aufzubauen und zu erhalten43 ; wer ein Gemälde schön findet, ist bestrebt, es lange zu betrachten oder gar an eine Wand seiner Wohnung zu hängen, so daß er es immer wieder Sprechstück, das mit einem "Vortrag über nichts" beginnt, dessen erster Satz lautet: "Ich bin hier / und es gibt nichts zu sagen. Wenn unter Ihnen / die sind, die irgendwo / hingelangen möchten, / sollen sie gehen. / jederzeit. / Was wir brauchen ist / Stille ... " (eage, FN 37, S. 6). 40 Vgl. dazu die ernstgemeinte Satire von Urs Frauchiger über "Kunst und Kopie" (Urs Frauehiger, Was zum Teufel ist mit der Musik los, Bern 1982 (10), S. 17 - 24). 41 Dabei wird das Programm zunehmend austauschbar und beliebig, ja es kann sogar soweit gehen, daß - wie in Marcel Duchamps "Ready-made" - Massenprodukte ausgewählt werden und nur dieser Akt der Selektion das Kunstwerk "macht", oder, um ein weiteres Beispiel zu geben, daß das Kunstobjekt dupliziert wird, wie beispielsweise in der Nachmachkunst der New Yorker Künstlerin Elaine Sturtevant. Alles, was sie macht, ist bloße Kopie. Alle ihre Kunstwerke sind so gesehen austauschbar mit allen anderen Kunstwerken. Aber: nicht austauschbar bleibt auch hier der singuläre Bezug der Autorenschaft. 42 Die Einschränkung "eine gewisse Dauer" signalisiert das eigentümliche Wissen um das Gegenteil: Wer etwas auf Dauer stellt, weiß gleichzeitig, daß dies auf Dauer nicht gut gehen kann. Jedem Anfang wohnt deshalb ein Ende inne und jede Erfüllung bedeutet gleichzeitig ein Ende. Vermutlich gründet die Intensität jeder ästhetischen Erfahrung des Schönen im heimlichen Wissen, daß Glück - auch das Glück der Schönheit - nicht dauern kann und gerade deshalb so wertvoll und süß ist. Daß ein Kunstwerk immer "fertig" ist, suggeriert die Dauer, während wir immer wissen, daß Schönheit vergänglich ist - in der Sprache Goethes: "Warum bin ich vergänglich, 0 Zeus?" so fragte die Schönheit. "Macht' ich doch", sagte der Gott, "nur das Vergängliche schön" (Xenien). Wenn wir ein Kunstwerk "schön" finden, gewinnen wir "eine gewisse Zeit lang" den intensiven Eindruck der Ewigkeit (des "Vollkommenen") inmitten des Vergänglichen. Kant würde dies als "transzendentale Idee" bezeichnen. 43 Die Tatsache, daß manche Frau, die eine andere Frau schön findet, im Gegenteil, genau deshalb eine Beziehung beendet, macht deutlich, daß der Code schön/häßlich auch reflexiv verwendet werden kann. So kann eine Frau die Schönheit der Häßlichkeit oder die Häßlichkeit der Schönheit einer Konkurrentin entdecken und ihr Handeln darauf einstellen. Analoges gilt natürlich auch für Männer.

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anschauen kann; wer Schubert liebt, wird dessen Musik immer wieder hören wollen u. a. m. Schönheit ist also die subjektive Freude über jenes Wohlgefallen, das die Selektion von Form auf Dauer stellt 44 • Weil damit genau jene Konstruktion sich im System des individuellen Bewußtseins wiederholt, die im sozialen System die Kunst "objektiv" macht, empfinden wir (häufig, nicht immer) die Schönheit als etwas Objektives. Weil sich diese Definition an der Funktion des Schönen orientiert (also eine funktionalistische Definition ist), müssen wir auch mit funktionalen Äquivalenten rechnen, etwa "gut" (im technischen und moralischen Sinne), "originell", "modern" etc. Für eine Ästhetik der Differenz wäre hier noch viel Differenzierungsarbeit zu leisten. Es muß hier genügen, wenn wir uns jetzt noch einmal zusammenfassend die logische Struktur der Argumentation vergegenwärtigen und daran anschließend (und abschließend) noch die Vor- und Nachteile diskutieren. Eine "Ästhetik der Differenz" beobachtet das System Kunst als soziales System - und damit als Kommunikationssystem - entlang spezifischer Differenzen:

Unterscheidung - Bezeichnung basale Differenz: relationale Differenz: Medium - Form kategoriale Differenz: Code - Programm Die letztlich für das Kunstsystem entscheidende kategoriale Differenz haben wir dabei noch einmal differenziert und die Codes der drei Sinndimensionen herausgearbeitet:

Sachdimension: Opus - Negopus Zeitdimension : Variation - Selektion Sozialdimension: Künstler - Kunstliebhaber Eine solche Ästhetik (der Differenz) ist universell angelegt, was natürlich nicht heißen soll, daß sie nichtselektiv oder nichtkontingent sei. Eine Theorie mit Universalitätsanspruch impliziert nur das Versprechen, über jede Entität in ihrer Sprache Aussagen machen zu können. Folglich kann sie auch über sich selbst Aussagen machen - sie kommt in diesem Falle im Gegenstandsbereich ihrer eigenen Beobachtung vor. Wir wollen dies abschließend versuchen, indem wir - analog zu den anderen Positionen - die Vor- und Nachteile unserer Ästhetik der Differenz bilanzieren. 44 Statt "Freude" erscheint in der Ästhetik häufig der Begriff der "Lust". Bei Kant ist die Erfahrung der Schönheit die Lust und Lust wird als ein Zustand definiert, bei dem man verweilen möchte: "Das Bewußtsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten, kann hier im allgemeinen das bezeichnen, was man Lust nennt" (Kant Kp V (FN 4), Par. 10, S.94). Daß Lust "tiefe Ewigkeit" sucht, wußte nicht nur Goethe, sondern schon jene Menschen, die als erste in ihren Höhlen die Wände bemalten und damit ihre Freude über den sinnlichen Eindruck einer Form auf Dauer zu stellen versuchten.

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Ein Nachteil scheint auch hier die anti no mische Logik ihrer erkenntnistheoretischen Begründung zu sein. Als konstruktivistische Theorie behauptet sie, von empirischen Beobachtungen (der Kunst, des Schönen ect.) auszugehenund insofern "objektiv" zu sein. Gleichzeitig entlarvt sie (oder ein anderer Beobachter) genau dieses Objektive als subjektiv (autopoietisch) konstruiert und damit als "nicht allgemeingültig". Beobachtet sie sich selbst, muß eine solche Theorie sich gleichzeitig als objektiv und subjektiv, als empirisch und rationalistisch begreifen. Ein klassischer Selbstwiderspruch ? Nun, ich denke, daß jede Erkenntnistheorie antinomisch operiert - operieren muß, denn jede Erkenntnistheorie muß bei der Begründung von Erkenntnis sich selbst als begründet schon voraussetzen. Das was sie zu leisten beansprucht, nämlich Erkenntnis zu begründen, ist selbst eine Erkenntnis (eine Erkenntnis der Erkenntnis). Diese (Meta-)Erkenntnis erkenntnistheoretisch zu begründen, führt unweigerlich entweder in einen infiniten Regreß der Begründungsschritte oder aber in einen logischen Zirkel (petitio principii)45. Auch eine konstruktivistische Erkenntistheorie kann diesen Zirkel nicht durchbrechen. Er ist unvermeidlich. Wenn aber diese antinomische Logik unvermeidlich ist, dann kann es nicht (mehr) darum gehen, sie durch wie auch immer geartete Zusatzannahmen irgendwie zu "lösen", vielmehr kommt es jetzt nur noch darauf an, wie man mit ihr umgeht. Ich denke, daß eine konstruktivistische Erkenntnistheorie hier eine elegante Variante anbietet. Die unumgängliche Zirkularität des basalen Denkens wird akzeptiert und in der Sachdimension durch die Unterscheidung von Beobachter und Beobachtung und in der Zeitdimension durch Temporalisierung, also durch die Unterscheidung von jetzt und nachher, produktiv entfaltet. Die rekursive Schleife zwischen dem empirischen Beobachtungsinhalt und der Entdeckung ihrer subjektiven Konstruktionsbedingungen durch einen Beobachter (oder vice versa) nimmt die Zeitressource in Anspruch und ermöglicht damit die produktive Entfaltung (bzw. das "Durchschreiten") der Paradoxie: der Beobachter entdeckt, daß er beobachtet und daß er dabei sich selbst im Beobachtungsbereich beobachten kann. Je nach dem mit welchem Schritt man nun beginnt, wird man eine empirische oder eine rationalistische Variante einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie bekommen. Dadurch, daß hier realistische und rationalistische Annahmen hintereinandergeschaltet werden, erreicht man eine Vergrößerung der argumentativen Rekombinationsmöglichkeiten und kann so eine höhere Komplexität absorbieren 46 . Der Nachteil verschwindet damit nicht aus der Welt, aber er wird theorietechnisch handhabbar und fruchtbar gemacht.

45 Vgl. dazu der immer noch präziseste und knappste Zusammenfassung von Hans Lenk: Philosophische Logikbegründung und rationaler Kritizismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung Band 24, Heft 2/1970, S. 183 - 205.

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Deshalb ist auch der gegenteilige Vorwurf, nämlich der einer letztlich tautologischen Bestimmung von Kunst, nicht von substantieller Art. Natürlich kann diese Ästhetik keine Voraussagen machen, sie kann auch nicht "gute" von "schlechter" Kunst (wertend) unterscheiden, sie beschreibt nur, was sie beobachtet, und mündet deshalb letzten Endes in der Tautologie: Kunst ist das was Kunst ist 47 . Aber diese Tautologie ist nur die Kehrseite der unvermeidlichen Antinomie jeder empirischen Erkenntnis. Sie bleibt nur solange vitiös, wie man bei der Frage: Was ist Kunst? stehen bleibt (und eine Definition erwartet) und nicht weiter schreitet zu der weitaus furchtbareren Frage: Wie ist Kunst möglich? Durch diese Frage wird jede empirische Beobachtung von Kunst in den abstrakten Vergleichshorizont anderer Möglichkeiten gestellt und von der ontologischen Fixierung auf das Gegebene befreit. Alle normativen Begriffe der Kunst erscheinen im Beobachtungsbereich der Theorie; nichts geht damit verloren, was wir nicht auch vorher schon sagen konnten. Die ganze Vielfalt der Kunstbegriffe und Schönheitsideale in der sozialen Evolution des Menschen kommt damit in den Blick48 • Wir gewinnen durch diese Sichtweise einen funktionalen Vergleichshorizont, der auch jede Neuentwicklung (obwohl nicht voraussehbar) zu beobachten und einzuordnen erlaubt. Wer dagegen von normativen Programmen (Stilen etc.) aus die Kunst beobachtet, ist nicht in der Lage, neue re Entwicklungen anders als einen Verfall zu interpretieren. Auch ein dritter möglicher Einwand, nämlich der Vorwurf des "anything goes", muß in Kauf genommen werden, wenn wir den Beobachtungsraum für ästhetische Erkenntnis nicht von vorneherein einschränken wollen. Im Gegenstandsbereich unserer ästhetischen Erkenntnis ist nämlich, wie wir bei der 46 Die logischen Probleme dieser konstruktivistischen Erkenntnistheorie hat m. E. immer noch am klarsten Niklas Luhmann in seiner "Wissenschaft der Gesellschaft" (FN 14) entfaltet (insb. S. 93ff., 118ff., 486ff. und passim). 47 Das Tautologische der Kunst - eine andere Bezeichnung für die autopoietischen Produktionsbedingungen des Kunstsystems - ist schon lange bekannt. "Ein Kunstwerk ist insofern eine Tautologie, als es eine Darlegung der Intention des Künstlers ist, das heißt, er erklärt, daß dieses bestimmte Kunstwerk Kunst ist, was bedeutet, es ist eine Definition der Kunst. Mithin ist apriori wahr, daß es Kunst ist" schreibt Joseph Kosuth 1969 (zit. nach Duve (FN 29), S. 188). 48 Genau dies konnte hier, aus Raumgründen, nicht geleistet werden. Es wäre jedoch reizvoll, die Entfaltung der Programme auf die Phasen der sozialen Evolution zurückzurechnen. Vermutlich werden wir entdecken, daß es gute (nämlich: funktionale) Gründe dafür gibt, daß Kunst in den traditionellen Gesellschaften primär eine realistische (magische), in den Hochkulturen eine objektiv idealistische und in der Moderne eine subjektiv idealistische Erkenntnistheorie zu Grunde lag. Auch daß in der Postmoderne, als der zu sich gekommenen Moderne, die konstruktivistische Erkenntnistheorie prämiert wird, wäre nachvollziehbar: auf Grund des zu schnell gewordenen sozialen Wandels wird diese Erkenntnistheorie nicht deshalb bevorzugt, weil sie "wahrer" oder "schöner" als die anderen wäre, sondern weil sie eine höhere theoretische Rekombinationsfähigkeit (Differenzierung) mit einer universellen Anwendungsbreite (Inklusion) verbindet und deshalb größere Komplexität schneller zu absorbieren verspricht.

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Analyse der Zeitdimension schon herausgefunden haben, gerade nicht alles möglich. Wohl spielt der Zufall eine nicht unerheblich Rolle, aber es ist gerade nicht der blinde, willkürliche Zufall, sondern der evolutionär notwendige, stochastische Zufall, der an Vorausgehendes anknüpft und nur in einem eingeschränkten Spielraum operiert. Natürlich ist alles möglich in der Kunst, aber wenn etwas Kunst ist, dann ist nicht mehr alles möglich. Wir sehen also, die Nachteile sind die Kehrseite der eigentlichen Vorzüge dieser Theorie. Gerade die Tatsache, daß eine Ästhetik der Differenz mit den klassischen Problemen der traditionellen Ästhetiken eleganter umgehen kann (ohne sie endgültig zu lösen!), dürfte ihr größter Vorzug sein. Ihr theoretisches Auflöse- und Rekombinationsvermögen ist erheblich größer, als bei einer realistischen oder idealistischen Positionierung, und das ganz einfach deshalb, weil sie die "blinden Flecke" beider erkenntnistheoretischen Paradigmen zu beobachten erlaubt (wenngleich auch nicht zur gleichen Zeit). Sie erlaubt es, Kunst als Realität und als Konstruktion zu interpretieren, als ein Faktum und als eine Idee. Die Konstruktion erscheint real und die Realität konstruiert, und das gilt auch für die Theorie selbst: sie ist real und als solche ein Konstrukt, eine kontingente Realität. Aber das ist aus konstruktivistischer Sicht trivial, weil in ihr alle Realitäten durch Unterscheidungen produziert werden, also beispielsweise jene zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Konstruktion und Realität. Das gilt auch für eine (differenztheoretisch operierende) Ästhetik der Differenz mit all ihren Unterscheidungen. Das Schöne, um eine populäre Unterscheidung noch einmal herauszugreifen, wurde in der Literatur häufig als eine Art "verworrene Vollkommenheit" bezeichnet49 • Ich hoffe, daß diese Anmerkungen zu einer Ästhetik der Differenz, wenn schon nicht verworren vollkommen, so doch wenigstens nicht vollkommen verworren sind. Das wäre in der Tat ein substantieller Nachteil. Aber jedes Urteil darüber, wie immer es auch ausfallen wird, ist selbst wiederum Kommunikation, und damit: Konstruktion.

49 Vgl. Walfgang Janke, Das Schöne, In: Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christaph Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, S. 1260 - 1278, hier S. 1263.

Friedrich Nietzsche: Physiologisches Kunstprogramm und die Selbstorganisation des Kunstsystems Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstorganisationsidee 1

Von Andreas Gäbel, Essen

I. Das Paradigma ,Selbstorganisation' boomt.2 Und wie häufig, wenn es um die Etablierung eines Paradigmas geht, folgt auf seine Systematisierung und (in diesem Fall: interdisziplinäre) Validierung seine Historisierung, die Suche oder gar ,Rehabilitierung' vergessener und verdrängter Vorläufer. Tatsächlich lassen sich in der Wissenschafts- und vor allem Philosophiegeschichte derartige Ansätze durchaus finden; und in die Reihe bekannter Namen wie Kepler, Leibniz, Kant, Hegel und Schelling findet schließlich auch Friedrich Nietzsehe seinen Platz. Über den Status derartiger Rekonstruktionsversuche, sollen sie mehr als der Anlaß zu erneuter philologischer Akribie sein, muß freilich Unklarheit herrschen, solange nicht in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht deutlich wird, warum man wonach sucht.

Im Hintergrund der folgenden Überlegungen stehen deshalb generelle Annahmen über die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft und über die Evolution von Ideen und ihren Bezug zur jeweiligen Gesellschaftsstruktur , in der diese Ideen entwickelt, tradiert oder auch wieder vergessen werden. ,Selbstorganisation' verweist deshalb in unserem Zusammenhang auf die Selbstorganisation sozialer Funktionssysteme 3 , auf die autopoietische Selbst1 Erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich unter dem Titel ,Zyklizität in Nietzsches Fragmenten zur Physiologie der Kunst' auf der von Wolfgang Krohn und Günther Küppers organisierten Tagung "Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften" vom 10. - 12.10.1991 in Bielefeld gehalten habe. 2 Vgl. als erste Auswahl W. Krohn, G. Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, FrankfurtIM. 1989; dies. (Hg.), Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution. Braunschweig, Wiesbaden 1990; R. Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation. Zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig, Wiesbaden 1992. 3 Daß mit der Entscheidung zu dieser Unterscheidung andere Varianten des Selbstorganisationsparadigmas in den Hintergrund treten, ist unumgänglich. Und auch hier

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reproduktion der Elemente eines in diesem Verständnis autonomen und geschlossenen Systems. 4 Legt man aktuelle soziologische Versuche zur Beobachtung der Genese eines autonom operierenden modernen ,Systems des Herstellens und Erlebens von Kunstwerken'5 zugrunde und fragt in diesem Zusammenhang nach den Kapazitäten des Kunstsystems, diese Autonomisierung des eigenen Operat ions modus begleitend zu beobachten, liegt zunächst der Rekurs auf die Tradition ästhetischer Theorien nahe. In deren semantischen Innovationen könnten sich Sensibilitäten finden lassen, die auf den Umbau des Gesellschaftssystems zur Differenzierung nach Funktionen auch hinsichtlich der autopoietischen Reproduktionsweise der Elemente des modernen Kunstsystems mit einer neuen, frappierenden und diesen Tatbestand wenn auch nur krude registrierenden Semantik reagieren. Diese These lokalisiert zugleich den Stellenwert der vorliegenden Rekonstruktion: es geht nicht um die Beobachtung des Kunstsystems in seinem elementaren Reproduktionsmodus, sondern um die Beobachtung der Selbstbeobachtung und -beschreibung des Kunstsystems in der Form ästhetischer Theorien6 • gilt: man sieht nur, was man sieht, nachdem man sich einmal entschlossen hat, so und nicht anders anzufangen; mit anderen Unterscheidungen, deren Konzentration nicht auf der Selbstorganisation von Sozialsystemen liegt, sähe man anders und anderes. Vgl. zu diesen Alternativen I. Prigogine, Vom Sein zum Werden, München 21980; H. Haken, Synergetics. Berlin u. a. 1980; H. Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig, Wiesbaden 1982. - Zu den Konsequenzen in Bezug auf die Interpretation Nietzsches s. u., FN 34. 4 Vgl. grundlegend N. Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. I, Frankfurt/M. 1980, S. 9 - 71; Individuum, Individualität, Individualismus, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.3, FrankfurtIM. 1989, S. 149 - 258; Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984. 5 So die Formulierung von Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: H.-V. Gumbrecht, K.-L. Pfeiffer (Hg.), Stil: Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen DiskurseIements, Frankfurt/M. 1986, S.620 - 672; vgl. weiterhin N. Luhmann, Weltkunst, in: N. Luhmann, Frederick D. Bunsen, D. Baecker (Hg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, BieIefeld 1990, S. 7 - 45; D. Schwanitz, Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990; S. J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1990; G. Plumpe, Systemtheorie und Literaturgeschichte, in: H.-v. Gumbrecht, V. Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985, S.251 264; ders., Codeprobleme des Literatursystems, in: A. Barsch, G. Rusch, R. Viehoff (Hg.), Empirische Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1992; ders., Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd.1: Von Kant bis Hegel, Opladen 1993; H. Müller, Systemtheorie und Literaturwissenschaft, in: K.-M. Bogdal (Hg.), Neue Literaturtheorien, Opladen 1990, S. 201 - 217. 6 Daß die Form der Selbstbeobachtung bzw. -beschreibung wiederum Effekte auf die Form kommunikativer Operationen im System hat, sei hier nur am Rande vermerkt; es bedürfte hochkomplexer Theoriearrangements, wollte man dies theoretisch und empirisch validieren.

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Der Rekurs auf den späten, produktiv dilettierenden und fortlaufend sich selbst kommentierenden Nietzsche, wie er sich in den verstreuten Fragmenten zu einer Physiologie der Kunst findet, mag im Zusammenhang mit der Suche nach neu ansetzenden Semantiken des Kunstsystems deshalb von besonderem Interesse sein, weil seine Absetzbewegung vom etablierten Kanon idealistischer Ästhetik wohl nirgends so konsequent sich vollzieht wie eben dort. Auch nicht in seinen früheren Schriften findet sich eine derart radikale Verabschiedung von der Semantik des Wahren, Guten und Schönen - zum Teil unter bewußter Inkaufnahme eines Unterbietens ihres Problembewußtseins -, wie in seiner Physiologie in aestheticis. Auf den allgemeinen Problembezug funktionaler Differenzierung die ästhetischen Schriften Friedrich Nietzsches zu projizieren, mag ungewöhnlich erscheinen. Gemeinhin wird Nietzsche seit einiger Zeit und mit den Präferenzen des aktuellen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsformulars ,Postmoderne' eher als derjenige Theoretiker verrechnet, mit dessen Thesen sich die Prädominanz des Ästhetischen, die Universalisierung des Scheinbegriffes, die Vermischung der Wertsphären, die Einebnung aller Gattungsunterschiede, kurz: eine Technik der Entdifferenzierung plausibilisieren läßt. 7 Das Faszinierende an Nietzsche scheint mir aber zu sein, daß gerade in seinen entdifferenzierenden Theoriestrategien sich ein Bewußtsein von den spezifischen Problemkonstellationen der funktionalen Differenzierungsform der modernen Gesellschaft verkapselt. Ich will mich dem Versuch, Nietzsche über den Leisten funktionaler Differenzierung zu spannen, seine erkenntnis-, wissenschafts- und kunst(theorie)kritischen Ansätze also als modernitätssensible 8 Proto-Soziologie9 zu traktieren, auf zwei Wegen nähern. Zum einen können Nietzsches epistemologische Kritik an den ontologischen Präsuppositionen zeitgenössischer Naturwissenschaft und seine Alternative eines umfassenden Perspektivismus (nicht nur) der Erkenntnis als erkenntnistheoretischer Reflex auf den Verlust eines definitiven Einheitsgesichtspunktes (in diesem Fall: ,Sein') verstanden und rekonstruiert werden. Hier konzentriert sich der Versuch, für den beobachteten Modernisierungsschub eine adäquate Erkenntnistheorie anzubieten. Zum 7 Vgl. als Bezugnahme auf Nietzsehe, bevor man eine solche Option ,postmodern' nannte, K. H. Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, FrankfurtIM. 1981, mit Präferenz auf differenzierte Einheit J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985; neuerdings G. Vattimo, Friedrich Nietzsehe, Stuttgart 1992. 8 An der Figur des ,Gelehrten' hat E. Pankoke Modernitätsaspekte des Nietzschesehen Diskurses markiert. Vgl. E. Pankoke (Hg.), Gesellschaftslehre, FrankfurtIM. 1992 (Bibliothek der Geschichte und Politik, Bd. 18), v. a. S. 1214f. 9 Was dezidiert nicht heißt: Nietzsches Äußerungen zu Soziologen, Soziologien, Gesellschaft u. ä. decadences zu untersuchen; vgl. dazu H. Baier, Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsehe und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Decadence, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 6 - 33.

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anderen versuche ich die einschlägigen Fragmente zu einer Physiologie der Kunst als einen Ansatz zu lesen, auf dieser neuen Grundlage und der ihr zugrundeliegenden Einsicht in die Heterarchie der modernen Gesellschaft ein innovatives Beschreibungsformular für das gesellschaftliche Subsystem ,Kunst' zu formulieren. Daß sich dessen Genese unter Rückgriff auf die Rezeption naturwissenschaftlicher Schriften vollzieht, will ich in einem Zwischenschritt nachzeichnen. Den Abschluß bildet ein Balanceakt hinsichtlich der Frage der Kompatibilität der kunstphysiologischen Notate Nietzsches mit aktuell diskutierten Kriterien für selbstorganisierte Systeme. 10 11.

Die Grundzüge der Wissenschaftskritik Nietzsches ll sind im Prinzip bekannt. Seine Kritik kulminiert in erster Linie in einem antipositivistischen Affront, der sich auf die naturwissenschaftliche Naivität der Annahme einer existenten und methodisch erkennbaren Realität bezieht. »Die Physiker glauben an eine "wahre Welt" auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in nothwendigen Bewegungen, - so daß für sie die "scheinbare Welt" sich reduzirt auf die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein nothwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht - "subjektiv" gemacht) Aber damit verirren sie sich: das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivism, - ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem SubjektivWeltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen construirt, aber durchaus mit unseren Sinnen ... Und zuletzt haben sie in der Constellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den nothwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum - und nicht nur der Mensch - von sich aus die ganze übrige Welt construirt d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet ... Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das "wahre Sein" einzurechnen ... « (KGW VIII, 3, S. 165)12 10 Hier noch am ehesten könnte sich der Stallgeruch des ,schon dagewesen' einschleichen. Deshalb sei gleich zu Beginn betont, daß ein solcher Vergleich maximal ein loser Gradmesser für das Problembewußtsein Nietzsches im Hinblick auf Fragen der Selbstreproduktion des Kunstsystems bieten soll. 11 Vgl. hierzu neuerdings K. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin, New York 1992. Spiekermann geht es freilich vor allem um Nietzsches »intuitive« (5) Vorwegnahme der Grundlagenkrise in der Physik des 20. Jahrhunderts und um ethisch-moralische Konsequenzen aus Nietzsches Perspektivismus: die »Einbeziehung des Beobachterstandpunkts« möge resultieren im »Bewußtsein von der wesentlichen Subjekthaltigkeit allen wissenschaftlichen Tuns« (67). Diese Reduktion Nietzsches auf »kritische ( ... ) Wissenschaftstheorie« (66) geht allerdings zielsicher an der eigentlichen differenztheoretischen Radikalität seiner Ansatzes vorüber. 12 Nietzsehe wird zitiert nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin 1972ff. Römische Ziffern verweisen auf die Abteilung, nachfolgende arabische auf den Band.

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Nietzsches Kritik zielt in diesem Zusammenhang auf die epistemologisch unausweichliche Aufhebung der Differenz von ,Sein' und ,Schein'. Seine Schelte der »epistemologischen Ontologie«13 moderner Naturwissenschaft beschränkt sich freilich nicht auf eine rein wissenschafts(system)immanente Kritik. D. h.: Seine Theorie geht nicht auf in einer Reflexionstheorie der Wissenschaft in der Form von Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorien. Das als Wissenschaftskritik begonnene Unternehmen ,Interpretation' wird vielmehr derart generalisiert, daß mit ihm nicht nur der wissenschaftliche Zugriff auf ,Welt', sondern auch jede andere Form ihrer Beobachtung, ob rechtlich, künstlerisch, wirtschaftlich, politisch, als ein kontingentes Konstrukt im Sinne des interpretativen Paradigmas Nietzsches gelten muß: »Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt "es giebt nur Thatsachen", würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum" an sich" feststellen: ... "Es ist alles subjektiv" sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das "Subjekt" nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. - Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.« (KGW VIII, 1, S. 323).

Dieses ,Perspektivische' gibt für Nietzsche »den Charakter der "Scheinbarkeit" ab!«: »Als ob eine Welt noch übrig bleibe, wenn man das Perspektivische abrechnete! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet, das jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive d. h. seine ganz bestimmte Werthung, seine Aktions-Art, seine Widerstands art Die "scheinbare Welt" reduzirt sich als auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Centrum Nun giebt es gar keine andere Art Aktion: und die "Welt" ist nur ein Wort für das Gesammtspiel dieser Aktionen Die Realität besteht exakt in dieser Partikulär-Aktion und Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze ... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden ... « (KGW VIII, 3, S. 163)

Die Ausweitung des Prinzips der Perspektivität als Weltprinzip muß als die eigentliche Radikalität des Nietzscheschen Programms betrachtet werden. Seine Polemik gegen den Augenschein zielt nicht auf den Schein, sondern auf die Differenz 14 von Wesen und Schein, insofern sie ,wesentlich' auf Identität zielt; sie richtet sich damit gegen eine bestimmte Form der Unterscheidung. Die Alternative hierzu ist freilich keine neue Identität, sondern eine neue Form der Unterscheidung, die auf die Differenz heterogener Scheine qua 13 So N. Luhmann über die Konsequenzen des Strukturalismus a la Levi-Strauss in: Soziale Systeme, S. 379. 14 Um eine differenztheoretische Profilierung im Anschluß an Nietzsehe bemüht sich vor allem Gilles Deleuxe, Differenz und Wiederholung, München 1992.

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Interpretationen/Konstruktionen setzt, ohne deren Heterogenität in die Homogenität endgültiger Identität münden zu lassen. 15 Nietzsches Interpretationstheorem hat damit, als Annahme eines universellen ,Perspektivismus', einen beobachtungstheoretischen Fluchtpunkt. Daß man nur sieht, was man sieht, und nicht sieht, was man nicht sieht, daß also die Beobachtung nicht im Vollzug ihrer Operation sich selbst beobachten kann, daß also - noch einmal anders gewendet - jede Beobachtung mit einem blinden Fleck operiert, und daß die Pluralität blindbefleckter Beobachtungen nicht auf die Einheit eines sich selbst und alles Andere ohne Blindfleck beobachtenden Standpunktes reduzierbar ist: diese erkenntnistheoretische Einsicht macht Nietzsche zu einem hochgradig modernen Theoretiker. Nietzsches ,Welt' ist in gen au diesem Sinn ein »Unendliches«: »Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgendeinen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne "Sinn" eben zum "Unsinn" wird, ob andrerseits, nicht alles Dasein essentiell auslegendes Dasein ist - das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: ... Die Welt ist uns ... noch einmal "unendlich" geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. Noch einmal faßt uns der grosse Schauder - aber wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?«16

Nietzsches prägnante Formel für diese These lautet »Relationswelt« : »die Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsere Logik, und psychologischen Vorurtheile reduzirt haben existirt nicht als Welt "an sich" sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt - und diese Summirungen sind in jedem Falle gänzlich incongruent. Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nöthigung es wirkt oder widersteht« (KGW VIII, 3, S.63)

15 Dies ist dann der Einsatzpunkt für die ambivalente Faszination, die Nietzsehe auf Heidegger ausübt: »Das Übersinnliche wird zu einem bestandlosen Produkt des Sinnlichen. Dieses aber verleugnet mit solcher Herabsetzung seines Gegensatzes sein eigenes Wesen. Die Absetzung des Übersinnlichen beseitigt auch das bloß Sinnliche und damit den Unterschied bei der. Die Absetzung des Übersinnlichen endet bei einem WederNoch in bezug auf die Unterscheidung von Sinnlichem ( ... ) und Nichtsinnlichem ( ... ).« Martin Heidegger, Nietzsches Wort "Gott ist tot", in: ders., Holzwege, FrankfurtIM. 1950, S. 193 - 247, S. 193. 16 Die Fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 374. Stück; KGW V, 2, S. 309.

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Nietzsehe beläßt es freilich, wie das letzte Zitat zeigt, nicht bei einer affektiv neutralen Beschreibung der inkongruenten Polyzentrik immanenter Perspektiven in der Moderne. Vielmehr transformiert er die Pluralität divergenter Welt konstruktionen in einen Konkurrenzkampf dieser Perspektiven untereinander. Seine ,basic unit' heißt dementsprechend, Wille zur Macht'. Perspektivität ist auf dieser Grundlage, das sollte deutlich sein, mehr als nur ein epistemologisch zu qualifizierender Skeptizismus oder Relativismus in der Nachfolge der Kantischen Differenz von Erscheinung und (unerkennbarem) ,Ding an sich'. Im Hinblick auf das oben erwähnte Bezugsproblem funktionaler Differenzierung bietet er vielmehr eine theoretische Folie, die für die Einsicht in die polyzentrische, heterarche 17 Verfaßtheit der modernen Gesellschaft nach einer erkenntnistheoretischen Fundierung sucht. III.

Sekundärliterarisch kann inzwischen als gesichert gelten, daß Nietzsehe sowohl sein Theorem der ewigen Wiederkehr wie auch die Grundfiguration pluraler Willen zur Macht in der Auseinandersetzung und Rezeption zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Schriften gewinnt. 18 In einer seiner Notizen über die Darwinsche Evolutionstheorie schreibt Nietzsehe: »der Einfluß der "äußeren Umstände" ist bei D< arwin> ins Unsinnige überschätzt; des Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die "äußeren Umstände" ausnützt, ausbeutet . .. « (KGW VIII, 1, S. 312)

Neue Formen, so heißt es an der gleichen Stelle weiter, sind »von Innen her gebildet ... « (a.a.O.) und fügen sich nicht dem Reiz-Reaktions-Schema zwischen einem System und seiner Umwelt: »Gegen die Lehre vom Einfluß des milieu und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen; Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur 17 So die Formulierung von P. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, FrankfurtIM. 1992. Fuchs spricht, im Anschluß an Gotthard Günthers Versuchen zu einer mehrwertigen Logik, von der nicht zu vereinheitlichenden Vielfalt von Kontexturen: Polykontexturalität, nicht Polykontextualität, bildet das Strukturprinzip funktionaler Differenzierung. Nietzsches »Relationswelt« scheint mir, in ihrer intendierten Abgrenzung zum Kantischen Einheitsprogramm der Vernunft, zielsicher auf diese Differenzierung zuzulaufen. 18 Zu Nietzsches Rezeption zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Forschungen vgl. A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952; F. Kaulbach, Nietzsches Interpretation der Natur, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S.442464; Martin Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S.211 - 227; J. Salaquarda, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 237 - 253; zur Wille-zur-Macht-Lehre vgl. v. a. W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 1ff.

5 Selbstorganisation, Bd. 4

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Andreas Göbel ihre Anpassung von Innen her. Genau dieselben milieu's können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenutzt werden: es giebt keine Thatsachen .... « (KGW VIII, 1, S. 152)

Nietzsche profiliert diese Darwin-kritische Perspektive, darauf hat vor allem W. Müller-Lauter l9 hingewiesen, u. a. auch durch das Studium naturwissenschaftlicher Texte. Ab 1881 läßt sich eine wiederholte Lektüre des Buches von Wilhelm Roux ,Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre.' (Leipzig 1881) nachweisen. Wilhelm Roux, »Begründer der experimentellen und kausal-morphologischen Entwicklungsforschung«2o, versucht hier den Nachweis zu führen, daß Darwins Prinzip der natürlichen Zuchtwahl, sein ,survival of the fittest', nicht die feinen Nuancen und Zweckmäßigkeiten im Inneren tierischer Organismen zu erklären vermag. Um diese Lücke zu füllen, verlagert Roux das Prinzip des Kampfes in das Innere des Organismus. In diesen Zusammenhang fällt dann der Terminus der ,inneren Selbstregulierung'21, der, weil den Teilen eine relative Autonomie zugesprochen wird und ihre Absicht nicht im Nutzen für das Ganze, sondern nur in der eigenen Selbsterhaltung besteht, nicht teleologisch erklärt werden kann. Freilich versteht Roux seine eigenen Thesen nur als Ergänzung zur Darwinsehen Theorie der Anpassung an ein externes Milieu. Neben dem organismusinternen Kampf der Teile untereinander steht so weiterhin der zweite Kampf der zuvor durch ,Selbstregulation' stabilisierten Organismen/Individuen gegeneinander und gegen eine externe Umwelt 22 . Diese Linie der Rouxschen 19 W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189 - 223. - Die nachfolgenden Bemerkungen zu Nietzsches Roux-Lektüre beziehen sich über weite Strekken auf diese Studie. 20 Ders., ebenda, S. 199. 21 W. Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre, Leipzig 1881. Roux spricht zum einen von »Selbstregulationsmechanismen« (43) im Kontext der Anpassung eines Organismus an veränderte Umweltbedingungen und konstatiert »das Vorhandensein höchst vollkommener functioneller Anpassungsmechanismen in fast allen Theilen des Körpers, welche im Stande sind, beim Uebergange des Organismus in neue Verhältnisse direct die nöthigen zweckmässigen Aenderungen hervorzubringen.« (43) Dieses Prinzip stellt Roux der klassischen Darwinschen »Wirkung der Zuchtwahl« gegenüber, weil mit letzterer nur auf »ganz wenige zweckmässige Eigenschaften« verwiesen wird, während die funktionelle Anpassung »in allen betroffenen Organen des Körpers zugleich zweckmässige Aenderungen hervorzubringen vermag« (44). Zum anderen wird durch Abgrenzung vom Prinzip der Selbststeuerung deutlich, was Roux unter Selbstregulation versteht: »Die Selbststeuerung ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variationsbreite nach beiden Seiten von einem bestimmten Mittelpunkte hin eingerichtet ist; der Organismus aber hat Selbstregulationen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des Verharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zum Mittelpunkt der neuen Variationsbreite wird; ... « (229)für Roux in Differenz zum Mechanischen das genuine »Wesen des Organischen«.

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Argumentation ist Nietzsche deshalb, analog zu seiner Kritik am Darwinismus, nicht wichtig. Relevant wird für Nietzsche stattdessen in erster Linie das Rouxsche Prinzip der ,Reizeinwirkung' . Roux vermutet, daß die »Reize ... der Kampf der Teile gewissermaßen von außen her (beeinflussen).« Er »unterscheidet im Leben aller Teile zwei Perioden: in der ersten Phase entfalten, differenzieren und vergrößern sich die Teile aus sich selbst; in der zweiten findet das Wachstum, in bestimmten Fällen sogar der vollständige Ersatz des Verbrauchten, nur unter Reizeinwirkung statt«,23 wobei diese Reizeinwirkung aber nur unter der Prämisse der Selbstgestaltung geschieht. Genau dieses Detail interessiert Nietzsehe in besonderem Maße: »der aktiven quantitativen und qualitativen Nahrungs-AuswahL der Zellen, welche die ganze Entwicklung bestimmen, entspricht, daß der Mensch sich auch die Ereignisse und Reize auswähLt, also aktiv verfährt unter all dem zufällig auf ihn Eindringenden gegen Vieles also abwehrt. Roux p. 149« (KGW VII, 1, S. 312) Die Rezeption dieser naturwissenschaftlichen Theorie markiert, das zeigen die Nachlaßfragmente überdeutlich, zugleich das ,take off' zur Entwicklung der Theorie der Willen zur Macht. Wie Nietzsehe diese Theorie in eine eigene transformiert sei durch ein Zitat kurz indiziert: »ein starker freier M empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus 1. Selbstregulirung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, im Maaßhalten usw. 2. überreichlicher Ersatz .. . 3. Assimilation an sich .. . 4. Sekretion und Excretion ... 5. metabolische Kraft ... 6 Regeneration ... « (KGW V, 2, S. 407f.)

Zwar fungiert Nietzsches häufige Übernahme des Rouxschen Terminus der Selbstregulierung als Kritik vor allem an der mechanistischen Denkweise von Druck und Stoß. Gleichzeitig aber lobt er den Mechanismus deshalb, weil mit ihm sich jede Annahme einer Teleologie der Lebensvollzüge verbiete. In dieser Hinsicht wiederum verfällt die Rouxsche Selbstregulierung dem Verdikt Nietzsches. In ihr wittert er gleichsam noch den schlechten Stallgeruch einer gesetzten ,Endursache' . Zudem: »Roux hat gegenüber Darwin zwar den inneren Kampf zur Geltung gebracht, aber indem er ihn kausal-mechanisch analysiert, bleibt auch er noch im ,Außen' .«24 22 »Während so der Kampf der Theile die Zweckmässigkeit im Innem der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit derselben im allgemeinen dynamischen Sinne hervorbringt, bewirkt der gleichzeitige Kampf um's Dasein unter den Individen die Zweckmässigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den äusseren Existenzbedingungen.« (Ders., ebenda, S. 238) 23 W. Müller-Lauter (FN 19), S. 204. 24 Ders., ebenda, S. 219.

5*

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Nietzsche verfährt wieder einmal selektiv: an der Rouxschen Argumentation fasziniert ihn vor allem das ,Von-innen-her', die Immanenz und Selbstorganisation der Reproduktion der Teile eines Organismus. Sie vor allem gehen in das in Ansätzen formulierte Konzept der Willen zur Macht ein.

IV. Nietzsches Schriften lassen sich ohne Frage lesen als Versuch einer »Überwindung nicht nur der für die alte Weltdeutung wesentlichen Teleologie, sondern auch der Prinzipien neuzeitlicher Rationalität. «25 Nachdem Nietzsche die Möglichkeit der Explikation einer ontologischen Grundstruktur von An-sichSeiendem verworfen hat, kann sich das neue Weltverständnis »nicht mehr am Paradigma der Dinge im Sinne materieller Körper«26 orientieren. Stattdessen erwägt Nietzsche die Rekonstruktion von Welt auf der Basis ihrer Ereignishaftigkeit. Diese Prozessualität aufeinander folgender Ereignisse konzipiert Nietzsche als Kräftevollzüge bzw. als »dynamisch-energetische Willen-zurMacht -und -Interpretations-Prozesse«. 27 Will man sich diesen modifiziert-heraklitischen28 Gedanken eines immanent-reproduktiven und endogen provozierten Geschehens als Nietzsches neue Formel für ,Welt' plausibel machen, so mag man auf eine von Nietzsche selbst gewählte Metapher zurückgreifen. Unter dem Stichwort »Die neue Welt-Conzeption« heißt es im Nachlaß: »Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen - sie erhält sich in Beidem ... Sie lebt von sich selber: ihre Excremente sind ihre Nahrung ... « (KGW VIII, 3, S. 166) ,Welt' wird von Nietzsche als ein sich selbst reproduzierendes Geschehen konzipiert, das keines externen unbewegten Bewegers bedarf, um selbst bewegt zu werden, sondern sich ausschließlich auf sich selbst bezieht. Nietzsche vollzieht die ,Krisis der Metaphysik' durch Rekurs auf die autonome Selbst(re )produktion des Weltgeschehens. Es gilt, »eine feste kreisförmige 25 G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, S. V. Abels groß angelegtem Versuch verdanke ich imund explizit eine Fülle von Hinweisen. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Eine Einsicht, die Nietzsche auch bei Roux lesen konnte: »Nichts ist absolut constant zu erhalten, denn alles ist in fortwährendem Wechsel und alles beeinflusst sich gegenseitig.« Deshalb ist die Konstanz eines Organismus (i. S. eines Gleichgewichts) »doch nur eine annähernde, blos für flüchtige Betrachtung vorhandene; ... «. W. Roux (FN 21), S.70. - Soziologiegeschichtlich relevant wird die Temporalisierung gesellschaftlicher Letztelemente vor allem bei Georg Simmel; vgl. z. B. ,Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens' (1897).

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Bewegung aller Kräfte« zu denken. Dieser Kreislauf »ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz, so wie die Kraftmenge Urgesetz ist, ohne Ausnahme und Übertretung. Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge ... «(KGW V, 2, S. 400) Sucht man nach naturwissenschaftlichen Vorläufern dieses als Kräftevollzug gedachten selbstreproduktiven Weltbildes, so stößt man auf die komplexen Traditionen des Kraft- und des Bewegungsbegriffes. Vor allem die Theorie Leibniz' wird für Nietzsche in dieser Hinsicht interessant. Gegenüber den mechanistischen Theorien Newtons und Descartes' etabliert Leibniz einen Kraftbegriff, der nicht mehr durch die externe Ursache eines Bewegungsanstoßes - also Fremdbewegung -, sondern als »das in jedem Körper selbständig bewegende Moment aufgefaßt«29 wird - Selbstbewegung. Günther Abel wählt zur Kennzeichnung dieser Differenz das Stichwort der ,Endogenität allen Kraftgeschehens' . Diesen Aspekt der Leibnizschen Theorie nimmt Nietzsche im 19. Jahrhundert auf, um ihn zugleich in einern entscheidenden Punkt zu variieren: Während Leibniz, um der Unüberschaubarkeit und unendlichen Teilbarkeit allen Seins doch noch eine Einheit zu verleihen, in der metaphysischen Konzeption der Monade Zuflucht sucht, verwirft Nietzsche diesen Rekurs auf eine Letzteinheit und prozessualisiert bzw. differenziert die Welt radikal in ein relationales Willen-zur-Macht-Geschehen, in dem die »Willenzur-Macht-Komplexe ... überhaupt nur in und als Relation zu anderen Willen-zur-Macht-Komplexen sind.«30 Im Hintergrund dieser Konstruktion bei Leibniz steht bekanntlich das neuzeitliche Prinzip der Selbsterhaltung, dessen naturwissenschaftliche Grundlage schon bei Leibniz durch einen Kraft- bzw. Energieerhaltungsgrundsatz - causa aequat effectum - untermauert wird. Genau diesen Grundsatz unterminiert Nietzsche und beruft sich dabei auf eben jenen Autor, der den aus der mechanistischen Tradition bekannten Satz der Krafterhaltung durch Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalents als einen allgemeinen naturwissenschaftlichen Grundsatz etabliert hat: Julius

Robert Mayer.

Diese Bezugnahme vollzieht sich ganz offensichtlich in einern doppelten Sinne. Das von Mayer generalisierte Theorem der Energieerhaltung spielt bei Nietzsche eine Rolle vor allem innerhalb seiner kosmologischen Argumentationen bezüglich des unveränderlichen Gesamtquantums der All-Kraft, die er als ein je zeitpunktfixiert-fixes und quantitativ gleichbleibendes, sich nur qualitativ veränderndes Ensemble von Kraftlagen konzipiert. Wichtiger freilich als dieses Erhaltungstheorem wird für Nietzsche Mayers Schrift aus dem Jahre 1876 ,Über Auslösung'.3! In ihr versucht Mayer dem 29

30

G. Abel (FN 25), S. 17.

Ders., ebenda, S. 2lf. Abels Formulierung weist im Übrigen ein weiteres Mal dar-

auf hin, daß Nietzsche im Zusammenhang seiner Konzeption der Willen zur Macht radikal differenztheoretisch argumentiert; s. o. unter II.

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Phänomen auf die Spur zu kommen, daß sich offenbar eine ganze Reihe naturwissenschaftlicher Phänomene nicht durch das causa aequat effectum-Prinzip, die Annahme also, daß die Kraftquantität der Ursache sich in der Kraftquantität der Wirkung niederschlägt, zu erklären ist. 32 Paradigmatisches Beispiel dafür ist die Minimalursache eines Funkens, der ein Pulverfaß mit einem ungeheuren Mehr an Wirkung zur Explosion bringt. Die Struktur und Grundannahme dieser Auslösungskausalität ist nun wiederum für Nietzsche deshalb interessant, weil mit ihr der qualitative 33 Vollzug des Weltgeschehens, jenseits eines mechanistischen Ursache-Wirkungs-Verhältnisses auf der Basis der Selbsterhaltungskausalität plausibel gemacht werden kann: »"Wirkung." Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere Kräfte auslösen (z. B. der Religionsstifter) ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden: man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große "Ursachen". Falsch! Es können unbedeutende Reize und Menschen sein: aber die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit! - Blick auf die Weltgeschichte!« (KGW V, 2, S. 390)

Nietzsche übersetzt sich diese Auslösungslehre 34 in sein entstehendes Willen-zur-Macht-Konzept, indem er in ihr einen weiteren Indiz vermutet für die 31 Vgl. Robert Mayer, Beiträge zur Dynamik des Himmels und andere Aufsätze, Herausgegeben von B. Hell, Leipzig 1927, S. 95 - 101. 32 »In einem ganz anderen Sinne pflegt man aber ... bei der Auslösung von Ursache und Wirkung zu sprechen, wo dann die Ursache der Wirkung nicht nur nicht gleich oder proportional ist, sondern wo überhaupt zwischen Ursache und Wirkung gar keine quantitative Beziehung besteht, vielmehr in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Grösse zu nennen ist.« R. Mayer, Über Auslösung, S. 96. 33 Bei Mayer heißt es deutlich: »Die zahllosen Auslösungsprocesse haben nun das unterscheidende Merkmal gemein, dass bei denselben nicht mehr nach Einheiten zu zählen ist, mithin die Auslösung überhaupt kein Gegenstand mehr für die Mathematik ist.« Über Auslösung, S. 96. 34 Im Anschluß an Nietzsche und in der Rezeption seiner und Mayerscher Schriften hat sich v. a. Alwin Mittasch bemüht, die auf naturwissenschaftlicher Ebene eruierte Differenzierung verschiedener Formen von Kausalität und die Akzentuierung des Prinzips der Katalyse auch für andere Bereiche fruchtbar zu machen; vgl. etwa A. Mittasch, Julius Robert Mayers Kausalbegriff, Berlin 1940; ders., Was hat Robert Mayers Kausallehre dem Juristen zu bieten? in: ders., Von der Chemie zur Philosophie. UlmDonau 1948, S. 596 - 611. Neuerdings greifen U. Niedersen und L. Pohlmann diese und affine Ansätze auf und sprechen von der »singulären Determination durch ein Einzelereignis, welches dadurch zum ausgezeichneten Einzelnen wird.« (L. Pohlmann, U. Niedersen, Dynamisches Verzweigungsverhalten bei Wachstums- und Evolutionsprozessen, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Band 1 (1990), S.63 - 81; vgl. dies., Komplexität, Singularität und Determination. Die Koordination von Heterogenität, ebd. S.25 - 53.) Von hier aus kann dann die Mayersche Auslösung kurzgeschlossen werden mit Konzepten von Spontaneität, Innovation und Überraschung - man bewegt sich in der Nähe ästhetischer Beschreibungen. Ersichtlich ist freilich zugleich auch die Differenz zur systemtheoretischen Fassung der Selbstorganisationstheorie im Sinne Luhmanns. Während Luhmann Kommunikationen als ereignisförmige Letztelemente sozialer Systeme ansetzt, scheint das Konzept singulärer Determination im Falle der Beschreibung des Kunstsystems auf eine selbstorganisationstheoretische Variante des Geniekonzepts zuzulaufen; das

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Interpretation des ,Seins' als eine Vielzahl von Prozessen, explizierbar lediglich in terms von Aufladung, Reiz, Auslassung und erneuter Kraftakkumulation. Im Zentrum dieser Argumentation steht wiederum die Aufmerksamkeit auf die Endogenität des Kräftevollzugs eines singulären Willens zur Macht, der maximal eines minimalen äußeren Reizes bedarf, um sich entladen zu können. »Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von außen. Wohin die Kraft sich wendet? sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize erziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.« (KGW V, 2, S. 391)

v. In diesem heterogenen Ensemble einander bekämpfender Willen zu Macht spielt ,Kunst'35 für Nietzsche in zwei Hinsichten eine Rolle: zum einen im Hinblick auf den kunst-affinen Charakter aller Willen zur Macht, zum anderen als ein spezifischer Wille zur Macht, der den Titel ,Kunst' trägt. Für den ersten Fall weist etwa Abel darauf hin, daß »der als Willen-zurMacht-Geschehen aufzufassende Grundcharakter alles Wirklichen ... als ,ästhetisch' zu qualifizieren (ist). Kunst erweist sich als der explizite und in sich gesteigerte expressive Austrag dessen, wozu Ansätze und wovon Spuren in jedem Lebendigen zu finden, ja an aller Lebendigkeit selbst wesentlich beteiligt sind .... Es geht um eine Freisetzung des Ästhetischen im und am Lebendigen und damit in und an den Dingen selbst.«36 - Nietzsche, m.a.W., legt einen derart starken Akzent in aestheticis und geht von der Prädominanz der Kunst aus, weil er die generelle Interpretativität der Welt als Ästhetizität der Welt rekonstruiert. Die Welt ist Welt nur als Welt des Scheins und an der auslösende Moment ist ein genialisches Subjekt. Wohl nicht zufällig ist auch für J. R. Mayer der »physische Katalysator ... das deutlichste Modell des psychischen Willens«. (Von der Chemie ... , S.607). Die Quintessenz der Semantik Nietzsches scheint mir aber gerade im Hinblick auf eine selbstorganisationsförmige Reproduktion der Kunst eine de-subjektivierte Form der Beschreibung zu präferieren; vgl. unten V und VI. 35 Vgl. grundlegend W. Schu/z, Funktion und Ort der Kunst in Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien 12 (1983), S.l - 31; V. Gerhardt, Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S.374 - 393 sowie allgemein die in diesem Band versammelten Beiträge zur Physiologie der Kunst; H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985; neuerdings Th. Mayer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991; eine erste intensivere Auseinandersetzung mit Nietzsches späten Fragmenten bietet J. Zeitler, Nietzsches Ästhetik, Leipzig 1900, mit freilich resignativem Resumee: »Das Gebäude, das Nietzsche für seine Theorie aufführt, ist verschoben und schief, es war kein gesunder Baumeister mehr, der die verrückten Pfeiler und Begriffskategorien aufstellte.« (S. 274) 36 G. Abel (FN 25), S. 72.

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Kunst fasziniert Nietzsche gerade ihre Konstruktivität auf der Basis des Scheins, mit der sie keine Realitätsansprüche, sondern im Gegenteil ,aufrichtig' - man ist an Schillers Briefe erinnert - ihre irreale Realität behauptet und damit vollzieht, was Welt ist: »ein ästhetisches Geschehen ... Die Welt ist dieser sich selbst hervorbringende und sich nach Art einer Metamorphose verwandelnde ästhetische Zustand.«37 Über diese generelle Annahme hinaus, die sich auf die Willen zur Macht als Kunst bezieht, artikuliert das Programm der Physiologie der Kunst freilich sehr viel spezifischer den Versuch, den Willen zur Macht als Kunst konzeptuell zu umreißen. Nietzsches physiologische Fragmente, seine Mikrologik einer physiologischen Ästhetik, stehen in einem intimen Kontakt zur Makrologik einer antimechanistischen und antikausalistischen Theorie der Willen zu Macht. In dieser ,neuen Welt-Konzeption' geht es nicht mehr um den Zusammenhang der Dinge nach Maßgabe eines Ursache-Wirkungs-Verhältnisses. Die Welt selbst ernährt sich von dem, was sie ausscheidet. Sie ist - als quantitativ gleichbleibendes Gesamtquantum an Kraft - explizierbar lediglich als Zyklizität eines Geschehens, das sich selbst ständig autonom reproduziert. Und einen analogen Reproduktionsmechanismus entdeckt oder projiziert Nietzsche auf mikrologischer Ebene nun auch in die Sphäre der Kunst. Das Kunstsystem erweist sich damit als ein spezifisches Kraftzentrum mit all den Eigenschaften, die jeder einzelnen Kraftauslassung eigentümlich sind: »jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d. h. seine ganz bestimmte Werthung, eine Actions-Art, seine Widerstandsart.« (KGW VIII, 3, S. 163) Im Rahmen des Projekts einer ,Umwertung aller Werte' markiert eine Physiologie der Kunst im Sinne Nietzsches den Versuch, an die Stelle des von der ästhetischen Tradition inaugurierten Wohlgefallens, das in ästhetischen Urteilen über schöne Dinge zum Ausdruck kommt, den »biologisch(n) Werth« des Schönen zur Geltung zu bringen: »der plötzlich redende aesthetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urtheil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werthe des Nützlichen, Wohlthätigen, Leben-Steigernden ... Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsere untersten Erhaltungswerthe. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen zu wollen ist sinnlos. Das Schöne existirt so wenig als das Gute, das Wahre ... « (KGW VIII, 2, 220)

Der Gerichtshof d,er Physiologie, vor den Nietzsche die überkommenen Traditionen und Wertmuster der Ästhetik derart stellt, hat dabei durchaus 37 Ders., ebenda, S. 80. Gegen Abel ist freilich zu vermerken, daß diese Annahme allein noch nicht das Programm einer Physiologisierung der Kunst impliziert. ,Physiologie der Kunst' markiert vielmehr auch in Nietzsches Verständnis hauptsächlich - um es mit zeitgenössischem Vokabular zu sagen - das Beschreibungsformular der Kunst als Sozialsystem, nicht die Interpretation der Interpretativität der Welt als Ästhetizität.

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konkrete Effekte. Vor allem an den immer wieder neuen Anläufen der Disqualifikation der Wagnerschen Musik lassen sich diese Effekte eines modifizierten Kunstprogramms 38 markieren: »Hier sind zwei Formeln, aus denen ich das Phänomen Wagner begreife. Die eine heißt: die Prinzipien und Praktiken Wagners sind allesamt zurückzuführen auf physiologische Nothstände, sie sind deren Ausdruck (,Hysterismus' als Musik) Die andere heißt: die schädliche Wirkung der W Kunst beweist deren tiefe organische Gebrechlichkeit, deren Corruption. Das Vollkommene macht gesund; das Kranke macht krank. Die physiologischen Nothstände, in die Wagner seine Hörer versetzt (unregelmäßiges Athmen, Störung des Blutumlaufs, extreme Irritabilität mit plötzlichem Coma) enthalten eine Widerlegung seiner Kunst. Mit diesen zwei Formeln ist nur die Folgerung jenes allgemeinen Satzes gezogen, der für mich das Fundament aller Aesthetik abgiebt: daß die aesthetischen Werthe auf biologischen Werthen ruhen, daß die aesthetischen Wohlgefühle biologische Wohlgefühle sind.« (KGW VIII, 3, S. 306f.)

Nietzsches Physiologie der Kunst erschöpft sich freilich nicht in einer bloßen Modifikation der Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob etwas schön oder häßlich ist. Vielmehr werden beide kunstkonstituierenden Akte der Produktion und Rezeption selbst physiologisch grundgelegt. Dies geschieht mit Hilfe der Kategorie des Rausches. »Damit es Kunst giebt, damit es irgendein ästhetisches Thun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. ... Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie - man heißt diesen Vorgang Idealisieren . ... «39

Anders als noch in seiner Erstlingsschrift, der ,Geburt der Tragödie', begreift Nietzsche das Kunstgeschehen exklusiv von der Kategorie des Rausches her4°. Er gilt als ein »Überschuss und Ausströmen blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche«, ihm entspricht »thatsächlich ein Mehr von Kraft« (KGW VIII, 3, S.85). Der Rausch produziert gleichsam ständig seinen eigenen Überschuß und ist dann genötigt, diesen Überschuß als Kunst auszulassen. Genau darin hat Kunst ihre, wie Nietzsche sagt, »organische Funktion« (KGW VIII, 3, S. 91): »Ohne Überschüssigkeit an Kraft ist keine Kunst möglich.«41 Nietzsche nennt die produktive Seite dieses Aktes 38 ,Programm' wird hier im Sinne Luhmanns verstanden als Angabe von Kriterien für die Richtigkeit des Verhaltens, die aus dem Code eines Systems allein nicht zu generieren sind. Vgl. z. B. N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. 39 Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 8. Stück, KGW VI, 3, S. 110. 40 Die ,Geburt der Tragödie' arbeitet bekanntlich mit der Leitdifferenz von Apollinischem und Dionysischem, Traum und Rausch. Im Spätwerk Nietzsches dagegen gilt das Apollinische nur noch als ,Tempoverschiedenheit' des Dionysischen. 41 G. Abel (FN 25), S. 76.

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»Mittheilung«. Dem ästhetischen Zustand eignet ein »Überreichthum von Mitteilungsmitteln« ; er ist der »Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, - er ist die Quelle der Sprachen.« (KGW VIII, 3, S. 88) Der Künstler, ein »Genie der Mittheilung«42, ist aufgrund physiologischer Zwänge genötigt, aus der Überfülle seines Rauschzustandes abzugeben, die Disposition der Entscheidung zur Kommunikation ist ihm durch die Zwanghaftigkeit der Triebentladung genommen: »die extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme Mittheilsamkeit wird; das Reden-Wollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiss -; ein Bedürfnis, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden: Fähigkeit von sich durch hundert Sprachmittel zu reden, - ein explosiver Zustand. Man muss sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken, durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exubernanz der inneren Spannungen loszuwerden: ... als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize-: Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern. (KGW VIII, 3, S.148)

Damit ist die eine, produktive Seite des Kunstgeschehens bezeichnet. Die andere Seite der Rezeption oder genauer: der physiologischen Effekte des rezeptiven Umgangs mit Kunstwerken bezeichnet Nietzsche als ,Erinnerung'. »Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d. h. das Gefühl der Kraft), regt alle die feinen Erinnerungen des Rausches an.« (KGW VIII, 3, S.88). Sie »erinnert uns an Zustände des animalischen vigor« und wirkt als »eine Anreizung der animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.« (KGW VIII, 2, S. 58) Diese Figur der Erinnerung hat für Nietzsche kategorialen Stellenwert: »es giebt ein eigenes Gedächtniß, das in solche Zustände hinunterkommt« (KGW VIII, 3, S. 88). Am Beispiel einer anderen Rauschvariante, der Liebe, gleichwohl unter dem Stichwort »zur Genesis der Kunst«, notiert Nietzsche: »Jenes Vollkommen-machen, Vollkommen-sehen, welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen System zu eigen ist ... : andrerseits wirkt jedes Vollkommene und Schöne als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art zu sehen - jede Vollkommenheit, die ganze Schönheit der Dinge erweckt durch contiguity die aphrodisische Seligkeit wieder.« (KGW VIII, 1, S. 335)

Durch die kategoriale Komplementarität von ,Mitteilung' und ,Erinnerung' etabliert Nietzsche ein kreiskausales Verknüpfungsgeschehen als elementaren Reproduktionsmodus der Kunst. Durch Konzentration auf das zirkuläre Verhältnis zwischen produktivem und rezeptivem Aspekt des Kunstsystems verbleibt nach Nietzsche das Kraftpotential desjenigen Willens zur Macht, der den Titel ,Kunst' trägt, in der Immanenz eines autonomen Reproduktionssy42 Streifzüge eines Unzeitgemässen, 24. Stück, KGW VI, 3, S. 124.

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sterns. Der Rausch bewirkt im Endeffekt nichts anderes als die Erinnerung an ihn, so wie die Erinnerung an den Rausch wiederum einen rauschähnlichen Zustand hervorruft. So wie sich das Kunstwerk genetisch ableiten läßt aus einem Überschuß an zwangsweise sich entladenen Trieb- und Rauschpotentialen (und damit als Effekt eines elementaren Willen-zur-Macht-Geschehens erscheint), so wirkt ihrerseits die Rezeption dieser so entstandenen Kunstwerke in ihren Effekten als erneute Stimulierung rauschhafter Energien. »alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts das Gefühl dieses Rausches.« (KGW VIII, 3, S. 33) Das energetische Potential kehrt auf diese Weise nach seiner Entladung gleichsam zu sich selbst zurück, um sich von hier aus von Neuem wieder entladen zu können. An relativ versteckter Stelle im Nachlaß findet sich dafür die prägnante Formel: »die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches ... « (KGW VIII, 3, S. 33)

Die Differenz von Mitteilung und Erinnerung wird analog deshalb wohl nicht zufällig auf die Rollen des Künstlers und des ,künstlerisch empfänglichen' Laien projiziert: »letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben - dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswerth ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik, - vom Künstler verlangen, daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers, -) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine spezifische Kraft verarme . .. « (KGW VIII, 3, S. 149)

Die Effekte dieser semantischen Umstellungen in der Beschreibung der Operationen im Kunstsystem lassen sich nicht hoch genug einschätzen. Der wohl wichtigste und zugleich augenfälligste Beitrag besteht dabei in der desubjektivierten Rekonstruktion der Reproduktion des Kunstsystems. Elemente dieses Systems sind weder singuläre Individuen mit gemeinsam geteilten Geschmäckern, Konventionen, Verhaltens- oder Erwartungserwartungen, noch extra-ordinäre Individuen in der Form ,Genie', das der Kunst die Regeln gibt. Element ist vielmehr ein anonymisiertes Machtgeschehen, das das KunstSubjekt (ob als Künstler oder als Rezipient) zur organischen Infrastruktur eines zyklischen Mechanismus von Akkumulation, Entladung und neuer Akkumulation depotenziert. Es gibt deshalb für Nietzsche keinen »Rückschluß« mehr »vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter«43, sondern lediglich physiologisch qualifizierbare Kraftentladungen, deren Effekte neue Kraftentladungen provozieren. Folgerichtig kann das physiologische Kunstprogramm Nietzsches auch nicht als ,Psychologie des Künstlers' qualifiziert werden. 44 43

Die Fröhliche Wissenschaft, 5. Buch, 370. Stück; KGW V, 2, S. 303.

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Andreas Göbel

»Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur "Person" gezüchtet sind, die an sich in irgend welchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften« (KGW VIII, 3, S.148) sind die eigentlichen ,Agenten' dieses Geschehens. Während noch in der romantischen Konzeption etwa Wackenroders und Tiecks die durch das Medium des Künstlers sich eigentlich artikulierende Instanz Gott selbst ist, ist es nun in Nietzsches später Fassung ein elementarer Wille zur Macht, für dessen Mitteilung der Künstler als Medium dient. 45

VI. Kann man dieses bislang erörterte Reproduktionsprinzip der Kunst als selbstorganisationell charakterisieren? Wolfgang Krohn und Günter Küppers haben zusammenfassend drei Kriterien benannt, anhand derer selbstorganisierte Systeme von anderen Formen der systemischen Konstitution und Reproduktion unterschieden werden können: zu ihnen gehören 1. Offenheit für Energie-/Materie-/Informationstausch, 2. Geschlossenheit bzgl. ihrer systemspezifischen Operationen, d. h. operationale Geschlossenheit und 3. auf Dauer gestellte operationale Geschlossenheit, d. h. die tatsächliche Reproduktion dieser operationalen Geschlossenheit. 46 Mit Blick auf Nietzsches physiologische Fragmente zeigt sich, daß mindestens bezüglich des Kriteriums operationeller Geschlossenheit die Kriterien als erfüllt gelten können. Produktion und Rezeption wirken gleichsam als sich wechselseitig erregende Elemente des Kunstsystems. Diese selbstorganisationell vollzogene und deshalb endogene Reproduktion des Kunstsystems läßt sich als kreiskausale Verkettung dieser Elemente rekonstruieren. Die Zyklizität zweier Willen-zurMacht bildet damit das Selbstorganisationskonzept des Kunstsystems, in dem das »Auftreten kreiskausaler Verknüpfungen, in dem Sinne, daß Systemoutputs wiederum als inputs für dasselbe System dienen können«47, sein Reproduktionsprinzip markiert: »Ursachen und Wirkungen sind zirkulär miteinan44 So aber tendenziell M. Djuric, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985, S. 269. 45 Daß Nietzsche gleichwohl eine ,Künstler-Ästhetik' fordert, hat in diesem Zusammenhang lediglich mit einem Affront gegen rezeptionsorientierte Ansätze (,WeibsAesthetiken') zu tun; in ihnen, so Nietzsche, verkümmere der Aspekt der eminent produktiven Wertsetzung. 46 Vgl. W. Krohn, G. Küppers (Hg.), Selbstorganisation .... ; weiterhin: W. Krohn, G. Küppers, R. Paslack, Selbstorganisation - Zur Genese und Entwicklung einer wissenschaftlichen Revolution. in: S. J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. 1987; R. Paslack, Urgeschichte ... (Vgl. FN 2). 47 W. Krohn, G. Küppers, R. Paslack (FN 46), S. 462.

Friedrich Nietzsehe

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der vernetzt.«48 Die Differenz von Produktion und Rezeption von Kunstwerken, beide so häufig die jeweils einseitige Grundlage ästhetischer Theorie, schwindet angesichts der Tatsache, daß beide Teilaspekte als ,Willen zur Macht' konzeptualisiert sind, jede Produktion damit zugleich eine Rezeption, jede Rezeption auch eine Produktion und beide als Differenz die Reproduktionsmomente des Kunstsystems bilden. Größere Schwierigkeiten bereitet das Kriterium energetischer Umweltoffenheit. Da Nietzsche die differenten Willen-zur-Macht-Artikulationen im Prinzip als energetische Potentiale denkt und sie gleichzeitig relational konstituiert, d. h. ein Mehr-Werden-Wollen gegen ein anderes setzt, und diese Relation als Kampf und Überwältigung beschreibt, läßt sich das Kunstsystem, das ja nichts anderes ist als eine Organisation differentiell aufeinander bezogener Kraftlagen, charakterisieren durch den physiologischen Zustand der »extreme(n) Irritabilität« (KGW VIII, 3, S. 148). Jede andere Kraft wirkt als Kraft gegen die Kraft der Kunst. Genau dadurch läßt sie sich irritieren und reagiert darauf - mit Kunst. 49 Das scheint zumindest ein Indiz für informationelle Umweltoffenheit in der Form der Irritabilität zu sein. 50 Ergänzend kann hinzugefügt werden, daß der Effekt energetischer Umweltoffenheit, die Verhinderung des Zustandes eines thermodynamischen Gleichgewichts, in Nietzsches Physiologie der Kunst geradezu programmatischen und sie konstituierenden Charakter hat. Nietzsches Abgrenzung vom Paradigma der Selbsterhaltung, sein Insistieren auf ,Mehr-werden-wollen' und Selbsterweiterung als ,Movens' der Kunst läßt sich relativ zwanglos auf die Differenz von Selbstorganisationssystemen und »Systemen der klassischen Gleichgewichtsthermodynamik «51 übertragen. Ein abschließendes Problem könnte den Titel ,Grenzfragen' tragen: Wie, so ließe sich im Anschluß an Nietzsche fragen, läßt sich gewährleisten, daß der Rausch, das grundlegende Prinzip sowohl der Kunstproduktion wie auch der -rezeption und insofern das Reproduktionsprinzip des Kunstsystems, tatsächlich auch die Immanenz der Kunstreproduktion gewährleistet, d. h. aber: tatsächlich auch zu Kunstwerken gelangt, deren Rezeption neue Produktion anregt? Denn Nietzsche kennt durchaus verschiedene Arten des Rausches. Wie also denkt er sich die Systemgrenze, deren Existenz die Möglichkeitsbedingung geschlossener Reproduktion ist? Nietzsches Antwort darauf trägt den Ebd. Die ,Hinwendung zum Gewohnten', Nietzsches Antwort auf die Frage, wohin die Reize führen, kann in diesem Zusammenhang als Bildung systemischer ,Eigenwerte' rekonstruiert werden. 50 Die Informationen aus der Umwelt - für Nietzsehe die kotemporären Willen zur Macht - rufen nicht unmittelbar systeminterne Reaktionen hervor, sondern dienen als kontingente »Störungen, die zu einem ,Eigenverhalten' des Systems führen - das System erzeugt sein Verhalten selbst.« (ebd.) 51 Vgl. W. Krohn, G. Küppers, R. Paslack (FN 46), S. 446. 48 49

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Andreas Göbel

Titel ,Zur Vernunft des Lebens' und ist in ihrem Kern eine Transformation des klassischen Askeseideals zu einem Prinzip der ,systemimmanenten' Kräfteökonomie . Wenn auch produktives und rezeptives Moment in einen Prozeß kreiskausaler Verküpfung verbunden werden, so kennt Nietzsche doch auch das Phänomen der möglichen Verpuffung dieser Kraft: »Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt: es giebt nur eine Art Kraft.« (KGW VIII, 3, S. 410) Deshalb empfiehlt er dem Künstler eine »relative Keuschheit« und »kluge Vorsicht in eroticis« (ebd.). Das ist freilich kein klassisches Askeseideal mehr. In aller Deutlichkeit heißt es: »Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers« (VIII, 3, 87). Im Hinblick auf die Applikabilität Nitzscheanischer An- und Einsichten auf Segmente der Selbstorganisationsforschung freilich, darüber darf man sich nicht täuschen, markiert die systemische Grenzfrage auch eine Grenze. Denn Nietzsche kann schließlich die zirkuläre Geschlossenheit systemischer Reproduktion - modern formuliert: die Bedingung, daß Kunstkommunikation nur an Kunstkommunikation anschließt - nur unter Rückgriff auf ein zumindest quasi-intentional erläutertes Askeseideal sichern und erhärten. 52 Friedrich Nietzsche ist weder System- noch Selbstorganisationstheoretiker. Erstaunlich bleibt freilich, daß gerade im Wechsel der Semantik, mit der das moderne Kunstsystem sich selbst beschreibt, der Rekurs auf die naturwissenschaftliche Fassung organismischer Selbstreproduktion Ansätze zu einer Renovierung des ästhetischen Autonomieparadigmas entbirgt, durch die die Aufmerksamkeit auf die eigendynamische Reproduktion der Elemente des Kunstsystems gelenkt wird. Im Verbund mit neuen erkenntnistheoretischen Optionen markiert die ,Physiologie der Kunst', wie vorläufig auch immer, einen Modernisierungsschub allein schon deshalb, weil sie auf den Beginn einer differenztheoretischen Selbstbeobachtung des Kunstsystems zuläuft.

52 Der These G. Abels, Nietzsche erkenne in der Rezeption der Mayerschen Auslösungslehre, »daß eine bestimmte Form der Askese in allen Lebensfunktionen immer schon beteiligt und zum Vollzug der Lebendigkeit und deren Steigerung sogar erforderlich ist« (Nietzsche ... , S.70), vermag ich in diesem Zusammenhang nicht zuzustimmen. Zum einen sichert dies weder die Spezifität der Effekte dieser Vollzüge - und das müßte in unserem Falle Kunst sein - noch macht es deutlich, warum Nietzsche dann gleichwohl diese Vernunft des Lebens als Vernunft des Künstlers konzipiert. Wäre es so, wie Abel vermutet, wäre Nietzsche nicht genötigt, die Selbstreproduktion auf der Ebene der Elemente um eine elementfremde Instanz zu ergänzen.

Schönheit als dynamisches Grenzphänomen zwischen Chaos und Ordnung - ein Neuer Laokoon Von Friedrich eramer, Göttingen I. Selbstorganisation als teleologisches Prinzip

Entropie ist ein Maß für die Nichtumkehrbarkeit von Vorgängen, für deren Irreversibilität. Energieflüsse sind gerichtet in der Zeit. Damit ist Entropie auch ein Zeitmaß, ein Maß für die Nichtumkehrbarkeit der Zeit. Die Newtonsehen Gleichungen haben die äusserst angenehme Eigenschaft, daß t

= - t

ist. Damit war alle Teleologie endgültig zur Strecke gebracht und jetzt erst war man in der Lage, physikalische Gesetze aufzustellen, Kausalketten von Ereignissen abzuleiten und Maschinen zu konstruieren, die solche Kausalketten beliebig oft reproduzieren, eben unsere moderne Technik. Allerdings hat die Einführung der Invarianz der Zeit auch ihren Preis: man kann zwar das Sein, die existierenden Dinge und deren Zusammenwirken, erklären, nicht aber das Werden, die Entstehung des Neuen, nicht das Lebendige, nicht die Selbstorganisation, nicht die Emergenz von Schönheit. Mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, eben dem Entropiegesetz, ist - zumindest bei Energieflüssen und Zuständen in einiger Entfernung vom Gleichgewicht, und das sind doch alle realistischen Zustände - der gerichtete Zeitpfeil wiedereingeführt, die Systeme bewegen sich vom Zustand der Ordnung irreversibel auf das Ziel (= griech. 'tEAoa) Unordnung hin. Damit ist der Zweite Hauptsatz der erste teleologische Satz seit Newton. l Offensichtlich hat der Übergang von Ordnung in Unordnung seine Entsprechung in dem Pänomen, das wir heute Selbstorganisation nennen. Nach dem Entropiegesetz desorganisiert sich die Welt, nach welchen Gesetzen organisiert sie sich? Wir wissen es nicht, bisher sind nur sehr unvollkommene Ansätze zum Verständnis der Selbstorganisation sichtbar.

1 F. eramer, Der Zeitbaum - Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, Frankfurt a.M.1993.

Friedrich Cramer

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Mit dem Entropiegesetz hat sich die aristotelische Entelechie sozusagen durch die Hintertür wieder eingeschlichen. Bei Aristoteles entwickelte sich die Welt auf das vollkommene Eine hin, die göttliche Kraft zielte auf Vollkommenheit. Eine solche Philosophie, ein solches Weltbild ist nach Newton nicht mehr möglich. Aber wenigstens ein Gesetz der Ausrichtung auf die Unvollkommenheit, die Unordnung ist mit dem Entropiegesetz aufgefunden, wenigstens die negative Seite des aristotelischen Werdens hat Eingang in die Physik gefunden. Sollte vielleicht, nachdem das Streben nach Vollkommenheit, Gott, aus der Physik verbannt worden war, wenigstens doch der Teufel wieder zugelassen werden? Das Wort Teufel leitet sich ab vom griechischen ÖLaf3oAoa (diabolos), das heißt der Teufel ist der Durcheinanderwerfer, der Unordnungsstifter, der Entropievermehrer, das entropische Prinzip. 2 Man darf vermuten, daß das Entropiegesetz, zunächst noch immer ein ärgerlicher Stolperstein in der klassischen Physik - alle Interpretationen im Sinne der klassischen Physik, z. B. durch Ludwig Boltzmann können als gescheitert gelten -, in der Zukunft durch Gesetze der Selbstorganisation ergänzt werden wird. In solchen, zunächst noch hypothetischen Gesetzen muß die irreversible Zeit, der Zeitpfeil ein wichtige Rolle spielen, und dementsprechend muß die Struktur der Zeit neu betrachtet werden, denn Selbstorganisation und ästhetische Phänomene spielen sich in der Zeit ab. Versuchen wir einen Katalog der theoriebedürftigen Selbstorganisationsphänomene aufzustellen. 3 Dazu gehören: erstens: die Übergänge von reversibler in irreversible Zeit und umgekehrt, also das Zeitgetriebe, zweitens: die Entropie als gerichtete Größe, die die Irreversibilität überhaupt erst etabliert, drittens: alle Phänomene der Selbstorganisation, bei denen in scheinbaren Gegensatz zum zweiten Hauptsatz die Entropie vermindert wird. viertens: Evolutionen und alle Formen von hierarchischen Strukturen, Stammbäume und Blitze fünftens: die Emergenz der Schönen Form in Natur und Kunst Um Evolutionsphänomene zu beschreiben, habe ich seinerzeit das Evolutionsfeld vorgeschlagen. 4 Für eine Beschreibung von Selbstorganisation müßte dieser Vorschlag in Richtung auf ein generelles Selbstorganisations-RaumzeitFeld erweitert werden. 5 Dies müßte ein mehrdimensionales Feld sein in welchem eine der Dimensionen die diskontinuierliche irreversible Zeit sein müßte. 2 3 4

5

eramer (FN 1) S. 50. eramer (FN 1) S. 115. F. eramer, Chaos und Ordnung. Stuttgart 1989. eramer (FN 1) S. 111.

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

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Eine solche Feldgleichung wäre deshalb vermutlich recht komplex. Es wäre zu fordern, daß die Theorie das Entropiegesetz und die Phänomene der Selbstorganisation miteinander verbindet, denn diese stehen ja im reziproken Verhältnis zueinander. Das Selbstorganisationsfeld müßte ferner als eine Koordinate die potentielle Energie bzw. das Gibbssche Potential besitzen, denn Selbstorganisation spielt sich ja weit entfernt vom Gleichgewicht in dissipativen Strukturen ab. Das Selbstorganisationsfeld hätte dann die folgenden Koordinaten:

drei Raumkoordinaten, eine diskontinuierliche Zeitkoordinate, eine Energiekoordinate. Ich habe bereits an anderer Stelle ausgeführt, daß man dann allerdings mit dem bisherigen starren Materiebegriff nicht mehr auskommt: Materie wäre in Selbstorganisationsfeld rezeptiv für das chemische Potential und für die irreversible Zeit. Die Verhältnisse sind im Schema der Abb. 1 zusammenfassend dargestellt. 6

11. Struktur, Zusammenbruch und Entstehung des Neuen

In der ersten Duineser Elegie dichtet Rilke über das Schöne:

" ... Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören . .. " Dichter erspüren oft künftige Entwicklungen Jahrzehnte im voraus. Ich möchte ein neues Konzept der Ästhetik vorlegen, das sich aus den neuesten Entwicklungen der Naturwissenschaften, aus der Physik der Fraktale einerseits und der Entwicklungsbiologie andererseits ableiten und sich auf die bildenden Künste und die Literatur erweitern lässt, ein Konzept, welches das Schöne als ein dynamisches Phänomen zwischen Chaos und Ordnung auffaßt. 7 Seit der mythischen Vorzeit sind das Schöne und das Erhabene, Faszination und Schrecken, Ordnung und Chaos, Form und Formauflösung immer wieder in Nachbarschaft gerückt worden. Das Haupt der Medusa ist faszinierend schön und abstoßend gräßlich zugleich. 8 Erst die neue Theorie des Deterministischen Chaos läßt uns solche Übergänge besser verstehen: Schönheit entsteht überall dort, wo das Chaos in die Ordnung, wo Ordnung in Chaos mündet. Schönheit ist gleich der offenen, irrationalen Ordnung des Überganges 6 7

8

eramer (FN 1) S. 110. eramer (FN 4) S. 178 ff.

D. Kamper, eh. Wulf(Hrg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989.

6 Selbstorganisation. Bd. 4

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Friedrich eramer Allgemeine Erfahrung

Materie ist schwer, träge

Materie organisiert sich selbst, bildet Muster. Frühe Beschreibungsversuche Aristoteles: Entelechie Thomas: Selbstorganisation ist Gottes Organisation

Aristoteles: Gewicht ist Zahl demo kritischer Atome

Empirische Naturgesetze Galilei: Fallgesetze, Pendelgesetze Kepler: Planetenbewegung Newton: Bewegungsgesetze

Entropiegesetz Entwicklung der Sterne Mendel: Vererbung Verhulst: Wachstum Radioaktiver Zerfall Natürliche Uhren Eigen: Hyperzyklus Theorien

Newton: Gravitationsfeld

Cramer: Evolutionsfeld Zusammenfassung

Es gibt ein Gravitationsfeld, in dem Materie schwer ist. Schwere bzw. das Gravitationsfeld sind nicht von Materie abtrennbar. Das Gravitationsfeld existiert im 3dimensionalen Raum.

Es gibt ein Evolutionsfeld, in dem Materie sich organisiert. Selbstorganisation bzw. Evolutionsfeld sind nicht von Materie abtrennbar. Das Evolutionsfeld hat als zusätzliche Dimensionen die irreversible Zeit und das Energiepotential.

Abb. 1: Vergleich der Naturgesetze und Theorien im Gravitationsfeld (links) und im Selbstorganisationsfeld (rechts)

und so ist sie ihrem eigenen Prinzip nach vergänglich, fragil gefährdet und je nur einmalig - wie das Leben selbst. Schönheit kann nur als lebendige Schönheit existieren. 9 Die moderne Physik versteht unter deterministischem Chaos das Verhalten eines dynamischen Systems, das - von streng deterministischen Ausgangsbedingungen her kommend - in ein nichtlineares, nicht berechenbares, grundsätzlich nicht vorhersagbares Verhalten gerät. Paradigmatisch hierfür ist das Doppelpendel. 10 9

F. Cramer, W. Kaempfer, Die Natur der Schönheit, Frankfurt/M. 1992.

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

83

Aus dem Zwei-Körper-Problem des einfachen Pendels wird das Drei-Körper-Problem des Doppelpendels. Zwar sind beide Pendel miteinander gekoppelt, schwingen aber voneinander unabhängig. Es kann nun der Fall eintreten, daß das untere Pendel nicht mehr "weiß", ob es nach links oder rechts kippen soll, sein System "steht auf des Messers Schneide", es hat in der Tat die Wahl. Ein solcher Kipp- bzw. Verzweigungspunkt leitet eine neue Entwicklungsphase der Bewegung ein, die sich vor dem "Durchgang durch das Chaos" nicht voraussagen lassen konnte (Abb. 2).

Dreh punkt

~! tp,

r

n \

Gewicht

2

\

c_~=:D Abb. 2: Doppelpendel

Von einem bestimmten Drehimpuls an ergeben sich chaotische Zustände. Die Bahnen, die durchlaufen werden, verlieren die Ellipsenform. Zwar erkennen wir noch einzelne "Inseln der Ordnung" (Abb. 3) - aber im wesentlichen füllt sich nun die gesamte Ereignisfläche mit Punkten: das System ist chaotisch geworden. Bei einem bestimmten mittleren Energieaufwand geht die regelmäßige, elliptische Bewegung schließlich völlig im Chaos unter. Zuletzt bleiben als Trennungslinien zwischen Chaos und Ordnungsbereichen nur wenige Kurven, und irgendwann zerfällt auch die letzte. Und diese letzte Kurve hat - auf beinahe geheimnisvolle Weise - mit dem Goldenen Schnitt zu tun. Ein Newtonsches System läßt sich mit linearen Differentialgleichungen berechnen, es läßt sich integrieren. Dagegen verlaufen verzweigte, rückgekoppelte Systeme diskontinuierlich, nicht-linear wie das Doppelpendel. Fast alle Systeme der Natur haben den Charakter, der in der Gleichung auf Abb. 4 dargestellt ist. Alle stabilen Strukturen sind zyklisch, repetitiv, iterativ, angefangen von den Planetenbewegungen und der Erdumdrehung, die uns das 10

6*

eramer (FN 4) S. 163.

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Friedrich eramer

Abb. 3: Poincarre-Auftragung der Bewegung des Doppelpendels

Zeitmaß geben, über die Atome und Moleküle mit ihren charakteristischen Frequenzen, über die Zyklen unseres Körpers, Herzschlag, Körpertemperatur, Hormonzyklen, Zitratzyklus, über die Zyklen einer funktionierenden Technik, den ruhigen Lauf des Motors, die zuverlässigen Fahrpläne der Bundesbahn, die Frequenzen und Amplituden von Radio und Fernsehen: Struktur heißt Zyklizität. Zusammenbruch einer Struktur ist dementsprechend das Herausspringen aus dem Zyklus, der chaotische Durchgang durch einen Seltsamen Attraktor. Ich habe darüber ausführlicher in meinem Buch "Der Zeitbaum" berichtet.

Abb. 4: Rückgekoppeltes komplexes System

Der Mathematiker Benoit Mandelbrot hat eine Reihe von rückgekoppelten Gleichungen untersucht, in denen komplexe Zahlen vorkommen, so insbesondere das C der Rückkopplungsgleichung in Abb. 4. 11 Solche Gleichungen, bes-

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

85

ser gesagt: Mengen, lassen sich auf dem Bildschirm des Computers abbilden. Obwohl nichts als Simulationen der rückgekoppelten Gleichungen vom Typ Abb. 4, in diesem Falle mit komplexen Zahlen, also Resultate einer einfachen rückgekoppelten Rechnung ohne jede "harmonisierende" oder "ästhetisierende" Vorgabe, sind sie von großer Schönheit und erstaunlichem Formenreichtum (Abb.5, 6). Nicht zufällig stehen die jeweils neuen Sprossungspunkte des "Apfelmännchens" für weitere Apfelmännchen im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander. Die Mathematik der Mandelbrot- und JuliaMengen erzeugt durch einfache Iteration dasselbe irrationale Proportionalitätsverhältnis, das uns seit alters her als das Goldene Verhältnis, als das klassische Verhältnis für die Schöne Form geläufig ist. So sonderbar es klingt: die Fraktale Geometrie bzw. die Chaosmathematik, welche die Schöne Form hervorbringt, vermag die nicht-lineare Realität des Kosmos besser zu beschreiben als die Differentialgleichungen der Newtonschen Trajektorien. Aus demselben Grunde lassen sich mit ihnen zahlreiche Naturformen beschreiben: Blumen, Gebirge, Zebrafelle, Brandungsgischt, sie alle bewegt, "lebendig", schön.1 2 Gleichzeitig ist dieser chaotische Durchgang der Mechanismus, mit dem Neues entstehen kann: die Sterne durch zufällige Zusammenballung eines Kondensationskeimes, eine neue biologische Art durch Mutation, ein neues Lebewesen nach Eisprung durch Befruchtung. Und der diskontinuierliche Übergang durch Chaoszonen ist auch der Mechanismus, nach dem das Schöne entsteht. 13 IH. Der dynamische Begriff der Schönheit 14

Wir sagen wohl, daß eine Blüte "schön" sei; ein Baum stehe "prachtvoll" in der Landschaft; ein Bergkegel sei "imposant"; der Sonnenuntergang in tiefen roten Farben sei "hinreißend"; die Landschaft "erheitere" uns; die Katze bewege sich "geschmeidig"; die Sprünge der Antilope seien "elegant"; der vergängliche Schmetterling "entzücke" uns; der Pfau schlage ein "prächtiges" Rad; das nächtliche Rauschen des Baches stimme "melancholisch"; die Weite des Meeres lasse uns "erschauern" - sind das alles angelernte Empfindungsqualitäten ? Oder gibt es auch in der Natur objektive Merkmale von Schönheit, Zeichen vegetabilischer und animalischer Harmonien und Symmetrien, schöne oder auch bizarre Formen, die jeden von uns, unabhängig von Bildungsgrad oder Herkunft, "ergreifen" müssen? Die Kulturgeschichte würde uns wahrscheinlich lehren, daß der Mensch die Formen der Natur seit jeher 11

12

13 14

B. Mandelbrot, Die Fraktale Geometrie der Natur, Basel 1989. eramer / Kaempfer (FN 9) S. 158. eramer / Kaempfer (FN 9) S. 52, 53. eramer / Kaempfer (FN 9) S. 251ft.

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Friedrich eramer

Abb. 5: Das Apfelmännchen: Mandelbrotmenge mit Julia-Mengen

mit gewissen Empfindungsqualitäten - "schön", "erhaben", "anziehend", "abstoßend" - assoziiert hat, die wir ästhetisch nennen können. Ein Beispiel aus der Antike bietet die Schrift des Longinus Über das Erhabene. 15 Der spezifische Reiz, der von den Natur-Formen ausgeht, dürfte darin zu suchen sein, daß auch sie - wenigstens im Regelfall- Prozeßformen abbilden. 15

Christine Pries (Hrg.), Das Erhabene, Weinheim 1989.

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Abb. 6: Fraktales Muster mit chaotischen Rändern Sie sind gleichsam stehen gebliebene - in Wahrheit jedoch meist fortschreitende - Prozesse, die mit dem Prozeß korrelieren, in dem der Beobachter selbst begriffen ist. Das Leben der Natur korreliert mit dem Leben des Betrachters. Wie dieses ist die Natur ein Wachstumsprozeß. Nicht nur die Pflanzen und Tiere, deren Wachstum sich vor unseren Augen abspielt, sondern auch Berge und Landschaften sind das Resultat eines Wachstumsprozesses, eines sehr viel langsameren freilich, dem gegenüber die Lebenszeit des Menschen infinitesimal klein ist, so daß uns etwa ein Gebirge als ruhend erscheinen und sich erst unter dem Zeitraffer der Geowissenschaften als gewachsen erweisen kann. Die wachsend-gewachsene Form bildet sogar die Voraussetzung für eine schöne Form. Unwillkürlich bemerken wir das Prozessuale an der IJasis einer "schönen" Struktur. Sie ist ja entstanden und sie kann - so stabil und statisch sie immer wirken mag - ihren Entstehungsprozeß nie

88

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ganz verleugnen. Der geschulte Blick des Wissenschaftlers wird diesen Prozeß im einzelnen aufdecken und beschreiben können, aber auch der Ungeschulte, der Laie, der naive Betrachter wird weniger durch die Struktur, die ihm vor Augen steht, als vielmehr durch den Prozeß " affiziert" , den sie voraussetzt und der in ihr "erscheint" .!6 Der Naturprozeß verläuft nach dem antagonistischen Prinzip von "Schwingen" (normales Pendel, stabile Struktur, Ordnung) und "Kippen" (Doppelpendel, Übersprung zu Neuern, Chaos). Offenbar ist mit dem Urknall die homogene Totalsymmetrie "aufgebrochen" worden, aufgebrochen im doppelten Sinne. Sie ist auf-gebrochen wie die Schale eines harten Kerns, eines Keims; ihre Symmetrie ist zerbrochen und eine Folge von Symmetrie brüchen quillt nun keimend hervor und ist nach diesem ersten "Sprung" des N aturprozesses nicht mehr aufzuhalten. Zugleich ist die Natur "aufgebrochen" wie einer, der sich auf den Weg gemacht hat und der nun Schritt um Schritt in Neuland vorstößt. Die Schritte bilden kein Kontinuum wie die Pendelbewegung einer Uhr, vielmehr ist jeder Schritt ein Kippen, ein "Wagnis", potentiell ein Chaos-Ordnungs-Übergang:Natur ist Aufbrechen und Aufbruch zugleich. Was aber treibt diesen Prozeß nun an und vorwärts, woher stammen die Energien, die ein System mit so hoher Spannung aufladen, daß es plötzlich zu einem Bifurkationssprung ansetzen kann? Diese Energien lassen sich nur aus ihrer prinzipiell polaren Verfassung erklären. Offensichtlich ist die Welt grundsätzlich polarer Natur. IV. Die schöne Landschaft!?

Offenbar sieht unser Auge, wo wir uns "belebt", "erschreckt", "begeistert" wissen, vorzugsweise Übergänge. Der Sonnenuntergang ist auf den ersten Blick vielleicht nur von einem "wunderbaren" Rot, er ist "romantisch", er wirft lange Schatten, aber unsere Phantasie sieht mehr, sie sieht einen Prozeß, sie sieht schon, was noch gar nicht eingetreten ist. Sie sieht, wie sich das Farbspektrum entwickelt von Gelbrot über Orange, Purpur, Violett bis hin zum Indigoblau des Nachthimmels. Caspar David Friedrichs Bild Ein Paar den Mond betrachtend hat diese Prozessualität des Blicks einzufangen getrachtet. Der Mond auf diesem Bild ist voll und Sichel zugleich, der Maler hat ihn als Prozeß behandelt wie Matthias Claudius mit den Versen: "Seht ihr den Mond dort stehen, / Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön ... ". Versuchen wir uns an einer konkreten Landschaftsinterpretation, versuchen wir die Frage zu beantworten: Warum ist der Fudschijama schön? Majestätisch und zugleich leicht erhebt er sich 3700 m hoch aus der Ebene südwestlich 16

17

Cramer / Kaempfer (FN 9) S. 252. Cramer / Kaempfer (FN 9) S. 256 - 260.

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

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von Tokio (der letzte Vulkanausbruch fällt ins frühe 18. Jahrhundert). (Abb. 7). Von den Japanern wird der Berg als heilig verehrt, und in der Tat können wir das nachempfinden. An kaum einem anderen geologischen Gebilde läßt sich so "anschaulich" der Prozeß erkennen, der es hervorgebracht hat. Es ist, als wäre der Fudschijama erst vor wenigen Stunden entstanden aus gewaltigen Lavaflüssen und Ascheneruptionen. Seine Flanken sind fast mathematisch reine Abklingkurven, mit denen man Abkühlungsprozesse, die Dämpfung von Schwingungen, den Verlauf des radioaktiven Zerfalls, den sich allmählich verlangsamenden Fluß zähflüssiger Lava beschreibt (Abb. 8). Natürlich stellt nicht jeder Betrachter Reflexionen über Abklingkurven, Gaußsche Verteilung usw. an. Erfahrungen über Formbildungsprozesse sind anscheinend von vielen unbewußten Vor-Erfahrungen geprägt. Man hat schon als Kind die Bewegungen von Sand, von Schlamm, von Wasser beobachtet, hat sich den Sand durch die Finger rieseln lassen, hat in Schlamm und Pampe gespielt, hat Wasserkaskaden hergestellt, Bäche gestaut, die Flugbahnen von Feuerwerkskörpern beobachtet. Gewisse Kantsche "Schemata" sind in jedem Beobachter angelegt, moderner ausgedrückt: die sinnesphysiologische und neuronale Mustererkennung (pattern recognition) ist im Zentralnervensystem vorgeprägt und kann jederzeit abgerufen, mit der Realität verglichen und zu deren unbewußter oder vor-bewußter Interpretation herangezogen werden. Diese "pattern recognition" erkennt offenbar vorzugsweise "prozessuale Strukturen" (so wie das Wild nur den sich bewegenden Jäger oder Räuber bemerkt, nicht den reglos lauernden), ja man darf sagen, daß unser Wahrnehmungs apparat auf das Erkennen der Schönen Form (als einer tendenziell dynamischen Form) "programmiert" ist, und so wird auch der unbefangene Betrachter des Fudschijama aus sicherem vieltausendjährigem Abstand die Chiffren lesen können, die von seinem Entstehungsprozeß erzählen. Er sieht die weißglühende Lava aus dem zentralen Krater hervorquellen, er sieht sie hellrot an den Flanken hinabfließen, die Temperatur klingt ab, und nun wird sie dunkelrot und zäh, bis sie schließlich am breiten Fuß des Berges schwarz erstarrt.

V. Cumuluswolke und BiumenkohP8

An heißen Sommertagen steigt eine Wolke von unverwechselbarer Form in der aufgeheizten feuchten Luft in kältere, höhere Regionen auf: die Cumuluswolke (Abb. 9), auch sie natürlich ein Prozeß, ein relativ sehr rascher Prozeß, der nur deshalb als "Struktur", als einigermaßen "stabil" imponiert, weil er 18

eramer / Kaempfer (FN 9) S. 261 - 262.

90

Friedrich eramer

Abb. 7: Zeichner, den Fudschijama betrachtend

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

nach Hokusais Hundert Ansichten des Fudschi

91

Friedrich eramer

92

(To - Tu)

-__e ._.

Zeit

Abb. 8: Abkühlungskurve

sich meist in einer Entfernung von 10 - 20km abspielt. Die thermischen Aufwinde, die die Wolke in die Höhe tragen, sind oft mehr als 20kmlStunde schnell. Dabei bildet sie Bifurkationen aus: Ein Kondensationskeim treibt einen "Wolkenast" hervor, und es entsteht eine Blase, ähnlich der "Blume" eines Blumenkohls (Abb. 10). Denn auch der Blumenkohl treibt aus seinem Strunk bekanntlich wolkenförmige Gebilde hervor, die einander den Raum streitig machen: die "Rosen". In der Cumuluswolke und im Blumenkohl erkennen wir die Bildungen eines Wachstumsprozesses, der zu keiner eindeutigen Form mehr führt - zur kreis- oder zur Ellipsenform zum Beispiel-, sondern dessen Stadien nebeneinander auftreten: die Durchgänge durchs Chaos und die erreichte Form. Mehr als andere Naturformen verraten Cumuluswolke und Blumenkohl etwas von der Mehrdeutigkeit, Beweglichkeit, Fragilität der Schönen Form. Steigt die Cumuluswolke hoch genug, wobei sie immer wieder neue Äste und Blasen bilden mag, so kann sie sich elektrisch aufladen und ein Gewitter entbinden: Schwingen und Kippen. VI. Der Goldene Schnitt - Zur Mathematik des schönen Prozesses

Wohl schon seit dem alten Ägypten hat sich der Mensch mit den natürlichen Proportionen beschäftigt, mit den Symmetrien und ihren Gesetzen und Abweichungen. Der römische Architekt Marcus Vitruvius Pollio beginnt seine Zehn Bücher über Architektur (25 v. Chr.) mit dem Vorschlag, die Tempel nach den Maßen des menschlichen Körpers zu errichten. Der Körper, so meint er, lasse eine vollkommene Harmonie zwischen seinen Teilen erkennen. Leonardos Studien zum menschlichen Körper lassen sich als direkte Illustrationen zu Vitruvius Vorschlägen verstehen.

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Abb. 9: Cumuluswolke

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Friedrich Cramer

Abb. 10: Blumenkohl

Auch Kepler empfand den Goldenen Schnitt, die proportio divina als "göttlich" und meinte - nicht zu Unrecht, da sich mit ihr in der Tat ein Iterationsprozeß beschreiben läßt -: "In diesem schönen Verhältnis liegt ... die Idee der Zeugung verborgen. Denn wie der Vater den Sohn erzeugt, der Sohn einen anderen, jeder einen ihm ähnlichen, so wird auch bei jeder Teilung die Proportion fortgesetzt, wenn man den größeren Abschnitt zum Ganzen hinzufügt. " Der Goldene Schnitt entsteht, wenn sich bei Teilung einer Strecke oder Fläche der längere Teil zum Ganzen wie der kürzere zum längeren verhält; Verhältnis: d : 1 = (1 - d). Das Verhältnis der beiden Strecken oder Flächen ergibt eine irrationale Zahl. Vgl. Abb. 11. Die Summe der jeweils vorangegangenen zwei Zähler bzw. Nenner ergibt die nächste Zahl: das ist das Gesetz der Fibonacci-Reihe. Zahlentheoretisch ließe sich nun zeigen, daß die Goldene Zahl zu den rationalen Zahlen einen weiteren Abstand hält als alle anderen irrationalen Zahlen. 19 Der Kettenbruch approximiert sie weit weniger gut als die anderen irrationalen Zahlen. Beide, die rationalen und die irrationalen Zahlen, kann man 19 P. Richter, H. J. Scho/z, Der Goldene Schnitt in der Natur, In: B.-O. Küppers (Hrg.), Ordnung aus dem Chaos, München 1987, S. 175 - 214.

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

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Fibonacci-Reihe:

1,1,2,3,5,8,13,21,34,55 .... Der Quotient zwischen benachbarten Gliedern nähert sich dem Wert 1,618 ... (Goldener Schnitt) Goldener Schnitt:

Der längere Teil (= d) verhält sich zum Ganzen (= 1) wie der kürzere (= 1- d) zum längeren: d:1 W

Wo

+-

1

Wl

=

(1 - d):d 1

+W2

1

+W3

1

+W4

1

+-

Ws·· .

Näherungsformel: IW - Wn I ~ const/qn2

Abb. 11: Fibonacci-Reihe und Goldener Schnitt als Klassen begreifen, die sich wie Antipoden verhalten. Bei den rationalen Zahlen brechen die Kettenbruchentwicklungen alle ab, d. h. sie gehen auf, bei den irrationalen Zahlen gehen sie gegen unendlich. Die prominentesten Repräsentanten bei der Klassen, nämlich 1 : 1 und 1 : g (Goldene Zahl) stehen für extreme Konsonanz und Dissonanz, für die Kommensurabilität und Inkommensurabilität, für Ordnung und Chaos oder wie immer man die grundsätzlichen Prinzipien nennen will. VII. Muscheln und Schnecken Fast alle Muscheln und Schnecken sind in Form der Wachstumsspirale gebaut, bei der in jeder Windung das Verhältnis des Goldenen Schnittes eingehalten wird. Daraus ist der Prozeß des Wachsens unmittelbar ersichtlich. In Abb. 12 sind die Proportionen dieses Wachstums genauer analysiert. Die Wachstumsabschnitte können in einer logarithmischen Spirale mit Goldenen Rechtecken umschrieben werden, d. h. Rechtecken, deren Seitenlängen im Verhältnis der Goldenen Proportionen stehen. Die jeweils neuen Rechtecke sind um ein Quadrat über der Breitseite des ursprünglichen Rechtecks größer. Das so entstehende Muster nannte J. Hambridge das Muster der "wirbelnden Quadrate". Auf diese Weise stehen die jeweils neuen Wachstumslängen zueinander im Verhältnis der Fibonacci-Reihe, in der das jeweils folgende Glied die Summe der beiden vorangegangenen Glieder ist, also ... 5 - 8 - 13 - 21 - 34 - ...

96

Friedrich eramer

Abb. 12: Analyse der Wachstumsspirale nach der Methode der "wirbelnden Quadrate"

Das ist, wie wir gesehen haben - und wie Muschel und Schnecke paradigmatisch zeigen können -, die Formel für ein exponentielles, natürliches Wachstum. Die Zellen des Organismus (oder Elemente davon) gelangen in einen stofflich-energetisch hochaufgeladenen (in heutiger Sprache aufgetankten) Zustand, der "Druck" entlädt sich in einem morphogenetischen "burst", die nächste Stufe der neuen Form entsteht. Das exponentielle Wachstum nach dem Fibonacci-Gesetz ist in Abb. 12 oben wiedergegeben. Dort sind als quantitatives Maß für die jeweiligen Wachstumsschritte die Zahl der kleinen Quadrate in den jeweiligen Goldenen Rechtecken eingezeichnet. Das ist die bekannte exponentielle Wachstumskurve (in unserem Falle mit den Fibonacci-Exponenten), die der allgemeinen Formel Nt = No X e k x t gehorcht, im übrigen die gleiche Formel, die für die "Abklingkurve" der Flanken des Fudschijama gilt, dort nur mit negativem Exponenten. Allen Formen ist gemeinsam: Sie reflektieren den Prozeß der Natur, der gleichzeitig der Prozeß der Schönheit ist.

Schönheit zwischen Chaos und Ordnung

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VIII. Blüten und Früchte Die regelmäßige Anordnung der lateralen Organe einer Pflanze, zum Beispiel der Blätter am Stamm der Einzelblüten auf einem Blütenkorb oder der Schuppen auf einem Zapfen hat seit langem Botaniker und Mathematiker beschäftigt. Auffällig und gleichzeitig auch besonders gut untersucht sind die Proportionen bei bestimmten Blüten und Früchten, insbesondere bie den Korbblütlern. Abb. 13 zeigt den Blütenkorb einer Sonnenblume.

Abb. 13: Blütenkorb einer Sonnenblume 7 Selbstorganisation. Bd. 4

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Friedrich eramer

Dem unbefangenen Auge fällt sofort eine Anzahl von spiraligen Kreisen auf, die man in verschiedenen Richtungen durch die Sonnenblumenkerne legen kann. Es sind wiederum Wachstumsspiralen, einige steiler und kürzer, andere flacher und länger. Goethe hat sich in seiner berühmten Schrift" Über die Spiraltendenz in der Natur" mit diesem Phänomen befaßt. 20 Diese Knotenlinien springen sofort ins Auge, unser Wahrnehmungsapparat haftet förmlich an ihnen, und das nicht ohne Grund, lassen diese Linien doch das ganze Wachstumsgesetz, den Prozeß der Schönheit, aufscheinen. In Abbildung 14 sind diese Spiralen in Distelblüten eingezeichnet.

,

.

Abb. 14: Distelblüten mit eingezeichneten Knotenlinien

Es zeigt sich dabei, daß die Zahl der Knotenpunkte in einem bestimmten Satz von Spiralen dem Gesetz der Fibonacci-Reihe gehorcht. In Abb. 14 sind die Distelblüten die Spiralen mit 34 und 55 Knotenpunkten (links) und mit 21 und 89 Knotenpunkten (rechts) eingezeichnet. Der Quotient zwischen zwei (End)-Gliedern der Fibonacci-Reihe ist wiederum das Verhältnis des Goldenen Schnittes, zum Beispie189 : 144 = 0,60180 ... 20 J. W. v. Goethe, Über die Spiraltendenz in der Natur, dtv-Gesamtausgabe, München 1975, Bd. 39, S. 124ff.

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Der Fibonacci-Charakter oder der Goldene Schnitt wird unter allen Wachstumsbedingungen eingehalten, ist nicht abhängig von Größe, Länge oder Dicke der betreffenden Frucht oder Blüte. Man darf das Auftreten der Fibonacci-Reihe und die Einhaltung des Goldenen Winkels nicht als statisches Phänomen auffassen, sondern als das Resultat eines rückgekoppelten Wachstumsprozesses . Jedes Wachstum kann als internes Konkurrenzphänomen aufgefaßt werden. Bestimmte Aktivatoren oder Wachstumsfaktoren lassen ein bestimmtes Element oder eine Knospe wachsen. Andererseits wird dieses Wachstum behindert durch konkurrierende Prozesse in der Nachbarschaft, so etwa durch natürliche Inhibitoren aus dem Stoffwechsel am Wachstumspunkt oder durch die Konkurrenz um die für das Wachstum notwendigen Nährstoffe oder einfach durch Platzmangel und gegenseitiges Weg-Drängeln (s. Blumenkohl). Auf diese Weise kann man das Auftreten des Goldenen Schnittes quantitativ verstehen, worauf ich im Moment nicht genauer eingehen kann. 21 Der Goldene Schnitt ist das Grundverhältnis für rückgekoppelte Wachstumsprozesse, er darf schon deshalb nicht als statisches Verhältnis - gleichsam als Bel ordre ohne Störungen - angesehen werden. Die "Störungen", die an den Chaos-Durchgängen entstehen, sind ihm stets auch "anzusehen". Das Goldene Verhältnis kann an keiner "Stelle" seines Prozedierens in ein ganzzahlig-rationales - in ein statisches Verhältnis - überführt (aufgelöst) werden. Schönheit, wirkliche Kunst, ist eine "Flucht nach vorne"; sie entsteht, wenn ein dynamisches System gerade noch vor dem Chaos ausweichen kann; Schönheit ist eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Zerfall und Erstarrung. Goethe dichtete im Alter: Nun weiß man erst, was Rosenknospe sei, Jetzt da die Rosenzeit vorbei. Ein Spätling noch am Stocke glänzt Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt.

IX. Natur und Kunst

Läßt sich der hier zunächst für Naturformen abgeleitete Schönheitsbegriff auch auf Werke der Kunst übertragen? Ich möchte hier einige wenige Beispiele aus der bildenden Kunst und der Literatur anführen, für eine ausführlichere Diskussion muß ich auf das mit Wolfgang Kaempfer zusammen geschriebene Buch "Die Natur der Schönheit" verweisen. Jeder kennt das berühmte Selbstportrait von Albrecht Dürer, das in der alten Pinakothek in München hängt: ein schöner junger Mann mit wallenden Locken und gepflegtem Schnurrbart, gleichsam ein Idealbild an Schönheit. 21

7*

eramer (FN 4) S. 197 - 199.

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Wenn man dieses Portrait in der Weise manipuliert, daß man es photographisch in der Mitte durchschneidet und die beiden Hälften jeweils so zusammensetzt, daß zwei Gesichter entstehen, eines mit gedoppelter linker, das andere mit gedoppelter rechter Gesichtshälfte, dann sind die beiden künstlich entstandenen Bilder offensichtlich langweilig. Jede Spannung ist verschwunden und das Interesse des Zuschauers droht zu erlahmen. Der Prozeß des Gesichtes ist durch die Symmetrisierung unterbrochen. Kunst ist eben nicht vollendete Harmonie, ist nicht Perfektion. Schönheit ist offenbar am ergreifendsten, am deutlichsten dort, wo sie ihre Ordnung freiwillig aufs Spiel setzt. 22

Abb. 15: Selbstportrait von Dürer23

Ich will nur mit wenigen Sätze andeuten, dass diese Theorie in einer lebendigen Tradition steht. Ich darf nur an Lessings "Transitorischen Moment" im Laokoon erinneren, an Diskussionen bei Edmund Burke und Kant über das 22 23

Cramer (FN 4) S. 203 ff. Cramer (FN 4) S. 204.

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Erhabene, an Schillers "Ästhetische Briefe" , wo es heisst, daß" ... die Schönheit nur spielt", nämlich sich ab-spielt auf der Grenze zwischen Chaos und Ordnung. Man könnte Äusserungen von Cezanne anführen oder von Paul Klee. Dabei meine ich weniger dessen theoretische Bauhaus-Schriften, sondern eher die witzig-decouvrierenden Titel von Klees Bildern. Ein Beispiel: Das wahrhaft schöne Bild in der Hamburger Kunsthalle : Revolution des Viaduktes, auf dem ein Viadukt sich selbst zerstört bezw. Paul Klee dessen Zerstörung vorführt, ganz im Sinne von Rilke: " ... wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. " Kunst an der Grenze zum Chaos zu schaffen, kann Überforderung und Gefährdung für Kunstwerk und Künstler bedeuten. Hölderlin geriet an diese unheimliche und gefährliche Grenze. Ich möchte das an seinem Gedicht "In lieblicher Bläue" erläutern, das, wie es in den Literaturgeschichten heißt, aus der "Zeit der geistigen Umnachtung" stammt, nachdem Hölderlin schon etwa 15 Jahre im Tübinger Turm am Neckar zugebracht hatte. 24 Das Gedicht beginnt einfach, schlicht, verhalten, "ordentlich". Dann, auf einmal in der Mitte, bricht das alte Feuer, das drohende, unerträgliche Chaos noch einmal durch, um alsbald wieder zu verlöschen: In lieblicher Bläue blühet mit dem Metallenen Dache der Kirchturm. Den Umschwebet Geschrei von Schwalben, den Umgibt die rührendste Bläue . ..

Und so ruhig geht es eine ganze Weile weiter. Plötzlich bricht es auf: Gibt es auf Erden ein Maß? Es gibt Keines. Nämlich es hemmen den Donnergang nie die Welten des Schöpfers. Auch eine Blume ist schön, weil Sie blühet unter der Sonne. Es findet das Aug' oft im Leben Wesen, die Viel schöner noch zu nennen wären Als die Blumen. O! Ich weiß das wohl! Denn Zu bluten an Gestalt und Herz und ganz Nicht mehr zu sein, gefällt das Gott?

Nach diesem erschütternden Ausbruch ist die unerträglich gewordene Gratwanderung be endet. Der Abstieg, ja Absturz beginnt, und abstrakte weisende Ordnung und gedankliche Ermüdung breiten sich aus: Die Seele aber, wie ich glaube, muß Rein bleiben, sonst reicht an das Mächtige Mit Fittichen der Adler . ..

24

eramer (FN 4) S. 206.

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Ein Kunstwerk ist neu. Neues entsteht beim Durchgang durch chaotische Zonen. Kunstschöpfung ist ein Akt in größtmöglicher Nähe zum "Geradenoch-nicht-Chaos". Wenden wir uns für einen Augenblick einem Kunstwerk zu, z. B. dem Original des Dürerbildes. Inwiefern ist es prozeßhaft? Das Werk ruht doch? Hängt es nicht seit Generationen an der Wand und repetiert immer die gleiche Aussage? Nein! Das in einer künstlerischen Gratwanderung erzeugte Werk enthält im wahrsten Sinne den Augen-Blick des Künstlers, und eben das macht es zum Kunstwerk, daß dieser Augenblick so festgehalten wurde, daß er seinen subtil gefährdeten Schöpfungsprozeß nie mehr verleugnen kann. 25 Und so fällt der Augen-Blick des Betrachters und des Künstlers zusammen, wodurch der Betrachter noch nach vielen Generationen in den schöpferischen Prozeß mit eingeschlossen wird. Lessing hat darüber im Laokoon geschrieben: Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermassen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses Augenblicks, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. .. Ferner erhält dieser Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: So muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken lässt. 26 Heute, nach mehr als 200 Jahren, können wir - ausgerüstet mit den Kenntnissen der Naturgeschichte, der Entwicklungsbiologie, der Fraktalen Geometrie und der Physik des Deterministischen Chaos - eine Ästhetische Theorie aufstellen, die man als den Neuen Laokoon bezeichnen könnte.

25

26

eramer / Kaempfer (FN 9) S. 204ff. G. E. Lessing, Werke, Frankfurt 1967, Bd. 3, Schriften 11, S. 22.

Landscape revisited Naturästhetik und Selbstorganisation

Von Joachim Wilke, Stuttgart Es genügt meiner Meinung nach zu sagen, daß ein Interesse an der Geschichte von Ideen gut für die Seele eines Wissenschaftlers ist. (Benoit Mandelbrot)

I. Vorsatz und Fragestellung

Der vorliegende Artikel folgt einem primär ideengeschichtlichen Vorsatz. Es geht demgemäß im folgenden nicht um die Beurteilung der Konsistenz von Theorien oder der Stringenz von Übertragungsprozessen, sondern um den Versuch einer Beschreibung von Kontextabhängigkeiten im Rahmen von Wirklichkeitskonstruktionen, um die Darstellung von Ideentransfers und Begriffsnot, von Theorienmodulation und -diffusion. Gefragt wird nach Hinweisen auf ästhetische Aspekte des Naturbegriffs im Rahmen des Selbstorganisationsparadigmas. 11. Gegenwartsdiagnosen

Kennzeichnend für die überwiegende Mehrzahl der (kulturellen) Gegenwartsdiagnosen der letzten beiden Jahrzehnte ist ein ausgeprägtes Krisenbewußtsein. Von Konzepten des Übergangs und des Aufbruchs reicht das Spektrum über Umbruchspostulate bis zu apokalyptischen Endzeitvisionen. Und die Diagnostik scheint allumfassend zu sein. Sie beschränkt sich keineswegs auf die Feststellung und Analyse bestimmter ,Krisenherde', sondern bezieht sich auf die Kultur ebenso wie auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, auf die Wissenschaft ebenso wie auf die Technologie (und ihre Folgen) - selbst dem Alltagsbewußtsein wird Krisenstimmung bescheinigt. Bei dem Versuch, trotz aller Differenzen einen gemeinsamen Kernbestand von Symptombeschreibungen freizulegen, stößt man immer wieder auf ein Vokabelrepertoire, das sich zusammenfassend als Beklagung von Verlusten

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Joachim Wilke

beschreiben läßt. Einige zentrale Beispiele seien genannt. Der Übersichtlichkeit halber sollen die Begriffe unter drei ,Verlust-Kategorien' subsumiert werden, wobei betont sei, daß es sich dabei weder um eine vollständige noch um eine strikte Systematik handelt. 1. Wirklichkeitsverlust :

Konstruktcharakter , Fiktionalität, Medialisierung, virtuelle Welten, Simulation

2. ,Einfachheitsverlust' : 2a. Einheitsverlust:

Verabschiedung von "Metaerzählungen" , Pluralität, Widerspruch, Zersplitterung

2b. Irreduzibilitätserfahrung :

Komplexität, Unübersichtlichkeit, Fraktalität

2c. Kontinuitätsverlust:

Fragmentarisierung, Geschichtsverlust, Differenz

2d. Ordnungsverlust:

Chaos, Auflösung (Kanon, Wertesysteme), Dekonstruktion, Hybridisierung, Entropie, Instabilität

2e. Unbestimmtheitserfahrung:

Offenheit, Paradigmenwechsel, Mehrfachkodierung

3. Machtverlust:

Nichtvorhersagbarkeit, Nichtplanbarkeit, Irreversibilität, Eigendynamik, zunehmende Dynamisierung der subjektiven Zeit

Das Therapiekonzept zur Bewältigung und Überwindung dieses Krisenbzw. Verlust-Bewußtseins ist inzwischen hinlänglich bekannt: Durch Umpolung der Begriffe wird aus der Krise eine Chance, aus der Not eine Tugend stilisiert. Als wirksamer, wenn nicht gar wirksamster ,Katalysator' dieses semantischen Umkehrungs- (bzw. Umwertungs-)prozesses erweist sich dabei ein Naturbegriff, der Konstituens einer naturwissenschaftlichen Weltbildkonstruktion ist, die an dieser Stelle der Einfachheit halber als "Weltbild der Selbstorganisation" benannt werden soll.!

! Vgl. dazu R. Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation, Braunschweig/Wiesbaden 1991; E. lantsch, Die Selbstorganisation des Universums, München/Wien 1979

U.ö.

Landscape revisited

105

III. Aspekte des Naturbegriffs der "Selbstorganisation"

In Zeiten "normaler Wissenschaft" (Kuhn) ist der Begriff "Natur" kein Thema der Naturwissenschaften. Dies läßt sich schon daran erkennen, daß in kaum ein naturwissenschaftliches Lehr- oder Handbuch der Naturbegriff Eintrag findet. "Natur" ist aufgrund seines hohen Abstraktionsgrades ein Begriff, der für die Tätigkeit der naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen keinen wissenschaftlichen Sinn hat. Voraussetzung für eine naturbegriffliche Metareflexion ist eine Krise im Selbstbewußtsein der Naturwissenschaften sowie im Wissenschaftsverständnis. Paslack hat jüngst festgestellt, daß das Krisenbewußtsein der modernen Selbstorganisationsforschung erst entstand, "nachdem das Forschungsprogramm der Selbstorganisation sich etabliert hatte und nicht schon während der ,Gründungsphase' ; erst als die ,Ur-Theorien' der modernen Selbstorganisationsforschung bereits konzipiert und die Analogien zwischen ihnen wahrgenommen worden waren, wurden sie als mögliche Kandidaten eines wissenschaftlichen Umdenkens und mithin als Auswege aus bestimmten Problemlagen der Forschungstradition proklamiert. "2 Tatsächlich läßt sich ab etwa 1979 (also nach Paslack ab dem Beginn der dritten, der "Globalisierungsphase") ein sprunghaftes Ansteigen jener Publikationen registrieren, die den Gedanken der Selbst organisation zu einem neuen, alle Wissenschaften betreffenden Paradigma erklären und dies unter anderem mit der Forderung nach einer notwendigen Revision des durch die klassische Naturwissenschaft geprägten Naturbegriffs begründen. Beispiele sind Hakens "Erfolgsgeheimnisse der Natur" (1981), Prigogines "Vom Sein zum Werden" und der "Dialog mit der Natur" (zusammen mit Stengers 1979, dt. 1980) sowie Jantschs "Selbstorganisation des Universums" (1979). Das Unternehmen einer Globalisierung einzelwissenschaftlicher Theorien ist zumeist janusköpfig: Anspruch und Angebot sind eng miteinander verknüpft. Einerseits ist da der Anspruch, mit einer innerhalb eines Faches entwickelten Theorie Phänomene beschreiben und erklären zu können, die eigentlich zum Gegenstandsbereich anderer Disziplinen zu zählen sind. Andererseits ist da das Angebot zu inter- oder transdisziplinärer Forschung durch die postulierte Übertragbarkeit einer einzelwissenschaftlichen Theorie. Die in dieser Doppelstruktur enthaltene Gegenläufigkeit von Objektabsorption und Theorien-/Methodendiffusion, die kennzeichnend für den vorliegenden Paradigmenwechsel ist, führt zwangsläufig auf eine Argumentationsebene, deren Abstraktionsniveau hoch genug ist, daß "Natur" zum Argument werden kann. Nicht zu Unrecht ist in diesem Zusammenhang immer wieder von einer "Wiederentdeckung der Natur" die Rede. Abgesehen von dem ,ästhetischen 2

Paslack (FN 1), S. 5f.

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Zungenschlag', der in dieser Formulierung mitschwingt (und der noch thematisiert werden soll), ist sie grundsätzlich doppeldeutig: Zum einen zeugt sie von dem Bewußtsein, etwas Vergessenes wiederaufzufinden. Zum anderen zeugt sie davon, daß etwas scheinbar Vertrautes durch die Einübung einer bislang unüblichen Betrachtungsweise eine neue Qualität (neue Qualitäten) offenbart. Was den Aspekt der Naturvergessenheit angeht, so betraf er vor allem den Mesokosmos, jenen lebensweltlichen Bereich der Natur also, der unserer sinnlichen und sinnhaften Gegenstandswahrnehmung direkt zugänglich ist. Grund dafür war vor allem die zunehmende Ausrichtung der Leitdisziplin Physik auf den kosmischen und den mikro kosmischen Bereich. Für die Konstruktion des mechanistischen Weltbildes stellten die Mannigfaltigkeit, die Unregelmäßigkeit und die Widersprüchlichkeit des meso kosmischen Naturausschnitts (Labor-)bedingungen dar, unter denen nur sehr begrenzt brauchbare Ergebnisse zustande kommen konnten. Nur durch den doppelten Rückzug ins unvorstellbar Große und Kleine schien jener ideale Tribunalcharakter herstellbar , der für den klassischen Weg der Naturerkenntnis ebenso notwendig wie charakteristisch ist. Einstein hat diese Tendenz der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit unüberhörbar platonischem Unterton und ebenso unüberhörbarem Pathos anläßlich einer Rede zu Max Plancks sechzigstem Geburtstag so formuliert: "Es treibt den feiner Besaiteten (Einstein meint Wissenschaftler und Künstler, J. W.) aus dem persönlichen Dasein heraus in die Welt des objektiven Schauens und Verstehens ( ... ) Zu diesem negativen Motiv aber gesellt sich ein positives. Der Mensch sucht in ihm irgendwie adäquater Weise ein vereinfachtes und übersichtliches Bild der Welt zu gestalten und so die Welt des Erlebens zu überwinden, indem er sie bis zu einem gewissen Grad durch dieses Bild zu ersetzen strebt. "3

Angesichts solcherart meta-physischer Betrachtungen erstaunt es nicht wenn die "Wiederentdeckung der Natur" durch die Naturwissenschaft heute apologetisch verfochten werden muß: "Die Fragestellungen der von uns bewohnten Welt zeigen sich als ebenso reich an Überraschungen und an theoretischen Gesichtspunkten, wie das unendlich Große und das unendlich Kleine. "4

Dem Pathos des Reduktionismus steht hier ein Pathos der ,Rettung der Phänomene' gegenüber, das prägend ist für die Wieder-Einübung eines aisthetischen Blicks der "neuen Naturwissenschaften" (G. Nicolis) auf bzw. in die 3 A. Einstein, Prinzipien der Forschung. Rede zum 60. Geburtstag von Max Planck (1918), in: ders., Mein Weltbild, Berlin 1977, S.107 - 110. 4 I. Prigogine / I. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, 6. Auflage, München 1990, S. III.

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Natur, deren scheinbare Vertrautheit nur noch durch die Kunst und den ptolemäischen Restbestand in uns "erinnernd bewahrt" wurde. Die "tote passive Natur" der klassischen Wissenschaft "die sich wie ein Automat verhielt" und zu einer zunehmenden Isolation des erkennenden Subjekts von seinem Erkenntnisgegenstand führte, wird ersetzt durch ein "zersplittertes Universum, das reich an qualitativen Unterschieden und potentiellen Überraschungen ist." Der "Dialog mit der Natur" soll nicht mehr bedeuten "von außen einen entzauberten Blick auf eine mond artige Wüste zu werfen, sondern vielmehr, eine komplexe und vielfältige Natur an Ort und Stelle nach ausgewählten Gesichtspunkten zu erforschen. "5 "Das Bild der Natur" erfährt eine Wandlung hin zum "Mannigfaltigen, zum Zeitbedingten, zum Komplexen".6 "Wohin wir auch blicken finden wir Entwicklung, Diversifikation und Instabilitäten. "7 Dieses Naturverständnis orientiert sich an "Modellen des Lebens" statt an "mechanistischen Modellen" (E. Jantsch). Bislang Vergessenes, Ausgeklammertes oder für randständig bzw. vernachlässigbar Erachtetes wird als dominant anerkannt. Die Natur der Selbstorganisation ist aktiv, sie ist instabil und bringt auf allen Ebenen durch Chaos-Ordnungs-Übergänge Neues hervor; sie bildet spontan in irreversiblen Prozessen sinnlich wahrnehmbare Strukturen, Formen, Muster aus, die in ihrer individuellen Ausprägung nicht beliebig vorhersagbar sind und zu deren Beschreibung in vielen Fällen die traditionellen Mittel (wie z. B. die euklidische Geometrie) nicht ausreichen. Sie zwingt zur Anerkennung ihrer Komplexität, ihrer Eigen-Gesetzlichkeit und -Zeitlichkeit - kurz sie ist "eigensinnig". Es ist eine Natur, die Eigenschaften sowohl eines Kunstwerks wie eines Künstlers hat. Es ist eine Natur, zu deren "Deutung" es eines zumindest partiell "hermeneutischen Naturverständnisses" bedarf. Der Gedanke ist keineswegs so abseitig, wie er zunächst erscheinen mag, was ein Blick in den "Dialog mit der Natur" belegt, wo es heißt: "Jede große Epoche der Wissenschaft hat ein bestimmtes Modell der Natur entwickelt. Für die klassische Wissenschaft war es die Uhr, für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die Epoche der industriellen Revolution, war es ein Motor, der irgendwann nicht mehr weiterläuft. Was könnte für uns das Symbol sein? Wir stehen vielleicht den Vorstellungen Platons näher, der die Natur mit einem Kunstwerk (Hervorhebung J. W.) verglich. Statt die Wissenschaft durch den Gegensatz zwischen Mensch und Natur zu definieren, sehen wir in der Wissenschaft eher eine Kommunikation mit der Natur. "8 5 6 7

Prigogine 1Stengers (FN 4), S. 16. Prigogine 1Stengers (FN 4), S. 10. Prigogine 1Stengers (FN 4), S.lO.

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IV. Über Natur und Kunst

Der von Prigogine und Stengers konjunktivisch vorsichtig angedeutete, und mit einem erklärenden Hinweis auf Platon versehene "Kunstwerk"-Charakter der Natur erweist sich schon beim ersten Lesen als semantischer Widerhaken. Denn dem heutigen Verständnis nach ist ein "Kunstwerk" vorrangig durch seinen primär ästhetischen Charakter definiert, und eben dieser ästhetische Charakter ließe eine klare Unterscheidung von jenen "Kunstwerken" zu, deren Modellfunktion als überholt angesehen wird, nämlich die "Uhr" der "klassischen Wissenschaft" und der "Motor" der "Wissenschaft des 19. Jahrhunderts". Der Verweis auf Platon - der sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Weltentstehungsmythos des Timaios bezieht - deutet jedoch an, daß mehr gemeint ist als "Ästhetik" im spezifisch modernen Sinne. Trotz der Vorrangigkeit der ästhetischen Komponente ist auch der heutige Kunstwerk-Begriff prinzipiell noch mehrdeutig. Im Sinne von "Artefakt" bezeichnet er immer noch als Allgemeinbegriff alles nicht von Natur aus Gewordene, bzw. positiv, das durch menschliche Kunst Hervorgebrachte. Und dies ist auch nach heutigem Verständnis nicht nur das ästhetische Kunstwerk, sondern beinhaltet ebenso - wie die Vokabeln Kochkunst, Baukunst etc. bezeugen - jede aufgrund eines erlernten Spezial- oder Fachwissens vermittels einer bestimmten Technik hergestellte Sache. Nun gibt es seit der Antike zwei sich kontrastierende Auffassungen darüber, ob ,das durch menschliche Kunst Hervorgebrachte' natürlich (im Sinne von naturgemäß) oder widernatürlich bzw. unnatürlich sei. Diese beiden widerstreitenden Auffassungen sind mit den beiden, für das abendländische Naturverhältnis charakteristischen Begriffen der "Mimesis" und der "Mechanik" verbunden. Dem aristotelischen Verständnis gemäß ist Kunst (techne) zunächst Ergänzung (Vollendung) und Nachahmung der Natur. 9 Der Begriff ist umfassend: epistemisch, technisch und ästhetisch. Ihre Begründung findet die Mimesisauffassung in einer Strukturidentität von menschlicher Kunsttätigkeit und natürlichem Werden, die durch die Finalität gegeben sei. Die Natur ist ebenso wie die Kunst zweckgerichtet. Interessant erscheint in unserem Zusammenhang aber auch die von AristoteIes behauptete Differenz zwischen Naturprodukten und Kunstwerken. Denn während Kunstwerke den Ursprung ihrer Ruhe und Bewegung außer sich haben, liegt er bei Naturprodukten in diesen selbst. Naturdinge unterscheiden sich von technisch Hergestelltem durch das Kriterium der Selbstbewegung. 1o Prigogine / Stengers (FN 4), S. 29. Vgl. Aristoteles, Phys. 199a. 10 Ebda., 192b.

8 9

Landscape revisited

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Die Bewegungslehre der aristotelischen Physik leitet nun allerdings auch zu jener Klasse von Kunstwerken über, die in der Antike als widernatürlich angesehen wurden. Bewegung im Sinne der aristotelischen Physik ist ein umfassender Begriff: Er bezeichnet alle Prozeßarten, die in der Natur vorkommen, insbesondere Entstehen und Vergehen, Anwachsen und Schwinden, qualitative Veränderung und Ortsbewegung. Die Ortsbewegung nimmt in dieser Reihe eine Sonderstellung ein, denn sie ist die einzige Bewegungsart, die sowohl gemäß der Natur als auch gegen die Natur einer Sache möglich ist. Alle anderen Bewegungen sind nur als natürliche Bewegungen möglich, d. h. der Ursprung dieser Bewegungen kann nur in der Natur der Dinge liegen. Der Kunst ist es also im Prozeßbereich der Orts bewegung gegeben, gegen die Natur wirken zu können und zwar durch "Zug, Stoß, Verschiebung und Verdrehung".l1 Die Kunst, die sich mit der Herstellung von "nützlichen Kunstwerken" als Hilfsmittel zur Erleichterung oder Ermöglichung von Ortsbewegungen beschäftigt, ist die Mechanik - und dabei ist die Möglichkeit der Erzeugung und Verwendung naturwidriger Bewegungen eingeschlossen. Natur und Kunstwerk können in der Mechanik also unvereinbare Gegensätze sein, denn Ziel der Mechanik ist auch eine Überlistung der Natur. "Mechane bedeutet schon im Altgriechischen die Maschine, insbesondere die Kriegsmaschine, die Mauern bricht, und die Theatermaschine, die Götter erscheinen und verschwinden läßt. Doch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes: List, geheimer Anschlag, Raffinement in der Wahl der Mittel, bleibt dabei lebendig: Wer mechanisiert, spinnt irgendwie Ränke. Sie bleibt auch lebendig bei denen, die es fachlich mit dem Maschinenwesen zu tun haben, sogar bei denen, die seine wissenschaftliche Theorie, die >Mechanik< als Teil der an gewandten Mathematik (... ) abhandeln. Sie sublimiert sich dann (und verschärft sich zugleich) zu der Überzeugung, daß die Mechanik diejenigen und nur diejenigen Bewegungen materieller Dinge zum Gegenstand habe, die der Mensch mit Absicht und mit künstlichen Mitteln erzeugt - im Unterschied zur Physik, die die Bewegungsvorgänge so, wie sie von >Natur< ablaufen, in rein theoretischer Haltung studiert. Ein Mechanema ist etwas Unnatürliches, und die Mechanik dient dazu, es als solches ins Werk zu setzen. "12 Diesem Verständnis von Mechanik entsprechend verwundert es kaum, daß die griechische Antike mechanische Kunstwerke nicht als adäquate Veranschaulichungen des Kosmos auffassen konnte. Es sind zwar Zeugnisse einer epistemischen Mechanik belegt, durch die bestimmte natürliche Phänomene rekonstruiert wurden - berühmtestes Beispiel dürfte die archimedische Armillarsphäre sein - doch diese naturnachahmenden mechanischen Modelle hatten lediglich den Rang eines "defizienten Behelfs" (Blumenberg). Denn die Armillarsphäre konnte als Nachbildung der Himmelsbahnen zwar zur Erklärung der Konstellationsphänomene beitragen, und damit ein Verständnis für 11

12

Ebda.,243a. H. Freyer, Gedanken zur Industriegesellschaft, Mainz 1970, S. 35.

110

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die Konstruktion des kosmischen Bauplanes vermitteln, die Frage nach dem Bewegungsantrieb der sich auf den Bahnen bewegenden Himmelskörper blieb davon jedoch unberührt. Das Phänomen der primären Selbstbewegung war nicht mechanisch erklärbar, denn es betraf den organismischen Charakter des Kosmos. "Im Timaios wird uns eine Welt konstruktion vorgeführt, die abgelesen scheint an einer sog. Armillarsphäre ( ... ) und doch ist das, was da der Demiurg bildet, als Ganzes ein "Lebewesen", eine organische Einheit. "13 Der Prozeß, der als "Mechanisierung des Weltbildes" in der Neuzeit beschrieben wurde, hatte somit zwei Hauptwiderstände zu überwinden: 1. Das Image des" Widernatürlichen", das der Mechanik (bis zum Zeitalter von Hobbes) anhaftete.

2. Die Auffassung, daß ein mechanisches Modell des Universums nur einen partiellen Erklärungswert hat, da die Welt "beseelt" ist und damit als Lebewesen (zoon) die Fähigkeit zur Selbstbewegung besitzt. Daß beide Widerstände erfolgreich überwunden wurden ist bekannt, und die Bilder des vermittels der mechanistischen Modellvorstellung ,erkannten' Universums sind zu festen Topoi unseres Denkens geworden. Alle diese Topoi erzählen von einer depotenzierten, instrumentalisierten und heteronomen Natur. Dieser Natur setzen Prigogine und Stengers eine "erneuerte Natur" entgegen, die sich am antiken, durch Autonomie bestimmten PhysisBegriff orientiert: "In diesem Sinne ist unsere Wissenschaft endlich zu einer physikalischen Wissenschaft geworden, denn sie hat endlich eingeräumt, daß die Dinge, und nicht nur die belebten Dinge, autonom sind. In der Einleitung (zum "Dialog mit der Natur", J. W.) sprachen wir von einem "neuen Zustand der Natur", der zum Teil auf menschliche Aktivität zurückzuführen ist. Das Wachstum dieser neuen, von Maschinen und Techniken bevölkerten Natur, die Entwicklung von sozialen und kulturellen Praktiken und das Anwachsen der Städte sind ebenso wie das Wachstum der Pflanzen kontinuierliche, autonome Prozesse, in die wir sicherlich modifizierend und organisierend eingreifen können, deren eigenes Entwicklungstempo wir jedoch respektieren müssen. "14 Es gilt eine Welt respektieren zu lernen, "die wir als eine natürliche verstehen können, sobald wir verstehen, daß wir ein Teil von ihr sind, eine Welt aus der sich jedoch die alten Gewißheiten verflüchtigt haben. "15 - Eine Welt also, die repotenziert ist, deren Instrumentalisierung Grenzen gesetzt sind, und die grundsätzlich autonom ist.

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H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, S. 71. Prigogine / Stengers (FN 4), S. 293. Prigogine / Stengers (FN 4), S. 294.

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Aus dieser Perspektive erhellt sich nun auch die oben zitierte Rede vom platonischen "Kunstwerk" Natur. Denn in der wissenschaftlichen Annäherung an eine solche Natur gewinnt der antike Theoria-Begriff neue Aktualität. Wissenschaft (episteme) gehörte, wie bereits angedeutet, in der Antike zur Sphäre der Künste (techne). Sie stellte das sie tragende Wissen zu Verfügung und stand so ganz im Dienste der Bedürfnisbefriedigung und der Notwendigkeit. 16 "Theoria" dagegen bedeutete "anschauende Betrachtung", die frei von Zwecken auf das Ganze gerichtet ist. Im Transzendieren der Zweckhaftigkeit führt die theoria tou kosmou heraus aus der Physis der Einzeldinge zur Physis des Ganzen und damit zum "Anschauen, das dem Gotte zugewendet ist und so an ihm Teil gibt. "17 Entkleidet man diese Perspektive ihrer Numinosität, so bleibt die zweckfreie Schau der Natur als einer Totalität. In dieser Formulierung scheint der grundsätzlich "ästhetische" Charakter des "theoretischen Blicks" auf. Nicht nur daß die ästhetische Erfahrung "Interesselosigkeit" voraussetzt, sondern auch die "rezeptive Tätigkeit, d. h. das erkennende Sehen und sehende Wiedererkennen, in dem sich die kontingente äußere Welt der ästhetischen Wahrnehmung als ein geordnetes Ganzes, als natura naturata erschließt"18, ist darin enthalten. Nun soll hier keineswegs behauptet werden, die Selbstorganisationsforschung kompensiere den Verlust des traditionellen Naturbegriffs durch den Rückzug auf die ästhetisch-theoretische Schau einer "respektierten" autonomen Natur. Aber es fällt zumindest auf, daß das Selbstbewußtsein der "neuen Wissenschaft" und ihr Naturbegriff von ästhetischen Akzentuierungen durchsetzt ist. Wolfgang Welsch hat bereits auf einige ästhetische Phänomene im Wissenschaftsbereich hingewiesen und in diesem Rahmen auch auf den Zusammenhang zwischen dem "Vordringen der neuen Paradigmen der Autopoiesis und der Selbstorganisation" und dem zunehmenden wissenschaftsimmanenten Bewußtsein des "ästhetisch-poietischen Charakters allen Erkennens" aufmerksam gemacht. 19 Ich möchte im folgenden am Beispiel des Hauptwerks von Benoit Mandelbrot einige Aspekte ansprechen, die auf naturästhetische Perspektiven innerhalb der Selbstorganisationsforschung hinweisen.

16 Vgl. J. Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a.M. 1974, S.146. 17 Ritter (FN 16), S. 144f. 18 H. R. Jauß, Aisthesis und Naturerfahrung, in: J. Zimmermann (Hrsg.), Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 155. 19 W. Welsch, Kreativität heute, in: Universitas 6 (1991), S. 587.

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V. "The Beauty of Fractals"

Zu jenen Werken, die den "paradigmatic shift" zum "Weltbild der Selbstorganisation" maßgeblich beeinflußten, gehört sicher Benoit Mandelbrots "Fraktale Geometrie der Natur".2o Dieses ungewöhnliche Buch wird von Mandelbrot selbst als "Manifest", "Beispielsammlung" und "Essay" bezeichnet. Alle drei Bestimmungen sollten auch bewußt wahrgenommen werden, da sie den "ästhetischen Zungenschlag" Mandelbrots deutlich machen. "Manifeste" waren im 20. Jahrhundert fast ausschließlich Künstlermanifeste, in denen sich eine Stilbewegung durch die Vekündung eines neuen ,,-ismus" von anderen abzugrenzen hoffte. Manifeste sind öffentliche Grundsatzerklärungen und programmatische Aufrufe mit Bekehrungsanspruch. Die Bestimmung "Beispielsammlung" verweist u. a. auf die Tradition der architektonischen Musterbücher und als "Essay" wird eine literarische Zwitterform bezeichnet, die zwischen wissenschaftlichem Anspruch und geistvoller, möglichst allgemeinverständlicher aber kunstvoll-eleganter Darstellung oszilliert. Und kunstvoll ist dieses Buch - zumindest im Sinne Mandelbrots - denn Inhalt und Form bilden eine "fraktale" Einheit. Auch der Titel des Werkes ist einer kurzen Reflexion wert. Denn den beiden Vorläufern, die Mandelbrot veröffentlichte: "Fractals: form, chance and dimension" (1977) und "Les objects fractals: forme, hasard et dimension" (1975) fehlt der provokant-programmatische Bezug auf die Natur. Auch in der "Fraktalen Geometrie der Natur" ist - worauf Mandelbrot hinweist - außer einer Tafel, die aus Perrins "Die Atome" von 1914 entnommen ist und physikalische Brownsche Bewegungen darstellt, keine "natürliche Erscheinung"21 abgebildet. Gezeigt werden fast ausschließlich computergenerierte Grafiken unterschiedlicher Klassen von Fraktalen. Drei Ausnahmen gibt es allerdings: Die Tafeln Cl, C3 und C16 im farbigen Mittelteil des Buches. Sie sind nach Mandelbrot "Beispiele dafür, daß schon in alten Kunstwerken die fraktale Geometrie eine Rolle spielt. "22 - Eine Rolle für das Naturverständnis sei hinzugefügt, denn alle drei angeführten Darstellungen weisen darauf hin: Tafel Cl zeigt einen "architectus divinus" von der Titelseite einer Bible moralisee aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der mit dem Zirkel in der Hand "Himmel und Erde/Sonne und Mond und alle Elemente" schafft. Tafel C3 zeigt eine als "die Sintflut" betitelte Zeichnung Leonardos, die "einen Wasserschwall als Überlagerung zahlreicher, unterschiedlich großer Wirbel darstellt. " 20 B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, BasellBoston/Beriin 1987 u. 1991. 21 Mandelbrot (FN 20), S. 24. 22 Mandelbrot, Einleitung zu den Tafeltexten im farbigen Mittelteil der "Fraktalen Geometrie der Natur". Die folgenden Zitate zu den Tafeln Cl, C3 und C16 stammen jeweils aus den Tafeltexten dieses nicht paginierten Mittelteils.

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Tafel C16 reproduziert den Hokusai-Holzschnitt "Die Woge" der "beispielhaft belegt" daß es dem Künstler "Wirbel aller Art sehr angetan hatten. "23 Alle drei Abbildungen sind für Mandelbrot Belege dafür, daß die Natur zwar schon immer auch "fraktal" gesehen wurde, daß diese Sichtweise durch die Dominanz der euklidischen Geometrie jedoch unterdrückt worden war. Tatsächlich ist festzustellen, daß erst mit der Kategorie des "Erhabenen" im 18. Jahrhundert eine Denkform geschaffen wurde, die eine ästhetische Würdigung des Ungestalten (Amorphen) erlaubte. Daß diese Entwicklung im Zeitalter Newtons stattfand, spricht allerdings gegen die Auffassung Mandelbrots, daß die alleinige ,Schuld' für die jahrhundertelange Ausgrenzung dieses Phänomen bereichs einem Mangel an geometrischer Beschreibbarkeit zugewiesen werden kann. Wie jüngere Untersuchungen dargestellt haben, war es vor allem die Physikotheologie des beginnenden 18. Jahrhunderts, die den empirischen Versuch eines Nachweises der durchgängigen Geordnetheit und Zweckmäßigkeit alles Geschaffenen (also auch des scheinbar Ungeordneten oder Amorphen) zu erbringen trachtete, die zu einer ästhetischen Akzeptanz dieser Naturerscheinungen führte. 24 Überhaupt kann man das 18. Jahrhundert als jenen Zeitraum bezeichnen, in dem die "euklidische Natur" ästhetisch durch eine "nichteuklidische" ersetzt wurde. Bestes Beispiel ist der Umbruch vom Französischen Garten zum Englischen Landschaftsgarten. 25 Ästhetisch entdeckt wurde die unregelmäßige, "fraktale" Natur also bereits vor rund 300 Jahren. Nur in das Reich der Naturwissenschaften und der Mathematik hat sich die Kunde von dieser Entdeckung erst vor kurzem herumgesprochen. 26 23 Die Tatsache, daß wir heute alle drei Kunstwerke unterschiedslos rein ästhetisch betrachten können, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Sichtweise (mit gewissen Einschränkungen) eigentlich nur für die natural-sublime-Szenerie Hokusais gerechtfertigt ist. Bereits bei Leonardo dürfte der ästhetische Sinn gleichberechtigt neben einem epistemischen stehen und in der "architectus divinus"-Darstellung dominiert der an agogische Sinn den subjektiv-ästhetischen eindeutig. 24 Vgl. R. Groh / D. Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt a. M. 1991. 25 Vgl. V. Hammerschmidt / f. Wilke, Die Entdeckung der Landschaft. Englische Gärten des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1990. 26 Es erstaunt daher nicht, daß selbst der ansonsten recht gut informierte Wissenschaftsjournalist und Chronist der Chaosforschung fames Gleick in seinem Buch "Chaos. Die Ordnung des Universums", München 1988 auf S.174f. folgende falsche Einschätzung wiedergibt: "Mittels ästhetischer Begriffe und Werte brachte die neue Mathematik der Fraktalgeometrie die Naturwissenschaft in Einklang mit der typisch modernen Vorliebe für die ungezähmte, unzivilisierte, nicht domestizierte Natur. Früher standen Regenwälder, Wüsten, Dickicht und Ödland stellvertretend für alles, was die Gesellschaft sich unterjochen sollte. Wollten die Menschen aus der Vegetation ästhetisch Genuß ziehen, so schauten sie sich Gärten an. John Fowles drückte dies in einer Beschreibung Englands im 18. Jahrhundert folgendermaßen aus: ,Diese Epoche hegte für die ungeregelte oder ursprüngliche Natur keinerlei Sympathie. Sie bedeutete aggressive Wildnis, eine garstige, erdrückende Erinnerung an den Sündenfall, an die ewige Verbannung des Menschen aus dem Garten Eden ... Selbst die Naturwissenschaften der Zeit ... waren der ungebändigten Natur im Grunde feindlich eingestellt

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Und es verwundert nicht, daß sie dort ebenfalls unter ästhetischen Vorzeichen steht, wie ein Blick auf Seite 35 von Mandelbrots Buch zeigt, wo der Autor sein ästhetisches Bekenntnis ablegt, das in der Ablehnung der Architektur der klassischen Moderne zugunsten einer Präferenz für die Architektur der Beaux Arts gipfelt. Interessant erscheint die Begründung dieser Geschmackspräferenz: "Die fraktale ,neue geometrische Kunst' zeigt eine erstaunliche Verwandtschaft mit den Gemälden großer Meister oder mit der Architektur der Beaux Arts. Ein offensichtlicher Grund besteht darin, daß die klassischen bildenden Künste, ebenso wie die Fraktale, viele verschiedene Längenskaien enthalten. Aus diesen Gründen und auch weil die fraktale Kunst von den Anstrengungen herrührt die Natur zu imitieren, um deren Gesetze zu erraten, kann es sehr gut sein, daß sie bereitwillig akzeptiert wird. Sie ist uns nicht gänzlich unvertraut. "27

Mandelbrot begründet die ästhetische Akzeptanz der fraktalen Formen aus ihrem mimetischen Charakter. Dabei macht er sich die bereits oben angesprochene Doppeldeutigkeit des Kunst-Begriffs zunutze, der zwischen den Bedeutungen "Wissenschaft" und "Kunst im ästhetischen Sinne" oszilliert. Resultat ist der suggestive Eindruck, daß die klassische Kunst "natürlicher" sei als die an der euklidischen Geometrie orientierte Moderne. Das Mimesisargument weist zugleich in eine Richtung, die auch von anderen Autoren des Selbstorganisationsparadigmas immer wieder thematisiert wird: die Frage nach dem objektiv Schönen in der Natur (s. unten). Doch wenden wir uns zuvor noch weiteren Aussagen in der Einleitung von Mandelbrots "Leipziger Allerlei"28 zu, die seine ,epistemische Naturästhetik' deutlicher machen. Mandelbrot wendet sich mit dem Diktum "Sehen heißt glauben"29 vehement gegen die Tendenz der klassischen Physik und der modernen Mathematik, der sinnlichen Wahrnehmung größtes Mißtrauen entgegenzusetzen. Die von "Programmierkünstlern" für sein Buch hergestellten "suggestiven Illustrationen" sieht er als "wichtiges Hilfsmittel", um "die Intuition zu entwickeln", die notwendig ist, um ein "Verständnis" für die Beurteilung von Modellen auszubilden. "Grafiken sind wunderbar, um Modelle an die Realität anzupassen. Wenn ein Zufallsmechanismus aus analytischer Sicht mit den Daten übereinstimmt, aber Simulationen des Modells überhaupt nicht ,real' aussehen, dann sind die analytiund sahen in ihr bloß etwas, das es zu zähmen, zu klassifizieren, zu benutzen und auszubeuten galt' (J. Fowles, A Maggot, Boston 1985, S. 11) Mit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aber hat sich die Kultur gewandelt, und mit ihr wandelte sich die Wissenschaft. " 27 Mandelbrot (FN 20), S. 35. 28 Als solches bezeichnet er sein Buch in der Danksagung auf S. 467. 29 Mandelbrot (FN 20), S. 33f.

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sehen Vereinbarungen suspekt. Eine Formel kann sich nur auf einen Teilaspekt der Beziehung zwischen Modell und Realität beziehen, aber das Auge hat eine enorme Integrations- und Entscheidungskraft. "30

Alexander Baumgarten hätte seine Freude an diesen Sätzen gehabt. Die von Mandelbrot formulierte Hochschätzung der sinnlichen Wahrnehmung ist allerdings ästhetisch im doppelten Sinne. Neben dem epistemischen Aspekt spielt auch die Schönheit eine Rolle: die "fraktale Geometrie enthüllt ( ... ) ein bis jetzt verborgenes Antlitz der formalsten Kapitel der Mathematik: eine Welt voller Schönheit." Was von Mandelbrot hier als "schön" bezeichnet wird, ist die "Galerie von Monstern", die von der modernen Mathematik als Nachweis dafür angesehen wurde, "daß der Variantenreichtum der reinen Mathematik weit über die einfachen, in der Natur sichtbaren Strukturen hinausgeht" .31 Mandelbrots Anliegen besteht darin, anhand seiner "fraktalen Geometrie" das Gegenteil aufzuzeigen; denn "die Natur hat - wie Mandelbrot herausarbeitet - mit den Mathematikern ihren Spaß getrieben. Vielleicht fehlte es den Mathematikern des vorigen Jahrhunderts an Vorstellungskraft, der Natur jedenfalls nicht. Von den gleichen pathologischen Strukturen, die die Mathematiker erfanden, um sich vom Naturalismus des 19. Jahrhunderts zu lösen, erweist sich nun, daß sie vertrauten, uns umgebenden Objekten innewohnen. "32 Und Mandelbrot fügt in der ihm eigenen Art selbstbewußt hinzu: "Kurz, ich habe die Beobachtung von Blaise Pascal bestätigt, wonach sich die schöpferische Phantasie eher erschöpft als die Natur. "33 Der Topos, der von Dyson und Mandelbrot hier verwendet wird, ist einer Erläuterung wert, da er eine Naturauffassung widerspiegelt, die für das Selbstorganisationsparadigma von zentraler Bedeutung ist: Gemeint ist der Topos von der unerschöpflichen Kreativität der Natur, ihrer Fähigkeit ständig Neues hervorzubringen. In der scholastischen Naturphilosophie wurde ausgehend von der, aus der Rezeption der arabischen Aristotelesüberlieferung gewonnenen Unterscheidung zwischen "Naturprodukten" und "Kunstprodukten" ein Begriffspaar eingeführt, das die Natur in eine "natura naturans" und eine "natura naturata" teilte. 34 Vereinfacht ausgedrückt war die "natura naturans" für die Scholastiker Gott während die "natura naturata" den Bereich des Geschaffenen, die Körperwelt bezeichnete. In der Renaissance fand ein Nivellierungsprozeß Mandelbrot (FN 20), S. 34. F. J. Dyson, Characterizing Irregularity, in: Science, 12. Mai 1978, Bd.200, Nr.4342, S. 677f., zit. nach Mandelbrot (FN 20), S.15. 32 Ebda. 33 Mandelbrot (FN 20), S. 16. 34 Vgl. H. Siebeck, Über die Entstehung der Termini natura naturans und natura naturata, in: Arch. Gesch. Philos. 3 (1890), S. 370 - 378. 30

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statt, den man (ebenfalls stark vereinfacht) als Profanisierung der natura naturans bei gleichzeitiger Sakralisierung der natura naturata zusammenfassen kann. Die Formel, die diesen Prozeß auf einen Nenner bringt stammt von Spinoza: Deus sive natura. Eng verbunden mit dieser Entwicklung ist die Vorstellung von der Natur als Künstlerin, die ebenfalls auf einen Aristotelestext rückführbar ist, wo sie allerdings auf die Einzelnaturen beschränkt ist. 35 Im Mittelalter fand eine Verschmelzung dieser Vorstellung mit der platonischen Weltseele statt, wie sich bei Alanus de Insulis und bei Arnaldus de Villanova nachweisen läßt, bei dem es heißt: "natura cuius sapientiae non est finis, omnium horum artifex est. "36 Entscheidend für uns ist der Einfluß, den die Auffassung der natura naturans/naturata und die Vorstellung der Natur als Künstlerin für die Mimesisauffassung der Kunst hatte. Denn ab der Wende zum 18. Jahrhundert wird in der Kunsttheorie zunehmend auf die innere wirkende Kraft der Natur verwiesen, die z. B. von Shaftesbury als "genius" bezeichnet wird. In der Folge kommt es im Rahmen der Formulierung der Genieästhetik zu einer radikalen Umdeutung des Naturnachahmungspostulats. Kunst soll nicht mehr Nachahmung der äußeren Naturformen, sondern eine Nachahmung der schöpferischen, Form hervorbringenden Naturkraft sein. "Kunst ist keine Darstellung nach der Natur, sondern eine Hervorbringung wie die Natur." 37 August Wilhelm Schlegel hat dies an der Wende zum 19. Jahrhundert wie folgt gefaßt: "Das heißt nämlich, sie (die Kunst) soll wie die Natur selbständig schaffend, organisirt und organisirend lebendige Werke bilden, die nicht erst durch einen fremden Mechanismus, wie eine Pendeluhr, sondern durch innewohnende Kraft, wie das Sonnensystem, beweglich sind, und vollendet in sich selbst zurückkehren. "38

Die Zeiten der Genieästhetik sind vorbei, und das Vertrauen in die menschliche Schöpfungskraft ist - zumindest was ihre Analogie zur Natur betrifft stark angekratzt; nicht nur im Bereich der ästhetischen Kunst, sondern vor allem im Bereich der Technik ist sie für den heutigen Menschen nicht so sehr Grund zur Euphorie, als für eine skeptisch-kritische Haltung. Parallel dazu ist eine Neigung zu beobachten die Attribute des Genies wieder auf die (äußere) Natur rückzuprojezieren. Die kreative Natur des Selbstorganisationsparadigmas trägt eindeutige Züge der von der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts in den Menschen verlagerten "natura naturans". Sie ist das "Originalgenie" des ausgehenden 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Vgl. Aristoteles, De gen. an. A 715a sqq. Zit. nach H. Nobis, Frühneuzeitliche Verständnisweisen der Natur und ihr Wandel bis zum 18. Jahrhundert, in: Arch. f. Begriffsgesch. 11 (1967), S. 42, Anm. 19. 37 Vgl. H. A. Korff, Geist der Goethezeit, Bd. 1, Leipzig 4. Aufl. 1985, S.134. 38 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Erster Teil (1801 1802): Die Kunstlehre, Heilbronn 1884, S. 102. 35 36

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Mandelbrot über das Werk von Wissenschaftlern wie Koch, Sierpienski, Cantor, Peano und Hausdorff folgendes schreibt: "Wir werden sehen, daß sich hinter ihren wildesten Schöpfungen Welten verbergen, die ihnen und Generationen von Nachfolgern unbekannt blieben, aber für alle interessant sind, die die Natur feiern, indem sie sie nachzuahmen versuchen. "39

VI. Die Frage nach dem Schönen: Äußerungen Im Rahmen der Wiederentdeckung der schöpferischen Natur findet eine Wiederaufnahme der Suche nach dem Schönen in der Natur statt - und zwar von naturwissenschaftlicher Seite aus. Wolfgang Welsch hat dieses Phänomen nicht zu Unrecht als "Abwanderung der Schönheit in die Wissenschaft" bezeichnet. 40 Ich will mich an dieser Stelle darauf beschränken, einige Äußerungen im Sinne einer Symptomauflistung anzuführen. Beispiel 1 :

1990 fand an der Universität Bremen eine Ausstellung zum Thema "Natur und Form: Schönheit und Gesetzmäßigkeiten rhythmischer Strukturen" statt. Wie der Text im Vorwort des Begleitbandes zum Ausdruck bringt, fand die Zusammenstellung der Exponate unter zwei Gesichtspunkten statt: einem wissenschaftlichen und einem ästhetischen. Weiter heißt es: "Wir sind mit dem ästhetischen Aspekt und dem Begriff "Schönheit" naiv umgegangen, d. h. wir haben unsere eigenen ästhetischen Empfindungen bei der Betrachtung der Muster als Maßstab genommen - in der Hoffnung, daß die Besucher der Ausstellung ähnlich empfinden. Die Beziehungen zwischen den ausgestellten Strukturen und Motiven in der bildenden Kunst treten ohnehin deutlich zutage. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt Kunstformen gibt, die nicht auf irgendeine Weise von natürlichen Strukturen abgeleitet sind. "41

Beispiel 2:

James Gleick zitiert in seinem Buch "Chaos - die Ordnung des Universums" den deutschen Physiker Gert Eilenberger mit folgenden Worten: "Woher kommt es, daß die Silhouette eines sturmgepeitschten, kahlen Baums vor einem winterlichen Abendhimmel schön anmutet, die Silhouette eines Mehrzweck-Universitätsgebäudes dagegen nicht, trotz aller Anstrengungen des Archi-

Mandelbrot (FN 20), S. 16. Welsch (FN 19), S. 587. 41 L. Rensing / A. Deutsch (Hrsg.), Natur und Form: Schönheit und Gesetzmäßigkeiten rhythmischer Strukturen, Universität Bremen (1990). 39

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Joachim Wilke tekten? Mir scheint, die Antwort ergibt sich, wenn vielleicht auch ein wenig spekulativ, aus den neuen Einsichten in dynamische Systeme. Unser ästhetisches Empfinden wird angeregt durch das harmonische Gefüge von Ordnung und Unordnung, wie es uns in natürlichen Gegenständen begegnet - in Wolken, Bäumen, Gebirgszügen oder Schneekristallen. Ihre Formen gehen allesamt auf dynamische Prozesse zurück, die physikalische Gestalt angenommen haben, und besondere Formen von Ordnung und Unordnung sind typisch für sie. "42

Beipiel3:

In einem Katalogbeitrag zu der 1985 veranstalteten Ausstellung "Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst" schreiben Ilya Prigogine und Serge Pahaut: "Die Entstehung, das Erschaffen von Formen wird zu einem Thema der wissenschaftlichen wie der künstlerischen Vorstellungskraft: Die Vorstellung, daß Strukturen eine Geschichte haben, trennt die Wissenschaft nicht mehr von der Kunst. Das Wissenschaftliche ist heute nicht mehr das Entdecken toter Formen, so wie man es früher gesehen hat: es hat nun Teil an der Schaffung der Welt. "43

Beispiel 4:

Im selben Band schreibt Gn!goire Nicolis unter der Überschrift "Symmetriebrüche und Perzeption von Formen": "Ziel ( ... ) ist es, die Aufmerksamkeit ( ... ) auf die Tatsache zu richten, daß die Formen und Rhythmen im Universum des Künstlers in Wirklichkeit tief in den Naturgesetzen verankert sind. Wir werden sehen, daß zahlreiche Phänomene der Physik und der Chemie durch ihre Eigendynamik komplexe, raum-zeitliche Strukturen hervorbringen. Bei zahlreichen Gelegenheiten bricht die Natur die Symmetrien, die vorher vorhanden waren, führt die Bewegung dort ein, wo es keine Zeit gab, läßt den Zufall spielen, wo Ordnung und Determinismus die Regel waren. Weit davon entfernt, Antagonist der Natur zu sein, erscheint die Kunst daher als ihr Widerschein und ihr Modell. ( ... ) Der Künstler hat intuitiv schon immer gefühlt, daß die Realität nur komplex sein kann."44

Beispiel 5:

Am weitesten vorgewagt hat sich bisher der Chemiker und Chaostheoretiker Friedrich Cramer. Er widmete 1988 in seinem Buch "Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen"45 mehrere Kapitel naturästhetischen Fragestellungen. Die von ihm dargestellten Themen sind: 42

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J. Gleick, Chaos - Die Ordnung des Universums, München 1988, S. 174f. I. Prigogine / S. Pahaut, Die Zeit wiederentdecken, in: M. Baudson (Hrsg.), Zeit.

Die vierte Dimension in der Kunst, Weinheim 1985, S. 32. 44 G. Nicolis, Symmetriebrüche und Perzeption von Formen in: Baudson (FN 43), S.35f. 45 F. eramer, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988; s. dort vor allem die unter Abschnitt 6 "Die Welt ist harmonisch" behandelten Kapitel: "Die Harmonie der Sphären - Kepler hatte doch recht" (S. 182ff.), "Das

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Das durch Kepler aus der Antike vermittelte harmonische Kosmologiedenken, wie es auch von P. H. Richter verschiedentlich behandelt wurde (s. unten); die Fraktal-Ästhetik, wie sie vor allem von H. O. Peitgen und P. H. Richter in ihrem Buch "The Beauty of Fractals"46 einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde; die zahlentheoretische Analyse botanischer Strukturen (Fibonacci-Reihe, Goldener Schnitt). 47 Und Cramer gelangt zu einer Reihe von Fragen, die an dieser Stelle zitiert sein sollen: "Ist Schönheit eine «Flucht nach vorne»? Entsteht Schönheit, wenn ein dynamisches System gerade noch dem Chaos ausweichen kann? Ist also Schönheit eine Gratwanderung? Jetzt weiß ich erst, was Rosenknospe sei, Jetzt da die Rosenzeit vorbei. Ein Spätling noch am Stecke glänzt, Die ganze Blütenwelt ergänzt.

(1. W. von Goethe)

Ist die "Sterbende Rose" nicht nur ein Symbol höchster, auf die Spitze getriebener Schönheit, sondern sogar ein Zugang zu einer objektiven Ästhetik? Dann wäre Schönheit nicht nur als subjektive Wahrnehmung zu verstehen, sondern als ein dieser Wahrnehmung zugrunde liegendes, mathematisch begründbares Gesetz, auf der mathematisch fixierbaren Grenze zwischen Ordnung und Chaos? Ist "Schönheit" nicht nur eine Frage der Rezeption und der Konvention, sondern eine den Dingen und der Welt inhärente Eigenschaft? Hat die Welt am Rande des Chaos eine grundSätzlich harmonische Struktur?"48 Seine Antworten auf diese Fragen nach einer objektiven Naturästhetik hat Friedrich Cramer inzwischen gegeben - in einem anregenden, wenngleich zur Kritik herausfordernden Buch, das er zusammen mit Wolfgang Kaempfer 1992 unter dem Titel "Die Natur der Schönheit"49 publiziert hat. Eine DiskusApfelmännchen - Über die Schönheit von Fraktalen" (S. 185ff.), "Warum ist die Natur schön? - Von Blüten und Früchten" (S. 192ff.), "Die zerbrechliche Schönheit - ein neuer Kunstbegriff" (S. 203ff.). 46 H. O. Peitgen / P. H. Richter, The Beauty of Fractals. Images of Complex Dynamical Systems, Heidelberg/New York/Tokyo 1986. 47 S. zu diesem Thema vor allem folgende Aufsätze: P. H. Richter / R. Schrammer, Leaf Arrangement-Geometry, Morphogenesis and Classification, in: Naturwiss. 65 (1978), S. 319 - 327; P. H. Richter / H. J. Schalz, Der Goldene Schnitt in der Natur. Harmonische Proportionen und die Evolution, in: B. O. Küppers (Hrsg.), Ordnung und Chaos, München/Zürich, 1987 u.ö., S.175 - 214; P. H. Richter / H. Dullin, Der Goldene Schnitt in der Biologie, in: Rensing I Deutsch (FN 41), S. 107 - 116. 48 Cramer (FN 45), S. 202f. 49 F. Cramer / W. Kaempfer, Die Natur der Schönheit. Zur Dynamik der schönen Formen, Frankfurt a. M./Leipzig 1992.

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sion der darin enthaltenen Thesen steht noch aus und auch hier ist nicht der Ort dazu. Nur soviel sei gesagt: Die von Cramer und Kaempfer verfaßte "naturwissenschaftliche Ästhetik" ist der vorläufige Höhepunkt und die konsequente - wenngleich streitbare - Fortsetzung einer Geschichte der durch die Selbstorganisationsforschung wiederbelebten Naturästhetik. VIII. Schlußwort

Unsere These war, daß der sich zur Zeit im Umbruch befindliche Naturbegriff ein wichtiger "Katalysator" für jenen Umwertungsprozeß ist, in dem das Krisenbewußtsein der Gegenwart seine Verlustkategorien positiv zu deuten sucht. Daß der Naturbegriff dafür tauglich ist, liegt unserer Auffassung nach nicht zuletzt an dem ästhetischen Wert, den er durch das Selbstorganisationsparadigma zugemessen bekommt.

Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus Zur Selbstorganisation rhythmischer Valenzen

Von Hans-Christian von Dadelsen, Hamburg - Was werden mir die Könige dieser Welt für meine Erfindung zahlen, die ihnen erlaubt, sich zu erinnern, was hätte sein können und nicht war? - Nichts, Maestro Valerio, denn es interessiert sie nur, zu wissen, was wirklich ist und sein wird. Carlos Fuentes, aus "Terra nostra"l ... Aber des Affen Tanz halben, so Ihr begehrt, Euch zu machen, hab ich den hiemit ungeschickt aufgerissen. Denn ich hab lang kein Affen gesehen. Albrecht Dürer, aus einem Brief2 an Felix Frey (Nürnberg, 6. Dezember 1523)

I. Falsche und richtige Spuren

1. Vorbemerkung Der Reiz der falschen Spur liegt darin, das "Gespür" für die richtige Spur zu schärfen. Im Terrain einer Spurensuche nach jenen Wirkungskräften, die hier eine Harmoniefolge, dort einen Rhythmus oder gar eine ganze Musikgeschichte bilden, mag das ein Ansatz sein, der die Neugier des Lesers nicht frühzeitig abtötet oder im Dschungel der Strukturen ersticken läßt. Auf Grund ihres immateriellen und nichtgegenständlichen Wesens entziehen sich musikalische Wahrheiten und Wirkungskräfte dem direkten Zugriff; dem Elementarteilchen, ja dem Neutrino vergleichbar können sie zumeist nur indirekt an signifikanten Spuren, die sie hinterlassen, identifiziert werden. Und was im Bereich der Naturwissenschaft ein Anachronismus wäre - daß z. B. Gelehrte der Renaissance sich zutrauten, sich mit dem Erkenntnisstand ihrer Zeit den Carlos Fuentes, Terra Nostra, übertr. von Maria Bamberg, Stuttgart 1979, S. 812. Zitiert nach: Albrecht Dürer, Schriften und Briefe (Hrsg. von Ernst Ullmann), Leipzig 1978, S. 132. 1

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Problemen der Quantenmechanik zu stellen - gehört in der Sphäre des musikalischen Blicks zum täglichen Handwerk: der so visionäre wie menschliche, so emotionale wie abstrakte Charakter von Musik provoziert immer neue Fehleinschätzungen letzter musikalischer und musikgeschichtsbildender Wahrheiten. Lassen wir also zunächst die Parade ästhetischer Wirren und Mißverständnisse Revue passieren; die verborgeneren Koordinaten musikalischer Selbstorganisation können damit, hoffentlich nicht ohne Charme, auf ihren nachfolgenden Auftritt vorbereitet werden. Und im besten Falle dürfte auch der nicht vom Musikalischen kommende Leser zu einer Schwelle geführt werden, an der der Prozeß musikalischer Selbstorganisation im Teleskop der Musikgeschichte und im Elektronenmikroskop musikalischer Valenzen sichtbar wird. 2. Maskenball der Erscheinungen - Marionettentheater der Meinungen

Ein Symptom ist noch kein Indiz, ein Indiz noch kein Beweis. Aber Meinungen sind, gerade im ästhetischen Bereich, oft Marionetten - verfolgen wir die Fäden, von denen "Meinungen" in Gang gesetzt werden, so werden Organisationsstrukturen sichtbar, die allerdings ihrerseits sich oft nur aus den Maskierungen eines Systems, aus den Erscheinungsformen herleiten, nicht aus dem Wirkungskern der Substanzen. Das nun folgende Kaleidoskop kurz angerissener Beispiele ist in diesem Sinne zu verstehen. Als etwa die "Beatles" in "Yesterday" ein Streichquartett, in "Eleanor Rigby" ein Streichorchester und in "Penny Lane" gar eine Bach-Trompete einsetzten, kam, nicht nur von populärer journalistischer Seite, prompt die Reaktion: Die "Beatles" waren "Klassiker"! Doch so richtig das Ergebnis, so falsch die Begründung. Tatsächlich würden umfangreiche rhythmische und melodische Analysen der zahlreichen Vorläufer und Stile, die die "Beatles" umzuformen verstanden, zu einer entsprechenden Wertung führen; zu einem stimmigen Urteil gehörte heute aber auch eine Analyse nachfolgender, wesentlich von der Stilistik der Beatles beeinflußter Musik. Der Einsatz von Musikinstrumenten aus einer ganz anderen musikalischen Ära, die auch eine "klassische Periode" hervorgebracht hatte, spielt in der Sache, um die es geht, nicht die geringste Rolle. Mit vergleichbaren Wirkungsmechanismen hat noch heute ein Komponist wie Mozart zu kämpfen. Die akademisch-institutionalisierten Blickwinkel (Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre) greifen bei Bach oder selbst Beethoven in viel höherem Maße; die knappe, kontrapunktisch und chromatisch extreme Einleitung zu Mozarts "Dissonanzen-Quartett" oder die zweifellos vorhandene Meisterschaft der Fuge im Schlußsatz der "Jupiter-Sinfonie" sagen aber über die entscheidenden Essenzen, mit denen dieser Komponist zu arbeiten wußte, nur wenig aus.

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Eine Spur abstrakter ist ein anderes Beispiel, in dem ein Phänomen fälschlicherweise gerade mit jenem Begriff bezeichnet wurde, dessen essentielle Überwindung erst die Voraussetzung zum neuen System war. Ich meine den Jazz und die Synkope. Denn in der Autonomie zweier selbständiger rhythmischer Schwingungskreise ("Swing") liegt gerade jener Systemsprung, der im Jazz und in entsprechend nachfolgender Musik vollzogen wurde; insofern ist, was sich aus dem Blickwinkel des alten Systems als "Synkope" darbot, in ein neues, gleichberechtigtes Beziehungsnetz gehoben und damit aufgehoben. Der kulturelle Wirkungswinkel gibt, gerade in ästhetischen Grenzbereichen, auch Indizien für die Stabilität ästhetischer Systeme. Die späten, extremen Zeitkompositionen von Morton Feldman (1926 - 1987), etwa sein vierein halbstündiges Trio "For Philip Guston" (1984) sind bereits Anfang der 90er Jahre zu Kultstücken musikalischer Avantgarde aufgestiegen, liegen sogar, trotz ihrer Dauer, in Schallplatteneinspielungen vor. Anton Weberns knappe, konzentrierte und strukturell neuartige Musik, etwa seine 20 Sekunden dauernde 2. Bagatelle für Streichquartett (1911) brauchte 40 Jahre, bis sie, wenigstens von der musikalischen· Avantgarde, in vergleichbarer Weise gewürdigt wurde. Aber nicht genug: Franz Schuberts knapp einstündiges, in seinem Todesjahr (1828) komponiertes C-Dur-Streichquintett benötigte 22 Jahre bis zu seiner Uraufführung in einer deutlich gekürzten Fassung; aber sogar noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirkte das Werk selbst auf so herausragende Musiker wie den Geiger Joseph Joachim (1831 - 1907) unförmig und unbefriedigend. Die heute verbreitete Einschätzung der Komposition als einen unbestreitbaren musikalischen Höhepunkt abendländischer Kultur setzte historisch erst später ein. Natürlich kann aus einer solchen Wirkungsdifferenz auf ästhetisch Fremdartiges (1828, 1911, 1984) noch nicht der Grad der strukturellen Stabilität der entsprechenden ästhetischen Systeme geschlossen werden (eine solche These müßte analytisch und empirisch untermauert werden); die so verschiedenen Wirkungswinkel, die sich geschichtlich einstellen können, wenn sich ein Komponist einem ästhetischen Grenzwert nähert, dürften aber zu denken geben. Daß ich hier die Charakteristik solcher Grenzwerte ausgerechnet in der Koordinate extremer Zeitdauern formuliert habe, ist natürlich eine (um der Prägnanz willen gemachte) Vereinfachung, die den drei genannten Kompositionen und ihrer Wirkung nur in einem Teilaspekt gerecht wird. Eine ganz andere Koordinate dürfte sichtbar werden, wenn wir hier Musiker wie Astor Piazzolla (1921 - 1992), Frederic Chopin, Robert Zimmermann ("Bob Dylan", geb. 1941) und Richard Wagner gemeinsam beim Namen nennen - eine Kombination, die auf die Kraft kultureller und ästhetischer Konventionen und Tabus zielt. Mit nüchternem Sachverstand besehen haben diese vier Komponisten jeweils eine einzelne musikalische Gattung zu einer künstlerisch individuellen außergewöhnlichen Höhe geführt: Wagner das Musik-

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Epos, Dylan den Song (in allen epischen, lyrischen und spirituellen Facetten), Chopin das romantische, eher kurze Klavierstück und Piazzolla den kammermusikalischen, vom puren Tanzaspekt abstrahierten Tango. Daß allerdings Dylan und Piazzolla, im Gegensatz zu Wagner und Chopin, im abendländischen Werte-Kanon auf Unverständnis, ja Ablehnung stoßen, liegt nicht nur an ihrer nord- bzw. südamerikanischen Herkunft und einer internationalen Wirkung innerhalb einer nicht im abendländischen Sinne klassischen Musikszene; es liegt vielmehr darin, daß die abendländische Kultur in ihrer zeitgenössischen Spaltung von Avantgarde (mit ihrer Tendenz zur ästhetischen Entropie 3 , zu einem zwar dynamischen, aber eher wirkungslosen Gleichgewicht verschieden gepolter Impulse) und konservativer RepertoireReproduktion (die "klassische", ästhetisch stabile Szene) einen intakten kulturellen Organismus, der sich nicht nur vom Gestern oder vom Morgen her diktiert, geistig nicht zulassen kann und darf, ja als eine Bedrohung empfinden muß. In einem Dylan oder Piazzolla vergleichbaren Zustand aber befand sich die europäische Kunstmusik selbst in der Renaissance und im Barock; erst mit dem Aufkommen des Historismus, mit der Wiederentdeckung Bachs unter Schumann und Mendelssohn setzte auch umgekehrt der Fortschrittsgedanke ein, der sich dann in gerader Linie von Wagner über Schönberg und Webern bis zu Boulez und Nono hinzieht. Ganz in diesem Sinne dürfte es vom Leser nicht schwer nachzuvollziehen sein, daß zwar Bach Sarabanden komponierte, Mozart Menuette, Chopin Mazurken und Walzer, daß ein zeitgenössischer Komponist mit einem europäischen, "kritischen" Geschichtsbewußtsein jedoch keinen künstlerisch stilisierten Rock oder Reggae komponiert. Er komponiert schwarze Sarabanden, zerschossene Menuette und panische Walzer. 4

3 Der Begriff der Entropie, in der Thermodynamik klar definiert, kann hier durchaus im direkten Sinne auf ästhetische Zusammenhänge übertragen werden. Gerade im Repertoire musikalischer Typen mit ihrem jeweils geschichtlich begrenzten Wirkungsradius zeigt sich in jeder Epoche erneut eine Entwicklung zur Entropie, sobald ein ästhetisches System in seinen "Formeln" mehr oder weniger "geschlossen" ist. Und musikalische Systeme sind zunächst dynamische und energetische Systeme, erst in zweiter Linie auch ästhetische. 4 Die hier provokativ formulierte Distanz zu einer Ästhetik der "Gebrochenheit" war ein wesentlicher Impuls für das Schreiben dieses Textes hier. Die angesprochene Problematik hat aber gerade in der abendländischen Kultur ihre Tradition, denkt man an so bekannte Studien wie Heinrich von Kleists Aufsatz "Über das Marionettentheater" (1810) und Friedrich Schillers Essay "Über naive und sentimentalische Dichtung",

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3. Spurensicherung polarer und chaotischer Faktoren im Systemsprung 5 Natürlich bieten sich nicht nur dem anwesenden Zeugen oder dem rückblikkenden Analytiker potentieller Entwicklungen falsche und richtige Spuren zunächst sind es die Handelnden, die einer (vielleicht) inneren Spur folgen. Aber die Gesetzmäßigkeiten künstlerischer Chancen und das Feld ihrer Verwirklichung unterliegen vielen komplexen, ja chaotisch reagierenden Faktoren. Die naturalistische Abbildung, wie sie sich in Dürers bekanntem Portrait eines jungen Feldhasen (1502) kulturgeschichtlich manifestiert, kann ebenso revolutionär und systembildend wirken wie die stufenweise Abstraktion einer Baumkrone, mit der Mondrian zwischen 1909 und 1912 einen entscheidenden Schritt zur abstrakten Moderne vollzog. Aber hätte Chaplin das im Verhältnis zur Malerei gerade erst geborene Medium "Film" zu einer wirklich neuen Kunstform heben können, wenn er von den geistigen und ästhetischen Maximen Mondrians oder Kandinskys ausgegangen wäre? Die sich anbietende musikalische Analogie, die Herausbildung einer harmonisch-funktionalen Tonalität um 1600 und ihre Auflösung und Negation um 1910 überzeugt auf den ersten Blick und ist heute ein fast trivialer Aspekt kulturgeschichtlichen Allgemeinguts. Doch so vergleichbar die ästhetischen Metamorphosen sein mögen, die zum Systemsprung führten, so verschiedenartig und verschiedenwirksam war das freigesetzte Kräftepotential, war die potentielle Reaktionsenergie der freigewordenen Valenzen. Arnold Schönberg hatte eine harmonische Ordnung aufgegeben, die sich ihrerseits historisch erst auf Grund bestimmter Bedingungen gebildet hatte; die gegenständliche Malerei aber war keine Erfindung der Renaissance gewesen, auch wenn sich Dürer immerhin dafür zu entschuldigen wußte, daß ihm ein "Affe" nicht recht gelungen sei. Die Einspurigkeit, ja Enge des Blicks aufgrund einseitig gesetzter Polaritäten (Gegenständlichkeit/Tonalität und ihr Gegensatzpaar) wird deutlicher, wenn wir die Geschwindigkeit beachten, mit der Mondrian und Schönberg, gleichsam erschrocken von den plötzlich freigesetzten dynamischen und chaotischen Kräften, rasch und mit Erfolg einem dogmatischen Konstruktivismus zusteuerten, in dem die freien Valenzen eher ausgegrenzt als in langfristige neue Bindungen überführt wurden, sei es in den strengen, rechteckigen Prinzipien des De Stijl oder in der festen Reihenordnung der zwölf Töne. 5 Anstelle des gebräuchlicheren Begriffs "Paradigmenwechsel" spreche ich hier von "Systemsprung", um die dynamischen und energetischen Aspekte des Phänomens stärker zu betonen. Im kunstgeschichtlichen Kontext handelt es sich immerhin nicht um ein gesteuertes, gemachtes oder über1egtes Phänomen, sondern um ein archaisches, wie ein physikalischer Prozeß, in dem ein bestimmtes Energieniveau eine unerwartete Richtungsänderung erzeugt.

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In dem archaischen Einbruch rhythmisch pulsierender Kräfte (Strawinsky) bzw. einer zeichnerischen Gestik der Höhlenmalerei (Picasso) deutete sich ein ganz anderes Spannungsfeld an: die strukturellen Polaritäten der (A)-Tonalität bzw. (Nicht)-Gegenständlichkeit waren, aus größerer Entfernung besehen, gar nicht die entscheidenden Fronten der kulturellen Revolution, die sich in Gang setzen und das 20. Jahrhundert prägen sollte. Es war vielmehr die Entfesselung all jener archaischen, chaotischen und vor allem rhythmischen Kräfte, die von den normbildenden Faktoren der abendländischen Kultur allzu "kultiviert", in vieler Hinsicht aber verdrängt worden waren. Die Symptome dieser Entwicklung sind bekannt; aber die Herausbildung eines permanent innovativen, revolutionären, aber doch hygienischen Kunstbegriffes war nicht nur ein ästhetischer Vector des 19. Jahrhunderts gewesen, der das schrittweise seiner religiösen, rituellen und spirituellen Bindungen entkleidete "Kunstwerk" für "autonom" erklärt und damit die Voraussetzungen für den prinzipiell utopischen, aber verdinglichten Charakter moderner Kunst geschaffen hatte. Im Musikalischen hatte dieser kulturspezifische Prozeß des Abendlandes vielmehr bereits mit der Bildung der Notenschrift eingesetzt; die zweidimensionale, graphische Fixierung von Musik begünstigte aber die vertikalen, polyphonen Faktoren einer stilistischen Entwicklung. Die zentrale Bedeutung von Harmonie und Kontrapunkt war damit programmiert; melodische und intervallische Nuancierungen wurden dagegen durch die grobe Skalierung der Notenschrift eliminiert oder simplifiziert; extrem reduziert, ja auf einer im Vergleich zu anderen Kulturen infantilen Stufe blieb dagegen das Rhythmische. Durch die Reduktion des Rhythmischen auf das Prinzip der Tonlänge, modifiziert durch die Stellung im Taktgebilde, wurden seine potentiellen Valenzkräfte weitgehend verstümmelt. Der Neutralisierung rhythmischer Valenzen entsprach eine um so größere Wirkungskraft der sich herausbildenden harmonischen Valenzen: die Hierarchien der harmonisch-tonalen Funktionalität, ausgehend vom harmonischen Quintfall und der klassischen Kadenz, konnten sich zwischen 1600 und 1900 als entscheidendes strukturund formbildendes Element behaupten. 4. Differenzierung, Destabilisierung, Entropie,' Systemsprung

Im nochmaligen Blick auf die vermeintlichen Polaritäten Tonalität-Atonalität ergibt sich damit eine provozierende These: die Atonalität ist gar nicht der historische Widerpart zur Tonalität, sondern nur ihr entropischer Zustand, der einen Systemsprung ermöglicht. Die immer weitergehende Differenzierung der Tonalität führte zu ihrer Destabilisierung und mündete schließlich in einen Zustand harmonischer Entropie. Die Außerkraftsetzung (Schönberg, Webern, Boulez) bzw. Umwertung (Debussy, Strawinsky, der Jazz) der Harmonik und ihrer Ordnungskräfte erlaubte schließlich erst den

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Durchbruch des Verdrängten, den Einbruch des Ausgegrenzten und den wilden Ausbruch des vormals Gezähmten. Dabei gibt sich, vom Ende des Jahrhunderts her gesehen, das Rhythmische immer mehr als die dominante, valenzbildende Kraft zu erkennen. Die zentrale historische Alternative zu einer Epoche, die sich von ihren harmonischen Valenzen her definierte ("Tonalität") wäre damit eine Epoche, in der die Rhythmik primäres Regulativ ist. Entscheidende Indizien dafür zeigen sich in fast allen zeitgenössischen Musikformen. Dieser zentrale und im Detail noch zu beweisende Gedanke wird plausibler nachvollziehbar, wenn man bedenkt, daß die harmonische Tonalität ihrerseits das Ergebnis eines vergleichbaren Systemsprungs gewesen war. Die von seiten der Musikgeschichte und Musiktheorie hinreichend analysierten Mechanismen dieses Systemsprungs können hier nur kurz angedeutet werden. So waren es primär melodische Gesetzmäßigkeiten, auf denen die modale Musik des Mittelalters und der Renaissance beruhte. Die linearen Kräfte der Stimmführung, die Tetrachordspannung und der intervallische Kontrast von Tenor und Finalis bestimmten den musikalischen Satz; die Harmonien, die sich auf Grund der kontrapunktisch gesetzten Stimmen ergaben, unterlagen zwar auch klanglichen Gesetzmäßigkeiten, entscheidend war aber die richtige melodische Bewegung der Einzelstimme, die Klausel. Die Harmonie selbst war - im Verhältnis zu einer anderen Harmonie - noch nicht als abstrakte Ganzheit, als "Funktion" faßbar; der Schritt von einer Harmonie zu einer anderen war in Wirklichkeit ein Zusammenspiel von "Klauseln", von melodisch gerichteten Valenzen, die in jeder Stimme, aus denen sich die Harmonie zusammensetzte, ihre eigenen Ausprägungen hatten. Erst die gegen Ende des 16. Jahrhunderts von Florenz ausgehende Monodie läßt den eigentlichen Zusammenklang selbst zum neuen Superzeichen werden. Die ursprünglich als Wiederbelebung des antiken Gesanges gedachte Musikform verstand den "Akkord" (als Begleitung einer Gesangsstimme) selbst als ein autonomes, nicht mehr nur zusammengesetztes Gebilde. Damit konnte sich der vertikale Aspekt des Zusammenklangs von dem linear-horizontalen Denkgefüge, dem er historisch seine Entstehung zu verdanken hatte, freimachen; der System sprung , die Chance einer Neuorganisation auf einer neuen Plattform musikalischen Denkens war damit gegeben. Damit war der Weg für die historische Wirksamkeit der späteren klassischen Kadenz mit ihren drei Hauptfunktionen freigeworden. Bemerkenswert ist dabei allerdings, daß die neuen "Vectorkräfte", die "Funktionen" der nun schrittweise autonomer werdenden Harmonien eigentlich erst am Ende der neuen Epoche adäquat im Sinne des Systemsprungs beschrieben wurden. Die erst Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Hugo Riemann systematisierte "Funktionstheorie"6 entsteht also in einem Augenblick, in dem

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die autonomen Kräfte der Harmonie bereits zur Entropie streben. Richard Wagner hatte in seinem "Tristan" (1859) den historisch am stärksten wirksamen Impuls dafür gegeben. Und es ist wohl kein Zufall, daß ausgerechnet am Ende der rund 300jährigen Epoche ein von Grund auf konservativer, rückblikkender Komponist die System sprung-Problematik des 16. Jahrhunderts selbst zum Thema einer Oper macht: Hans Pfitzners pointierterweise im Jahr der Russischen Oktoberrevolution uraufgeführte Oper "Palestrina" dramatisiert eindrucksvoll den entsprechenden Konflikt am Ende der vorangegangenen Epoche. Dabei steht der Komponist Palestrina als Vertreter des artifiziellen, polyphonen Satzes in einem doppelten Konflikt - das Konzil von Trient (1563) möchte die komplizierte Mehrstimmigkeit abschaffen und zu den Wurzeln des Gregorianischen Chorals zurückkehren; die jüngeren Komponisten der Florentiner Monodie setzen aber bereits in einem ganz anderen Sinne Zeichen zur Überwindung des extrem aufgefächerten, zur Entropie neigenden Figuralstils .7 Werden nicht hier präzise, aber in ganz anderen Koordinaten und Dimensionen (denken wir z. B. nur an den gesellschaftlichen und geographischen Radius), die musikalischen Probleme des 20. Jahrhunderts sichtbar? Der Leser, der die Dynamik der von mir in Kap. 1.2. angeführten Fakten mit diesen historischeren Ausführungen hier in Beziehung setzt, wird die gewiß nicht in allen Punkten stimmigen Chancen eines Transfers selbst beurteilen können. 11. (Zwischenteil:) Folgerungen und Gesetzmäßigkeiten

In der bisher dargelegten Ausbreitung von Spuren, die sich über ein Jahrtausend musikalischer Entwicklung hinziehen, liegt die Chance, den detektivischen Blick des Lesers zuerst selbst zu fordern. Aus den mehr oder weniger umfangreich dargestellten kulturgeschichtlichen Wirkungsfaktoren lassen sich allerdings prägnante Strukturen ablesen, die auf nachvollziehbare Gesetzmäßigkeiten deuten. Diese Gesetzmäßigkeiten lassen sich durchaus mit Begriffen beschreiben, die der Mathematik, der Informatik und vor allem der Physik entstammen. Ich meine die Wirkungsfelder von Valenz und Codierung, Stabilisierung und Destabilisierung, Energie und Entropie, Reversibilität und Irreversibilität, offenem und geschlossenem System, Wirkungsplateau und Systemsprung. 6 Mit seiner "Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre" (1880) schuf Hugo Riemann ein in seiner Art neuartiges Modell zur Betrachtung von Harmonien und ihren Zusammenhängen. Dabei geht es im Kern darum, die Harmonien einer Komposition als "Funktionen" zu verstehen, die sich zwingend und präzise gegenseitig bedingen. Die Harmonien in ihrer Vielfalt wurden dabei als Erscheinungsformen dreier Energiefelder definiert, als Tonika, Subdominante und Dominante. 7 Vgl. Rudolj Kloiber, Handbuch der Oper, Band 1, Regensburg 1973, S. 413f.

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So kann dem Gregorianischen Choral, dem einstimmigen, melodischen Ursprung der Musik des Abendlandes, eine Anfangsenergie zuerkannt werden, die sich dann in der Mehrstimmigkeit des Mittelalters und der Renaissance schrittweise differenzierter entfaltete. Dabei hatte jede melodische Stufe - im Sinne der modalen Kirchentonarten - eine spezifische Valenz und ein damit verbundenes Energieniveau ; sie war im Sinne einer bestimmten Wirkungsrichtung codiert. Die immer differenziertere Entfaltung der Mehrstimmigkeit erzeugte einen Zustand der Entropie, da die Codierung der melodischen Einzelstufe im Verbundsystem der Mehrstimmigkeit seine isolierte Dynamik verlor. Die permanente Gleichzeitigkeit vieler verschiedener melodischer Valenzen minderte die Kraft und Richtung jeder einzelnen Valenz. Damit verlagerte sich das Wirkungsplateau von der Horizontale (der Melodik) auf die Vertikale (der Harmonik). Die kulturellen und historischen Spannungen, die sich bei diesem Prozeß zeigen, deuten auf den Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit des Systems, in dem sich der Prozeß abspielt. Der Versuch, einen abgelaufenen Prozeß wieder umzukehren (Beispiel: Konzil von Trient) erweist sich als unmöglich, solange man das System (der liturgischen Musik) als geschlossenes System betrachtet (die Problematik Palestrinas). Ein gewisses Maß an Reversibilität kommt dennoch historisch zum Zuge, allerdings auf höherer Stufe und nur durch die Tatsache, daß die Musik des 16. Jahrhunderts sich eben nicht als ein geschlossenes System zeigte: in der zunächst als vulgär, ja sündhaft empfundenen Monodie waren die schlichten Wirkungs energien des Gregorianischen Chorals aufgehoben, die Melodik konnte ihre direkten Wirkungskräfte neu entfalten (Monteverdi, Gabrieli), allerdings im Rahmen der neuen harmonischen Bedingungen. Damit kann die nächste große Schleife beginnen. Die schrittweise stärkere Codierung der Harmonie und das Beziehungsnetz der Harmonien bringt die musikalische Klassik hervor; der Energiereichtum der harmonischen Valenzen steigert sich dabei noch durch die Tendenz der Klassik, die sieben Dreiklänge der diatonischen Skala auf drei Wirkungskräfte zu reduzieren (als eine eigene, kleine Schleife - in der sich Palestrinas Problematik auf anderer Stufe wiederholt - wäre dabei die eigenwillige Rolle Bachs darzustellen; seine spätbarocke Polyphonie und Chromatik nimmt die Problematik des Endes der Periode um 1910 vorweg, wird aber durch die von den Bachsöhnen eingeleitete Vorklassik historisch abgebogen). In der Romantik setzt dann, von den harmonischen Funktionen aus gesehen, eine wirkliche Tendenz zur Entropie ein; die Differenzierung der Tonalität führt zu ihrer Auflösung. Die Entdecker der Atonalität halten diese selbstverständlich auch zunächst für irreversibel, da sie sich in einem künstlerisch geschlossenen, stimmigen System wähnen. Die Realitäten des 20. Jahrhunderts sehen aber ganz anders aus; musikalische Wirklichkeiten, die zunächst 9 Selbstorganisation, Bd. 4

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im inneren Zentrum der alten Kultur gleichwohl als "vulgär" empfunden werden, dringen in das glücklicherweise doch offene System ein. Das traditionelle, klassische Konzertpublikum verlangt eine Umkehrung des Prozesses (zurück zur alten, harmonischen Musik). Gleichwohl hat die Musik längst eine Entwicklung genommen, in der die rhythmischen Valenzen zum dominanten Ordnungsprinzip geworden sind; in der zunehmenden Stabilisierung dieser Wirkungskräfte aber gewinnt die Frage der Harmonik und Tonalität untergeordnete Bedeutung. Tonale, harmonische und melodische Musik gibt sich im Sinne ganz anderer, neuer rhythmischer Schwingungsqualitäten zu erkennen; dabei erfahren tonale und melodische Elemente eine grundlegende Umwertung. Die Dimensionalität, die Koordinaten der Musik zeigen damit selbst eine pointierte Entwicklung. Die dominanten valenz bildenden Kräfte der "Horizontale" (im Sinne des Nacheinanders der melodischen Töne) wurden von jenen der "Vertikale" (im Sinne des Übereinanders der einzelnen Harmonietöne) abgelöst und damit selbst auf eine neue Plattform gehoben; dabei bewegen wir uns, nicht nur terminologisch, sondern unmittelbar einsichtig im Sinne von Melodie und Harmonie, in zwei Dimensionen. Aber welche Dimension öffnet sich, wenn die Rhythmik selbst zur dominanten valenzbildenden Kraft wird? Wenn ich hier von der Dimension der "Tiefe" spreche, nehme ich einen entscheidenden Aspekt des nächsten Kapitels vorweg. Der traditionelle Rhythmusbegriff, der sich, wie die Melodik, in den Erscheinungsformen der Horizontale und zumeist als Tonlänge definierte, würde sich damit aufheben. Da dieser in der Tat überholte, in der falschen Koordinate angesiedelte Rhythmusbegriff ganz wesentlich dem Verständnis zeitgenössischer Rhythmik (in zahlreichen Musikformen) im Wege steht, ist es nötig, einen Blick ins Innere des Uhrwerks zu werfen.

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III. Im Inneren des Uhrwerks Was soHten Gott und der Teufel tun ohne den Dritten, als sich unbeweglich in einer unendlichen Nacht gegenüberstehen? Carlos Fuentes, aus "Terra Nostra"8 A map is not the territory. Alfred Korzybski, aus "Science and Sanity"8a

1. Vorbemerkung

Eine einstimmige Melodie benötigt keine Gebrauchsanweisung, keinen Kompaß, keine Landkarte. Wagt sie es allerdings, in einer musikalischen Epoche lebendig zu werden, in der die Präsenz spezifisch gerichteter Harmonien bestimmendes Superzeichen ist, so sieht sie sich permanent von wie auch immer aufgefächerten Dreiklängen umgeben, die die Richtung anzeigen. Die Langweiligkeit einer typischen Bratschenstimme, vor allem in eher zweitrangigen klassischen Kompositionen, erklärt sich auf Grund dieses harmonischen Füll- und Wegweiser-Effekts. Diese Problematik, daß ein Musikstück sein eigenes Codierungssystem quasi permanent mit sich herumschleppen muß, ergibt sich auch, wenn sich die primären valenzbildenden Kräfte auf das Rhythmische verlagert haben. Das zeigt sich am einfachsten in der permanenten Präsenz des Schlagzeugs in vielen zeitgenössischen Musikstilen ; wie es allerdings auch in der harmonischen Ära Sublimierungen gab, in der das harmonische Gefälle in den Koordinaten der Melodik selbst formuliert wurde (z. B. in einer zweistimmigen Bach-Invention), so gibt es auch heute musikalische Stile und Erscheinungsformen, in denen die rhythmische Codierung nicht durch permanente Anwesenheit eines Rhythmus-Apparates demonstriert werden muß. Dazu ist allerdings nicht nur ein Abstraktionsprozeß notwendig, der sich erst auf Grund eingeschliffener Erfahrungswerte bildet - vor allem ist ein grundlegendes Verständnis rhythmischer Codierungen und Valenzen notwendig. Die spezifischen Faktoren von Ladung und Polung, Polungsumkehr und Maskierung, Verzögerung und Verkürzung, Wiederholung und Brechung, Unterordnung und Eigenschwingung sind in verschiedenen zeitgenössischen Musikformen verschieden weit entwickelt; aber die dominanten Valenzkräfte dieser Faktoren lassen sich in verschiedenen Kompositionsstilen ebenso nach8 Fuentes (FN 1), S. 766. 8a Alfred Korzybski, "Science and Sanity", 1933; 4. ed., The International NonAristotelian Library, 1958,11,4, p. 58; hier zitiert aus: Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, München 1989, S. 537.

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weisen wie in Jazzimprovisationen oder Songs. Allerdings soll es hier nicht um ästhetische Differenzen gehen und nicht um Banalisierungen gerecht zweigeteilter Entfremdung ("E-Musik/U-Musik"), sondern um die Tiefenperspektive von Impulsqualitäten, um das Aufspüren der verborgenen Koordinaten, aus denen sich die rhythmischen Valenzen speisen.

2. Ladungsqualität und Tie[enperspektive eines Impulses Jede noch so berauschende Kompliziertheit komplexer, algorithmischer oder stochastischer Impulsverteilungen ist, auf Grund ihres eher quantitativen und zweidimensional faßbaren Charakters, eigentlich eine einfache Sache angesichts der qualitativ orientierten Frage nach der Ladung, der Energie und Richtung eines einzigen Impulses. Damit ist auch das Dilemma des zweidimensionalen Notenpapiers angesprochen und die Versuchung des modernen Komponisten, auf immer größeren Papieren im oben beschriebenen Sinne immer kompliziertere Impulsverteilungen vorzunehmen (- was nicht mit dem Phänomen der Komplexität verwechselt werden sollte). Die Tiefenperspektive eines musikalischen Impulses liegt darin begründet, daß er gleichzeitig (das ist entscheidend!) Teil zahlreicher musikalischer Organisations- und Schwingungssysteme sein kann, die sich keineswegs unmittelbar zu erkennen geben. Der am einfachsten nachvollziehbare Organisationsaspekt liegt in der Ladungsqualität der natürlichen Zahlen - was hier weder in einem kabbalistischen noch in einem nur mathematisch-intellektuellen Sinne gemeint ist, sondern im physikalischen Sinne. Denn ein Impuls ist, sofern er erklingt, die Freisetzung potentieller Energie. a) Die Zahl 1 und ihr Gesetz Jede Zahl induziert andere Gesetzmäßigkeiten, in denen sich ihr spezifisches Energieniveau manifestiert. Die Zahl 1 manifestiert sich als Puls; ihre Verwirklichung liegt in ihrer Identität. Der Entfaltungshorizont der Zahl 1 liegt in der Wiederholung; wiederholen wir z. B. einen Impuls im Sinne eines starren Pulses, so ist jeder wiederholte Anschlag des Impulses mit dem Anfangsimpuls identisch. Im Laufe der Wiederholungen sinkt das Informationsniveau stetig ab; dabei bleibt allerdings der objektive Energiepegel jedes einzelnen Impulses gleich. Der 144. Impuls einer Puls kette unterscheidet sich damit zwar ästhetisch, aber nicht energetisch vom 1. Impuls. b) Die Zahl 2: evolutionärer Durchbruch eines neuen Gesetzes Die Zahl 2 öffnet den Wirkungsgesetzen der Polarität die Tür; damit manifestiert sie sich rhythmisch als Pendelbewegung, besser, im Sinne einer vor-

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und rückschwingenden Energie formuliert, als Pulsation. Die Wirkungscharakteristik der Zahl 2 erfüllt sich aber nur, wenn die Pole, um die sich der Energieaustausch gruppiert, gleichwertig sind. Um Mißverständnissen vorzubeugen: bei einem Takt aus zwei Zählzeiten ist diese Bedingung noch keineswegs erfüllt; die herkömmlich als Betonung sich äußernde Dominanz der ersten Zählzeit zeigt an, daß wir uns noch im Gesetzeskodex, im Wirkungsradius der Zahl 1 befinden. Die wirkliche Gleichwertigkeit der beiden Pole ist ein Ergebnis historischer Entwicklung und ethnischer Durchdringung; ein entsprechender Evolutionsprozeß deutet sich z. B. in der Linie Polka (1830) Ragtime (1890) - Reggae (1970) an. Dabei wird die zunächst zwar "aggressive" (Polka), aber doch eben nur oppositionelle Zwei (bzw. Vier) im Takt schrittweise zu einem gleichwertig, aber umgekehrt schwingenden Gegenüber. Bildlich formuliert wird aus einer harten Hauswand, die einen Ball zurückprallen läßt, ein individueller Gegenspieler, ein "Zweiter"; aus dem bloßen puren Rückprall wird eine aus eigener Energie getragene RückSchwingung, z. B. im Sinne einer Acht. Die Polarität hat sich emanzipiert; mit der Autonomie der (- )-Schwingung ist aber, was vormals die "Eins" war, zur (+ )-Schwingung geworden 9 • Damit ist aber - um einen legendären lO Irrtum zu klären - auch die "Synkope", das klassische "Störfeld" der Eins, aufgehoben, aufgelöst im Gleichgewicht von "Beat" und "Off-Beat" (das von ihr belegte Terrain wird von einer ganzen Reihe von Erscheinungen, etwa fore- und afterbeats, abgelöst, die sich aus Schwingungsüberlagerungen und Umpolungen erklären; auch der "Break" hat eine synkopenartige Rolle übernommen). Das Begriffspaar "Beat" / "Off-Beat" kommt einer realen Ebenbürtigkeit ll gegenläufiger Impulse bereits nahe; stimmiger erschiene mir allerdings eine 9 Eine wirkliche Gleichwertigkeit der Pole deutete sich im europäischen Raum zwar bereits auf breiter Basis etwa in der Musik der Beatles an; eine echte "Autonomie des Off-Beat" entstand aber erst Ende der 70er Jahre, und zwar in der Musik der englischen Rockreggae-Gruppe "Police"; Kopf und Komponist der Gruppe war der heute in anderer Formation auftretende Musiker "Sting". 10 Wenn in zahlreichen, auch wissenschaftlich abgesegneten Definitionen des Jazz oder Rock heute noch immer davon die Rede ist, dort würden die "schwachen Taktteile" Zwei und Vier im Sinne einer off-beat-Phrasierung "synkopisch" betont, so zeigt sich in einer solchen Formulierung die Unfähigkeit, den Wirkungsradius der 1 zu verlassen und eine polare Schwingung musikalisch zu verstehen. Die Charakterisierung der Zwei und Vier als "schwache Zählzeiten" ist in Wirklichkeit schon eine ideologische, aus dem Blickwinkel des traditionellen Taktes kommende geistige Fehlprogrammierung; wird dann noch das unverstandene Prinzip einer autonomen Gegenschwingung mit dem klassischen Terminus "Synkope" versehen, so ist die Verwirrung perfekt: eine musikalische Stilistik hat bereits einen Systemsprung gemacht, die geistigen Beschreibungskategorien konnten aber noch nicht mitziehen. 11 Ob die Zahl 1 allerdings tatsächlich ein wirklich ebenbürtiges Gegenüber haben kann, das ist wahrscheinlich die brisanteste Frage, die ein Mensch überhaupt stellen kann; es ist, in Begriffen unserer Kultur gesprochen, die Frage, ob Gott und der Teufel gleichrangig sein können, dürfen oder müssen. Diese theologische Problematik spiegelt sich sogar noch im Physikalischen, wenn z. B. die Ladung des Atomkerns positiv, die

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Verwendung von Beschreibungsmustern, die der Elektrizität entstammen. Ein 144. Impuls einer Pulsation wäre dann Träger der 72. negativen Valenz (,,72. Off-Beat"). Ein 144. Impuls trägt damit eine qualitativ andere Ladung als im oben beschriebenen Falle (III.2.a)). So einfach dieser Vorgang sich vom rein rechnerischen Standpunkt aus darbietet, so entscheidend ist doch der Qualitäts- und Systemsprung, der sich in einer polaren Schwingung artikuliert. Tendenziell wird damit der von mir schon angesprochene Aspekt der "Tiefe" deutlich. Denn es scheint, als schwinge ein Impuls a( +) aus der Sphäre seiner eigenen Manifestation in eine Tiefe hinein, um dann aus ihr als Impuls a( -) zurückzukehren. Dieser Aspekt der Tiefe äußert sich auch darin, daß er sich nur räumlich und nicht zweidimensional abbilden läßt. Eine polar schwingende Pulsation gibt sich insofern auf dem Notenpapier nicht direkt zu erkennen; gebräuchliche Akzentuierungen können das Problem, das eigentlich "hinter dem Notenpapier" angesiedelt ist, nicht lösen, da sie, im Sinne einer Betonung, etwas aus seiner Umgebung Herausfallendes beschreiben, aber nicht das Verhältnis zweier natürlich schwingender Pole zueinander. c) Die Zahl 3 und die Primzahlen Eine Annäherung an die Zahl 3 sollte im nüchternen Zustand erfolgen. Die spalterische Trennung von Idealismus und Materialismus, von abstraktem Symbol und realem Wirkungshorizont (im künstlerischen Bereich von Ästhetik und Energie) hat gerade in der Entwicklung der abendländischen Kultur stets neue Formen der Verblendung hervorgebracht: kulturspezifische Wirkungsgesetze der Zahl 2, die noch nicht überwunden werden konnten, die aber grundlegend den Blick auf die Drei verstellen. Das musikalisch bzw. rhythmisch zu untersuchende Wirkungsfeld der Zahl 3 äußert sich autonom als Prinzip der Drehung: die Valenz eines Anfangsimpulses wird nicht direkt polar zurückgeworfen, sondern bricht sich und federt erst von einem 2. Punkt aus dem imaginären Raum zurück. Damit ergibt sich eine sternförmige Schwingung, eine dreh artige Verlagerung im Sinne einer Weg-Krümmung (2) und Zurück-Krümmung (3) eines Anfangsimpulses (1). Im geometrischen, aber auch im energetischen Sinne nimmt die Zahl 3 damit bereits die mittlere Position zwischen den numerischen Größen Eins und Unendlich ein: die geometrische Annäherung an einen Kreis, beginnend mit der Verbindung der drei Ecken eines gleichseitigen Dreiecks macht das deutlich. Die Metamorphose des Prinzips "Polarität" durch Drehung bzw. Krümmung äußert sich entsprechend in allen nachfolgenden ungeraden Zahlen, der Elektronenhülle negativ charakterisiert wird - aber die Gleichrangigkeit, die sich unter den Gesichtspunkten elektrischer Ladung zeigt, steht in Konflikt mit der Ungleichrangigkeit der Begriffe "Kern" und "Hülle".

Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus

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sofern wir sie als sternförmige Schwingungen verstehen, die zu ihrem Ursprung kreisförmig zurückkehren. Das läßt sich am einfachsten nachvollziehen, wenn man z. B. einen Fünf- oder Siebenstern ohne abzusetzen mit der Hand zeichnet: die Bewegung der Hand wird dabei immer zu dem quer gegenüberliegenden Zacken des entsprechenden Sterns geführt. Die weggekrümmte polare Bewegung wird durch die gegebene Drehung auf eine neue Stufe gehoben. Daraus ergibt sich ein neuer, bislang verborgener potentieller Ladungsaspekt unseres 144. Impulses. Gehen wir nämlich von einer autonomen sternförmigen l1er-Schwingung und einer im gleichen Grundimpuls ablaufenden, synchron beginnenden 13er-Schwingung aus, so treffen erst mit dem 144. Impuls die Anfangspunkte der beiden Kurven neu zusammen (11 x 13 = 143; damit wird der 144. Impuls zum Schnittpunkt, zum Träger der gemeinsamen Valenz beider (11, 13) Faktoren). Musikalisch kann eine solche Valenz nur deutlich werden, wenn sich die Faktoren 11 und 13 entsprechend periodisch hervorheben. Dazu ist aber nicht unbedingt der gesamte Ablauf der Periode notwendig; musikalisch wäre schon eine Ladungsprägnanz zu erzielen, wenn wir 116 Impulse weglassen und ein Musikstück mit dem 117. Impuls beginnen lassen: die zunächst divergierenden Anfangs-Akzentuierungen der 13erPeriode (118 - 131 - 144) und der l1er-Periode (122 - 133 - 144) würden in genügender Prägnanz in der 144 zusammenfallen. Rhythmische Valenzen können sich also aus einer Faktorenzerlegung ergeben, falls diese stimmig musikalisiert ist. Die spezifischen Valenzkräfte der Primzahlen, musikalisch als periodische Eigenschwingungen verstanden, ergeben sich daraus; mit höherer Primzahligkeit nehmen diese auf Grund der geringeren Eigenprägnanz ab, wobei ein Komponist musikalisch allerdings gegensteuern kann. Eine Reihe potentieller, musikalisch folgenschwerer Aspekte der Zahl 3 sind aber noch gar nicht zur Sprache gekommen. Weigert sich die 3, ein eigenes System zu bilden und die Polarität "wegzukrümmen", so ergibt sich das musikalisch höchst wirkungsvolle Phänomen einer Umpolung. Denn im Sinne des polaren Systems würde dann die Drei zu einem "Beat" ( + ), die neue Eins also zum "Off-Beat" ( -). Da sich die neue Eins aber von sich aus wieder zu einem "Beat"( +) erklärt, wäre sie gleichzeitig Träger entgegengesetzter Ladungen - ein Prinzip, das sich musikalisch auf verschiedenen Stufen zeigen kann und längst zu einem entscheidenden Charakteristikum zahlreicher Musikstile geworden ist. 12 12 Ein Aspekt des Reggae liegt z. B. in der Überlagerung zweier polarer Schwingungen im Verhältnis 2:1, die sich darstellen läßt als Uberlagerung eines 4f2-Taktes und zweier o/4-Takte. Dabei ist immer die Drei eines o/4-Taktes mit der Zwei bzw. Vier eines 4f2-Taktes identisch, so daß die positiven Valenzen des einen (Beat, die 3 des o/4-Takts) mit den negativen Valenzen des anderen Taktes (Off, 2 und 4 des 4f2-Taktes) zusammentreffen und eine permanente Balance bilden.

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Ein weiterer Aspekt, in dem die Drei ebenfalls keine Eigendynamik entfaltet, sondern sich dem System der Zwei unterordnet, liegt in dem Prinzip der Gewichtung. Hier erst liegt eigentlich die Wurzel des traditionellen Rhythmusbegriffs begründet, der bis in die antike Versrhythmik zurückgeht. In der Proportion "kurz-lang" (oder umgekehrt) bildet sich ein Längenaspekt des Rhythmischen ab, der sich im einfachsten Sinne als Proportion 1: 2 manifestiert. Das Verständnis der "Gewichtung" als "Länge" wurde vor allem von der Notenschrift begünstigt; daraus ergab sich, daß in der notierten abendländischen Musik gerade dieser Aspekt extrem entwickelt wurde, während die bislang genannten Punkte eher unterentwickelt blieben. Die tief im Unterbewußtsein der Kultur eingegrabene ästhetische Diskrepanz gegenüber musikalischen Formen, in denen sich "Rhythmus" als eine Dimension der "Tiefe", nicht primär der "Länge" äußert, ist ein Ausdruck dieses Problems, das in den ästhetischen Fronten des 20. Jahrhunderts kulminiert. Damit komme ich zum vorletzten Abschnitt.

3. Flexibel gekrümmte, "elliptische" Rhythmik Die eigentliche Tiefendimension des Rhythmischen, die sich durch eine quasi hinter dem Horizont der Musik verschwindende, vielfache Codierung bzw. Ladung ergibt, konnte hier zumindest beispielhaft (etwa im Sinne des 144. Impulses) angedeutet werden. Diese rhythmischen Kategorien sind ein wesentliches Ergebnis außereuropäischer Einflüsse, die vor allem auf dem Wege des Jazz und des Rock nach Europa eingedrungen sind (wie umgekehrt die europäische Harmonik andere Kulturkreise unterwandert hat). Die Musik der Avantgarde, die sich demgegenüber als die historisch legitime Fortsetzung der abendländischen Kunstmusik versteht, hat dagegen jenen Aspekt des Rhythmischen weiterentwickelt, der von der europäischen Tradition gegeben war: die Tondauer. Die Reduktion des Rhythmischen auf den "Parameter Tonlänge" war gewiß zunächst eine Verengung; vor allem in der naiven Anlehnung der TonlängenSkalierung an die Skalierung der zwölf chromatischen Töne lag ein aufgesetzter, künstlicher Aspekt. In der schrittweise perfekteren Quantifizierung der Tondauer und in den immer virtuoseren Zahlenoperationen der seriellen Musik und ihrer Nachfolger lag aber auch eine historische Chance. Das Operieren mit additiven Tonlängen konnte das traditionelle Tonsystem aus seiner historischen Abhängigkeit von den Zweierpotenzen befreien; Tonwerte konnten dem Korsett der Viertel oder Achtel entkommen und sich z. B. als 716, Y13 oder 4f7 emanzipieren. Damit war der Weg für die flexible Krümmung musikalischer Impulse freigeworden. Die unendlichen Möglichkeiten der sich neu bietenden Tonlängen-Formationen führten allerdings zunächst eher zu einer Verfestigung des allein in der

Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus

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Tondauer artikulierten Rhythmusbegriffs. Die totale Verfügbarkeit der Tondauern und ihre oft geradezu demokratische Organisation minderte die Eigenprägnanz wirklich autonomer Schwingungssysteme; unter energetischen, im Sinne der rhythmischen Wirkungsmechanik beschriebenen Gesetzmäßigkeiten (vgl. 111.2) entstand ein Zustand der Entropie. Komponisten wie lannis Xenakis (* 1922) oder György Ligeti (* 1923) erkannten diese Problematik frühzeitig und zogen musikalische Konsequenzen, indem sie z. B. der Eigenschwingung polyrhythmisch pulsierender musikalischer Organismen Raum ließen. Die amerikanischen Minimalisten, ihnen voran Steve Reich (* 1936), verstärkten die Prägnanz der Eigenschwingung durch periodische Wiederholungen knapper Phrasen mit der Konsequenz einer fluktuierenden Phasenüberlagerung. Unter den Gesichtspunkten von Selbstorganisation, verstanden als eine quasi chemische Reaktion geschichtlich gewachsener Rhythmus-Qualitäten, erleben wir allerdings erst heute, am Ende des Jahrhunderts, eine höchst interessante Situation. Denn die bislang eher unvereinbaren, jeweils für sich entropischen Horizonte der kulturell, ästhetisch, ja ideologisch getrennten Entwicklungen von Rhythmik beginnen tatsächlich miteinander zu reagieren. Der elektrische, polare und umpolende Aspekt (der "karibische" Aspekt, der zumindest auch einige weit entwickelte Formen der Rockmusik inspiriert hat), der sich primzahlig entwickelnde Aspekt der periodischen Eigenschwingung (der im musikalischen Minimalismus eine prägnante Ausformung erhielt) und der Aspekt flexibler Impulskrümmungen (der asymmetrisch-additive, sperrige, von rhythmischer "Quantifizierung" erzeugte, nicht-pulsierende Aspekt der Avantgarde) treten erstmals in eine Wechselwirkung, in der die Errungenschaften der einzelnen Systeme nicht nur nebeneinander existieren oder, was naheliegend wäre, sich gegenseitig aufheben. Auf einfachster Ebene ließe sich das am Beispiel der 144 darstellen, wenn z. B. vier in der Proportion 3: 4 gekrümmte Beats eine Phase aus 14 Impulsen bilden, also z.B. 3+4+3+4; die Minuspole (Off-Beats) der Konstellation wären also um V3 länger (4 Impuls-Einheiten) als die Pluspole (3 Einheiten). Der 144. Impuls wäre damit der 42. "flexible Beat" (3 + 4 + 3 + 4 = 4 "flexible" Beats = 14 Impulse; also ist der 144. Impuls "Kopf" des 42. flexiblen Beats). Zweitens wäre der 144. Impuls der 21. Off-Beat (der "elektrische" Aspekt) und drittens Teil der elften 14-Impuls-Phase, die eine eigene Prägnanz bildete (Aspekt einer autonomen Schwingung der Primzahl 7, die in zwei gekrümmt pulsierende Faktoren, 3 und 4 zerlegt ist). Hier ist es angebracht, ein noch sehr junges musikalisches Beispiel zu bringen, in dem alle genannten Faktoren in einer Balance stehen, die ein Aspekt eines rhythmischen Systemsprungs ist. Dabei handelt es sich um eine Phrase aus dem 1991 entstandenen Klaviertrio "Le Monde" von Babette Koblenz (* 1956). Ihm liegt, als Aspekt primzahliger Eigenschwingung, eine 17er-Phase

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zugrunde. Die 17 Achtelnoten, hier notiert als 8/8 + %-Takt, sind eigentlich streng genommen V17-Notenwerte; aus Gründen der Aufführungspraxis sind sie allerdings im Wert von Achtelnoten notiert. Aus der 17er Phase setzt sich eine zweite primzahlige Phase aus sieben "flexiblen Beats" zusammen (3 + 2 + 3 + 3 + 2 + 2 + 2), die sich ihrerseits als elektrische Polaritäten gegenüberstehen und in ihrer musikalischen Phrasierung entsprechend zu verstehen sind. Die gegenschwingenden, polaren Aspekte zeigen sich aber auch in der gleichfalls off-beat-artigen Halbierung des 17tel-Grundwerts, in den Sechzehnteln (die eigentlich 34stel sind). Auch die beiden taktmäßig geteilten Glieder der Phrase, A( +) und A( -) bilden eine Polarität, dabei ist der Kern beider Phrasen (s) identisch, während die um diesen Kern schwingenden Teile (x - y, m - n) sich jeweils polar verhalten. Als Ganzheit verstanden ergibt sich damit eine Gesamt-Schwingung, die man in geometrischer Analogie "elliptisch" nennen könnte; die beiden unveränderlichen Kernteile (s) der beiden Phrasen wären dabei als Brennpunkte zu verstehen. IV. Schluß Daß eine Zahl ein eigengesetzliches, "sich selbst organisierendes" Wirkungsfeld induziert, ist ein Grundgedanke meines Ansatzes, der sich schrittweise weiterverfolgen ließe. Er zielt gegen ein gerade im ästhetischen Bereich tiefverwurzeltes Mißverständnis - gegen den Dualismus von Symbol und Rechengröße. Denn gerade durch die Reduktion des Zahlbegriffs auf das Quantitative wird auch der Polarität die Tür geöffnet, und ein zumeist mythologisch gefärbter Symbolbegriff darf sich umgekehrt breit machen; dabei halten sich die Harmlosigkeiten beider Teile in der Waage, ja spielen sich die Bälle zu - die Wirkungsenergie der Zahl ist in einem nur zeichenhaften Symbolbegriff gebannt, und die Zahl ist als ein purer Aspekt von "Abzählung" ihrer individuellen energetischen Wurzel beraubt. Diese Gedanken zielen nicht nur gegen einen oberflächlich kabbalistischen Aspekt musikalischer Analyse, wie er etwa am Beispiel der Musik Bachs ein bereits historisches Unwesen trieb. Sie zielen vielmehr gegen (gerade auch oft von "Künstlern" produzierte) Röschen-Tapeten, deren Dornen nicht stechen, gegen eine nur intellektuelle Dialektik, die sich nicht dem elektrischen Stromschlag polarer Valenzen aussetzt, gegen die nur ästhetische Erbauung angesichts eines gotischen Spitzbogen-Gewölbes, wenn dort nicht tatsächlich ein Gebet nach oben fließt. Sie zielen gegen das pure Pathos des Symbols, das eigentlich nichts anderes ist als "Illusion", Einblendung, oder, im Sinne ästhetischer "Versuchung" formuliert, Propaganda. Pointiert formuliert (und damit wird der rhythmische wie auch der musikgeschichtliche Horizont dieser Gedanken deutlicher): eine Zahl wie z. B. die Zwölf oder die Dreiunddreißig bleibt Maske, bleibt Propaganda, wenn sie nur

Entropie und Systemsprung im musikalischen Organismus

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WECHSELWIRKUNG POLARER. ADDITIVER UND PHASENSPEZIFISCHER VECTOREN Babette Koblenz, Klaviertrio "LE MONDE" (1991/92), Takt 102/103

A(+)

2polarePhrasenhälften:

r----~/'----'\

AC-)

,...---____.A------'"

7 "flexible" Beats (3:4) 17

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34

Struktur: ',y

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B

__________

------------~-------------17 ner Phase

Struktur im Sinne elliptischer Krümmung Scheitel Brennpunkt ell iptische Darstellung der EnergieVectoren, räumlich zu verstehen

Scheitel

140

Hans-Christian von Dade1sen

als numerische, quantitative Größe und nicht im Sinne ihrer eigenen Wirkungsenergie in eine Komposition einfließt. Denn Jesus wurde nicht aus symbolischen Gründen 33 Jahre alt; er hat sich vielmehr auf Grund der Aufgabe, in der er stand, der Wirkungsmechanik der Zahl 33 unterworfen (- was eine im echten Sinne kabbalistische Aussage wäre, deren Begründung aber den Rahmen dieser Arbeit hier sprengen würde). Die physikalischen Dimensionen der Selbstorganisation helfen damit, im sogenannten ästhetischen Bereich (den es streng genommen ja gar nicht gibt) jenen "Ablaß-Schwindel" zu beseitigen, mit dem "ästhetische Produkte" Erlösung verheißen, die sie auf Grund ihrer substanziell schwingenden Energie gar nicht verheißen können. Der dargestellte rhythmische Horizont, im Weitwinkelobjektiv musikgeschichtlicher Eigenrhythmik und im Inneren des polyrhythmischen Uhrwerks anvisiert, bietet aber auch die Chance, Kultur als einen schwingenden Organismus zu begreifen, der einem Ziel und keiner Illusion entgegenstrebt. Daß die uns physikalisch, musikalisch oder religiös erscheinenden Strahlungen bzw. Wirkungsdimensionen dieses Ziels nur Teilaspekte, nur spezifische Codierungssysteme eines gleichen Phänomens sind, konnte hier noch nicht abschließend bewiesen werden; daß sich mechanistischforschende und real-schwingende Annäherungssysteme an eine noch nicht vollkommen verstandene Wahrheit aber in ähnlichen Gesetzmäßigkeiten um einen Brennpunkt bewegen, dürfte deutlicher geworden sein.

" .. . selbst dann bin ich die Welt" Zur Komplexität und Evolution in "Tristan und Isolde" von Richard Wagner

Von Hans-Georg Bartel und fudith Bartei, Berlin I. Anlaß, Ziel und Grenzen

Es ist von uns in dem vorangegangenen Beitrag über den Selbstorganisationsgedanken im "Ring des Nibelungen" von Richard Wagner (1813 - 1883) abschließend darauf hingewiesen worden, daß weitere Untersuchungen in der begonnenen Richtung lohnend sein könnten.1 Den eingeschlagenen Weg eine kleine Strecke weiter zu beschreiten, sei daher die Aufgabe der vorliegenden Betrachtungen. So wie aber Wagner selbst seine Arbeit am "Ring" unterbrach, um Dichtung und Komposition von "Trist an und !solde in geringen, die Aufführung erleichternden Dimensionen, sofort auszuführen"2, wenden auch wir uns diesem einzigartigen Meisterwerk (WWV 90) zu. Die Gründe dafür sind selbstverständlich von denen verschieden, die Wagner zu seinem Entschluß führten. Als gewissermaßen äußerer Anlaß ist zu nennen, daß 1993, im Erscheinungsjahr dieses Bandes der "Selbstorganisation" , in Bayreuth die Neuinszenierung des "Tristan" von Heiner Müller (* 1929) Premiere haben wird, ein Ereignis, das aus vielerlei Sicht und verschiedenen Gesichtspunkten mit Spannung und Interesse zu erwarten ist. Die außerordentliche Komplexität gerade dieses Wagnerschen Werkes impliziert daher wenigstens einen bescheidenen Versuch, diese ungewöhnliche musikalische und dichterische Schöpfung von einem Standpunkt zu beleuchten, der Aspekte einer allgemeineren Komplexitätstheorie zum Inhalt hat. 1 Judith Bartel / Hans-Georg Bartei, Der Selbstorganisationsgedanke in Richard Wagners Werk "Der Ring des Nibelungen", in: Uwe Niedersen / Ludwig Pohlmann (Hrsg.), Selbstorganisation, Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. 2, Berlin 1991, S. 147 - 148. 2 Diese Mitteilung findet man im Brief Wagners an Franz Liszt (1811 - 1886) vom 28. Juli 1857 aus Zürich, zit. nach: Briefwechesel zwischen Wagner und Liszt, Zweiter Band, Vom Jahre 1854 bis 1861, Leipzig 1887, S.174. Unterbrochen hatte Wagner seine Arbeit am "Ring" im zweiten Akt des "Siegfried" (damals noch "Der junge Siegfried"), allerdings hat er die Kompositions- und Orchesterskizze dieses Aktes im Juli und August 1857 doch noch vollendet (s. Karl-Heinz Kröplin, Richard Wagner 1813 1883, Eine Chronik, Leipzig 1987, S. 80).

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Hans-Georg Bartel und Judith Bartel

Dieses Vorhaben, vom "Rheingold" zum "Tristan" fortzuschreiten, führt zudem nicht einmal auf einen Abweg. Wie im "Ring" haben wir auch jetzt die Herausbildung immer komplexerer Strukturen und Verhältnisse aus sich selbst zu beobachten. "Wagner ist im ,Tristan' nicht weniger Mythopoet als im ,Ring': auch in dem Liebesdrama handelt es sich um einen Weltentstehungsmythos" , stellte Thomas Mann (1875 - 1955) 1933 fest) Auf den Vergleich zwischen dem "Rheingold" und dem "Tristan" werden wir gelegentlich zurückkommen. Hier genügt es hinzuzufügen, daß Wagner selbst in seiner Schrift "Epilogischer Bericht über die Entstehung des Bühnenfestspieles ,Der Ring des Nibelungen'" die Dichtung des "Tristan" "als Ergänzungsakt des großen, ein ganzes Weltverhältnis umfassenden Nibelungenmythos"4 deklarierte. Leicht ist die gestellte Aufgabe nicht, und weder die Realität des vorliegenden Opus noch ein objektiv begründbares und subjektiv immer wieder fühlbares Unvermögen erlauben, auch nur den geringsten Grad von Vollständigkeit anzustreben. So muß der Mut, wenigstens begonnen zu haben, den Wunsch und das Verlangen nach Abgeschlossenheit zu ersetzen hoffen. Ein Werk der Emotionen läßt sich nur sehr schwer - und schon gar nicht in Kürze - in verbalen Darlegungen erfassen. 11. Werkgeschichtliches

Da naturgemäß über die Entstehungsgeschichte des Werkes viel und ausführlich geschrieben wurde,5 genügen hierzu einige Anmerkungen, die den selbstorganisatorischen Aspekt bereits für diese Oper an sich andeuten, Momente, die im engen Zusammenhang mit ihrem Inhalt und ihrer Wirkung stehen. Wie einleitend dargestellt, wollte Wagner in kurzer Zeit eine leicht aufführbare Dichtung und Komposition schaffen. Etwa zwei Jahre, nachdem dieser Plan gefaßt war, muß davon die Rede sein, daß man sich mit "der Unmöglichkeit der Aufführung dieses Werkes zu entschuldigen"6 sucht, und nach einem weiteren: 3 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: Thomas Mann, Adel des Geistes, Zwanzig Versuche zum Problem der Humanität, Berlin/Weimar 1965, S. 385. 4 Zit. nach: Kröplin (FN 2), S. 80. S Als Beispiel sind zu nennen: Kurt Pahlen, Zur Geschichte von "Tristan und Isolde" (Von der Legende über die Literatur zur Oper Wagners), in: Richard Wagner, Tristan und Isolde, Textbuch, Einführung und Kommentar von Kurt Pahlen unter Mitarbeit von Rosemarie König (Serie Musik, Piper-Schott, Bd.8036), Mainz/München 1988, S.235 - 307; Max Chop, Erläuterungen zu Musikwerken der Tonkunst, 4. Bd. : Richard Wagner, Tristan und Isolde, Handlung in drei Aufzügen, Leipzig ohne Jahresangabe, S.3 - 30; Hans-Joachim Bauer, Richard-Wagner-Lexikon, Bergisch Gladbach 1988, S.522 - 527; Ernst Krause, Oper von A - Z, Ein Opernführer, Leipzig 1965, S.937 944. 6 Briefwechsel (FN 2), "Paris, 23. Nov. 59.", S. 261.

" ... selbst dann bin ich die Welt"

143

"Von einem Werk aber wie Tristan, wo jeder beim ersten Anblick der Partitur sagen muß: ,es ist etwas Ungeahntes, Wunderbares, Sublimes', da verkriechen und verstecken sich alle diese Laffen !"7

Von einen Produkt, mit welchen Wagner "noch etwas Curioses" vorhatte, das er "gut in das Italienische übersetzen zu lassen" gedachte, "um es dem Theater in Rio Janeiro ... zur ersten Representation anzubieten" und "dem Kaiser von Brasilien" zu "dediciren", damit es "genug ... abwerfen, um einige Zeit ungeschoren zu bleiben", sollte,8 wandelte es sich in der Realität zu einem der wunderbarsten, in vieler, aber stets positiver Hinsicht singulären und unbegreiflichen, ja superlativen Schöpfungen der Opernliteratur. Eine große Anzahl teils im Inneren gesammelter, teils aktuell-gegenwärtiger oder zumindest neuerer Einflüsse und Eindrücke stellen jene Größen dar, die den nüchternen Plan zur Unmöglichkeit machen. Novalis' (1772 - 1801) "Hymnen an die Nacht"9, Schopenhauers (1788 - 1860) Philosophie lO und die enge Beziehung zu Mathilde Wesendonk sind die Faktoren, welche neben dem Werk Gottfried von Straßburgs (um 1200) gewöhnlich genannt werden, um diesen Wandel zu zeigen. Schon Thomas Mann wies stolz auf seine Entdeckung einer weiteren Einflußgröße hin ll : die "Lucinde" von Friedrich Schlegel (1772 - 1829)12. Aber auch die Beschäftigung mit dem Werk von 7 Briefwechsel (FN 2), ,,21. September 60. Weymar", S. 279. Wir haben hier Äußerungen Wagners gewählt, die vielleicht weniger bekannt sind als die drastischen, welche er an Mathilde Wesendonk (1828 - 1902) schreibt (etwa im April 1859: "Kind! Der ,Tristan' wird etwas Furchtbares! ... ", vgl. Pahlen (FN 5), S. 267, und ähnliche). 8 Briefwechsel (FN 2), S. 175. Mit dem Kaiser von Brasilien ist Dom Pedro (Peter) 11. (1825 - 1891) gemeint, der das südamerikanische Land von 1831 bis 1889 regierte. 9 Von der Vielzahl der gegenseitigen Bezüge sei der Leser nur auf eine Stelle aus der 1. Hymne aufmerksam gemacht: "Preis der Weltkönigin, ... sie sendet dich mir - zarte Geliebte - liebliche Sonne der Nacht, - nun wach ich - denn ich bin Dein und Mein du hast die Nacht mir zum Leben verkündet - mich zum Menschen gemacht - zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnächt währt." (zit. nach: Novalis, Hymnen an die Nacht (Athenaeumsausgabe), in: Novalis, Dichtungen und Prosa, Leipzig 1975, S. 278). 10 Auch den Untersuchungen zum Verhältnis von Wagner und Schopenhauer kann und soll hier nichts hinzugesetzt werden, außer vielleicht der Andeutung, daß der Erlösungsgedanke des Philosophen, der, mit dem bewußtseinslosen Nichts-Zustand des buddhistischen Nirwana verbunden, pessimistische Züge trägt, mit der Wagnerschen Liebestod-Erlösung nur einige Äußerlichkeiten gemeinsam hat. Von den Werken Schopenhauers, das hier vornehmlich zu beachten ist, s.: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Ouo Weiß (Hrg.), Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, Erster und Zweiter Band, Leipzig 1919. 11 S. Thomas Mann (FN 3), S. 382 - 383. 12 Wir zitieren als Belege nur wenige Worte aus Schlegels Roman: "Nur in der Ruhe der Nacht ... glüht und glänzt die Sehnsucht und die Liebe hell und voll wie diese herrliche Sonne .... (Julius:) 0 ewige Sehnsucht! Doch endlich wird des Tages furchtlos Sehnen, eitles Blenden sinken und erlöschen und eine große Liebesnacht sich ewig ruhig fühlen." (zit. nach: Friedrich Schlegel, Lucinde, Ein Roman, in: Friedrich Schlegel, Werke in zwei Bänden, Zweiter Band (Bibliothek deutscher Klassiker), Berlin! Weimar 1980, S. 95,97.

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Hans-Georg Bartel und ludith Bartel

Pedro Calderon de la Barca (1600 - 1681), dessen Ehrbegriff er mit dem "Wesen der eigentlichen Welt"!3 in Verbindung bringt, und mit der DanteSymphonie Liszts 14 dürfen bei der Aufzählung nicht vergessen werden. So wird Wagner durch diese äußeren Anstöße in einen Zustand versetzt, in welchem er nur flehen kann: " ... was mir einzig helfen könnte, Kunst, Kunst bis zum Ertrinken und Weltvergessen"15. Jetzt muß die Arbeit am "Tristan" aus Wagner selbst erzeugt werden: " ... ich armer Teufel habe aber so ganz und gar keine Routine, und wenn's nicht von selbst geht, kann ich eben nichts machen. "16

und sie ist auf den Singularitäten eines selbstorganisierten Systems aufgebaut: "Ich stehe mit dem letzten Akte des Schmerzenkindes jetzt am äußersten Rande des ,to be or not to be' - ein kleiner Druck irgendeiner Feder des gemeinen Zufalls, dem ich so erbarmungslos preisgegeben bin, kann dieses Kind in den letzten Geburtswehen töten. "16

In einen Prozeß, der in beständigen Rückkopplungen, von einfachen Gedanken ausgehend, fortschreitet, entsteht ein kompliziertes Gebilde aus Worten und Musik, das den Schöpfer wie die Welt in höchstes Erstaunen versetzen muß. Ein wenig verständlicher wird dieses Phänomen, wenn man die außergewöhnliche Struktur der Basis bedenkt, von welcher Wagner beginnen konnte. Vergleichbar ist sie mit einem Chaos der Möglichkeiten, aus welchem Komplexes Form gewinnt, wenn ein Ensemble initiierender Einflüsse die Selbstschöpfung verursacht. Thomas Mann hat in einer, nur einem Künstler eigenen, empfindsamen Weise dieses Entstehen erfaßt, als er Wagners gesamtes Schaffen in die Worte faßte: "Sein Werk hat, genaugenommen, keine Chronologie. Es entsteht zwar in der Zeit, ist aber von vorhinein und auf einmal da. "17

Die Texte von Novalis und Schlegel haben wir weniger deswegen zitiert, um die Nähe zu Wagner aufzuweisen, sondern vielmehr darum, um die Entwicklung zum Höheren aufzuzeigen, welche Wagner leistete, als er sie auf die im "Tristan" ungewöhnliche emotionale Höhe der Musik heraufhob. Briefwechsel (FN 2), "Paris, Jan. 1858", S. 188. Liszts "Eine Symphonie zu Dantes Divina Commedia" von 1856 hat Wagner genau studiert. Bedenkt man, welche Rolle Beatrice (gest. 1290), die Geliebte von Dante Alighieri (1265 - 1321), in dessen Leben und Werk spielte, insbesondere im Paradies der "Commedia", und beispielweise an Liszts Bemerkung: "Wo gebe es Glück in dem beschränkten monotonen Sinn, der so albern diesem Wort beigelegt wird? - Nur Entbehren und Entsagen hält uns aufrecht auf diesem Erdboden." (Briefwechsel (FN 2), ,,14. Mai 59. Weymar.", S.252 - 253), die zwar mittelbar, aber deutlich das "DanteThema" berührt, so ist auch damit der Anschluß an die Gedankenwelt des "Tristan" offenbar. Immerhin ist die Dante-Symphonie - "Weymar - Ostern - 59." - Wagner von Liszt gewidmet worden (Briefwechsel (FN 2), S. 248). 15 Briefwechsel (FN 2), "Luzern, 8. Mai 59.", S. 248. 16 Briefwechsel (FN 2), "Luzern, 8. Mai 59.", S. 249 - 250. 17 Thomas Mann (FN 3), S. 370. 13 14

" ... selbst dann bin ich die Welt"

145

Zugleich kommt hiermit aber auch ein umfassenderer selbstorganisatorischer Vorgang zum Ausdruck, in welchem die Ideenwelt der Romantik in sich selbst die Mittel schuf, die ihre Ursprünglichkeit, verkörpert durch Novalis, Schlegel und auch Carl Maria von Weber (1786 - 1826), zu den unergründlichen und in ihrem Niveau absoluten Gipfeln führte, die Wagner mit "Tristan und !solde" erreichte. 111. Stichpunkte zur Musik

Es ist, das Wort Thomas Manns "Er war Musiker als Dichter und Dichter als Musiker. "18

beachtend, schwer, bei der Behandlung eines Wagnerschen Werkes das Primat dem Text oder der Musik zu geben. Die Linearität des geschrieben Wortes verlangt eine Sequenz, welche wir daher, den Ausführungen des vorhergehenden Abschnitts folgend, der letzteren geben wollen. Die Einzigartigkeit und Ursprünglichkeit der "Tristan"-Musik ist so offenkundig, so daß sie vielmals, umfassend und möglicherweise zuweilen unangemessen breit dargelegt wurden. 19 Die beiden Begriffe, die sofort assoziiert werden, wenn von dieser Musik die Rede ist, sind der des Tristan-Akkords und der der unendlichen Melodie. Der erstere begegnet dem Hörer am Anfang des Vorspiels zum ersten Akt, nachdem die Violoncelli einen Sextensprung von A nach F mit einer kleinen nachfolgenden Abwärtsbewegung nach E vorgetragen haben,zo Er erklingt in den Holzbläsern, mit dem 1. und 2. Fagott beginnend, über das Englischhorn und zwei Klarinetten (in A) bis zu den beiden Oboen in den Tönen F-H-DisGis. Der kurze Seufzer der Celli ist übergegangen in ein Spiegelbild der 18 Thomas Mann, Richard Wagner und der "Ring des Nibelungen", in: Thomas Mann, Adel des Geistes (FN 3), S. 428. 19 Den tiefen und umfangreichen Darlegungen der "Tristan"-Musik wagen wir hier analytisch nichts hinzuzusetzen, und wollen es auch nicht. Der Leser sei beispielsweise verwiesen auf das ältere Werk von Karl Mayrberger, Die Harmonik Richard Wagners, an den Leitmotiven des Vorspiels zu "Trist an und !solde" erläutert, Chemnitz 1882, und die über 140 Seiten umfassende Darlegung von Martin Vogel, Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonie-Lehre, Düsseldorf 1962. Die Unangemessenheit mancher dieser Abhandlungen basiert darauf, daß Wagner weniger konstruiert hat, als dort auseinanderlegend interpretiert wurde, und auf der Nichtausschöpfung von Mitteln, die dem behandelten Stoff angepaßt sind. So schreibt auch Pahlen: "Natürlich haben die Theoretiker Erklärungen dieses Akkordes gegeben; aber Wagner hat, als er ihn schrieb, bestimmt an keine Theorie gedacht, sondern nur an den gefühlsmäßigen Ausdruck, den er in diesen Mehrklang legte." (Kurt Pahlen, Oper der Welt, Richard Wagner, Tristan und Isolde, Textbuch, Einführung und Kommentar, Mainz/München 1988, S. 16). 20 Hinsichtlich der Partitur beziehen wir uns auf: Richard Wagner, Tristan und Isolde, Edition Eulenburg No. 905 (E. E. 6076), London/Mainz/New York/Tokyol Zürich ohne Jahresangabe.

10 Selbstorganisation, Bd. 4

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Sextensprungchromatik, aus sich also in den dissonanten Urbaustein der Welt, deren Entstehen das Werk ausdrücken will, die Welt der Liebessehnsucht und des Liebestodes, einer vielleicht zyklischen, gewiß aber unendlichen Welt. Eine chromatische Folge Gis-A-Ais-H, die häufig als "Sehnsuchtsthema" bezeichnet wird, erreicht bei Ais einen in seinem dissonanten Charakter gemilderten Akkord E-Gis-D-Ais, endet aber mit dem H, ohne in eine Konsonanz überzugehen, die die herbeigeführte Spannung aufgelöst und den Zustand des Gleichgewichts und der Ruhe vermittelt hätte. Die so beschriebene Phrase wiederholt sich noch zweimal mit leichten Abwandlungen, etwa der Weiterführung der chromatischen Tonreihe durch die Sequenzen H-CCis-D und D-Dis-E-Eis-Fis, auf diese Weise Verbindung und Entwicklung andeutend, ohne wesentliche Änderungen herbeizuführen. Harmonisch und melodisch ist bereits mit der ersten Phrase das zugleich Einzigartige und Fundamentale geschaffen und dargestellt, das die Oper kennzeichnet. Daß mit dem Tristan-Akkord und dem Sehnsuchtsthema der erst und nur potentiell strukturierte Uranfang der sich entwickelnden Liebes-SehnsuchtsWelt hörbare Form erhalten hat, drückte Thomas Mann mit den Worten aus: " ... und er schreibt die vier chromatisch aufsteigenden Töne hin, mit denen er sein Opus metaphysicum beginnt und mit denen er es aushaucht, das gis-a-ais-h; ... Es ist der symbolische Tongedanke, ... der in der Kosmogonie des ,Tristan' den Anfang der Dinge bedeutet, wie im ,Ring' das Es-Dur des Rheinmotives."21.

Diese Aussage gewinnt Bedeutung, wenn man Manns Betrachtung über den Beginn des Vorspiels zum "Rheingold" hinzunimmt: "Es war zuviel verlangt, den Es-Dur-Dreiklang, der das Rheingoldvorspiel ausmacht, bereits Musik nennen zu wollen. Es war auch keine. Es war ein akustischer Gedanke: der Gedanke des Anfangs aller Dinge. "22.

Natürlich herrschen im musikalischen Sinne große Unterschiede zwischen den harmonischen und melodischen Verhältnissen der ersten Phrase des "Tristan"-Vorspiels und der ausgedehnten Kontrapunkt-Leere des Kontra-Es im "Rheingold" . Aus beiden Ursprüngen entsteht durch sich selbst eine Welt, ein Kosmos. Da diese aber grundlegend unterschiedlich sind, muß es auch die Musik sein. Im "Ring" ist es die sich immer komplexer gestaltende äußere Welt: Ausgehend vom chaotischen Zustand, der aus sich die Urformen und Urstrukturen des realen, globalen Seins erzeugt, schreitet die Evolution fort: "In der ,Walküre' folgt die Entwicklung der Menschheit, wie sie auszog, Macht und Reichtum zu erwerben, nur ganz allmählich gewinnt im Umkreis der Götter das Menschliche mit Siegmund und Sieglinde Raum."23.

21 Thomas Mann (FN 3), S. 385. 22 Thomas Mann (FN 3), S. 364. 23 Krause (FN 5), S. 359 - 360.

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Neben diesen Naturkräften steht die abstrakte, innerlich-emotionale "Tristan"-Welt, deren Darstellung und selbst organisatorisches Fortschreiten ungewöhnliche musikalische Mittel erforderte, welche in der Singularität der Verhältnisse nur das Genie Wagner hervorbringen konnte, ungewöhnlich, weil die zu beschreibende Welt in diesem Grad der Abstraktion noch niemals unternommen worden war. Selbstverständlich hat auch die Wagnersche Musik Quellen, eine vorbereitende Geschichte, und doch kann ihr eigentliches, einzigartiges Wesen nicht aus dem Vergangenen auf irgendeine Weise im gewöhnlichen Sinn deduziert werden. Da der von Wagner gefühlte Sehnsuchts- und Todesgedanke - wie wir sehen werden - mit dem Ewig-Undendliehen, dem Aspekt des aus der eigenen Gespanntheit verursachten, andauernden Fortschreitens verbunden ist, muß seine Musik Momente der Ruhe, Ausgeglichenheit, Rast, Endlichkeit und Abgeschlossenheit vermeiden. Eine "tonale" Komposition kann das ebenso nicht erreichen wie eine konsonante. Daher beschreitet Wagner den Weg einer stark erweiterten "Tonalität" und der beständig gespannten Harmonik, der Dissonantik. Wie allgemein bekannt ist, sind Dissonanzen auch vor Wagner ein musikalisches Ausdrucksmittel. Selbst der Tristan-Akkord an sich findet sich bereits im Takt 36 des Allegro der 18. Klaviersonate in Es-Dur (op. 31, No. 3)24 von Ludwig van Beethoven (1770 - 1827), hier als F-Ces-Es-As enharmonisch zu F-H-Dis-Gis. Nur ist er hier ein Ausdrucksmittel, eine flüchtige Episode mit Bezugnahme auf den Akkord im Takt 4, im Kontext eines Werkes, das als insgesamt "heiter eleviert"25 bezeichnet wurde, bzw. seines einleitenden Satzes im 3/4-Takt, der "freundlichen Menuettcharakter"25 hat. Gerade aus diesem Vergleich verdeutlicht sich die vollständig andere Funktion des Akkordes am Anfang der Wagnerschen Oper. Tatsächlich sind mit der ersten Phrase die Grundelemente des Vorspiels zum ersten Akt und des gesamten Werkes gegeben. Das Sehnsuchtsthema der dritten Wiederholung geht über eine Fortsetzung in das ebenfalls stark chromatisch, aber kurze Thema der Liebesleidenschaft über, an welches als dritte Veränderung das "Blick-Thema" anschließt. Diese drei Gedanken verarbeitend, entsteht im Vorspiel eine Entwicklung, die über einen temporären Gipfel der Ekstase in die Elementarität des Sehnsuchtsthemas zurückführt. Ein durch die Notwendigkeit der Linearität und vereinfachend als ABA gezeichneter Zyklus, bei dem allerdings das erste und zweite A nicht völlig übereinstimmen, wurde geschlossen. Auch diese Struktur des ewigen, aber doch immer wieder variierten Kreislaufs, einer ewig-ewigen Innovation und Steige24 Ludwig van Beethoven, Sonaten für Klavier zu zwei Händen, Band 11, hrsg. von Max Pauer, nach den Quellen neu durchgesehen von Carl Adol! Martienssen, Leipzig 1961, S. 332. 25 Walter Siegmund-Schultze, Ludwig van Beethoven, in: Christo! Rüger (Hrsg.), Konzertbuch, Klaviermusik A - Z, Leipzig 1988, S. 109.

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rung, ist ein fundamentales Prinzip der Oper und der durch sie ausgedrückten Welt. Der Kosmos, dessen Evolution die Oper darstellen möchte, ist - wie gesagt - kein äußerlicher, es ist das sich erzeugende, struktuierende All der Emotionen. Die damit verbundene nichtabschließbare Abgeschlossenheit und der analytisch nicht aussprechbare Charakter bedingen das Primat des musikalischen Mittels, das aber von jeder Endlichkeit befreit sein muß. Die abgeschlossenen, klaren und symmetrischen Strukturen der Melodie, des "zeitliehen" oder horizontalen Fortschreitens also, welche die Klassik streng und die Romantik bereits aufgelöster benutzten, waren dem Ziel keineswegs dienlich und angepaßt. Der "Tristan"-Stoff benötigt die von Wagner hierfür geschaffene unendliche Melodie, d. h. "lange melodische Phrasen, ... die nicht beendet werden, sondern immer wieder in weitere melodische Bildungen fortgeführt werden. "26 Sowohl der Begriff der unendlichen Melodie als auch ihre Praxis bezeugen die Erfüllung der gewünschten Aufgabe: die Abgeschlossenheit ( = Melodie) in nicht endender Fortsetzung. Die Vereinheitlichung der Gegensätze impliziert die zyklische Höherentwicklung, welche durch die Vertikalität der hier dissonanten Harmonik und die Aufwärtsbewegungen chromatischer Folgen unterstützt wird. Ohne auf zahlreiche Details des Werkes eingehen zu können, wollen wir nur einige Aspekte aufzeigen, welche als Indizien gelten mögen, den selbstorganisatorischen Aufbau der genannten Welt zu verdeutlichen. Eines der hier meisterhaft benutzten Prinzipien ist das des vorsichtigen, aber stetigen Fortschreitens, basierend auf einem einfacheren Ursprung. Denken wir als einen solchen etwa die chromatische Folge der ersten drei Phrasen des Vorspiels. Sie erwachsen aus dem Tristan-Akkord, erzeugen in ihrer Tonabfolge ein beinahe, aber eben nur beinahe vollständiges Element: Die erwartete und eigentlich auch schon gefühlte Zwölftonreihe, beginnend bei Gis, endent aber schon bei Fis, das folgende G und das abschließende obere Gis vorerst vermeidend. In der zweiten Szene des zweiten Aufzuges, nachdem Tristan in der besinnlichen Ruhe nach der Liebesekstase seinen Hymnus auf "das Sehnen hin/ zur heil'gen Nacht, wo urewig,/ einzig wahrt Liebeswonne ihm lacht!" beendet hat, spielt die Soloflöte die gesamte Folge: Gis-A-Ais-H-His-Cis-D-Dis-EEis-Fis-G-Gis, beginnend über dem Gis-"wahr" .27 Und wieder ist das untere punktierte Halbton-Gis nur dem oberen Triller-Gis, das zu einem H überleitet, ähnlich, einen Kreis bildend, der im eigentlichen Sinne eine aufstrebende, sich komplizierende Spirale ist. Natürlich erklingt das nun vollendet-unvollendete Sehnsuchtsthema an dieser Stelle, Zukünftiges vorbereitend und vorahnend, nicht zufällig.

26

27

Pahlen (FN 19), S. 315.

Partitur (FN 20), S. 545 - 547.

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Ein vergleichbares Verhältnis bildet der Zusammenhang von Gis und As, die in einer strengen temperierten Stimmung zusammenfallen. Wo Wagner vor dem Ende der Oper auf eigentliche Tonarten zugreift, dominiert As-Dur. So im zweiten Akt, im Zwischenspiel nach den Tag-Nacht-Gedanken des Liebespaares und deren komplizierten Tonartenwechseln, indem die nun eingetretene Wendung nach Innen Gleichgewicht und Ruhe, aber in voraussehbarer Endlichkeit, symbolisiert. Gis ist der obere Ton des Tristan-Akkords und Ausgang und Ende des Sehnsuchtsthemas. Isoldes Gedanken in der zweiten Szene des ersten Aktes "Mir erkoren,/ mir verloren" stellen die chromatische Folge D-Es-E-F, F-Fis-G-As dar, die mit "hehr und heil,! kühn und feig" enharmonisch wechselt und weiterführt: Gis-A-Ais-H, H-C-Cis-D, unmittelbar an das Sehnssuchtsthema erinnernd, um in das As-Dur des Todesthemas überzugehen. 28 Noch im ersten Akt (3. Szene) begegnet uns die chromatische Reihe verkürzt und rhythmisch abgewandelt wieder in Isoldes Klage "Ungeminnt ... "29, jetzt auf Gis basierend (D-Dis-E, E-Eis-Fis, Fis-G-Gis-A) und mit C-H endend. Auch im Gespräch über den Todes-Liebes-Trank im zweiten Akt werden Brangänes Worte "dein Werk"3o, also Isoldes Tat meinend, mit dem Todesthema-Anfang begleitet, wobei wieder Gis-Dur enharmonisch für das ursprüngliche As-Dur steht und somit Gleichheit und Verschiedenheit eine Einheit bilden. Schließlich beginnt Isolde den Liebestod-Gesang in AsDur3!, der dunklen Tonart, gelegendlich Gis-Dur andeutend, das vermutlich das helle H-Dur vorausahnend, das ihm nähersteht und nach elf Takten einsetzt, um den Schluß der Oper lichtvoll zu gestalten. Erwähnt wurde das Todesthema, das wir abschließend noch betrachten wollen. Erstmals begegnet es in den Bläsern als musikalischer Hintergrund zu Isoldes Ausruf: "Todgeweihtes Haupt!/ Todgeweihtes Herz!"32 im ersten Akt. Diese sieben Takte stellen die Folge von vier quasi beziehungslosen Harmonien mit den Grundtönen As, A, Fund C dar, wobei die letztere stark den Leitton H betont. Dieser schnelle Wechsel der Tonarten ist typisch für diese Oper, dessen Spannung und Nichtabgeschlossenheit fühlbar machen, daß der hier vorgeahnte und später immer wieder zitierte Tod weder Abfall noch Ende bedeutet, sondern den Übergang in einen höheren Zustand des ewigen Fortbestandes. Die Einzigartigkeit der Tristan-Musik offenbart sich in ihrer Wirkung, welche beweist, daß das Ziel, die abstrakte Beschreibung der sich entwickelnden Welt der Liebe zu verwirklichen, durchaus erreicht wurde. Entgegen dem Partitur (FN 20), S. 45 - 46. Partitur (FN 20), S.134 - 135. 30 Partitur (FN 20), S. 366. 3! !soldes Liebestod beginnt Partitur (FN 20), S. 994, der H-Dur-Teil setzt S. 997 ein und endet mit dem Werk S. 1025. 32 Partitur (FN 20), S. 46. 28 29

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Wagnersehen Konzept des Gesamtkunstwerkes erlangt hier bereits die Musik allein, was eigentlich nur im Zusammenspiel mit dem Wort und der Bewegung möglich sein sollte. Die letzteren runden das Werk in seiner Größe ab, ihre Abwesenheit verhindert aber die Resonanz nicht, die die Musik hervorruft. Anton Bruckner (1824 - 1896) hat die Oper einem biblischen Buch gleichgesetzt, ohne ihren Text jemals eigentlich beachtet zu haben. 33 Leonhard Bernsteins (1918 - 1990) fast konzertante Aufführung des Werkes 1982 im Münchener Herkules-Saal oder gar Schallplatten- und Rundfunkwiedergaben üben beinahe dieselbe Wirkung aus wie die vollständige Bühnenaufführung. Die innere, abstrakte Welt ist gerade durch die harmonisch und melodisch adaptierte Musik erschöpfend ausgedrückt. IV. Streiflichter zum Inhalt und zur Handlung

Auf diesem Hintergrung ist es uns möglich, die Dichtung und den Gehalt des Werkes vorerst nur mit angemessener Kürze zu bahandeln, um ausführlichere Darlegungen eventuell zu einem späteren Zeitpunkt und an anderer Stelle auszuführen. Das sollte insbesondere den dritten Akt betreffen, der innerhalb der Oper eine gewisse Eigenständigkeit besitzt, eine eigene Welt im Kosmos des Gesamtwerkes bildet. Aber auch insgesamt möchten wir uns auf Details beschränken, um folgende Untersuchungen vorzubereiten und ihrer Mitteilung Raum zu überlassen, den der Stoff überreich bietet. Das "System", dessen zunehmende Komplexität und Evolution Wagners "Handlung" schildert, ist das der dualen Einheit, welche dem Werk den Titel gab: Tristan und Isolde. Diese das bleibende Selbst bedingende Zweiheit polarer Gegensätze wird von Wagner auf unterschiedliche Weise ausgedrückt. So z. B. in dem von Gottfried übernommenen Spiel mit der Konjunktion "und" im zweiten Akt, die die bei den Namen, die beiden Prinzipe, das Yin und das Yang der chinesischen Philosophie, zugleich verbindet und trennt. Wenn der Komponist gegen seine Theorie - ebenfalls im zweiten Akt - ausführlichen Gebrauch von der Form des Opernduetts macht, so nur darum, um der Selbsterzeugung der Strukturen durch das Wechselspiel dieser Polaritäten, die in ihrem Wesen aber verschmolzen sind, adäquaten musikalischen Ausdruck zu verleihen. Die erzeugende und vorwärtstreibende Potenz dieses Zusammenwirkens ist das Liebesverlangen als "süßleidig-weltschöpferisches Prinzip"21, welches Schopenhauer den Brennpunkt des Willens nannte. Über die von Wagner vollzogene "dichterische Gleichsetzung von Wille und Liebe"34 urteilt Thomas Mann: 33

34

Vgl. Oskar Loerke, Anton Bruckner, Ein Charakterbild, Berlin 1938, S. 208. Thomas Mann (FN 3), S. 386.

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"Diese steht einfach für den Willen zum Leben, der im Tode nicht enden kann, sondern frei wird aus den bedingenden Fesseln der Individuation. "34, die Bedeutung des hier als Höherentwicklung angestrebten Liebestodes andeutend. Die Liebe als abstrahierte Kraft besitzt durchaus "versklavende" Züge, die denen - allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen - entsprechen, welche sich aus der Bejahung der von Trilling gestellten Frage ablesen lassen: "Kann nicht auch ,Sünde' zu einer Großmacht werden, die sich zwar aus einzelnen bösen Gedanken oder Taten aufbaut, dann aber ein Eigenleben mit tran si ndivi dueller Verführungskraft entwickelt und sich etabliert - und danach wiederum den einzelnen sucht und braucht, um sich auszuleben?"35. Dieser Vergleich mit einer religiösen Problematik sollte kein Hinweis darauf sein, daß die Liebe des "Tristan"-Dramas direktere Bezüge zur göttlichen oder christlichen Liebe der Bibel aufzuweisen hätte. Auch hier beziehen wir uns wieder auf Thomas Mann, wenn vielleicht auch mit gebotener Vorsicht bezüglich der Absolutheit seiner Aussage: "Es gibt ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik, den kosmogonischen Mythos, in dem das Sehnsuchtsmotiv die Welt hervorruft. "34. Tatsächlich sind zu einem unbestimmten Zeitpunkt, der vor dem Beginn der Opernhandlung liegt, Extrema in ihr ausschließendes Gegenteil umgeschlagen, Umwandlungen also eingetreten, die aus der Yin-Yang-Lehre wohlbekannt sind: Haß wird zu Liebe im dem singulären Augenblick eines Blickes. Die Symmetrie der Inversion der getrennten Gegensätze wurde gebrochen zur belebenden Asymmetrie der sich als Einheit bedingenden Zweiheit, oder richtiger: Der Keim für eine solche Entwicklung ist angelegt, dessen ungehindertes Wachsen hemmende Prinzipe wie die Einhaltung der Ehre noch einschränken. Wichtig scheint es hier an einen Unterschied zwischen der Wagnersehen und der von Gottfried gestalteten Darlegung zu erinnern: Bei dem letzteren ist der Liebestrank das auslösende, bestimmende Moment der Entwicklung. So heißt es in seinem Epos, nachdem "Isot unde Tristan,! den trane getrunken beide"36: " ... und zoch si beide in ir gewalt:/ si wurden ein und einvalt,l die zwei und zwivalt waren e; / si zwei enwaren do nieme/ widerwertic under in: / !sote haz der was do hin. "36. !soldes Bericht über die Vorgeschichte in Wagners Dichtung, welcher musikalisch mit den Themen der Sehnsucht, des Todes und des Blickes verbunden wurde, läßt deutlich werden, daß die gemeinsame Einnahme des Trankes nur 35 Wolfgang Trilling, Mit Paulus im Gespräch, Eine Einführung in sein Glauben und Denken, Leipzig 1988, S. 65. 36 Zit. nach: Gottfriefvon Straßburg, Aus dem Tristan, Verse 11708, 11709, 11715 11720, in: earl Wesle / Heinz Stolte, Mittelhochdeutsches Lesebuch, Gotha 1949,

S. 101 - 102.

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ein weiterer singulärer Punkt in der Evolution der durch das zuvor begründete Liebesverhältnis aufgespannten Welt ist. Er versteht sich als Anfang nur im Sinne des Erreichens einer neuen Stufe der sich organisierenden Beziehungen, er war es unausweichlich ebenso wie zufällig. Das Ergebnis ist die Offenbarung, das Schwinden innerer Widerstände und die Herausbildung enger, vereinheitlichender Wechsel wirkungen. Tristans Worte etwa über das "nächt'ge Land", aus welchen ihn die Mutter entsandt hat, oder in seinem Gesang im dritten Akt legen sogar nahe, über die schon angedeutete Zyklizität des Liebeskosmos nachzudenken. Die immer wieder auftretende Dreiheit symbolisieren ABA'-Sequenzen. Indem A' eine Höherentwicklung des A darstellt, wird es zu einem Neuanfang einer ewig geschlossenen Bewegung. Dieses ABA' findet sich ebenso in der im Werk so vordergründigen Beziehung von Tag/Licht und Dunkelheit/Nacht wie in der Dreiteiligkeit der Oper. Die Akte, der erste und dritte mit einem Vorspiel, der zweite mit einer Einleitung beginnend, sind eine Abfolge von Tag (= Morgen = nach der Nacht)-Nacht-Tag (= Abend = vor der Nacht), wobei die gegenüber dem natürlichen, beobachtbaren Zeitablauf umgekehrte Richtung als Hinweis angesehen werden kann, daß die treibende Kraft der Entwicklung aus der Zukunft kommt, auf diese Weise den zyklisch-unendlichen Evolutionsgedanken klarlegend.37 Wapnewski äußert implizit dieselbe Idee im räumlichen Kontext: "Ortsbeschreibung des ,Tristan' : Das Schiff: Die Zelle der Liebesoffenbarung. Der Garten Markes: Die Zelle der Liebesverwirklichung. Der Burghof Tristans: Die Zelle der Liebes-Ewigung. "38,

wobei es über den letzteren heißt: "Hier, im verfallenen Burghof zu Karleon, verstricken sich Anfang und Ende, Ursprung und Vergehen."38.

Der Garten, die vorausgehende Entwicklungsstufe der Liebes-SehnsuchtWelt, wird gekennzeichnet: "Als Ort der totalen Verschmelzung der Liebenden zu einer die Individuation aufhebenden Einheit, Ich und Du austauschend und damit annullierend, den Dialog reduzierend zum Monolog, den doppelten Singular vereinigend zum Dual: als solcher Ort ist der Garten zugleich Ort tiefster Gewißheit - also Sicherheit - wie andererseits extremer Gefährdung. "39.

Die sich zur Ewigkeit vollendende Endlichkeit kommen in Tristans Worten zum Ausdruck: "Ich war, / wo ich von je gewesen, / wohin auf je ich geh': / im 37 Auch die "Commedia" Dantes zeigt eine dreiteilige Form. Wenn sie Wagner wegen der dort geschilderten Aufwärtsbewegung und erlösenden Verklärung zum Vorbilde genommen hat, dann hat er aber ihre Linearität durch die in die Geradlinigkeit projezierte Zyklizität zu ersetzen verstanden. 38 Peter Wapnewski, Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981, S. 112 - 113. 39 Wapnewski (FN 38), S. 111 - 112.

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weiten Reich/ der Weltennacht. "40 Und assoziiert nicht dieses vorausgehende dreifache" ... das kann ich dir nicht sagen"41 in seinem Kontext die Herkunft oder besser die Wiederkunft Tristans aus einer Welt anzunehmen, von der der Apostel Paulus schreibt?42 Immerhin drückt Paulus zweimal sein Nichtwissen über den Zustand des Entrückens und über die Möglichkeit der Wiedergabe der dort gehörten Worte aus, "welche kein Mensch sagen kann. "42 Es ist sicher nicht richtig, hier einen direkten Hinweis auf das himmlische Paradies sehen zu wollen. Aber der abstrakte Bezug auf die unaussprechliche Welt der jenseitigen Erlösung und Unendlichkeit scheint schon erahnbar zu sein. Zumindest kann der Liebestod auf diesem Hintergrund keinen Zug des Abschließenden tragen. Die tiefgreifende Diskussion der Verhältnisse von Zeit und Raum, Zeit und Unendlichkeit/Ewigkeit, Einheit und Dualität sowie des gemeinsamen "Ewig, ewig ein" möchten wir hier nicht führen. Es genügt die Evolution der TristanWelt in groben Zügen angedeutet zu haben. Wenn wir hier Evolution als beständige Abfolge von Selbstorganisationsprozessen verstehen, so ist es nicht notwendig den Aspekt des aus sich selbst und durch sich selbst schaffenden Systems "Tristan und !solde" ausführlich zu deduzieren, da alles, was in Wagners Werk geschieht, allein durch das Wechselspiel dieses Liebespaares hervorgerufen wird und die "Handlung" sich einzig in diesem "System" vollzieht. Alle anderen Personen sind Stör- und Einflußgrößen einer Umgebung, etwa einer Welt der Ehre, die nur temporäre, wenn auch zuweilen heftige, Schwankungen in der Entwicklung des Liebes-Sehnsuchts-Kosmos hervorrufen können. In der Form des vereinheitlichenden Duetts und unter Benutzung des auf diese Weise den Doppelcharakter von Individualität und Zweiheit annehmenden Ichs singen Tristan und Isolde: " ... selbst dann / bin ich die Welt: / wonnehehrstes Weben,! liebeheiligstes Leben. I Nie-wieder-Erwachens/ wahnlosl holdbewußter Wunsch. "43. V. Zur Interpretation Die musikalisch-dichterische Vorstellung der hier wenigstens nachgewiesenen Herausbildung der Tristan-Welt auf der Basis einer selbstorganisierten Entwicklung sollte in einer Inszenierung und Aufführung der Oper in der einen oder anderen Form Berücksichtigung finden. Dabei ist zu beachten, daß dem abstrakten, aus sich gegebenen Geschehen keine von außen konstruierte Idee aufgeprägt wird. Es darf auch nicht mehr interpretiert werden, als der emotionale Stoff erlaubt, die Nähe zum Elementaren wahrend. Partitur (FN 20), S. 752 - 753. 41 Partitur (FN 20), S. 751 - 752. 42 Die andere Epistel S. Pauli an die Korinther, 12. Kapitel, Verse 2 - 4. 43 Partitur (FN 20), S. 563 - 569. 40

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Geschaffen werden darf und muß eine Atmosphäre der Abstraktion, in der der musikalischen Inkarnation der großen weltschöpferischen Macht der Liebe und Liebessehnsucht wohl keine Alleinherrschaft, durchaus aber ein gewisses Primat zukommt. Wenn die - vorläufig als Fama - geäußerte Auffassung Heiner Müllers, daß für die Ausstattung des dritten Aktes das genüge, was ohnehin zufällig auf der Bühne vorgefunden wird, wahrhaftig und ehrlich, nicht also gekünstelt-intellektuell ist, so wäre sie ein Ausdruck einer verständnisvollen Interpretation und angemessener Darstellungsweise, Gefühl und Einfühlung verratend, auf deren Grundlage das Werk allein zu "verstehen" ist.

Der Schwindel und das Trübe Dynamische Prinzipien in Ästhetik und Kreativität 1

Von Hans-Jürgen Krug, Berlin "Daß am schönsten die verstimmten Claviere sind, die leicht verstimmten, vor allem in den überlagen, das konnte ich doch nie jemand sagen, das hätte niemand verstanden. Und ich denke: mit Grund." Johannes Bobrowski, Litauische Claviere 2 "Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? und wißt ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen, ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes, gar mühelos in die Herzen eindringt, an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen? Ja, mühelos rührt der Pfiff eines Vogels an den Grund unseres Herzens und dadurch auch an die Wurzeln der Handlungen." Anna Seghers, Motto 3

I. Einführung und Anliegen

Viele Gebilde, die in der Natur durch Selbstorganisation entstanden sind, haben von je her ein ästhetisches Interesse hervorgerufen; nicht von ungefähr spricht man von den "Kunstformen der Natur". Wie sich bei den von Menschenhand geschaffenen Kunstwerken das ästhetische Ideal von klaren, streng symmetrischen Formen einmal zu gebrochenen Symmetrien, zu barocken, ja bizarren Formen verlagern sollte, vollzog sich in den Naturwissenschaften eine ähnliche Entwicklung: Standen urprünglich die Analyse und Synthese einfacher Strukturen, etwa platonischer Kristallkörper , im Mittelpunkt der auch 1 Erweiterte Fassung eines Vortrages, gehalten auf dem IH. Herbsttreffen "Metamorphosen" des Kunstvereins Schloß Röderhof, 10. - 13.9. 1992. Mein Dank gilt den Teilnehmern des Herbsttreffens für anregende Diskussionen, den Herausgebern des vorliegenden Bandes sowie Herrn Dr. Ludwig Pohlmann (Berlin) für die kritische Durchsicht des Manuskripts. 2 Johannes Bobrowski, Litauische Claviere, Berlin 1966, S. 169f. 3 Anna Seghers, Motto der "Schönsten Sagen vom Räuber Woynok" (1938), zit. nach: A. Seghers, Die Macht der Worte, Leipzig/Weimar 1979, S. 14.

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Hans-Jürgen Krug

ästhetisch motivierten Untersuchungen,4 so sollte sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert das Interesse der Forscher auf die von der Natur eigentlich in viel größerer Zahl hervorgebrachten komplexen Strukturen ausdehnen. Dazu gehören die in jener Zeit entdeckten Runge-Bilder, die LiesegangRinge, die osmotischen Gewächse oder die schon früher gefundenen Lichtenberg'schen Staubfiguren. Neben dem unmittelbaren naturwissenschaftlichen Forschungsmotiv , etwa die Phänomene des Lebendigen durch physikalischchemische Konstellationen nachzuahmen und zu verstehen, war es auch die oftmals ausgeprägte Schönheit dieser im Labor erzeugten und in der Natur ähnlich vorgefundenen Gebilde, die die Untersuchungen auf diesem Feld fokussieren sollte. Die Schönheit dieser Gebilde war von besonderer Art: Sie verband das Bizarre, Rätselhafte und Geheimnisvolle mit dem Gefälligen; eine Konstellation, wie sie von Forschern und Kindern geliebt wird. 5 Zu diesen Kunstformen der Natur und des Labors sollten sich in der jüngeren Vergangenheit die mit modernen Computern erzeugten Farbgraphiken der nichtlinearen Dynamik, insbesondere solche mit einer ,fraktalen' Geometrie gesellen. Wiederum ist es die Schönheit der oftmals sehr farbenprächtigen Bildschirmgraphiken - besonders wenn sie uns als eine bewegte Bilderfolge dageboten werden -, die als Triebkraft der eigentlichen Forschungsarbeit dient und auch die Möglichkeit bot, einmal eine breitere Öffentlichkeit auf ein Gebiet zu lenken, das über viele Jahrzehnte wegen der bislang fehlenden Anschaulichkeit der mathematischen Strukturen nur einem engen Kreis von Spezialisten vorbehalten geblieben war. 6 4 Bei der Formulierung von Naturgesetzen oder Ordnungsprinzipien in der Musik ist man traditionell weniger bestrebt, eine möglichst genaue Beschreibung der vorgefundenen Wirklichkeit zu geben, sondern zu möglichst einfachen oder dadurch "schönen" Formeln zu gelangen. Vgl. dazu die Ausführungen von Gustav E. R. Schulze, Zur Rolle des Einfachheitsprinzips im physikalischen Weltbild, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Math.-naturwiss. Klasse, 110 (1974), Heft 6, S. 1 - 23. 5 Der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge (1794 - 1867) nannte nicht von ungefähr die 1850 in Berlin erschienene erste Ausgabe seiner Kapillarbilder: "Musterbilder für Freunde des Schönen und zum Gebrauch für Zeichner, Maler, Verzierer und Zeugdrucker". Im Jahre 1970 wurde in der Kunsthalle Nürnberg unter dem Titel "Der Bildungstrieb der Stoffe", dem Namen der zweiten, 1855 in Oranienburg erschienenen Ausgabe der Runge-Bilder, eine Ausstellung von Exponaten veranstaltet, die sich nach der ersten Formung durch den Künstler durch physikalisch-chemische oder biologische Vorgänge von selbst weiter gestalten. Vgl. Katalog Nr. 2/1970 der Kunsthalle Nürnberg zur Ausstellung, die vom 30. 4. - 31. 5. 1970 stattfand. 6 Aus der hierzu recht zahlreich vorhandenen Literatur vgl. etwa H.-O. Peitgen / Peter H. Richter, The Beauty of Fractals, Berlin u. a. 1986; Benna Hess / Mario Markus / Stf!fan C. Müller / Theo Plesser, Formbildende Dynamik in Chemie und Mathematik. Asthetik in der Wissenschaft, Dortmund 1987; Peter H. Richter / Hans-Joachim Scholz, Der Goldene Schnitt in der Natur - Harmonische Proportionen und die Evolution, in: Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.), Ordnung aus dem Chaos. Prinzipien der Selbstorganisation und Evolution des Lebens, München/Zürich 1987, S.175 - 214.

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Die mathematischen Trajektorien und Attraktormengen der nichtlinearen Dynamik zeigen einerseits auch das Spannungsfeld zwischen dem Bizarren und dem Gefälligen, aber die Möglichkeit, Bilder zu bewegen, fügt dem noch die Komponente des Schwindels hinzu. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Darstellung der durch ,Wasserscheiden' abgegrenzten Attraktionsbereiche bestimmter Rekursionsprozeduren in der komplexen Zahlenebene, bekannt etwa als ,Apfelmännchen' : Diese Gebilde haben bekanntlich die Eigenschaft der Selbstähnlichkeit; bei auch noch so groß gewählten Verkleinerungen des Apfelmännchens tauchen periodisch immer wieder die gleichen Muster auf, so als habe überhaupt keine Veränderung des Maßstabes stattgefunden. Diese Beobachtung kollidiert natürlich mit den Erfahrungsmustern des gesunden Menschenverstandes, der aus seiner täglichen Erfahrung von einer strikten Trennung der ihn umgebenden meso- und makroskopischen Welt von einer ganz anders strukturierten Mikrowelt ausgehen kann. Diese Kollision wird direkt physisch erlebbar gemacht, indem die nicht endenwollende Reise in immer kleiner werdende Bereiche durch einen Videofilm sich immer weiter in die Tiefe öffnender Fenster mit stets wiederkehrenden fraktalen Mustern vorgeführt wird.? So hat der Betrachter das Gefühl, aus der ihm vertrauten Welt in nicht nur abstrakten Sinne gleichsam herauszufallen, und dieses Fallen ruft das Gefühl des Schwindelns hervor, ein Gefühl, das eben auch in der Kunst bewußt hervorgerufen werden will. Nach diesem einleitenden Einstieg in die Welt der ästhetischen Formen, die durch die Gesetze der nichtlinearen Dynamik bzw. der Selbstorganisation in der Natur hervorgebracht werden, will ich die Fragestellung umkehren und nach allgemeinen Prinzipien auf diesem ursprünglich naturwissenschaftlichen Gebiet suchen, die - bewußt oder unbewußt - in den Werken der Literatur oder der bildenden Kunst schon seit ehedem angewandt worden sind und ohne die deren Wirkung im Grunde nicht denkbar ist. Ich will hier zu diesem Zweck zwei Phänomene aus dem Problemkreis der nichtlinearen Dynamik herausgreifen: Einmal die dynamische (In-) Stabilität, die sich mit dem Synonym des ,Schwindels' umschreiben läßt, und zum anderen die sogenannte strukturelle (In-) Stabilität, für die es eine Verbindung zu dem Begriff des ,Trüben' gibt. Reizvoll erschien mir dieses Thema insbesondere auch deshalb, weil beide Begriffe als literarische Metaphern bereits bei Johann Wolfgang von Goethe verwendet wurden, und dies schon als unbewußte Vorahnung der hier zu behandelnden Bedeutungen. Es soll nun in folgendem nicht die überlieferte konservative Struktur eines Kunstwerkes analysiert werden, indem etwa - wie traditionell oft gehandhabt - nach Proportionen oder Versmaßen gesucht wird, sondern die zeitgebun7 Vgl. H. O. Peitgen, Die Schönheit der Fraktale, öffentlicher Vortrag und Demonstration, u. a. am 28.9.1992 in der TU Berlin.

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dene, sich jedesmal wieder neu (und anders) einstellende psychologische Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter. Gefragt wird nicht nach der statischen Struktur des Werkes allein, sondern nach dem Prozeß, der bedingt durch die Eigenheiten dieser Struktur, bei der Interaktion mit dem Betrachter ausgelöst werden kann oder soll.8 11. Dynamische und strukturelle Stabilität

1. Die Diskretität von psychologischen Zuständen

Unsere psychologischen Zustände, wie auch die stattgehabten Phasen unseres Lebens, gehen im allgemeinen nicht stetig ineinander über, sondern besitzen die Eigenschaft der Diskretität. Übergänge zwischen ihnen sind erst nach Überschreiten einer ,überkritischen' Störung möglich, wobei jeweils eine Phase der Instabilität durchlaufen wird. Aus der Theorie komplexer dynamischer Systeme ist bekannt, daß diese oftmals eine ganze Reihe von lokal stabilen stationären Zuständen besitzen, die in Analogie zur Quantenmechanik auch ,Eigenwerte' genannt werden. Diese Zustände werden durch sogenannte ,Wasserscheiden' unterschiedlicher Höhe voneinander abgegrenzt, wodurch deren Stabilität in einem plausiblen mechanischen Bild ausgedrückt wird. Es liegt nun nahe, vor dem Hintergrund dieser Theorie auch in der Psychologie - im weitesten Sinne - nach solchen Phänomenen zu suchen. Der Physiker Hermann Haken verweist in seinen Schriften zur Synergetik immer wieder auf Vexierbilder, bei denen eine ,konservative' Bildvorlage vom Betrachter in Form von alternativen Mustern interpretiert werden kann. 9 Ist der Betrachter erst einmal in ein Muster ,eingerastet', erfordert es einen erheblichen Aufwand, einen Übergang zu dem anderen Muster zu vollziehen. Die so konstatierte Bistabilität ist mithin nicht vordergründig in der Struktur der Vexierbildes fixiert, sondern ist eine Eigenschaft des mustererkennenden Subjekts, welche allerdings durch eine geschickt gewählte Balance in der Symmetrie des vorgelegten Bildes provoziert werden muß. Ein mit einem Phasenübergang verbundenes Phänomen wurde unlängst auch beim komplexen Prozeß der Bewegungskoordination beobachtet: Wer8 Phänomene der Selbstorganisation, die nach bestimmten Spielregeln zu einer konservativen Struktur eines Kunstwerkes führen, wurden vor einiger Zeit bereits von Manfred Eigen diskutiert. Vgl. M. Eigen I Ruthild Wink/er, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 1975, Kap. 18: Mit der Schönheit spielen, S. 143ff. Auf den offenen Prozeß zwischen Kunstwerk und Betrachter ansatzweise einzugehen, gelang erst Erich Jantsch in seinem Buch "Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist", München 1979, Kap. 18: Der schöpferische Prozeß, S.385ff. 9 Vgl. Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, Frankfurt am Main/Beriin 1990 (1. Auf!. Stuttgart 1981),10. Kapitel, S. 109 - 118.

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den Versuchspersonen gebeten, parallele Fingerbewegungen im Takt eines äußeren Zeitgebers zu vollführen, so zeigt sich, daß nach Überschreiten einer (individuell verschiedenen) Taktfrequenz diese parallele Bewegung unbewußt in eine symmetrische übergeht. lO Haken ist es gelungen, diesen Befund auf einer abstrakten Ebene mit Hilfe des Ordnungsparameterkonzeptes zu deuten, ohne dabei den daran beteiligten komplexen neuronalen und motorischen Apparat überhaupt im Detail bemühen zu müssen.'! Hier wie bei den Vexierbildern verwendet Haken zur Illustration das Modell einer Kugel, die sich in einem Potentialgebirge aus wenigstens zwei Mulden bewegt und somit den Zustand des Systems charakterisiert. Daß die menschlichen Gefühls- oder Erregungszustände als diskrete Einheiten existieren, können wir sehr schön bei Kindern beobachten: Lachen und Weinen gehen bei Ihnen oft sprunghaft ineinander über, und wir vermissen etwas, was wir als ,neutralen Zwischenzustand' bezeichnen könnten. Im Grunde ist dies bei uns genauso, nur bewirkt ein langjähig praktiziertes Verdrängungstraining der Gefühle eine Verlangsamung dieser Übergänge, deren topologische Struktur wohl erhalten geblieben ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß der allgemein verwendete Begriff des ,Ausrastens' bei starken Gemütsbewegungen in einem mechanischen Bild festhält, daß der vormals stabile Gemütszustand eben nicht nur stetig verschoben, sondern völlig verlassen wurde, ganz im Sinne des Hakenschen Potentialgleichnisses, bei dem die Kugel den Rand der Mulde überschritten hat und nunmehr einem neuen (nicht notwendig stabilen) Ziel zustrebt.

2. Die Perioden des Lebens Daß sich der Ablauf des Lebens als Folge diskreter Phasen darstellt, die eben nicht kontinuierlich ineinander übergehen, ist in autobiographischen Äußerungen in der Literatur bereits mehrfach ausgesprochen worden. So heißt es etwa bei Arno Schmidt (1914 - 1979): "Mein Leben?! ist kein Kontinuum! (nicht bloß durch Tag und Nacht in weiß und schwarze Stücke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mit der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; büchert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausendsdenker ; auseinanderfallender Fächer; der rennt; raucht; kotet; radiohört ; "Herr Landrat" sagt: that's me!): ein Tablett voller glitzernder Snapshots. Kein Kontinuum, kein Kontinuum!: so rennt mein Leben, so die Erinnerungen (wie ein Zuckender ein Nachtgewitter sieht): ... "l2 10 Vgl. H. Haken, Entwicklungslinien der Synergetik, 11, Naturwissenschaften 75 (1988), S. 225 - 234, hier S. 226f. 11 Vgl. H. Haken (FN 10), S. 226ff. und die dort angegebene Literatur. 12 Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns, Leipzig 1981 (1. Auf!. Hamburg 1953), S. 7f.

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Einer, der wie Arno Schmidt sein Leben "als majestätisch fließendes Band" "nicht fühlen" kann, war auch der vor einigen Jahren verstorbene Evolutionstheoretiker Erich Jantsch (1929 - 1980), der in der Vorrede seines Buches "Die Selbstorganisation des Universums" schrieb: "Doch sie (die Krise mit der Wissenschaft - H.-J. K.) war für mich zu Ende, als ich mein Leben als Prozeß begriff, nicht als einen soliden Block, an dem sich Geld und Fett ,gesicherten Wissens' ansetzen. Nach letzter Zählung lebe ich bereits meine neunte dynamische Lebensstruktur , mit ,Beruf' nur unzulänglich charakterisiert. Immer wieder wurde ich durch unerwartete Fluktuationen über eine Instabilitätsschwelle in eine neue Struktur getrieben. Ich habe es nie bereuen müssen."13

Johann Wolfgang von Goethe hatte einmal einen solchen wiederholten qualitativen Neubeginn im Leben als Charakteristikum "hochstehender" Männer, die noch im Alter zum Betrieb der "bedeutendsten und mannigfaltigsten Geschäfte" die "nötige Energie" besitzen, angesehen: "Solche Männer und ihresgleichen sind geniale Naturen, mit denen es seine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind. "14

Rückblickend auf sein Leben äußerte sich in einem biologischen Vergleich der sich mit der Natur stets sehr verbunden zeigende Erwin Strittmatter: "Ich sah ein Theaterstück. Es war fünfzehn Jahre alt, und es war ein Stück von mir: eine alte, abgestoßene Haut von mir wurde ausgebreitet, eine alte Haut aus Gedanken und Worten, und sie lag da als Ding für sich selbst, und sie ging mich nichts mehr an; denn ich geh mit einer Haut von neuen Gedanken umher, und auch diese Gedanken fasse ich in Worte, und eines Tages werde ich, hoff ich, auch sie abstreifen. "15

An Hand der vorangegangenen Beispiele haben wir sehen können, daß die Perioden des Lebens und auch die Phasen jedes einzelnen Tages durch stabile Zustände und sie ablösende Instabilitäten auch auf der psychologischen Ebene gekennzeichnet sind. Aufgabe des Künstlers ist es, solche Umbrüche sichtbar, ja nacherlebbar zu machen und schließlich auf die Existenz anderer Realitäten und Welten hinzuweisen - ein Problem, auf das wir weiter unten zu sprechen kommen werden. 3. Strukturelle Instabilitäten

In den bislang vorgenommenen Erörterungen kamen nur Phänomene zur Sprache, die mit dem Begriff der dynamischen (In-) Stabilität abgedeckt wer13 Jantsch (FN 8), S. 18f. Goethe zu Eckermann am 11. März 1828, zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe (Hrsg. von Regine Otto), Berlin 1982, S. 583. 15 Erwin Strittmatter, Selbstermunterungen (Aus Tagebüchern 1966 - 1967), Berlinl Weimar 1981, S. 9f. 14

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den können. Die psychologischen Zustände oder die im nächsten Kapitel zu behandelnden konstruierten Realitäten werden als lokal stabile Eigenwerte dafür geeigneter - z. T. noch fiktiver - dynamischer Beschreibungssysteme angesehen. Das mit ihnen verbundene Lösungs- oder Eigenwertspektrum, oder die topologische Struktur, wie es in der Fachsprache heißt, wird dabei allerdings als qualitativ gegeben angesehen. So wird vorausgesetzt, daß durch kleine Änderungen in der Struktur der mathematischen Gleichungen des Systems, etwa durch Einführung neuer, vordem nicht vorhandener Parameter, sich das Spektrum der Lösungen nur graduell verschieben wird. In ,konservativen' Systemen, bei denen sich deren Variablen als Gradienten eines Potentials darstellen lassen - dies ist leider nur ein Sonderfall-, läßt sich der Zustand eines Systems bequem als Lage oder Bewegung einer Kugel in einem Potentialgebirge veranschaulichen. Dieses Kugelgleichnis wurde dann auch von Hermann Haken gern zur Illustration verschiedener multistabiler Phänomene bei der Mustererkennung, beim Fällen von Entscheidungen oder bei der betriebswirtschaftlichen Optimierung herangezogen. 16 Im allgemeinen ist die qualitative Struktur eines solchen Potentialgebirges stabil gegen kleine Parameteränderungen oder gegen die Einführung neuer, kleiner Parameter. Ein solches System nennt man dann strukturell stabil. Es sind aber auch Systeme denkbar, bei denen sich die Lösungsstruktur oder das Potentialgebirge bei einer kleinen Parameteränderung schlagartig ändert; diese nennt man strukturell instabil. Von Rene Thom wurde im Jahre 1972 mit seiner später weltweit rezipierten Katastrophentheorie eine geschlossene Beschreibung für alle in niedrigdimensionalen Gradientensystemen (mit n :0:: 2) möglichen ,Katastrophen' gegeben.n Wenngleich sich die von Thom entwickelte Theorie auf den Sonderfall der Gradientensysteme beschränkte, sollte man mit einem derart geschärften Blick bald entdecken, daß ähnliche strukturelle Zustandsänderungen außerhalb des ,konservativen' Rahmens eigentlich überall auftreten, insbesondere auch in den sehr viel komplexeren sozialen oder ökonomischen Systemen.1 8

Vgl. Haken (FN 9), Kap. 10 und 12. Vgl. Rene Thom, Stabilite Structurelle et Morphogenese, New York 1972. 18 Der mit der Katastrophentheorie gegebene Ansatz bot insbesondere die Möglichkeit, disparate Phänomene aus den verschiedensten Bereichen per Analogieschluß zu vereinheitlichen, was dem Wunsch, eine immer komplexer werdende Welt durch ein einheitliches Weltbild zu beschreiben, entgegenkam. Solche Analogien gezielt zu finden, war in den siebziger Jahren speziell das Verdienst der Einfallskraft des englischen Mathematikers Christopher Zeeman mit seinem Buch "Catastrophe Theory, Selected Papers 1972 - 1977", Reading, Mass.lLondon/Amsterdam 1977. Eine ähnliche Entwicklung können wir auch in der Rezeption der modernen naturwissenschaftlichen Selbstorganisationskonzepte beobachten; allerdings besteht dann immer die Gefahr der Illusion, mit dem jeweils neu entdeckten Paradigma nunmehr gleichsam ,alles' erklären zu können. 16

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Mit dem Problem der strukturellen Stabilität hatte sich jedoch lange Zeit zuvor bereits in den dreißiger Jahren der russischen Mathematiker Lew Semjonowitsch Pontrjagin (* 1908) zusammen mit Aleksander Aleksandrowitsch Andronow (1901 - 1952), dem Begründer der Moskauer Schule der nichtlinearen Mechanik, beschäftigt.1 9 Die damals verwendete Bezeichnung ,Grubie Sistemi' = ,Robuste Systeme' wurde für nichtlineare Systeme verwendet, bei denen kleine Änderungen an den rechten Seiten der entsprechenden Differentialgleichungen noch zu keinem Umbruch in der Lösungsvielfalt jener Gleichungen führen. zo Wenn wir uns nun die Frage stellen, welche Systeme ,robust' und welche ,sensibel' in ihrem qualitativen Lösungsverhalten reagieren, so kann man orientierend sagen, daß Systeme mit einer bereits vorhandenen reichhaltigen Komplexität stabil auf neu eingeführte Parameter reagieren, während Systeme mit einer einfachen Struktur, wenn insbesondere kontinuierliche Familien von Lösungen vorliegen, im gleichen Falle mit einer spontanen Erweiterung ihrer Komplexität antworten. 21 Ein schönes Beispiel hierfür ist der Lotka-Volterra- Oszillator, der zur Modellierung von chemischen oder populationsgenetischen Oszillationen (Räuber-Beute-Wechselwirkung) herangezogen wird. zz In seiner ursprünglichen Version besteht er aus zwei Differentialgleichungen (für die Beute x und für den Räuber y), deren Lösungsmannigfaltigkeit aus einem neutralstabilen Fixpunkt mit x" = k 3 f k z und ySS = kif k z sowie aus einer Familie von indifferenten (Wirbel-) Oszillationen besteht, deren Amplitude von der Wahl der jeweiligen Anfangsbedingung abhängt: (*)

dxldt

k 2x y (- k 2 e)

dyldt

19 Vgl. A. A. Andronow I L. S. Pontrjagin, Grubie Sistemi, in: Doklady Akademii Nauk SSSR, 14 (1937), No. 5, S. 247 - 251. 20 Der heute verwendete Terminus der ,Strukturellen Stabilität' wurde erst 1957 von S. Lefschetz geprägt. Vgl. S. Le/schetz, Differential Equations: Geometric Theory, New York 1957. 21 Dies gilt, wenn sich die Zahl der Variablen des Systems dabei nicht ändert. Wird zudem noch die Dimension des Systems erhöht, können bereits komplexe Systeme noch komplexer werden. 22 Vgl. die Original arbeiten von Al/red J. Lotka, Undamped Oscillations Derived from the Law of Mass Action, in: Joum. of the American Chemical Society 42 (1920), No. 8, S. 1595 - 1599 und von Vito Volterra, Theorie Mathematique de la Lutte pour la Vie, Paris 1931. Beispiele für strukturelle Erweiterungen des von Lotka und Volterra angegebenen Grundschemas finden sich in dem von dem amerikanischen Populationsgenetik er Robert M. May herausgegebenen Buch "Stability and Comp1exity in Model Ecosystems", New Jersey 1973.

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Wird die einfache Gestalt der rechten Seiten der Gleichungen (*) jedoch durch einen kleinen Zusatzterm (k 2 E) gestört oder gewissermaßen ,eingetrübt', ändert sich das Lösungsspektrum der Gleichungen übergangslos: Der vormals indifferente Fixpunkt erhält nunmehr eine definierte Stabilität, und von ihm können stabile oder instabile Grenzzyklen mit fester Amplitude abzweigen. Die topologische Struktur des Oszillators ist durch die Einführung der kleinen Störung komplexer geworden. 23 Die strukturelle Instabilität des Lotka-Volterra-Oszillators läßt sich sehr schön demonstrieren, wenn die Gleichungen (*) mit Hilfe eines Analogrechners integriert werden, einem Gerät, daß vor etwa 20 Jahren zu Zwecken der ModelIierung von Problemen der chemischen Kinetik noch allgemein in Gebrauch war. Eine maschinenbedingte Ungenauigkeit bei der Bildung der Produkte x y mit Hilfe des sogenannten Parabelmultiplizierers pflanzt sich eben nicht stetig auf die Lösungskurven fort, sondern verstärkt sich zu qualitativ neuen Lösungen, wie stabilen oder instabilen, ja sogar koexistierenden mehrfachen Grenzzyklen in der oben beschriebenen Weise. 24 Wir werden weiter unten sehen, wie in der Kunst - in Analogie zu diesem Prinzip - die Erzeugung von Komplexität durch eine gezielt eingesetzte kleine Störung in einem ursprünglich recht indifferenten Kunstobjekt als Stilmittel zur Erzeugung einer bestimmten ästhetischen Wirkung verwendet wird. Jedes Kunstwerk wird durch die - nicht im Detail planbare - Wechselwirkung mit dem Betrachter, bei der sich dessen Wirkung erst entfaltet, im Sinne Umberto Ecos zu einem offenen Kunstwerk. Die bewußte kleine Störung kann dabei bereits im Objekt selbst angelegt sein, oder aber erst durch die mentale Verfassung des Menschen in den Prozeß der Betrachtung eingebracht werden. III. Die Konstruktion anderer Wirklichkeiten

1. Der Bohemien und der Bürger Die Kreation von Kunst ist daran gebunden, die Welt anders zu sehen, als der ,gesunde', ,reife' Menschenverstand vorgibt. Dieser Grundzustand einer anderen WeItsicht, der sich im Gegensatz zu den anderen Phasen des Lebens oftmals ein Leben lang stabil erhält, wird als solcher bewußt gesehen und in jungen Jahren sogar als Defizit empfunden. In diesem Sinne erinnert sich der oben bereits zitierte Erwin Strittmatter wie folgt: 23 Hier ergibt sich eine interessante Analogie zur Quantenmechanik, bei der die vordem undefinierte Wellenfunktion eines Teilchens durch die mit einem Meßprozeß verbundene kleine energetische Wechselwirkung auf einen bestimmten Wert fixiert wird. 24 Vgl. Uwe Viehweger / Lutz Hippe / Hans-Jürgen Tessmann / Hans-Joachim Bittrich, Zur ModelIierung oszillierender Reaktionssysteme am Analogrechner, in: Wiss. Zschr. der TH Leuna-Merseburg, 22 (1980), No. 4, S. 503 - 510.

ll*

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"Schon in der Kindheit begann ich, Menschen, Dinge und Verhältnisse so eingehend zu betrachten, daß sie mir Seiten zeigten, deren Vorhandensein von meiner Umgebung nicht bestätigt wurde. So kam es, daß ich diese Art, meine Umwelt zu betrachten, als etwas Abseitiges, etwas nicht Wünschenswertes empfand. Und ich gab mir Mühe, endlich ein reifer Mensch zu werden und die Umwelt so zu betrachten, wie es die Menschen um mich her taten. Das gelang mir, trotz der Anstrengungen, die ich investierte, selten. "25

Erst in späteren Jahren erfolgt eine bewußte Identifikation mit diesem Zustand; der Dichter beginnt, sich selbst als solchen anzunehmen: "Als ich zu schreiben begann, wagte ich nicht, die Umwelt so zu beschreiben, wie ich sie sah. Ich zwang mich dazu, die Welt so zu beschreiben, wie ich glaubte, daß sie normale Menschen sähen. Es verging eine Menge Zeit, bis ich erkannte, daß man in der Kunst nur Eigenständiges leisten kann, wenn man den Mut in sich heranzieht, die Welt so zu beschreiben, wie man sie wirklich sieht, und ich wurde gewahr, daß das, was ich für meine Schwäche gehalten hatte, meine Stärke war. "26

Ähnliche Betrachtungen stellte der Leningrader (nunmehr St. Petersburger) Schriftsteller Daniil Granin an, der das Vorbild von Van Goghs Gemälde "Die Kirche in Auvers" einmal aus eigener Anschauung kennenlernen wollte und dort feststellen mußte, daß es erst Van Goghs eigene - von ihm nicht nachvollziehbare - Sicht auf das Bauwerk war, die, abgesehen von den technischen Fertigkeiten des Malers, erst die Entstehung des Kunstwerkes ermöglichten: "Ich stand an derselben Stelle, wo Van Gogh die Kirche gemalt hatte, aber ich sah nichts dergleichen. Wo hat er es hergenommen? Er hatte nichts hinzugefügt, nichts erfunden, ... er hat sie bloß anders gesehen als wir, die gewöhnlichen Menschen."27

Denn: "Er lebte in diesem Flammenwirbel aus rasenden Farben und Linien, die ihm unerträgliche Lust bereiteten und unerträgliche Qual. Selbst in Auvers, diesem mittelmäßigen stillen Provinzkaff, sah er alles zugespitzt, gar zu brodelnd, gar zu schön, gar zu tragisch. "28

Der Preis für diese alternative Sicht war allerdings hoch: "Für sein Sehen zahlte er auch gar zu teuer - mit Anfällen, Alpträumen, Wahnsinn. Er wußte, daß seine Geisteskrankheit fortschritt ... Der Preis für die Bilder überstieg seine Kräfte. Er zahlte mit Stücken seines Gehirns für unser Entzücken ... "29 25 Erwin Strittmatter, Wahre Geschichten aller Ar(d)t. Aus Tagebüchern, Berlinl Weimar 1982, S. 164f. (21. 4.1969). 26 Strittmatter (FN 25), S. 165. 27 Daniil Granin, Die Kirche von Auvers, in: Der Platz für das Denkmal. Novellen und Erzählungen, Leipzig 1975, S. 338. 28 Granin (FN 27), S. 338.

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In weiteren Reflektionen zu diesem Thema gelangt Granin zu der Einsicht in die Unmöglichkeit, nur partikulär die Sichtweise des Künstlers - etwa aus voyeristischen Motiven heraus - anzunehmen, indem er diese für kleine Münze gegen die seine eintauscht. Sein weiteres Leben würde als Ganzes ein anderes werden: "Was heißt das, die Welt anders sehen? Das heißt doch, auch sich selbst anders in ihr zu sehen. In Wirklichkeit wich ich ängstlich davor zurück, mein bisheriges Leben anders zu sehen. Unsere Beziehungen waren zerbrochen, weil ich selbst sie abgetötet, verstümmelt hatte, ... nichts war geblieben, doch lange noch schleppte sich ein Schein leben hin."30

Die Inkommensurabilität der Welten des Künstlers und der des sich der ersteren allenfalls in kulinarischer Absicht nähernden Bürgers ist vielfach gestaltet worden. So wurde deren stabile Autonomie Mitte der sechziger Jahren von Bob Dylan (Robert A. Zimmerman, *1941) in dem Song "Ballad of a Thin Man" thematisiert, in dem sich sowohl künstlerische Selbst- als auch temporäre Drogenerfahrung verdichten. So heißt es nach der offensiven Beschreibung der eben nur von Dylan gesehenen Bilder jeweils in den Refrainzeilen : "Because something is happening here Because you don't know what it is Do you, Mister lones?"3!

In seinen Gesprächen mit Johann Pet er Eckermann äußerte sich Goethe in ähnlicher Weise zu den Bedingungen des künstlerischen Schaffens prozesses ; hier besonders unter dem Aspekt einer gesteigerten Sensibilität des Künstlers, die bei der Erwähnung von Allesandro Manzoni (1785 - 1873) zur Sprache kam: "Das Außerordentliche, was solche Menschen leisten, setzt eine sehr zarte Organisation voraus, damit sie seltener Empfindungen fähig sein und die Stimme der Himmlischen vernehmen mögen. Nun ist eine solche Organisation im Konflikt mit der Welt und den Elementen leicht gestört und verletzt, und wer nicht ... mit großer Sensibilität eine außerordentliche Zähigkeit verbindet, ist leicht einer fortgesetzten Kränklichkeit unterworfen. "32

Granin (FN 27), S. 338 und 340. Granin (FN 27), S. 34l. 3! Bob Dylan, Ballad of a Thin Man (aus: Highway 61 Revisited, CBS S 62572, © 1965 by Warner Bros. Inc.), zitiert nach: Bob Dylan, Writings and Drawings/ Texte und Zeichnungen, übertr. von C. Weissner, Frankfurt a.M. 1975, S.574ff. Die Differenz von Künstler und Bürger wurde wenig später (1968) von Dylan eingehender in seiner Parabel von den "Drei Königen" auf dem Platten cover von "lohn Wesley Harding" (CBS S 463359 1) gestaltet (Texte und Zeichnungen, S. 777ff.). 32 Goethe zu Eckermann am 28. Dezember 1829, zitiert nach Eckermann (FN 14), S.326. 29

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2. Der von Foerstersche Torus Ein plausibles kybernetisches Modell zur Konstruktion von Wirklichkeiten, die wir eben in einer Folge von Zitaten als Problem angesprochen haben, wurde 1973 in einem Essay von Heinz von Foerster vorgeschlagen. 33 Im Sinne des Konzeptes des Radikalen Konstruktivismus 34 führt er dort aus, daß die Wahrnehmung unserer Umwelt kein Abspiegeln einer per se gegebenen Realität bedeutet, sondern im Gegenteil das Ergebnis eines aktiven, von uns vorgenommenen ,Erfindungs-' oder ,Konstruktions-'Prozesses ist. Auf eine Formel gebracht, heißt es bei ihm: "Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung". 35 Die von uns derart konstruierte Beschreibung einer Realität folgt nun keineswegs der Forderung, eine äußere Welt immer besser abzubilden, sondern richtet sich danach, wie das mit dieser Wirklichkeit ausgestattete Individuum besser leben und überleben kann. Nach diesem Prinzip ist es verständlich, daß man zu so viel verschiedenen Realitäten gelangen kann, wie es Individuen gibt, die natürlich aus Gründen des sozialen Konsens gewisse Gemeinsamkeiten besitzen werden. Von Foerster verweist auf eine Reihe von neurophysiologischen Befunden, die darauf hinweisen, daß unsere Umwelt nicht-linear verarbeitet wird, wie etwa auf das Kontrastverstärkungsprinzip durch laterale Vernetzung der Neuronen hinter den primären Sehzellen, ein Prinzip, daß aus Gründen der Informationserhaltung einer bestimmten Bildqualität mehrfach auf verschiedenen Ebenen des Gehirns wiederholt wird. Auch auf dem Gebiet der auditiven Informationsübertragung gibt es nichtlineare Effekte, die zur Aufnahme ganzheitlicher Wort-Entitäten führen, die bei vielfacher Wiederholung eines gesprochenen Wortes auch zu ganz anderen Werten umklappen können. Unser Nervensystem hat also die Fähigkeit, in einem vielstufigen Prozeß physikalische Größen in sinnhafte Bedeutungen zu verwandeln. Die Entwicklung solcher neuronaler Bewertungsmechanismen verdanken wir nun unserer Erfahrung, die wir nur durch den Zirkel des in unsere Umwelt gerichteten Wirkens unserer ,motorischen Oberfläche' und der über unsere ,sensorische Oberfläche' erfolgenden Rückantwort jener Umwelt erlangen können. So konnten Versuche mit jungen Katzen, die man entweder im Dunkeln aufzog oder an ihrer Bewegungsfreiheit hinderte, indem sie von anderen Katzen passiv herumgetragen wurden, tatsächlich belegen, daß sie trotz sich anatomisch 33 Vgl. Heinz von Foerster, Über das Konstruieren von Wirklichkeiten (1973), in: H. v. Foerster, Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, übertr. von Wolfram K. Köck, Braunschweig/Wiesbaden 1985, S. 25 - 4l. 34 Eine übersichtliche Darstellung dieses Konzeptes finden wir in: Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Beiträge zum Konstruktivismus, München 1981. 35 von Foerster (FN 33), S. 25.

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normal entwickelnder Augen blind blieben, da der unerfahrene Neokortex der Katzen mit der Vielfalt der - sinnleer gebliebenen - optischen Signale der Umgebung nichts anzufangen wußte. 36 Von Foerster prägte hierfür seinen ästhetischen Imperativ: " Willst du sehen, so lerne zu handeln. "37

MS

• Erläuterung der Abkürzungen: N: Neuronenbündel, syn: synaptische Spalte, SS: sensorische Oberfläche, MS: motorische Oberfläche, NP: Hypophyse.

Abb. 1: Der neurophysiologische Apparat eines Organismus als operation al geschlossene Ganzheit (nach H. v. Foerster [FN 33], S. 39).

Diese zyklische Kopplung zwischen Motorik und Sensorik, die über unsere Umwelt vermittelt wird, ist für von Foerster nun Grundlage eines operation al geschlossenen, rückgekoppelten Prozesses, in dem unsere Wirklichkeit gleichsam ,errechnet' wird. Diese Rückkopplung ist eine gleich zweifache, wie die Abbildung 1 zeigt. Die mit N gekennzeichneten Neuronenbündel, in denen eine schnelle elektrochemische Erregungsleitung erfolgt, sind durch die synaptischen Spalte (syn) chemisch mit den Neuronen anderer Bündel verkoppelt. Die Nervenimpulse laufen horizontal von der im Bild auf der linken Seite befindlichen sensorischen Oberfläche (SS) des Organismus nach rechts zur motorischen Oberfläche (MS), deren Aktionen entweder über die Umwelt vermittelt oder direkt 36 Vgl. Humberto Maturana, Biologie der Kognition (1970), in: H. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, übertr. von Wolfram K. Köck, Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 5lf. sowie die dort zitierten Arbeiten. 37 von Foerster (FN 33), S. 41.

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(über sogenannte propriozeptive Sensoren in den Muskeln) wiederum von der sensorischen Oberfläche aufgenommen werden. Der zweite Rückkopplungskreis wird schließlich über die Hirnanhangdrüse (NP) vermittelt, deren Tätigkeit von den Neuronen selbst in Form von im Bild vertikal nach unten verlaufenden Impulsen gesteuert wird. Die von der Hypophyse demgemäß ausgeschütteten Hormone wirken ihrerseits nun auf die Tätigkeit aller synaptischer Verbindungen und können damit die Operationsweise des Nervensystems insgesamt beeinflussen.

Abb. 2: Toroidale Darstellung des zweifach zyklisch geschlossenen Nervensystems eines Organismus (nach H. v. Foerster [FN 33], S. 40). Der ,synaptische Spalt' zwischen der sensorischen und der motorischen Oberfläche ist der weiße Meridian in der Mitte vorn; die Hypophyse ist nunmehr der gepunktete Äquator des Torus.

Die zweifache zyklische Geschlossenheit unseres Nervensystems wird nun besonders deutlich, wenn man sowohl den Bereich zwischen der sensorischen und der motorischen Oberfläche als auch den (in Abb. 1 künstlich auseinandergezogenen) Bereich zwischen der Hypophyse und den Synapsen zu jeweils einem Spalt zusammenzieht, was durch die Umwandlung des quadratischen Schemas in Abb. 1 in den von Foersterschen Torus gelingt (Abb. 2). Die so gewonnene Vorstellung vom Nervensystem als ein doppelt rückgekoppeltes Gebilde legt nun die Vermutung nahe, daß die ,Rechenprozesse' innerhalb dieses Torus zu einem stabilen Eigenwert führen, den wir dann als eine ,errechnete Wirklichkeit' bezeichnen wollen. In diesem Sinne fordert von Foerster, daß die Rechenprozesse des Torus dem einschränkenden Postulat der "Kognitiven Homöostase" zu folgen haben, das da lautet: "Das Nervensystem ist so organisiert (bzw. organisiert sich selbst so), daß es eine stabile Realität errechnet. "38 38

von Foerster (FN 33), S. 39.

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Grundlage dieses Postulates ist das Homöostase-Konzept der klassischen Kybernetik, in dem Rückkopplungen dazu dienen, einen stabilen Zustand eines Systems aufrechtzuerhalten, wenn dieser äußeren Störungen ausgesetzt ist. Hier handelt es sich um negative Rückkopplungen, die die Fluktuationen eines Sollwertes dämpfen sollen. Gegenstand der modernen Selbstorganisationstheorien sind aber auch positive Rückkopplungen, die bekanntlich unter bestimmten Bedingungen zur Verstärkung von Fluktuationen führen, um auf diese Weise schließlich einen neuen, wiederum stabilen Systemzustand zu erreichen. 39 Die Möglichkeit mehrerer Realitäten, die von einem Individuum errechnet werden können, ist - möglicherweise unbewußt - in dem eben zitierten Postulat offengelassen worden, indem dort von einer, und nicht von genau einer Realität die Rede ist. In nichtlinearen Systemen - und dazu wollen wir unseren neuronalen Organismus rechnen - kann sich der Charakter von Rückkopplungen in Abhängigkeit vom Systemzustand ändern: von negativen, stabilisierenden außerhalb von kritischen Punkten hin zu positiven, destabilisierenden in eben solchen kritischen Situationen, die nicht vom Individuum allein, sondern in erster Linie von äußeren Konstellationen abhängig sind. So können äußere physikalische Umwelten oder soziale Umfelder langsam driften, bis solche Punkte erreicht werden, wo die ,alte', bislang noch stabil errechnete Realität aufgegeben werden muß und nach einer Phase der Instabilität, ja des Schwindeins, eine neue, mit der veränderten Umwelt kompatible Wirklichkeit konstruiert werden kann. Solche Punkte der Instabilität, sind, wie wir wissen, stark von der psychologischen Grundkonsistenz, vom Charakter des Individuums abhängig. So ist es erklärbar, daß von scheinbar identischen physikalischen oder sozialen Umfeldern mitunter völlig inkommensurable Beschreibungen der Wirklichkeit abgeleitet werden können. Dies ist ein Spannungsfeld, in dem Kunst wirksam werden kann als Auslöser, die Welt wenigstens temporär einmal anders zu sehen, als wir es gewöhnlich tun. Wenn man mit einer einmal konstruierten Realität sicher existieren kann und diese auch noch von vielen anderen scheinbar geteilt wird, besteht immer die Gefahr, diese dann als die einzig verbindliche und ,richtige' anzusehen. Zur Ausgrenzung von Individuen mit einer anders strukturierten Beschreibung von Wirklichkeit ist es dann nur ein kleiner Schritt. Der israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoschua hat es - selbst in einem Spannungsfeld extrem unterschiedlicher Kulturen und politischer Konzepte lebend und sich um einen Dialog zwischen ihnen bemühend - durch die neuartige Erzähltechnik seines Romans "Der Liebhaber" verstanden zu zeigen, wie anscheinend 39 Ich will mich an dieser Stelle nur auf die Möglichkeit der Multistabilität des von Foersterschen Torus beschränken. Denkbar sind natürlich auch (multiple) stabile Grenzzyklen oder chaotische Attraktoren, die als Eigenlösungen des neuronal-hormonalen Apparates auftreten können.

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identische Situationen von den darin agierenden Personen oftmals völlig verschieden erlebt bzw. beschrieben werden. 40 Zusammenleben zwischen Menschen ist auf Dauer nur möglich in der Respektierung der Autonomie des Anderen und nicht in der gewaltsamen Nivellierung von Unterschieden. Denn Unterschiede, die Welt zu sehen, werden immer wieder reproduziert - nicht allein durch das Beobachten - sondern durch das Agieren der Menschen in ihren Umwelten. Johannes Bobrowski hat es einmal formuliert in seiner 1964 entstandenen Erzählung "Rainfarn": "Ich will nicht unsichtbar sein, sagen wir uns, nicht ungesehen von den Leuten. Es ist nichts: Beobachter sein, der Beobachter sieht nichts. "41

IV. Der Schwindel und seine Auslösung

1. Die Metapher des Schwindelns bei Goethe Der bereits mehrfach bemühte Begriff des ,SchwindeIns' wurde bei Johann Wolfgang von Goethe über seine medizinische Bedeutung hinaus als Metapher des allgemeinen Ergriffenseins verwendet. Diesen Hinweis verdanken wir dem Jenaer Mediziner Walter Brednow (1896 - 1976), der sich in seinen letzten Lebensjahren um die Aufdeckung von inhaltlichen Analogien bei Begriffen verdient gemacht hat, die gleichlautend scheinbar disparate Sachverhalte in der Medizin, den Naturwissenschaften und in der Literatur beschreiben. Neben dem Zustand des Schwindelns42 widmete sich Brednow auch der Reflexion, dem mehrfachen Abspiegeln von Erlebnisinhalten und ihren Entsprechungen in Goethes Untersuchungen zur Optik. 43 In Goethes "Wanderjahren" finden wir ein schönes Beispiel, wie das "durchaus pathologisch zu wertende Symptom des Schwindels in eine völlig andere Wertkategorie"44 gehoben wird. Nachdem Wilhelm mit den Kindern steile Bergpfade erklettert hat und dort an einer "schroffen Stelle" seinem Freund Montan begegnet, lesen wir: 40 Abraham B. lehoschua, Der Liebhaber, Stuttgart 1980/Berlin 1988 (Orig.: Ha 'Meahev, Tel Aviv 1977). 41 lohannes Bobrowski, Rainfarn (1964), in: Boehlendorff und Mäusefest, Berlin 1965, S. 115. 42 Vgl. Walter Brednow, Zur Anthropologie des Schwindels, in: Sitzungsberichteder Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Math.-naturwiss. Klasse, 110 (1973), Heft 3, S.l - 17. 43 Vgl. Brednow, Spiegel, Doppelspiegel und Spiegelungen - eine "wunderliche Symbolik" Goethes, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Math.-naturwiss. Klasse, 112 (1976), Heft 1, S. 1 - 28. 44 Brednow (FN 42), S. 3.

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"Kaum aber hatten sie sich losgelassen, als Wilhelmen ein Schwindel überfiel, nicht sowohl um seinetwillen, als weil er die Kinder über dem ungeheuern Abgrunde hängen sah. Montan bemerkte es und hieß alle sogleich niedersitzen. ,Es ist nichts natürlicher', sagte er, ,als das uns vor einem großen Anblick schwindelt, vor dem wir uns unerwartet befinden, um zugleich unsere Kleinheit und unsere Größe zu fühlen. Aber es ist ja überhaupt kein echter Genuß als da, wo man erst schwindeln muß. "'45

Wilhelm schwindelte hier also aus doppeltem Anlaß: einmal aus Sorge um die Kinder, die er "über dem ungeheuern Abgrunde hängen sah". Zugleich aber auch durch die unerwartete Konfrontation mit dem "großen Anblick" der Bergwelt, die - wenn wir unseren konstruktivistischen Ansatz weiter beibehalten - erst die Auflösung der vorherigen ,Wirklichkeit' des aus dem Tal Ansteigenden erfordert und danach die Bildung der neuen stabilen Realität des derart Verwandelten, der nunmehr gefaßt ins Tal blicken kann. "Aber es ist überhaupt kein echter Genuß als da, wo man erst schwindeln muß": Die Freude über den Anblick der erhabenen Bergwelt ist nicht allein durch die stetige Mühe des Aufstiegs zu haben; sie erfordert zudem einen Moment des Schwindeins, ja durchaus auch von "Angst und Qual" für den noch ungeübten Wanderer. Dieses Beispiel ist deshalb besonders prägnant, da hier zu der zu überwindenden Instabilitätsschwelle in der ästhetischen Sicht auch noch der vasomotorische Schwindel im engeren medizinischen Sinne kommt. Goethe hat besonders in seiner Straßburger Zeit beim Blick von der Turmkrone des Münsters mit solchen physischen Schwindelgefühlen zu kämpfen gehabt. Diese suchte er durch energische Übungen zu überwinden, wohl auch um den Schwindel auf seine ästhetische Komponente zu reduzieren, um den Ausblick in die Weite der Landschaft ohne begleitende physische Beschwerden "klar und rein" in sich auszubilden. In "Dichtung und Wahrheit" finden wir eine Beschreibung solcher Übungen: "Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterthurms, und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, ... wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle in's Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, ... Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten ... von jenen Vorübungen großen Vortheil gezogen. "46

Die positiv bewertete, psychologische Seite des - durch solche oder ähnliche Prozeduren gleichsam gereinigten - Schwindels wird bei Goethe vielfach erwähnt. Am 2. April 1780 trägt er in sein Tagebuch ein: 45 J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (künftig zitiert als: WA), Weimar 1887 - 1919, Abt. I, Band 24, S. 41 ff. 46 Goethe, Dichtung und Wahrheit, WA I, 27, S. 257ff.

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Hans-Jürgen Krug "Früh gleich wieder munter u. geschäfftig um 10 mit Kalb (Johann August Alexander von Kalb [1747 - 1814]- H.-J. K.) 2 Stunden lange Erörterung, er ist sehr herunter. Mir schwindelte vor dem Gipfel des Glücks auf dem ich gegen so einen Menschen stehe. Manchmal möcht ich wie Polykrates mein liebst Kleinod ins Wasser werfen. Es glückt mir alles, was ich nur angreife. "47

Im Duett der Mignon mit dem Harfenspieler aus den "Lehrjahren" heißt es: "Es schwindelt mir, es brennt Mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, Weiß, was ich leide !"48 Dieses Beispiel zeigt wiederum, daß sich daß Gefühl des Schwindelns letztlich doch nicht allein auf seine apollinische Komponente reduzieren läßt. Goethe wußte sehr wohl, daß starke Gemütsregungen, wie etwa bei der Begegnung mit dem unerwartet Großen und Erhabenen zu starke, ja nicht wieder zu korrigierende Auslenkungen auch des physischen Gleichgewichtes nach sich ziehen können. 49 So war er besonders im Alter darauf bedacht, neue Eindrücke, oder gar die Entdeckung neuer Welten nur in kontrollierter Weise auf sich wirken zu lassen. So finden wir in den Aufzeichnungen des Weimarer Kanzlers Friedrich von Müller (1779 - 1849) vom 30. August 1827 nach dem Besuch des Königs Ludwig I. von Bayern (1786 - 1868) folgende Eintragung: "Nach Tische wurde nun Goethe immer aufgeregter und herzlicher; es sei nichts Kleines, einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs zu verarbeiten, ihn innerlich auszugleichen. Es koste Mühe, dabei aufrecht zu bleiben, nicht zu schwindeln. Und es komme ja doch darauf an, sich diese Erscheinung innerlich auszubilden, das Bedeutende davon klar und rein sich zu entwickeln . . . . Darauf schlug ich eine neue Römische Elegie vor. Er lobte den Gedanken, meinte aber, er werde ihn nicht ausführen können; so habe er ja auch beim Abschied der Prinzeß Marie nichts hervorbringen können wie immer, wenn sein Gefühl zu mächtig aufgeregt sei. "50 Störungen des seelischen Gleichgewichts durch unangenehme, widrige Eindrücke versuchte Goethe besonders zu vermeiden, wie die Notiz des Kanzlers von Müller vom 18. Mai 1821 berichtet: Goethe, Tagebücher, WA III, 1, S.114f. Goethe, WA I, 2, S.114 und WA I, 22, S. 67. 49 Vgl. etwa Goethes Bericht über das Erlebnis des gestirnten Himmels in der Sternwarte in den "Wanderjahren", wo es heißt: "Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsere Fassungskraft, es droht uns zu vernichten." (Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, WA 1,24, S. 181.) Der Eindruck des Erhabenen ergreift uns auch bei der Konfrontation mit der Unendlichkeit des Mikrokosmos, etwa bei der im ersten Kapitel des vorliegenden Aufsatzes bereits erwähnten, nicht endenwollenden Vergrößerung fraktaler Gebilde. 50 Goethe zu Kanzler von Müller am 30. August 1827, nach: Friedrich von Müller, Gespräche mit Goethe (hrsg. von Renate Grumach), Weimar 1982, S.167. 47

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"Die (Schweitzersche) Sammlung von Karikaturen auf Napoleon zu sehen, lehnte er ab: ,Ich darf mir dergleichen mir widrige Eindrücke nicht erlauben, denn in meinem Alter stellt sich das Gemüt, wenn es angegriffen wird, nicht so schnell her wie bei euch Jüngern; ich muß daher mich nur mit ruhigen, freundlichen Eindrükken umgeben.'''51

Die bewußte Destabilisierung des Gemüts mit dem Ziel, neue, später literarisch zu gestaltende Welten zu entdecken, war trotz des auch von ihm mit betriebenen Geniekults in der Sturm- und Drang-Periode offenbar kein erstrebenswertes Ziel für Goethe. Wohl genügte es ihm als Voraussetzung für literarische Produktion, in andere Zustände mit wohldosiertem Schwindel jeweils nur Einblick zu nehmen, dabei aber niemals die Position eines gesicherten Gleichgewichtes zu verlassen. Hierfür mag Goethes väterliches Erbteil verantwortlich gewesen sein, wie auch die zahlreichen augenfälligen Beispiele gescheiterter Dichterexistenzen seiner Zeit, die für ihr poetisches Wirken einen zu hohen - seelischen wie existentiellen - Preis haben zahlen müssen. Die Entdeckung neuer Welten wurde erst in einer späteren literarischen Epoche bewußt thematisiert, in einer Epoche, die Goethe, wie seinerzeit die Romantik, vermutlich abgelehnt hätte. So kommentierte Arthur Rimbaud (1854 - 1891) in seinem berühmten Brief an seinen Freund Paul Demeny vom 15. Mai 1871 die eigene, soeben entdeckte dichterische Sendung: "Der Dichter macht sich zum Seher durch eine langandauernde, unerhörte und wohlüberlegte Entgrenzung aller Sinne. Alle Formen der Liebe und des Leidens, des Wahnsinns; er durchforsche sich selbst, er schöpfe alle Gifte seines Wesens aus und bewahre nur ihre Quintessenz für sich . . . . Denn er kommt an im Unbekannten! ... Mag er in seinem Sprung zu den unerhörten und unnennbaren Dingen auch umkommen: es wird neue schreckliche Arbeiter geben. Sie werden an jenen Horizonten beginnen, wo er hinsank. "52

2. Die Dramaturgie des Schwindels Literatur hat die Eigenschaft, über die Nachahmung, die Mimesis einer vermeintlich außer uns existierenden Wirklichkeit hinaus eine solche nach den Vorstellungen des Autors zu konstruieren. Hier decken sich verschiedene Aussagen von Schriftstellern, in ihren Werken eine Welt bewußt ,erfunden' zu haben, mit dem Ansatz des Radikalen Konstruktivismus. Innerhalb einer so erfundenen Wirklichkeit gibt es aber auch bewußt gesetzte Sprünge, die den Leser aus der eben erst gewonnenen stabilen Realität wieder herausfallen lassen oder auch zu neuen Perspektiven erheben sollen; das Gefühl des ,Schwindeins' ist hier einkalkuliert. 51 Goethe zu Kanzler von Müller am 18. Mai 1821, nach: Müller (FN 50), S. 57. 52 Arthur Rimbaud, Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871, übertr. von Dieter Tauchmann, in: Sämtliche Werke, Leipzig 1976, S. 396.

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Ein sehr bekanntes Beispiel, in dem die Technik des kalkulierten Schwindelns praktiziert wird, ist Arthur Rimbauds 1870 entstandenes Gedicht "Der Schläfer im Tal". Rimbaud gibt uns zunächst eine idyllische Zustandsbeschreibung eines im "grünen Bett" eines "Rasengrundes" schlafenden blutjungen Soldaten: Durch die Aneinanderreihung von Bildern, wie den "munter fließenden Bach", der "spielerisch das Gras mit Silberfetzen säumt" oder dem Tal, in dem es durch die blitzende Sonne "von Strahlen schäumt", wird dem Leser eine heile Welt aufgebaut, mit deren Beschreibung das Gedicht gewöhnlich schon abgeschlossen sein könnte. Seine Wirkung entfaltet das Rimbaudsche Sonett aber erst durch den Schock, den der Leser in der letzten Terzine erfährt; das unerwartete Herausfallen aus der eben erst bereiteten Idylle kündigt sich bereits durch den drohenden Unterton der vorletzten Strophe an: "Er schläft, die Füße in den Schwerteln. Und er lächelt, Ein kranker Junge, dem im Schlaf verging sein Harm: Natur, es ist ihm kalt! Wiege ihn weich und warm! Die Nase schauert nicht vom Duft, der sie umfächelt; Die Hände auf der Brust, im Sonnenscheine ruht Er still. Zwei Löcher hat er rechts, noch rot vom Blut. "53

Eine dazu gleichsam inverse Dramaturgie verfolgt Bob Dylan in der "Ballad of Hollis Brown"54, die in der 1963 erschienenen LP "The Times They Are AChangin'" enthalten ist. Dylan entwirft hier ein sich allmählich verdichtendes Katastrophenszenario einer Landarbeiterfamilie in South Dakota, das sein thematisches Vorbild wohl in Woody Guthries in den dreißiger Jahren entstandenen "Dust Bowl Ballads" besitzt. Durch vergebliche Suche nach Arbeit, durch Dürre und Krankheiten, die auf neun Strophen ausgebreitet werden, verliert das Leben jede Perspektive, bis auf jene scheinbar letzte, die durch das Gewehr, das "an der Wand hängt neben der Tür" gegeben ist: "Der Luftdruck von sieben Schüssen Erschüttert die alte Hütte Der Luftdruck von sieben Schüssen Erschüttert die alte Hütte Sieben Schüsse peitschen Wie die Gischt an den Meeresklippen Auf einer Farm in South Dakota Haben sieben ihr Leben verloren Auf einer Farm in South Dakota Haben sieben ihr Leben verloren" 53 "Le Dormeur du Val", übertr. von Sigmar Löffler, in: Rimbaud (FN 52), S.68-71. 54 Bob Dylan, Ballad of Hollis Brown (aus: The Times They Are A-Changin', CBS CD 32021, © 1963 by Warner Bros. Inc.), zitiert nach Dylan, Texte und Zeichnungen (FN 31), S. 240 - 245.

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Mit diesem Fazit könnte das Lied enden, denn für die Menschen auf der South Dakota Farm ist das Leben zu Ende, jedoch: "Irgendwo in der Ferne Werden sieben neue Menschen geboren"

Wir finden in William Shakespeares ,,66. Sonett" ein ähnliches Kompositionsschema, durch das wiederum sich aus einer scheinbar trostlosen Weitsicht heraus zum Ende doch noch eine unerwartete Perspektive ergibt. Diese beruht auf innermenschlichen Möglichkeiten und kann deshalb auf ein Eingreifen eines deus ex machina, wie in der antiken Tragödie bei der Auflösung eines Konfliktes gehandhabt, verzichten. So heißt es bei Shakespeare nach einem mehrfach wiederholten Beklagen unerträglicher Weltzustände in den letzten beiden Zeilen: "All dieses müd, möcht ich von hinnen sein, Nur ließ ich dann im Sterben dich allein. "55

Die Psyche des Lesers oder des Zuhörers kann sich allerdings auch als sehr widerstandsfähig erweisen gegen die Wirkung von Poesie. Als ein didaktisches Verfahren, besonders ,gleichgewichtige' Gemüter zu neuen Einsichten zu bewegen, erweist sich der gleichsam in mehreren Anläufen vorgenommene Versuch einer mentalen Destabilisierung. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist Bob Dylans "The Lonesome Death of Hattie Carroll" über die rechtsstaatliche Verfolgung und Verurteilung von William Zanzinger, Besitzer einer Tabaksfarm in den Südstaaten der Vereinigten Staaten, nach dessen Mord an der 51jährigen Dienstmagd Hattie Carroll. 56

In den ersten drei Strophen schildert Dylan die äußeren Umstände des Geschehens, die unmittelbare Tat, die aus purer Mordlust geschah, ausgeführt "with a cane"57 in einer Abendgesellschaft, den sozialen Hintergrund des Opfers und des gutsituierten Täters, "Sohn wohlhabender Eltern, die in verwöhnen und schützen,/ Und mit Verwandten, die in Maryland in hohen Ämtern sitzen," die Verhaftung Zanzingers und dessen unmittelbare Freilassung gegen Kaution. Jede dieser Strophen wäre schon geeignet, Betroffenheit beim Zuhörer auszulösen, jedoch warnt Dylan am Ende jeder Strophe: 55 William Shakespeare, Sonnet 66 (um 1595), übertr. von Stephan Hermlin (1945), zitiert nach: Rainer Kirsch, Das Wort und seine Strahlung, Berlin/Weimar 1976, S.119. 56 Bob Dylan, The Losesome Death of Hattie Carroll (aus: The Times They Are AChangin', CBS CD 32021, © 1963 by Warner Bros. Inc.), zitiert nach Dylan, Texte und Zeichnungen (FN 31), S.270 - 273. Als formales Modell für "Hattie Caroll" dienten offensichtlich Bertolt Brechts "Von der Kindesmörderin Marie Farrar" (1922) als auch einige Lieder von Francois Villon aus dessen "Testament" (um 1461). Bei Brecht und Villon, die beide zur Lektüre des jungen Dylan gehörten, fehlt jedoch der bei "Hattie Carroll" ausgeführte kulminierende Appell in der letzten Strophe. 57 Man beachte die Lautgleichheit von "cane" und "Cain" .

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Hans-Jürgen Krug "Doch ihr, die ihr von Schande redet und glaubt, das Richtige zu meinen, Nehmt Eure Taschentücher von den Augen. Noch ist es nicht Zeit zu weinen."

Jene letzte Betroffenheit wird erst erreicht, wenn in der letzten Strophe das Strafmaß für William Zanzinger verkündet wird von einem Gericht, "daß ... selbst die Vornehmen nicht ungeschoren läßt", da es "auf der Leiter des Gesetzes kein Oben und Unten gibt", und schließlich lautet: "Sechs Monate für William Zanzinger. Oh, doch ihr, die ihr von Schande redet und glaubt, das Richtige zu meinen, Nehmt eure Taschentücher vors Gesicht, Denn jetzt habt ihr allen Grund zu Weinen."

Man ist geneigt, hier an ein schwingungsfähiges System zu denken, daß durch einen wiederholt im geeigneten Moment erteilten kleinen Impuls zu immer weiteren Pendelungen um seine Gleichgewichtslage angeregt wird, bis endlich durch einen letzten Anstoß der Rand jenes Systems überschritten wird und sich die Kugel nunmehr in neue Gefilde bewegt. Neben der Konfrontation mit neuen Welten oder Einsichten gibt es noch eine weitere Möglichkeit, das Gefühl des Schwindelns hervorzurufen, eine, die in der Auflösung der Persönlichkeit begründet liegt. Es ist dies ein Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn für einen gewissen Zeitraum bewußt die dynamischen Reproduktionsmechanismen zur Herstellung einer ,stabilen' Persönlichkeitsstruktur außer Kraft gesetzt werden. Dies kann geschehen sowohl im Rausch durch narkotisierende Mittel als auch durch gezielte Meditation. Es ist bemerkenswert, daß bereits vor vielen Jahrzehnten ausgerechnet durch einen Naturwissenschaftler, den Begründer der physikalischen Chemie in Deutschland, Wilhelm Ostwald (1853 - 1932), diese Tatsache erstmals ausgesprochen worden ist. 58 Einen literarischen Appell an eine solche Auflösung - abseits von an anderen Stellen zu findender Lyrik über Rauschmittelerfahrungen hören wir beispielsweise in Bob Dylans "Lay Down Your Weary Tune" in dessen Refrainzeilen es heißt: "Laß sein dein müdes Lied, laß sein, Laß sein deinen müden Gesang, Gib dich hin dem mächtigen Saitenklang, Den keine Stimme singen kann. "59

58 Vgl. hierzu Wilhelm Ostwald, Die Technik des Glücks (1910/11)/Theorie und Technik des Glücks (1922), hrsg. von Uwe Niedersen / Hans-Jürgen Krug / Ludwig Pohlmann, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial-, und Geisteswissenschaften, Band 2, U. Niedersen / L. Pohlmann (Hrsg.), Berlin 1991, S.257 - 269; sowie den vorangestellten ausführlichen Kommentar von U. Niedersen,

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V. Die Dynamik des kreativen Augenblicks Von physikalischen Apparaturen wissen wir, daß sich diese - natürlich mit völlig unterschiedlichen Wirkungsgraden - in ihrer ursprünglichen Funktion umkehren lassen: Ein Lautsprecher wird zum Mikrophon, ein Fernsehgerät wird zur Kamera oder ein Rundfunkempfänger zum Sender. In ähnlicher Weise kann man finden, daß sich bestimmte dynamische Prinzipien, auf denen die Wirkung von Kunst beim Rezipienten beruht, auch im kreativen Prozeß des Künstlers selbst anzutreffen sind. Oftmals geht dem Aussprechen eines schöpferischen Gedankens, dem Schreiben eines Gedichts, ja eines Romans eine längere Latenzperiode voraus, die schließlich unstetig, erdrutschartig mit dem langerwünschten Ergebnis abgeschlossen wird. Es scheint, daß durch unterbewußte, durchaus angestrengte Meditation erst eine überkritische Masse an noch ungeordeten Gedanken akkumuliert werden muß, bis sich daraus durch eine Instabilität das Werk in seiner geordneten Form herausbilden kann. Ein schönes Beispiel für den schöpferischen Abschluß einer solchen Latenzperiode gibt uns Johann Wolfgang von Goethe, indem er im 13. Buch von "Dichtung und Wahrheit" den Durchbruch zum Aufschreiben des "Werthers" in einem direkt physikalischen Bild - dem Kristallisationsvorgang - mitteilt: "Ich versammelte hiezu die Elemente, die sich schon ein paar Jahre in mir herumtrieben, ich vergegenwärtigte mir die Fälle, die mich am meisten gedrängt und geängstigt; aber es wollte sich nichts gestalten: es fehlte mir eine Begebenheit, eine Fabel, in welcher sie sich verkörpern konnten. Auf einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode und unmittelbar nach dem allgemeinen Gerüchte sogleich die genauste und umständlichste Beschreibung des Vorgangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu ,Werthern' gefunden; das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in festes Eis verwandelt wird. "60 Fast zwei Jahrhunderte später hat Bob Dylan eine ähnliche kreative Dynamik beim spontanen Hervortreten seines berühmten Songs "Girl from the North Country", den er "etwa drei Jahre mit sich herumtrug", bis er ihn Energie, Glück und Autopoiese. Ostwaids Vorstellungen über Transformationen zwischen Energieflüssen und physiologischen sowie psychischen Zusammenhängen (S.245 - 256). 59 Bob Dylan, Lay Down Your Weary Tune (1963), (© 1964 by Warner Bros. Inc., Erstveröffentlichung 1985 auf "Biograph", CBS CD 66509), zitiert nach Dylan, Texte und Zeichnungen (FN 31), S. 336 - 339. In thematischer Nähe zu diesem Song befindet sich Allen Ginsbergs Poem "Lay down yr Mountain", das 1975 auf der von Dylan initiierten "Rolling Thunder Review" entstand und das nachzulesen ist bei: Sam Shepard, Rolling Thunder Logbook, New York 1977, S. 38. 60 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, WA I, 28, S. 221. 12 Selbstorganisation, Bd.4

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schließlich im Dezember 1962 niederschrieb, mit folgender Bemerkung kommentiert: "That often happens, I carry a song in my head for a long time and then it comes bursting out. "61

Der im Zusammenhang mit der auch von Dylan propagierten ,Auflösung der Persönlichkeit' oben bereits erwähnte Physikochemiker Wilhelm Ostwald hatte sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts intensiv um die Schaffung eines neuen physikalischen Weltbildes bemüht, das die engen Grenzen der damals herrschenden mechanisch-atomistischen Auffassung überwinden sollte. Die Berücksichtigung des damals gerade gefundenen Energierhaltungssatzes anstelle der Erhaltung der Kraft sowie später die Einbeziehung irreversibler Prozesse gipfelte in der Ostwaldschen "Energetik", bei der allerdings zu einseitig nur noch die "Energie" in ihren verschiedenen Formen als das eigentlich Primäre und die stoffliche Materie als deren sekundäre Ableitung angesehen wurde. 62 Ostwald hat von seiner - schon bald nach der Jahrhundertwende obsolet gewordenen - Energetik selbst sehr viel gehalten und zu ihrer Durchsetzung erhebliche persönliche Kontroversen mit den naturwissenschaftlichen Koryphäen seiner Zeit auf sich genommen. Vor der endgültigen Formulierung der Energetik im Jahre 1892 hatte sich Ostwald bereits über mehrere Jahre mit dem Problem der Energie und ihrer Wandlungen beschäftigt; dies war auch das Thema seiner 1887 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Leipziger Universität. Der Übergang zur endgültigen Formulierung seines neuen Weltbildes vollzog sich jedoch - wie in den beiden vorangegangenen literarischen Beispielen - nicht stetig sondern abrupt, in Form "einer Ausgießung des Geistes", wie Ostwald in seinen "Lebenslinien" über einen morgendlichen Spaziergang im Frühling des Jahres 1890 berichtet. Diesem war eine längere nächtliche Diskussion mit Berliner Fachkollegen vorausgegangen, die wohl die "eigentliche Geburtsstunde der Energetik" ausgelöst hat. So lesen wir denn: "Was vor einem Jahre bei jener ersten plötzlichen Empfindung in meinem Gehirn, der Konzeption des Gedankens, mir noch als einigermaßen fremd, ja nicht ohne einen Zug von unheimlicher Neuheit entgegengetreten war, erwies sich jetzt als zu meinem Innern gehörig, ja als ein lebenswichtiger Teil meines Wesens. Er war so assimiliert, organisch an- und eingeschlossen und halb unterbewußt entwickelt worden, daß wie bei dem plötzlichen Aufbrechen einer Knospe mit einem Male alles da war und mein entzückter Blick nur von einem Ort zum anderen zu schweifen hatte, um die ganze neue Schöpfung in ihrer Vollkommenheit zu erfassen. "63 61 Bob Dylan, zitiert nach: Nat Hentoff, S1eeve Notes of "The Freewheeling Bob Dylan" (1963, CBS S 62193). 62 Vgl. Uwe Niedersen / Hans-Jürgen Krug / Ludwig Pohlmann, Wilhelm Ostwald Von der Reversibilität zur Irreversibilität, in: Chemie in unserer Zeit, 26 (1992), Heft 6, S. 304 - 313, bes. S. 305f. 63 Wilhelm Ostwald, Lebenslinien. Zweiter Teil, Berlin 1927, S. 158ff., hier S. 161.

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Einen weiteren Bericht eines Naturwissenschaftlers über die Dynamik des kreativen Augenblicks, der die kleine Reihe von exemplarischen Beispielen abschließen soll, finden wir bei Werner Heisenberg (1901 - 1976) in dessen 1969 erschienenen autobiographischen Buch "Der Teil und das Ganze". Im Sommer des Jahres 1925 war er von Göttingen auf die Insel Helgoland geflüchtet, sowohl aus gesundheitlichen Gründen als auch um mit seiner Quantenmechanik weiter voranzukommen. Dies gelang erst dort durch die Trias von trockener Rechenarbeit, den Wanderungen auf den Klippen der Nordseeinsel und der Beschäftigung mit Goethes "West-östlichem Diwan", die schließlich in erregenden Stunden gipfelten, von denen wir lesen: "Als sich bei den ersten Termen wirklich der Energiesatz bestätigte, geriet ich in eine gewisse Erregung, so daß ich bei den folgenden Rechnungen immer wieder Rechenfehler machte. Daher wurde es fast drei Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis der Rechnung vor mir lag. Der Energiesatz hatte sich in allen Gliedern als nützlich erwiesen, und - da dies ja alles von selbst, sozusagen ohne jeden Zwang herausgekommen war - so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit nicht mehr zweifeln. Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte. "64

VI. Die Anziehungskraft des Trüben

Der Begriff des ,Trüben', der uns nunmehr interessieren soll, ist von Johann Wolfgang von Goethe ursprünglich als Kennzeichnung einer stofflichen Eigenschaft in seiner Farbenlehre verwendet worden. Im Gegensatz zur Newtonschen physikalischen Farbenlehre vertrat Goethe die Auffassung, daß die für uns sichtbaren Farben "als ein elementares Naturphänomen" aus dem reinen Licht erst nach dem Durchgang durch ein trübes Medium erzeugt würden: Die blaue Farbe entsteht, wenn wir einen schwarzen Hintergrund durch ein Trübes hindurch betrachten, und das Rot, wenn wir zur Sonne durch ein ebensolches blicken. Wie wir wissen, hat sich die Goethesche Farbenlehre in der Physik nicht durchsetzen können, zumal noch lange nach seinem Tode in aller Ernsthaftigkeit die naturwissenschaftliche Unhaltbarkeit seiner Thesen bewiesen wurde. Dabei wurde allerdings immer wieder der ungebrochene Wert der von Goethe angestellten umfangreichen empirischen Beobachtungen vergessen, die im Didaktischen Teil seiner eben subjektiven Farbenlehre zusammengefaßt sind. 65 64

12*

Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1969, S. 89f.

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Von ebenfalls bleibendem Wert sind auch die naturphilosophischen und wissenschaftshistorischen Betrachtungen, die Goethe aus seinen Farbstudien heraus entwickelt hatte. 66 Von besonderer Bedeutung sind uns aber hier Goethes Ansichten zur ästhetischen, zur "sinnlich-sittlichen" Wirkung der Farben, speziell die darin erfolgende Einbindung des "trüben Mediums". Die durch dieses bedingte Entstehung der Farben beschreibt Goethe in poetischer Form: "Du aber halte dich mit Liebe An das Durchscheinende, das Trübe. Denn steht das Trübste vor der Sonne, Da siehst die herrlichste Purpur-Wonne. Und will das Licht sich dem Trübsten entwinden, So wird es glühend Rot entzünden. Und wie das Trübe verdunstet uns weicht, Das Rote zum hellsten Gelb erbleicht. Ist endlich der Äther rein und klar Ist das Licht weiß, wie es anfangs war. Steht vor dem Finstern milchig Grau Die Sonne bescheint's, da wird es Blau. "67

Daß Goethe dem Trüben aber auch eine über die Farbenlehre hinausgehende Wert kategorie zumaß, entnehmen wir einer Tagebuchnotiz vom 25. Mai 1807, in der es heißt: "Chromatische Betrachtung und Gleichnisse. Lieben und Hassen, Hoffen und Fürchten sind auch nur differente Zustände unsres trüben Inneren, durch welches der Geist entweder nach der Licht- oder Schattenseite hinsieht. Blicken wir durch diese trübe organische Umgebung nach dem Lichte hin, so lieben und hoffen wir; blicken wir nach dem Finstern, so hassen und fürchten wir. "68

Goethe betrachtet also unser "trübes Inneres" als ein ursprünglich schwebend indifferentes, in unserer heutigen Sprache strukturell instabiles Gebilde, daß durch den Anstoß eines Blickes nach außen zu den verschiedensten Facetten der Gemütsbewegungen geführt werden kann. Auch an anderer Stelle, in der Rezension von "Des Knaben Wunderhorn", verwendet Goethe das Trübe in einem außerphysikalischen Sinne: 65 Vgl. Goethe, Die Schriften zu Naturwissenschaft, Leopoldina-Ausgabe (LA), Erste Abteilung: Texte, Band 4, Zur Farbenlehre. Widmung, Vorwort und Didaktischer Teil (bearb. von Rupprecht Matthaei), Weimar 1955; sowie den dazugehörigen Kommentarband der LA, Zweite Abteilung: Ergänzungen und Erläuterungen, Band 4 (bearb. von Rupprecht Matthaei und Dorothea Kuhn), Weimar 1973. 66 Goethes "Historischer Teil" der Farbenlehre bietet uns einen unvergleichlichen Längsschnitt durch die gesamte Wissenschaftsentwicklung von der Antike bis zur Goethezeit. Vgl. hierzu: LA I, Band 6 (bearb. von Dorothea Kuhn), Weimar 1957. 67 Goethe, aus: Gott, Gemüt und Welt (1812 - 1814), WA I, 2, S. 219. 68 Goethe, Tagebücher, WA III, 3, S. 213f.

Der Schwindel und das Trübe

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" ... - dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann; sie haben einen unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat. Hier ist die Kunst mit der Natur im Konflikt, und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen, und es hat sein Ziel schon erreicht. Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet; mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik, oder was sonst will, entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht, und wirkt selbst im dunkeln und trüben Elemente oft herrlicher, als es später im klaren vermag. "69

Hier steht das Trübe nicht für etwas schwebend indifferentes, sondern für etwas unvollkommenes, leicht gestörtes, wie wir es in den Gedichten des "Wunderhorn" oft finden und das dennoch eine herrliche Wirkung entfalten kann, die es dann im gereinigten, verbesserten Zustand oftmals verliert. In gleichem Sinne heißt es nicht zu Unrecht in einem Kommentar zu den ersten fünf Gesängen von Klopstocks "Messias": "So unvollkommen, oft prosanah der Hexameter Klopstocks uns heute im Vergleich mit dem Hexameter der Voß'schen Homer-Übertragung erscheinen mag, soviel morgendliche Frische und sprachlicher Jugendrnut liegt doch auf der Versgestalt gerade der ersten "Messias"-Gesänge. Später sollte der Dichter den antiken Epenvers weit vollkommener beherrschen, aber der eigentümliche Reiz des Lebendig-Unfertigen, des noch Gärend-Werdenden ging darüber verloren. "70

Auch Goethe selbst sollte in seinem poetischen Werk gewisse Unvollkommenheiten - bewußt oder unbewußt - nie ganz ausschließen wollen, um eben jene Lebendigkeit hervorzurufen, die dem formal Vollkommenen abgeht, weil es in seiner Abgeschlossenenheit nicht weiter wachsen kann und damit tot wirkt und ist. Wenn der einer höheren, lebendigen Vollkommenheit verpflichtete Wert eines Kunstwerks nicht gesehen wird oder gesehen werden will, ist dieses oft leicht das Opfer einer beckmesserischen Kritik, die beispielsweise auch an den Hexametern von Goethe geübt wurde. 71 Die Verteidigung der Poesie gegen die Zwangsjacke der Prosodie formulierte Goethe einmal in den Versen:

69 Goethe, Besprechung von "Des Knaben Wunderhorn", Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano, Heidelberg 1806, in: WA I, 17, S. 337ff., hier: S. 356. 70 Eberhard Haufe, Nachwort zu "Der Messias. Gesang I - V" von Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin 1975. 71 Eine ausführliche Sammlung von Briefstellen und Tagebuchnotizen zur um 1800 geführten Diskussion zum Thema Lebendigkeit versus Einhaltung des Metrums oder Poesie versus Prosodie, an der sich unter anderen Wilhelm von Humboldt, Johann Heinrich Voß und auch Schiller beteiligten, findet sich bei: Erich Trunz, Eine Mappe mit Notizen zur Metrik aus Goethes Papieren, in: E. Trunz, Weimarer Goethe-Studien, Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 61, Weimar 1980, S. 110 - 155.

Hans-Jürgen Krug

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"Allerlieblichste Trochäen Aus der Zeile zu vertreiben Und schwerfällige Spondeen An die Stelle zu verleiben, Bis zuletzt ein Vers entsteht, Wird mich immerfort verdrießen. Laß die Reime lieblich fließen, Laß mich des Gesangs genießen, Und des Blicks, der mich versteht!"72 Oder: "Ein reiner Reim wird wohl begehrt, Doch den Gedanken rein zu haben, Die edelste von allen Gaben, Das ist mir alle Reime wert. "73

Die gezielte, leichte Störung eines sonst streng geordneten Kunstwerks, die damit gleichsam eine strukturelle Instabilität auslöst, finden wir als Gestaltungsprinzip sowohl in der Musik, in der Literatur, als auch in der Malerei, in den Bildenden Künsten und in der Architektur. Symmetrien werden niemals streng befolgt, sondern stets leicht verschoben, ein Takt wird nicht genau eingehalten, sondern es wird "um ihn herum" gespielt; was wäre schließlich die Sixtinische Madonna ohne den Kontrapunkt der eigentlich nur als Fußnote erscheinenden Engel? Walter Benjamin hat es einmal für die Literatur auf den Punkt gebracht: "Eine Periode, die, metrisch konzipiert, nachträglich an einer einzigen Stelle im Rhythmus gestört wird, macht den schönsten Prosasatz, der sich denken läßt. So fällt durch eine kleine Bresche in der Mauer ein Lichtstrahl in die Stube des Alchimisten und läßt Kristalle, Kugeln und Triangel aufblitzen. "74

Eine Störung muß nicht notwendig punktuell angesetzt werden; sie kann auch durch eine gleichmäßige "Eintrübung" oder Entfremdung eines poetischen Bildes erreicht werden, wie es beispielsweise, Eduard Mörike im "Septembermorgen" durch seinen Appell an die "herbstkräftige", weil gedämpfte Welt erreicht. In gleicher Weise wird im Matthias Claudius' "Abendlied" dessen geradezu mythische Ausstrahlung durch den die sonst ungetrübte Abendidylle bedrohenden "weißen Nebel" aus der ersten Strophe und - damit jene Spannung erhalten bleibt - durch den gleichfalls bedrohlichen "kalten Abendhauch" in der letzten Strophe aufgebaut wird. 75 72 Goethe, Zahme Xenien, V. Abteilung, WA I, 3, S. 338. Goethe, Zahme Xenien (FN 72), S. 338. 74 Walter Benjamin, Lehrmittel, in: Allegorien kultureller Erfahrung. Leipzig 1984, S.2S. 75 Vgl. dazu Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur, in: F. Fühmann, Essays, Gespräche, Aufsätze (1964 - 1981), Rostock 1986, S.82 - 140, bes. S.133ff. 73

Der Schwindel und das Trübe

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Der Ansatz einer strukturellen Instabilität setzt allerdings voraus, daß bereits ein geeignet konzipiertes Grundgerüst vorhanden ist, das Gegenstand einer kleinen Störung sein soll. Dieses muß von einer indifferent einfachen Gestalt sein, damit ein hinreichender Zuwachs an Komplexität noch möglich und zugleich auch mit geringem Aufwand herstellbar ist. Wir brauchen deshalb als Ausgangspunkt einen Zustand "schwebender Ungenauigkeit", wie Charles Baudelaire ihn einmal erwähnt hat: "Ich habe die Definition des Schönen gefunden - meines Schönheitsbegriffes. Etwas zugleich voller Trauer und voll verhaltener Glut, etwas schwebend ungenaues, das der Vermutung Spielraum läßt. ... Das Rätselhafte und die Wehmut des Bedauerns gehören gleichfalls zu den wesentlichen Merkmalen des Schönen."76

VII. Schluß In den hier geschilderten Ansätzen mit den Metaphern des ,Schwindels' und des ,Trüben' haben wir zwei Komponenten diskutiert, die wesentliche Bestandteile der Wirkung eines Kunstwerkes sein können. Ich habe mir damit nicht das Ziel gestellt, nun etwa das Geheimnis der Kunst in solchen Kategorien zu finden. Dieses besteht sicher nicht in der Abfolge mechanisch konstruierter dramatischer Umschwünge, da ein solcher eben jeweils kunstvoll vorbereitet sein will; auch können Unregelmäßigkeiten nicht nach Belieben gesetzt werden, da diese erst das Auge und da Ohr des Künstlers voraussetzen. Es ist eher das Bedürfnis des Menschen, am Geheimnis der Kunst nicht zu rühren, um immer wieder die Möglichkeit zu haben, eine Wirklichkeit konstruiert zu bekommen, in der wir uns wenigstens eine Zeit lang bewegen und aufhalten können. So interessant ein Blick hinter die Kulissen auch immer sein mag, er wird eine Realität zerstören, der wir letztlich bedürfen. Bei Rembrandt ist es der Schleier des Halbdunkeln, der den Reichtum des Ausdrucks von herausgehobenen Einzelheiten erst ermöglicht in vormals "dunklen Hinterhöfen" und "öden und unscheinbaren Landschaften", wie Anna Seghers in ihrer Dissertation bemerkt. 77 Ihre Erzählung "Grubetsch", die Menschen auf einem Hinterhof schildert, beginnt folgerichtig mit dem Satz: "Wenn die Laterne am eisernen Arm über der Kellertür ein anderes Licht in sich getragen hätte als einen niedergebrannten Gasstrumpf, sie würde doch nur die Pfütze im gerissenen Holzpflaster beleuchtet haben, einen weggeworfenen Pantoffel und einen Haufen verfaulter Äpfel. "78 76 Charles Baudelaire, Mein entblösstes Herz. Tagebücher, übertr. von Friedhelm Kemp, Frankfurt a.M. 1966, (Orig. 1887), S.17. 77 Netty Reiling (Anna Seghers), Jude und Judentum im Werke Rembrandts (Diss., Heidelberg 1924), hrsg. von Christa Wolf, Leipzig 1981, S. 32f. 78 Anna Seghers, Grubetsch, zit. nach Christa Wolf, Vorwort von: Netty Reiling (Anna Seghers), FN 77, S. 11.

Alternative Selbstorganisationsmodelle Der Wandel der Indianer Von August Nitschke, Stuttgart Über die Geschichte der nord amerikanischen und mitte Iamerikanischen Indianer sind wir einigermaßen gut informiert. So wissen wir, daß die Azteken aus dem Norden eingewandert sind. Ihre Vorstellungen sind mit denen nordamerikanischer Indianer verwandt. So kann man fragen, ob das, was bei den Azteken anders ist als bei den Stämmen des Nordens, möglicherweise in Prozessen der Selbstorganisation entstand. Viele Veränderungen lassen sich erklären, ohne daß man Modelle der Selbstorganisation berücksichtigen muß. Die Wanderungen führten indianische Stämme aus einem Gebiet, in dem sie in Wäldern, an Seen und am Meer jagten, in Zonen hinein, die Ackerbau ermöglichten. Darüber veränderte sich die Sozialstruktur. Es bildeten sich kriegerische Stämme. Die Azteken in Mittelamerika waren ein solcher kriegerischer Stamm. Die Veränderungen blieben keineswegs auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich beschränkt. Parallel dazu wandelten sich die religiösen Vorstellungen und auch die Sitten und die Moral. All dies ist b~schrieben und gesagt, daß die meisten Veränderungen sich aus mehreren Ursachen ableiten lassen, die teils in der Umwelt, teils in der Tätigkeit, teils in den entstehenden Strukturen begründet sind!. Neben diesen vielfältigen Wandlungen fällt auch eine Veränderung der Wahrnehmungsweise auf. Diese spiegelt sich in Kultformen, jedoch auch im Verhalten und in der Kunst. An Kunstwerken ist sie am leichtesten aufzuzeigen 2 . Die bisherigen Versuche, diesen Wandel der Wahrnehmungsweise aus den veränderten klimatischen Verhältnissen, aus den anderen Wirtschaftsformen, aus der Sozialstruktur oder aus einzelnen Ereignissen abzuleiten, sind unbefriedigend geblieben. Da in anderen Gesellschaften - etwa in Europa die Veränderung von Zeit- und Raumwahrnehmungen nach den Prinzipien der Selbstorganisation erklärbar wurden 3 , lohnt es zu überlegen, ob sich nicht 1 Werner Müller, Weltbild und Kult der Kwakiutl-Indianer. Wiesbaden 1955; ders., Die Religion der Indianervölker Nordamerikas, in: Christel Matthias-Schröder, Religionen der Menschheit 7, Stuttgart 1961; Walter Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, Berlin 1956. 2 August Nitschke, Kunst und Verhalten. Analoge Konfigurationen, Stuttgart - Bad Cannstatt 1975.

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auch in der Geschichte der Indianer dieses Modell anwenden läßt. Im Verlauf der Untersuchungen hat sich dabei gezeigt, daß die Veränderung der Wahrnehmungsweise der Indianer besonders interessant ist; denn zu ihrer Erklärung können sogar zwei - im Grunde alternative - Modelle der Selbstorganisation herangezogen werden. Beide Modelle unterscheiden sich von denjenigen, die die Systemtheoretiker innerhalb der europäischen Geschichte benutzen 4 • Der Tatbestand ist verhältnismäßig rasch berichtet. Wir gehen von zwei weit voneinander entfernten Stämmen aus, die sich für die Gegenüberstellung - dank ihrer Verschiedenartigkeit - gut eignen. Jeder, der mit der Wahrnehmung der verschiedenen Indianerstämme nur etwas vertraut ist, kann die Zwischenformen leicht selber einfügen5 . Wir begnügen uns mit dem Vergleich zwischen den Kwakiutl und den Azteken. Die Kwakiutlleben im Norden Amerikas an der Westküste als Fischer und Jäger. Im Sommer ziehen sie in Kleingruppen in ihre Jagdgebiete, im Winter treffen sie sich in ihren Dörfern. Dort nehmen Kultbünde junge Novizen auf. Diese Bünde verehren ein Tier. Die Bünde sind dabei meist auf Tiergruppen orientiert, die von einer Himmelsrichtung kommen. So gibt es einen Bund, der für die Tiere aus dem Norden, einen anderen, der für die Tiere aus dem 3 August Nitschke, Die Mutigen in einem System. Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Ein Vergleich der Kulturen, Köln/Weimar/Wien, 1991, S. 199ff. Das Modell dieser Arbeit unterscheidet sich von den sonst meist verwandten Erklärungsmodellen, zu diesen s. die nächste Anmerkung. 4 Die am meisten verbreiteten Systemtheorien gehen von Elementen oder Komponenten aus, die bestimmte Eigenschaften haben. Hall und Fagen rechnen mit Beziehungen zwischen diesen "objects" und mit Beziehungen zwischen dessen Eigenschaften. Hejl will nur auf diejenigen "Interaktionseigenschaften" achten, "durch die sie (die Komponente) an dem Netzwerk von Interaktionen teilnimmt, das als System aufgefaßt wird", A. D. Hall / R. E. Fagen, Definition of System, in: Walter Buckley (Hg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist, Chicago 1969; Peter M. Hejl, Die zwei Seiten der Eigengesetzlichkeit. Zur Konstruktion natürlicher Sozial systeme und zum Problem ihrer Regelung, in: Siegfried Schmidt, Kognition und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1992, S.138. Krohn und Küppers wählen "Individuen als Elemente" der Systeme, Wolfgang Krohn / Günter Küppers, Wissenschaft als selbstorganisierendes System. Eine neue Sicht alter Probleme, in: dies. (Hg.), Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig/Wiesbaden 1990, S. 304. Unserer Definition nahe kommt Schiepek. Er engt die "traditionelle" Definition System = Objekte mit Relationen zwischen diesen - ein und achtet nur auf "temporalisierte" und "systemrelativ existierende Komponenten" -, bleibt allerdings, was die "Temporalisierung" angeht, nicht ganz konsequent. So rechnet er die "Biomoleküle" auch unter die Komponenten, Günter Schiepek, Selbstreferenz in psychischen und sozialen Systemen, in: Kar! W. Kratky / Friedrich Wallner (Hg.), Grundprinzipien der Selbstorganisation, Darmstadt 1990, S. 183, 193f. Niklas Luhmann geht ebenfalls von Handlungen aus, beschreibt sie jedoch nicht inhaltlich, sondern nur als "Kommunikation" oder als ein "Sich-wechselseitig-Wahrnehmen", Nitschke, Mutige, S. 21 ff. 5 Eine gute Beschreibung bei Müller, Religion (FN 1), S.173ff.; Wolfgang Haberland, Nordamerika. Indianer - Eskimo - Westindien, Baden-Baden 1965, S. 42ff.

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Alternative Selbstorganisationsmodelle

Westen, und zwei andere, die für die Tiere aus dem Süden oder Osten zuständig sind. Die Tiere nähern sich während der Winterszeit. Die Novizen, die sich darauf vorbereiten und dabei lernen, alles Menschliche von sich abzustreifen, werden in eine Hütte gebracht. Bis dorthin dringt das sich nähernde Tier vor. Es wird auf Wänden aufgemalt. Maul oder Schnabel des Tieres bilden dabei eine Höhlung. Durch diese kriechen die Novizen; sie werden von dem Tier verschlungen und nehmen anschließend die Gestalt und das Verhalten des Tieres an 6 • In den Darstellungen der Künstler treten die Tiere dem Menschen frontal gegenüber. Der Rücken scheint aufgeschnitten und zur Seite geklappt. So haben die Tiere an der Seite eine ovale Form, in deren Mitte Maul oder Schnabel liegen. Alle Gelenke und Organe werden so dargestellt, als ob sie dazu fähig seien, den Menschen zu verschlingen oder zumindest in sich aufzunehmen7 , Abb.l. Gelegentlich wird im Tier auch ein winzig kleiner Mensch gezeigt, der bereits in das Tier hineingeriet8 , Abb. 2.

Abb.l

Abb.2

In dieser Kunst gibt es keine Umgebung der Tiere. Es gibt keine Körperlichkeit der Tiere. Die Tiere setzen sich aus Linien und Flächen zusammen, und der Betrachter dieser Tiere steht nur dem großen Tierwesen gegenüber, 6 7

8

Vgl. FN 1; Nitschke, (FN 3), S. 45. Nitschke (FN 2), S. 121ff. Nitschke (FN 2), S. 125.

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das mit starren Augen durch ihn hindurch in eine Ferne zu sehen scheint und so den Betrachter völlig negiert. Dieser kann bestenfalls vom Tier aufgenommen werden, um dann in das Tier zu geraten, das ihn mit seinen ovalen, runden Formen schützend umgibt und dessen Gestalt er, wie wir aus den Kultformen wissen, dabei annimmt 9 • In eine sehr andersartige Welt geraten wir bei den Azteken. Auch die Azteken sind auf Tiergottheiten bezogen. Die Tiere sind allerdings meist Symbole für Gestirne. So ist der Adler das Tier der Sonne lO . Diese Tiere treten auf Bildwerken dem Betrachter nicht frontal gegenüber. Sie werden zwar auch nicht im Raum gezeigt; sie erscheinen als Fläche. Doch werden die flächenhaft wiedergegebenen Tiere in Handlungen dargestellt, in denen sie mit den genauso gemalten Menschen verkehren. Zu den Handlungen gehört dabei das Menschenopfer. Dem Menschen wird von einem Priester - in Sonnengestalt mit Adlerkopf - das Herz aus der Brust geschnitten. Das daraus hervorspritzende Blut wird zur Sonne hinaufgetragen, und der Sonnengott trinkt das Blut des ihm geopferten ManneslI, Abb. 3. Diese Kultformen können wir deuten. Die Azteken waren der Überzeugung, daß die Sonne in jeder Nacht zum Skelett abmagerte. Sie konnte nur scheinen - und somit den Menschen nützen -, wenn sie morgens das Licht der Sterne trank, die darüber am Morgenhimmel verblaßten. Die Menschen waren dazu imstande, im Gewand der Sterne diesen Prozeß zu verstärken. Dann opferten Sonnenpriester Menschen, indem sie ihnen das Herz herausschnitten und das Herzblut zum Himmel hoben, so daß die aufgehende Sonne es zusammen mit dem Licht der Morgensterne trinken konnte, um so ihre Gestalt zu erneuern 12 • So unterscheiden sich die beiden Stämme dadurch, daß wir bei den Kwakiutl eine Bindung an Tiergottheiten finden, bei den Azteken hingegen eine Bindung an Gestirnsgötter. Die Verwandtschaft zwischen den Stämmen geht nur noch daraus hervor, daß diese Gestirne auch in Tiergestalt erscheinen. Parallel zu der veränderten Religion hat sich die Wahrnehmungsweise gewandelt. Während die Kwakiutl nur vor Gestalten stehen, die den Menschen negieren und ihn gleichzeitig in sich aufnehmen, leben die Azteken in einer Welt, in der die Gestalten aus einer Distanz zu sehen sind. Ihre Handlungen sind zu erkennen. Zwar ist kein Raum da, in dem sie tätig werden, doch sie können sich einander nähern. Eine kann von der anderen verschlungen werden, und dieses Geschehen wird wahrgenommen J3 . Nitschke (FN 2), S.123; ders., (FN 3), S. SOff. Walter Krickeberg, Altmexikanische Kulturen, Berlin 1971, S. 224. 11 Nitschke (FN 2), S. 44ff. 12 Krickeberg (FN 10), S. 224. 13 Nitschke (FN 3), S. 84ff.

9

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Abb.3

Diese Veränderung der Wahrnehmungsweise nUn ist als ein Prozeß der Selbstorganisation darstellbar und damit als Selbstorganisationsprozeß erklärbar, und zwar, wie angedeutet, in doppelter Weise. Modell I: Es wird angenommen, daß die Menschen einer Gesellschaft mit ihrer Umwelt in einem System verbunden sind: in einem Mensch-UmweltSystem. Dies ist seinerseits in eine größere Umgebung eingebunden, die dem Mensch-Umwelt-System Energie - etwa Wärme - vermittelt, die das System in Bewegung versetzen kann. In diesem Mensch-Umwelt-System kann das Energieniveau, in dem die Menschen stehen - der eigenen Umgebung gegenüber -, höher oder tiefer sein 14 •

In einem Selbstorganisationsprozeß wird dem Menschen eine Möglichkeit gegeben, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Energieniveau zurechtzukommen. Ist das Energieniveau einer Gesellschaft sehr niedrig, gerät in 14

Nitschke (FN 3), S. 172ff.

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diesem Selbstorganisationsprozeß der Mensch an Gestalten, die ihn aufnehmen und ihm somit eine gewisse Stabilität verleihen. Ist das Energieniveau der Umwelt gegenüber etwas höher, sind die Angehörigen einer Gesellschaft dazu fähig, ihre Umgebung bereits aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Sie werden dann nicht unmittelbar innerhalb einer Gestalt Schutz suchen, sondern beobachten, welche Prozesse sich periodisch wiederholen. Dabei werden sie sich den für sie günstigen Rhythmen angleichen. Die jeweilige Umgebung wird mit darüber entscheiden, an welche "Gestalten" oder an welche "Rhythmen" sich die Menschen einer Gesellschaft binden. 15 Der Selbstorganisationsprozeß sorgt nur dafür, daß - bei gegebenem Energieniveau - diese Bindungen entstehen. Bei einem weiter gesteigerten Energieniveau sind die Menschen dann dazu fähig, aufgrund eigener Bewegungen sich Räume zu erschließen. Es hängt dabei wieder von dem Energieniveau ab, welcher Art diese Räume sind 16 • - Soweit das Modell. Nach diesem Modell ist es nun möglich, diejenigen Veränderungen der Indianerstämme zu erklären, die auf ihren Wanderungen vom Norden in das Gebiet von Mexiko eingetreten sein müssen. Bei den Kwakiutl suchten Männer und Frauen zu Tiergestalten Kontakt aufzunehmen, die sie in einen ausgeglichenen Zustand versetzen konnten. In ihrer Kunst stellten sie daher keine Räume dar und gaben auch keine körperlichen Wesen wieder. Sie umgaben Flächen mit möglichst abgerundeten, umhüllenden Begrenzungen. Wer diese Linien als Bewegungen nimmt und ihnen folgt, wird von rechts und links in die Mitte gezogen. So zeigten sie den Vorgang, wie ein Mensch in das Innere dieser Tierfiguren geraten konnte, wenn das Tier ihn negierte und er sich gewissermaßen in das Tier einsaugen ließ. Die Azteken hingegen gehörten zu einem Stamm, der aufgrund günstiger klimatischer Verhältnisse, aufgrund einer besseren Wirtschaftsform, aufgrund der Tatsache, daß es sich um Krieger handelte, die Unterworfene für sich arbeiten ließen, eine gewisse Unabhängigkeit gewann und so in eine größere Distanz zur Umgebung kam. Die Azteken waren daher imstande, aus einer gewissen Entfernung heraus Veränderungen in ihrer Umgebung zu beobachten. Sie orientierten sich an den Tag- und Nacht- und dann generell an den Sternrhythmen. Diese Rhythmen suchten sie durch das eigene Verhalten zu kräftigen. So meinten sie, sie müßten der Sonne bei ihrem Aufgang am Morgen Hilfe leisten. Es ist deutlich zu erkennen, daß dieser Stamm noch in vielerlei Hinsicht in den Traditionen früherer Jahrhunderte steht. So ist es ihm selbstverständlich, wichtige Gestalten als Tiergestalten zu deuten. Die Sonne wird darüber zu einem Adler. Auch hat er weiterhin eine Tendenz anzunehmen, daß der 15 16

Nitschke (FN 3), S. 173. Nitschke (FN 3), S. 174.

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Mensch von diesen Tiergestalten verschlungen und in sie aufgenommen werden kann!7. Dieser Vorgang wird jetzt allerdings anders interpretiert. Es geht den Menschen nicht mehr darum, darüber eine Sicherheit zu gewinnen. Statt dessen soll er die Tiergottheit, die ein Gestirn wurde, in ihrem Lauf und in ihrer Leuchtkraft stärken und so Zeitrhythmen stabilisieren. Die traditionellen Verhaltensweisen werden somit neu gedeutet. Auch die Künstler stellen ihre Umgebung aus einer Distanz dar. Wer Linien und Flächen als Bewegungen nimmt, kann ihnen folgen, bis sie jäh abgebrochen werden. Dann setzen neue ein, die genauso abrupt enden. Die letzten - außen liegenden - Linien und Flächen werden länger und schwingen oft aus. So identifizieren sich Künstler und Betrachter mit Zeitfolgen, deren Ende jeweils eine neue beginnen läßt - der Tod ein neues Leben - und deren letzte weit und locker sich ausdehnt. Der Betrachter wird in eine Handlung eingereiht. Diese Handlung stellt die wichtigen astronomischen und kultischen Geschehnisse dar. Nach diesem Modell setzen die Selbstorganisationsprozesse immer dann ein, wenn die Menschen einer Gesellschaft - gegenüber ihrer Umgebung - ein gleiches Energieniveau gefunden haben. Dann sorgt das System, in dem sie mit ihrer Umgebung verbunden sind, dafür, daß sie entweder in Konnexion treten oder sich an periodisch wiederkehrende Geschehnisse assimilieren. Daß sie auch bestimmte Formen der Lokomotion wählen können, ist in den indianischen Gesellschaften vor der Landung der Europäer nicht zu beobachten. Modell II: Im zweiten Modell sind die Menschen einer Gesellschaft ebenfalls mit ihrer Umgebung in einem System verbunden. Die Mensch-UmweltSysteme erhalten ihre Energie von außerhalb. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zum ersten Modell. Die Mensch-Umwelt-Systeme haben allerdings einen anderen Charakter.

Bei dem ersten Modell hing die Systembildung von dem Energieniveau der Menschen ab, das durch seine Relation zum Energieniveau der Umgebung charakterisiert wurde. In dem zweiten Modell wird den Menschen keine systembildende Position zugestanden. Das System selber hat eigene Tendenzen. Wer mit dem 2. Modell arbeitet, achtet nicht auf energetische Vorgänge, sondern nur auf Abläufe. Abläufe sind in einem "Ablaufsystem" verbunden, wenn sie sich wie bei einer rotierenden Bewegung oder wie bei oszillierenden Vorgängen nach einer Zeit in gleicher Weise wiederholen. Unter diesem Aspekt wurden in einer Reihe von Untersuchungen die innerhalb von Lebewesen auftretenden Systeme analysiert. 17

Nitschke (FN 3), S. 207ff.

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Ihnen gemeinsam ist, daß jedes dieser Systeme etwas Neues aufbaut. Im System I wandeln sich Verbindungen, im System 11 entstehen neue Gestalten und im System 111 neue Räume. Diese drei Systeme begegnen uns bereits bei Einzellern. Im System I bringt der Elektronentransport eine Verwandlung der Verbindungen, so daß sich Kohlehydrate und Adenosintriphosphat (ATP) bilden, der Stoff, der Energie rasch aufnimmt und rasch wieder abgibt und insofern Energie vermittelt. Bei dem Elektronentransport werden die darin einbezogenen Moleküle sowohl Akzeptoren wie Donatoren - von Elektronen. Für dieses System I ist somit charakteristisch, daß die in das System einbezogenen Substanzen Mängel schaffen und beseitigen. Im System 11 verdoppelt sich die DNA - die die Enzyme konstruiert und die die Erbanlagen weitergibt - dank ihrer Gestalt, die getrennt wird und sich neu zusammensetzt. Für das System 11 ist charakteristisch, daß innerhalb seiner Prozesse durch Assimilation Stoffe - die Enzyme - entstehen, die ihrerseits Substrate herbeiholen und aufgrund ihrer Gestalt diese verändern. Im System 111 kommt es bei der Zellteilung zur Bildung von polaren Strukturen innerhalb eines Raums und dann von neuen Räumen 18 • Diese Systeme sind nicht nur innerhalb der Zellen, sondern auch - bei Mehrzellern - zwischen den Zellen nachweisbar. Sie treten bei der Verbindung zwischen den Lebewesen einer Art und bei der Verbindung von Lebewesen verschiedener Arten auf. Sie sind auch in Verbindungen von Lebewesen und nicht belebter Natur zu beobachten. Die drei Systeme lassen etwas Neues entstehen - neue Verbindungen, neue Gestalten, neue Räume -; sie haben auch die Fähigkeit, Stoffe aufzubauen, die zur Ermöglichung oder Beschleunigung der Prozesse innerhalb des jeweiligen Systems dienen. Die Substanzen, die diese Beschleunigung ermöglichen, werden, da sie etwas aufnehmen und weiterreichen, Transmittenten oder Transmitter genannt. So ist - Adenosintriphosphat (ATP)ein Transmittent im ersten System - das Enzym, das eine Gestalt hat, die wie ein Schloß die Substrate umgibt, die sie umformt, ein Transmittent im zweiten System, und es sind - die Mikrotubuli, die die Zellmembran polar auseinanderschieben und somit dem Zellraum seinen polaren Charakter verleihen, Transmittenten im dritten System. Auch können Lebewesen andere Lebewesen in sich aufnehmen, die den Ablauf der Prozesse eines Systems verstärken. So können Einzeller mit Algen in dieser Weise eine Symbiose eingehen, die dazu führt, daß die Alge, die dann in der Wirtszelle bleiben muß, für diese Wirtszelle zusätzliche Energie 18 Demnächst eine zusammenfassende Darstellung: August Nitschke, Selbstorganisierter Wandel, 1993.

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gewinnt. Diese Systeme prägen mit ihren Eigentümlichkeiten nicht allein das Zusammenleben von Pflanzen und Tieren. Bilden Menschen einer Gesellschaft mit ihrer Umgebung ein System, so dominiert meist eines dieser drei Systeme. Dabei tritt oft die Situation ein, daß das System die Menschen zu Handlungen veranlaßt, die die Systemprozesse verstärken. Dies ist im einzelnen nicht darzustellen. Wir beschränken uns jetzt auf die bei den Indianerstämmen möglichen Beobachtungen. Die Kwakiutl sind mit ihrer Umgebung in einem System verbunden, das Verwandlungen ermöglicht. Es geht um Verwandlungen in Tiergestalten. Die Kwakiutl sind in das erste System geraten. Die Novizen eines Kultes verwandeln sich in ein Tier. Sie vermehren so die Zahl der zum Stamm kommenden Tiere und verstärken diesen Prozeß, in dem sich die Tiere den Menschen nähern. - Die Künstler ermöglichen mit ihren Bildern diesen Prozeß der Verwandlung, indem sie Tiere malen, die Menschen in sich aufnehmen können. Auch bei den Azteken haben wir es mit Verwandlungen zu tun. Bei ihnen verwandeln sich Menschen in Morgensterne und diese in die Sonne. So wird der Prozeß, in dem die Sonne ihre verloren gegangene Gestalt erneut gewinnt, verstärkt. In bei den Systemen dienen die Menschen den Prozessen. Die Systeme erhalten allerdings auch sie. - Die Künstler stellen jetzt - aus einer Distanz heraus - den Prozeß der Verwandlung dar, indem sie zeigen, wie das Blut eines Menschen aus diesem hervortritt und von der Sonne getrunken wird. Die Kwakiutl begeben sich, in Familien aufgelöst, im Sommer auf die Jagd. Sie gehen den Tieren nach, um sie zu töten; denn sie benötigen ihr Fleisch, ihr Fell und anderes. Im Winter bilden sie im Dorf Kultgemeinden, die das Herankommen der Tiere erwarten, denn nun nähern sich ihnen die Tiere. Die Menschen verwandeln sich in die Tiere, die sie verschlingen und in sich aufnehmen - ein Vorgang, der in den Kulten dargestellt wird. Das System sorgt nun dafür, daß dieser Prozeß verstärkt wird. Alle Personen, die als Angehörige einer Kultgemeinde oder als Novizen der Gemeinde von den Tieren verzehrt werden, werden im Tier selber zum Tier. Sie vermehren dessen Gestalt. Sie gewinnen so die Eigenschaften der Tiere. Mit den Haphap-Schreien der Tiere gehen sie auf Suche nach Menschenfleisch, das ihnen - es handelt sich um präparierte Teile von Leichen der letzten Monate gereicht wird und das sie pantomimisch zu verschlingen scheinen. Das System vermehrt somit die Gestalten dadurch, daß es andere Gestalten im Inneren der zu vermehrenden Gestalt aufnimmt. Auf diese Weise sorgt das System dafür, daß die Vorgänge häufiger und auch beschleunigter auftreten. Dies bedeutet jedoch auch: Es nähern sich mehr Tiere den Menschen, die auf diese Tiere - bei der Jagd im Sommer - angewiesen sind.

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August Nitschke

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Bei den Azteken hat das System einen anderen Charakter. Es geht nicht darum, daß sich zu einer Zeit eine Gruppe der zweiten und zur anderen Zeit die zweite Gruppe der ersten nähert. Statt dessen ist eine zentrale Gestalt oszillierend dem Vermindertwerden und dem Vermehrtwerden ausgesetzt; auf eine Phase des Vermindertwerdens folgt eine Phase des Vermehrtwerdens. Die Phase des Vermehrtwerdens kommt dabei nur dadurch zustande, daß andere - die Morgensterne oder die zu opfernden Menschen - sich in die venninderte Gestalt verwandeln. Wenn das System die Menschen veranlaßt, den Ablauf der Systemprozesse zu verstärken, so dient es doch gleichzeitig den Menschen. Denn diese sind auf das Licht und die Wärme der Sonne angewiesen, das die Pflanzen wachsen und somit die Menschen ernten läßt. So dient alles dem System: Es werden immer mehr Menschen dazu herangezogen, um diesen Prozeß der Sonnenerneuerung zu sichern. Die Azteken führten eigene Kriege, um die Zahl der zu opfernden Gefangenen zu erhöhen. Die Spanier, die bei der ersten friedlichen Besetzung der Hauptstadt Mexiko an diesen Zeremonien noch teilnahmen, haben vor den Tempeln Tausende von Schädeln gezählt, die von den Personen stammten, die, um die Sonne zu erneuern, getötet worden waren 19 • Wie sind nun in dem zweiten Modell die beiden Systeme miteinander verbunden? In dem System der Kwakiutl ist der Mensch in die Oszillation des Systems einbezogen. Die Menschen sind es, die den Tieren im Sommer nachstellen. Die Tiere sind es, die im Winter - als Menschenfresser - die Menschen aufsuchen. Im zweiten System ist die Sonne, eine Gestalt, die für das Leben der Menschen und Tiere gleichermaßen wichtig ist, der Oszillation unterworfen. Sie magert in der Nacht zum Skelett ab; sie erneuert sich dank der Opfer am kommenden Morgen. Doch sie ermöglicht sowohl das Leben der Tiere als auch das Leben der Menschen; sie verursacht im Wechsel der Jahreszeiten, Frühling und Sommer und Herbst und Winter, und so den Rhythmus, innerhalb dessen - als dessen Teil- auch schon die Kwakiutllebten. Diese beiden Systeme schließen sich somit nicht aus. Das zweite System, das System der Azteken, ist allerdings umfassender. Es verursacht Veränderungen, die die Veränderungen, die im ersten System - im System der Kwakiutl- abliefen, umschließen. Diese umfassendere Ordnung hat nun einige Eigentümlichkeiten, die die Selbstorganisation des Wandels erklären könnten: - Das spätere System bezieht mehr Wesen in seinen Ablauf ein. Der Mensch verwandelt sich nicht nur in ein anderes Wesen, sondern erst in ein anderes - in die Morgensterne - und dieses in ein drittes: in die Sonne. So könnten Systeme die Eigenart haben, in einem Selbstorganisationsprozeß immer mehr Wesen in ihre Abläufe einzugliedern. 19

Krickeberg (FN 10), S. 222.

Alternative Selbstorganisationsmodelle

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- Das spätere System geht auf einen gesteigerten Mangelzustand ein: auf die verminderte - abgemagerte - Sonne. Bereits bei den Kwakiutl nimmt das Tier die Menschen in sich auf, um seinen Hunger zu stillen. Bei den Azteken droht der Sonne, von der Tier und Mensch gleichermaßen abhängen, ständig die Gefahr, vernichtet zu werden. So könnten Systeme die Eigenart haben, Zustände erhöhter Labilität herbeizuführen und einzubeziehen. Nach diesen Beobachtungen wäre es nicht ausgeschlossen zu vermuten, daß die Systeme nicht nur in einem Selbstorganisationsprozeß neue Substanzen aufbauen, die den Systemablauf ermöglichen oder beschleunigen, und außerdem Wesen aufnehmen, die diesen Ablauf verstärken. Die Systeme könnten auch die Eigenart haben, umfassender zu werden und MangeIzustände einzubeziehen. Da es dazu parallele Entwicklungen in der Evolution gibt, sollten diese Vermutungen in vergleichenden Arbeiten weiter untersucht werden 20 • Wir hatten die beiden Modelle "alternative Modelle" genannt. Mit beiden Modellen ist es möglich, den Wahrnehmungswandel und somit auch den Wandel der Kunstformen zu erklären. So liegt die Versuchung nahe zu fragen, ob sie sich nicht in irgend einer Weise kombinieren lassen. Wenn man diesen Weg bevorzugen wollte, dann liefe es darauf hinaus, ein Modell als einen besonderen Aspekt des anderen zu sehen. So könnte das erste Modell die Möglichkeit bieten, physikalisch - nämlich vom Energiehaushalt her - die Vorgänge des zweiten Modells zu erklären. Doch vielleicht ist es sinnvoller, erst einmal beide Modelle nebeneinander bestehen zu lassen. Es würde noch augenfälliger, wie mannigfaltig die Erklärungsmöglichkeiten werden, die sich anbieten, sobald man nach Vorgängen der Selbstorganisation fragt. Dabei unterscheiden sich beide Modelle von den üblicherweise angewandten systemtheoretischen Modellen. Diese nämlich gehen von Systemteilen aus, behandeln Systemelemente und somit an Substanzen gebundene Einheiten innerhalb des Systems. Die beiden von uns gewählten Modelle orientieren sich ausschließlich an den Abläufen eines Systems. Sie fragen - im ersten Modell- danach, welche Abläufe Differenzen des Energieniveaus ausgleichen, und sie untersuchen - im zweiten Modell- Prozesse, die mit Hilfe neuer Verbindungen entweder - wie bei den Indianern - Verwandlungen oder die Gestalten oder die Räume schaffen. Beide Modelle haben den großen Vorzug, daß sie sich an den Tatsachen historisch nachweisbarer gesellschaftlicher Vorgänge orientieren und daß sie bisher schwer verständliche gesellschaftliche Wandlungen - den Wandel der Wahrnehmungsweisen - erklären.

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S. FN 4 und 18.

Kreative Selbstorganisation Gegenseitige kreative Anpassung von Person und Umwelt

Von Gerhard Porteie, Hamburg I. Schöpfungsgeschichten

Es gibt vielerlei Schöpfungsgeschichten. Alle haben natürlich etwas mit Kreativität zu tun und mit Ordnung. Die christliche Schöpfungsgeschichte beginnt: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ... Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht." Bei den Iatmul in Neu-Guinea geht es darum, wie das trockene Festland vom Wasser geschieden wurde. Die Iatmul sagen, daß das Krokodil Kavwokmali mit den Vorderbeinen und den Hinterbeinen paddelte und durch dieses Paddeln blieb Schlamm mit dem Wasser vermischt. Da kam der große Kulturheld Kevembuangga und tötete das Krokodil. Der Schlamm setzte sich und das Festland bildete sich heraus.! Der Unterschied ist bedeutsam. In der biblischen Schöpfungsgeschichte gibt es jemanden, einen Kreator, der die Trennung herstellt, in der Iatmul-Schöpfungsgeschichte entsteht die Trennung, sie bildet sich heraus. Die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt von kreativer Fremdorganisation, die Iatmul-Schöpfungsgeschichte von kreativer Selbstorganisation. Man kann natürlich sagen, daß der Held Kevembuangga die "Ursache" für die Trennung von Wasser und Schlamm ist, aber ist er Kreator, ist er kreativ? Die Aktivität für die Trennung ist nicht bei ihm, sondern im Wasser-SchlammGemisch, das Beenden einer Fremdaktivität von außen - das Paddeln des Krokodils - führt zur Herausbildung der Trennung in Festland und Wasser. Ordnung entsteht, wenn man - das Krokodil - aufhört, Unordnung zu machen. In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird Ordnung aus der Unordnung, aus dem Chaos hergestellt, produziert, gemacht. Der Schöpfergott in der Bibel ist ein Macher, bei den Iatmul entsteht aus sich heraus etwas, es emergiert, Ordnung emergiert. 1

Nach Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt/Main 1981, S. 26.

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Gerhard PorteIe

In den Schöpfungsgeschichten wird die Ordnung durch einen deus faber hergestellt oder sie wächst von sich aus, z. B. aus einem Ei: "Am Anfang war das Nichtseiende. Es wurde seiend es wuchs. Es verwandelte sich in ein Ei ... Das Ei brach auf. Die zwei Hälften waren eine aus Silber, die andere aus Gold. Die Silberne wurde zu dieser Erde, die Goldene zum Himmel ... ".2 Gemeinsam ist diesen Schöpfungsgeschichten, daß Organisation, Ordnung durch Trennung oder durch Unterscheidung hergestellt wird bzw. entsteht. In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird das berichtet, was Spencer-Brown in seinem logischen Kalkül "Laws of Form" zur Grundlage macht: Unterscheidung und Benennung: "Draw a distinction!" und "We cannot make an indication without drawing a distinction. "3 In beiden Schöpfungsgeschichten ist danach die Realität unabhängig vom Beobachter unterschieden/getrennt. Eine Schöpfungsgeschichte eines Konstruktivisten - hier unterscheidet der Beobachter - könnte so lauten: Die Erde war reich und voll. Es gab aber keine Objekte, keine Gegenstände, keine Pflanzen und keine Tiere, alles war von allem abhängig und ungeschieden. Da kamen menschliche Beobachter, die über Sprache verfügten und machten Unterscheidungen und benannten, was sie unterschieden hatten. Eine der wichtigsten Unterscheidungen war die zwischen "Ich" (Subjekt) und allem anderen, der "Welt" (Objekt). 11. Prozeßhaftigkeit

Das erinnert zweifellos an die Auffassung Nagarjunas im mittleren Buddhismus. Er geht vom "radikalen Werden", der grundsätzlichen Prozeßhaftigkeit der Welt und vom "Entstehen in Abhängigkeit" aus. "The originating dependently we call emptiness. "4 Dieses "Entstehen in Abhängigkeit", was einfach heißt, daß nichts aus sich heraus existiert, nichts ist selbstexistent, nennt er "Leere", denn da gibt es keine Objekte, nur den Fluß des Werdens. Durch sprachlich vermittelte Unterscheidungen und "Namen" entsteht dann die "Welt", entstehen die Dinge in der Welt, die wir begehren; durch unsere "Gier" haften wir an ihnen, und dieses Anhaften macht uns leiden. Im mittleren Buddhismus werden wir daran erinnert, daß durch das Unterscheiden und Einteilen in Kategorien und Benennen mit Namen "Gegenstände" entstehen, also etwas, was scheinbar Bestand hat, nicht der grundsätzlichen Prozeßhaftigkeit und damit Vergänglichkeit anheimfällt.

Nach Marie-Luise von Franz, Schöpfungsmythen, München 1990, S. 84. G. Spencer-Brown, Laws of Form, New York 1979, S. 3. 4 Vgl. Frederick J. Streng, Emptiness. A Study in Religious Meaning, Nashville/New York 1967. 2

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Kreative Selbstorganisation

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In der modernen Systemtheorie - die mit der Chaos-Forschung verbunden ist - wird betont, "daß die Welt als Prozeß begriffen werden muß". "Denn genaugenommen ist eben alles, was wir kennen und benennen können, der Veränderung unterworfen, und alles Statische und alle ,Zustände' sind Illusionen. "5 Kriz unterscheidet zwischen phänomenaler Stabilität durch periodische zyklische Komponenten eines Geschehens: Tages-Jahresrhythmen, Herzschlag, Atmung, Pendelbewegungen, Schwingungen - und phänomenaler Veränderung durch instabile, chaotische, geschichtliche Komponenten eines Geschehens: Wetter, Ontogenese mit Geburt und Tod, Turbulenzen in Flüssigkeiten und Gasen, Wachstumsprozesse ... Bei Gregory Bateson ist das Beispiel der Akrobat auf dem Hochseil, der seine Stabilität durch ständigen Ausgleich seines Ungleichgewichts, durch ständige kleine Bewegungen erreicht. Sind das schöpferische Veränderungen? Aber was ist vor dem Unterscheiden? Damit hat sich vor allem auch Salomo Friedländer beschäftigt mit seinem Werk "Schöpferische Indifferenz".6 Peter Cardorff, der eine Einführung in das Denken Friedländers geschrieben hat, meint, wie die meisten Philosophen habe Friedländer nur einen Gedanken gehabt, den er auf "Tausenden von Seiten" durchführe. Cardorff faßt zusammen: "Die Spaltung, die mit dem Menschen in die Welt kommt und die er unvermeidbar als schmerzlich empfindet - die Trennung von Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Sein und Bewußtsein, Endlichkeit und Unendlichkeit (oder mit welchen Begriffen der eine Bruch sonst immer gefaßt werden mag) - ist Schein, mangelnde Kunst; sie ist dadurch aufzuheben (nur dadurch), daß die Welt von einem Nullpunkt her verstanden, das Differente als Auseinander des Selben, innere Aktion des Identischen, bestimmt wird. Der Nullpunkt (das Nichts der Welt, das Absolute, der Schöpfer) kann nicht als für sich seiende Substanz, als Gott oder Materie oder sonst ein dem Erkennen und Empfinden äußerliches Lebensprinzip vergegenständlicht werden, der Nullpunkt muß unbedingt sein. (Jedes Gegenüber ist nur durch uns für uns, nur durch unser Denken und Fühlen, also bedingt und nicht absolut.) Nur das kann Nullpunkt sein, was selbst die Bedingung allen Erkennens, Empfindens, VorsteIlens (auch der Selbsterkenntnis), die Bedingung aller Differenz ist: das (reine) Ich, Selbst, Individuum. Die Welt ist eine Aktion des Ich, von diesem unternommen, weil es sich ohne Selbstdifferenzierung seine Identität nicht zur Geltung bringen kann. Und eben daraus ergibt sich die Aufgabe: die Welt ist als innere Differenz des Selbst zu begreifen, die Unterschiede dabei nicht einzuebnen, sondern auszubalancieren, das Selbst als absolute Indifferenz, schöpferisches Nichts, Heliozentrum, Weltmittelpunkt zu konstituieren und zu erleben; letztlich: das Selbst von einer Bedingung der Wirklichkeit zur erschöpfenden Wirklichkeit selbst aufzuschwingen. "7 5 Jürgen Kriz, Grundkonzepte der Systemtheorie, Bd. 1, Chaos und Struktur, München 1992, S. 19. 6 Salomo Friedländer, Schöpferische Indifferenz, München 1918. 7 Peter Cardoff, Friedländer (MYNONA) zur Einführung, Hamburg 1988, S. 11.

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Ich verstehe das so: Mit dem Menschen kommt die Trennung zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt in die Welt. Ohne den Menschen gibt es diese Trennungen nicht, nur durch Trennungen, Unterscheidungen ist die Welt erkennbar. Es ist sinnvoll, die Welt von einem Nullpunkt aus zu bestimmen. Dieser Nullpunkt vor den Trennungen, Bedingung allen Erkennens, kann nur das Ich sein. Dieser Nullpunkt ist gleichzeitig das Nichts der Welt (weil es keine Gegenstände gibt ohne Trennungen) und der Schöpfer, das Absolute. "Die Welt ist eine Aktion des Ich". Aber ohne ein Du gibt es nicht einmal dieses Ich, es muß diese Selbstdifferenzierung geben. Ich meine, Friedländer berücksichtigt nicht oder nicht genug, daß dieses Ich in "Die Welt ist eine Aktion des Ich" ein soziales Ich ist, sozialisiert im Laufe seiner ontogenetischen Entwicklung von anderen sozialisierten Ichs, und das deshalb gesellschaftlich vorgegebene und sanktionierte Unterscheidungen, Trennungen und Differenzen verwendet. Trotzdem ist dieses Ich kreativ-schöpferische Indifferenz. III. Ordnung Man kann sich fragen, was mehr der "Wirklichkeit" entspricht, die biblische Schöpfungsgeschichte oder die der Iatmul. Ist die Welt durch Fremdorganisation entstanden oder durch Selbstorganisation ? Wie kam die Ordnung in die Welt? Die Schöpfungsgeschichten erzählen Unterschiedliches, wobei aber die Grundfrage wohl doch immer wieder die gleiche ist: Wie kommt Ordnung in die Welt? Entsteht sie aus sich heraus, emergiert sie, oder wird sie hergestellt, geschaffen, produziert? Ich nehme an, daß in unserer historischen Generation in der industrialisierten Welt die Meinung vorherrscht, daß die Ordnung der Welt emergierte und nicht von einem Schöpfergott produziert wurde. Wenn man allerdings fragen würde, ob Lebewesen, ob chemische und physikalische Prozesse eher Selbstorganisationsprozesse sind oder Fremdorganisationsprozesse, würde man in der gleichen Generation wohl eher zur Antwort bekommen, daß es Fremdorganisationsprozesse sind. Die ganze Welt ist in einem Selbstorganisationsprozeß entstanden, die einzelnen Dinge in der Welt aber nicht, sie entstanden fremdorganisiert. Bei Uwe an der Heiden, der jüngst Selbstorganisationsprozesse in dynamischen Systemen beschrieb, heißt es: "Dieses Beispiel zeigt, [das Beispiel ist die Marmorskulptur des David von Michelangelo als Beispiel für Fremdorganisation, wenn man nicht Michelangelo in das System hineinnimmt, G. P.], daß durch Erweiterung eines Systems um Teile seiner (räumlichen und zeitlichen) Umgebung fremdorganisierte Eigenschaften desselben zu selbstorganisierten Eigenschaften des erweiterten Systems werden können",8 8 Uwe an der Heiden, Selbstorganisation in dynamischen Systemen, in: Wolfgang Krohn / Günter Küppers (Hrsg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, FrankfurtlMain 1992, S. 74.

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Wenn es nichts außer dem Gesamtsystem gibt, dann muß es selbstorganisiert sein: die ganze Welt. Wenn es dagegen einen Schöpfergott gibt, dann gibt es schon die Trennung zwischen Schöpfergott und erschaffener Welt. Systeme ohne Umwelt sind selbstorganisiert, Systeme mit Umwelt sind fremdorganisiert? So sollte man das nicht formulieren, wenn man mit den Begriffen Selbstorganisation und Fremdorganisation noch etwas anfangen will. Systeme ohne Umwelt können sich nur selbst organisieren, Systeme mit Umwelt können sich selbst organisieren oder fremd organisiert werden. Zunächst ist jedoch wohl erst zu klären, was hier unter Organisation verstanden wird. Das ist inzwischen ein so schillernder Begriff geworden, daß man ihn nicht mehr ohne eigene genauere Definition verwenden sollte. Hier ist damit zunächst das Entstehen oder Herstellen und das Aufrechterhalten von Ordnung gemeint. Schöpfungsgeschichten erzählen etwas über das Entstehen oder Herstellen von Ordnung aus dem ungeordneten Chaos (damals gab es ja noch nicht die Chaostheorie und das deterministische und geordnete Chaos). Zweifellos kann Ordnung Ergebnis eines schöpferischen Prozesses sein, aber ebensogut Reproduktion, Wiederholung, Gewohnheit, Routine. In dem schönen Metalog von Bateson mit dem Titel "Warum kommen Sachen durcheinander?" fragt die Tochter: "Aber Papi, ist das nicht komisch, daß jeder dasselbe meint, wenn er ,durcheinander' sagt, aber alle unter ,ordentlich' etwas anderes verstehen. Und ,ordentlich' ist doch das Gegenteil von ,durcheinander' oder nicht?" Der Vater hat es am Regal in dem Zimmer der Tochter klarzumachen versucht, was die Tochter für ordentlich hält, ist für die Mutter unordentlich. Und "ordentlich" im Regal heißt einfach "an der richtigen Stelle und gerade". Das heißt also, daß es nur wenige Stellen gibt, die für die Dinge "ordentlich" sind. Die Tochter fragt weiter: "Warum werden meine Sachen so, daß ich es ,unordentlich' nenne?" Und der Vater antwortet: ,,- einfach deshalb, weil es mehr Möglichkeiten gibt, die du ,unordentlich' nennst, als solche, die dir ,ordentlich' erscheinen. "9 Bateson sieht Ordnung "als eine Sache des Aussortierens und des Teilens".10 Dadurch wird etwas "vorhersehbarer, geordneter und redundanter". Er setzt Ordnung mit Vorhersehbarkeit und Redundanz gleich. Ordnung kann langweiliger als Unordnung sein und trotzdem Ergebnis eines schöpferischen Prozesses. Unordnung dagegen ist immer etwas Neues, etwas, das so noch nicht dagewesen ist, aber wir würden Unordnung wohl nicht Ergebnis eines kreativen Prozesses nennen. Ordnung erinnert uns üblicherweise an Gehorsam, an "Recht und Ordnung", an "lawand order". Das hat etwas mit Macht zu tun und Gewalt, Ordnung muß aufgezwungen werden. Nur die Anarchisten meinten, Anarchie sei nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft. 9

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Gregory Bateson (FN 1), S. 34. Gregory Bateson (FN 1), S. 25.

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Heinz von Foerster definiert Ordnung im Anschluß an Löfgren so: "Je kürzer die Beschreibung LB gegenüber der Länge LA des Arrangements ist, desto größer ist der Grad der Organisation des Arrangements A". Grad der Organisation = 1 - LB/LA. Perfekte Organisation ist dann 1 und völlige Unordnung 0. 11 Das heißt, wenn man in wenigen Worten die Organisation eines Systems beschreiben kann, müssen viele einschränkende Beziehungen bestehen, die andere Möglichkeiten ausschließen. Von Foerster meint: "Ordnung ist ein weiterer Begriff, den wir, so trichtert man uns ein, in den Dingen selbst sehen sollen und nicht in unserer Wahrnehmung der Dinge".12 Müller-Herold weist darauf hin, daß eine nicht zirkuläre Einführung des Ordnungsbegriffs bisher nicht gelungen ist. Für ihn ist Ordnung immer "kontextabhängig". Er schreibt: " ... (vollkommene) Ordnung bezeichnet jenen Idealzustand eines Systems, der einen Satz ausgewählter Eigenschaften rein, d. h. extrem al und unüberbietbar, verkörpert. Ordnung ist zugleich subjektiv, insofern der Satz der Eigenschaften willkürlich gewählt werden kann, und objektiv, indem bei einmal festgelegtem Satz Eigenschaften intersubjektiv, das heißt unabhängig vom einzelnen, festgestellt werden kann. "13

IV. Randbildung Die Unterscheidung, die am Anfang steht, ist die zwischen A und Nicht-A, Einheit und Umwelt, Figur und Grund. Worauf es ankommt dabei, ist, wo hört A auf und wo beginnt Nicht-A, wo hört die Einheit auf und wo beginnt die Umwelt, wo hört die Figur auf und wo beginnt der Grund? Wo ist die Grenze zwischen beiden, wo ist der Rand? Bei den Ausdrücken"A und NichtA" und "Figur und Grund" scheint es mir wahrscheinlicher, daß man unterstellt, daß die Grenze, der Rand vom Beobachter gesetzt wird. Was Figur ist und was Grund ist, kann der Beobachter zumindest mitentscheiden, so die These der Gestaltpsychologen, die sich mit den Figur-Grund-Phänomenen ausführlicher befaßt haben. Was Figur ist und was Grund, entscheidet der Beobachter durch seine Aufmerksamkeit, seine Aufmerksamkeit ist gleichsam der Scheinwerfer, mit dem er die Figur aus dem Grund holt. Er kann das Wort "Figur" zur Figur machen und alles andere ist dann Hintergrund oder das g in Figur oder in Grund usw. Aber auch da gibt es gesellschaftlich bestimmte Konventionen. 11 Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden 1985, S. 20. 12 Heinz von Foerster (FN 11), S. 5. 13 Ulrich Müller-Herold, Selbstordnungsvorgänge in der Späten Präbiotik, in: Wolfgang Krohn / Günter Küppers (Hrsg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt/Main 1992, S. 9l.

Kreative Selbstorganisation

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Krohn und Küppers beschäftigen sich eingehender mit Randbildung. Sie gehen davon aus, daß alle Systeme selbstorganisierend sind, bei denen "die Ursachen für die Systemveränderungen im System selbst liegen und externe Einflüsse nicht entscheidend sind" .14 Durch Verschiebung der Grenzen kann man jedes fremdorganisierte System zu einem selbstorganisierten machen, wenn man die Quellen der Veränderung in diese Grenze hineinnimmt. Fruchtbarer halten sie eine Definition von Selbstorganisation, "wenn man verlangt, daß das System sich selbst von seiner Umwelt abgrenzt, das heißt einen Rand bildet (Systementstehung) und ihn aufrecht erhält (Systemerhaltung). Selbstorganisation ist dann Autonomisierung durch systemische Randbildung" .15 Für sie ist Randbildung die "operationale Abgrenzung eines Systems von seiner Umwelt aufgrund externer Randbedingungen und die Reproduktion dieser Abgrenzung auf Grund einer internen Variation einzelner Teile des rekursiven Netzwerkes der Wechselwirkung" .16 Es geht also nur bei "operationaler Geschlossenheit", d. h. Autonomie des Systems und Existenz von "Eigenlösungen" (Attraktoren) im mathematischen Sinne. Von der Willkür der Entscheidung des Beobachters, wo er die Systemgrenze zieht, kommt man zu der operationalen Randbildung durch das System nur, indem man vorher willkürlich die Theorie wählt, welche die Komponenten untereinander und die Umwelt verbindet. In einer Fußnote bemerken die Autoren" ... die ,Willkür' wird (zu Recht) eine der Theorie und nicht eine der Beobachtung" .17 Das heißt aber ja nichts anderes, als daß der Rand vom theoriewählenden Beobachter - indirekt - bestimmt wird, es also nur den Anschein hat, als bilde das System selbst den Rand. Das von Krohn und Küppers angesprochene Problem bleibt: Kann man jedes fremdorganisierte System zu einem selbstorganisierten machen, indem man die Grenzen verschiebt (und umgekehrt)? V. Gestaltpsychologie

Indirekt haben sich auch die Gestaltpsychologen vor allem zu Beginn unseres Jahrhunderts mit diesem Problem befaßt. Das "Herzstück" der Gestaltpsychologie nennt Wolfgang Metzger, der Assistent bei Max Wertheimer war, den "Grundsatz der natürlichen Ordnung" der im Gegensatz steht zur vorherrschenden Auffassung vom "Grundsatz der Unordnung des Natürlichen". Letztere Auffassung läuft auf folgende Thesen hinaus: " ... keine Ordnung ohne Leitung. Entweder Zwang oder Chaos ... Alle Ordnung in 14 Walfgang Krahn / Günter Küppers, Zur Emergenz systemspezifischer Leistungen, in: dies. (Hrsg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, FrankfurtlMain 1992, S. 165. 15 Walfgang Krahn / Günter Küppers (FN 14), S. 166. 16 Walfgang Krahn / Günter Küppers (FN 14), S. 169. 17 Walfgang Krahn / Günter Küppers (FN 14), S.169.

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der Natur ist fremdbedingt" .18 Der "Grundsatz der natürlichen Ordnung" lautet bei Metzger: "Es gibt - neben anderen - auch Arten des Verhaltens und des Geschehens, die, frei sich selbst überlassen, einer ihnen selbst gemäßen und aus ihnen selbst entspringenden Ordnung fähig sind. Es gibt Gebilde - wie die Seifenblase, die hier als Merkbeispiel eingeführt sei -, die ihre Form und deren Erhaltung nicht (wie etwa eine Stein- oder Blechkugel) ihrer Starrheit verdanken, sondern einem Wechselspiel innerer Kräfte. Und so verliert auch sich selbst überlassenes Geschehen nicht unter allen Umständen seine Ordnung. Es gibt vielmehr Arten des Geschehens, die - und zwar nicht nur in Zufallshäufigkeit und -dauer - ihre Ordnung aus sich selbst heraus verwirklichen. Das heißt: Geordnete Zustände und Verläufe können erstens unter Umständen von selbst - ohne das ordnende Eingreifen eines ordnenden Geistes - entstehen. Sie können sich zweitens unter denselben Umständen auch ohne Zwang starrer Vorrichtungen auf die Dauer erhalten. Sie können - ja, müssen sofern sie nicht auf Zwangsvorrichtungen beruhen - sich drittens unter veränderten Umständen sinngemäß ändern, und zwar ohne besondere Umschaltung oder umsteuernde geistige Eingriffe. Viertens können - wegen des Mangels an starren und schützenden Vorrichtungen - solche Ordnungen zwar leicht gestört werden, aber sie können - und das begründet ihre ungeheure Überlegenheit über jede Zwangsordnung -, wenn die Störung beseitigt ist, grundsätzlich, innerhalb gewisser Grenzen, ohne weiteres sich selbst wieder herstellen, was in der Biologie als Fähigkeit zur Homostase und zur Regulation, im Alltag als ,Heilung' bezeichnet wird. Wie Wolfgang Köhler gezeigt hat, sind es dieselben Kräfte und Bedingungen, denen sie ihre Entstehung, ihre Entfaltung, ihre Anpassung an veränderte Umstände und ihre Wiederherstellung verdanken. Mit einem Wort: Es gibt neben den Tatbeständen der von außen geführten Ordnung, die niemand leugnet, auch natürliche innere sachliche Ordnungen, also Ordnungen, die nicht erzwungen sind, sondern sich ,in Freiheit' ausbilden. "19

Ich zitiere das so ausführlich, weil mich immer wieder fasziniert, wie deutlich die Probleme schon zu Beginn dieses Jahrhunderts gesehen wurden, wie in anderer Sprache hier ausgedrückt ist, was in den Selbstorganisationstheorien bedeutend wird, und welche Probleme nicht gesehen wurden. Ich will nur zwei Gedanken herausgreifen. Erstens: Ordnung entsteht durch "ein Wechselspiel innerer Kräfte" - das ist das, was bei Krohn und Küppers 20 "rekursives Netzwerk der Wechselwirkungen" heißt. Zweitens: "sich unter veränderten Umständen sinngemäß ändern", das bedeutet doch wohl, daß Veränderungen in der Umwelt "perturbieren", das heißt, daß Veränderungen in der Umwelt Veränderungen im System, die eben von ihm geleistet werden, "auslösen", weil das System "operational abgeschlossen" ist. Interessant ist der Ausdruck bei Metzger "es gibt" (natürliche Ordnungen), sie sind also nicht vom Beobachter durch Setzen eines Rands hervorgebracht. 18 Walfgang Metzger, Gestalttheorie im Exil, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Die europäische Tradition, München 1976, S. 662. 19 Walfgang Metzger (FN 18), S. 662. 20 Vgl. FN 14.

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Metzger formuliert hier die Auffassung der sogenannten Berliner Schule der Gestaltpsychologie. In der österreichischen Schule der Gestaltpsychologie ist die Gestaltqualität ein "Zusatz des denkenden Ich", Gestalt wird vom Ich "gestiftet", Herrmann nennt sie die "Produktionstheoretiker der Gestalt" oder er spricht von "synthetischer" Gestalttheorie 21 (im Gegensatz zur analytischen der Berliner Schule). In der Berliner Schule sind Gestalten "vorfindlich" und werden nicht "willkürlich" "zusammengesehen" . Köhler spricht auch von "physischen Gestalten" und "physiologischen Gestalten", sie sind nicht nur psychologisch. Köhler hat sich viel Mühe gegeben, nachzuweisen, daß Gestalten "vorfindlich" sind und nicht vom Beobachter produziert werden, auch nicht durch die Auswahl einer Theorie. 22 Dann ist das Sehen von Gestalten auch kein schöpferischer Prozeß, sondern Gehorsam gegenüber Vorfindlichem. Warum ist die Frage, ob Gestalten, selbstorganisierte Systeme, "vorfindlich" sind oder ob sie vom Beobachter hergestellt wurden, so wichtig? Die Frage, ob Systeme selbst einen Rand bilden, ist für mich mit dieser Frage identisch. Die Idee von Maturana und Varela ist ja, daß Systeme durch ihre Operationen selbst einen Rand bilden. 23 Systeme, bei welchen der eigene Output zum eigenen Input wird, die also in sich abgeschlossen sind, bilden - wie schon Ashby gezeigt hat 24 -, einen eigenen Rand und - das ist für die Analyse des Immunsystems, wie sie Varela25 betreibt, wichtig - eine eigene Identität: Das Immunsystem muß ja unterscheiden können zwischen Eigenem und Fremden. Für mich und meine Überzeugungen wäre es sehr erfreulich, wenn die Aussage gerechtfertigt wäre und als wahr zu beweisen: Es gibt "vorfindliche" Selbstorganisationssysteme. Dann könnte ich fordern, daß man diesen Systemen die Selbstorganisation erlaubt, und nicht ordnend in ihre Selbstorganisation eingreift. Für mich ist die daraus abzuleitende ethische - und politische Forderung nach Autonomie und Aufgeben der Fremdbestimmung das entscheidende. Vorfindliche Selbstorganisation erklärt mir auch eindeutig, daß wir die Welt konstruieren, da wir von der Welt nur perturbiert - gestört - werden können, aber "von innen her bestimmt" - so die Definition von Max Wertheimer von "Gestalt"26 - handeln und eben auch konstruieren. Ich war dieser Meinung, daß Gestalten, Selbstorganisation "vorfindlich" sind (ist), 21 Theo Hermann, Ganzheitspsychologie und Gestalttheorie, in: Psychologie des 20. Jahrhunderts, München 1974. 22 Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, Braunschweig 1920. 23 Humberto Maturana / Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bem/München/Wien 1987. 24 W. R. Ashby, An Introduction to Cybemetics, London 1956. 25 Z.B. Francisco J. Varela, Principles of Biological Autonomy, New York 1979. 26 Max Wertheimer, Über Gestalttheorie, Vortrag gehalten in der Kant-Gesellschaft Berlin am 17. Dezember 1924, Erlangen 1925.

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heute denke ich, daß wir entscheiden können und müssen, ob wir Einheiten so bilden, daß sie selbstorganisiert sind, oder so, daß sie fremdorganisiert sind, d. h. daß wir den Rand bilden oder die Grenze ziehen direkt oder indirekt, und daß wir uns entscheiden, die so gebildete Einheit als selbstorganisiert, d. h. selbstbestimmt und autonom zu betrachten. Von Foerster weist darauf hin, daß wir nur das entscheiden können, was noch nicht entschieden ist (ob eine beliebige Zahl durch Zwei teilbar ist, ist schon entschieden).27 Meine Aussage impliziert also die Behauptung, daß die "Vorfindlichkeit" von Gestalten oder Selbstorganisation noch nicht entschieden ist, sondern von uns, die wir uns als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen damit beschäftigen, entschieden werden muß. VI. Frühe Entwicklung

Meine Entscheidung ist - in einem ersten Schritt - zu behaupten, daß Menschen Selbstorganisationssysteme sind, die ihren Rand selbst bilden. Das impliziert, daß sie autonom sind, operation al abgeschlossen und die Welt konstruieren und nicht repräsentieren oder widerspiegeln. Voraussetzung dafür, daß sie solche Selbstorganisationssysteme sind, ist, daß sie im Gegensatz zu anderen Lebewesen über die menschliche Sprache verfügen. Da Sprache nur sozial denkbar ist, sind sie soziale Selbstorganisationssysteme, was die für Menschen eigenartige Spannung zwischen Autonomie und Sozialität ausmacht. Menschliche Neugeborene - "Barbaren" sagt Coleman28 - müssen lernen, zwischen Ich und Umwelt zu unterscheiden. Das ist gar kein so einfacher Prozeß, wie Piaget und später z. B. Stern29 nachgewiesen haben. Piaget spricht von der "kopernikanischen Revolution" im Kind im Alter von ca 18 Monaten: " ... die Phase, die sich von der Geburt bis zum Spracherwerb erstreckt, ist durch eine außergewöhnliche Entwicklung des Denkens gekennzeichnet ... Es handelt sich in der Tat um nichts geringeres als um die Eroberung des Handlungsuniversums, und zwar durch Wahrnehmung und Bewegung. Im Alter von 18 Monaten oder zwei Jahren bewirkt diese sensomotorische Assimilation der unmittelbaren Außenwelt eine kopernikanische Revolution en miniature. Am Anfang dieser Entwicklung zieht das Neugeborene alles an sich - oder präziser: an seinen Körper - während es am Ende dieser Phase, d. h. wenn Denken und Sprechen einsetzen, praktisch nur ein Element oder eine Größe unter anderen in einem Universum geworden ist, das es Schritt für Schritt selbst konstruiert hat und das es schließlich in Bezug auf sich selbst als extern erfährt. "30 Heinz von Foerster (FN 11). fames S. Coleman, Education in Modern Society, in: M. Greenberger (ed.), Communications and the Public Interest, Baltimore 1971. 29 Daniel Stern, Mutter und Kind. Die erste Beziehung, Stuttgart 1979. 30 fean Piaget, Six Psychological Studies, New York 1967 (1956), S. 8 - 9. 27

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Diesen Vorgang nennt Piaget "Externalisierung". Erfahrung wird in externe und interne Erfahrung zerlegt, dies wird unterschieden, und das ist die Unterscheidung zwischen Ich und Umwelt, Ich und Nicht-Ich. Das Kind "konstruiert" das Universum, "als ob es außerhalb seiner selbst wäre" - das ist die kleine "kopernikanische Revolution". Auch hier ist wieder zu betonen, daß das Kind in einer sozialen Umwelt lebt und ein Universum konstruiert, das mit dem seiner Mitmenschen zumindest teilweise übereinstimmt und insofern sozial bestimmt ist. Daniel Stern spricht von "Austauschprozessen" zwischen primärer "Betreuungsperson " und Kleinkind, von einem" Tanz" miteinander, in dem Objekte, Schemata usw. entstehen. Sie seien "fast zur Gänze sozialer Natur" .31 Papousek und Papousek haben mehrfach hingewiesen auf die Bedeutung der "vorsprachlichen Kommunikation" für den Erwerb der sprachlichen Kommunikation und für die aHgemeine psychische Entwicklung des Kindes und die soziale Integration. 32 Für das Kind sind das schöpferische Prozesse, es bringt für sich schöpferisch Neues hervor, auch wenn es für den Beobachter altbekannt sein soHte. Die Bezeichnung "neu" bezieht sich ja immer auf etwas, "neu im Vergleich zu ... ", ebenso die Bezeichnung "schöpferisch" oder "kreativ". Was für das Kind neu und schöpferisch sein kann, z. B. ein neuer Begriff (im Vergleich zu früher) ist für den Beobachter altbekannt (im Vergleich zu anderen Kindern, anderen Menschen). Das Kind wiederholt natürlich die Aktionen, die es als erfolgreich beurteilt, z. B. ob es Milch bekommt oder nicht, es wiederholt, was "operational wirksam" ("operational effective" sagt Maturana 33 ) ist. Operationale Wirksamkeit setzt von Glasersfeld seinem Begriff "Viabilität" gleich. 34 Was viabel ist oder operation al wirksam, wird - konservativ - wiederholt. Von Glasersfeld kritisiert die weitverbreitete, für ihn falsche Auffassung von Piagets Assimilation als "Eingliederung von Umweltdaten in gegebene kognitive Strukturen" und die Auffassung der Piagetschen Akkomodation als "Anpassung der internen Strukturen des Organismus an eine Umweltrealität" . Von Glasersfeld demonstriert seine Auffassung von Assimilation und Akkomodation am Saugreflex des Neugeborenen. Wenn ein Neugeborenes an der Wange berührt wird, wendet es den Kopf und versucht das, was es berührt hat, in den Mund zu nehmen und zu saugen - so sieht es der Beobachter. Das, was berührt, kann die Brustwarze der Mutter sein oder der eigene Daumen. "Der Daniel Stern (FN 29), S. 10. Z. B.: Hanns Papousek / Mechthild Papousek, Vorsprachliche Kommunikation: Anfänge, Formen, Störungen und psychotherapeutische Ansätze, in: Integrative Therapie 18 (1992) Heft 1 - 2, S. 139 - 154. 33 Humberto Maturana, Reality. The Search for Objectivity or the Quest for a Compelling Argument, in: V. Kenny (ed.), Radical Constructivism, Autopoiesis and Psychotherapy, The Irish Journal of Psychology 9 (1988) 1 (Special Issue), S. 25 - 82. 34 Ernst von Glasers/eid, Die Unterscheidung des Beobachters: Versuch einer Auslegung, in: Volker Riegas / Christian Vetter (Hrsg.), Zur Biologie der Kognition, FrankfurtlMain 1990, S. 281 - 295. 31

32

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Daumen wird als Gegenstand der Saugtätigkeit assimiliert". 35 Von Glasersfeld bezieht sich hier auf die Handlungsschemata bei Piaget, auf Ereignisfolgen, die aus drei Teilen bestehen: erstens dem Auslöser oder der Perturbation, was die Behavioristen Stimulus nannten. Der zweite Teil - bei den Behavioristen die Reaktion - ist eine Handlung oder Operation, d. h. eine begriffliche oder internalisierte Aktivität. Der dritte Teil ist das, was von Glasersfeld das Ergebnis oder den Folgezustand der Aktivität nennt. Dieser dritte Teil des Aktionsschemas wird für die Akkomodation wichtig. Brustwarze und Daumen entsprechen "aus der Sicht des Kindes" - nicht des Beobachters - dem sensorischen Muster, das die Saugtätigkeit auslöst, und sind bezüglich Teil 1 und Teil 2 des Handlungsschemas ununterscheidbar. Im dritten Teil des Handlungsschemas - "mit Milch" oder "ohne Milch" - kann nach einiger Zeit, wie man beobachtet hat, Akkomodation entstehen, d. h. das Handlungsschema wird aufgespalten. Von Glasersfeld: "Die sensorischen Elemente oder Erfahrungsereignisse ... sind stets und ausschließlich Elemente und Ereignisse innerhalb des Systems, das den Organismus konstituiert. Es handelt sich dabei nicht um eine Art von Interaktion, von der ein Beobachter sprechen könnte, der sowohl den beobachteten Organismus als auch dessen Umwelt in seiner Erfahrungswelt sieht. Zweitens entdeckt der Prozeß der Assimilation keine rekurrenten sensorischen Muster, sondern zwingt diese auf, indem Unterschiede verdrängt werden. Solange also z. B. Daumen und Brustwarze in ein und dasselbe Aktionsschema assimiliert werden, sind sie für das Kleinkind Rekursionen ein und desselben Elementes, es wird kein sensorisches Element, das die eine Form von der anderen unterscheiden könnte, berücksichtigt. Drittens kann Akkomodation nur dann stattfinden, wenn es eine Irregularität oder eine Störung des Funktionierens eines aufgebauten Schemas gibt, sonst nicht" .36

Assimilation ist konservativ, zumindest erscheint sie so dem Beobachter, denn Assimilation ist ja eigentlich kein aktives Tun, sondern ein Nicht-Unterscheiden, also ein Unterlassen. Akkomodation ist kreativ und schöpferisch für das Kind, nicht unbedingt für den Beobachter, der kennt möglicherweise die Unterscheidung z. B. zwischen Daumen und Brustwarze, zumindest meint er, diese Unterscheidung zu kennen, denn er kann ja keineswegs sicher sein, daß das Kind genauso unterscheidet wie er, z. B. die Unterscheidungslinie zwischen solchen Ereignissen an der gleichen "Stelle" zieht. Der wichtigste Mechanismus, bei welchem die "soziale Abschleifung" nicht nur der Begriffe geschieht, ist sicherlich der Spracherwerb ; die Benennung der Erwachsenen führt zu Assimilation und Akkomodation beim Kind. "Verstehen" unter Konstrukteuren heißt dann lediglich, daß die Begriffe "kompatibel" sind, aber nicht gleich, es hat sich lediglich bisher keine Diskrepanz

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36

Ernst von Glasersfeld (FN 34), S. 293. Ernst von Glasersfeld (FN 34), S. 294.

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gezeigt. Begriffe sind keine Kästchen, sie haben immer im Sinne Wittgensteins "unscharfe Ränder". Weil das Kind schöpferisch assimiliert und akkommodiert mit Hilfe der Erwachsenen durch soziales Abschleifen, ist Verständigung mit sozialen und konservativen Begriffen möglich. Es handelt sich dabei immer - auch nach Meinung Piagets und von Glasersfelds - um Selbstorganisation: "L'intelligence organise le monde en s'organisant elle meme". 37 Die Selbstorganisation wird von Ereignissen in der Umwelt ausgelöst, aber eben nicht bestimmt. Selbstorganisation ist "strukturdeterminiert" im Sinne Maturanas, "von innen her bestimmt" im Sinne Max Wertheimers. VII. Attraktoren und Phasenübergänge

Interessant dabei ist, daß Piaget bei Selbstorganisation durch Assimilation und Akkomodation selbstreferentielle Prozesse im Auge hat, man kann sie auch rekursiv oder iterativ nennen. Er spricht von "Autoregulation" , von "regulations of regulations"38, eine Operation wird immer wieder auf ihr eigenes Ergebnis angewendet. Das ist ja das Grundprinzip in der Chaosforschung. Man könnte Assimilation als "stabilen" Prozeß im Sinne der Chaosforschung auffassen, auch kleine Abweichungen führen immer wieder zu dem gleichen Attraktor, die Kugel rollt immer wieder in die Schale zurück. Akkomodation wäre dann "instabil", ein Phasenübergang, aperiodisch, Abweichungen werden - iterativ - vergrößert, das Ganze ist extrem empfindlich gegenüber Störungen: die Kugel auf der Schale. In der Regel "pendelt es sich danach wieder ein", "sucht sich" einen neuen Attraktor. In Phasenübergängen werden neue Attraktoren aufgesucht. Wir haben also immer wieder diese beiden Erscheinungen, phänomenale Stabilität und phänomenale Veränderung, Assimilation und Akkomodation. Wir sind geneigt, eher phänomenale Veränderung und Kreativität zusammenzusehen als phänomenale Stabilität und Kreativität. Wenn wir uns allerdings klarmachen, daß phänomenale Stabilität durch Iteration oder Rekursivität oder Selbstreferentialität, durch das Zurückrollen der Kugel in die Schale geschieht - die Brustwarze der Mutter gestern ist einfach nicht die gleiche Brustwarze der Mutter von heute, wenn alles Prozeß ist - dann kann man phänomenale Stabilität durchaus als schöpferisch betrachten. Phänomenale Veränderung, Phasenübergänge, bei welchen ein neuer oder mehrere neue oder gar seltsame Attraktoren aufgesucht werden, kann man sicher leichter als fenn Piaget, La construction du nSel chez I'enfant, Neuchätel1937, S. 311. fean Piaget, The Psychogenesis of Knowledge and Its Epistemological Significance, in: M. Piattelli-Palmarini (ed.), Language and Learning. The Debate between Jean Piaget and Noam Chomsky, London 1980, S. 31. 37 38

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schöpferisch und kreativ sehen. Wenn sowieso alle Phänomene der Welt Prozesse sind, Ereignisse, dann ist da ja nur dieser Fluß der Veränderung, dann entsteht dauernd etwas Anderes und etwas Neues, wenn es sich nicht um periodische Dynamiken handelt, um Wiederholungen, eben Assimilationen, d. h. phänomenale Stabilität, die man ja eben durchaus auch als schöpferisch betrachten kann. Dann wäre da immer Schöpfung. Die Begrenzung Gottes ist seine Vollkommenheit, er kann nicht zwei gleiche Dinge erschaffen, sagen die Sufis. Man kann Verhalten, das sich wiederholt, Gewohnheiten nennen. Gewohnheiten lernt man im Laufe des Lebens (außer die wenigen angeborenen "Gewohnheiten" beim Menschen). Gewohnheiten vereinfachen das Leben, sie sind außerdem gesellschaftlich erwünscht, denn dadurch sind die Menschen, sind wir vorhersagbar. Durch Gewohnheiten gewinnen wir Sicherheit. Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht von "Habitus", von der "generativen Handlungsgrammatik" , von "Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata" , die Gesellschaft mit ihren Unterteilungen, Differenzierungen und Differenzen erst möglich machen. 39 Gewohnheiten machen unseren "Charakter" aus (Bateson). Gewohnheiten sind auch nicht einfach wiederholte gleiche Verhaltensweisen, es handelt sich wieder um phänomenale Stabilität, um Assimilation: Das Ereignis X zum Zeitpunkt tl wird dem Ereignis Y zum Zeitpunkt t2 assimiliert. Das ist auch das Phänomen, das Bourdieu mit dem Begriff generative Handlungsgrammatik zum Ausdruck bringen will. Bei einer Gewohnheit setzt der Handelnde etwas gleich, d. h. er unterscheidet nicht nämlich Ereignisse im Fluß der Veränderung. Oder der Beobachter des Handelnden (der mit dem Handelnden identisch sein kann) setzt Ereignisse im Fluß der Veränderung gleich bzw. unterscheidet nicht. Sprache spielt hierbei eine wichtige Rolle, sie verlangt, Kategorien zu bilden, sogar durch Deskription und Indikation hervorgebrachte Einheiten zu entindividualisieren. Eine Sprache, die nur aus Namen bestünde (z. B. auch für Tätigkeiten), wäre unbrauchbar. In der Sprache werden immer Unterschiede homogenisiert. 4o Aber auch Tiere ohne Sprache bilden allem Anschein nach Gewohnheiten, deshalb kann der Jäger sie jagen41 , jedenfalls erscheint es so dem Beobachter und Jäger. Bei Gregory Bateson ist das Bilden von Gewohnheiten in seiner Lernhierarchie Lernen 11, das Lernen von Kontexten. Lernen I ist z. B. das Lernen einer Reihe von sinnlosen Silben, Lernen 11 ist dann das Lernen, sinnlose Silben zu 39 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, FrankfurtfMain 1982. 40 Oswald Schwemmer, Die Philosophie und die Wissenschaften. Zur Kritik einer Abgrenzung, Frankfurt/Main 1990. 41 Carlos Castaneda, Die Lehren des Don Juan. Ein Jaqui-Weg des Wissens, Frankfurt/Main 1973.

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lernen, Lernen 111 ist dann das Lernen, wie man lernt, sinnlose Silben zu lernen. Oder: zu lernen wie man Gewohnheiten bildet. Gewohnheiten lassen sich schwer ändern, denn in der Regel bestätigen sie sich selbst, d. h. auch sie lassen sich schwer widerlegen, denn Gewohnheiten beruhen auf induktiven Schlüssen. Wenn ich die Gewohnheit habe, in Jugendlichen vor allem Rowdies zu sehen, werde ich immer Bestätigung finden, daß sie Rowdies sind; wenn ich einen Klienten als depressiv diagnostiziere, werde ich immer wieder depressives Verhalten bei ihm finden: Assimilation. Lernen 111 im Sinne Batesons ist dann nicht Ersetzen einer Gewohnheit durch eine neue Gewohnheit, also nach einer Übergangsphase, nach dem Phasenübergang immer wieder auf einen neuen Attraktor zu kommen oder auch auf mehrere Attraktoren. Bateson meint mit Lernen 111 beispielsweise zu lernen, Gewohnheiten aufzugeben, oder zu lernen, Gewohnheiten bewußt zu vermeiden, oder zu lernen, in der einen Situation gewohnheitsmäßig zu handeln und in der anderen kreativ usw. Bateson macht auf etwas Wichtiges aufmerksam: "Aber jede Freiheit von der Knechtschaft der Gewohnheit muß auch eine tiefgreifende Neudefinition des Selbst kennzeichnen ... ,Ich' bin meine Gewohnheiten ... Individualitität ist ein Resultat oder eine Ansammlung aus Lernen H. "42 Das erinnert an Sartre, an "Das Sein und das Nichts". Der Mensch sei nichts anderes als das, wozu er sich mache: Meist ist er ja da nicht besonders schöpferisch. In der "Kritik der dialektischen Vernunft" heißt es dann auch, daß der Mensch, dieses "völlig gesellschaftlich bedingte Wesen" ... "immer etwas aus dem machen kann, was man aus ihm macht".43 VIII. Gewohnheiten verändern

Gewohnheiten sind schwer zu verändern, nicht nur, weil sie, wie oben gezeigt, selbstbestätigend sind, weil sie auf indirekten Schlüssen beruhen, weil sie unser ,Ich' ausmachen, und weil sie gesellschaftlich gefordert und in Gesellschaft vernetzt sind, sondern auch, weil zumindest einige von ihnen mit frühen Traumata verbunden sind. Sie stellen Lösungen dar, die in traumatischen Situationen halfen zu "überleben" und die immer wieder wiederholt werden, damit sich diese traumatischen Situationen nicht wiederholen: Gewohnheiten lassen sich so schwer verändern, weil sie von Angst gespeist werden. Beispielsweise lernt der kleine Junge, der immer wieder geschlagen wurde, nichts zu fühlen, er bildet die Gewohnheit, nichts zu fühlen, indem er seine Gefühle unterdrückt. Gefühle sind - für ihn - vor allem schmerzlich. Unter Umständen behält er diese Gewohnheit bis zu seinem Lebensende bei, Gregory Bateson (FN 1), S. 390. Jean Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, zit. nach: G. Zurhorst, Jean Paul Sartre, in: J. Rauner (Hrsg.), Pioniere der Tiefenpsychologie, Wien 1979, S. 308. 42

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und scheitert in allen Beziehungen, verhält sich selten sozial usw. In der Theorie der Gestalttherapie könnte dies ein Beispiel für die Entstehung einer Neurose sein. In der Theorie der Gestalttherapie ist der Gegenstand der Psychologie nicht das einzelne Lebewesen, sondern das "Organismus/Umwelt-Feld". "Die Psychologie untersucht die Wirkungsweise der Kontaktgrenze im OrganismusUmwelt-Feld".44 Dabei geht es um das "Wechselspiel von Organismus und Umwelt", also "dynamische Interdependenz". Der Feldbegriff wurde von Lewin übernommen, er gilt als Begründer der ökologischen Psychologie und als einer der ersten Vertreter einer systemischen Psychologie, die er u. a. in seinen gruppendynamische Experimenten und in der Aktionsforschung praktisch umsetzte. Lewin wird außerdem als der Vater des "sozialen Konstruktionismus"45 angesehen, denn: "Die Handlung eines Menschen hängt direkt von der Art ab, in der er die Situation auffaßt".46 In seinem Aufsatz "Kriegslandschaft" , den er im Ersten Weltkrieg geschrieben hat, zeigt er, daß die "gleiche(n)" Landschaft(en) für den Soldaten und für den Bauern etwas völlig Unterschiedliches ist (sind). "Die Welten, in denen das Neugeborene, das einjährige und das zehnjährige Kind leben, sind verschieden, selbst wenn die physischen und sozialen Umgebungen identisch sind". 47 Verhalten ist für Lewin eine Funktion von Person und Umwelt, wobei die Person eine Funktion der Umwelt und die Umwelt eine Funktion der Person ist; also: Interdependenz, Zirkularität, Rekursivität. In der Gestalttherapie geht es vor allem um "Kontakt": "Aller Kontakt ist gegenseitige kreative Anpassung von Organismus und Umwelt".48 Häufig wird Kontakt, also gegenseitige kreative Anpassung vermieden durch Mechanismen, die als pathologisch angesehen werden, wenn sie immer wieder auftreten. Es handelt sich um Nichtbeachtung der Kontaktgrenze durch z. B. Introjektion, Projektion, Konfluenz. Ich will diese Mechanismen hier nicht im einzelnen darstellen. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, der selbst als Psychoanalytiker ausgebildet war, widersprach Freud vor allem in einem Punkt: Freud habe nicht genügend beachtet, daß das Kind im ersten Lebensjahr Zähne bekommt, also keineswegs alles unzerkaut, d. h. ohne auszuwählen, schlucken muß. Es muß nicht alles unzerkaut introjizieren, und es muß sich nicht an die Realität anpassen, sondern aufgrund von "organismischer Selbstregulierung" ist "gegenseitige kreative Anpassung" möglich. Die zen44 Frederick S. Perls I Ralph F. Hefferline I Paul Goodman, Gestalttherapie. Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, Stuttgart 1979, S. 10. 45 Kenneth J. Gergen, The Social Constructionist Movement in Modern Psychology, in: American Psychologist 40 (1985), S. 266 - 275. 46 Kurt Lewin Werk ausgabe (KLW) , hrsg. von c.-F. Graumann, BernlStuttgart 1981 f., Bd. 4, S. 200. 47 Kurt Lewin (FN 46), Bd. 4, S. 181. 48 Frederick S. Perls I Ralph F. Hefferline I Paul Goodman (FN 44), S. 12.

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trale Metapher bei Fritz Peris ist Nahrungsaufnahme. Sein erstes Buch heißt: "Das Ich, der Hunger und die Aggression"49: Nahrung zerkauen, Passendes aufnehmen, Unpassendes ausspucken, das ist gegenseitige kreative Anpassung. Zerkauen ist offensichtlich etwas Aggressives und das Ich bildet sich gerade durch diesen Prozeß, Passendes und Unpassendes zu scheiden und zu unterscheiden und damit die Grenze zu bilden, oder in der Sprache der heutigen Systemtheorie den "Rand" des sich selbst "regulierenden" Systems gegenüber, neben, in der Umwelt. Ich finde die Grundidee von Peris einfach und überzeugend: Krankheiten, Fehlverhalten, Probleme sind Probleme der Grenze zwischen Organismus und Umwelt, und zwar der Kontaktgrenze zwischen Organismus und Umwelt: Wo hört Ich auf, wo höre ich auf, und wo beginnt die Umwelt? Wie reguliere/organisiere ich mich selbst, wie lasse ich Übergriffe der Umwelt, z. B. der Gesellschaft zu durch Introjektionen? Wie de-autonomisiere ich mich durch Gehorsam? Denn Gehorsam gewährt Macht (Maturana). Diese Grenze muß dauernd gebildet werden, sie ist nicht etwas, das einmal gezogen Bestand hat, sie wird gebildet durch Kontakt. Das verlangt Achtsamkeit, Konzentration, "awareness" auf das, was hier und jetzt geschieht. In der Regel sind wir "nicht ganz bei der Sache", z. B. beim Essen. Wir denken an etwas anderes, unterhalten uns, statt mit "Liebe zur Sache" ganz dabei zu sein und merken nicht, daß wir in uns aufnehmen, was uns nicht bekommt; dann stellen wir uns nicht auf das Einzigartige und Einmalige und Neue dieser Situation, dieses einen Bissens ein und verhalten uns nach Gewohnheiten, Routinen, Stereotypen. Peris schreibt: " ... wenn wir uns dort [an der Grenze in Kontakt) begegnen, verändere ich mich und du veränderst dich durch den Prozeß des Einanderbegegnens außer ... wenn die Menschen Charakter haben. Wenn einer einmal einen Charakter hat, dann hat er ein starres System entwickelt. Sein Verhalten versteinert sich, er wird vorhersagbar und der Mensch verliert seine Fähigkeit, das Leben und die Welt frei und in voller Kraft zu bewältigen. Er ist prädeterminiert, mit Ereignissen nur in einer Weise fertig zu werden, und zwar so, wie es sein Charakter vorschreibt. In unserer Gesellschaft verlangen wir von einem Menschen, Charakter zu haben - denn dann ist man vorraussagbar und kann klassifiziert werden. "50

Und Charakter ist die Summe unserer Gewohnheiten. Diese Veränderung durch gegenseitige Begegnung heißt bei Maturana und Varela "strukturelle Koppelung" und dient dem "Erhalt der Organisation des Systems und der Anpassung", sie ist die "Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen"51, wobei die Strukturveränderungen durch rekursive, reziproke Perturbationen erfolgen und nicht durch Determinierungen oder Instru49

50 5!

Fritz Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression, Stuttgart 1978. Fritz Perls, Grundlagen der Gestalttherapie, München 1976, S. 15. Humberto Maturana / Francisco J. Varela (FN 23).

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ierungen. Die Idee, daß "Einheit und Milieu", Organismus und Umwelt sich gegenseitig beeinflussen (ohne sich zu bestimmen, zu determinieren oder zu instruieren, weil die Einheit bzw. der Organismus "von innen her bestimmt" ist, "strukturdeterminiert") und daß dies einerseits ausschließt, daß der Organismus sich an die Realität anpaßt, und andererseits, daß die Realität oder Umwelt oder das Milieu auf die Einheit Macht ausübt (so daß sie nur sich unterwerfen kann), ist sowohl für die Gestalttheorie wie für die Gestalttherapie wie für die Selbstorganisationstheorie Maturanas und Varelas konstitutiv. In der Theorie der Gestalttherapie geht es um "kreative Anpassung", bei Maturana und Varela um Erhalt der Anpassung, denn Lebewesen sind immer angepaßt, sonst würden sie nicht leben. Für Maturana und Varela sind Lebewesen zunächst konservativ im Erhalt der Anpassung. "Kreative Anpassung" verlangt, das Einmalige und Einzigartige jeder Situation zu sehen. 52 IX. Das Nichttun tun Bei Martin Buber heißt es: "Eine jede lebendige Situation hat wie ein Neugeborenes trotz aller Ähnlichkeit ein neu es Gesicht, nie dagewesen, nie wiederholend. Sie verlangt eine Äußerung, die nicht schon bereit liegen kann. Sie verlangt nichts, was gewesen ist. Sie verlangt Gegenwart, Verantwortung, Dich. Sie verlangt ... auf jede Situation ihrer Einmaligkeit gemäß zu reagieren".53

Da muß man die Sicherheit durch Gewohnheit verlassen. Dieses Zitat stammt aus Bubers Hauptwerk: "Das dialogische Prinzip", in dem er zwischen der Ich-Du-Beziehung des "Begegnens", des "Bestätigens" und des "Umfassens" einerseits und der Ich-Es-Beziehung des "Eingreifens" und "Fertigwerdens" unterscheidet. Perls verwendet nicht von ungefähr in dem oben angeführten Zitat für Kontakt zwischen Ich und Du das Wort "einander begegnen"; Fritz und Laura Perls haben in Frankfurt begeistert Martin Bubers Vorlesungen besucht und berufen sich auf ihn. Laura Perls, die zu Unrecht unterschätzte Mitbegründerin der Gestalttherapie, setzt den zentralen Begriff der Gestalttherapietheorie "Kontakt" mit "Begegnung" gleich. 54 Die Ich-Es-Beziehung ist die Beziehung des Ingenieurs zur Welt, er greift ein, beherrscht die Natur oder was immer. Ich-Es-Beziehung gibt es auch in der Psychotherapie oder in der Erziehung. "Seeleningenieur" war ein Ehrentitel und entspricht der Beziehung, wie sie vor allem z. B. in der Apparatemedizin zwischen Arzt und Patient vorherrscht. Immer wieder wurden aber dialogiHumberto Maturana / Francisco J. Varela (FN 23). Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1979, S. 83. 54 Laura Per/s, Leben an der Grenze. Essays und Anmerkungen hrsg. von Milan Srekovic, Köln 1989, S. 180. 52 53

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sche Psychotherapien gefordert. 55 Begegnung, kreative Anpassung, Kontakt ist weder aktives Eingreifen in einer Ich-Es-Beziehung, noch passives Sichunterwerfen und anpassen, sondern "Aktion und Passion in einem", wie Buber sagt56 , oder" ... ein mittlerer Modus zwischen Tun und Erleiden, eine Einheit vor (und nach) der Trennung von Aktivität und Passivität, die beides einschließt", wie Peris, Hefferline und Goodman sagen.57 Sie beziehen sich dabei vor allem auf den "mittleren Modus", diese Verbform z. B. im Griechischen, die aktiv und passiv zugleich ist. Buber bezieht sich auf das taoistische wu-wei, das er "Tun des Nichttuns" nennt, und das üblicherweise mit NichtHandeln oder Nicht-Eingreifen übersetzt wird. Buber schreibt: "Was von den Menschen Tun genannt wird, ist kein Tun. Es ist nicht das Wirken des ganzen Wesens, sondern ein Hineintappen in Taos Gewebe, das Eingreifen einzelner Handlungen in Art und Ordnung der Dinge. Es ist in die Zwecke verstrickt ... Das Nichttun ist ein Wirken des ganzen Wesens ... ist ein Wirken aus gesammelter Einheit ... Der Vollendete steht den Wesen nicht gegenüber, sondern umfaßt sie. Darum ist seine Liebe ganz frei und unbeschränkt, hängt nicht vom Gebaren des Menschen ab und kennt keine Wahl ... (Er) greift nicht in das Leben der Wesen ein, er erlegt ihnen nichts auf, sondern er [jetzt zitiert Buber Laotse, G. P.] verhilft allen Wesen zu ihrer Freiheit" .58

Buber hob am Chassidismus u. a. den Pansakramentalismus hervor, die alltäglichen Tätigkeiten sollten "in Heiligkeit" getan werden, "aus gesammelter Einheit" und nicht in einen Zweck verstrickt, also ohne "um zu", oder, wie es in der modernen Psychologie heißt, "intrinsisch motiviert", d. h. "im Spiel", ganz bei der Sache, aus Liebe zur Sache. So sollte der Alltag geheiligt werden. Das entspricht dem Awareness-Konzept in der Gestalttherapie und dem Achtsamkeits-Konzept im Buddhismus. "Kreative Anpassung" kann man ja als etwas Widersprüchliches ansehen, es ist für uns Europäer, die wir im ingenieurmäßigen Denken aufgewachsen sind und weiterhin ingenieurmäßig denken, schwer im Alltag zu verwirklichen. "Kreative Anpassung" oder das "Tun des Nichttuns" verlangt ja eine ganz andere Ästhetik als die Ästhetik des nur aktiven, eingreifenden Künstlers. Für mich ist die klarste Metapher für diese Ästhetik die Geschichte vom K~ch von Dschuang Dsi, der vor seinem Fürsten einen Ochsen zerlegt "wie im Takt eines Tanzliedes", schnell und leicht, denn er traf immer die Gelenke, geschickt folgte er auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen:

55 Vgl. hierzu Maurice Friedman, Der heilende Dialog in der Psychotherapie, Köln 1987. 56 Martin Buber (FN 53), S. 75. 57 Frederick S. Perls / Ralph F. Hefferline / Paul Goodman (FN 44), S. 164. 58 Martin Buber, Werke, Erster Band, Schriften zur Philosophie, München/Heidelberg, S. 1045f.

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Gerhard Porteie "Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere tausend Rinder zerlegt, und doch ist seine Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt in Zwischenräume ein - ungehindert, wie spielend, so daß die Klinge Platz genug hat. Darum habe ich das Messer nun schon neunzehn Jahre, und die Klinge ist wie frisch geschliffen. "59

Es ist eine Ästhetik des gegenseitigen Respektes, des Ineinandergreifens, des "inter-being"ß) Künstler und Werk, Therapeut und Klient, Wissenschaftler und wissenschaftlicher Gegenstand, Handwerker und Werkstück sind beide Teile eines Ganzen, sind Elemente eines selbst organisierenden Systems. Um das Beispiel von an der Heiden wieder aufzunehmen: Michelangelo betrachtet dann seinen David nicht als sein Werk, das von ihm fremdorganisiert hergestellt wurde, sondern er erweitert das System David um sich selbst und betrachtet sich und David als selbstorganisiertes System, nur so kann er aktiv und passiv zugleich sein, d. h. das Nichttun tun: " ... durch Erweiterung eines Systems um Teile seiner (räumlichen und zeitlichen) Umgebung (werden) fremdorganisierte Eigenschaften desselben zu selbstorganisierten Eigenschaften des erweiterten Systems".61 Wenn man diese Betrachtungsweise wählt, sich und das, was man im Nichttun tut, als selbstorganisiertes System sieht, dann greift man nicht mehr ein mit Willkür, wie Buber sagen würde, sondern realisiert Gottes Schöpfung. 62 Man ist nicht mehr "in die Zwecke verstrickt" und "verhilft allen Wesen zur Freiheit", also auch sich. Es kommt vor allem darauf an, daß wir diese Betrachtungsweise wählen, daß wir uns für diese Betrachtungsweise entscheiden, Selbstorganisation ist nicht "vorfindlich" . Wir können wählen und entscheiden; wenn wir uns entscheiden, uns als Konstruktivisten zu betrachten, dann brauchen wir nicht einem Anspruch auf Objektivität gehorsam sein.

59

60 61 62

Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Köln 1979, S. 54. Thich Nhat Hanh, Die Sonne mein Herz, Küsnacht 1989. Uwe an der Heiden (FN 8), S. 74. Martin Buber (FN 53).

Die aisthetische Dimension ärztlichen Wissens Anmerkungen zur Phänomenalität und Wahrnehmung menschlichen Krankseins 1

Von Rainer-M. E. Jacobi, Berlin Nachhaltig geprägt vom Kanon neuzeitlicher Wissenschaftstradition, versteht sich die moderne Medizin weithin auch selbst als Wissenschaft, zumindest aber führt sie ihre zweifelsohne beachtlichen Erfolge auf die soliden naturwissenschaftlichen Fundamente ihres Denkens und Hande1ns zurück. 2 Gleichwohl kommt immer wieder, zumeist in Verbindung mit Grenzsituationen, die Frage in den Blick, inwieweit sich verantwortliches medizinisches Denken und Handeln tatsächlich auf jene Wissenschaftlichkeit gründen kann, deren sichtbaren Erfolge in Gestalt unserer technischen Kultur mit zumeist verborgenen Opfern und Verlusten verbunden sind? Allen Versuchen, dieser Frage ernsthaft nachzugehen, mag die Einsicht zugrundeliegen, daß es wohl einen Unterschied macht, ob es um eine möglichst objektive - was immer das heißen mag - Erkenntnis geht, die einem mehr oder weniger isolierten wiederholbaren Sachverhalt gilt, oder aber um ein streng handlungsintendiertes Wissen nicht nur vom Menschen schlechthin, sondern von je einem bestimmten kranken Menschen. Freilich bedarf auch solches individuelles Wissen einer Grundlage, die jene objektiven Erkenntnisse bilden; doch ist dies nicht das eigentlich Spezifische der Medizin. Das 1 Die nachdrückliche Ermutigung, in ,aisthetischer Perspektive' eine grundSätzliche Kritik am gegenwärtigen Selbstverständnis der Medizin zu markieren - mehr ist mit diesen Anmerkungen zunächst nicht beabsichtigt -, verdankt der Verfasser den Herren Professoren Dr. med. Wolfgang Jacob (Brannenburg), Dr. phi!. Dietmar Kamper (Berlin) und Dr. phi!. Günther Pöltner (Wien). Eine sich gleichsam nebenher eröffnende überraschende Nähe jener ungewöhnlichen Perspektive zum Paradigma der Selbstorganisation verdiente eine angemessene Vertiefung, die aber hier nicht geleistet werden kann. 2 Mit diesem Selbstverständnis folgt die Medizin noch immer dem Diktum Bernhard Naunyns (1902): "Medizin wird Wissenschaft sein oder nicht sein", ohne realisiert zu haben, daß es die methodische Selbstdisziplin der Wissenschaft (hier speziell der Naturwissenschaft) ist, die sie in unüberbrückbare Differenz zur Wahrnehmung menschlicher Existenz bringt. Vg!. Felix Anschütz, Ärztliches Handeln, Darmstadt 1988, bes. S. 27ff.; Herbert Hensel, Zur Problematik des Wissenschaftsbegriffs in der Medizin, in: Johannes Anderegg (Hrsg.), Wissenschaft und Wirklichkeit, Göttingen 1977, S. 29 - 48; Hans Schaefer, Wieweit ist die Medizin eine Wissenschaft?, in: Medizinische Klinik 84 (1989), Heft 5, S. 267 - 270.

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Rainer-M. E. Jacobi

Spezifische vielmehr ist ihr Praxis-Charakter, wie er mit Blick auf das antike Verständnis von Praxis von Wolfgang Wieland aufgezeigt wurde. 3 Hierbei wird deutlich, daß die Medizin dem Bereich der ,Kunst' gleichwohl näher steht als jenem der ,Theorie', also eher mit gestaltendem lebendigem Handeln denn mit begrifflich-rationalem Wissen zu tun hat. 4 Eine völlig neue Dimension erlangt dieses Nachdenken zur Spezifik medizinischen Wissens angesichts der Wandlungen innerhalb der Wissenschaften selbst. Das bis heute weithin dominante Wissensverständnis der klassischen Naturwissenschaften erweist sich als einer Tradition zugehörig, die jene komplexen Wirklichkeitserfahrungen weitgehend ausgrenzte, deren zunehmende Wahrnehmung heute Anlaß zu einem Umdenken gibt, dessen Radikalität bis zu den Grundlagen und dem Selbstverständnis unserer modernen Kultur reicht. Die Medizin als ein wesentliches Element dieser Kultur wird ebenso diesem Umdenken ausgesetzt sein, wie unsere noch immer recht statischen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. I. Kunst als Erkenntnisform

Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft - ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehen, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher - alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen - die Wahrheit? Vielleicht ist die Kunst sogar ein notwendiges Korrelativum und Supplement der Wissenschaft? Denn die Sphäre der Poesie liegt nicht außerhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegenteil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit. Friedrich Nietzsche Mag angesichts der vielfältigen Grenzüberschreitungen und Irritationen im Umfeld ,postmodernen Denkens' mitunter auch Zurückhaltung geboten sein, so darf nicht übersehen werden, daß diesen Irritationen der spürbare Verlust sicher geglaubter Vorstellungen von Wirklichkeit - sowohl natürlicher als auch sozialer Wirklichkeit - vorausgeht. Als einer Ent-Täuschung kommt diesem schmerzhaften Verlust ein Erkenntnisgewinn zu, dessen befreiende 3 Vgl. Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin/New York 1975, bes. S. 83ff.; Hans-Georg Gadamer, Apologie der Heilkunst, in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1, Tübingen 1967, S. 211 - 219. 4 Zur Verwendung der paradigmatischen Begriffe ,Theorie' und ,Kunst' vgl. Carl F. von Weizsäcker, Wahrnehmung der Neuzeit, München 1983, S. 384 - 388,402 - 414.

Die aisthetische Dimension ärztlichen Wissens

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Wahrnehmung freilich noch weithin aussteht. Insofern kann die vielbeschworene postmoderne Pluralität auch im Sinne eines Krisenzeichens gedeutet werden. 5 Anfänge jenes Erkenntnisgewinns zeigen sich in einer zunehmend kritischen Sicht auf das von den klassischen Naturwissenschaften herkommende Wissensverständnis, dessen Partikularität und Machtförmigkeit sich als krisen trächtige Verdrängungsleistungen erweisen. Dies hat mit einer geistesgeschichtlichen Tradition zu tun, deren dominante Begrifflichkeit nicht selten der Darstellung eines ontologischen Separierungsbestrebens diente. Als typische Denkfiguren solchen Bestrebens erscheinen zumeist das Experiment und die Logik. Beiden gemeinsam ist das Vermögen der Vorhersagbarkeit, dessen betörende Faszination den Geschichtsverlust und die Tödlichkeit solcherart gewonnenen Wissens verdeckt. Die aus der inneren Ordnung dieser Denkfiguren erwachsende Projektion einer ,geordneten Welt', der sich jene Vorhersagbarkeit weitgehend verdankt, bleibt dem erworbenen Wissen selbst verborgen. Diesem extrem verkürzten Gedankengang folgend, ließe sich die Geschichtlichkeit des Lebendigen als das Andere des begrifflich-rationalen Wissens bezeichnen. Mehr oder weniger subtile Formen der Verdrängung dieses Anderen bilden dann gleichsam die notwendigen Vorbedingungen der zu begrifflichem Wissen führenden Erkemitnisweisen. 6 Die ,Wahrheit' dieses Wissens, wie sie sich in Logik und Experiment erweist und in streng definierten Begriffen zur Darstellung kommt, ist folglich keine Wahrheit des Lebens. Die Wahrheit des Lebens hingegen ist in streng begrifflicher Weise nicht wißbar. Vermittelt die Positivität von Logik und Experiment in Gestalt von Vorhersagbarkeit und Wiederholbarkeit jene begründete Sicherheit rationalen Wissens, als deren Konsequenz technisches Handeln möglich wird, so ist es die Negativität des Scheiterns und der Ent-Täuschung durch Unerwartetes und Nicht-Vorhersagbares, die die andere Wahrheit des Lebens, zugleich aber auch deren größeren Reichtum bestimmt. 5 Vgl. Eugen Biser, Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit, Graz 1991, bes. S. 23 - 46; Dietmar Kamper, Zur Soziologie der Imagination, München 1986, S. 21 ff. 6 In treffender Weise findet sich dies bereits bei Nietzsehe: "Der Ursprung unseres Begriffs ,Erkenntnis' ... Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden ... Das Bekannte, das heißt: das woran wir gewöhnt sind, so daß wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stekken, alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen - wie? ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heißt? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls sein?, in: Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, München 1987, S. 211 f. (§ 355).

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Eine Wahrnehmung dieser anderen Wahrheit, die in ihrer dialogischen Geschichtlichkeit und Offenheit gleichsam zur Wahr-nehmung des Menschen selbst verhilft, vermag die Kunst zu leisten - heute in besonderer Weise die moderne Kunst. Sie widersetzt sich den Gefälligkeiten des Erwarteten und verunsichert in ihrem Bestreben, immer zugleich auch die Grenzen möglicher Wahrnehmung deutlich werden zu lassen. Sie ist insofern Kunst, als sie das ganz Andere, das Nicht-Wißbare und Nicht-Aussagbare zu ihrem eigentlichen Thema macht. 7 Entgegen der begrifflichen Rettung der Ästhetik bei Hegel, die eine Theorie des Kunstwerks innerhalb eines universal gedachten ontologischen Horizontes ermöglicht, ist es der philosophischen Radikalität Heideggers zu danken, den Bereich der ästhetischen Erfahrung in seiner Autonomie und Unhintergehbarkeit zur Darstellung gebracht zu haben. Dem ging freilich kein herkömmlich ,ästhetisches' Interesse voraus, sondern ein genuin philosophisches, welches sodann in ein aisthetisches - im strengen Sinn des Wortes mündete. So zeigte sich ihm das Geschehen der Wahrnehmung von Kunst gleichsam als ein "hermeneutischer Grundansatz" für das Selbstverständnis des Menschen in seiner Geschichtlichkeit und führte ihn schließlich zu einer Weise, die Wahrheit des Seins zu denken, die einen Bruch mit der klassischen Metaphysiktradition bedeutete. 8 Im Gegensatz zur herkömmlichen ,ontologischen Rede' vom Kunstwerk, ist das Kunstwerk bei Heidegger gerade dadurch charakterisiert, daß es "nicht Gegenstand ist, sondern in sich selber steht. "9 Das Kunstwerk als Kunstwerk, wie es uns in der Wahrnehmung begegnet, eröffnet gleichsam durch sein Insich-Stehen seine eigene Welt. So ist es nicht Erlebnis, sondern es ist, indem sich Welt öffnet, die so nie da war, Ereignis. Mithin tritt in jeder Begegnung mit dem Kunstwerk etwas je Neues, nicht im voraus Bestimmbares, in's Dasein. Die immanente Zeitlichkeit des Ereignisses verweist ihrerseits auf jenes eigentümliche Geschehen der Wahrheit; d. h. "Wahrheit ist nicht einfach 7 Hier hat die von Lyotard geprägte Rede von der "Ästhetik des Erhabenen" ihren Ort. "Sie macht begreifbar, was die Traditionalisten des Schönen nie und nimmer begreifen werden: daß es heute, paradox gesprochen, auf die Wahrnehmung des NichtWahrnehmbaren ankommt, daß es um Aufmerksamkeit auf die Grenzen und das Jenseits der unmittelbaren Wahrnehmung geht. Die moderne Kunst und die moderne Ästhetik treiben in zahlreichen, hartnäckigen und intensiven Schritten unsere Wahrnehmungsfähigkeit über das bloß sinnliche Wahrnehmen, über das Wahrnehmen im engeren Sinn, schier systematisch hinaus." (Wollgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, S. 67); vgl. Jean-Francois Lyotard (u. a.), Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 68f. Dieses auf Adorno zurückgehende ,offene Denken', das im Gegensatz zum Wissens anspruch neuzeitlicher Rationalität steht, für die medizintheoretische Diskussion nutzbar zu machen, ist das Ziel der Überlegungen des Verf. 8 Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S.98; vgl. insbes. auch Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1983, S. 207ff. 9 Gadamer (FN 8), S. 105.

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schlechthinnige Anwesenheit von Seiendem", sondern sie geschieht in der notwendig zusammengehörenden Weise des Entbergens und Verbergens. 10 Wenngleich dies für die Wahrheit alles Seienden überhaupt gilt, so wird es in besonderer Weise in der Begegnung mit dem Kunstwerk erfahrbar. Indem es sich nämlich jedem Versuch begrifflich-vergegenständlichender Bemächtigung verweigert, sich "allen Ausdeutungen immer wieder entzieht und der Umsetzung in die Identität des Begriffs einen niemals überwindbaren Widerstand entgegensetzt", wird das Kunstwerk in der Begegnung zum Paradigma des Verstehens schlechthin; eines Verstehens freilich, das zugleich auch ein "Immer-anders-Verstehen" ist. ll Die Herausforderung der uneinholbaren Andersheit der Kunst läßt dieses Verstehen zu einem unabschließbaren Prozeß von Erwartung und Erfüllung oder Enttäuschung werden, der in seiner dialogischen Geschichtlichkeit den Prozeß des Selbstverstehens des Rezipienten einschließt .12 In Gestalt einer dialogischen Erfahrung verweist jene in der Begegnung mit dem Anderen gründende Wandlung, die dem Widerfahrnis der Krise gleichkommt, auf eine, der aus Trennung und Distanz erwachsenden geschichtslosen Rationalität diametral entgegengesetzte, andere Erkenntnisweise. Ihr geht eine Wahr-nehmung voraus, die vor jeder rationalen Koordinierung und Separierung der leib-seelischen Einheit personaler Existenz als Ganzes zukommt. Ihre begriffliche Unverfügbarkeit, ihre notwendige Widersprüchlichkeit, ja zumeist auch Paradoxie, führt zu jenem Schmerz, dessen machtvolle und nachhaltige Verdrängung durch die scheinbare Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit rationalen Wissens ein Zeichen der Tödlichkeit, weil zunehmenden Wahrnehmungsunfähigkeit unserer technisch-zivilisatorischen Lebensform geworden ist. 13 Insofern mag man im Schmerz des krisenhaften Betroffen10 Gadamer (FN 8), S. 111. Mit jenem Zusammengehören von Entbergen und Verbergen kommt ein alter Topos des philosophischen Redens von der Wahrheit in den Blick, der sich innerhalb der modernen Wissenschaft in der Denkfigur der "Komplementarität" wiederfindet. Leider weniger bekannt ist die Denkfigur des "Gestaltkreises", mit der diese Problematik für die Medizin, genauer: für die Wahrnehmung des Lebendigen überhaupt, dargestellt wird. Vgl. Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart/New York 1986. 11 Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 2 (Hermeneutik II), Tübingen 1986, S. 8. 12 In Weiterführung der ,ästhetischen Hermeneutik' Gadamers, hat insbesondere Hans Robert lauB die ,dialogische Geschichtlichkeit' in ihrer kreativen Spannung zwischen Erwartung und Enttäuschung bzw. Erfüllung als konstitutiv für die "ästhetische Erfahrung" als eines notwendigerweise offenen kommunikativen Prozesses ausgewiesen. Vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1991, S. 363ff., 657ff.; aber auch George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990, S. 263ff., bes. 279ff. 13 Christa Wolfs Literaturverständnis, wie es sich in ihrem Werk zeigt, erwächst weithin aus dem Widerstand gegen eine rationale Kultur, deren Ohnmacht gegenüber der Komplexität des Lebendigen in "tödlichen Vereinfachungen" ihres Denkens und Handelns Ausdruck findet. Rainer-M. E. Jacobi, "Subjektwerdung des Menschen" oder wider "den möglichen Irrweg der menschlichen Vernunft" - Christa Wolf zum

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seins, wie es die Kunst vermittelt, das Kennzeichen einer anderen ,Erkenntnisform' sehen. Ihre untrügliche Wahrheit erwächst aus der Erschütterung der Ent-täuschung. 11. Aisthesis uud Pathosophie 14 Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Rainer Maria Rilke

Ganz im Gegensatz zur philosophie geschichtlich überlieferten Priorität kognitiv-rationaler Erkenntnisformen, findet sich bereits bei Aristoteles ein Wahrnehmungsverständnis, das jenem eigentümlichen Geschehen der Begegnung mit dem Kunstwerk überraschend nahekommt; gleichwohl nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt ist, sondern als ein schlechthin elementares Geschehen jeder Erkenntnis und Wissensbildung allererst vorausgeht. Wahrnehmung in diesem elementaren Sinn ( arO'l(hl(Jl~) geht einher mit einem Erleiden, Betroffenwerden und Bewegtwerden (:n:a'fro~), einer "Art Umwandlung" also, die ihren Ausgang wohl von der Seele her nimmt, immer aber das leibhafte Ganze der wahrnehmenden Person umfaßt. 15 Das Beteiligtsein in der Wahrnehmung (Identität des Aktes) verbietet jede Rede von Prioritäten hinsichtlich des ,Objektes' oder des ,Subjektes' der Wahrnehmung. Hier hat die "prinzipielle Autonomie, Bedeutsamkeit und Unersetzlichkeit sinnlichen Sinns", wie er im aisthetischen Akt zur Darstellung kommt, ihren Ort. 16 60. Geburtstag, in: Zschr. klin. Psychol., Psychopathol. und Psychoth. 37 (1989), Heft3, S. 356 - 361; vgl. auch Christa Wolf, Die Dimension des Autors. Aufsätze, Essays, Gespräche, Reden, Bd. 2, Berlin/Weimar 1986 (zit. S. 47). 14 Mit der Zusammenstellung dieser beiden Begriffe ist das Programm einer ,neuen Medizin' benannt, zu dem hier nur wenige Andeutungen gemacht werden können. Mit "Pathosophie" überschrieb Viktor von Weizsäcker sein Hauptwerk, mit dem er einen Zugang zum Wesen des Menschen versuchte, der im Unterschied zu bisheriger ,philosophischer' Anthropologie nicht vom gesunden Menschen, sondern dezidiert von der Erfahrung menschlichen Krankseins seinen Ausgang nimmt. Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen 1956. 15 Aristoteles, De anima II, 4, 415b 23 - 25 (übers. von Willy Theiler), Berlin 1973; vgl. weiter: De an. II, 5, 416b 32 - 35 und II, 11, 424a 1 ("Das Wahrnehmen ist nämlich ein Erleiden"). 16 Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987, S. 26; vgl. auch Friedo Ricken, Probleme der Aristotelischen Wahrnehmungslehre, in: Philosophische Rundschau 38 (1991), Heft 3, S. 209 - 224, bes. S.212ff. Das Aristotelische Verständnis von ,aisthesis' vereint gleichsam ,Wahrnehmung', ,Erkenntnis' und ,Leiblichkeit', geht damit der für die abendländische Philosophiegeschichte maßgeblichen platonischen Trennung von Verstand, Wahrnehmung und Affekt voraus, und markiert jenen Erfahrungsverlust, den Nietzsche meint, wenn

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Insofern nun, diesem elementaren Wahrnehmungsverständnis folgend, der eigentliche Sinn von Wahrnehmung gleichsam "in ihr selbst" liegt, zeigt sich die "Grundbedeutung" des Wahrnehmens als eine "ontologische keine kognitive. "17 Die Rede von Ontologie meint hier aber eine genuin aisthetische Ontologie, wie sie der Seins- und Wissenslehre des Aristoteles vorausgeht. Die verdienstvollen Bemühungen Wolfgang Welschs um eine "pointierte Rekonstruktion der traditionellen Sinneslehre" gegen ihre rationalistische Okkupation, erlangen angesichts der mühsamen ontologischen und epistemologischen Klärungsversuche inerhalb des medizin theoretischen Diskurses eine völlig neue, bislang kaum gesehene Bedeutung. 18 Gegen eine zumeist am Kern des Problems - der Wahr-nehmung menschlichen Krankseins - vorbeigehende, nicht selten pragmatisch gefärbte Diskussion um den disziplinären Ort der Medizin zwischen Wissenschaft und Kunst, gelangt in Gestalt der Aisthesis, wie sie von Aristoteles entfaltet wurde und in den Nischen der Kunst die Verwerfungen der geistesgeschichtlichen Traditionsbildungen überdauerte, ein radikal anderer Zugang zum Arzt-Patient-Verhältnis, als der ,Elementarsituation' medizinischen Wissens und Handeins, in den Blick. Gemäß dem von Aristoteles dargestellten aisthetischen Prozeß verschmelzen in der Arzt-Patient-Begegnung ,Subjekt' und ,Objekt' in die unauflösbare Identität des Aktes. 19 Entgegen der törichten Rede von der Möglichkeit eines ,objektiven Wissens' von menschlichem Kranksein, leistet strenggenommen erst die Arzt-Patient-Beziehung, insofern sie die krisenhafte Gestalt einer ,pathischen Begegnung' annimmt, jene ,Wahr-nehmung' des Krankseins, die allererst Vorbedingung individueller Heilung ist. Heilung im Horizont wahrgenommener Wirklichkeit des Krankseins, die mitunter auch eine individuelle ,Wahrheit' des Krankseins freizulegen vermag, hat dann nicht allein nur mit der ,Beseitigung' von Krankheit zu tun. Vielmehr erscheint Krankheit als eine wesentliche Gestalt menschlichen Lebens, auch als eine Weise von Selbstdarstellung und Selbstbegegnung. 2o

er von der ,großen Vernunft des Leibes' spricht. Das Dilemma einer Medizin, die das Kranksein des Menschen im Horizont neuzeitlicher Rationalität zu ,behandeln' trachtet, ist somit zwingend vorgezeichnet. Vgl. Georg Picht, Kunst und Mythos (Vorlesungen und Schriften, hrsg. von Constanze Eisenbart), Stuttgart 1986, S. 395ff.; weiterführend: ders., Aristoteles' "De anima", Stuttgart 1987, bes. S.277ff. 17 Welsch (FN 16), S. 76. 18 Welsch (FN 16), S. 29. 19 Vgl. hierzu die Ausführungen zum "Biologischen Akt" und zu den "Bedingungen der Wahrnehmung" bei Viktor von Weizsäcker (FN 10), S. 8 - 23 , 101 - 118. 20 Als Hinführung zu einem solchen ,anthropologischen' Krankheitsverständnis, seien stellvertretend für vieles andere zwei Texte Viktor von Weizsäckers empfohlen: "Meines Lebens hauptsächliches Bemühen" (1955) und "Anonyma" (1944), in: V. von Weizsäcker, Gesammelte Schriften, Bd.7, FrankfurtIM. 1987, S.372 - 392, 43 - 89, bes.67f.

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So führt ein, wie es zunächst scheinen mag, vom Selbstverständnis moderner Medizin höchst verschiedener, eher der Kunst zugehörender Zugang zur ,Elementarsituation' medizinischen Wissens und Handeins, zu jenen, ihrer gleichfalls radikalen Intention wegen zumeist verworfenen, Ansätzen einer "anthropologischen Medizin", wie sie Viktor von Weizsäcker in seinem reichhaltigen Werk vorgelegt hat. Seine mitunter schwierig nachzuvollziehenden Überlegungen setzen ein fundamental-anthropologisches Verständnis der ,aisthetischen Situation', wie sie sich in der Begegnung (Krise) zeigt, voraus. Sie dient ihm nicht allein nur als Beschreibung des Aktes der Wahrnehmung, vielmehr steht sie für seinen Zugang zum Verstehen des Menschen schlechthin. Menschliches Leben, ja das Lebendige überhaupt, zeigt sich ihm nicht lediglich als ontische Gegebenheit, sondern immer als eine Weise des Erleidens, des Ausgesetzt- und Betroffenseins. In diesem Sinne spricht er vom sog. ,pathischen Wesen' des Menschen, das sich einer ontologischen Begrifflichkeit daher notwendig entzieht. 21 Die Lehre vom "Gestaltkreis" ist dann gleichsam als der Versuch einer theoretischen Darstellung der Einheit von Aisthesis und Pathos zu verstehen, die seinem ärztlichen Denken und Handeln immer schon vorausging. So läßt auch die wenig überraschende strukturelle Nähe dieser ,Lehre', die nicht ,Theorie' im herkömmlichen Sinn sein will, zu den Denkfiguren einer ästhetischen Hermeneutik deutlich werden, daß die ,dialogische Geschichtlichkeit und Offenheit', wie sie jede Begegnung mit dem Anderen kennzeichnet, genau jener "gegenseitigen Verborgenheit" entspricht, wie sie existentieller Erfahrung wesenseigen ist. Dieser eigentümlichen Verborgenheit, deren Darstellung die Denkfigur des Gestaltkreises beansprucht, ist es geschuldet, daß existentielle Erfahrungen, wie es die Wahr-nehmungen der Begegnung sind, nicht in eindeutiger Weise begrifflich ausgesagt werden können. 22 Angesichts dieser in unüberbrückbarer Distanz zu herkömmlichem wissenschaftlichem Verständnis medizinischen Denkens und Handeins stehenden Überlegungen, drängt sich die Frage auf, inwieweit es nicht gerade der radikale Paradigmatawechsel innerhalb der Wissenschaftsentwicklung hin zur Theorie der Selbstorganisation sein könnte, der zu einem veränderten Selbstverständnis auch der modernen Medizin verhilft? Zumindest erwiese sich im Horizont eines solcherart veränderten Selbstverständnisses der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst als obsolet. Allein bereits der Umstand, daß im Lichte dieses neuen Paradigmas Paradoxien und Unvorhersagbarkeiten, Zeitverschränkungen und Unentscheidbarkeiten, Singularitäten und Instabilitäten nicht nur zu irreduziblen Signaturen authentischer WirklichkeitserfahVgl. von Weizsäcker (FN 10), S. 181ft. Zum Prinzip der "Gegenseitigen Verborgenheit" vgl. von Weizsäcker (FN 10), S. 21f., 168ft.; insbes. aber earl F. von Weizsäcker, Gestaltkreis und Komplementarität, in: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1976, S. 332 - 366. 21

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rung, sondern vielmehr zu Orten der Wandlung und innovativen Strukturbildung werden, läßt weder die aisthetische Situation pathischer Betroffenheit und Erschütterung, wie sie die Krise der Begegnung vermittelt, noch die eigentümliche Paradoxie gegenseitiger Verborgenheit in der Wahrnehmung menschlichen Krankseins als schlechthin un-wissenschaftlich erscheinen. 23 III. Menschliches Kranksein als Phänomen Zum Kunstwerk Krankheit gehört schon der Widerstand gegen die Heilung, sozial gesprochen: gegen den Arzt. An dieser Krankheit ist etwas Gesundes, das wir uns nicht nehmen lassen: sie ist nicht nur Lüge, sondern auch Sprache, ja Geständnis. Der Kranke wehrt sich dagegen, daß ihm das Wort verboten, daß es mit einem Sprichwort oder einem Valium zum Schweigen gebracht wird. Nicht anders in der Kunst. Dem Manöver, der Vortäuschung, der Fiktion steht im Kunstwerk ein Moment der Revolte, des Aufbegehrens gegenüber, und nicht nur "gegenüber" - in ihrem unentwirrbaren Zusammenhang erst machen beide Komponenten die Wahrheit, sprich: Glaubwürdigkeit des Kunstwerks aus. Adolf Muschg

Jenes Wahrnehmungsgeschehen, wie es sich in Gestalt der teilnehmenden Begegnung vollzieht, besitzt genau dann paradigmatischen Charakter für die Medizin, wenn deutlich wird, daß die Wahrheit menschlichen Krankseins herkömmlichen Formen des ,Erkennens' und ,Erklärens' notwendig verborgen bleiben muß. Menschliches Kranksein als Phänomen verstehen, heißt dann, im Unterschied zu den immanenten Ontologisierungen rationaler Begrifflichkeiten, diesseits der Trennung zwischen Person und Krankheit, jene gelebte und erlittene pathische Wirklichkeit des Lebens in den Blick zu nehmen, die 23 Die überraschende Nähe der naturphilosophischen Implikationen des Paradigmas der Selbstorganisation zu einer aisthetisch-hermeneutischen Grundlegung der Medizin, läßt gründliche Untersuchungen hierzu dringend nötig erscheinen. Einen Ansatz bildet der Versuch einer "systemtheoretischen Anthropologie", vgl. Hinderk M. Emrich, Psychiatrische Anthropologie. Therapeutische Bedeutung von Phantasiesystemen, München 1990. Nicht nur das bislang offensichtlich unzureichend ernstgenommene Werk Viktor von Weizsäckers erscheint in neuem Licht, vielmehr sind es die ethischen Defizite moderner Medizin, die zu einer radikalen Wandlung drängen. So verweist die an gefährlichen Mißbrauch grenzende Ohnmacht medizinischer Kompetenz, wie sie im Fall der hirntoten Mutter im Erlanger Universitätsklinikum überaus deutlich wurde, letztlich auf die ungeklärten Fragen einer genuin ärztlichen Wahr-nehmung menschlichen Leidens, Krankseins und Sterbens. Vgl. Hans-Bernhard Wuermeling / Johannes Scheele, Das Kind in der toten Mutter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10. 1992, S.ll; Hans Harald Bräutigam (u.a.), Schneewittchens Kind (Dossier), in: Die Zeit, NT. 45,30.10.1992, S. 17 - 21.

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auf je verschiedene Weise als Kranksein zur Erscheinung kommt.24 Hierfür taugt freilich nicht das pragmatische Postulat ,trennbarer Objekte', denen ein ,Subjekt des Wissens' gegenübersteht, wie es Vorbedingung empirischer Erfahrung ist, vielmehr ist eine sog. ,aisthetische Perspektive' nötig, deren ungewöhnliche Rede von "Phänomenen", eine Weise des Sich-Zeigens von Wirklichkeit zur Sprache zu bringen versucht, die den neuzeitlich paradigmatischen Trennungen von Bewußtsein und Natur, von Subjekt und Objekt, vorausgeht. 25 Eine solche Perspektive setzt "philosophisch als Elemente der Wirklichkeit Phänomene voraus. Also nicht, wie die klassische Naturwissenschaft, Objekte als identisch bleibende Träger der Phänomene, und nicht, wie die Philosophie des Bewußtseins, Subjekte als identisch bleibende Empfänger von Phänomenen. "26 Die Radikalität dieses Ansatzes, den Georg Picht mit der Formel der "Phänomenalität der Phänomene" kennzeichnet, wird in dem Anspruch deutlich, nicht einfachhin nur jeder möglichen Form von Darstellung der Wirklichkeit vorausgehen zu wollen, sondern die Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung selbst zu thematisieren. Mit "Darstellung" ist hierbei der Vorgang der Projektion von Wirklichkeit in den "Darstellungsraum" der Einbildungskraft gemeint, wie er für die verschiedensten Zugangsweisen zur Wirklichkeit je spezifisch ist. So steht die Darstellung durch ,Begriffe' als eine mögliche Projektionsform für jenen Zugang zur Wirklichkeit, der gemeinhin als ,wissenschaftliche Erkenntnis' bezeichnet wird.27 Deren Wissen ist strenggenommen ein Wissen der Darstellung, nicht aber ein Wissen von der Wirklichkeit selbst. Das Sich-Zeigen der Wirklichkeit, also ihre Phänomenalität, bleibt diesem Wissen als einem ,Wissen der Darstellung' insofern verborgen, als es jenseits der ontologischen Vorbedingungen dieser Darstellungsweise liegt. 28 24 Mit ,Kranksein' ist hier nicht jene Krankheit gemeint, wie sie sich aus dem Gegensatz zu einer vermeintlichen ,Gesundheit' definiert, sondern eine je individuelle Weise leidvollen In-der-Welt-Seins, die sich mitunter auch in Gestalt einer symptomatisch klar umschriebenen Krankheit äußern mag. 25 Dieses ,Zur-Sprache-Bringen' wird gleichsam selbst zur poietischen Metaphorik, insofern unser Denken, wo es sich der Begriffe bedient, immer schon ontologische Separierungen impliziert. Die ,aisthetische Perspektive' kann daher strenggenommen im Horizont solchen Denkens nicht dargestellt werden. 26 earl F. von Weizsäcker, Georg Picht als Philosoph, in: Constanze Eisenbart (Hrsg.), Georg Picht - Philosophie der Verantwortung, Stuttgart 1985, S. 53. 27 Picht, Kunst (FN 16), S. 156f. 28 Diese ,ontologischen Vorbedingungen' implizieren ihrerseits wiederum eine Zeitstruktur von der Art, daß begriffliche Aussagen gemäß den Regeln der Logik - mithin rationales Wissen -, erst möglich wird. Die Zeitstruktur der Wirklichkeit hingegen ist jene der Geschichte, hier dominiert nicht die Gegenwart, sondern eine prinzipiell offene Zukunft. Für die Medizin folgt hieraus, daß die Rationalität der Befunde eine mehr oder weniger statische Darstellung menschlichen Krankseins bildet, und daher die biografische Geschichtlichkeit, als elementare Zeitgestalt des Krankseins, verdeckt. Hier wird die Unverzichtbarkeit der ,aisthetischen' Dimension ärztlichen Wissens deut-

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Den Versuch einer philosophischen Entfaltung der "Phänomenalität der Phänomene", der dem Sich-Zeigen der Wirklichkeit selbst zur Darstellung verhelfen soll, vollzieht Picht im Horizont der Kunst. Doch wie schon bei Heideggers Rede vom Ursprung des Kunstwerks, ist nicht das gegenständliche Kunstwerk gemeint, sondern die Kunst als eine ursprüngliche Weise der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Hinter der genuin anthropologischen, genauer: pathosophischen Dimension dieser Ursprünglichkeit verbirgt sich die bislang nicht gesehene ,medizinisch-epistemologische' Relevanz der Rede von der Phänomenalität. Es ist die Elementarerfahrung menschlichen In-derWelt-Seins - die Gewißheit des Todes -, die der Kunst, wie auch dem Mythos und der Religion insofern Ursprünglichkeit verleiht, als diese sich schon immer als eine ,Antwort' auf jene Grenzerfahrung verstehen. Sie erwächst gleichsam aus einer anderen Gewißheit, die jedem begrifflichen Wissen notwendig vorausgeht. Kunst ist daher eine "primäre, unreduzierbare, aber für alles Wissen und Können konstitutive Form von Erkenntnis der Welt. "29

In der Gestalt des Kunstwerks schafft die Kunst jene Bedingungen, die es möglich machen, daß Wirklichkeit nicht nur zur Erscheinung kommt, sondern wahr-genommen werden kann. So ist die Kunst selbst eine Darstellung der Phänomenalität der Phänomene. Als Phänomen ,existiert' das Kunstwerk freilich nur in der Begegnung, dort erst entfaltet es seine Phänomenalität. Es ist die Eigenart des Phänomens, "daß in ihm etwas zur Erscheinung kommt, was mit dem Bild, das es darbietet nicht identisch ist. "30 Daher zeigt das im Kunstwerk Dargestellte wohl die elementaren Möglichkeiten und Strukturen des Erscheinens, nicht aber das Erscheinende selbst. Insofern ist das Kunstwerk als Darstellung immer auch eine Verbergung; es markiert zugleich die Grenzen möglicher begrifflicher Rede von aisthetischer Erfahrung, wie sie sich in der Begegnung vollzieht. 31 Die Phänomenalität des Kunstwerks hat nun zur Folge, daß die Wahr-nehmung des Kunstwerks gleichsam aus jener anderen Wahrnehmung erwächst, lich. Vgl. Picht, Die Erfahrung der Geschichte, bzw. Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart, in: ders., Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969, S. 36ff. 281ff. 29 Picht, Kunst (FN 16), S.52, vgl. auch 6f. Besonders nachdrücklich verweist George Steiner auf die anthropologische Dimension der Ursprünglichkeit von Kunst, vorausgesetzt, man akzeptiert das Wissen um die Sterblichkeit als das eigentliche anthropologische Ur-Datum: "Es ist die Ästhetik, die, und darin übertrifft sie alle uns zugänglichen Erscheinungsweisen, die erlebte Gestaltwerdung einer Negation (wie partiell, wie ,bildlich' in strengem Sinn auch immer) der Sterblichkeit ist.", Steiner (FN 12), S.274. Dies ist der existentielle Hintergrund, von dem her sich eine sog. ,Negative Anthropologie' entfalten ließe, deren Relevanz für eine Neubestimmung ärztlichen Wissens, als eines ,aisthetischen Wissens', noch kaum im Blick ist, vgl. Eckhard Nordhofen, Flüchtige Materie. Über den verdeckten Zusammenhang von Ästhetik und Negativer Theologie, in: Merkur 46 (1992), Heft 1 (Nr. 514), S. 28 - 38. 30 Picht, Kunst (FN 16), S. 402. 31 Vgl. Picht, Kunst (FN 16), S. 392ff. 15*

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deren Darstellung das Kunstwerk selbst ist. Mithin findet sich die Wahrheit der Wahrnehmung jenseits der Darstellungen, also im Transzendieren des Vorfindlichen. Nicht dem "Identitätszwang" des Begriffs ist diese Wahrheit geschuldet, vielmehr dem Schmerz der Ent-Täuschung der Darstellungen, dem Verlust der falschen Bilder. 32 Neben dem Freiheitsgewinn, genauer: Selbst-Gewinn, den jede Ent-Täuschung immer auch bedeutet, gelangt die Subversivität der Kunst in den Blick. Nicht nur zeigt sich im Licht der Phänomenalität die Täuschung der gegenständlichen Darstellung des Kunstwerks, der verbergende Charakter der Rationalität selbst tritt zutage. Es ist ihr immanentes Dilemma, daß sie mit ihren nicht selten auch kulturell und sozial verbindlichen ,Darstellungen' genau jene Wirklichkeit verbirgt, die sie zu erklären vorgibt. So verweist die aus der ais thetischen Perspektive der ,Phänomenalität der Phänomene' gewonnene Einsicht der ,gegenseitigen Verborgenheit' von Darstellung und Wirklichkeit zugleich auf die prinzipielle Unmöglichkeit eines allein rationalen Zugangs zum Verstehen menschlichen Krankseins. Im Horizont eines von der Phänomenalität des Krankseins herkommenden Verstehens wird freilich deutlich, daß die Experimente der Befunderhebung und die Logik nosologischer Klassifikationen notwendig zur Verbergung, wenn nicht gar zur Vernichtung jener Phänomenalität führen müssen. 33 Die Rede von der Phänomenalität des Krankseins meint nun nichts anderes, als daß erst in der Begegnung sowohl mit dem eigenen Kranksein, wie auch mit dem Kranksein des anderen, jene verborgene oder aber verdrängte Wirklichkeit individuellen Lebens wahrgenommen wird, die, obzwar jenseits der klinischen Symptomatik, gleichwohl die Subjektivität des Krankseins bestimmt. Ohne hier den Versuch einer psychosomatischen Deutung unternehmen zu wollen, geht es allein um die Weise, in der eine solche Begegnung, indem sie die symptomatische Darstellung des Krankseins transzendiert, gleichsam zur Wahr-nehmung des Daseins des kranken Menschen wird. Es will scheinen, daß eben dies mit Viktor von Weizsäckers schwer verständlichem Diktum gemeint ist, daß nämlich der "Zusammenhang von Wahrheit und Krankheit ein ontologisches Verhältnis" anzeige. 34 Hier ist nicht die kli32 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1990, S. 24; vgl. dazu Gottjried Boehm, Ikonoklastik und Transzendenz, in: Wieland Schmied (Hrsg.), Gegenwart-Ewigkeit. Katalog zur Berliner Ausstellung, Stuttgart 1990, S. 27 - 34. 33 Die weithin bekannte, doch nur selten öffentlich diskutierte medizinische Problematik und Bedenklichkeit aufwendiger, zumeist invasiver Diagnoseverfahren erscheint nunmehr in einem neuen Licht. Denn tatsächlich erfolgt hierdurch eine ,Vernichtung', weil Überformung, jener Phänomene, die für die Arztkonsultation maßgeblich waren, dort aber nicht wahr-genommen wurden. Insofern erlangt die zweifelsohne unverzichtbare Rationalität diagnostischer Verfahren erst im Horizont der Wahr-nehmung menschlichen Krankseins ihren adäquaten Stellenwert. 34 Viktor von Weizsäcker, Ges. Schriften, Bd. 5, FrankfurtIM. 1987, S.180.

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nisch hinreichend belegte ,Stellvertretung' zwischen psychosozialen Konflikten und somatischen Krankheiten gemeint, sondern in einem genuin anthropologischen, eigentlich aber pathosophischen Sinn, jene schlechthinnige Wirklichkeit des Lebens, wie sie sich der Wahrnehmung des Krankseins als eines Phänomens erschließt. Insofern nun aber diese Wahrnehmung - vergleichbar der Begegnung mit dem Kunstwerk - notwendigerweise die Gestalt der Krise hat, erwächst ihre Wahrheit aus der Ent-Täuschung jener Darstellungen menschlichen Lebens, wie sie sich der Rationalität unserer Kultur verdanken. 35 Die Wirklichkeit des Lebens erscheint nun im Lichte der Phänomenalität des Krankseins in völlig anderer Weise, als es der klassischen Ontologie entspräche, die dem medizinischen Denken aber noch immer weithin zugrundeliegt. So bestimmt nicht die Verwirklichung des voraussehbar Möglichen die Lebenswirklichkeit, vielmehr ist es die immer neue "Verwirklichung des Unmöglichen", die dem Leben seine eigentliche Individualität verleiht. 36 Wider den Schein aller planenden Vorgriffe eines ,vernünftigen Denkens', vollzieht sich die Biographie des Einzelnen, wie auch die Geschichte als Ganzes, als eine stete Konfrontation mit dem Unvorhersehbaren und Unerwarteten. Jeder Ent-Täuschung durch das Andere, sei es in der Begegnung mit dem Kranksein oder im Scheitern an Lebensentwürfen, kommt daher ein existentieller ,Erkenntnisgewinn' zu. Es ist jenes Zurückgeworfenwerfen auf die lebensgeschichtliche Wirklichkeit der je eigenen Existenz, das den Ent-Täuschungen ihre rational uneinholbare Wahrheit verleiht - freilich eine Wahrheit, deren Ort nicht allein im Denken ist, sondern im Ganzen des Daseins. Insofern sind es letztlich nicht die vermeintlichen Bestätigungen durch Erfolge, vielmehr sind es die Krisen der Ent-Täuschungen, die zu den Signaturen menschlicher Individualentwicklung werden. 37 35 Eine solche Darstellung bildet die vielfach kritisierte WHO-Definition der ,Gesundheit' als eines Zustandes völligen Wohlbefindens. Ganz abgesehen davon, daß ein lebendes System einen solchen ,Zustand' nicht erreichen kann, da es die Krisen und Umbrüche sind, aus denen Leben erst erwächst, erzeugt diese Darstellung eine ,rationale' Erwartung, die vom Leben selbst ent-täuscht wird. Ebenso verdeckt die Vorstellung trennbarer und in gewisser Weise auch ,herstellbarer' Lebenszustände, wie es die Begriffe "Gesundheit" und "Krankheit" assoziieren, jenen sinnstiftenden Reichtum des Lebens, der sich dem Wissen um die Unverfügbarkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens verdankt. 36 v. Weizsäcker, Ges. Schriften (FN 20), S. 337ff. 37 Diese Einsicht findet sich bereits bei Novalis, der dem "Ideal einer vollkommnen Gesundheit" die Krankheit als eine Gestalt der "Individualisierung" gegenüberstellt (vgl. Monolog, Nr. 637, in: ders., Dichtungen und Fragmente, Leipzig 1989). Eine ausführliche Grundlegung erfährt dieser phänomenologische Zugang bei Maurice MerleauPonty (Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966), wo gleichfalls das Geschehen der Wahrnehmung im Horizont der Ganzheit des Daseins - gekennzeichnet durch die Dimensionen der ,Leiblichkeit' und ,Zeitlichkeit' - entfaltet wird. Selbst die Möglichkeit einer aisthetischen Perspektive auf das Phänomen des menschlichen Krankseins

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Rainer-M. E. Jacobi

Im Horizont der Krise, die ihrem Wesen nach nicht willentlich gestaltet werden kann, sondern gleichsam selbst das Gestaltende ist, wird eine Zeitstruktur sichtbar, wie sie allem geschichtlichen Werden zugrundeliegt. Sie entspricht nicht dem Trugbild einer geordneten Abfolge der Zeitmodi, bzw. der Illusion säuberlicher Trennung zwischen einer abgeschlossenen Vergangenheit und einer kommenden Zukunft, wie es die machtvolle Sicherheit sowohl des faktischen wie auch des prognostischen Wissens der Wissenschaften suggerieren mag. Statt dessen vermittelt jene Zeitstruktur ein scheinbares Chaos der ,offenen Zeiten'. Das "nicht-mehr-Gegenwärtige" ist ebenso unmittelbar anwesend, wie das "noch-nicht-Gegenwärtige". Menschliches Leben als ein gelingendes In-der-Zeit-Sein im Horizont der Krise heißt mithin, das Gewesene ebenso offen zu halten, indem ihm seine Ankunft als Gegenwart verweigert wird, wie gleichermaßen das Kommen der Zukunft durch den Vorenthalt der Gegenwart geöffnet wird. Für diese komplexe ontologische Denkfigur eines Daseins im Offenen der Zeit, die den Durchblick auf die Einheit ihrer Modi in der Weise freigibt, wie sie ihre Modi zugleich der Verfügbarkeit entzieht, prägte Heidegger den Terminus des Ereignisses. 38 Im Unterschied zur Seinsweise einer Wirklichkeit, wie sie sich in den Faktizitäten und Prognosen des rationalen Wissens darstellt, hat diese Denkfigur ihren Ort in der aisthetischen Erfahrung eines sich immer neu ereignenden Seins, dessen Gegenwärtigkeit zugleich auch verweigert und vorenthalten wird. Es ist eine Weise des Sich-Ereignens, die obgleich erlebbar, nicht rational verfügbar ist. Dies rührt daher, daß die Erfahrung der krisenhaften EntTäuschung, wie sie die Begegnung als Ereignis vermittelt, auch immer eine Ent-Täuschung des Zeitverständnisses bedeutet. Eines Zeitverständnisses, dessen Kontinuität und Geschlossenheit zeitlos gültige, mithin begrifflichrational fixierbare Lebensorientierungen suggeriert. In Gestalt zwanghafter Verdrängung des Unerwarteten erfolgt eine vorwegnehmende Bemächtigung von ,Zukunft', deren Gewißheitsanspruch bereits gegenwärtiges Leben vernichtet, statt je zukünftiges zu ermöglichen. Insofern bildet der Orientierungsund Zukunftsverlust, wie er im Ereignis der Krise erfahren wird, trotz seines mitunter lebensbedrohenden Schmerzes die Vorbedingung der Wahrnehmung jener offenen Zeitlichkeit, die eine lebbare Zukunft erst möglich macht. Einen findet sich in der interessanten Sentenz vorgezeichnet, wonach der Leib "nicht einem physikalischen Gegenstand, sondern eher einem Kunstwerk ... zu vergleichen" sei. (S.181) 38 Heidegger, Zeit und Sein, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S.12ft. Zum Zusammenhang dieser eigentümlichen Zeitlichkeit des Ereignisses, die zugleich die Weise bestimmt, in welcher sich in der Begegnung Wirklichkeit ereignet bzw. verbirgt, mit der pathosophischen Fragestellung der vorstehenden Überlegungen vgl. auch ders., Zollikoner Seminare (hrsg. von Medard Boss), FrankfurtIM. 1987, S. 45 - 72; Wolfgang Blankenburg, Zeitigung des Daseins in psychiatrischer Sicht, in: Emil Angehrn u.a. (Hrsg.), Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1992, S. 130 - 155.

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solch befreienden Wandel von einer gewußten ,Zukunft', die letztlich keine Zukunft ist, zu einer offenen und ganz anderen Zukunft, kann die Erfahrung des Krankseins leisten. Dieses verstehbar werden zu lassen, ist das Ziel der aisthetischen Perspektive. Zugleich aber bringt diese Perspektive, hierbei den Rahmen des nur individuellen Lebens erweiternd, jenes zumeist tragische Mißverständnis zum Vorschein, demzufolge die Utopien und Visionen des Menschen, statt als Auftrag zu verantwortlicher Bewältigung der Gegenwart, als mehr oder weniger verbindliche Festschreibung einer als möglich gedachten Zukunft verstanden werden. Den Hintergrund dieses Mißverständnisses bildet ein von der Gegenwart dominiertes Zeitverständnis, dem das andere der Zukunft als Bedrohung erscheint. Utopien erwachsen aber aus jener Ortlosigkeit des Unmöglichen und ganz Anderen, wie es erst jenseits der Krisen und Ent-Täuschungen erfahrbar wird. So ist es die Angst vor der Krise, die Utopien scheitern läßt, wie es andererseits nur dank der Utopien gelingt, das Ereignis der Krise zu überwinden. Utopie und Krise, Hoffnung und Ent-Täuschung erscheinen als zwei sich je gegenseitig verbergende und verdrängende Perspektiven der Erfahrung des Lebens. Dessen Wirklichkeit freilich erwächst aus der Einheit dieser Perspektiven, wie sie sich der anderen Zeitstruktur des Ereignisses darstellt. Im Horizont dieser Einheit kommt der aisthetischen Dimension ärztlichen Wissens eine über das je individuelle Leben hinausgehende - und eben hierin dem Wesen der Kunst verwandte -, gleichermaßen lebensfördernde wie auch sinnstiftende Wirksamkeit zu. Eine Neubestimmung des therapeutischen Auftrages der Medizin muß von hier ihren Ausgang nehmen.

Merleau-Ponty - Die Farbe und die Malerei Von Gerard Wormser, Paris Von Die Struktur des Verhaltens bis zu Das Auge und der Geist und den posthumen Texten, die unter dem Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare erschienen sind, hat sich Merleau-Ponty unablässig nach der Verankerung unserer Erfahrung des Realen gefragt, indem er vor allem über die Sichtbarkeit nachgedacht hat, die uns vor ein größeres Rätsel stellt als alle anderen Weisen des sinnlichen Bezugs auf die Welt: Im Gegensatz zum Tastsinn, der sich in einer Dimension der Nähe bewegt, läßt das Sehen die Distanzen, die es überbrückt, imaginär zusammenschrumpfen und erzeugt so die Illusion eines Seins zum Ding, durch die es ihm gelingt, den Sehenden von seiner Selbstpräsenz abzulenken. Indes verlagert sich dabei nach und nach der Brennpunkt seines Fragens : während er in den frühen Arbeiten vor allem die gestaltpsychologischen Modelle der Farbwahrnehmung und des räumlichen Sehens untersucht, beschäftigt ihn später immer stärker die Beziehung, die die Maler zu der sichtbaren Welt ihrer Umgebung herstellen. Mit der Rekonstruktion dieser Welt im Gemälde tut sich ein Problemfeld auf, das sämtliche Dimensionen umgreift, die das Zur-WeIt-sein des sehenden Leibes ausmachen, der sich bemüht, durch erlernte Handbewegungen, durch die Zusammenstellung von Farben sowie durch ein offenes Auge für implizite Wahrnehmungen die einzigartigen Qualitäten einer Realität »wiederzugeben«, die die Modelle des diskursiven Denkens transzendiert. Die Erfahrung des Malers stellt ein Schema dar, auf dessen Grundlage Merleau-Ponty die Ergebnisse seiner frühen Arbeiten überprüfen wird. Im § 41 der Ideen beruft sich Husserl auf das Beispiel der Farbwahrnehmung, um zu zeigen, daß die Gegebenheit durch Abschattungen kontinuierlich die Farbe »bestätigt«, die in der Mannigfaltigkeit, in der sie sich darstellt, das Thema der Variation bildet. Die Gegebenheit durch Abschattungen ist charakteristisch für die Erscheinungswelt im Gegensatz zu den »reinen« oder »immanenten« Erlebnissen, die von der phänomenologischen Reduktion alles Transzendenten nicht betroffen sind. »Ein Erlebnis schattet sich nicht ab«!, während jede Gegebenheit von Dinglichem den spezifischen Bedingungen unterworfen ist, die sich wesensmäßig aus der jeweiligen Sache ergeben; ! E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980 (Erstdruck 1913), S. 77.

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man denke etwa an die Zwänge der Perspektive oder der Orientierung im Falle einer Raumdinglichkeit. Durch die »Neutralitätsmodifikation« (§ 111) läßt sich nun jedes Wahrnehmungsbewußtsein in ein neutrales Bildbewußtsein überführen. Die so erhaltenen Bilder aber können vervielfältigt werden (§ 100), und innerhalb dieser neutralisierten Gegebenheit sind soviele Schachtelungsstufen möglich, wie man nur möchte, etwa wenn ich mich daran erinnere, in einer Galerie ein Bild gesehen zu haben, das eine Bildergalerie darstellt, unter deren Bildern wiederum ein Bild ist, das eine Bildergalerie darstellt usw. Die Charaktere des noematischen Korrelats sind unabhängig von der Setzungsmodalität (seiend/nichtseiend), die ich mit ihnen verbinde, und ich kann erkennen, was ein Stich von Dürer darstellt, ohne deshalb irgend etwas über die Realität des Dargestellten behaupten zu müssen. Gleichwohl bleibt dabei jedes Korrelat, auch das neutralisierte, Gegenstand einer - wenn auch nur potentiellen - Setzung (§ 117), da ein Erlebnis nur so Gegenstand eines thetischen Bewußtseins werden kann, und von daher partizipiert jedes Korrelat, auch das neutralisierte, an »ontologischen Disziplinen, die wesentlich auf die Gemüts- und Willens intentionalität bezogen sind«2. Die vordringliche Aufgabe der Phänomenologie der Vernunft, die den eigentlichen Gegenstand der Ideen ausmacht, ist es also, mit Hilfe des Evidenzkriteriums jeden Gegebenheitstyp direkt oder indirekt zu charakterisieren, indem der Inadäquationsgrad angegeben wird, den die jeweilige Gegebenheit gegenüber der unmittelbaren Gegebenheit in der »leibhaftigen« Wahrnehmung aufweist. Welcher Status kommt hierbei nun der Farbwahrnehmung zu? Die Einzigartigkeit der Beziehung auf die Farben, wie sie sich bei jedem Maler zeigt, die Farbhalluzinationen und die verschiedenen Assoziationen, die die Farben hervorrufen, scheinen eine einfache Unterscheidung zwischen den Charakteren des Sehens und denen des Sichtbaren zu verbieten. Läuft die Phänomenologie, wenn sie die rohe, noch unverarbeitete Erfahrung aufklären will, nicht Gefahr, ein Empirismus zu bleiben? Die Struktur des Verhaltens sucht nach einer Antwort auf diese Frage. Ist die Farbwahrnehmung bloß vom objektiven Charakter der Farben abhängig, oder wirken sich die physiologischen Bedingungen dieser Wahrnehmung so aus, daß es zu Farbverschiebungen kommt? Die von Merleau-Ponty untersuchten Beispiele3 zeigen, wie sich durch geeignete Experimente Variationstypen aufklären lassen, denen unsere Wahrnehmung unterworfen ist, wenn Farbflächen vor unterschiedlichem Hintergrund betrachtet werden: Das Spiel der Kontraste erzeugt dabei gewisse optische Effekte, die die Farbwahrnehmung auf eine geregelte Weise beeinflussen. Man kann nun zwar ein »Konstanzprinzip« aufstellen, da sich ja in den allermeisten Fällen, wie groß die beiherspielende Deformation auch sein mag, die Husserl (FN 1), S. 245. M. Merleau-Ponty, La structure du comportement, Paris 1942, S.88ff., dt. Die Struktur des Verhaltens, Berlin 1976, S. 94ff. 2

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Normalfarbe »wiederherstellen« läßt, in der uns dieses oder jenes Objekt im allgemeinen erscheint. Aber ein solches Prinzip entkräftet nicht die Feststellung, wonach die Farbwahrnehmung entsprechend den verschiedenen Merkmalen der Beleuchtung, der unmittelbaren Umgebung oder auch der Anomalien des Sehvermögens ständig variiert. Derartige Begleitumstände bilden den Gegenstand der Phänomenologie der Wahrnehmung.

Im Text der Phänomenologie der Wahrnehmung tritt die Bezugnahme auf die Maler in Konkurrenz zu den Schlüssen, die aus den Experimenten der Gestaltpsychologie gezogen wurden. In dem Kapitel über »Das Ding und die natürliche Welt« wird Cezanne zu einem Hauptbezugspunkt bei dem Versuch, der Analyse des »intersensorischen« Dinges Konsistenz zu verleihen. Tatsächlich kommt jede beliebige objektive Wahrnehmung nur dadurch zustande, daß ihr Gesamtsinn antizipiert wird; da jedoch andererseits die Erfahrung des Wahrnehmens auf der Beziehung unseres Leibes zur Welt basiert, muß man umgekehrt auch sagen, daß sie vor jeder einheitlichen Anschauung auf der Ebene der reinen Gegebenheit der Formen und Farben spielt. Um den Ausdruck eines Gesichts wiedergeben zu können, mußte Cezanne daher erst lernen, ihn zu vergessen, und auch seine Landschaften konnte er nur deshalb so exakt malen, weil er auf jede Anthropomorphisierung der Farbempfindungen verzichtete, die sich seinem Blick darboten 4 • Infolgedessen brechen alle konventionellen Vorstellungen zusammen: jeder Pinselstrich verlangt seine pikturalen Entscheidungen, und nur deren Gesamtheit wird ein Urteil darüber erlauben, ob es ihnen gelungen ist, die Totalität wiederzugeben, die sich in ihnen auszudrücken versucht. Merleau-Ponty zitiert an dieser Stelle die Kommentare von Emile Bernard zur Cezanneschen Arbeitsweise: Jeder Pinselstrich muß »die Luft, das Licht, den Gegenstand, die Ebene, den Charakter, die Zeichnung, den Stil enthalten«, so daß das fertige Bild eher einer Skizze oder einem Zeichen gleicht. Zum Ding als solchen nämlich, zu seiner Gegebenheit, gehören perzeptive Evidenzcharaktere, an denen sämtliche Bemühungen, und seien sie auch noch so groß, scheitern müssen, die die Illusion dinghafter Präsenz erzeugen wollen - wenn dies denn, wie Merleau-Ponty hier vorauszusetzen scheint, überhaupt die Absicht des Malers ist ... Merleau-Ponty macht sich hier ganz den Husserlschen Gegensatz zwischen der Gegenwart des Dinges und seiner Vergegenwärtigung im Bild zu eigen, wonach die Offenheit der Welt und die Variabilität der Gesichtspunkte, die ich hier gegenüber den Dingen einnehmen kann, die Realität ihrer Gegebenheit bestätigen, während die starre Geschlossenheit das Kennzeichen für eine Repräsentation dieser Realität ist.

4 M. Merleau-Ponty, Phenomenologie de la Perception, Paris 1945, S. 372 - 374, dt. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S. 372 - 374.

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Der Einwand, den die Halluzinationsphänomene darstellen könnten, wird ohne Schwierigkeiten zerstreut und bestätigt letztlich nur die allgemeine These: Denn weit davon entfernt, daß die Halluzination die Bedingungen stören könnte, unter denen mir die Realität gegeben ist, kann vielmehr umgekehrt bloß eine Störung der Beziehung auf die Realität einer halluzinatorisehen Gegebenheit, der alle Charaktere der Realität fehlen, einen Anschein von Wahrscheinlichkeit geben: Die gehörten Töne lassen sich nicht richtig lokalisieren, die Visionen habe ich mit geschlossenen Augen usw. Hingegen braucht bloß eine »leibhaftige« Realität auftauchen, damit jeder Zweifel an ihrer faktischen Notwendigkeit hinfällig wird; diese steht für mich völlig außer Frage, weil das leibhaftige Gegebensein sämtliche Charaktere aufweist, die dafür sorgen, daß sich die Welt und mein Leib in seiner jeweiligen raum-zeitlichen Situierung zu einer Einheit zusammenschließen. An einer Wahrnehmung zweifle ich nur, wenn die Kriterien der leibhaftigen Gegenwart verschwunden sind: so läßt die Verzeitlichung das, was eben noch gegenwärtig war, in die Vergangenheit gleiten; was hier jedoch aufscheint, ist nur die für meine zeitliche Existenz typische Unbeständigkeit und stellt keine Gefährdung der präsenten Realität dar. In Die Phänomenologie der Wahrnehmung macht Merleau-Ponty von der Bezugnahme auf Cezanne im wesentlichen nur einen negativen Gebrauch: sie soll den einzigartigen Charakter hervorheben, der in der Anschauung der »leibhaftigen« Gegebenheit der Realität zukommt. Korrelativ dazu soll mit ihr auch auf das Rätsel des eigenen Leibes hingewiesen werden, der auf der Basis der Welt, in der er existiert, zu seiner Einheit finden muß. Die Aphasie auf dem Gebiet der Farbennamen5 muß auf eine Störung bezogen werden, die die kategorialen Gruppierungen betrifft, die sich in der Realität vornehmen lassen, und in jedem Sprechen schwingt das Schweigen mit, das der Offenheit der Bedeutung voranging. Jede gesprochene Sprache setzt in letzter Instanz voraus, daß ihre Bedeutung von einer sprechenden Sprache erschaffen wurde, die die Elemente dieser Bedeutung allererst zusammenbrachte. Daß jede Möglichkeit bedeutungsvollen Sprechens auf den eigenen Leib zurückzubeziehen ist, in dieser Einsicht sah sich Merleau-Ponty durch die Cezannesche Praxis der Farbe bestätigt: Der Sinn ist dem lebendigen Leib immanent, die ganze Sinnenwelt ist sein Träger. Der Maler nämlich hat die Beobachtung gemacht, daß sich der Ausdruck eines Porträts mehr den einzelnen Farbflecken verdankt als dem zwanghaften Versuch, unmittelbar einen bestimmten Ausdruck wiederzugeben. Cezanne erinnert sich an dieser Stelle an einen Satz von Balzac6 , dessen Inhalt er malen wollte: Doch was auf seiten des Schriftstellers Merleau-Ponty (FN 4), S. 223ff., dt. S. 226ff. "Ein Tischtuch, weiß wie frisch gefallener Schnee, auf dem sich symmetrisch die von blonden Brötchen bekrönten Gedecke erheben", zitiert in: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 230, dt. S. 233. 5

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Gegenstand einer Metapher ist, das muß der Maler in engster Tuchfühlung zur Welt wiederfinden, und der gesuchte Ausdruck (»der Schnee und der ganze Rest«) kommt dann von selbst hinzu. Die Qualitäten des Dings, zum Beispiel seine Farbe, seine Härte, sein Gewicht, lehren uns viel mehr über es als seine geometrischen Eigenschaften? Doch wie läßt sich diese These mit dem unendlich variablen Charakter der Farbeindrücke vereinbaren? Merleau-Ponty untersucht das »Konstanzprinzip« und die Weisen, wie wir eine Norm der Gegebenheit festlegen, die uns eine relativ feste Beziehung auf das Ding und die Typik seiner Erscheinungen erlaubt. Sollte demnach also die angebliche Wahrnehmung der Qualitäten auf mehr oder minder willkürliche Konventionen hinauslaufen? Oder wie sonst soll man sich die breitgefächerten Farbqualitäten des Dinges denken? Denn es gibt ja keine Farbe, die sich von den Charakteren isolieren ließe, durch die sie uns gegeben ist: eine Oberflächenfarbe wird anders wahrgenommen als eine Beleuchtungsfarbe, ein Lichtreflex oder ein Strahlen, und jedes Sehen ist erfüllt von Strukturen, die für die Lichtwahrnehmung typisch sind. Unsere Wahrnehmung des Tageslichts verändert sich, wenn wir es durch einen durchlöcherten Schirm betrachten, und auch sonst lassen sich experimentell die verschiedensten Veränderungen herbeiführen, die zeigen, wie die Wahrnehmung einer Farbe ihre Komplementärfarbe hervorbringt oder wie das Nebeneinander mehrerer Farben ein Grau erzeugt. Das zentrale Beispiel ist hier der Gegensatz von Tageslicht und elektrischem Licht: letzteres wirkt gelb, wenn man aus dem Tageslicht kommt, ersteres wirkt blau, wenn elektrisches Licht vorherrscht. Daß die Funktionen der Lichtreflexe im normalen Sehen von die Malern nicht so leicht herauspräpariert werden konnten, zeigt wie groß der Abstand zwischen der natürlichen Wahrnehmung und einer reinen Objektivierung ist8 . Und das Sehen selber kann sich von den Erklärungen anderer leiten und auf die Sprünge helfen lassen, was deutlich zeigt, daß »sehen« nicht bloß heißt, Lichtwellen zu empfangen, sondern eine antizipierende Tätigkeit impliziert, die das sichtbare Schauspiel dechiffriert. Die Feldorganisation der Wahrnehmung ist für Merleau-Ponty grundlegend, und die Farbe bleibt ein privilegiertes Beispiel, dessen Status aber nicht von solcher Art ist, daß es die Themen seines jeweiligen Nachdenkens unmittelbar vorzugeben vermag. So gibt es als Gegenstück zur Tiefe des Sehfeldes »das dreidimensionale Tastmilieu etwa eines Luftzuges oder strömenden Wassers, in dem wir unsere Hand gleiten lassen, es gibt die taktile "Transparenz" durchtasteter Flächen«9. Trotz allem bleibt also die Bezugnahme auf die Male7 J.-P. Sartre, L'etre et le neant, Paris 1943, S.235, dt. Das Sein und das Nichts, Reinbek 1991, S. 347: "Das Saure der Zitrone ist gelb, und das Gelb der Zitrone ist sauer ... ". Auch Sartre verweist übrigens auf Cezanne. 8 Merleau-Ponty (FN 4), S. 357ff., dt. S. 358ff. 9 Merleau-Ponty (FN 4), S. 365ff., dt. S. 365ff.

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rei für Merleau-Ponty bis 1944 von nachgeordneter Bedeutung, und die Erwähnung Cezannes, die auf die Zeugnisse Emile Bernards zurückgreift, beschränkt sich darauf, ein signifikantes Beispiel zu liefern, das symbolisch die Ergebnisse veranschaulicht, zu denen die im Text durchgeführte phänomenologische Untersuchung der Wahrhnehmung gelangt ist. Also erst mit Le doute de Cezanne (1945) macht sich Merleau-Ponty an jene Arbeit, in der die Malerei schließlich eine Schlüsselposition einnehmen wird. Ausgehend wiederum von den Zeugnissen Emile Bernards sagt MerleauPonty, was ihn an der Arbeit Cezannes so besonders fesselt: die Tatsache nämlich, daß dieser versucht hat, »die Materie gerade in dem Augenblick zu malen, wo diese sich eine Form gibt«, um so »das Ding als eine unausschöpfliche Wirklichkeit darzustellen, die sich nie völlig preisgibt«lO. Merleau-Ponty beruft sich darauf, daß Cezanne ständig in dem Bewußtsein gelebt haben soll, er müsse eine unentstellte Natur wiedergeben, die frei von allen menschlichen Projektionen zu sein hätte. Dabei läßt er dem Sehen jedoch jene auf unsere Affektivität und Kinästhesen zurückgehenden Charaktere, durch die es sich von der rein geometrischen Perspektive abhebt. Das Bemühen, die Tiefe und damit die Flucht der Gegenstände aus unserem Gesichtsfeld wiederzugeben, veranlaßt Cezanne dazu, die von ihm dargestellten Gegenstände nicht mehr mit einer einzigen klaren Umrißlinie zu umgeben. Stattdessen gibt er durch viele Konturen, die sich überlagern, die Oszillation jener Linie wieder, die die dreidimensionale Oberfläche umschließt, die uns mit einem einzigen Blick zugänglich ist, ja am Ende läßt er sogar jede Umrißlinie verschwinden, und es bleibt die reine Flucht des äußeren Scheins, die in größter Nähe zu unserem Auge beginnt, um sich auf die dunkle Grenze zuzubewegen, wo die Form sich auflöst. Merleau-Ponty zieht daraus den Schluß, daß »die Welt ein Organismus von Farben ist«l1 , in dem mir allein die Fluchtlinien der Gegenstände angeben, wo sich mein Auge befindet. Der Maler hat es mit dem ganzen »intersensorischen Ding« zu tun, und das Bemühen um Realismus darf sich nicht darauf beschränken, den taktilen oder visuellen Aspekt des Gegenstands zu reproduzieren; Cezanne war daher auch der Meinung, ein Bild vermöchte selbst noch den Geruch einer Landschaft zu evozieren, denn im Gegenstand liegt alles noch ungeschieden beieinander und erst später lernen wir, unsere Sinne zu unterscheiden. Merleau-Ponty zitiert erneut den bereits angeführten Satz von E. Bernard, gibt ihm nun aber eine viel schwerere Bedeutung: »jeder Pinselstrich muß unendlich viele Bedingungen erfüllen, weshalb Cezanne manchmal eine ganze Stunde lang überlegte, ehe er ihn auf die Leinwand brachte«12. Ein zufällig gesetzter Strich, so der 10 M. Merleau-Ponty, Le doute de Cezanne, in: Sens et non-sens, Genf 1965, S.23 - 25. 11 Merleau-Ponty (FN 10), S. 26. 12 Merleau-Ponty (FN 10), S. 26.

Merleau-Ponty -

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Maler, würde ihn dazu zwingen, allein wegen ihm das ganze Bild noch einmal zu überarbeiten ... Das Ganze der Bedingungen, denen das Tun des Malers gehorchen muß, verleiht diesem gerade seine Kraft: statt die Differenz zwischen dem Unendlichkeitscharakter der Natur und den Grenzen jedes Darstellungsversuchs zu betonen, insistiert Merleau-Ponty auf der Größe der Aufgabe, der der Maler sich widmet, wenn er sich dieser Herausforderung stellt: »Das, was existiert, zum Ausdruck zu bringen, ist eine unendliche Aufgabe«13. Der eigene Leib ist nicht mehr der Ort einer immanenten Bedeutung, die der Blick wiederfindet, sondern gibt der Erfahrung des Wahrnehmens ihren Stil vor. Diese Stilgebung fügt zu den tatsächlich vorhandenen Farben und Kontrasten eine Dimension der Einheit hinzu, die ihnen eine Expressivität verleiht, die der Maler auf keinen Fall noch eigens hervorzuheben hat: das hieße gegenüber der Natur zu übertreiben statt ihre Verfahren zu übernehmen, damit das Auge am Gemälde seine Interpretationsarbeit fortsetzt, die es angesichts der Realität permanent übt. Der höchste Punkt in der Arbeit des Malers ist also dort erreicht, wo es ihm gelingt, in der verschwommenen Masse der Farben, denen wir uns gegenübersehen, die Mechanismen der Formenidentifizierung freizulegen. Derart bemüht sich Cezanne, der mit der physikalischen Struktur seines jeweiligen Motivs immer gut vertraut ist, zu einer Synthese dieser Struktur mit den Eindrücken zu gelangen, die wir empfangen, um so »unmittelbar auf die Dinge« in ihrer ganzen Fremdheit zuzugehen. Und deshalb schreibt Merleau-Ponty, daß der Künstler »die Kultur in ihrem Ursprung ergreift und sie neu begründet, er spricht wie der erste Mensch gesprochen hat und malt als hätte man zuvor noch nie gemalt«14. Das bekräftigt noch einmal die innere Verbundenheit zwischen dem Malen eines neuen Bilds und dem Sprechen eines neuen »Worts« in dem Schweigen, das ihm selbst noch in dem Denken dessen vorangeht, der sich anschickt, etwas auszudrücken. Mit diesem Text wird der Künstler in dem Werk von Merleau-Ponty in den Rang derer erhoben, die das unteilbare Ganze der Dinge, zwischen denen unsere Existenz angesiedelt ist, deshalb so wunderbar zum Ausdruck bringen, weil sie sich genötigt sahen, alle überkommenen Gewißheiten außer Kraft zu setzen, die die Beziehung zu ihrer Umgebung betreffen. Das Werk drückt die unvergeßliche innere Nähe aus, die uns über die Sinne mit der Gesamtheit der Gegenstände verbindet, die mich umgeben und für die ich bloß das Bewußtsein eines Augenblicks sein kann. Als Korrelat meiner Intentionen ist das Ding das Zentrum, von dem die Sinnesdaten ausstrahlen: deren Jenseits aber ist es, sofern es deren Ursache ist; und deshalb ist der Versuch, zu ihm zurückzufinden, auf den der Maler sich einläßt, von primordialer Bedeutung. Es dauert freilich noch einige Jahre, ehe Merleau-Ponty, der jetzt das Feld der Probleme, aber auch das der illustrierenden Beispiele erweitert, diese \3 14

Merleau-Ponty (FN 10), S. 26. Merleau-Ponty (FN 10), S. 32.

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Reflexionen über die schöpferische Tat des Malers fortsetzt: Die etwa dreißig Seiten des unter dem Titel Le langage indirect et les voix du silence (1951)15 publizierten Aufsatzes stehen in der Linie jener Überlegungen, die die Gemeinsamkeit von Malen und Sprechen betont haben; diese Seiten, auf denen ein Dialog mit Malraux und Francastel geführt wird, bestätigen die Bahn, auf der Merleau-Pontys Denken sich bewegt, geben aber nur einen Vorgeschmack auf den in diesen Fragen definitiven Text, auf L'CEil et ['esprit (1961)16. Die Analyse in Le langage indirect . .. setzt wieder ein an einem Punkt, der früher am Beispiel Cezannes erläutert wurde: Jede Handbewegung des Malers impliziert eine beträchtliche Anzahl von Wahlmöglichkeiten, die zwar nicht eigens nacheinander thematisiert und eliminiert werden, sich aber dennoch ablesen lassen am Zögern des Arms und des Pinsels - diesmal ist es der von Matisse -, bevor die Farbe auf der Leinwand angebracht wird. Merleau-Ponty benutzt dieses Beispiel als ein Modell für die Organisation eines ursprünglichen Sprechens, das das, was es sagen will, erst tastend umkreist, um einen möglichst genauen Ausdruck zu finden, dessen Adäquatheit aber nie im voraus verbürgt ist ... Doch auf die wesentliche Thematik stoßen wir, wenn Merleau-Ponty in einem Kommentar zu einer von Malraux überlieferten Anekdote, der zufolge Renoir den Süßwasserbach seiner Wäscherinnen malte, während er das tiefe Blau des Meeres bei Cassis betrachtete, darauf hinweist, daß jedes Fragment der Welt eine fundamentale Expressivität besitzt und »vielerlei Gestalten des Seins in sich birgt«17. Dadurch sagt hier das Mittelmeer etwas aus über das feuchte Element im allgemeinen, liefert eine Typik des Wassers, aus der der Maler sich das herausgreift, was seiner Absicht dienlich ist, uns die Natur so wiederzugeben, wie er sie wahrnimmt. Am Ende muß der Maler so den Eindruck gewinnen, der Stil der Natur sei kein anderer als sein eigener. Während es so aussieht, als entferne sich der Maler von den unmittelbaren Erscheinungen, geht es ihm im Grunde also immer noch darum, das, was existiert, zum Ausdruck zu bringen. Merleau-Ponty findet hierin das Husserlsche Thema der »Stiftung« wieder: diese ermöglicht durch die Schaffung eines neuen Sinns das Wiederaufleben und Fortleben von Sinn. Die erkennbare Konvergenz in den Werken der Maler rührt nicht so sehr von den »Einflüssen« her, die sie empfangen, der Grund dafür ist vielmehr die jeweils einzigartige Weise, in der sich in ihnen die Beziehung des Auges und der Hand zur sichtbaren Welt verkörpertI 8 • 15 M. Merleau-Ponty, Le langage indirect et les voix du silence, wiederabgedruckt in: Signes, Paris 1960, S.49 - 104, dt. "Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens" in: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 69 - 114. 16 M. Merleau-Ponty, L'CEii et l'esprit, Neudruck in Buchform Paris 1964, dt. "Das Auge und der Geist", in: Das Auge und der Geist (FN 15), S.13 - 43. 17 Merleau-Ponty (FN 15), S. 70, dt. S. 86.

Merleau-Ponty - Die Farbe und die Malerei

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Merleau-Ponty stimmt in diesem Punkt mit Matisse überein, für den das Wesen der Kunst darin liegt, »Zeichen zu erfinden«, deren Beziehung auf die Natur, die sie evozieren, keine der Nachahmung ist: »Man muß die Nachahmung hinter sich lassen, selbst die des Lichts«, schreibt er; vielmehr sollen im Spiel der reinen Verhältnisse der Farben zueinander »Zeichen erschaffen werden, durch die der Künstler mit dem Betrachter kommunizieren kann«19, damit so die einzigartige Ergriffenheit nachvollzogen werden kann, der das Werk entsprungen ist. Diese Sichtweise stellt den einmal der Sprache zugebilligten Vorrang noch nicht in Frage: unter allen Ausdrucksmöglichkeiten kann allein das Sprechen für das, was es vorbringt, auch einstehen und weist über sich hinaus ausdrücklich hin auf das, was es bedeutet. Nur die Sprache ist fest und dauerhaft genug, um stets das Wesentliche im Auge zu behalten. Im Vergleich dazu kann man die Malerei als »zurückgebliebene Sprache« bezeichnen, sofern sich die »stummen Ausdrucksformen (die Gebärde, die Malerei)« dort, wo die Sprache explizit ist, damit begnügen, »auf der Oberfläche der Welt Richtungen, Vektoren, eine "kohärente Deformation" und einen stummen Sinn einzuzeichnen«2o. In dieser Sichtweise bliebe die Malerei auf halbem Wege stecken und selbst in ihrer Vollendung bedürfte sie der Sprache, um richtig verstanden zu werden. Diese Position wird revidiert in Das Auge und der Geist, wo die Malerei zu einer »figurativen Philosophie des Sehens« wird 21 .

Die »Farbendimension« Die Malerei bekommt eine spezifische Bedeutung, sobald es darum geht, zu »jener Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrung zurückzukehren, von der das aktivistische Denken nichts wissen will« sowie zu »jenem tatsächlichen Leib, den ich den meinen nenne, und der wie ein Wachtposten schweigend hinter meinen Worten und Handlungen steht«22. Während sich der Schriftsteller der Gegenwart nicht entziehen kann, da man ihn nach seiner Meinung fragt und er »die Verantwortung eines sprechenden Menschen nicht ablegen« kann, ist die Musik andererseits »zu sehr diesseits der Welt und des Bezeichenbaren, um etwas anderes darzustellen als die Aufrisse des Seins, sein Aufwallen und 18 Merleau-Ponty (FN 15), S.83, dt. S.97: "So ist unter dem Blick, der Hand und ganz allgemein dem Leib ein System von Systemen zur Kenntnisnahme einer Welt zu verstehen, das fähig ist, Entfernungen zu überbrücken, bis in das zukünftige Wahrnehmen hinein vorzustoßen, in die unvorstellbare Ebenmäßigkeit des Seins Vertiefungen und Reliefs, Entfernungen und Abstände, kurz, einen Sinn einzuzeichnen ... ". 19 H. Matisse, Ecrits et propos sur l'art, Paris 1972, S. 204. 20 Merleau-Ponty (FN 15), S. 101, dt. S.112. 21 Merleau-Ponty (FN 15), S. 32, dt. S. 21. 22 Merleau-Ponty (FN 15), S. 13, dt. S. 14. 16 Selbstorganisation, Bd. 4

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Verebben, sein Wachsen, seine Ausbrüche, seine Strudel«23. Die Malerei liegt quer zum Sartreschen Gegensatz zwischen der Poesie und der Prosa, da sie es weder mit der Sprache noch mit den rhythmischen Modulationen des Seins zu tun hat: Das Schweigen des Malers und seine relativ beschränkten technischen Mittel sind das Echtheitszeugnis für seinen unverwandten Blick auf die Welt, »der zu keinerlei Bewertung oder Beurteilung verpflichtet ist«. Weder Sätze noch Sonaten schaffend, »sondern Gemälde, die den Ärgernissen und den Hoffnungen der Menschen kaum etwas hinzufügen werden«, gehorcht der Maler einer ganz besonderen Notwendigkeit. Bergson bemerkte in Das Lachen 24, »daß der höchste Ehrgeiz der Kunst darin besteht, uns die Natur zu offenbaren«. Anders als der Schriftsteller und der Musiker, die uns das Innere unseres Geistes, seine grundlegenden Gefühle oder Rhythmen enthüllen, hält sich der Maler an die Farben und Formen, und »da er diese um ihrer selbst willen und nicht im Blick auf sich wahrnimmt, scheint für ihn durch sie das innere Leben der Dinge hindurch«. Diese Bergsonsehe Bestimmung der Malerei macht sich Merleau-Ponty jetzt zu eigen: Malerei ist der Versuch, uns zu einer Betrachtung der Seinsweisen der Dinge anzuleiten, die frei sein soll von jeder Selbstpräsenz. Ähnliche gedankliche Akzente werden in den Vorlesungen gesetzt, die 1958/59 am College de France gehalten wurden: Die Universalität, jene Kernschicht, die die Denksysteme voraussetzten, die bislang dazu dienten, der Menschheitsgeschichte einen Sinn zu geben, mußte dem unumstößlichen Bewußtsein weichen, daß die Welt und mit ihr alle Gewißheiten über sie brüchig geworden ist: Der Mensch, der auf dem Gebiet der Technik den Höhepunkt seiner Geschichte erreicht hat, steht plötzlich einer Welt gegenüber, die »ein vormenschliches Aussehen annimmt oder wiedererlangt«. Doch inmitten der Ratlosigkeit, die mit dieser Entdeckung einhergeht, stößt man in Kultur, Kunst und Philosophie auf »einen neuen Sinn für die Pluralität der Möglichkeiten« und auf »die Erwartung einer freien Reintegrierung«25. Das Auge und der Geist wäre demnach ein entscheidender Schritt in der Ausarbeitung dieser Problematik, die nach einem neuen Sinn für unsere Beziehung zur Welt sucht, nachdem der technische Geist die Natur im ganzen bedroht. Denn wenn »die Malerei in uns bisweilen auch den Eindruck eines nichtigen Strudels von Bedeutungen, einer paralysierten oder zurückgebliebenen Sprache hinterläßt«26, muß man sich doch fragen, ob »nicht die ganze menschliche Geschichte in gewissem Sinne auf der Stelle tritt«. Und wenn es scheinbar unmöglich ist, der Malerei einen klaren Sinn zu geben und das Tun des Malers unaufhebbar widersprüchlich wirkt, so erklärt sich dies daraus, »daß das, was Merleau-Ponty (FN 15), S. 14, dt. S. 14. H. Bergson, CEuvres, Paris 1984, S. 1459. 25 M. Merleau-Ponty, Resurnes de cours, Paris 1968, S. 146f., dt. "Vorlesungszusammenfassungen" , in: Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 112. 26 Merleau-Ponty (FN 15), S. 91, dt. S.112. 23

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er will, diesseits aller Ziele und Mittel liegt, und von oben her über all unser nützliches Tun gebietet«. Indem dieser Text sich zu zeigen bemüht, wie die Arbeit des Malers es erlaubt, zu einem besseren Verständnis unserer fundamentalen Verbundenheit mit der Welt zu gelangen, hält er sich sehr eng an eine These, die bereits in Die Phänomenologie der Wahrnehmung aufgestellt wurde und der zufolge mein Leib mit dem Ganzen der Welt durch ein Bewußtsein verbunden ist, das sich nach Maßgabe eines »ich kann« entfaltet. Selber ein Teil des Sichtbaren, wird mein Leib nicht ausgeschaltet, sobald ich in die Ferne blicke. In allen nur erdenklichen Formen meines Bewußtseins zeichnen sich seine Vermögen ab, und jedes Sehen weist zurück auf dasjenige Sichtbare, das ich in der Welt bin, inmitten eines Systems komplexer intersensorischer Wechselbezüge. Die verschiedenen »optischen Raster« sind immer nur Konventionen, die auf eine Normierung des Blicks zurückgehen und den Versuch nahelegen, die Normen zu verändern. Dubuffet fordert dies ganz ausdrücklich: »Wenn ein Gemälde im Betrachter nicht eine Erneuerung seiner gewohnten Sicht der Dinge hervorruft, halte ich es für überflüssig und nichtig«27, fügt allerdings gleich hinzu, daß seine Arbeit »auf unsichtbare innere Texturen gerichtet ist und Dinge evozieren will, die zum Imaginären gehören«. Wenn er dabei die Notwendigkeit erwähnt, relativ schnell zu arbeiten, um die unaufhörliche Wiederkehr der kulturellen Normen zu bannen und so Werke zu schaffen, die es dem Auge erlauben, die Dinge von ihnen selbst her zu betrachten, steht er in nächster Nähe zu den Gedankengängen von Merleau-Ponty. Indem Dubuffet diese unerläßliche Schnelligkeit mit dem Bemühen verbindet, möglichst beständige Werke zu schaffen (»Das Werk«, schreibt er, »muß über eine unabweisbare Autorität verfügen, die jeden Gedanken ausschließt, es hätte auch anders gemacht werden können. Es muß so betrachtet werden wie man einen Berg oder einen Baum betrachtet: die Form eines Baumes kritisiert man nicht«28), nähert er sich dem, was Francis Bacon gegenüber David Sylvester äußerte, als er von der Bedeutung der Zufälle und unwillkürlichen Spuren beim Entstehen seiner Werke sprach. Das ist für ihn das Mittel, damit seine Bilder die geheimen Kräfte zum Ausdruck bringen können, von denen seine Malerei auf der Leinwand »Bericht erstatten« will 29 • Trotz der völlig unterschiedlichen Wege, die beide Künstler in ihrer Arbeit gegangen sind, handelt es sich in beiden Fällen darum, die gewöhnliche Wahrnehmung so sehr zu intensivieren, bis deren Konventionen überschritten werden und eine Energie Ausdruck gewinnt, die buchstäblich von der Materie der Dinge selber ausstrahlt. Auch Giacometti, der häufig von Merleau-Ponty zitiert wird, tat auf seine Weise nichts anderes. 27

28 29

16*

J. Dubuffet, Bätons rompus, Paris 1986, S. 12.

Dubuffet (FN 27), S. 53. Vgl. David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, München 1983.

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Ausführungen und Bemerkungen dieser Art strukturieren die Notizen, die die Abfassung von Das Auge und der Geist vorbereiten. Diese kritische Rückkehr zur »intersensorischen« Dimension der Phänomenologie der Wahrnehmung auf der Basis eines Denkens des Sichtbaren beginnt im Juli 1959, als Merleau-Ponty schreibt: »Die Probleme, die ich in der Ph. d. W. gestellt habe, sind unlösbar, weil ich dort von der Unterscheidung "Bewußtsein" - "Objekt" ausgehe ( ... ) Der gemeinsame Stoff, aus dem alle Strukturen bestehen, ist das Sichtbare, das selbst keineswegs dem Objektiven, dem Ansich angehört, sondern dem Transzendenten - das dem Fürsich nicht entgegengesetzt ist, ja nur für ein Selbst überhaupt Zusammenhang hat; dieses Selbst aber ist nicht zu begreifen als ein Nichts oder Etwas, sondern als Einheit des Überschreitens oder Übergreifens in Entsprechung zum "Ding" und zur "Welt" (das ZeitDing, das Zeit-Sein)«30. Das Modell für die Beziehung zur Welt liefert also der Blick, sofern er eine Überschreitung der Grenzen des Selbst ist und dadurch diesem Selbst die Möglichkeit eröffnet, völlig in der Dimension des Sichtbaren aufzugehen. Auch wenn Merleau-Ponty das wesentliche Problem immer noch darin sieht, die Umwälzung zu begreifen, die das Sprechen im Sein bewirkt, will er doch auf das zurückkommen, was die Transzendenz und die massive Einheit des umgreifenden Seins ausmacht, die auch dessen »Vertikalität« genannt wird. Das von Angesicht zu Angesicht geht jeder Phänomenologie vorher, es gibt eine »intentionale Überschreitung«. Mit der Malerei wird es möglich, dem Grundbegriff der Gestalt neue Seiten abzugewinnen: »Die Gestaltung ist also ( ... ) Erscheinung eines Etwas der Ausstrahlung«3! und sie »besteht darin, daß jeder Wahrnehmungsgegenstand durch eine Struktur oder ein System von Äquivalenzen definiert wird, um die herum er angeordnet ist und das durch den Pinselstrich des Malers - durch die gewundene Linie - oder das Abtasten des Pinsels unwiderruflich heraufbeschworen wird.« Die Reflexion im Ausgang von der Malerei steht also im Zentrum der Ausarbeitung des letzten Denkens von Merleau-Ponty, das im Herbst 1959 präzise Formen gewinnt. Die »gewundene Linie« evoziert einen Text von Leonardo da Vinci, wo von einer Linie gesprochen wird, die die spezifische Achse jedes Gegenstands sein soll, und der vertikale und nicht-perspektivische Horizont, von dem im September die Rede ist, erinnert an die Organisation des Raums bei Kandinsky oder Mondrian32 , die Merleau-Ponty nicht erwähnt, oder bei Klee, den er öfters zitiert: so anläßlich der räumlichen Dimension, die jeder Farbfleck durch die ihm eigene Energie erzeugt33 . Man denkt unweigerlich an eine 30 M. Merleau-Ponty, Le visible et I'invisible, Paris 1964, S. 253, dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 257. 31 Merleau-Ponty (FN 30), S. 260f., dt. S. 264f. 32 Kandisky arbeitet seinen eigenen Worten zufolge mit seriellen Gegensätzen, deren Pole "gelb-warm-vertikal/blau-kalt-horizontal" sind, und Mondrian arbeitet an dem Problem der Verschmelzung von Linie und Farbe.

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Anspielung auf Dubuffet - der in Das Auge und der Geist als derjenige genannt wird, bei dem das zuvor aus der Malerei vertriebene Licht »als eine Art Textur der Materie«34 wiederauftaucht -, wenn in den »Arbeitsnotizen« vom Gegensatz zwischen der »kulturell überformten« und der »wilden oder rohen Wahrnehmung« die Rede ist, zu der es zurückzukehren gilt und die einen Einwand gegen Piaget darstellt, der »sie vollkommen ignoriert, seine Wahrnehmung gänzlich in eine kulturell-euklidische Wahrnehmung umgewandelt hat«35. Der magische Charakter des Sehens beruht darauf, daß es - wie die Malerei - seine Mittel einem Bereich entlehnt, der kein Sein im eigentlichen Sinne hat: »Licht, Beleuchtung, Schatten, Reflexe und Farbe«36 haben nur eine »visuelle Existenz«, sind kein Teil des Dinges selber, und doch kommt es dem Maler so vor, als ginge das, was er tut, »aus den Dingen selbst hervor, wie die Umrisse der Sternbilder«37. In der Malerei weist das Ding ständig auf das Auge des Betrachters zurück, ja am Ende läßt sich das Spiel der Reflexe und der Spiegelbilder, das man auf so vielen Gemälden finden kann, als eine Art »ikonographische Philosophie« des Sehens selber auffassen. Die Malerei, die einem Augenblick, der nur als Erscheinung für das Auge existierte, Ewigkeit verleiht, bringt die grundlegendsten Kategorien der Wahrnehmung durcheinander, indem sie einem vormals immateriellen Sehen einen Körper gibt und Bedeutungen für sich entdeckt, die für immer stumm bleiben werden ... Dem Leitfaden der Tiefe folgend, stellt Merleau-Ponty einige Elemente dieser Metaphysik des Sehens zusammen, die in den Gemälden zu ihrem Ausdruck findet. Glaubt man Giacometti oder Robert Delaunay - die die Tiefe nicht durch eine perspektivische Illusion erzeugen wollen, sondern durch eine Bewegung der Farben, die so angeordnet werden sollen, daß sich das Auge nicht auf eine von ihnen fixiert, sondern im Gegenteil stets zur nächsten weitergeschickt wird, auf Lichtwegen, die die Figur aus dem Hintergrund hervortreten lassen, den der Blick eben deshalb als »Tiefe« konstituiert, weil die Figur sich von ihm abhebt -, so ist die Tiefe nicht die bloße Perspektive der Geometrie, sondern eine Dimension, die die Präsenz von etwas anzeigt und diesem Etwas zugleich eine Festigkeit gibt, die nicht durch die RaumsteIle erklärbar ist, die eine Geometrie ihm zuweist: die Tiefe ist vielmehr der Bereich des Gleichzeitigen, eines Seins der Dinge, das unabhängig ist von meinem Blick. Merleau-Ponty spricht auch von einer »Farbendimension«38, 33 Vgl. P. Klee, Beitrag für den Sammelband "Schöpferische Konfession", wiederabgedruckt in: Schriften, Köln 1976, S. 118 - 122. 34 Merleau-Ponty (FN 15), S. 89, dt. S. 42. 35 Merleau-Ponty (FN 30), S. 266, dt. S. 270. 36 Merleau-Ponty (FN 15), S. 29, dt. S. 20. 37 Merleau-Ponty (FN 15), S. 31, dt. S. 21. 38 Merleau-Ponty (FN 15), S. 67, dt. S. 34.

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die nicht mit einer farbigen Gestalt zu verwechseln ist, aber ebensowenig mit einer räumlichen Hülle, sondern die Funktion hat, ein integraleres Sein als das irgendeines Farbigseins herauszustellen und präsent zu machen. Sofern sie nicht versucht, eine Illusion von Präsenz zu erzeugen, sondern die Mächte des Sichtbaren selber zu entfalten, stellt diese Farbendimension nicht einen Ort dar, an dem sich der Gegenstand befände, sondern erstrahlt auf eine Weise, daß erkennbar wird, wie die Dinge vor unseren Augen zu Dingen werden: So ist die Bewegung des Blicks in der Malerei Delaunays dasjenige Element, das gleichzeitig die Figur und die Tiefe erschafft. Merleau-Ponty beruft sich hier auf Hinweise von Apollinaire, Michaux und Klee, die belegen, daß diese Dichter und Künstler sich die Bedeutung der optischen Bewegung in der Malerei begreiflich machen wollten, und gibt dann seinerseits ein emblematisches Beispiel dafür an, wie er selber diese Farbendimension begreift, indem er von einem Schwimmbecken spricht, wo das Sonnenlicht erstrahlt und Reflexe wirft. Ins Zentrum seines Essays über die Malerei stellt er also eine Beschreibung, die transformierend diejenige wiederaufgreift, mit der er in der Phänomenologie der Wahrnehmung die Korrespondenzen zwischen den verschiedenen Sinnen verdeutlichte, als er darauf hinwies, daß die Empfindungen unserer Hand im Windzug oder strömenden Wasser eine dritte taktile Dimension darstellen. Die Transparenz oder die Unsichtbarkeit war vereinbar mit einer durch den Tastsinn erfaßten vollen Existenz. Ebenso wird hier - die Überlegungen über den Umstand fortführend, daß das Meer Renoir jenen Typus des flüssigen Elements liefern konnte, den er auf der Leinwand wiedergeben wollte - die leuchtende Transparenz des Wassers im Schwimmbecken als Tiefe wahrgenommen und läßt sich vermittels der Wirkungen wiedergeben, die sie rings umher zeitigt: durch die Reflexe, das Streifenmuster der Fliesen und das tanzende Licht auf den Bäumen nebenan. Das selber unsichtbare Wasser wird wahrnehmbar über diese gleichsam innerlich belebenden Verzerrungen, die es an den Gegenständen bewirkt. Und »dieses Ausstrahlen des Sichtbaren ist es, was der Maler unter den Namen "Tiefe", "Raum", "Farbe" sucht«39. Dieses Beispiel, das Merleau-Ponty als ein Emblem für das reine Ausstrahlen des Sichtbaren unter die Feder kommt, deutet unmittelbar voraus auf die Arbeit von Hockney, der sich - übrigens aus den gleichen Motiven, die der Philosoph nennt - mehrmals dieses Sujets des Schwimmbeckens angenommen hat4o . Die Malerei, die eher die Präsenz eines Elements als die Form eines Dinges evozieren will, muß sich von den Umrißlinien lösen. So schrieb bereits Cezanne: »Zeichnen Sie ruhig, aber die eigentliche Hülle bilden die Lichtreflexe«41. Merleau-Ponty (FN 15), S. 71, dt. S. 35. Das Schwimmbecken mit seinen besonderen Lichteffekten kommt bereits bei Sartre vor, vgl. (FN 7) S.236, dt. S.348, dort aber als Beispiel für das, was Mer1eauPonty das Intersensorische nennt. 39 40

Merleau-Ponty - Die Farbe und die Malerei

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Als ein »Mittel, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde«, erlaubt es das Denken der Malerei, eine Ontologie des Sehens zu formulieren. »Die Malerei ist niemals ganz und gar außerhalb der Zeit, weil sie sich immer inkarniert«42. Die Deformationen, die der Maler im Gegensatz zur Photographie an der rein mechanischen Bewegung der Körper vornimmt, haben deshalb, wie schon Rodin behauptet hat, ihr gutes Recht. Durch sie wird ein, wie Cezanne sagte, »Weltmoment« in der ihm eigenen Bewegung erfaßt. Als das, was mir am fernsten und fremdesten ist und mir doch zugleich emblematisch meinen eigenen sichtbaren Leib inmitten der Welt der Dinge vergegenwärtigt, unterbricht das, was ich sehe, jeden Kontakt zu mir selbst. Verloren in den Erscheinungen des Seins, ist mir mein Sein-zur-Welt nur über eine »Rückfrage« zugänglich, nur auf dem Umweg über diese radikale Abwesenheit, die notwendig das Sehen begleitet. In dem Moment, wo mein Blick in die Welt geht - und obwohl er dies nur kann, weil mein Leib in ihr situiert ist -, höre ich auf, das Zentrum aller Dinge zu sein, um zum bedeutungslosen Zeugen eines reinen Schauspiels zu werden, in das das ganze Sein sich zusammengezogen hat. Das Auge oder das Bild sind jenes Fenster, von dem sowohl in der platonischen Tradition wie bei Fink die Rede ist43 . Merleau-Ponty greift hier Themen auf, die von Klee und Kandinsky explizit entwickelt wurden. Diese haben vielfältige Mittel erarbeitet, um das menschliche Auge frei von aller dinglichen Repräsentation anzusprechen, und ihr ganzes Denken über die Formen und Farben kreist um eine »Ähnlichkeit«, die ihren Ursprung in der doppelten Fähigkeit des Auges hat, Details der Farbeindrücke entweder herauszuheben oder zu unterdrücken. Das Auge des Malers liefert dem des Betrachters Umrisse und Motive, in denen eine reine Modulation der Gestalten des Seins Ausdruck gewinnt, und das Licht ist hierbei nicht mehr bloß das Medium optischer Wahrnehmungen, sondern das eigentliche Wesen der betrachteten Dinge. Es gibt kein Jenseits des Sichtbaren mehr. Sichtbar machen heißt für Klee, in der Sichtbarkeit eine »Farbendimension« im Sinne von Merleau-Ponty auftauchen zu lassen, eine Physiognomie des Seins. In den Überlegungen der Maler zur Perspektive geht es dann um die Frage, wie das Auge im Sichtbaren verankert ist. Mit Bezug auf Delaunay und Klee, die die Unterschiede zwischen dem wahrgenommenen Schienenverlauf und seiner normalen geometrischen Projektion untersucht haben, erinnert Merleau-Ponty an die Weise, wie sich die Parallelität der Bahngleise mit ihrem optischen Zusammenlaufen verbindet: diese geheimnisvolle Verbindung bewirkt, daß sich die Welt scheinbar in Übereinstimmung mit meinem 41 E. Bernard u. a.(Hrsg.), Conversations avec Cezanne, Paris 1978, S.46, dt. M. Doran (Hrsg.), Gespräche mit Cezanne, Zürich 1982. 42 Merleau-Ponty (FN 15), S. 81, dt. S. 39. 43 E. Fink, Vergegenwärtigung und Bild, § 34, in: Studien zur Phänomenologie, Den Haag 1966.

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Gesichtspunkt organisiert und dabei doch in sich selbst bleibt, was sie ist. Die Schienen, die für mein Auge verschmelzen, bleiben dort hinten gleich weit voneinander entfernt, so als paßte sich die Welt meinem Gesichtspunkt an, um gleichwohl das zu bleiben, was sie ohne mich ist: Der Blick, den ich auf sie richte, hinterläßt in ihr keine Spuren ... Weit davon entfernt, daß mir die Perspektive das Gefühl gibt, die Welt sei auf meinen Blick bezogen, lehrt sie mich umgekehrt, daß mein Blick gänzlich dem Raum angehört, der allen Zusammenhang trägt, auch den der Zeit, die ebenfalls ein Beieinandersein ist. Dubuffet schreibt, daß ihm nach der Arbeit an dem Hourloupe-Zyklus fraglich geworden sei, »ob unsere gewöhnlichen Begriffe von "voll" und "leer", von "Sein" oder "Nichtsein" überhaupt ein Fundament in der Sache haben«, und äußert »den Wunsch, dem Denken in jener Sprache Ausdruck zu geben, die die Materie spricht«. Damit steht er vor einer Gefahr, der auch MerleauPontys Gedanken zur Malerei ausgesetzt sind. War letzterer vom reinen Licht fasziniert, so erliegt Dubuffet dem Zauber unbearbeiteter Erdschichten: »Um 1959 wollte ich mit der Spitzhacke Stücke davon herausbrechen und sie mir gerahmt an die Wand hängen. Doch der Gedanke machte mir angst, denn es bedeutete, auf alles Schöpferische zu verzichten, um stattdessen wie der tibetische Mönch in einer ekstatischen Schau der natürlichen Welt zu versinken«44. Die Betrachtungen des Philosophen zur Verflechtung und zum Chiasmus nehmen die des Malers auf, um die »Dimensionalität« des Sichtbaren zu studieren, deren Emblem die Macht der Farben ist. Für das Beispiel Rot gibt Merleau-Ponty zwei Richtungen möglicher Transpositionen an, einerseits zwischen verschiedenen Farben, wobei er auf Claudel verweist, der schreibt, daß ein gewisses Blau des Meeres so blau sei, daß nur noch das Blut röter sei; in diesem Zusammenhang verweist er auch auf »die Schwärze der Milch«, von der Valery spricht. Andererseits verweist jedes Rot auf andere Rottöne, auf die von Tulpen, Bischofsgewändern oder Fahnen, oder auch auf das Rot einer Erinnerung oder eines Traums4s . Diese Reversibilitäten oder Dezentrierungen erreichen einen Grad, wo die Farbendimension der symbolischen Artikulation einer Sprache denkbar nahe kommt, zu der mein Leib in seiner Umgebung46 in einer Beziehung primordialer Sichtbarkeit steht. Dies also ist der Beitrag der Malerei zu einem Denken, das den Leib wieder in die Welt einführt. »Jedes visuelle Etwas fungiert trotz seiner Individualität immer auch als Dimension, weil es sich als Ergebnis einer Entfaltung des Seins darbietet«47. Dubuffet (FN 27), S.15. Diese Art der Überschneidung erwähnt Bacon ausdrücklich in seinen Gesprächen mit Sylvester, wo er von dem Papstgewand bei Velasquez spricht, das ihm als Inspirationsquelle diente. 46 Merleau-Ponty (FN 30), S.174, dt. S.174. 47 Merleau-Ponty (FN 15), S. 85, dt. S. 40. 44 45

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Diese »Dimension« ist die eines »Maßes«, das eine Beziehung zu dem herstellt, was radikal grenzenlos und endlos entfernt zu sein scheint, ganz einfach weil jede gemalte Naturlandschaft, ja jede gemalte Räumlichkeit überhaupt, etwas Abwesendes in sich birgt. Die Farbe fasziniert Merleau-Ponty, weil sie untrennbar mit den Gegenständen verbunden und zugleich der Nimbus ist, in dem eine unendliche Ähnlichkeit sie zusammenfließen läßt. Die Verschmelzung des Auges mit dem Sichtbaren führt zu einer Ununterscheidbarkeit, in der sich das Wunder ereignen kann, das Michaux 1956 in Miserable miracle beschrieben hat: Das Meskalin löst den Gegensatz zwischen der Farbe der Gegenstände und der des Lichts auf, indem es der Wahrnehmug die Rhythmen einer fremden Substanz aufzwingt. Das dimensionale Denken hat die formale Unterscheidung zwischen der Malerei und der Musik hinfällig gemacht, die zu Beginn von Das Auge und der Geist noch in Kraft war. Die musikalische Metaphorik ist unvermeidbar, will man diese stets mögliche Verwandlung von Farbe in Licht beschreiben. Man fühlt sich hier an Matisse erinnert, der ebenfalls die Farben mit Tönen verglich, aber auch an Klee, dessen Arbeit Merleau-Ponty überraschend definiert, indem er eines seiner Husserlschen Lieblingsmotive paraphrasiert: »Es ist also das stumme Sein, das so zur Aussprache seines eigenen Sinns gebracht wird« - Echo eines Satzes aus den Cartesianischen Meditationen, der bereits im Vorwort der Phänomenologie der Wahrnehmung zitiert worden ist. In diesem Sinne macht er aus den spezifischen Merkmalen der Malerei, aus »Tiefe, Farbe, Form, Linie, Bewegung, Umriß und Physiognomie«, »Verzweignungen des Seins«, die noch in den scheinbar entgegengesetzt esten Stilen ihrer eigenen Entwicklung folgen. Indem er seine eigene frühere Kennzeichnung der Malerei als einer »zurückgebliebenen Sprache«48 zurücknimmt, macht Merleau-Ponty das Schweigen der Malerei jetzt zu deren exemplarischer Dimension, da uns diese Stummheit die Zerbrechlichkeit allen Denkens vor Augen führt, das nie einfach fertig da, sondern immer neu zu erschaffen ist. . . Die Malerei eröffnet so dem Blick eine Zukunft, und das aus demselben Grund, der aus ihr zunächst ein Delirium machte, wo sich der Blick unter all den unbenennbaren Dingen verlor. Die unendlichen Variationsmöglichkeiten im Sichtbaren statten dieses Schweigen mit den grundlegenden Eigenschaften aus, die es schließlich in Musik, ja in Sprache verwandeln, man denke nur an Delaunay und Rothko. Durch die Spannung, in der Merleau-Ponty seine Überlegungen zur Farbe hält, wenn er versucht, in den reinen Lichtphänomenen der Malerei die darin verborgenen Kräfte aufzudecken, gelingt es ihm, die Verbindung zwischen der Sprache und dem Sichtbaren in aller Strenge zu analysieren. Indem er in einem Text nachzeichnen will, wie sich die Bedeutung im Sichtbaren allmählich organisiert, rückt Merleau-Ponty, der sich hier bemüht, der höchsten Forderung des Denkens gerecht zu werden, der Geburt des Sinns aus dem Kör48

Merleau-Ponty (FN 15), S. 91, dt. S. 42.

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perlichen, dem Fleisch, äußerst nahe - ein, wie er selbst sagt, unabschließbares Unternehmen, das aber immerhin den Versuch wagt, dasjenige klar zu formulieren, was in dem besessenen und leidenschaftlichen, von den Sinnen geleiteten Tun der Maler im Zustand des Potentiellen verharrt.

Ästhetik und Zeit Wilhelm Ostwald über Kunst 1

Von Uwe Niedersen, Halle/Saale

I. An anderer Stelle wurden von uns einige Ausführungen zum wissenschaftlichen Lebenswerk von Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) vorgenommen. 2 Ostwaids Überlegungen über Kunst, Kunstmittel, Kunstwerk bzw. über Ästhetik 3 sowie der nachfolgend zu edierende Text zu seiner Schönheitslehre, die er Kalik nennt, machen es erforderlich, einige Grundpositionen des Wissenschaftlers auf dem genannten Gebiet zu umreißen. Ostwald besitzt die Grundüberzeugung, daß die Wissenschaft mit ihren typischen Inhalten, Mitteln und Methoden alle Zusammenhänge einer exakten Bearbeitung zuzuführen vermag, "und daß man daher das Entdecken ebenso lehren und lernen kann wie das Radeln".4 Der Glaube an die Universalität des klassisch-deterministischen Erkenntnisideals und sein damit verbundener Lebens- und Wissenschaftsoptimismus basieren auf dem von Leibniz (1646 - 1716) formulierten allgemeinen Stetigkeitsgesetz. Dieses Kontinuumsprinzip hat den strengen Determinismus im Gefolge. Ostwald ist ein konsequenter Anhänger der klassisch-deterministischen Erkenntnis. Er kann auf dem Gebiet des Determinismus, unter Einbeziehung des Parameters "Zeit" vom phänomenologischen Standort aus, einige wichtige Aussagen über den Grund von Zusammenhängen treffen, die einen beachtlichen Informationswert besitzen. Damit leistet er auch ein Beitrag zu den Aussagestrukturen und 1 Der Aufsatz ist mit Blick auf die nachfolgend durch uns vorgenommene Edition: Kalik oder Schönheitslehre von Wilhelm Ostwald, abgefaßt worden. 2 U. Niedersen, Energie, Glück und Autopoiese, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 2 (1991) S. 245ff.; ders., Leben, Wissenschaft, Klassifikation, in: dto. 3 (1992) S. 279ff. 3 Kunst wird im allgemeinen als eine spezifische (ikonische) Form der Betätigung angesehen, um Schönheit zu stiften oder angenehme Gefühle zu erzeugen. Ästhetik wiederum ist der umfassendere Begriff, der neben Kunstbetätigungen auch theoretische, im besonderen philosophische und soziale Inhalte und Zusammenhänge mit aufgenommen hat. Unsere Ausführungen machen es nicht erforderlich, ausdrücklich zwischen Kunst und Ästhetik zu unterscheiden. 4 W. Ostwald, Lebenslinien. Dritter Teil, Berlin 1927, S. 382.

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zur Systematik unterschiedlicher Formen der Bedingtheit und Bestimmtheit der Dinge und Erscheinungen. Zum besseren Verständnis der folgenden Inhalte über den Grund von Zusammenhängen soll noch auf eine Klassifikation der Wissenschaften nach Ostwald aufmerksam gemacht werden, die er aufgrund der räumlich-formalen Anordnung der einzuteilenden Disziplinen "Pyramide der Wissenschaften" nennt. 5 Er fügt stufen artig von unten nach oben Ordnungswissenschaften (Ordnung, Zahl, Größe, Raum, Zeit); Arbeitswissenschaften (Physik, Chemie); Lebenswissenschaften (Physiologie; Psychologie) und Kulturwissenschaften (Soziologie, Ethik, Kunst, Geniologie) in ein Schema. Jede der Wissenschaftsstufen bildet das Erklärungsfundament für die Zusammenhänge der nachfolgenden Ebenen. Die jeweiligen Wissenschaften auf einer Ebene, lassen sich auf die darunter angeordneten Disziplinen zurückführen, wobei die einzelnen Stufen bzw. die konkreten Wissenschaftszweige für sich gesehen dennoch Emergenz zeigen. Ostwaids Aussagen über den Grund von Zusammenhängen (Determinationsformen) lauten: "In den Ordnungswissenschaften beruhen die Zusammenhänge auf Grund und Folge. Sie sind im wesentlichen unzeitlich. In den Arbeitswissenschaften beruhen sie auf Ursache und Wirkung. Sie sind wesentlich zeitlich. In den Lebenswissenschaften beruhen sie auf Zweck und Mittel. Sie sind insofern überzeitlich, als bei ihnen die Zukunft auf die Gegenwart zurückwirkt".6 Für die Kulturwissenschaften kann Ostwald keine solche formale Aussagestruktur entwerfen. Das ist eine Zeichen für die Komplexität in diesem Bereich, welche auch heute längst nicht erklärt erscheint. Die Zurückführung von "Kultur" auf die Lebens-, Arbeits- und Ordnungswissenschaften hat der Gelehrte hingegen bearbeitet. Die hier vorgeschlagenen Determinationsformen dienen uns dazu, den Gedankenreichtum Ostwaids über Kunst und Ästhetik aufzunehmen und 5 W. Ostwald, Die Pyramide der Wissenschaften, Stuttgart und Berlin 1929. Siehe auch FN 2; beide Aufsätze enthalten zusätzliche Informationen aus dem Ostwald Nachlaß, die in dem o. g. Buch nicht berücksichtigt sind. 6 Es handelt sich um einen von Ostwald (mit Kopierstift} beschriebenen Zettel, der mit 5.2.20 datiert ist, und dem von fremder Hand die Uberschrift: (Beziehungen/ Schopenhauer), gegeben wurde. Die Notiz endet mit der Bemerkung: "Zusammenhang mit Schopenhauers vierfacher Wurzel. Bei ihm fehlt die letzte systematische Klarheit." Ostwald Nachlaß ( ohne Signatur), Akademie-Archiv, Berlin. Vgl. auch A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, in: Sämtliche Werke, Bd. III (Hg. W. Frhr. v. Löhneysen).

Ästhetik und Zeit

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systematisch darzustellen. Wir wollen nacheinander seine Auffassung von Kunst im Zusammenhang mit den Lebens-, den Ordnungs- und den Arbeitswissenschaften vorstellen. 11. Ästhetik und Leben

Ein Blick auf das Schema der Wissenschaftspyramide zeigt, daß die Kulturwissenschaften, Ostwald rechnet auch die Kunst dazu, durch die darunter angeordneten Lebenswissenschaften Erklärung finden sollen. Um diesem Sachverhalt nachzugehen, ist es erforderlich zu fragen, wie er "Leben" definiert: Arbeitswissenschaftlich (energetisch) gesehen sind Lebewesen nach Ostwald Fließgleichgewichte, die zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionen einen fortlaufend verwertbaren Stoff- und Energiefluß benötigen. Anders als nichtlebende Fließstrukturen sind Lebewesen darüber hinaus in der Lage, sich verwertbare Energie aus der Umgebung aktiv zu beschaffen, um ihre aktuellen und auch zukünftigen Lebensfunktionen abzusichern. Der Zweck dabei ist immer die Erhaltung des Systems. Die Mittel der Erhaltung sind konkrete biochemisch-energetische Selbstorganisationsprozesse, welche system-reproduzierend und auch -reparierend verlaufen. Mit Hilfe des Metabolismus wird die Systemautonomie gegenüber der Umwelt aktiv vollzogen. Die Erhaltung der Struktur durch den Prozeß der Selbstorganisation ist ein wesentliches Merkmal für das System "Leben". Hinzu kommt außerdem, daß "Leben" gegenüber arbeitswissenschaftlichen Zusammenhängen die spezifische Eigenschaft der Überzeitlichkeit besitzt, d. h. über das Vermögen, eine relative "Voraussicht" selbstorganisieren zu können, ist der Bestand des Systems auch in der Zukunft wahrscheinlich.?

7 In der Skizze zu dem Vortrag vom 8.4.1930, überschrieben mit: Biologische Hauptsätze. Überheilung, ein biologisches Urphänomen, geht Ostwald auf den Unterschied zwischen anorganischer und biotischer Bewegungsform (stich punkt artig) ein: "Energetik hat die beiden Hauptsätze und ist damit grundsätzlich geistig bewältigt. Biologie wartet noch darauf. Jedes biologische Einzelgesetz ist ein Teil jenes allgemeinen Lebensgesetzes, nebst den Besonderheiten, welche den dort vorliegenden Fall kennzeichnen. Anorganischer Ruhezustand. Erhaltung der Energie, auch für jede einzelne Energie gültig. Kein Vorgang, daher 2. Hauptsatz gegenstandslos. Keine Zeit. Anorganisches Geschehen. Intensitätsunterschiede. Sinn des Ausgleiches gegeben; Geschwindigkeit noch unbestimmt, Gesetz hierüber unbekannt. Was geschieht, durch die Vergangenheit bis Gegenwart bestimmt, Zeit - 00 bis 0 = Gegenwart. Leben. Laufendes Gleichgewicht. Geschehen durch die Zukunft bestimmt. Eigenschaften des laufenden Gleichgewichts: repariert sich selbst bis zum früheren Zustande. Ausgezeichneter Fall. d. h. wird durch jede Abweichung zum Dauerzustande zurückgetrieben, daher Gleichgewicht. ... ". Sign.: Ostwald Nachlaß, Nr.5030, Akademie-Archiv, Berlin.

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Angemerkt sei, daß die heutige Autopoiese-Konzeption natürlicherweise die Erhaltung des Systems in das Zentrum ihrer Begrifflichkeit stellt.8 Ostwald kommt das Verdienst zu, schon um 1900 mit Untersuchungen über komplexe Zusammenhänge begonnen zu haben, die gegenwärtig Gegenstand der verschiedenen Richtungen der Selbstorganisationsforschung sind. Die zwingende Logik der Wissenschaftspyramide besagt nun weiter, daß den sozialen Systemen, d. h. die der Kulturwissenschaften, genau die Merkmale, die für "Leben" wesentlich sind, als Erklärungsmuster zu dienen haben. Dieses Verfahren wendet Ostwald an. Menschen bzw. Menschengruppen sind solche Wesen, die fortlaufend eine Eigenständigkeit gegenüber der Umwelt vollziehen und dabei gleichzeitig die Zukunft für sich gestalten: "Der Mensch regelt (Hervorhebung - U. N.) sein Verhältnis zu seiner Umwelt nicht durch Anpassung seines Körpers an diese, sondern er vermag umgekehrt seine Umgebung in weitgehendster Weise derart zu beeinflussen, daß sie die von ihm gewünschte Beschaffenheit annimmt. (Apparate sichern) mir eine Umgebung, die in ganz weitem Maße davon unabhängig bleibt, wie eben die Natur draußen, wo ich sie nicht beeinflußt habe, beschaffen ist."9 Es ist zu erkennen, daß Ostwald die Zweck-Mittel Beziehung, die die lebenswissenschaftliche Pyramidenstufe kennzeichnet, konsequent auf den Bereich des Sozialen überträgt: Der Zweck der Aktivitäten von Menschen liegt in ihrer Selbsterhaltung begründet (finaler Aspekt). Die Mittel für die Erhaltung der Systeme im Bereich "Kultur" sind (allgemein gesprochen) auch hier die Annahme von der durchgehenden Determination aller Zusammenhänge, wissenschaftlich durch Begriffe und Gesetzesaussagen zum Ausdruck gebracht und in Instrumente der Prognose und Planung umgesetzt, um die Zukunft zu gestalten. So sagt er aus seiner Sicht prägnant: "Kultur ist Voraussicht" und bestimmt damit, daß es vordringliche Aufgabe ist, die Gesetze im Kulturbereich, im besonderen in der Kunst aufzufinden. Über die Verwissenschaftlichung erreicht der Kultur- bzw. Kunstbereich Momente der Überzeitlichkeit, denn die Wissenschaft ist "das Lebensmittel im eigentlichsten Sinne. "10 Die AufgabensteIlung im Bereich "Kunst" ist somit umrissen: Eine Kunstlehre, eine wissenschaftliche Ästhetik ist zu schaffen. Kunst wird damit ein Mittel, menschlichen Interessen zu genügen und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern bzw. geplant zu steigern. Kunst selbst wird zum "Lebensmittel".

8 Z.B. H. Maturana und F. Varela, Der Baum der Erkenntnis, 3. Aufl., Hamburg 1987. 9 W. Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909, S. 67. 10 Wissenschaft und Leben (Rundfunkvortrag), Sign.: Ostwald Nachlaß, Nr. 5037, Akademie-Archiv, Berlin.

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Allerdings merkt Ostwald präzisierend an, daß zwar Kunst ein Hauptstück der Kultur ist, doch nicht von existentieller, vitaler Bedeutung für das menschliche Dasein. Kunst stellt keinen primären Erhaltungsfaktor wie etwa die Ernährung und die Fortpflanzung dar. Sie ist aus dieser Sicht keine primär notwendige Lebensbedingung, doch zureichender Grund, um auf die Lebensweise der Menschen bestimmenden Einfluß zu nehmen. Ostwald prophezeit beispielsweise, daß durch die Fortschritte der Technik die Arbeitszeit immer weniger, d. h. das Volumen an freier Zeit zunehmen und "dadurch eine vollständige Umwandlung der sozialen Zustände hervorgerufen werde. "11 Zunehmend mehr freie Zeit ist aber als ein Störfaktor in bezug auf ein traditionell funktionierendes Sozialsystem anzusehen. Aufgabe der Kunst ist es, so seine Meinung, dem freien Zeitvolumen durch die Kunstbetätigung, Inhalt zu geben, obgleich die Erkenntnis von der sozialen Bedeutung der Kunst kaum verbreitet und der Künstler selbst sich dieses Moments seiner Tätigkeit kaum bewußt ist. Kunst, die erziehungs- und bildungswirksam sein soll, muß wissenschaftlich aufgearbeitet werden, so seine Argumentation.!2 III. Ästhetik und die ordnungswissenschaftliche Bestimmung der Überzeitlichkeit

So wie Ostwald jede Wissenschaftsdisziplin auch mathetisch, also ordnungswissenschaftlich hinsichtlich ihrer allgemeinsten Struktur wie "Einteilung", "zeitliche Verhältnisse", "Begriffsdefinition " usw. untersucht und einer Systematik zuführt, so wird analog auch die Kunst erforscht und entsprechend analysiert. 1. Quellen der Kunst!3 Er verweist auf zwei Quellen der Kunst: a) Die ursprüngliche Art der Kunstbetätigung erscheint in der rhythmischen Formung wie der Körperbewegung (Tanz, Spiel), Stimm- und Lautbetätigung (Gesang, Musik), Form- und Farbgebung (Schmuck, Ornamente) sowie Wort- und Gedankenbildung (Sprache, Poesie). Rhythmus bedeutet Wiederholung und führt schließlich zur gesicherten Erfahrung, zum Begriff 11 W. Ostwald, Die Zukunft der Kunst, Sign.: Ostwald Nachlaß, Nr. 5056, Blatt 4, Akademie-Archiv, Berlin . !2 FN 11, Blatt 5 und 6. 13 "Die Schönheit des Gesetzes" lautet das Kapitel in den Lebenslinien (FN 4), in weIchem er ausschließlich die gesetzmäßige Kunstbetätigung propagiert. Das Kapitel "Die Farbenlehre" wurde diesem noch vorangestellt.

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oder zum Gesetz. Die sich wiederholenden Prozesse sind es, die ein System erhalten, und ein rhythmisches Auf und Ab kann äußere Störungen wirksam parieren. Rhythmik ist erhaltend und wird als angenehm empfunden. Diese formale Kunstbetätigung ist eine der Quellen der Kunst. Die Aufnahme ihrer Resultate erbringt unmittelbar willkommene Gefühle. b) Die andere Quelle der Kunst liegt in der Herstellung von Erinnerungen und Bildern. Sie werden durch spontan ins Aufmerksamkeitsfeld rückende Dinge und Erscheinungen veranlaßt, und sie sprechen die Gefühlswelt der Person mittelbar an. So wurden von den Menschen der Frühzeit Jagdtiere, Kampfszenen, die Lust aufgezeichnet, gemeißelt, geformt, durch Bewegungen symbolisiert. Der Wert des jeweiligen Werks besteht in der gedanklichen Auslösung, die zu erwünschten willkommenen Erinnerungen und Einstellungen führen. Die Kunstbetätigung ist hier sachlich (inhaltlich, gegenständlich) und kennzeichnet die mittelbare Entwicklung von Gefühlen durch Assoziationen (Gedächtnisprozesse ) . Beide Quellen der Kunst, die prinzipiell nicht voneinander zu trennen sind, erzeugen willkommene Gefühle, die dem menschlichen Wohlbefinden dienlich sind.

2. Formale Kunst Die Einteilung der Kunst nach Form und Inhalt (Gegenstand) veranlaßt Ostwald, Wort- und Tonkunst berücksichtigend, zu den Aussagen, daß in der Wortkunst die Gefühlserlebnisse im Vordergrund stehen. Die Form beschränkt sich im wesentlichen auf Stilfragen und Aufbau. In der Tonkunst liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt. Hier dominiert die formale Seite. Die Lichtkunst, eine Kombination zwischen Farbe und Form, erscheint ihm am "unkultiviertesten". Ostwaids Ehrgeiz entwickelt sich in die Richtung, die Lichtkunst auf die Stufe der Tonkunst, deren formale Seite durch Regeln besonders gut gestaltbar erscheint, zu heben. Tatsächlich fand er nach mühevoller wissenschaftlicher Laborarbeit die Gesetze der Farb- und Formharmonie, eine Leistung, die er, dem man für eine andere Leistung immerhin den Nobelpreis für Chemie verliehen hatte, als seine wertvollste ansieht. Das Gesetz bewirkt Harmonie, also Schönheit. Das ist die generelle Aussage, die er aus seinen Farbforschungen folgert. Von nun an ist es durch die Anwendung eines Regelwerks jedermann möglich, Farbharmonien und damit Schönheit zu planen. Die wissenschaftliche Unberührtheit der Lichtkunst wird durch Ostwaids Farbenlehre aufgehoben. Ein Bild kann jetzt "in Partitur gesetzt" werden. Ostwald meint aber wiederum, daß ein solches Bild, obgleich es durch die normative Beherrschung von Stoff und Form anmutig und schön erscheint, doch noch kein Kunstwerk sei.

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Er ist jedoch davon überzeugt, daß ein Maler, der die Gesetze der Farb- und Formlehre berücksichtigt, und sie seinem einmaligen Vermögen, seiner Meisterschaft und Individualität zugrunde legt, Kunstwerke von beeindruckender Schönheit entstehen lassen kann. Die gesetzlich abgeklärte formale Seite und die besonderen Eigenschaften des Künstlers wie sein starkes Gefühl, die Fähigkeit neue Wege zu gehen, einen Reichtum innerer Erlebnisse zu besitzen usw. einfach hinzu addiert , müssen objektiv zu einem Opus führen, der in einer bleibenden Einzigartigkeit gipfelt. Die Gedankenarbeit OstwaIds zur Erschaffung einer Schönheitslehre beruhen einzig und allein auf seiner Grundannahme, daß dem formalen, dem gesetzmäßig erfaßbaren Moment in der Kunst die Priorität gehört. Das Formale muß der inhaltlichen Seite der Kunst bzw. des Kunstwerks unterlegt werden. Ostwald vertritt den Standpunkt, daß ein Kunstwerk von geplanter Schönheit (in seinem Sinne), eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage zuläßt, warum gen au dieses Werk beim Betrachter willkommene Gefühle erzeugt. Die Antwort: weil Kunstbetätigung auf Wiederholung und damit auf Systemerhaltung zurückgeführt werden kann und genau diese willkommen ist. Der Gebrauch der strukturellen Logik der Wissenschaftspyramide wird hier wiederum ersichtlich. Seine Definition "Kunst" fällt entsprechend aus: "Kunst ist die Kunst, auf künstlichem Wege willkommene Gefühle zu erzeugen. "14 "Kunst" am Anfang des Satzes stehend bedeutet Kunst im engeren Sinne, d. h. die "schönen" Künste sind gemeint. "Kunst" bei der Wiederholung zeigt einen eher weiteren Sinn an, etwa die Kunst der Menschenbehandlung, Politik als Kunst, ärztliche Kunst usw. Hier geht es um ein Vermögen, um eine Fertigkeit. So kann auch formuliert werden, "Kunst ist die Fertigkeit, ... ". Das Wort "künstlich" schließlich will sagen, daß für die Kunst die mittelbare Erregung der willkommenen Gefühle (die unmittelbare gehört der Natur an) wesentlich ist. Willkommene Gefühle können angenehm aber auch schmerzlich, häßlich, negativ sein.15

14 W. Ostwald, Meine Kunst - Deine Kunst, in: Rec1ams Universum (43) Nr. 4, Leipzig 1926, S. 94. 15 Der Mensch besitzt die Eigenschaft, daß bei anhaltender Betätigung einer Gefühlsart sich eine seelische Gegenwirkung aufbaut und ein anderer Zustand ersehnt wird, welcher wiederum aus neutraler Sicht durchaus negativ sein kann. Ostwald merkt an: "Reine, der sich auf diese (frivolen - U. N.) Dinge sehr gut verstand, läßt seinen Tannhäuser singen, nachdem er allzu lange im Venusberg geschwelgt hatte: Vom vielen Kosen und Küssen Ist meine Seele geworden krank; Ich schmachte nach Bitternissen." In: Siehe FN 14.

17 Selbstorganisation. Bd. 4

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Dem Determinismusgedanken in der Lichtkunst konsequent nachgehend läßt es Ostwald möglich erscheinen, "Lichtsymphonien" zu komponieren. Doch fehlt, wie er festelIen muß, im Gegensatz zur Tonkunst, das Element "Zeit". Für eine Lichtkunst der Zukunft sieht er die Aufgabe, die Harmonie zwischen Farbe und Form in der zeitlichen Veränderung zu entdecken. Heute sind es die durch Rechner auf der Grundlage der nichtlinearen Dynamik erzeugten fraktalen Strukturen; das sind Farbgraphiken, deren Ränder eine "gebrochene Dimension" aufweisen, die möglicherweise als Vorstufen der von Ostwald erwünschten zeitlichen Lichtkunst gedacht werden könnten. 16 Ostwaids Überlegungen zu Form und Inhalt eines Kunstwerks lassen auch eine Bemerkung über Kunst und Fraktale zu: Fraktale sind harmonisch. Sie sind die Folge von Regelmäßigkeit. Sie sind schön. Die Aussage, das Gesetz bewirkt Schönheit, tritt in einem konkreten Fall in Erscheinung. Das Schönheitsempfinden beim Anblick von Fraktalen entstammt der Selbstähnlichkeit ihrer Struktur, d. h. der Wiederholung immer der gleichen Form-Farbe-Komposition bis in den Mikrobereich. Die inhaltliche Seite hierbei mit einbeziehend, ist zu konstatieren, daß dem heutigen modernen Menschen Gebilde mit fraktaler Dimension gefühlsmäßig willkommener zu sein scheinen, als die mit klassischer raumzeitlicher Struktur. Fraktale sind aber keine Kunstwerke. Form und Inhalt dieser Strukturen ergeben sich aus der Einheit eines gesetzlich festgeschriebenen Verhältnisses zwischen Ordnung und Chaos (deterministisches Chaos). Weil der Natur Unordnung und Regelmäßigkeit immanent sind, zeigt auch sie die fraktale Dimension. Die Analogie der durch den Rechner nach einer Vorschrift produzierten und der in der Natur so "gewachsenen" Fraktalstruktur, steigert offenbar das Schönheitsempfinden. 17 Die Vorschrift, aus der Fraktale folgen, bringt aber keine menschlichen Empfindungen im Ästhetikbereich zum Ausdruck. Es ist allerdings möglich, sich von der Schönheit der Fraktale bzw. von den Strukturen, die Ordnung und Chaos vereinen, zu "Höherem" inspirieren zu lassen und zwar so, daß hernach ein besonderes Bild, ein Opus (ideell oder materiell) entsteht. Ein Kunstwerk ist ein Ding, 16 W. Ostwald, Kommende Lichtkunst, in: Neue Freie Presse (Beilage) Wien; 18.9.1927. 17 Von den Farbkompositionen ausgehend, die er gemäß der Vorschrift seiner Farbenlehre erhält, ist er der Meinung, daß die Farbzusammenstellungen in der Natur nicht den Grad jener Harmoniegesetze erreichen und somit unharmonisch sind. "Niemand zweifelt, daß das Wetter ganz und gar naturgesetzlich bestimmt ist .... Aber das Zusammenwirken der mannigfaltigen beteiligten Naturgesetze ist auch dem heutigen Forscher noch so wenig genau bekannt, daß das Voraussagen des kommenden Wetters nur unvollkommen und auf kurze Zeit gelingt. ... Ebenso werden wir von den FarbzusammensteIlungen der Natur zwar allgemein sagen, daß sie irgendwie gesetzlich bedingt sind, wir werden aber gleichzeitig betonen, daß in den meisten Fällen die obwaltenden Gesetze so verwickelt und undurchsichtig sich betätigen, daß wir sie weder verstandesmäßig noch gefühlsmäßig erkennen können. In solchen Fällen ist die Wirkung von der der reinen Ungesetzlichkeit nicht verschieden, d. h. die Naturfarben sind als dann unharmonisch." W. Ostwald, Natur und Kunst, in: Die Farbe VII, Nr. 36, Leipzig 1927.

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das über die Ebene der Harmoniegesetze hinaus (selbst wenn sie von fraktaler Dimension sind) Gefühlserlebnisse und Singularitäten beim Schöpfungsakt durch den Künstler einbezogen sieht und somit Einmaligkeit erreicht. Ostwald freundet sich zeitlebens nicht mit der in den zwanziger Jahren verbreiteten Überschreitung der Autonomie der Kunst an, d. h. mit einer die Gesetze von Stoff und Form bewußt negierenden Stilrichtung. Eine solche Kunstausstellung besuchend läßt bei ihm den Eindruck der Uniformität der gerade nicht formal sein wollenden Kunstrichtung aufkommen. t8 Der Gedanke jenes anderen Kunststils, nämlich daß der inhaltlichen (der gegenständlichen) statt der formalen Seite im Kunstwerk Dominanz gehören könnte, ist von ihm wohl deshalb nicht bedacht worden, weil er damit seiner Grundkonzeption : Das Gesetz bewirkt Schönheit, das Fundament entzogen hätte. Ostwald hat zwar, wie unten noch zu zeigen sein wird, Überlegungen zur Rolle des Kunstbetrachters und zum Verhältnis zwischen Künstler und Rezipient vorgenommen; diese sind aber nie soweit gegangen, anzuerkennen, daß man auch meinen kann, daß es erst die Kommunikation über ein Werk oder eine Serie ist, die dieses zum Kunstwerk und jene zur dominierenden Stilrichtung werden läßt, ganz unabhängig davon, ob die Gesetzlichkeiten der formalen Seite des Werks beachtet worden sind. Was Kunst ist, legt somit die Kommunikation der Betrachter fest. Obgleich Ostwald mit seiner Gedankenwelt oft genug die Autopoieseidee streift, findet man bei ihm niemals Hinweise darüber, Kunst als operational geschlossenes Kommunikationssystem aufzufassen, das so in sich determiniert, daß es von außen unantastbar ist. In einem solchen Fall hätte er sich von seinen Ansichten zum einen von der Objektivität der Gesetze und zum anderen von der Reduktion als wissenschaftliche Methode distanzieren müssen. 3. Der Fehler 19

Fehler bedeuten nach OstwaIds Intention Verstöße gegen das Gesetz. Da Gesetze Schönheit bewirken, verstoßen Fehler gegen das, was als harmonisch empfunden wird. Sie sind somit in der Kunst auszumerzen. 18 "In unserer Zeit, wo zufolge der erschütternden Erregungen von Krieg und Revolution viele Gemüter das Gleichgewicht verloren haben, wird die Lehre von der Gesetzlichkeit aller Kunst mißachtet und durch die entgegengesetzte, von der hemmungslosen Freiheit, d. h. Willkür, ersetzt zu werden. Betrachtet man aber die praktischen Ergebnisse der Bewegung (es war z. B. im Sommer eine Ausstellung von einigen Tausend solcher Werke zu sehen), so ist man überrascht von der großen Gleichförmigkeit, mit welcher ein halbes Dutzend Typen von den verschiedensten Künstlern abgewandelt werden. Es erweist sich, daß eine unbedingt gesetzlose oder freie Kunst ebensowenig möglich ist, wie ein anarchistischer Staat; die "Befreiung" besteht nicht in der Abwerfung aller Gesetze, sondern in der Übernahme neuer unter Mißachtung der alten." In: Siehe FN 17. 19 W. Ostwald, Der Fehler als Kunstmittel, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 27.3.1927.

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An Beispielen des Reims und der Tonrhythmik erläutert er, daß regellos eingestreute Abweichungen (Fehler) zu solchen Störungen führen, die beim Konsumenten den Eindruck einer nicht hinreichenden Formbeherrschung durch den Künstler hervorrufen. Der Fehler aber, so folgert er, der entweder eine bereits bekannte Regel erweitert und bereichert oder der der den Bereich des geltenden Gesetzes verläßt und sogar zum Ausgang einer neuen vom Künstler geschaffenen Regel im Harmonienspektrum wird, steigert die Schönheit.

In beiden Fällen bleibt der Fehler (das Fremdartige) mit dem Gesetz verbunden, entweder mit den Bestandteilen der alten Harmonie, oder er wird innovativ, d. h. systembildend und geht mit in eine neue Struktur ein. Wichtig erscheint hierbei, daß Ostwald den Eingriff und Einfluß des Fehlers in ein System nicht ausschließlich kybernetisch beurteilt, also den Fehler als Schmutzeffekt und Störgröße, den es einfach wegzuregulieren gilt, ansieht. Vielmehr kann der Fehler eine Steigerung der willkommenen Gefühle verursachen und dabei sogar Ausgang zur Erlangung einer neuen Kunstqualität werden. Der Dynamismus des durch den Fehler veranlaßten Übergangs vom alten in das neue System unter Beachtung der dabei typischen Situationen wie Metabolismus, Sensitivität, Singularität, Auslösung, Verstärkung, usw. wird allerdings von dem Nicht-Atomisten Ostwald nicht ausdrücklich vorgestellt. 20 4. Der Betrachter Ostwald beschreibt die Differenz zwischen Künstler und Betrachter.2 1 Der Künstler, der einen Fortschritt zur Geltung bringt, dem wird Widerspruch, ja feindliche Leidenschaft entgegenschlagen und zwar um so mehr, je stärker er Neues vertritt. Der wahrhaft schöpferische Künstler, der die neue, noch unverbrauchte Gesetzlichkeit in seinen Kunstwerken umsetzt, wird immer über das Auffassungsvermögen der Kunstempfänger hinausgehen. Der Abstand kann dabei so groß werden, daß der Zusammenhang mit den Rezipienten nicht mehr vorhanden ist. Der sich stets der Klassifikation besinnende Ostwald unterscheidet hierbei zwei Künstler-Typen:

20 Wir haben an anderer Stelle ausführlich über die Struktur von Innovationen durch Selbstorganisationsprozesse berichtet. U. Niedersen / L. Pohlmann, Komplexität, Singularität und Determination. Die Koordination der Heterogenität, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Bd. I (1990), S. 25ff. 21 In: FN 17.

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Der eine füllt die Formen der traditionellen Stilrichtung mit dem Reichtum seiner Begabung. Das Vertraute wird mit einigen Neuerungen angereichert und erweitert fortgeführt. Dieser Künstler-Typ sucht und findet leicht Sympathisanten und Befürworter. Seine Gegner sind nicht zahlreich und dazu noch einsichtig und umstimmbar. Der andere Künstler will hingegen gesucht und direkt die umstülpende Wirkung seiner Konzeption dem Publikum präsentieren, dabei möglichst alles bisherige an Gewohntem in den Schatten stellend. Er setzt sich in bewußten Gegensatz zur etablierten Meinung und vermeidet es, mögliche Verbindungen zum alten Stil anzuzeigen. Dieser Typ findet seine Jünger und Anbeter, die unduldsam und fanatisch den neuen Stil nach außen propagieren. Die Gegner sind freilich von gleichem Format. 22 Auch die Wirkung beider Künstler-Typen auf das Publikum beschreibt Ostwald in Form einer Prozeßstruktur, die an seine Psychographien23 erinnern. Die Wirkung kann stetig und unstetig sein. Die stetige Wirkung, die in die Breite geht, entspringt den Kunstwerken des zuerst genannten Künstler-Typs. Sie bietet den Empfangenden die Chance, das Neue mit dem Alten (Gewohnten) verbunden zu erkennen. Erst allmählich wird die hinzugefügte Neuheit als solche aufgenommen und anerkannt. Die Wirkungen der Werke des anderen Künstlertyps sind unstetig. Sie gehen gleich in die Tiefe. Einer möglichen leidenschaftlichen Begeisterung folgt die zornigen Ablehnung, die wieder abflaut und einer wohlwollenden Stimmung weicht. So schwingen die Perioden, weil der Informationsgehalt der Argumente aus den beiden Lagern geringer wird, langsam aus, bis relative Ruhe eintritt und auf einer abschließenden Wertungsebene sich das Urteil etabliert. Ostwald merkt noch an, daß die Rhythmik nicht etwa das gesamte Publikum gleichzeitig erfaßt. Zeitliche Verschiebungen verweisen auf das versetzt einsetzende öffentliche Interesse an der Problematik, sich zu der einen oder anderen Seite zu gesellen. Die beschriebenen Phasen lassen sich in ihrem 22 Die bei den Gruppen von Künstlern weisen in ihren Eigenschaften eine auffallende Ähnlichkeit zu den von Ostwald unterschiedenen Wissenschaftler-Typen, die er Klassiker und Romantiker nennt, auf. "Als den klassischen Typus bezeichne ich (Ostwald U. N.) denjenigen, dessen Schwerpunkt in der möglichst weitgehenden Vollendung jeder einzelnen Arbeit liegt, während beim romantischen Typus ein Übermaß von Ideen zu deren Äußerung und Geltendmachung drängt, auch bevor jede einzelne von ihnen eine vollständige Durcharbeitung erfahren haben." Zitiert nach W. Ostwald, Zur Biologie des Forschers, I und 11 (1907), in: Die Forderung des Tages, Leipzig 1910. 23 Ostwald kann beim Abfassen verschiedener Forscher-Biographien nachweisen, daß die Vita großer Naturwissenschaftler einer sehr augenscheinlichen psychologischen Analyse zugänglich ist. Auf die Rolle des psychischen Einflußfaktors bei großen Entdeckungen wird von ihm besonders geachtet, so daß seine Darstellungen den Charakter von Psychographien annehmen. Vgl. W. Ostwald, Große Männer, Leipzig 1909; 6. Aufl. 1927.

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Anheben und Vergehen nebeneinander beobachten. Ostwald hat hier (ungewollt) die dissipative Zeitstruktur, die substantiell u. a. als konzentrische Ringe in Erscheinung tritt, beschrieben. Auch das Verhältnis oder besser die Differenz zwischen formalen und inhaltlichen Momenten, die ein Kunstwerk oder eine Zeitepoche charakterisieren und die man Stil nennt, wird von ihm phänomenologisch als eine Geschehensstruktur erklärt. Ostwald äußert sich über die Selbstregulation, welche zu charakteristischen zeitlichen Mustern hinsichtlich des periodischen Auftretens von Stilrichtungen führt: "Wie dies aber immer bei selbstregulierenden Vorgängen zu beobachten ist - handelt es sich doch um ein ganz allgemeines phoronomisches Gesetz, das ganz unabhängig ist von den Sonderumständen des Falles, an dem es zur Geltung kommt -, bleibt die Bewegung beim Gleichgewichtspunkt nicht stehen, sondern geht über ihn hinaus. Die Abstoßung der Form geht weiter und es entsteht nach einer "formalen" Zeit eine Kunstperiode, in der nur der gegenständliche (sachliche, inhaltliche - U. N.) Anteil gewertet, der formale aber als äußerlich oder inhaltslos verachtet wird. Wenn diese Einseitigkeit erschöpft ist tritt regelmäßig wieder ein Umschwung nach der formalen Seite ein, in welchem die entgegengesetzte Wertung von Form und Gegenstand (erfolgt). "24 Es ist wiederum bemerkenswert, daß Ostwald die jeweils vorherrschende Stilrichtung ordnungswissenschaftlich aus den zeitlichen Verhältnissen, d. h. aus der Differenz der sich relativ konträr gegenüberstehenden Kunstbetätigungen bzw. Stilrichtungen prozeßstrukturell nachzeichnen kann. In jeder durch einen bestimmten Stil gekennzeichneten Kunstperiode bleiben Elemente der anderen Richtungen (unbemerkt, bedeutungslos, verdeckt) erhalten. Sie sind es, die in der durch Alterung des aktuellen Systems anhebenden sensitiven Situation die Erneuerungen veranlassen. Ein Gleichgewicht, eine absolute Ausgewogenheit der Gegensätze kann nicht wirklich existieren, weil dieser Zustand gegenüber äußeren Eingriffen viel zu anfällig ist.

24 W. Ostwald, Die zwei Quellen der Kunst und die Augenkunst der Zukunft (1921), Sign.: Ostwald Nachlaß, Nr. 4785, Akademie-Archiv, Berlin. Ostwald verweist hier auf so eine Art "Wellengesetz der Kunstbetrachtung" . Über die Selbstregulation von sozialen Prozessen veröffentlichte er auch andere Arbeiten: Wellenbewegung menschlichen Geschehens (1913), Ostwald Nachlaß, Nr. 4785; Das Wellengesetz in der Geschichte (1926), Nr. 4899. Angemerkt sei schließlich noch ein Fakt aus einem ganz anderen Gebiet, nämlich daß mit dem von ihm 1882 entwickelten Thermostaten zum Konstanthalten der Temperatur erstmals ein Regelkreis-Mechanismus laborpraktischen Einsatz fand.

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5. Differenz Wir wollen weiter darauf hinweisen, daß Ostwald den Begriff "Differenz" nicht im konstruktivistischen Sinne verwendet. "Differenz" bedeutet, Potential zu besitzen, und damit die Möglichkeit, den traditionellen Zustand nach dem Auftreten von Schwankungen entweder zu stabilisieren oder ihn in eine Innovationsphase eintreten zu lassen. Ganz anders beschreibt der heute verbreitete Konstruktivismus die gleiche Situation: Ob die formale oder ob die gegenständliche Seite in der Kunst dominiert, kann nicht durch Gesetze bestimmt erwartet werden, sondern das, was Kunst ist, trägt sich nach Absprache und Festlegung der Rezipienten selbst. Die Kommunikation zwischen den Menschen organisiert selbst ein charakteristisches System "Kunst", das nach außen operation al geschlossen erscheint, keine externen Anzeigen einarbeitet. So gibt es dann Kunst als operativ geschlossenes System und Nicht-Kunst als Umwelt (autopoietischer Aspekt), eben eine Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst. In der Differenz der Pole zueinander kann erst von Kunst und Nicht-Kunst (System und Umwelt) gesprochen werden. Die Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist aus konstruktivistischer Sicht eine Differenz selbstreferentiellen Seins.

In der phänomenologischen Konzeption Ostwaids wird "Differenz" mit einem objektiv vorhandenen Zusammenhang in Verbindung gebracht, aus dem" Werden" hervorgehen kann. Zum einen bedeutet "Werden" Abbau von systemzerstörenden Schwankungen, der in die Richtung der Stabilisierung der Systemstruktur hinzielt (Dynamik der negativen Rückkopplung), und zum anderen ist "Werden" Innovation, die traditionelle Struktur verbrauchend und eine neue gründend (Dynamik der positiven Rückkopplung). Schließlich verweist Ostwald neben der "Differenz" in Form der genannten Möglichkeiten des Werdens noch auf die Situation der Indifferenz, auf das indifferente Driften. Es handelt sich um den Auflösungs- und Diffusionsprozeß des Persönlichkeitsbewußtseins, den der Mensch bewußt erzeugen kann, und er somit eine Methode bereithalten kann, die im übrigen jenseits der gesetzmäßig vorausgesagten oder konstruktivistisch abgesprochenen "Differenz" als "Werden" oder als "Sein" angesiedelt ist. Ostwald bezieht sich in seiner Schilderung auf die Malkunst und schreibt: "Ich fließe in meiner Empfindung mit der mich umgebenden Natur zusammen, ich versenke mich oder genauer gesagt, ich versinke ohne eigenes Zutun in jede Welle, in jeden Baum, in jede Wolke, in jede Farben- und Lichterscheinung, die ich nachbilde. Und auch der Nachbildungsprozeß geht keineswegs bewußt vor sich, sondern die Zuordnung meiner Pinselstriche und Farbenmischungen zu dem darzustellenden Objekt vollzieht sich ohne jedes

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bewußte Zutun. Es wird vielmehr, wenn das Bewußtsein aufgerufen wird, wie ein objektives Geschehen empfunden. "25 Ist Kunst bzw. sind Kunstwerke nun aus objektivistischer oder aus konstruktivistischer Sicht zu betrachten; das ist eine Fragestellung, die es in sich hat. Ostwald berichtet, das alle Personen, vor allem Frauen und Kinder, die seine "wissenschaftlich" hergestellten Farbbilder zu Gesicht bekamen, entzückt waren. Doch dann kam einmal einer, es war ein Kunstgelehrter , der beim Betrachten der gleichen Bilder nicht ausrief: oh, wie schön. Er hatte offensichtlich für sich oder in der Kommunikation mit anderen einen Kunstsinn entwickelt, der keine Wahrheit, kein Gesetz und keine Voraussicht in der Malerei anerkennen wollte. Möglicherweise galt für ihn, Kunst würde kommunikativ beschlossen. Unsere Meinung dazu ist, daß das, was gerade als Kunst bezeichnet wird, die Rezipienten bestimmen. Manche vertreten die Meinung, es gibt eine Kunstgesetzlichkeit, andere wiederum sind davon überzeugt, daß ein solches Prädikat in der Kommunikation darüber festgelegt wird. Die Mehrzahl der Menschen wird jedoch von vornherein erst einmal unschlüssig sein und die allgemeine Meinungsbildung über das, was gerade als Kunst bezeichnet wird, abwarten, um es dann auch mitzumachen. So entstehen, gemäß der zeitlichen Situation und der herrschenden Bedingungen (die man definieren kann), umfassende Prozeßstrukturen der Meinungsbildung über das, was gerade Kunst ist. Diese sich ändernden Strukturen lassen sich zwar nachzeichnen, doch können sie nicht langzeitlich vorausgesagt werden. Kunst (als solche) läßt sich nicht definieren. Die Dynamik der Meinungsströme über das, was augenblicklich Kunst ist, läßt sich strukturwissenschaftlich (Ostwald sagt "ordnungswissenschaftlich") abbilden. So kann dann beim Beurteilen von Kunst vorübergehend mehr die objektivistische, dann wieder die konstruktivistische Version des Betrachtens dominieren. Unter relativer Abgeschlossenheit der beiden Meinungssysteme können sie auch nebeneinander existent sein. Diejenigen sind es, die (singulär) alle Zeitstürme überdauernd, ihren einmal bezogenen Standort nicht aufgebend, zu gegebener Zeit als Auslöser ihre Richtung zu neuem Ansehen verhelfen. Es geht also nicht darum zu selektieren und statistisch zu belegen, was "in Wahrheit" Kunst ist. Wichtig ist zum einen die Vielfalt der Kunstrichtungen und der Kunstrezeptionen zu gewährleisten und zum anderen die Situationen, die erlauben, von einer Meinungsstruktur in die andere wechseln zu können, immer wieder einzurichten.

25 W. Ostwald, Die Technik des Glücks, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 2 (1991), S. 260.

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IV. Ästhetik und Kausalität

Der Naturalist und Wissenschaftspraktiker Ostwald findet in der zahlreichen Literatur zur Ästhetik jener Zeit keine Befriedigung seiner Ansprüche. 26 Er wendet sich gegen Kunsthistoriker, die aufgrund geschichtlicher Kenntnisse ein Urteil über gegenwärtige und künftige Kunst beanspruchen. Ostwald ist ein Anhänger der von Gustav Theodor Fechner (1801 - 1887) einst geforderten "Ästhetik von unten" .27 Alle bisher hier vorgestellten Überlegungen des Gelehrten über lebens- und ordnungswissenschaftliche Aspekte der Kunst sind einer solchen "Ästhetik von unten" zuzuordnen. Gemäß der Logik der Wissenschaftspyramide fehlen in unseren Darlegungen solche, die er mit der Ästhetik aus der Sicht der Arbeitswissenschaften verbindet. Ins besondere sind es die diesem Zusammenhang entspringenden Inhalte seiner Kalik (kalos (griech.) = schön) oder Schönheitslehre, welche er in gesuchtem Gegensatz zur traditionellen Ästhetik stellt. Da in jedem Fall über Assoziationen Dinge und Erscheinungen willkommene Gefühle erzeugen, bildet das Gedächtnis, als Grundlage der Assoziation, das Kernstück seiner Schönheitslehre. Die rationelle Schönheitslehre oder Kalik ist für ihn ein Teil der Psychologie und muß gemäß der Hierarchie in der Wissenschaftspyramide aus der Physiologie heraus entwickelt werden. Kalik ist damit keine Wissenschaft von der gesetzmäßigen Anwendung der Kunstmittel. Sie wird sich vielmehr damit beschäftigen und aufklären helfen, warum bereits Stoff und Form gesetzmäßig angeordnet, Schönheit bewirken. Eine Wissenschaft also, die erkunden soll, um welche wesentlichen Zusammenhänge es sich handelt, wenn Menschen willkommene Gefühle empfinden. Wenngleich für den aufzubauenden Wissenschaftszweig "Kalik" die GrundFolge Beziehungen sowie die finale Zweck-Mittel Relation ebenso zu beachten sind, dominieren in Ostwaids folgend zu edierendem Fragment, das bisher unveröffentlicht blieb, die zeitlichen, kausalen Beziehungen, die im einzelnen von energetisch-physiologischer Art sind und in der Schrift besondere Darstellung finden. FN 4, S. 407ff. Fechners Kredo lautet: ,,(Die Ästhetik) kann als ein Zweig der äußeren Psychophysik gelten, die sich nach dem von mir aufgestellten Begriffe derselben, welche ich wohl als akzeptiert ansehen darf, mit den Maßbeziehungen zwischen Reiz und Empfindung oder allgemeiner zwischen äußeren körperlichen Anregungen und innern psychischen Folgen zu beschäftigen hat (Weber-Fechnersches Gesetz- U. N.). Denn auch die Lust und Unlust, die man bei der Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes empfindet, d. i. das Gefallen und Mißfallen daran, womit die Ästhetik zu tun hat, tritt unter diesen Gesichtspunkt." In: Zur experimentellen Ästhetik, Abhandlungen d. Kgl.Sächs. Ges. d. Wiss., IX (1871), S.557. 26 27

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Es gibt wohl keine Veröffentlichung des Gelehrten, in der er so tiefgründig über die Physiologie der Psyche nachgedacht hat. Ohne dem zu edierenden Text hier vorgreifen zu wollen, seien einige einleitende und orientierende Bemerkungen über die Physiologie der Psyche ausgeführt, die er mittels der Begriffe "Gedächtnis", "Überheilung" und "Wesen des Lebens" in seinem Papier diskutiert. Der Physiologe Ewald Hering (1834 - 1918), ein Kollege Ostwaids an der Leipziger Universität, schreibt über die Erscheinung des Gedächtnisses, daß nach jeder Betätigung bestimmter Art ein Lebewesen sich verändert, indem es ein solches Vermögen erwirbt, die Wiederholungen derselben Betätigung um so besser, beschleunigter, gesteigerter ausführt, je h~ufiger solche Wiederholungen stattfinden. 28 Übung und Vererbung sind Einzelerscheinungen eines allgemeinen Gedächtnisses. Ostwald fragt sich, ob das Gedächtnis-Phänomen eine noch weitere begriffliche Rückführung erfahren kann. In der Überheilung sieht er die Eigenschaft, die über den Zusammenhang "Gedächtnis" hinausreicht. Überheilung ist eine Fundamentaleigenschaft aller Lebewesen und zwar Störungen gegen eine etablierte Systemdynamik nicht nur mit der Wiederherstellung der Ausgangsstruktur zu beantworten, sondern mit einer Übersteigerung (Reparation) der Gegenwirkung. Es geschieht einfach mehr, als praktisch nötig ist, um dem Eingriff zu widerstehen. So erklärt Ostwald das Wachstum junger Zellen mittels der Überheilung, während der erwachsene Organismus die Fähigkeit dieser Wirkung mehr und mehr verliert. Ostwald vermutet eine Hemmstoffwirkung. Antitoxine, genau dosierte Gifte, zum Zwecke der Heilung sind andere von ihm genannte Beispiele im Zusammenhang mit der Überheilung. Der Systematiker Ostwald will schließlich noch Grundlegenderes aufdekken, indem er nach einer einfachen aber prägnanten Unterscheidung zwischen lebender und toter Materie nachsinnt. Dieses Problem führt ihn direkt zu der (oben bereits genannten) ZweckMittel Relation: In der lebenden Welt wird die Gegenwart wesentlich von der Zukunft bestimmt. "Ein Lebewesen beschäftigt sich unaufhörlich damit, seine Zukunft im Sinne der Erhaltung und Förderung zu gestalten .... Wie wir es uns aber vorstellen sollen, daß aus der noch gar nicht vorhandenen Zukunft Kausalketten in die Gegenwart hereinhängen können, erscheint dem an mechanischen, physikalischen, energetischen Denken geschulten Verstande unbegreiflich. "29

28 E. Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie (1870), Ostwaids Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 148, Leipzig 1905. 29 W. Ostwald, Das Wesen des Lebens (1932), Ostwaids Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 257, Leipzig 1978.

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Wir sind nun gedanklich wieder auf Zusammenhänge der Überzeitlichkeit gestoßen. Der Kreis zu dem oben Ausgeführten hat sich geschlossen. Es bleibt die Frage, ob Ostwald tatsächlich auf dem richtigen Wege war, eine Kausalität der Ästhetik zu entwickeln. Bemerkt werden muß, daß er, wie der Inhalt der nachfolgenden Edition erkennen läßt, eine wissenschaftliche Argumentation liefert, die explizit den Einfluß von Reizen auf das Fließgleichgewicht, d. h. auf den Menschen als ein stationäres Gebilde, behandelt. Reize von außen werden durch das Gedächtnis, welches Erinnerungsund Voraussichtsvorgänge ermöglicht (Stichwort: "Überzeitlichkeit"), ins Bewußtsein gerufen, d. h. assoziativ zu einem Gesamtbild aufgebaut, das wiederum willkommene Gefühle erzeugt. Diese Gefühle, - zweiter Ordnung, weil sie mittelbar entstehen -, sind es, die Kunst hervorbringen. So kennzeichnet dann Ostwald das Wesen der Kunst: "Sie beruht auf der willkürlichen Hervorbringung willkommener Gefühle zweiter Ordnung durch Beschaffung und Betätigung ihrer Bedingungen. "30 Ein Künstler ist eben so "begnadet", daß er, fähiger und vermögender als seine Mitmenschen, Teilerlebnisse so zu assoziieren versteht, daß über Auslösungen und Verstärkungen, dabei seine reiche Phantasie als Potential nutzend, ein Kunstwerk entstehen, geschöpft werden kann. Ästhetik bzw. Kunst stehen, aus dieser Sicht "Kunst" betrachtend, in einem direkten Zusammenhang mit Kreativität. Wenn Ästhetik als Psychologie, im besonderen als Gedächtnis kausal zu untersuchen ist, dann hat Ostwald bereits eine gedankliche Schlüssigkeit entwickelt, die weit über das damals herrschende Wissenschaftsniveau hinausragt. Freilich ist er nur in der Lage, die Kausalität phänomenologisch darzustellen. Das werden auch die einzelnen Inhalte der nachfolgenden Edition nachweisen. Er gelangt aber gerade über seinen charakteristischen phänomenologischen Einstieg zu den allgemeinsten ordnungswissenschaftlichen Strukturen der Prozesse, die ganz unabhängig von den konkreten Substanzen und Bewegungsformen der Materie Gültigkeit besitzen. Einer kausalen, analytisch-atomistischen Erkennensweise folgt er nicht nur deshalb nicht, weil er dem Atomismus weniger zugeneigt ist, sondern vor allem deshalb nicht, weil zu jener Zeit das Wissen über die Molekularität des Lebendigen noch kaum entwickelt war. Ostwald hat somit völlig folgerichtig, seinem wissenschaftlichen System entsprechend, die Prozesse des Hervorbringens von Kunst begrifflich erläutert. Auf die von uns oben selbst gestellte Frage können wir antworten: Es ist von 30

Siehe die Edition "Kalik oder Schänheitslehre" in diesem Band, S.

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ihm ein gangbarer Weg bei der Untersuchung arbeitswissenschaftlicher Aspekte der Ästhetik eingeschlagen worden. Genau diese Geisteskultur , seine Begriffe und Aussagen über Zeit und Komplexität, scheinen uns heute besonders deutlich in der von Hermann Haken konzipierten Synergetik aufgehoben zu sein. 3 ! V. Kalik oder Schönheitslehre - die Quellenlage

Der Leitgedanke in Ostwaids Arbeiten zur Ästhetik ergibt sich aus der von ihm theoretisch und laborpraktisch erfolgreich untersuchten Farbe-Form Problematik. Sein bekannter Satz: "Gesetz bewirkt Harmonie.", ist die gedankliche Verallgemeinerung der Resultate seiner Farbforschungen. Wichtige Arbeiten Ostwaids auf dem Gebiet der Farbenlehre sind: - Malerbriefe, Leipzig 1904 - Die Farbfibe1, Leipzig 1916 (16. Auflage, 1944) - Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre, Leipzig 1918 - Die mathetische Farbenlehre, Leipzig 1918 - Die physikalische Farbenlehre, Leipzig 1919 - Die chemische Farbenlehre, Leipzig 1938 - Die physiologische Farbenlehre, Leipzig 1922 - Die psychologische Farbenlehre, (nicht erschienen; ein Aufsatz existiert: Die Farbenpsychologie. In: Deutsche Psychologie, In, 1920, H. 1)) - Die Harmonie der Farben, Leipzig 1918 - Der Farbnormenatlas, Leipzig 1920. Über die Studien der Formen im Zusammenhang mit dem Farbe-Form Problem sind folgende Ostwald-Schriften zu nennen: - Die Harmonie der Formen, Leipzig 1922 - Die Welt der Formen, Leipzig 1922 - 24 - Zur Mathetik der geschichtlichen Ornamentik. In: Die Farbe, Nr. 41, u. Nr. 43, Leipzig 1924 - 25 - Kommende Lichtkunst. In: Beilage zur Neuen Freien Presse Wien vom 18. und 25. 9.1927 - Maltechnik jetzt und künftig, Leipzig 1930.

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H. Haken, Synergetics. An Introduction, 1. Aufl., Berlin/Heidelberg 1977.

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Wenn Harmonie, d. h. Schönheit gesetzmäßig und damit geplant erzeugt werden kann, dann, so Ostwald, sind Kunst und Ästhetik nicht jenseits der Wissenschaften einzustufen. Die Kunst muß soviel Wissenschaft enthalten, daß auf ihrem Gebiet Voraussagen möglich werden. Ein exaktes System einer Wissenschaft der Kunst zu errichten ist Ostwaids Hauptanliegen etwa ab 1920. Grete Ostwald berichtet, daß die Arbeiten ihres Vaters über Kunst und Wissenschaft in jener Zeit als "verdächtig" galten und ebenso eine große Gegnerschaft auf den Plan riefen, wie vormals seine Naturphilosophie-Vorlesungen, in Leipzig 1902 veröffentlicht. 32 Einige wichtige der damals nicht durchgängig auf Zuneigung gestoßenen Arbeiten zur Thematik sind (neben den bereits zitierten Aufsätzen, siehe Fußnoten 11, 14, 15, 16, 18,22): - Kunst und Wissenschaft. In: Japanisch-Deutsche Zeitschrift I, S. 81 - 95, 1923 - Von der Formel zur Form. In: Berliner Zeitung am Mittag vom 3. 11.1926 - Von der Kunst zur Wissenschaft, Radio-Vortrag, Wien 1929. Weil Ostwaids Wissenschaft von der Kunst als neue Disziplin verständlicherweise der Logik der Wissenschaftspyramide entsprechen muß, ist sie als Teil der Kulturwissenschaften durch die darunter angeordneten Wissenschaften wie Psychologie, Biologie, Energetik und Ordnung zu erklären. (Darüber wurde ausführlich in diesem Aufsatz berichtet.) Interessant ist, daß Ostwaids um 1900 begonnene Betrachtungen über "Leben" eine Renaissance im Zusammenhang mit seinen Kunstbetrachtungen erfahren, und er sogar in seinem letzten Lebensjahr darüber nachdenkt, "noch zwei Bücher zu schreiben: Über Leben und über Katalyse. "33 Die Beziehungen zwischen Leben und Kunst rufen bei ihm den Gedanken hervor, daß Harmonie im wesentlichen durch Wiederholungen erzeugt wird. Die Wiederholung ist aber die Grundlage der Erhaltung komplexer Einheiten, somit der lebenden Systeme. Harmonie korrespondiert mit der Bedingtheit und Bestimmtheit der Dinge und Prozesse (Determination) und zielt aus existentieller Sicht auf das Bestehen des Systems ab. So entstehen diesem Gedankengang folgend einige aus der Sicht der heutigen Selbstorganisationsforschung sehr aktuell erscheinende Schriften.

32 Die Vertreter der Geisteswissenschaften an der Leipziger Universität fanden es unkollegial, unlauter, daß ein Außenseiter Philosophie las, noch dazu vor ca. 400 Hörern im zentralen Großen Saal der Universität. Ostwaids Naturphilosophie fand in dem naturwissenschaftlich interessierten Personenkreis jener Zeit (vor allem im Ausland) durchaus auch Anhänger. 33 G. Ostwald, Wilhelm Ostwald. Mein Vater, Stuttgart 1953, S. 264.

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Aus der ersten Periode sind zu nennen: - Das Problem der Zeit. In: Abhandlungen und Vorträge, Leipzig 1904 - Biologie und Chemie. In: dto. und aus der zweiten Periode: - Zur biologischen Grundlegung der inneren Medizin. Die Überheilung. Die Wirklinie. Endynamik, Radeburg/Dresden 1926 - Der biologische Faktor in der Technik (1929). In: Ostwaids Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 257, Leipzig 1978 (Hg. : H. Berg) - Wissenschaft und Leben, 1930. In: dto. - Das Wesen des Lebens, 1931. In: dto. Mit der Bestimmung von "Leben" orientiert sich Ostwald über das technisch-wissenschaftliche Moment der Kunstmittel weit hinaus, und er diskutiert die direkt das Gefühl ansprechende Seite in der Kunst. Sein Ziel ist es, "den Ablauf der Vorgänge in der Gruppenseele mit erheblicher Sicherheit mindestens qualitativ (vorauszusagen). "34 Parallel zur Abfassung seiner autobiographischen "Lebenslinien" arbeitet er um 1925 an der Kalik oder Schönheitslehre. Im Ostwald-Nachlaß finden sich dazu drei Fragmente: - Kalik oder Schönheitslehre, eigenhändiges Manuskript (egh. Ms.), 90 Blatt, 1925 - Kalik, egh. Ms., 15 Blatt, 1925 - Zur Kalik, egh. Ms., 16 Blatt, 1925. Die beiden letzteren Materialien enthalten einige gedankliche Skizzen, die in der zuerst genannten Arbeit einbezogen sind. Die an erster Stelle angegebene Arbeit zur Kalik wird nachfolgend ediert.

34

FN 4, S. 418.

Edition Ausgewählt, kommentiert und herausgegeben von Uwe Niedersen

Kalik oder Schönheitslehre* von Wilhelm Ostwald Einleitung. Der Begriff

Der Name Kalik, abgeleitet vom Griechischen Kalos, schön, in gleicher Weise wie Optik, Mechanik usw., soll die Wissenschaft vom Schönen bezeichnen. Ein neuer Name gegenüber dem bisher gebräuchlichen, Ästhetik, ist notwendig, um von vornherein die grundsätzlich verschiedene Einstellung der vorliegenden Untersuchung zu dem Problem zu kennzeichnen und so deren Feld mit einem Schlage von dem Gestrüpp zu reinigen, welches die bisherige vorwiegend mystische Ästhetik hatte aufwuchern lassen. Der Gegensatz, um den es sich handelt, ist die Auffassung der Kunst als einer Technik oder angewandten Wissenschaft ähnlich dem Maschinenbau oder der Medizin. Vermöge einer naheliegenden Verwechslung ist die Ansicht allgemein verbreitet, als sei die Herstellung der Kunstwerke ausschließlich eine Sache des Gefühls, ebenso wie deren Wirkung auf den Empfänger. In dieser Beziehung hat seit einigen Jahrhunderten eine rückläufige Entwicklung stattgefunden. Im Mittelalter war der Maler und Musiker ebensoviel (oder ebensowenig) ein Künstler, wie der Waffenschmied und Arzt; zwischen Kunst und Handwerk wurde kein Unterschied gemacht, weil keiner bestand. Denn hier wie dort beruhte das Können nicht auf einer klaren Einsicht in Ursache und Wirkung, sondern auf einer von Hand zu Hand fortgegebenen Tradition ohne Einsicht und Kritik.

Anmerkung: Der Herausgeber dankt Herrn Dr. Ludwig Pohlmann für seine anregenden Hinweise zu einigen Inhalten der Edition. Weiterhin sei den Verantwortlichen des Ostwald-Archivs in Berlin, Herrn Dr. Klauß, und in Großbothen Frau Brauer für die freundlichen Bemühungen bei der Veröffentlichung dieses Textes Dank gesagt. * In: Ostwald Nachlaß, Nr. 4879, bisher unveröffentlicht.

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Die Praxis war demgemäß so gut wie völlig unterbewußt. Denn um die Anweisungen, welche der Lehrling empfangen hatte, auf die selbständige Ausführung eines neuen Werkes anzuwenden, brauchte er Erfahrungen, welche die Lehre ihm nicht unmittelbar geben konnte; sie mußten in einer langen Praxis erworben werden. Daher rührt das zähe Festhalten an einmal gefundenen Lösungen der allgemeinen Aufgabe mit sehr geringen Abweichungen des einzelnen; nur ganz überragende Begabungen erwarben sich die Fähigkeit, größere Abweichungen zu wagen und glücklich durchzuführen. Diese Kennzeichnung gilt für die ganze mittelalterliche Technik. Alles derartige Können war Kunst, mochte es sich um die Herstellung von Gemälden oder Tuchen, um Architektur oder Medizin handeln. So sehen wir auch noch bis in unsere Zeiten den Namen Kunst mit Fertigkeiten aller Art verbunden; es gibt noch heute eine Heilkunst, eine Erziehungskunst, eine Baukunst usw., neben einer Heilkunde, einer Erziehungswissenschaft, einer Hochbaukunde usw. Worin besteht nun der Unterschied zwischen einer Kunst in diesem weiteren Sinne und einer Wissenschaft? Die Antwort ist schon oben gegeben worden: die Kunst beruht auf unterbewußtem, die Wissenschaft auf bewußtem Können auf der Grundlage entsprechenden Wissens. Jedes Gebiet menschlicher Betätigung ohne Ausnahme erfährt zu gegebener Zeit diese Entwicklung von einer Kunst zu einer Wissenschaft. Doch ist der Zeitpunkt, wo dies eintritt, sehr verschieden. Im großen und ganzen kann man sagen, daß er um so früher eintritt, je tiefer das Gebiet in der Pyramide der Wissenschaften 1 gelagert ist. In der untersten Schicht der Ordnungswissenschaften, zu denen Mathematik und Geometrie gehören, ist die Entwicklungsstufe der Kunst völlig überwunden; die Meß- und Rechenkunst vergangener Zeiten ist durch die verschiedenen Wissenschaften der reinen und angewandten Mathematik und Geometrie ersetzt. Dasselbe gilt von der folgenden Schicht der Pyramide, welche von den energetischen Wissenschaften, der Physik und der Chemie gebildet wird. In der dritten und obersten Schicht, der Biologie begegnen wir den ersten Widersprüchen zwischen der gefühlsmäßigen und der verstandesmäßigen Auffassung der Dinge. Der 1925 in Amerika geführte Prozeß um die Lehre von der Abstammung des Menschen von niederen Lebewesen war ein Beispiel dafür, daß dieser grundsätzliche Widerspruch hier noch nicht überwunden ist. Daß er aber in absehbarer Zeit überwunden sein wird, und zwar zugunsten des Verstandes, ist nach dem einstimmigen Zeugnis der bisherigen Geschichte zweifellos. So hat beispielsweise ein ganz ähnlicher Widerspruch in der Auffassung der astro1 Zur "Wissenschaftspyramide" siehe unseren Aufsatz "Ästhetik und Zeit" in diesem Band, hier im besonderen die FN 5.

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nomischen Verhältnisse bestanden, wo das Gefühl die Erde in den Mittelpunkt unseres Systems stellte, der Verstand dagegen die Sonne. Gegenwärtig bestehen keine Gefühlsbedenken mehr gegen die Entscheidung des Verstandes. Die Gebiete, wo die ursprüngliche Gefühlsauffassung noch fast unbestritten herrscht, sind die oberen und obersten Schichten der Biologie,2 nämlich die Psychologie oder Seelenlehre und die Soziologie oder Gesellschaftslehre. Hier gibt es große Gebiete, wo das Gefühl als unbedingt maßgebend angesehen wird und wo die Ansprüche des Verstandes (oder der Wissenschaft, was dasselbe ist) mit Entrüstung, d. h. mit Gefühlsaufwallung zurückgewiesen werden. Mit Gründen sie zurückweisen, geht nicht an, denn damit würde ja von vornherein die Angelegenheit zugunsten des Verstandes entschieden sein. Denn Gründe sind die Werkzeuge oder Waffen des Verstandes allein, durchaus nicht des Gefühls. Fragen wir uns nun, wo die Wissenschaft vom Schönen einzuordnen ist, so besteht kein Zweifel, daß sie ein Teil der Psychologie ist. Die Schönheit ist unmittelbar durchaus eine Angelegenheit des Gefühls, und Gefühle gehören der Psychologie an, und zwar können wir hier alsbald wie überall die zwei Gebiete unterscheiden, die wir in allen Wissenschaften finden, nämlich die reine und die angewandte Schönheitslehre. Ebenso wie wir in der Physiologie die reine oder wissenschaftliche Physiologie von der an gewandten oder Medizin unterscheiden, so finden wir hier neben der reinen oder wissenschaftlichen Schönheitslehre die angewandte oder Kunst (im engeren Sinne) vor. Das erste Gebiet hieß bisher Ästhetik und wurde ganz vorwiegend vom Gefühlsstandpunkt aus bearbeitet, wenn auch namentlich durch vereinzelte deutsche Forscher von Fechner3 ab der wissenschaftliche Standpunkt geltend gemacht worden ist. Hier wird es also nicht mehr so schwierig sein, die Anforderungen des Verstandes endgültig durchzusetzen.

2 Ostwaids Hinweis, die Psychologie und Soziologie als Schichten der Biologie anzusehen, unterstreicht nochmals seinen Standort, die Reduktion als eine wesentliche Wissensehaftsmethode einzusetzen. Es ist besonders seine phänomenologische Sicht, die die Reduktionen als (prozeß-)strukturwissenschaftliche Zusammenhänge in Erscheinung treten lassen. 3 Gustav Theodor Fechner (1801 - 1887), Elemente der Psychophysik, Teile I und II, Leipzig 1860; ders., Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden, Leipzig 1861; ders. Zur experimentellen Ästhetik, Abhandlungen d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., IX (1871); ders., Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1876. In dieser geistigen Tradition stehen weiter Hermann v. Heimholtz (1821 - 1894), Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1873; Wilhelm Wundt (1832 - 1920), Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1873/74 (Schüler Wundts, u. a. Hugo Münsterberg; Oswald Külpe); Ernst Mach (1838 - 1916), Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischem, Jena 1900.

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Viel rückständiger ist dagegen die an gewandte Schönheitslehre oder Kunst. Besonders heftig in unseren Tagen wird der Satz verfochten, daß der Künstler bei seinem Werk die Verstandestätigkeit unbedingt ausschalten müsse, wenn er es nicht ganz und gar verderben wolle. Bestätigt man freilich einem Künstler, der sich solchen Überzeugungen hingibt, daß ihm die Ausschaltung alles und jedes Verstandes in diesem oder jenem Werk restlos gelungen sei, so pflegt er trotzdem Zeichen von Unzufriedenheit erkennen zu lassen. Denn er faßt diese Anerkennung seines Strebens und Gelingens sonderbarerweise nicht als Lob auf. Im Gegensatz hierzu soll die Aufgabe des gegenwärtigen Werkes sein, die Grundlinien einer verstandesmäßigen oder wissenschaftlichen Kunstlehre zu ziehen. Deren Zweck wird es sein, die Erzeugung eines Kunstwerkes ebenso zu einer Aufgabe bewußten Könnens zu machen, wie die Erbauung einer Maschine oder die Beseitigung einer Seuche. Ich vergegenwärtige mir lebhaft das Gemisch von Hohn und Entrüstung, mit welcher diese Erklärung von den weitesten Kreisen aufgenommen werden wird. Aber ich halte es für notwendig, dem Leser mit klaren Worten zu sagen, was er auf den folgenden Seiten zu erwarten hat, damit er das Buch rechtzeitig fortlegen kann, wenn sein Gefühl sich gegen solche Ansprüche des Verstandes empört. 4 Wir stellen uns zunächst die Aufgabe, den Hauptbegriff der ganzen Untersuchung, den der Schönheit genauer zu bestimmen. Hierbei soll die durchgreifende Bemerkung J. R. Mayers, des genialen Entdeckers des Satzes von der Erhaltung der Energie unser Vorbild sein, die er bezüglich des Kraftbegriffes gemacht hat: es ist nicht die Frage, was die Schönheit für ein Ding ist, sondern welches Ding wir Schönheit nennen wollen. 5 Wir müssen m. a.W. eingedenk sein, daß die Begriffe nicht fertige und abgeschlossene Wesen sind, die wir aus ihrem Namen herauszuholen haben, wie den Kern aus der Schale. Sondern daß ein wohlgekennzeichneter Begriff erst vermittels einer dahin gerichteten wissenschaftlichen Arbeit aufgebaut und ausgebildet wird, nachdem er bisher in seinem Namen ein ziemlich unbestimmtes, schattenhaftes Dasein geführt hatte. Denn das tägliche Denken und Sprechen hat nicht die Eigenschaft, scharf bestimmte Begriffe zu bilden. Dies 4 Am 9.9.1919 stellt Ostwald auf einer Veranstaltung des Deutschen Werkbunds in Stuttgart seine konzipierte Farbenlehre vor, mit besonderem Verweis auf die Gesetze der Farbharmonik und den Konsequenzen daraus für die Praxis. Der Protest der Kunstgelehrten und Künstler war so groß, daß aus diesem Kreis umgehend eine dringende Warnung an alle deutschen Unterrichtsministerien verschickt wurde, die neue Farbenlehre an den Schulen zu verbieten. Auch die Industrie zeigte überraschend kein Interesse an der vorgelegten Normung. In: W. Ostwald, Lebenslinien. Dritter Teil, Berlin 1927, S. 438ff. 5 Julius Robert Mayer (1814 - 1878), Die Mechanik der Wärme, 2 Abhandlungen, in: Ostwaids Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 180, Leipzig 1911; ders., Kleinere Schriften und Briefe (Hg.: J. J. Weyrauch), Stuttgart 1893.

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ist vielmehr eine Hauptaufgabe der Wissenschaft, welche die von ihr erfaßten Begriffe gleichzeitig reicher dem Inhalt nach und genauer der Abgrenzung nach gestaltet. 6 Um zu dem Begriff zu gelangen, den wir Schönheit nennen wollen, stellen wir zunächst fest, daß die Schönheit sich an das Gefühl wendet. Wir unterscheiden in unserem Innenleben Gefühle, Empfindungen und Gedanken. Empfindungen nennen wir die Erlebnisse, die uns durch die Sinne vermittelt werden, wie Töne, Farben, Drücke, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Kälte usw. Gedanken sind die Erinnerungen daran und die Ergebnisse ihrer Verbindung. Gefühle nennen wir jene allgemeinen, nicht an ein Sinnesorgan gebundenen Stimmungen, in denen gemäß wir uns wohl oder übel befinden. Die Empfindungen und Gedanken werden vielfach von Gefühlen begleitet, doch in ziemlich freier Weise. Dieselbe Farbe, derselbe Geruch, derselbe Gedanke, kann auf uns je nach unserem Zustande angenehm oder unangenehm, willkommen oder widerwärtig wirken, d. h. von den entsprechenden Gefühlen begleitet sein. Auch können wir ohne alle Empfindungen, durch Gedanken, d. h. Erinnerung und Vorstellung bestimmter Erlebnisse willkürlich angenehme oder unangenehme Gefühle in uns entstehen lassen. Wir müssen also die Gefühle als eine selbständige Gruppe innerer oder seelischer (psychologischer) Erlebnisse anerkennen. Die Gefühle zerfallen, wie schon angedeutet, in zwei entgegengesetzte Klassen, die angenehmen und die unangenehmen. Jede dieser Klassen läßt zahllose Abstufungen der Stärke erkennen, mit welcher das Gefühl erlebt wird. Fangen wir mit dem stärksten Mißgefühl an, bei dessen Steigerung wir das Bewußtsein verlieren würden, so können wir stetig zu immer milderen Mißgefühlen aufsteigen, bis schließlich ein Nullpunkt des Gefühls erreicht wird, bei welchem das Mißgefühl aufgehört, aber noch kein Wohlgefühl begonnen hat. Hier ist überhaupt kein Gefühl vorhanden. Darüber hinaus beginnen die willkommenen Gefühle erst schwach, dann stärker bis zur höch6 "Der Mensch als das Maß aller Dinge" konstituiert rational, d. h. durch Verstandesarbeit die wissenschaftlichen Begriffe; vgl. W. Ostwald, Moderne Naturphilosophie, Leipzig 1914. Seine Vorstellungen über Begriffsbildungen lehnen sich an Heinrich Hertz' (1857 - 1894) Aussagen in der Einleitung zur Mechanik an: "Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände", in: Prinzipien der Mechanik, Berlin 1894, S. 1; wobei Ostwald gegen Kants Apriori den Entwicklungsgedanken bei der Entstehung von Begriffen gelten läßt. Heute werden natürliche, gewachsene und künstliche, gemachte Begriffe, was ihre Herkunft angeht, unterschieden, und in bezug auf die wissenschaftliche Exaktheit teilt man ein in nominative, qualitative und quantitative Begriffe. Weiter hatte Ostwald die Arbeiten von Hugo Dingler, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein zur Kenntnis genommen. Die Erstveröffentlichung des "Tractatus logicophilosophicus" von Wittgenstein hatte er im letzten Band seiner Zeitschrift "Annalen der Natur- und Kulturphilosophie" Band 14 (1921) vollzogen. 18*

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sten Lust. Bei weiterer Steigerung werden Lust und Schmerz ununterscheidbar. Die Gefühle bilden also eine einfaltige Reihe, die von einem Nullpunkt nach entgegengesetzten Seiten ausgeht, wie die positiven und negativen Zahlen oder wie entgegengesetzte Richtungen im Raume. Ebenso wie diese sich zufolge gewisser mathematischer Theorien im Unendlichen begegnen, zeigt sich eine Annäherung zwischen den äußersten Gebieten von Lust und Schmerz. Doch brauchen wir zunächst auf diese Grenzgebiete nicht einzugehen. Das Wort schön wenden wir allgemein auf das positive Gebiet der Gefühle an. Wir nennen die Gefühle schön, welche mit willkommenen Empfindungen, Erinnerungen und Gedanken verbunden sind. In übertragenem Sinne nennen wir auch Töne, Farben, Formen, Gerüche und andere Empfindungen, schön, wenn durch sie positive Gefühle erzeugt werden. Noch weiter geht die Übertragung, wenn wir Gegenstände und Vorgänge wie Menschen, Gebäude, Landschaften, Melodien usw. schön nennen, die Vermöge der Einwirkung auf unsere Sinne positive Gefühle erwecken. Hiernach ergibt sich folgende Übersicht: Schön nennen wir in erster Linie alle positiven Gefühle, in zweiter Linie alle Erlebnisse, welche von schönen Gefühlen begleitet sind, in dritter Linie alle Gegenstände und Vorgänge, welche in uns schöne Erlebnisse hervorrufen können, wenn sie auf uns unter gegeigneten Bedingungen einwirken. Da hiernach die Schönheitslehre zweifellos zur Psychologie oder Seelenkunde gehört, so setzt ihre Untersuchung die Kenntnis der Grundgesetze der allgemeineren Wissenschaft der Psychologie voraus, von der sie einen Teil bildet. Nun ist diese aber eine sehr junge Wissenschaft, d. h. sie wird erst seit kurzer Zeit wissenschaftlich betrieben, während gefühlsmäßige Erörterungen, die aber nicht zu einer Wissenschaft führen können, allerdings viel älter sind. Darauf beruht es, daß noch keine Einigkeit über jene Grundgesetze herrscht, so daß jeder, der sie braucht, erst noch angeben muß, wie sich ihm die Psychologie darstellt oder ordnet. Dieser Notwendigkeit sollen die nachfolgenden Zeilen genügen. Allgemeine Kennzeichnung des Lebens7

Vom energetischen Standpunkt sind Lebewesen Gebilde, die nicht im ruhenden Gleichgewicht sind, sondern im laufenden. Im ruhenden Gleichgewicht ist ein Stein, der auf dem Erdboden liegt oder das Wasser, das in einer 7 Neben den Literaturhinweisen zur "Kennzeichnung des Lebens" in unserem Aufsatz "Ästhetik und Zeit" sind weiter zu nennen: W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902, ders.: Die Philosophie der Werte, Leipzig 1913.

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Flasche steht; beide betätigen keinen Verkehr mit ihrer Außenwelt. Im laufenden Gleichgewicht ist eine Flamme, ein Fluß, ein Springbrunnen. Diese Dinge erscheinen ebenso zeitlich beständig wie jene. Während aber beim ruhenden Gleichgewicht alle Teile ihren Ort und ihre Beschaffenheit behalten, wechseln sie beim laufenden unaufhörlich, so daß in jedem Augenblick das Gebilde aus anderen Teilen besteht. Dadurch aber, daß die früheren Teile ebenso schnell fortgehen, wie sie durch neue ersetzt werden, bleibt die Gestalt und die Beschaffenheit des Gebildes bestehen. Dies beruht auf einem fortlaufenden Verkehr mit ihrer Außenwelt, wobei ebensoviel eingenommen wie ausgegeben wird. Es findet nämlich bei den Lebewesen ein unaufhörlicher Stoff- und Energiewechsel statt, während sie doch ihre Gestalt und Beschaffenheit behalten oder nur langsam und ohne unmittelbare Beziehung auf jenen ändern. Sie sind also Gebilde im laufenden Gleichgewicht, oder mit dem Fremdwort, stationäre Gebilde. Für solche gelten die einfachen Gesetze nicht, welche für die ruhenden Gebilde bestehen, sondern verwickeltere, welche von Fall zu Fall aufgestellt werden müssen. Der wichtigste Unterschied besteht darin, daß jedes ruhende Gebilde seinen Energiebestand beibehält. Denn sobald ein Energiewechsel stattfindet (der unter dem Gesetz von der Erhaltung der Energie steht), ruht das Gebilde nicht mehr, sondern verliert oder gewinnt Energie und zwar soviel, als die Umwelt gewinnt oder verliert. Dagegen nimmt jedes laufende Gebilde unaufhörlich Energie auf und gibt gleich viel ab. Findet irgend eine energetische Einwirkung statt, so stellt sich der neue Zustand auf Kosten der laufenden Energie her; es findet also keine Gleichheit zwischen dem Energieaufwand der Einwirkung (des Reizes) und dem Energiebetrag der entsprechenden Zustandsänderung statt. Man bezeichnet daher auch solche Beeinflussungen mit besonderen Namen, wie Auslösung,8 Anregung, Reiz usw., um sie von den Ursachen im strengen Sinne zu unterscheiden, die unmittelbar unter dem Gesetz der Erhaltung der Energie stehen. Der volkstümliche Satz: kleine Ursachen, große Wirkungen bezieht sich nur auf jene Vorgänge von der Art der Auslösungen oder Reize und hat keine Anwendung auf die unmittelbaren Energieumwandlungen, wo stets Ursache und Wirkungen maßgleich sind und nur in der Form verschieden. 9 8 Vgl. u. a. W. Ostwald, Julius Robert Mayers Auslösungsbegriff (Hg. A. Mittasch), Weinheim 1953 sowie die Literaturzitate der FN 6. Hingewiesen sei weiterhin, daß Ostwald in dieser längeren Textpassage den Begriff "fließendes Gleichgewicht" verwendet bzw. zu dessen Inhalt ausführt. Die heutige Wissenschaft bezeichnet allerdings (irrtümlich) Ludwig von Bertalanffy als Begriffsautor. 9 An dieser TextsteIle fügt der Autor eine Anmerkung ein, die er wieder durchstreicht. Weil sie einen sehr sinnvollen Inhalt hat, sei sie zitiert: "Es kann hier noch nicht auf die verwickelteren Gesetze der Bewirkung bei Lebewesen, allgemein bei

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Reizantworten

Jedes Lebewesen antwortet vermöge seines laufenden Gleichgewichts auf einwirkende Energien oder "Reize" mit entsprechenden Vorgängen. Man pflegt diese Antworten Reflexe zu nennen, doch ist dieser Name nicht glücklich gewählt, denn es wird nicht, wie die ursprüngliche Bedeutung vermuten läßt, die einwirkende Energie "zurückgeworfen", sondern das Wesen betätigt eigene Energien, die durch den Reiz ausgelöst oder abgelenkt wurden. Diese besondere Art der Gegenwirkung beruht eben auf der Grundeigenschaft der Lebewesen, daß sie im fließenden Gleichgewicht sind, und nicht im ruhenden. Wir nennen sie Reizantworten oder Antworten. Solche Reizantworten können von zweierlei Art sein, die als Heilwirkungen und als Fieberwirkungen unterschieden werden können. Heilwirkungen liegen vor, wenn die durch den Reiz verursachte Störung des fließenden Gleichgewichts vermöge der Beschaffenheit des Gebildes wieder ausgeglichen wird. Wenn man z. B. quer durch eine Flamme einen Metallstreifen führt, so wird sie zerschnitten. Vermöge des stetigen Nachströmens glühender Gase wird aber die Verletzung sofort wieder "geheilt" und die Flamme nimmt ihre frühere Gestalt wieder an. Hier liegt eine "Heilwirkung" vor, mit der die Flamme auf jenen Reiz antwortet. Bei Lebewesen sind uns solche Heilwirkungen wohlbekannt. Sie haben alle die Eigenschaft, auf Einwirkungen und Verletzungen durch alsbald einsetzende Heilwirkungen zu antworten, und es hängt von der Größe der Störung ab, ob das Wesen den Eingriff überstehen kann oder nicht. Eine naheliegende Überlegung lehrt alsbald, daß diese Eigenschaft grundlegend für das Bestehen der Lebewesen ist. Denn Eingriffe aller Art finden unaufhörlich statt, und ein Wesen, welches nicht die Fähigkeit hat, deren Folgen auszugleichen, ist nicht auf die Dauer lebensfähig und muß untergehen. Es bleiben also nur solche Lebewesen übrig und können von uns beobachtet werden, welche auf durchschnittliche Reize jedesmal mit entsprechenden Heilwirkungen antworten. Und nach bekannten Gesetzen der Vererbung und Gebilden im laufenden Gleichgewicht eingegangen werden, von denen das Gesetz von Weber-Fechner das wichtigste ist. Es genügt die allgemeinen Verhältnisse zu kennzeichnen, um irrtümlichen Beurteilungen zuvorzukommen." (Blatt 23a) Die verwickelten Gesetze, von denen hier die Rede ist, sind unabhängige Veränderliche, die in ihrer Gesamtheit wesentliche Beziehungen eines komplexen Gebildes konstituieren. Schwierig dabei ist, die Koordination der unabhängigen Veränderlichen zu mathematisieren. (Zum Koordinationsproblem, siehe Ostwald, Abhandlungen und Vorträge, (1904), S. 465, Anm. 52). Im Weber-Fechnerschen Gesetz sieht Ostwald wahrscheinlich eine erste Form, die Koordination von Variablen komplexer Beziehungen g1eichungsmäßig darzustellen. Das genannte Gesetz bringt zum Ausdruck, daß die Reize in geometrischer Reihe abnehmen müssen, damit sich auf der Seite der Empfindungen eine gleichabständige (arithmetische) Reihe ausbilden kann.

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Auslese hat von jeher eine Entwicklung und Steigerung der Fähigkeit stattgefunden, auf Eingriffe mit zweckgemäßen Heilwirkungen zu antworten. Fieberwirkungen

So nennen wir solche Antworten, durch welche der eingeleitete Vorgang sich selbsttätig bis zur Zerstörung des Lebewesens steigert. lO In der unbelebten Welt bietet ein Brand ein Beispiel. Wird brennbares Gebilde an einer Stelle entzündet, so wirkt die Verbrennungswärme dahin, daß der Vorgang sich beschleunigt und ausbreitet; hierdurch wird die Geschwindigkeit und Ausdehnung des Brandes gesteigert und dies setzt sich fort, bis alles Brennbare zerstört ist. Bei Lebewesen sind die Krebserkrankungen ein Beispiel. Die Krebszellen zerstören die normalen Zellen des erkrankten Gewebes; die Zerstörungsprodukte wirken aber nicht wie bei einem Heilvorgange einschränkend auf das Wachstum der feindlichen Zellen, sondern ernähren sie und bewirken so ihre Vermehrung, die erst bei vollständiger Vernichtung des normalen Gewebes ihr Ende findet. Ein anderes Beispiel ist das Fieber, d. h. die abnorme Temperaturerhöhung eines Lebewesens durch gewisse fremde Einwirkungen, meist katalytischer Art, die oft von den Ausscheidungen fremder Organismen im Blut herrühren. Hierdurch werden die normalen Oxidationsvorgänge in den Geweben beschleunigt und die Folge ist eine erhöhte Temperatur. Diese wirkt wieder ihrerseits beschleunigend auf die Oxidation, und so steigern sich diese Einflüsse wechselseitig und führen zum Tode, wenn nicht durch eine dritte Einwirkung (z. B. Chinin) eine Herabsetzung der Temperatur erzwungen wird. Nach solchen Vorgängen ist der Name für die ganze Gruppe solcher Reizantworten gewählt worden. Die gleichen Betrachtungen, aus denen hervorgeht, daß Lebewesen mit gut entwickelten Heilwirkungen die anderen verdrängen, ergeben für Lebewesen mit Fieberwirkungen ein Zurücktreten, so daß diese viel seltener sind, als jene. Man kann sich beide Fälle durch den Vergleich mit ruhenden Gleichgewichten veranschaulichen. Das stabile Gleichgewicht ist dadurch gekennzeichnet, daß jede Störung Kräfte hervorruft, welche den früheren Zustand herzustellen streben; es entspricht also der heilenden Reizwirkung. Beim labilen Gleichgewicht ruft dagegen jede Störung Kräfte hervor, welche die Abweichung vergrößern, also den früheren Zustand vernichten, entsprechend den fieberhaften Reizwirkungen. Man darf aber nicht vergessen, da dies nur Ähnlichkeiten sind und durchaus nicht Gleichheiten. ll

10 Ob der Begriff "Fieberwirkung" zur Bezeichnung dieser Prozeßgruppe unzweideutig ist, darf bezweifelt werden, da Fieber durchaus Heilung bewirken kann.

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Ein Beispiel

Es gibt eine wenig differenzierte Alge, bei welcher die männlichen Blüten Schwärmsporen in das umgebende Wasser entlassen. Diese schwimmen mit Hilfe ihrer Geißeln im Wasser zunächst ziellos umher. Kommen sie aber in eine Gegend, wo reife weibliche Blüten vorhanden sind, so wenden sie ihre Bewegungen zunehmend diesen Blüten zu. Je näher sie ihnen kommen, um so sicherer und schneller nehmen sie ihren Weg in die Blüte hinein, wo sich die Befruchtung vollzieht. Der ganze Vorgang sieht aus wie ein Suchen und Finden seitens der Schwärmsporen, die lange bevor sie mit der weiblichen Blüte in Berührung kommen, sie wahrzunehmen oder zu ahnen scheinen, daß sie vorhanden ist, und ihre Bewegungen unter diesem Einfluß so einrichten, daß sie mit Sicherheit in der Blüte landen, um den Zweck, die Befruchtung zu erfüllen. Wenn die Schwärmsporen mit dem Bewußtsein ihrer Aufgabe ausgestattet wären, könnten sie sich nicht anders verhalten, und der unvorbereitete Beobachter wird sich kaum enthalten können, ihnen ein wenn auch dunkles Bewußtsein ihrer Aufgabe zuzuschreiben. Durch eine scharfsinnige Untersuchung des Botanikers W. Pfeffer 12 sind wir über die chemischen Ursachen dieses Verhaltens aufgeklärt. Pfeffer hat festgestellt, daß die reifen weiblichen Blüten einen bestimmten Stoff (Äpfelsäure ) absondern, der in das umgebende Wasser übergeht und sich dort nach den Gesetzen der Diffusion verbreitet. Die Schwärmsporen ihrerseits besitzen die Eigenschaft, sich in einer Lösung, welche Äpfelsäure in wechselnder Verteilung enthält, so zu stellen, daß sich das Kopfende nach der Richtung der stärkeren Lösung wendet. Dadurch schwimmt jede Spore immer nach der Richtung weiter, wo der größte Gehalt an Äpfelsäure vorhanden ist. Diese Stelle ist das Innere der weiblichen Blüte, wo die Säure bereitet wird und in das Wasser diffundiert. So werden die Sporen automatisch dahin geleitet, wo die Befruchtung stattfinden kann, und es bedarf keines bewußten oder unterbewußten Triebes oder Willens, um die Sporen ihrem Zweck zuzuführen; die rein chemisch-physiologische Ursache ist ausreichend. Man kann noch fragen: wie kommt die Spore dazu, sich gerade auf die Richtung des größten Gefälles des Gehalts einzustellen. Die Antwort hat ein anderer Biologe, J. Loeb,13 gegeben. Die Spore ist ein Gebilde, das symme11 Negative und positive Rückkopplungen, Dynamismen, die Ostwald hier aufzeigt, haben in didaktisch faßlicher Weise M. Eigen und R. Winkler in ihrem Buch: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 1975, als statistische Kugelspiele: Ehrenfests Urnenspiel und Katastrophen-Spiel, vorgestellt. 12 Vgl. Wilhelm Pfeffer (1845 - 1920), Pflanzenphysiologie, 2 Bde., Leipzig 1897 1904; ders., Osmotische Untersuchungen, Leipzig 1877. 13 Vgl. Jacques Loeb (1859 - 1924), Concerning dynamic conditions which contribute toward the determination of the morphological polarity of organisms, Berkeley 1904; ders. Vorlesungen über die Mechanik der Lebenserscheinungen, Leipzig 1904.

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trisch um eine Längsachse gebaut ist; ebenso sind ihre Antriebsorgane symmetrisch angeordnet. Jeder Reiz, welcher deren Bewegungen beeinflußt, muß diese ungleich reizen, wenn er in ungleicher Stärke auf ungleiche Seiten des Gebildes einwirkt und dadurch dieses zu einer Wendung veranlassen. Die Wendung hört nicht auf, bevor der Reiz von allen Seiten mit gleicher Stärke einwirkt; d.h. die Spore sich senkrecht zum Gefälle eingestellt hat; dann findet keine Wendung mehr statt und die Spore schwimmt in gerader Linie. Je nachdem die Bewegungsorgane geordnet sind, wird das vordere Ende hierbei entweder nach der Seite der höchsten oder nach der Seite der geringsten Gehalte gerichtet; die Spore wird also entweder auf die Quelle des Reizstoffes hinschwimmen, sie "suchen", oder sich von ihr entfernen, sie "fliehen". Im vorliegenden Falle tritt das erste ein, und so ist der Vorgang erklärt. Pfeffer hat diese Erklärung dadurch bestätigt, daß er statt der weiblichen Blüten eine andere Quelle von Äpfelsäure in das Wasser brachte, nämlich ein feines Glasröhrchen, das mit einer Lösung von Äpfelsäure gefüllt war. Die Schwärmsporen schwammen mit eben derselben Sicherheit auf die Mündung der Röhren zu, wie auf die der weiblichen Blüten und bildeten bald einen dichten Pfropf im Inneren. Damit war bewiesen, daß alle anderen Eigenschaften der Blüten für das Herankommen der Schwärmsporen gleichgültig sind; nur die Äpfelsäure ist maßgebend für ihr Verhalten.

Überheilung

Die heilenden Antworten der Lebewesen zeigen weiterhin eine auffallende Besonderheit von sehr großer Allgemeinheit. Diese besteht darin, daß durch die Gegenwirkung nicht nur die erfahrene Störung ausgeglichen wird, sondern daß die Gegenwirkung mehr beträgt, als die Störung, welche sie ausgleicht. Voraussetzung ist, daß der Reiz innerhalb gewisser Grenzen bleibt und nicht bis zur Schädigung des Wesens geht. Die Möglichkeit solcher Vorgänge beruht wieder darauf, daß das Lebewesen kein ruhendes Gebilde ist, sondern sich im fließenden Gleichgewicht befindet, also freie Energien zur Verfügung hat, die dann im angegebenen Sinne betätigt werden. Beispiele lassen sich aus wohlbekannten Tatsachen in Fülle anführen. Alle Übung beruht hierauf. Jeder Muskel, der regelmäßig in Anspruch genommen wird, ersetzt nicht nur aus dem allgemeinen Stoffwechsel die verbrauchte Energie, sondern setzt neue Zellen an, so daß er immer stärker wird. Ein anderes Beispiel ist die Erzeugung von Gegengiften (Antitoxinen) im Blut nach Einspritzung gewisser Bakteriengifte. Diese Gegengifte werden nicht nur in solcher Menge gebildet, daß das eingespritzte Gift unwirksam wird, sondern in viel größeren Mengen. Hierauf beruht die bekannte Herstellung von Heilflüssigkeiten gegen bestimmte Krankheiten durch wohlbemessenes Ver-

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giften geeigneter großer Tiere und Entnahme ihres Blutes, in welchem sich so unverhältnismäßig große Mengen des Gegengifts anhäufen. Diese überschießende Heilwirkung oder Überheilung ist eine ganz allgemeine Eigenschaft der Lebewesen und erweist sich nicht nur für ihr körperliches Verhalten von allergrößter Bedeutung, sondern stellt sich auch als Grundlage des geistigen Lebens heraus, wie später gezeigt werden wird. Standfestigkeit

Jedes Lebewesen, und in ihm jedes Organ ist dauernd darauf angewiesen, Erschütterungen zu ertragen, die von außen kommen, ohne daran zugrunde zu gehen. Denn jeder Reiz ist eine solche Erschütterung, die mit Zerstörung droht. Nur wenn das Wesen vermöge seines fließenden Gleichgewichts die Fähigkeit hat, auch stärkere Reize nicht nur zu ertragen, sondern mit Wiederherstellung seines Gleichgewichts zu beantworten, ist es dauernd lebensfähig. Wir haben gesehen, daß die Lebewesen im allgemeinen nicht nur das frühere Gleichgewicht wiederherstellen, sondern darüber hinaus sich gegen noch stärkere Reize festigen. Dies ist im Sinne der Erhaltung, denn es bestehen keine unbedingten Grenzen für die Stärke möglicher Reize, und ein Wesen wird sich um so dauerhafter erweisen, je weiter es die Grenze stecken kann, innerhalb deren es Reize zu ertragen und auszugleichen vermag. Immerhin sind solche Grenzen jeweils notwendig vorhanden. Je weiter sie sind, um so standfester ist das Wesen. Während der Lebensdauer jedes einzelnen ist der Verlauf der Standfestigkeit stets derselbe. Im ersten Jugendalter ist sie gering; daher rührt die große Sterblichkeit der ganz Jugendlichen. Sie nimmt schnell zu, erreicht einen Höchstwert, der je nach den Lebensverhältnissen verschieden und zeitlich schwankend ist und nimmt im Alter wieder ab. Der Tod hat dann seine Ursache darin, daß an irgendeiner Stelle die Standfestigkeitsgrenze überschritten wird, und zwar meist durch Reize, die früher von dem Wesen als normale, innerhalb seiner Grenzen gelegene ohne Schaden verarbeitet werden konnte. Wachstum

Der erste und wichtigste Fall der Überheilung ist das natürliche Wachstum der jungen Lebewesen. Damit eine Vermehrung bei der Fortpflanzung möglich wird - sie ist notwendig, um die zufällige Vernichtung einzelner Wesen auszugleichen - können die Jungen nur einen Bruchteil der stofflichen Ausstattung bekommen, welche dem fließenden Gleichgewicht des erwachsenen, normalen Wesens entspricht. Das Leben selbst aber besteht in einem beständigen Verbrauch der an den Stoff gebundenen Energien, also auch in einem Verbrauch der Stoffe. Das Leben selbst bedingt mit anderen Worten notwen-

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dig und unvermeidlich eine Schädigung, nämlich teilweise Zerstörung des Wesens und wird daher möglich, wenn gleichzeitig ein Heilvorgang stattfindet, der die Verluste immer wieder ersetzt; dies ist ja das Wesen des fließenden Gleichgewichts. Den Ersatz nennen wir Nahrung. Sie wird im einfachsten Falle, der z.B. bei den Pflanzen vorliegt, aus der Umgebung aufgenommen, ohne das eine besondere Tätigkeit des Aufsuchens und Ergreifens erforderlich wäre. Kennzeichnend für junge Lebewesen ist nun das ganz allgemeine Verhalten, daß sie nicht nur so viel Nahrung aufnehmen, daß der Verlust gedeckt und der allgemeine Zustand erhalten wird; sondern es findet eine Überheilung statt: der Ersatz im Körper zufolge der Nahrungsaufnahme übertrifft den Verlust verhältnismäßig um so mehr, je geringer das Wesen ist, und die Folge ist sein Wachsen, das sowohl durch Vergrößerung des Leibes der ersten Zelle, wie namentlich durch die Teilung und Vermehrung der Zelle erfolgt. Dies setzt sich fort, bis das fließende Gleichgewicht erreicht ist, bei welchem der Verbrauch durch die Aufnahme gerade gedeckt wird. Durch Vorgänge, die im einzelnen noch aufzuklären, aber in ihren Grundzügen bekannt sind, findet alsdann eine langsame Störung dieses fließenden Gleichgewichts in solchem Sinne statt, daß die Verluste nicht mehr völlig gedeckt werden, auch wenn genügend Nahrung dargeboten wird. Das Lebewesen wird langsam weniger widerstandsfähig gegen stärkere Störungen, und in einem solchen Falle wird das Gleichgewicht aufgehoben, wodurch das Gebilde zerfällt. Das ist der Tod. Es muß noch die Frage beantwortet werden, wieso es beim Wachsen des jungen Lebewesens überhaupt zu einem Aufhören des Wachsens kommt, da das Gesetz der Überheilung ein unaufhörliches Weiterwachsen bedingen müßte. Die Antwort ist, daß durch das Wachsen selbst Bedingungen geschaffen werden, welche es begrenzen. Im einfachsten Falle einer einzelnen Zelle, die in einer Nährflüssigkeit schwimmt, nimmt deren Oberfläche nicht in gleichem Verhältnis zu, wie ihre Masse, sondern langsamer, entsprechend der Größe m 2 / 3 . Da die Aufnahme der Nahrung nur durch die Oberfläche erfolgen kann, wird die Möglichkeit eines Ersatzes der durch das Leben bewirkten Verluste um so geringer, je größer die Zelle wird, und dies führt mit Notwendigkeit zu einer Grenze der Vergrößerung, die bei der erwachsenen Zelle erreicht ist. Bei den aus vielen Zellen zusammengesetzten Lebewesen sind die Verhältnisse verwickelter, doch liegen in jedem einzelnen Falle entsprechende Ursachen der Selbstbeschränkung des Wachstums vor.

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Abklingen

Das fließende Gleichgewicht bei jedem Lebewesen beruht darauf, da es sich auf die alltäglichen Reize, die darauf unter normalen Verhältnissen einwirken, dergestalt angepaßt hat, daß sein Zustand der gleiche bleibt oder sich nur sehr langsam ändert. Tritt nun ein nach Art oder Stärke außergewöhnlicher Reiz ein, so antwortet das Wesen mit der eben beschriebenen Gegen- und Überwirkung, durch welche es in einen entsprechend veränderten Zustand versetzt wird. Dieser aber bleibt nicht bestehen, nachdem sich die normalen Verhältnisse wieder hergestellt haben, da er dem fließenden Gleichgewicht nicht entspricht, sondern wird abgebaut, bis der normale Zustand wieder erreicht ist. Man nennt diesen Vorgang nach dem Bilde einer gezupften Saite das Abklingen. Das Gesetz des Abklingens läßt sich dahin aussprechen, daß die Annäherung an das Gleichgewicht zuerst schnell erfolgt, dann immer langsamer bis zur Unmerklichkeit. Im reinen, von Nebenumständen freien Fall verschwinden in gleichen Zeiten gleiche Bruchteile der jeweils bestehenden Abweichung. Fällt sie z. B. nach dem ersten Tage auf die Hälfte, so fällt sie nach dem zweiten auf die Hälfte vom Rest, d. h. auf ein Viertel, nach dem dritten auf ein Achtel, nach dem n-ten auf (Y2r. Man nennt eine solche Reihe eine geometrische oder auch logarithmische. Wir merken uns für künftige psychologische Anwendungen, daß der erste Abfall der schnellste ist. Das Gedächtnis

Die eben allgemein geschilderten Gesetze gelten für alle Betätigungen des Lebens, somit auch für die geistigen. Sie sind dargelegt worden, um eine Führung in das mannigfaltige und schwierige Gebiet der Psychologie und der Schönheits lehre zu gewinnen. Wir haben eben gesehen, daß jeder Reiz das gereizte Organ in einem derart veränderten Zustande hinterläßt, daß es den nächsten gleichartigen Reiz erfolgreicher aufnehmen und verarbeiten kann. Der Psychologe E. Hering,14 der diese Eigenschaft der Lebewesen zuerst in ihrer Allgemeinheit und Bedeutung erkannt hatte, gab ihr den verallgemeinerten Namen des Gedächtnisses, unter dem er nicht nur bewußte Erinnerungen verstand (die ein Sonderfall der allgemeinen Eigenschaft sind), sondern alle oben gekennzeichneten Reizerfolge, wie Anpassung, Übung, Gewöhnung usw. Die Wirkung des Gedächtnisses in diesem allgemeinen Sinne beschränkt sich aber nicht nur auf das Einzelwesen, sondern es bildet die Grundlage und 14 Ewald Hering (1834 - 1918), Das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, Wien 1870.

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Ursache der Vererbung. Die Nachkommen entstehen bekanntlich aus gewissen Zellen der Eltern, den Keimzellen und zwar so, daß deren kennzeichnende Eigentümlichkeiten erhalten bleiben. Da in derselben Nährflüssigkeit sich ganz verschiedene Wesen je nach den Keimzellen entwickeln und erhalten können, so müssen in diesen Einrichtungen vorhanden sein, durch welche aus der gleichen Nahrung ganz verschiedene Produkte entstehen. Diese Einrichtungen stellen das biologische "Gedächtnis" dar, durch dessen Wirkung aus der Keimzelle das artgleiche Wesen entsteht. Ebenso wie derart das biologische Grundgesetz der Vererbung seine Erklärung findet, wird uns das biologische Gedächtnis das Verständnis für die Entwicklung des Geistes bis zu seinen höchsten Äußerungen vermitteln. Zunächst erklärt die Vererbung die Ausbildung nützlicher Reizantworten. Der erste Erfolg irgend eines Reizes auf das Wesen kann nützlich, gleichgültig oder schädlich für dessen Fortdauer sein. Im letzten Falle wird das Wesen zugrunde gehen und kann seine Eigenschaft nicht vererben, im zweiten kann und im ersten wird es fortleben und seine Art fortpflanzen. Seit Darwin sind uns derartige Betrachtungen geläufig, doch mußte er noch die Tatsache der Vererbung als gegeben und nicht weiter erklärt annehmen,15 während wir inzwischen eine Einsicht in die Ursachen der Vererbung gewonnen haben, die in der Eigenschaft der Überheilung liegen. Der Fortschritt der Wissenschaft wird seinerzeit gestatten, auch diese Eigenschaft, die wir als zum Dasein notwendig und daher jedenfalls vorhanden und gesichert erkannt haben, auf ihre physiologischen Quellen zurückführen. Die Quelle des Gefühls Jedes Lebewesen steht also in unaufhörlicher stofflicher wie energetischer Wechselwirkung mit seiner Umgebung. Diese Wirkungen sind entweder lebensfördernd oder schädlich. Das Wesen ist nur lebensfähig, wenn es schädliche Einwirkungen abzuwehren, fördernde aufzunehmen, womöglich aufzusuchen vermag. Hier haben wir den Ursprung der Gefühle. Lebensfördernde Zustände oder Vorgänge verbinden sich mit angenehmen, schädliche mit unangenehmen Gefühlen. Dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß die ersten aufgesucht, die anderen gemieden werden. Da es einen dritten Fall nicht gibt, so gehört jedes Gefühl einer der beiden Klassen der angenehmen, willkommenen, schönen oder der widrigen, unwillkommenen, häßlichen Gefühle an. 15 In Darwins Überlegungen über die Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese fielOstwald die darin eingebundene Tautologie, " ... von den Formen der Organismen dauern die am längsten, welche am dauerhaftesten sind", auf. In: Vorlesungen über Naturphilosophie, Leipzig 1902, S. 334.

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Der eben geschilderte Zusammenhang zwischen der Art der Gefühle und der biologischen Nützlichkeit der entsprechenden Einwirkungen kann diese eindeutige und einfache Beschaffenheit nur bei den einfachsten Lebewesen haben. Mit der höheren Entwicklung ist zunächst die Zusammensetzung aus Teilwesen oder Zellen verbunden, die zum Teil ein selbständiges Dasein haben, zum anderen Teil von dem Zusammenwirken mit den anderen Zellen abhängig sind. Es gibt sogar nicht selten Fälle, wo die Entwicklung des Gesamtwesens den Untergang eines oder einiger Teilwesen erfordert, wie z. B. bei einem Pflanzenkeimling die Keimblätter bald nach eingetretener Entwicklung zugrunde gehen. Hierdurch entsteht eine Verwicklung der Gefühle, die um so größer ist, je zusammengesetzter das Gesamtwesen ist. So erklärt sich, daß bei einem solchen Gefühle vorkommen können, bei welchen das Verhältnis zwischen der Art des Gefühls und der biologischen Nützlichkeit des Vorganges, der es bewirkt, umgekehrt ausfällt, so daß schädliche Vorgänge angenehme, nützliche unangenehme Gefühle erwecken. Derartige verkehrte Gefühle werden um so häufiger möglich, je verwickelter die Verhältnisse werden; sie treten also am häufigsten beim Kulturmenschen in den ersten Stufen der Anpassung auf. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt Schopenhauer liest, wird man über vieles Klarheit gewinnen, was diesen, dem solche biologische Betrachtungen fernlagen, zu einem grundsätzlichen Pessimisten machte. 16 Es soll wiederholt betont werden, daß das Wohlgefühl, welches mit der Betätigung lebenswichtiger Vorgänge verbunden ist, eine hervorragende biologische Bedeutung hat. Es ist für die Erhaltung des Lebens notwendig, da ein Lebewesen, welches nicht damit ausgestattet wäre, sich um seine Erhaltung nicht bemühen und daher bei nächster Gelegenheit umkommen würde. Hierdurch findet eine höchst wirksame Auslese der mit positivem Lebensgefühl versehenen Wesen statt, die sich nach bekannten Grundsätzen durch Verer~ bung befestigt und ein regelmäßiger Bestandteil der Art wird. Hunger, Liebe und Arbeit

Diese gegenseitige Anpassung von Wohlgefühl oder Glück und Leben erfolgt für alle Betätigungen, welche für die Erhaltung des einzelnen und der Art notwendig sind. Hier sind vor allem Ernährung und Fortpflanzung zu nennen. Schon Schiller hat diese beiden Pole des Lebens erkannt und als Betätigungen der Mutterpflicht der Natur bezeichnet:

16 Arthur Schopenhauer (1780 - 1860), Die Welt als Wille und Vorstellung, Bde. 1 und 2, in: Sämtliche Werke (Hg. W. Frhr. v. Löhneysen), Leipzig 1979.

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Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, Erhält sie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe.

Schiller hat aber nicht ausgesprochen, also wohl auch nicht erkannt, daß die "Natur" diese beiden Notwendigkeiten durch die Verbindung mit den zugehörigen Glücksgefühlen die Freiwilligkeit mitgeteilt hat, welche aus dem äußeren Zwang einen Trieb, d. h. einen inneren oder organischen Zwang macht, der zuzeiten unwiderstehlich wirkt. Oben wurde schon dargelegt, wie durch den Satz von der natürlichen Auslese des Dauerhaften die scheinbare Absichtlichkeit des Naturgeschehens sich auf ein einfaches Verhältnis von Ursache und Wirkung zurückführen läßt. Während für die niederen Lebewesen Hunger und Liebe genügen, um die Erhaltung der Art zu sichern, besteht für den Kulturmenschen noch eine dritte Lebensnotwendigkeit, welche nach dem gleichen Grundsatz sich allmählich in ein Glück verwandelt. Es ist die Arbeit. 17 In gewissen tropischen, dünn bevölkerten Gegenden bestehen für den primitiven Menschen Verhältnisse, wo er mit Hunger und Liebe allein ohne erhebliche Arbeit sein Dasein bestreiten kann. Dagegen erfordert dieses in mittleren und nördlichen Gebieten mehr und mehr Vorsorge, d. h. Arbeit. Diese Notwendigkeit wird vom primitiven Menschen durchaus als Unlust, ja als Unglück empfunden.1 8 Ein besonders deutliches Zeugnis hierfür finden wir in der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Das Leben im Paradies wird durchaus als eines geschildert, dessen Kreis sich nur um die Pole Hunger und Liebe dreht. Und bei der Vertreibung aus dem Paradiese wurde dem Menschenpaare der Fluch mitgegeben: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Für den Gedankenkreis des Verfassers jener Erzählung war also die Arbeit die härteste Strafe, die dem Menschen für den Sündenfall auferlegt werden konnte. Für den heutigen Menschen höchster Kultur wäre 17 In einer Schrift bezeichnet Ostwald die "Ehre", neben "Hunger" und "Liebe", als ein Urphänomen menschlichen Existierens. Inhaltlich macht er hiermit auf die besondere Rolle der kreativen Menschen in einem Volk aufmerksam: "Die Abweichungen des einzelnen vom Durchschnitt ist ein Urphänomen im eigentlichsten Sinne. Fehlt sie in einem Geschlecht, so ist dieses zum ewigen Stillstand verurteilt und je größer sie bei einer Art ist, um so bessere Möglichkeiten hat diese, sich höheren Stufen zu entwikkein." In: Hunger, Liebe und Ehre, Ostwald Nachlaß, Nr. 5042, Akademie-Archiv, Berlin. So ist dann zu verzeichnen, daß die Ebenen der Wissenschaftspyramide durch verschiedene Urphänomene (ein Begriff übrigens, den Goethe verwendet hat) charakterisiert sind; Lebenswissenschaften: Fortpflanzung und Ernährung; Kulturwissenschaften: Arbeit; Geniologie: Ehre. 18 Der Ostwald-Argumentation, daß die Arbeit als Lebensnotwendigkeit Gefühle höchsten Glücks hervorbringen kann, muß nicht widersprochen werden. Die Darstellung dieses Sachverhalts am Beispiel "Arbeit - primitiver Mensch" ist reduktionistisch, im besonderen biologistisch vorgenommen worden und führt so zu einem unsachgemäßen Werturteil.

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umgekehrt eine Verurteilung zum Vollkommenen Nichtstun das härteste Leid. So können wir gleichsam unter unseren Augen beobachten, wie sich an dieser dritten allgemeinen Lebensbedingung der naturgesetzliehe Vorgang vollzieht, daß eine Lebensnotwendigkeit sich gefühlsmäßig mit dem Glanz des Glücks umkleidet. Es ist dies beiläufig eine genügende Begründung für eine grundsätzlich optimistische Lebensauffassung, im Gegensatz zu dem von Schopenhauer vertretenen Pessimismus.

Die Stufenleiter der Gefühle

Niedere Lebewesen sind ausschließlich mit den Angelegenheiten der Selbsterhaltung und Fortpflanzung beschäftigt. Sie haben also nur Gefühle erster Ordnung. So nennen wir die Gefühle, welche unmittelbar von biologischen Notwendigkeiten bedingt werden. Sie sind positiv bei der erfolgreichen Betätigung dieser Lebenswerke und negativ bei deren Beeinträchtigung. Somit erfährt das Lebewesen Wohlgefühle erster Ordnung bei der Aufnahme der Nahrung und ihrer Verdauung. Umgekehrt ist der Hunger, mit Mißgefühlen verbunden. Gleiches läßt sich für alle mit der Fortpflanzung verbundenen Erlebnisse sagen. Neben den Gefühlen erster Ordnung entwickeln sich die Gefühle zweiter Ordnung. Ihre Beonderheit besteht darin, daß sie vorhanden sind, ohne daß ihre biologischen Bedingungen sich betätigen. So erlebt das Raubtier bereits beim Erblicken der Beute einen Teil der Wohlgefühle, die durch das Ergreifen und Verzehren ausgelöst werden. Für den Menschen sind Hoffnung und Erinnerung reichliehst fließende Quellen von Gefühlen zweiter Ordnung. Durch sie können wir zu sehr starken Gefühlserlebnissen zu einer Zeit und in einer Umwelt gelangen, welche keinerlei unmittelbare Ursachen für die Erregung von Gefühlen erster Ordnung enthalten. Man erkennt alsbald, da zur Entstehung von Gefühlen zweiter Ordnung mehr nötig ist, als bloß die Antwort des Lebewesens auf nützliche oder schädliche Reize. Dieses Mehr beruht auf Voraussicht und Erinnerung. Wir stoßen hier auf die Wirkung der allgemeinen Gedächtnisfunktion, auf die bereits hingewiesen wurde. Denn nicht nur die Erinnerung beruht auf dem Gedächtnis, sondern auch die Voraussicht. Denn dies wäre nicht möglich, wenn nicht das Gedächtnis die verschiedenen Teile eines zusammenhängenden Vorganges so aneinander bände, daß das Erleben eines Teils genügt, um die anderen Teile ins Bewußtsein zu rufen, unabhängig davon, ob sie eben erlebt werden oder nicht. Für die Kunstlehre sind die Gefühle zweiter Ordnung grundlegend, denn alle Kunst beruht auf die Hervorbringung solcher Gefühle. Es ist also notwendig zu untersuchen, wie sie zustande kommen, denn die Erkenntnis dieser

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Voraussetzungen und Bedingungen wird uns eine vollständige Übersicht über die Arten und Mittel aller Kunst geben. Hiernach ist das Wesen der Kunst gekennzeichnet: Sie beruht auf der willkürlichen Hervorbringung willkommener Gefühle zweiter Ordnung durch Beschaffung und Betätigung ihrer Bedingungen. Diese Erwägungen sind als Vorausnahmen späterer Untersuchungen anzusehen, zu denen wir alsbald übergehen wollen. Die Sinnesorgane

Aus dem Fühlen entwickelt sich das Denken vermöge der zunehmenden Mannigfaltigkeit des Verkehrs zwischen dem Lebewesen und der Umwelt. Zwar bleibt die sehr große Mannigfaltigkeit der Umwelt immer dieselbe. Aber die Fähigkeit, die verschiedenen Arten und Stärken der Energien zu unterscheiden, welche von außen einwirken, ändert sich in hohem Maße mit zunehmender Entwicklung. Ein niederstes Lebewesen, das aus einer einzigen Zelle besteht, hat noch keine verschiedenen Organe und kann daher nur in einer Weise positiv oder negativ auf äußere Beeinflussungen reagieren. Von Joh. Müller 19 ist das "Gesetz der spezifischen Energien" ausgesprochen worden, daß nämlich die Art der Empfindung nicht durch die Art der Einwirkung bestimmt wird, sondern durch die Natur des empfangenden Organs. Wie man auch das Auge reizen mag, durch Druck, durch den elektrischen Strom, durch strahlende Energie: es vermittelt immer nur dieselbe Empfindung, die des Lichts. So spricht jedes Sinnesorgan nur seine eigene Sprache. Nur der Umstand, daß sie für gewöhnlich nur einer bestimmten Energieart den Zutritt gestatten, bewirkt, daß man mit ihrer Hilfe die verschiedenen Arten der einwirkenden Energien unterscheiden kann. Mit zunehmender Entwicklung der Lebewesen werden die Empfangsorgane mannigfaltiger und können mehr und mehr Einzelheiten der Umwelt unterscheiden. Aber immer bleibt die Mannigfaltigkeit der Empfindungen hinter der Mannigfaltigkeit der Umwelt in weitem Umfange zurück. So sieht das primitive Auge nur Stärkeunterschiede der strahlenden Energie als Weiß, Grau, Schwarz. Alle anderen Mannigfaltigkeiten derselben, wie Wellenlänge, Schwingebene, Zusammensetzung unterscheidet es nicht. Und auch das hochentwickelte Auge des Menschen vermag polarisiertes Licht nicht von unpolarisiertem zu unterscheiden und ebensowenig homogenes Licht und gemischte Wellen, wenn letztere gewissen Bedingungen genügen. Es sieht keine Spur von den bunten Farben im weißen Licht, welche alsbald sichtbar werden, wenn man aus diesem die verschiedenen Wellenlängen räumlich aussondert. 19 Vgl. Johannes Müller (1801 - 1858), Handbuch der Physiologie des Menschen, Koblenz 1833 - 40.

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Und das hochentwickelte Ohr des Musikers, das aus dem Gesamtton die vorhandenen Obertöne sicher heraushört, ist völlig unfähig, vorhandene Phasenunterschiede der Teiltöne zu erfassen, obwohl diese ganz verschiedene Gesamtwellen bedingen. Die Bedeutung dieser Entwicklung ist rein biologisch auf Erhaltung und Fortpflanzung gerichtet. Je verwickelter das Lebewesen gebaut ist, um so schwieriger wird seine Erhaltung und um diese Schwierigkeiten zu überwinden, muß der Nachrichtendienst aus der Außenwelt entsprechend genauer werden und weiter in die Zukunft zu schauen gestatten. Hierdurch wird wieder die Zusammengesetztheit und Verletzbarkeit des Wesens gesteigert, so daß mindestens ein Teil des Gewinnes verloren geht und nur der Rest zur Geltung kommt. Ist dieser Rest negativ, so gehen die entsprechenden Wesen zugrunde; die paläontologischen Tatsachen lassen mehrere Fälle solcher Überentwicklung mit ihren Folgen erkennen. Ein positiver Rest bedingt dagegen eine dauernde Lebensfähigkeit. Die Anfänge des Geistes

Auf der Grundlage der Erinnerung baut sich die ganze Beschaffenheit des Geistes auf. Die Erlebnisse jedes Lebewesens bilden eine Kette, deren Glieder alle verschieden sind; nur sind einige hinreichend ähnlich untereinander, daß sie als annähernd gleich wirken. Jedes Glied hinterläßt eine Erinnerung. Diese blaßt alsbald ab und verschwindet, wenn kein ähnliches Erlebnis sie belebt. Solche Erlebnisse aber, die häufig wiederkehren, erzeugen immer feste Erinnerungen, und die mit ihnen im Zusammenhang stehenden Außendinge erlangen die Eigenschaft, daß sie dem Lebewesen bekannt werden. Dieses Bekanntsein hat nun folgende Beschaffenheit. Ein jedes Erlebnis besteht aus mehreren, meist sehr vielen Anteilen, teils gleichzeitigen, teils sich folgenden. Ist es uns unbekannt, so können wir, wenn wir einen Bestandteil aufgenommen haben, niemals vorher wissen, welche anderen Dinge daneben oder danach sein werden. Ist es uns dagegen bekannt, so genügen die ersten aufgenommenen Anteile, damit wir vorauswissen, welche anderen Anteile wir alsbald erleben werden. Und das Eintreffen solcher Erwartungen bewirkt alsbald Wohlgefühle. Dies hängt damit zusammen, daß zur ungestörten oder erfolgreichen Durchführung unserer Lebensbetätigungen ein solches Vorauswissen unentbehrlich notwendig ist. Weder kann ein Lebewesen Nahrung suchen, noch seinen Feinden entfliehen, wenn es nicht aus anfänglichen Teilerlebnissen Anblick,2o Geruch und dgl. - die Beschaffenheit des Ganzen voraus weiß. 20 Da nicht zu erwarten ist, daß ein Lebewesen beim Anblick des Feindes "alsbald Wohlgefühle entwickelt", muß konstatiert werden, daß die begriffliche Vereinfachung der hier vorliegenden komplexen Zusammenhänge zu Mißverständnissen führt.

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Zwar müssen sich die einfachen Lebewesen damit begnügen, Nahrung nur aus ihrer unmittelbaren Umgebung aufzunehmen und sich ihren Feinden ohne Widerstand preiszugeben; viele Pflanzen sind in solcher Lage. Aber schon bei diesen finden wir Einrichtungen, die auf eine Vorausnahme künftiger Möglichkeiten eingestellt sind, wie sie namentlich in den Schutzvorrichtungen Dornen, Schalen usw. - sich entwickelt zeigen. Sie treten aber noch verhältnismäßig zurück und die Bedeutung der "Voraussicht" zeigt sich um so stärker, je höher das Wesen entwickelt ist, ist also beim Menschen am stärksten. Voraussicht

Das Wort Voraussicht ist bei diesen Erörterungen in einem sehr weiten und übertragenen Sinne gebraucht worden. Auch beim Menschen werden nur verhältnismäßig wenige Handlungen durch eine bewußte, überlegte Voraussicht bestimmt. Bei weitem die meisten erfolgen aufgrund von Gewohnheit, Sitte, Vererbung, Instinkt und anderer Ursachen, welche der bewußten Voraussicht vorangehen und sie ersetzen. Wir kennen seit Darwin und seinen Mitarbeitern etwas genauer die Vorgänge, durch welche bei den Lebewesen eine zur Erhaltung geeignete Beschaffenheit entwickelt wird. Sie beruhen gleichfalls in erster Linie auf dem Gedächtnis, wenn wir diesen Namen auch auf die unterbewußte Angleichung anhäufig sich wiederholende Vorgänge ausdehnen. Denn nur solche Vorgänge können sich häufig wiederholen, welche lebens gemäß sind, da lebenswidrige das Wesen vernichten, sich also nicht durch Wiederholung befestigen können. Da die Fortpflanzung nur eine Fortsetzung des Einzellebens durch die Zwischenform der Keimzelle ist, so dehnt sich die Wirkung des biologischen Gedächtnisses auch über die Lebensdauer des Einzelwesens aus: Nur wird vermöge der sehr weitgehenden Vereinfachung, welche das Wesen in der Keimzelle erfährt, der übertragbare Teil solcher Anpassung entsprechend eingeschränkt. So ist es uns wohlbekannt, daß die Nachkommen zwar Eigenschaften aufweisen, die der betreffenden Art allgemein zukommen, und daß sie auch meist den Eltern ähnlicher ausfallen, als den anderen Angehörigen der Art, daß aber niemals völlige Gleichheit mit den Eltern besteht und daß insbesondere solche Eigenschaften, welche bei den Eltern sich als erste erworben haben, nur geringe Wahrscheinlichkeit der Vererbung haben. Es war nötig, an diese allgemein bekannten und anerkannten Verhältnisse zu erinnern, da sie für das wissenschaftliche Erfassen unseres gesamten Seelenlebens und somit auch des auf die Kunst bezüglichen Teils von größter Bedeutung sind.

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Begriffe

Es ist schon oben angedeutet worden, wie von den mannigfaltigen Erlebnissen, denen ein Wesen ausgesetzt ist, diejenigen einen dauernden Einfluß auf seine Beschaffenheit gewinnen, welche sich in ähnlicher Weise häufig wiederholen. Dieser Einfluß ist vermöge des organischen Gedächtnisses zunächst immer eine körperliche Veränderung oder Anpassung. Findet diese Anpassung aber im Zentralorgan statt, wo die inneren oder geistigen Vorgänge gebildet werden, so kennzeichnet sie sich natürlich auch in geistiger Beziehung. Die geistigen Erzeugnisse solcher Vorgänge nennen wir in ihrer höchsten Ausgestaltung Begriffe. Der Begriff "Baum" entsteht durch das häufige Erleben gewisser Gesichtsbilder, mit denen Tast- und zuweilen auch Geruchs- und Gehörsempfindungen (Rauschen der Blätter) verbunden sind. Solche Sinneserlebnisse sind zwar ähnlich, aber nicht gleich. Das Gedächtnis bewahrt nur die gleichen Anteile auf, die sich wiederholen, während die verschiedenen Anteile aus Mangel der Wiederholung alsbald vergessen werden. So kommt es, daß der Begriff stets viel ärmer an Einzelheiten sein muß, als irgend ein Erlebnis, das unter den Begriff fällt. Immerhin sind im Begriff stets eine Menge Einzelheiten zusammengefaßt, die neben einander erlebt werden. Zwar ist unser Bewußtsein so beschaffen, daß es immer nur einen Bestandteil scharf erfaßt, während die anderen mehr und mehr unbestimmt und undeutlich daneben erscheinen; man kann also das Beisammensein der Bestandteile nur in zeitlicher Folge, einen nach dem anderen, erfassen. Da aber viele Bestandteile die Beschaffenheit zeigen, daß sie in beliebiger Reihenfolge wahrgenommen werden können, so betrachten wir sie als unabhängig von der Zeit oder dauernd. Begriffe, die sich aus solchen Bestandteilen zusammensetzen, nennen wir Ding- oder Gegenstandsbegriff. Dann gibt es aber auch andere Erlebnisse, bei denen gewisse Bestandteile in bestimmter Reihe zeitlich aufeinander folgen. Auch solche bilden durch häufige Wiederholung Begriffe, nämlich solche von Geschehnissen oder Vor~ gängen. Wir können sie daher Vorgangsbegriffe nennen. Zuordnung

Da das Wesen der Begriffe in dem (zeitlichen oder räumlichen) Zusammensein seiner Bestandteile liegt, die im Gedächtnis verbunden sind, so besteht die allgemeine Tatsache, daß das Erleben eines Bestandteils oder einiger weniger die anderen Bestandteile im Geiste als Erinnerungen entstehen läßt, und zwar in derselben räumlichen und zeitlichen Ordnung, wie sie den Begriff haben entstehen lassen.

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Dieser Vorgang der Zuordnung (Assoziation) ist von der allergrößten Wichtigkeit für unser ganzes geistiges Leben, denn er sichert den Zusammenhang der Einzelerlebnisse und damit die Bildung des Ich oder der Persönlichkeit. Er ist, wie eben gezeigt wurde, ein unmittelbares Erzeugnis der Grundeigenschaft aller Lebewesen, des Gedächtnisses und darf daher nicht als eine selbständige Eigenschaft aufgefaßt werden. Dadurch, daß irgend ein einfaches Erlebnis, z. B. die Gesichtsempfindung Grün, als Bestandteil verschiedener Gesamterlebnisse vorkommt und jedesmal alle anderen Bestandteile derselben ins Bewußtsein rufen kann, entsteht durch Zuordnung ein vielfältiges Netz von Beziehungen zwischen allen Erlebnissen, durch welches sie zu einer Einheit verbunden werden, welche die geistige Beschaffenheit des Erlebenden kennzeichnet. Es ist dieser Zusammenhang, den man die Einheit des Bewußtseins, kurz die "Persönlichkeit" nennt. Die Persönlichkeit ist um so reicher, je größer die Anzahl solcher Beziehungen ist und um so einheitlicher, je bestimmter die Beziehungen sind. Daher entwickelt sich die Persönlichkeit erst durch ihre Erlebnisse. Instinkt Bevor es zu der Bildung von bewußten Begriffen kommt, welche nur bei höherem Geistesleben möglich sind, bewirkt das organische Gedächtnis andere Zusammenhänge, die aber von minderer Mannigfaltigkeit sind. Man pflegt sie unter dem Namen Instinkt zusammenzufassen. Wir verstehen also unter Instinkthandlungen solche zusammengesetzte Betätigungen der Lebewesen, welche auf bestimmte Einflüsse hin regelmäßig ablaufen, ohne daß die Teilvorgänge einzeln unmittelbar durch äußere Beeinflussungen hervorgerufen werden. Derartige Instinkthandlungen, oft von äußerst verwickelter und sonderbarer Beschaffenheit werden namentlich im Zusammenhange mit dem Fortpflanzungsgeschäft beobachtet. Bekannt ist das Beispiel der Mordwespen, welche jedem Ei ein durch einen besonderen Stich bewegungslos gemachtes Insekt zufügen, damit die ausschlüpfende Larve alsbald Nahrung findet. Wenn auch die Lehre von der Vererbung und Auslese erklärt, wie sich diese besondere Eigenschaft erhält, so ist doch die erste Entstehung solcher zweckmäßiger Instinkte noch nicht genügend aufgeklärt. Man darf jedoch das Vertrauen haben, daß die Wissenschaft in absehbarer Zeit auch diese Aufgabe lösen wird. Wenn auch beim Menschen die höheren geistigen Formen der Begriffsbildung und des logischen wie kausalen Denkens vorhanden sind, so fehlen ihm doch keineswegs die Instinkte. Denn jene Formen werden nur von einem kleinen Teil der Menschen bewußt und zweckmäßig angewendet und die große Mehrzahl der anderen müßte zugrunde gehen, wenn sich bei ihnen nicht erhal-

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tungsmäßige Instinkte betätigten. Eine besondere Gefahr tritt ein, wenn die Instinkte durch Denktätigkeiten ersetzt werden sollen, bevor diese sachgemäß ausgebildet und eingeübt worden sind. Die ungeheuren sozialen Schäden, welche durch unzulängliches Denken bei physischer Gewalt verursacht werden, sind gerade in jüngster Zeit verhängnisvoll zutage getreten. Fühlen und Denken

Biologisch sind die Gefühle zweifellos als älter und ursprünglicher gegenüber den Empfindungen anzusehen. Wir wissen ja, daß entwicklungsgeschichtlich die verschiedenen Sinnesorgane erst spät entstanden sind, nachdem einfachere Lebewesen bestanden hatten, welche keine besonderen Einrichtungen zur Aufnahme und Unterscheidung verschiedener Energien besaßen. Soweit man solchen Wesen ein Innenleben zusprechen kann und will, wird man dieses durchaus als reines Gefühlsleben bezeichnen müssen. Das Auftreten der Empfindungen ist somit abhängig von einer bestimmten Entwicklungshöhe . Ganz dieselben Schlüsse können wir aus dem Vergleich der Menschen von verschiedener Entwicklungshöhe ziehen. Kinder und Wilde haben ein ganz vorwiegend von Gefühlen erfülltes Innenleben; mit steigender Kultur treten die Empfindungen und Erinnerungen (und die aus ihnen entwickelte Verstandestätigkeit) mehr und mehr in den Vordergrund. Ein hochkultivierter Mensch ist daran erkennbar, daß er seine Gefühle mittels des Verstandes im Zaume hält; ein unkultivierter daran, daß er hierzu unfähig ist. Das vorstehende Urteil über das Verhältnis von Gefühl und Verstand war vom Standpunkt des letzteren, d. h. vom wissenschaftlichen aus gefällt. Gefühlsmäßig wird man gern dem Gefühl als dem Urphänomen die größere Bedeutung zuschreiben, da es schon vorhanden war und das Leben erfüllte und regelte zu einer Zeit, wo vom Verstand überhaupt nicht die Rede sein konnte. Ist das Gefühl auch primitiver, so ist es doch als der Urquell aller geistigen Entwicklung um so ehrwürdiger. Dazu kommt, daß ein Wesen, in welchem das Gefühlsleben aufgehört hat, überhaupt nicht mehr lebensfähig wäre. Alles was uns am Leben hält, was uns veranlaßt, Förderliches anzustreben und Schädliches zu vermeiden, betätigt sich im Gefühl und durch das Gefühl. Das ganze Interesse am eigenen Dasein beruht nicht auf dem Verstande, denn dieser würde an sich ohne weiteres auf das sinnlose Treiben verzichten, sondern auf dem elementaren, vom Verstand ganz unabhängigen, ja oft gegen ihn gerichteten Lebensgefühl, das uns selbsttätig im Dasein festhält. Abschließend muß hervorgehoben werden, daß zwar der Verstand dem Gefühl gerecht werden kann, wie das eben geschehen ist. Das Umgekehrte ist aber nie möglich; stets wird das Gefühl an sich den Verstand verabscheuen.

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Dieser notwendige und unveränderliche Tatbestand muß im Auge behalten werden, wenn man die hier vorhandenen Gegensätze sachgemäß beurteilen will. Wegen der weiteren Entwicklung dieses Gedankens kann auf die Schriften A. Schopenhauers verwiesen werden, dessen Philosophie durch jene grundlegende Unterscheidung von Fühlen und Denken entscheidend bestimmt ist. Bei ihm haben diese beiden Begriffe allerdings andere Namen: sie heißen Wille und Vorstellung gemäß dem Titel seines Hauptwerks. 21 Doch haben wir bereits gesehen, daß der Wille erst ein Erzeugnis aus Gedächtnis und Gefühl ist, die beide sich ihm gegenüber als ursprünglicher erweisen. Dadurch fällt auch für uns jeder Anlaß fort, jene metaphysische Verpersönlichung des Willens als eines selbständigen denkenden oder wenigstens wollenden Wesens mitzumachen, durch welche Schopenhauer jene starke Gefühlswirkung erreichte, die seiner Philosophie so viele Anhänger verschafft hat. Ebensowenig haben wir Grund, den von Schopenhauer eingeführten Gegenspieler des blinden und brutalen Willens, den biegsamen und sinnreichen Intellekt als Sonderpersönlichkeit gelten zu lassen. Wohl aber können wir, indem wir die oben gegebene wissenschaftliche Um deutung vornehmen, aus Schopenhauers scharfsinnigen Darlegungen tiefgreifende Aufschlüsse über das Verhältnis von Fühlen und Denken entnehmen. Die vorstehenden Betrachtungen haben uns nur scheinbar vom Gegenstande abgeführt. Denn die beschriebene Entstehung von Voraussichten ist die Quelle aller Gefühle zweiter Ordnung, welche ihrerseits die Grundlage aller Kunst bilden. Wir brauchen nur beispielsweise eine Katze auf der Mäusejagd zu beobachten, um zu sehen, welche Fülle von Gefühlen der Anblick, ja die bloße Erwartung der Beute hervorruft. Alle solche Gefühle werden ursprünglich erst durch das Verzehren der gefangenen Maus als Gefühle erster Ordnung erregt. Durch die Hilfe der Erinnerung ist aber die Voraussicht aller der aufeinander folgenden Stufen zwischen dem Auflauern und dem Verzehren entstanden, und eine sehr kleine Anregung genügt, um die zugehörigen Gefühle als solche zweiter Ordnung lebendig zu machen. Wir sprechen also den wichtigen Satz aus: Jedes Teilerlebnis, das mit einem Gesamterlebnis zusammenhängt, ist fähig, die mit diesem unmittelbar verbundenen Gefühle als Gefühle zweiter Ordnung hervorzurufen. Es sei hier gleich bemerkt, daß außer den Gefühlen noch Erinnerungen an die verschiedenen Sinneserlebnisse hervorgerufen werden, aus welchen sich das Gesamterlebnis zusammensetzt. Da es uns !tier aber in erster Linie auf eine Untersuchung der Gefühle ankommt, haben wir diese in den Vordergrund gestellt. 21

Siehe FN 13.

Buchbesprechungen Peat, F. David: Der Stein der Weisen. Chaos und verborgene Weltordnung. Hamburg 1992, Hoffmann und Campe, 286 S.

Das neue, nun auch auf deutsch vorliegende Buch des amerikanischen Physikers und Wissenschaftspublizisten David Pe at setzt eine Buchreihe fort, in der der Autor modernste Entwicklungen der Naturwissenschaft, die unter den Schlagworten "Chaos", "Fraktale" und "Nichtlinearität" auch ein breiteres Publikum gefunden haben, auf eine sehr verständliche und unterhaltsame Weise darstellt und gleichzeitig versucht, daraus Anstöße für philosophische und ethische Folgerungen zu gewinnen. Das neue Buch von Peat geht aber weiter als seine Vorgänger: Es enthält den Entwurf eines neuen Weltbildes, welches seine Kraft aus den neuesten Entwicklungen der Naturwissenschaft, besonders aus der prinzipiellen Nichtlokalität von Quantenprozessen (die sogenannten Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen) und aus der Allgegenwart des dynamischen Chaos bei allen komplexeren Systemen schöpft. Diese beiden bedeutenden Entdeckungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen auf eine eigenartig ironische Weise die Grenzen des wissenschaftlichen Reduktionismus, des Programms der totalen wissenschaftlichen Welterklärung, mit seinen eigenen Mitteln. Gödeis mathematischer Beweis der prinzipiellen Unvollständigkeit mathematischer Theorien, seinerzeit als abartige Ausnahmeerscheinung in der Mathematik abgetan, kehrt nun als Metapher für die gesamte moderne Wissenschaft wieder. Peat schildert dabei sehr eindrucksvoll, wie die Menschen bei ihren Versuchen, die sie umgebende Welt zu verstehen, immer neue Arten von "Landkarten" entwarfen: von den kultisch-mystischen "lebendigen" Kartenzeichnungen der Ureinwohner Australiens und den mittelalterlichen symbolgeladenen Gemälden zu religiösen Themen über die Entwicklung der Perspektive in der Renaissance bis hin zu Bacons Programm, die Natur zur peinlichen Befragung auf die Folterbank zu spannen. Auch der nicht wissenschaftlich gebildete Leser gewinnt danach einen Eindruck, welch mächtiges Analyseninstrument die Cartesischen Koordinaten waren und wie sie schließlich die Newtonschen Gesetze und Laplaces Behauptung, bei einer genauen Kenntnis aller Anfangsbedingungen die Entwicklung des Universums bis in alle Ewigkeit vorhersagen zu können, ermöglichten. Dieses Weltbild konnte nur deshalb so außerordentlich erfolgreich werden, weil es alles Menschliche, jede Frage nach Sinn und Bedeutung, radikal als unwissenschaftlich ausgeschlossen hatte. Diese Weitsicht findet seine - heute schon etwas grotesk und auch tragisch anmutende - Krönung in der Überzeugung Steven Hawkings, daß bis zum Ende dieses Jahrhunderts die endgültige Weltformel gefunden sein könnte, welche alles, Vergangenheit und Zukunft, erklären können soll. (Diese "letzte Gleichung" mutet wie eine säkularisierte Form der christlichen Eschatologie an.) Ein weiteres Kapitel widmet Pe at der Quantentheorie, die er am Beispiel des Doppelspalt-Experimentes sehr anschaulich erklärt und dessen verborgene Abgründe er

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uns mit "Schrödingers Katze" näherbringt. Danach konfrontiert er den Leser mit dem Problem der Erklärung des Lebens, welches im Rahmen der klassischen Physik (Boltzmanns H-Theorem vom Anwachsen der Entropie) unlösbar war und erst dank der neuesten Entwicklungen von irreversibler Thermodynamik, der Chaos- und Fraktaltheorie einen wissenschaftlichen Zugang bekommen hat. Neu ist in diesem Zusammenhang seine Idee, David Bohms alternative Interpretation der Quantentheorie (seine Theorie von der "implikaten Ordnung") mit der Chaostheorie, welche auch eine höchst komplexe und verwickelte Form von Ordnung beschreibt, zu verknüpfen. Pe at zeigt in seinem Buch, daß das Programm des wissenschaftlichen Reduktionismus, obwohl es immer noch für große Teile der Naturwissenschaft dominierend ist, faktisch schon gescheitert ist. Die chaotische Dynamik, die fraktalen Strukturen und die Quanten-Nichtlokalität zeigen die prinzipiellen Grenzen einer wissenschaftlichen Methode auf, welche auf der Überzeugung basierte, es gäbe letzte, kleinste Teilchen und die Kenntnis aller Eigenschaften dieser Teilchen wäre notwendig und hinreichend, um die ganze Welt - zumindest im Prinzip - erschöpfend beschreiben zu können. Dieses Scheitern ist aber eher als eine neue Chance zu begreifen: Denn eine neue Wissenschaftsauffassung, welche den Reduktionismus in seine Schranken verweist, bekommt damit gleichzeitig die Möglichkeit, wieder menschlicher zu werden, wieder eine Brücke zu Sinn und Bedeutung, dem, was uns Menschen letztlich interessiert, zu schlagen. Folgerichtig leitet dann auch Peat im letzten Kapitel "Sanftes Handeln für eine harmonische Welt" aus seinen naturphilosophischen Überlegungen die Skizze einer neuen Ethik ab, welche einer Welt der Nichtlinearität und Komplexität mit der ihr genuinen "Unübersichtlichkeit" angepaßt erscheint. Da das entscheidende Paradoxon allen Handelns, so Peat, darin besteht, daß wir zwar handeln müssen, um die Dinge nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen, aber andererseits immer nur mit begrenzter Kompetenz handeln können, muß es durch eine Technik des "schöpferischen Innehaltens" ergänzt werden. Anstatt beispielweise bei Gefahr sofort zu handeln ist es sinnvoll, sich erst für einige Augenblicke in einen Zustand "aktiver Wachsamkeit" zu versetzen, um so eher intuitiv ein Gefühl für die Dynamik der gegenwärtig zugrundeliegenden Prozesse zu bekommen. Komplementär dazu ist es notwendig, "sanftes Handeln" zu lernen: "Nachdem wir uns einen Eindruck von etwas verschafft haben, nehmen wir wirksam, aber sensibel Einfluß." (S. 257) Im Gegensatz zum herkömmlichen Handeln, bei dem große Energien lokal angewandt werden, ist das sanfte Handeln global, indem viele kleine Energieportionen an vielen Stellen gleichzeitig und koordiniert angewandt werden. Ignoriert das lokale Handeln (ein Paradebeispiel in der Politik wäre der Krieg als Problemlöser) die innere Dynamik des Systems (und erreicht deshalb meist etwas völlig anderes, als es der Intention entsprach), so baut das sanfte Handeln gerade darauf auf und kann deshalb mit weniger Gewalt sehr viel mehr erreichen. Dieses Buch vereinigt auf eine glänzende Weise die beiden Ziele, einerseits komplizierte moderne Entwicklungen der Naturwissenschaft einem breiteren Publikum verständlich zu machen und andererseits darauf aufbauend anspruchsvolle philosophische Ideen und Hypothesen zu entwickeln. Auch wenn sicher nicht jeder mit allen Folgerungen einverstanden sein wird, so bietet das Buch doch eine Fülle von Anregungen zum eigenen Weiterdenken. Leider wird dieser gute Eindruck etwas getrübt durch einige Unsauberkeiten in der Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte, die vielleicht erst durch die Übersetzung entstanden sind, zumindest aber dem Übersetzer hätten auffallen müssen. Wenn z. B. bei der Supraleitung von "einigen hundert Grad unter Zimmer-

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temperatur" (es sind in jedem Fall weniger als dreihundert) (S. 99) oder bei der (hypothetischen) schwachen Strahlung des DNA-Moleküls von "lediglich einigen wenigen Photonen zur Zeit" (statt pro Zeiteinheit, noch besser pro Sekunde) gesprochen wird (S. 124), so muß man schon vorher wissen, was gemeint ist, um diese Aussagen nicht mißzuverstehen. Ein wenig mehr Sorgfalt und schöpferisches Innehalten hätten dem ansonsten gut mit Skizzen und graphischen Darstellungen ausgestatteten Buch gutgetan. Ludwig Pohlmann, Berlin

Küppers, Bernd-Olaf: Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt a. M. 1992, Vittorio Klostermann Verlag, 138 S. Die Metaphysik steht gegenwärtig in der philosophischen Profession unter Rechtfertigungsdruck. Einige betrachten sie zwar als Möglichkeit, gewisse Denkübungen zu verrichten, oder als Chance, an unlösbaren Aufgaben die eigene Denkkompetenz zu schulen. Für wiederum andere ist sie immer noch unter philosophiehistorischen Gesichtspunkten rezeptionswürdig und bedenkenswert. Aber in der Regel tendiert man dazu, die gegenwärtige philosophische Reflexion als nachmetaphysische Denktätigkeit zu charakterisieren. Repräsentativ für viele ähnliche Erklärungen ist Jürgen Habermas' Begründung des Relevanzverlustes der klassischen metaphysischen Tradition im gegenwärtigen Denken: Die Problematisierung des totalisierenden, auf das Eine und das Ganze gerichteten Identitätsdenkens, die kontextualisierende Detranszendentalisierung der Vernunft, die den Mentalismus überwindende sprachphilosophische Wende sowie die praktische Depotenzierung eines starken Theoriebegriffes seien irreversible Entwicklungen in der okzidentalen Rationalitätsgeschichte gewesen, die eine Wiederbelebung der traditionellen Metaphysik erschwerten, wenn nicht unmöglich machten. So sind es heute eher philosophisch interessierte und gebildete Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen diejenigen, welche die großen Fragen und Probleme der Metaphysik mit neuen Methoden und Modellen angehen. Einige in sehr spezifischen Forschungskontexten bewährte Erklärungsansätze können dabei im Zuge allgemeiner Analogisierungs- und Globalisierungsoperationen zu mehr-als-theoretischen, metaphysischen Grundformein und Figuren werden, mit denen man Phänomene aus sehr verschiedenen Forschungsbereichen (Chemie, Physik, Kosmologie, Ökologie, Biologie, Psychologie, Soziologie u. a.) begrifflich zu erfassen versucht. Die transdisziplinären Übertragungen, Grenzüberschreitungen und Analogiebildungen, die mittels solcher Operationen zustande kommen, sind grundSätzlich berechtigt, ja sie sind sogar ein Zeichen der viel gepriesenen Kreativität und Innovationspotenz der echten wissenschaftlichen Forschung. Vor allzu leichtfertigen, nicht genug überlegten Übertragungen, vorschnellen Schlußfolgerungen, metaphorischen Verwendungen und vordergründigen Analogiebildungen, die auf "optischen Täuschungen" und "einem bodenlosen Spiel mit Begriffen" gründeten, warnt allerdings B.-O. Küppers' Buch "Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie". (S.87f. und 118f.) Einigen ernstzunehmenden Versuchen, in Schelling einen Vorläufer der Selbstorganisationstheorie zu entdecken, in dessen Werk (wie Marie-Luise Heuser-Keßler in ihrer Promotionsarbeit - "Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das

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neue Paradigma der Selbst organisation in den Naturwissenschaften" - es formuliert hat) "wörtliche Vorwegnahmen des Paradigmas Selbstorganisation" (Heuser-Keßler, S.7 und 12) zu finden seien, setzt Küppers seine These von der radikalen Differenz der Naturphilosophie Schellings entgegen. (S.15, 115 und 118) Nur wenn man künstlich und ex post eine solche angebliche Antizipation konstruiere, könne man behaupten, die spekulative, organismische Naturauffassung Schellings, die sogar hinderlich für den Fortschritt der Biologie gewesen sei, sei von höchster Aktualität. (S. 15, 119) Die Schellingsche Naturkonzeption operiere zentral, so Küppers, mit einem spekulativen, wissenschaftlich unbrauchbaren Organismusbegriff, mittels dessen Schelling das herkömmliche Bild einer mechanischen (einem Uhrwerk gleichenden) Natur durch die Vorstellung von einer höchst produktiven, sich ständig im Werden befindenden Natur ersetzen wolle. (S.12, 107, 109f.) Der Natur als All-Organismus und Manifestationsort des Absoluten, so Küppers weiter, käme in der Schellingschen Naturkonzeption das Moment des Unbedingten zu. (S. 84,116) Außerdem seien die meisten Bestimmungen einer solchen Naturphilosophie eher metaphorische Modelle und keineswegs präzise Beschreibungen natürlicher Gegebenheiten, was Küppers exemplarisch anhand der Schellingschen Vorstellungen zum Kräftedualismus nachweist. Die Schellingsche Naturphilosophie, und hierauf läuft die ganze Argumentation Küppers' hinaus, könne also nur adäquat verstanden werden, wenn man berücksichtige, daß Schelling seinen Naturbegriff mittels einer Abstraktion vom "Ich"-Begriff der Fichtesehen Wissenschaftslehre gewinne. Mit anderen Worten: Nur wenn man bedenke, daß Schellings Natur die Rolle des (von den Transzendentalphilosophen erforschten) konstruierenden Subjektes, dem Unbedingtheit wesentlich zukomme, übernehme, sei man in der Lage, Schellings Unterscheidungen (z. B. die zwischen Natur als Subjekt und Natur als Objekt in der "Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" aus dem Jahre 1799) und überhaupt die Quintessenz seiner Konzeption (die Auffassung der Natur als "immaterielles", unbedingtes, freies Subjekt, das sich per definitionem jeder mechanistischen Betrachtungsweise entziehe) in angemessener Weise zu verstehen. (S. 48f., 51 und 82f.) Mit der modernen Vorstellung einer emergenten, zu wesensmäßig Neuem führenden Evolution der Natur habe eine solche Konzeption daher nichts zu tun, (S 112) denn in ihr gehe es um einen "idealischen Entfaltungsprozeß, bei dem das Ideal, von individuellen Abweichungen abgesehen, fortwährend reproduziert wird." (S. 58, 116) Schellings Wissenschaftsverständnis divergiere auch ganz von unserem eigenen Verständnis. Er trenne die Naturphilosophie als strenge Wissenschaft, in der man von "den Prinzipien des Unbedingten" allein auszugehen habe, von der Naturforschung, in der das wissenschaftsunfähige Erfahrungswissen im Mittelpunkt stehe. (S. 61, 63f.) Der induktiven Vorgehensweise der empirischen Naturforschung habe Schelling schließlich seine Naturphilosophie als "höhere Erkenntniß der Natur" entgegengesetzt, genauso wie er der "mechanischen Physik" von Autoren wie G. L. Le Sage und seinen Anhängern J. A. De Luc und P. Prevost seine eigene "dynamische Physik" entgegengesetzt habe. (S. 63 und 68ff.) Bernd-Olaf Küppers hat entsprechend seiner restriktiven Grundintention, den euphorischen Versuchen einer retrospektiven Konstruktion der Entstehungsgeschichte des Forschungsmodells Selbstorganisation gegenüber die inhaltlichen Grenzen eines solchen Unternehmens dezidiert zu markieren, seine Untersuchung systematisch geplant und klar gegliedert. In einem ersten Kapitel stellt er den philosophiegeschichtlichen Kontext dar, in dem die Schellingsche Philosophie in Auseinandersetzung mit den transzendentalphilosophischen Konzeptionen Kants und Fichtes und im Sinne

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einer Neubesetzung alter Positionen und Funktionen entstanden ist. Im zweiten Kapitel weist Küppers nachdrücklich auf die Differenz zwischen der Schellingschen Naturphilosophie und der damaligen Naturforschung hin. Im dritten und letzten Kapitel rekonstruiert er dann die einzelnen Momente dieser spekulativen Naturphilosophie. Ein Verdienst der Arbeit besteht zweifelsohne darin, daß ihr Autor diesseits bzw. jenseits gängiger Schematisierungen differenzierend vorgeht, so z. B. wenn er auf Seite 68 erörtert, wie und in welchem Sinne man von "der" Naturphilosophie Schellings reden kann. Für die weitere Diskussion wirft die Untersuchung B.-O. Küppers' erneut die Frage nach der Kommensurabilität bzw. Nichtkommensurabilität von in unterschiedlichen Argumentationskontexten entwickelten Theorieansätzen und -modellen auf. Was die Relevanz der spekulativen Naturphilosophie Schellings für die Selbstverständigungsversuche der Selbstorganisationstheoretiker angeht, ist Küppers' Antwort eine eindeutige. Thomas Gil, Stuttgart

Haken, Hermann und Haken-Krell, Maria: Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung. Synergetik als Schlüssel zum Gehirn. Stuttgart 1992, Deutsche Verlags-Anstalt, 264 S. Nach den Darlegungen über "Erfolgsgeheimnisse der Natur" (1983) entwickelt Hermann Haken, in Zusammenarbeit mit seiner Tochter, Maria Haken-Krell, Denkwege, um die "Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung" aufzuspüren. In populärer Darstellung erhält der Leser einen Einblick in Methoden zur Erforschung des neuronalen Netzwerkes. Der durch Haken in den siebziger Jahren erarbeitete Wissenschaftszweig "Synergetik" wird als ein "Schlüssel zum Gehirn" vorgestellt. (Der Autor hat in dieser JahrbuchReihe, Bd.l (1990) unter dem Titel "Über das Verhältnis der Synergetik zur Thermodynamik, Kybernetik und Informationstheorie" in einige Inhalte der Synergetik eingeführt.) Aus dem Wesen der Synergetik folgt, daß sie weder ausschließlich der These nachgeht, daß das Gehirn verstanden ist, wenn wir seine kleinsten Elemente, die einzelnen Neuronen verstehen, noch der anderen, daß die neuronalen Verknüpfungen umgekehrt nur ganzheitlich phänomenologisch (d. h. makroskopisch) gedeutet werden können. Fest steht, daß eine geistige Leistung, als ein Prozeß der Selbstorganisation, allgemeinen Strukturgesetzen genügt. Die Synergetik geht, im besonderen auf das angesprochene Gebiet bezogen, davon aus, daß eine neuronale Musterbildung nicht sequentiell nacheinander erfolgt, sondern in einem zeitlich-parallelen Verlauf werden Einzelneuronen und ganze Bereiche von ihnen so aktiviert, daß zur Beschreibung der Vorgänge das Gesetz der Ordnungsparameterbildung und das Versklavungsprinzip in Anwendung gebracht werden können. Im Teil I werden, neben dem Vorstellen einiger Grundideen der Synergetik, Leistungen des Gehirns durch beeindruckende Beispiele in Analogie zu synergetischen Erscheinungen gesetzt. Der Teil 11 bietet den "Ein( -)Blick" ins Gehirn und zwar mit einer gen auen Erörterung seiner Anatomie und der Funktionen der Neuronen.

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Der Sehvorgang wird dabei in das Zentrum der Erläuterungen gerückt, so daß dann im Teil III die Synergetik der Bilderkennung, Hakens neueres Forschungsgebiet, diskutiert werden kann. Das Vermögen des synergetischen Computers, Muster zu erkennen und diese Leistung bei Variation der Bedingungen unter Beweis zu stellen, wird beeindruckend geschildert und läßt eine neue Epoche auf dem Feld neuronaler Computer eröffnen. Der synergetische Computer simuliert die sich selbstorganisierenden Vorgänge im Gehirn. Damit ist diese Computerart die einzige, die offene Systeme und damit nichtlineares Geschehen modellmäßig zu bearbeiten vermag. Hakens Grundannahme, die er seinen Arbeiten auf diesem Gebiet unterlegt hat, nämlich daß die Musterbildung direkt in Analogie zur Mustererkennung zu sehen ist, konnte bestätigt werden. Die "Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung" finden somit in den Strukturgesetzen innovativen Geschehens ihren natürlichen Grund. Uwe Niedersen, Halle (Saale) Wyss, Dieter: Die Philosophie des Chaos oder das Irrationale. Die Bestimmung des Menschen in einer irrationalen Welt. Würzburg 1992, Königshausen & Neumann, 198 S. Die in abendländischer Tradition gewachsene Rationalität des streng begrifflichen, d. h. urteilenden Denkens gilt als die zivilisationsstiftende Leistung menschlicher Kulturentwicklung schlechthin. Jenseits von Naturwissenschaft und Technik, für deren Herausbildung sie konstitutiv war, bestimmt sie freilich auch Lebensformen und Werte unserer modernen Kultur, womit zumeist die Abwertung anderer, weniger ,leistungsfähiger' Denktraditionen und Kulturen verbunden ist. Oft wird übersehen, daß mit der konsequenten Ausgrenzung - nicht selten auch Vernichtung - des ,Anderen' und ,Fremden' neben der unbestreitbaren Dominanz dieser Kultur zugleich auch deren tödliche Krise grundgelegt ist. So verwundert es kaum, daß sich im Blick auf die vermeintlichen Erfolge der technischen Zivilisation, jenes philosophische Konzept zu bestätigen scheint, das beginnend bei den Griechen bis hin zu den Systementwürfen des Idealismus letztlich auf der Identität von Vernunft, Logik und Sein beruht. Die pathologische Selbstüberschätzung neuzeitlicher Rationalität hat hier ihren Ort. Im Horizont zeitloser Denkfiguren erscheint die Wirklichkeit als begrifflich und sodann technisch separierbar, mithin rational verfügbar. Die zwingende Konsistenz und Schlüssigkeit solchen Denkens gründet in der systematischen Ausgrenzung des Untrennbaren und Unverfügbaren, des Unbestimmten und Unvorhersehbaren. Erst im nicht selten katastrophischen Scheitern rationaler Konstrukte, im schmerzlichen Verlust beanspruchter Gewißheiten, meldet sich das Verdrängte zu Wort. Die vom Menschen zumeist als tragisch erlebte Spannung zwischen Wissen und Sein, zwischen den Gewißheiten des Denkens und den Ent-Täuschungen des Lebens, sichtbar in den unvermeidlichen Aporien eines rationalen Zugangs zum Ganzen der Wirklichkeit bildet gleichsam jene Quelle, aus der sich die abendländische Denktradition von jeher speist, immer freilich mit dem Ziel, sie im Denken zu überwinden. Die von Adorno benannte Paradoxie, "über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen" markiert die immanente Vergeblichkeit des scheinbar aufgeklärten Anspruchs, im Den-

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ken des Begriffs die Wahrheit des Seins zu erschließen. Zeigt sich diese Vergeblichkeit überdeutlich im tödlichen Drama der gegenwärtigen politischen und kulturellen Orientierungskrisen infolge des Scheiterns der aus einem emanzipativen Aufklärungsoptimismus erwachsenen säkularen Heilserwartungen, so ist es allererst das Verdienst der modernen Naturwissenschaften, die verhängnisvolle Perspektive einer sich selbst nicht hinterfragenden Rationalität mit der Wiederentdeckung des Seins der Welt jenseits der Logik des Begriffs aufgebrochen zu haben. Ihr neuzeitlich positivistisches Selbstverständnis hindert sie freilich an der Selbstwahrnehmung dieser Leistung, was zur Verdrängung ihres Mehr-Wissens führt, und damit zum eigentlichen Dilemma der modernen Naturwissenschaft. Das neu este Buch des Würzburger Psychotherapeuten und Philosophen Dieter Wyss widmet sich dem schwierigen Unternehmen, die Irrationalität des Seins, wie sie jeder rationalen Deutung immer schon vorausgeht, selbst zur Darstellung zu bringen - freilich in dem Wissen um die Unverzichtbarkeit jener Deutungen für die Gestaltung gelingenden Lebens, seien es nun Mythen, Religionen oder wissenschaftliche Weltbilder. Insofern spiegelt sich die Irrationalität des Seins in den Antinomien menschlichen Daseins wider, in der paradoxen Struktur des Selbst-Bewußtseins. Besonders deutlich aber am Beispiel des eigentümlichen Prozesses der ontogenetischen Herausbildung logischer Kategorien aus der ungebrochenen Welt der vorprädikativen (irrationalen) Erfahrung des Kindes (vgl. Kap. VI, VII), so daß sich die Frage aufdrängt, ob hierin ein ,Gewinn' an Erkenntnisfähigkeit oder aber eher ein Verlust des ,Ursprungs', vielleicht der ,Wahrheit des Ungetrennten' gesehen werden muß? Doch im Horizont unserer Kultur, einer Kultur der Trennungen, stellt sich diese Frage nicht. Auch wenn die nüchterne Entfaltung der elementaren, begrifflich unhintergehbaren Widersprüchlichkeit des Seins manches allzu naive Weltbild und dessen vermeintlichen Gewißheiten radikal erschüttern mag, geht es dem Verf. gleichwohl um die Bestimmung des Menschen, um eine Grundlegung gelingenden Lebens - dies aber redlicherweise im Kontext des Irrationalen, des rational nicht Wißbaren. So wird jener skeptische Urgestus des Philosophierens in sein Recht gesetzt, dem die Eindeutigkeit und Konsistenz systematischen Denkens von jeher suspekt war, dessen ,Bestätigungen' sich vielmehr im Scheitern vorschneller Entwürfe, in der quälenden Unbeantwortbarkeit offener Fragen finden. Die in äußerst dichte, mitunter auch eigenwillige Sprache gegossenen Denkfiguren dieses Buches wissen sich in der unauflösbaren Verbindung von Schmerz und Erkenntnis, von Erwartung und Enttäuschung beheimatet. Nicht das Bekannte, sich immer Wiederholende, und daher sicher Vorhersagbare, sondern das Unerwartete, das Fremde und Unmögliche wird als Fundament des Wirklichen ausgewiesen. Nicht aus dem Jetzt, sondern aus der Unwirklichkeit des Noch-nicht-Seins der Zukunft erwächst das Geschehen des werdenden Lebens, die Dynamik der Geschichte. Die Faktizität des logischen Urteils hingegen, hat ihren Ursprung in der Vergangenheit. Zwischen diesen gegensätzlichen Zeitrichtungen, im je aktuellen Jetzt des reflektierenden Bewußtseins findet sich das denkende Ich wieder. Die Antinomie des Augenblicks umschließt gleichsam "Zeitfolge und Gleichzeitigkeit des Jetzt, des Nicht-mehr und Noch-nicht. Das Werden aber, das als Vollzug der Antinomie von Gleichzeitigkeit und Veränderung an ,jedem Punkt' von lebendiger Entwicklung sich gleichzeitig aus der Zukunft entwirft, kennt nicht das ,Ist' des Augenblicks ... " (S. 122) Mit der hier versuchten zeitphilosophischen Erhellung der Diastase zwischen dem Denken des Begriffs und dem Geschehen des Werdens ist der Rahmen einer ,Philosophie der Selbstorganisation' skizziert, deren detaillierte Darstellung die akademische

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Philosophie noch immer schuldig geblieben ist. Diesem Desiderat verdanken sich die vielfältigen Fehldeutungen einer objektivierenden Wissenschaft angesichts des Verlustes ihrer Objekte. (Kap. VIII) Insofern sich die Zeitgestalt des lebendigen Werdens, wie auch der Kreativität des künstlerischen Prozesses - eigentlich jeder Bildung von Individualität -, als das Andere der Rationalität, der Eindeutigkeit des Logischen, zeigt, verweist das Scheitern des kausaldeterministischen Weltbildes der klassischen Physik angesichts des quanten mechanischen Beobachterdilemmas und der selbstorganisierenden Dynamik ,chaotischer' Systeme, weit weniger auf ein Wissensdefizit als vielmehr auf eine Befreiung aus der tödlichen Enge falschen ("perspektivischen") Denkens. Dank dieses Scheiterns eröffnen sich neue Möglichkeiten angemessenen Redens von der Wirklichkeit des Seins der Welt. Die vom Erklärungsoptimismus der Neuzeit verdrängten paradoxen Denkfiguren der Negativen Theologie (Thomas von Aquino) und des jüdischen Bilderverbots (dessen Tradition in den Nischen der Kunst überlebte, vgl. die moderne Malerei oder die Dichtung von Max Frisch und Paul Celan) erlangen nunmehr überraschenderweise im Kontext einer ihre Grenzen überschreitenden Naturwissenschaft völlig neue Aktualität (diese Grenzüberschreitungen werden in einem Anhang an Beispielen aus der Relativitätstheorie, der Quantentheorie, der Chaosforschung und der Mathematik, insbes. bei Brouwer und Gödel, kenntnisreich referiert). So verwundert es nicht, wenn sich als Ausweg aus den lähmenden Aporien einer Subjektivitätsphilosophie, deren Vernunft in ihrem Streben nach absoluter Autonomie letztlich nur noch um sich selbst kreist, die "Existenz des nicht ausgeschlossenen Dritten" erweist, jene paradoxe Gleichzeitigkeit von Stabilität und Labilität, von Werden und Vergehen, von Einheit und Differenz, die das Sein des Lebendigen vor jedem Denken immer schon bestimmt. Von dieser nahezu trivialen, freilich zumeist verdrängten Einsicht her, entfaltet der Verf. eine am Zeitbegriff, genauer: an den Antinomien des Zeitbegriffs orientierte radikale Kritik der klassischen Ontologie und Erkenntnislehre. Den Einstieg leistet eine luzide Erörterung des Begriffs "Bewußt-Sein", die im Sinne einer "Ontologie des Erkenntnisaktes" zur "Doppelnatur des Ich", zur paradoxen Gleichzeitigkeit des "Bei-sich-selbst-Seins" und des "Bei-der-Welt-Seins" führt (Kap. II). Im elementaren "Bezug auf etwas hin", in der "Begegnung mit dem Anderen", verwandelt sich die radikale Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen dem Sein des Bewuß-Seins und dem Bewußt-Sein des Seins, immer aufs neue in die schmerzhaften Gestalten des gelebten und also erlittenen Augenblicks. Hier hat die Denkfigur der ,Krise' ihren Ort: die Weise, die Wahrheit des Anderen zu erfahren. Als Schnittpunkt von Differenz und Identität, von Zeitlichkeit und Außer-Zeitlichkeit, wird das bewußte Ich zur Vorbedingung rationaler Perspektivität (vgl. die empirischen Befunde von Piaget, Freud und Winnicott) - eines freilich defizienten Entwurfs von ,schützender' Ordnung, der zugleich aber die Entfaltung von Geschichte, die Gestaltung des Neuen einschränkt, in Strenge sogar verhindert. Im Lichte einer "Onto-Anthropologie des Zwischen", die gleichermaßen den Ort menschlichen Daseins in der unaufhebbaren Spannung der Zeitmodi bestimmt, wie sie den diskontinuierlichen, punktuellen Charakter jeder "Perspektive" deutlich werden läßt, gelangt der Verf. über eine kritische, auf Kant und N. Hartmann zurückgreifende, Diskussion der Kategorien und Modalitäten des Erkennens zur Frage nach der "ontologischen Wirklichkeit eines logisch unmöglichen Seins" (S. 89), zum radikalen Bruch also mit der klassischen Identität von Logik und Ontologie. Ein neues Konzept ontogenetisch begründeter Kategorien ("aperspektivische Ontologie"), das der

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"Beziehung" den Vorrang vor dem "Dasein" einräumt, und die Modalitäten des "Zwischen" an die Stelle der Substanzen setzt, eröffnet sodann den Ausblick auf eine , Theorie der Intersubjektivität', deren Ursprung in der wahr-genommenen Begegnung mit dem Anderen liegt. So mündet diese kritische philosophische Besinnung - die im Kontext eines Dichtung, Medizin und Philosophie umfassenden (Euvres von nahezu 20 Monografien zu sehen ist - in ein ethisches Programm jenseits der Machtförmigkeiten separierenden Denkens, das der Präsenz des Guten ebenso wie jener des Bösen gerecht wird - mit einem Wort: der Irrationalität des Seins. Eines Seins, "wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereinigt ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenommen werden kan, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll zu verlezen" (Friedrich Hölderlin). Rainer-M. E. Jacobi, Berlin

Coveney, Peter und Highfield, Roger: Anti-Chaos. Der Pfeil der Zeit in der Selbstorganisation des Lebens. Reinbek bei Hamburg 1992, Rowohlt, 464 S. "Vielleicht ist es gar nicht überraschend, wie wenige Wissenschaftler wahrgenommen haben, daß in dem Paradoxon der Irreversibilität etwas wirklich Revolutionäres verborgen liegt. Unter den Naturwissenschaftlern entsteht ein ständig wachsender Druck, sich zu spezialisieren, um viel zu publizieren und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu können. Die Folgen sind ein exponentielles Wachstum der Fachliteratur und eine zunehmende Bereitschaft, Verstehen auf dem Altar des Berechnens zu opfern." (S. 350). Dieser Satz charakterisiert die Intentionen des Buches von Coveney und Highfield viel treffender, als der etwas reißerische Titel der deutschen Übersetzung (der englische Originaltitel heißt dann auch viel nüchterner "The Arrow of Time"). Die Autoren gehören zu den wenigen, die es trotzdem wagen, über den Tellerrand der engen Spezialisierungen hinauszublicken und dazu noch das Geschick haben, auch den nicht naturwissenschaftlich gebildeten Leser an den sich dabei eröffnenden atemberaubenden Aussichten teilhaben zu lassen. Das Buch unternimmt den ehrgeizigen Versuch, Geschichte und Gegenwart des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs, beginnend bei Newton, auf eine verständliche Weise darzustellen. Daß ihnen dies gelungen ist, liegt wohl auch an der ausgezeichneten Qualifikation der Autoren für dieses Unterfangen: Peter Coveney ist aktiver Forscher auf dem Gebiet der irreversiblen Prozesse und ein intimer Kenner der Brüsseler Schule um Ilya Prigogine herum, Roger Highfield ist ein renommierter Wissenschaftsjournalist beim "Daily Telegraph" in London. Eine Fülle von interessanten biographischen Anekdoten über die für die Erforschung der Reversibilität bzw. Irreversibilität maßgeblichen Wissenschaftler, viele Skizzen und z. T. farbige Abbildungen lockern den an sich schweren Stoff auf und erleichtern das Verständnis. Denn die Geschichte unseres heutigen Zeitbegriffs ist vor allem eine Geschichte der Physik, aber auch der chemischen Kinetik und der biologischen Evolutionstheorie. Deshalb bedarf es auch mehr als der Hälfte des Buches, um nach einer Behandlung der zeitlichen Aspekte von Newtonscher Mechanik, klassischer statistischer Mechanik, Elektrodynamik, Quantenmechanik und Relativitätstheorie zum eigentlichen Gegenstand zu kommen: zur modernen Theorie der Selbstorganisation. 20 Selbstorganisation, Bd. 4

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Das Studium dieses ersten Teils des Buches lohnt aber, denn es vermittelt in einer großen Klarheit die Einsicht, daß bezüglich der Zeit die gesamte moderne Naturwissenschaft in einem tiefen Dilemma steckt: Entweder sind die allgemein anerkannten (und zeitlich streng reversiblen!) Gesetze der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie die alleinige Basis unserer Welt - dann aber sind alle sichtbaren Manifestationen der Irreversibilität, des "Pfeils der Zeit" (so alle Lebensprozesse, das Altern, überhaupt der 2. Hauptsatz der Thermodynamik) nur eine subjektive Illusion. Oder, wenn man diesen absurden Schluß nicht zu ziehen bereit ist, ist man gezwungen anzuerkennen, daß die eben genannten physikalischen Gesetze trotz ihrer überwältigenden experimentellen Bestätigungen in einem wichtigen Punkt (in ihrer zeitlichen Symmetrie) nicht für unsere Welt zutreffend sind. Dieses Dilemma machen sich auch heute nur wenige Naturwissenschaftler klar (siehe oben), eher ist man geneigt, es zu verdrängen oder gar den Ausweg in subjektivistischen Interpretationen (Grobkörnungs-Ansatz in der statistischen Physik, von-Neumannsche Interpretation der Quantenmechanik usw.) der Physik zu suchen. Im zweiten Teil des Buches widmen sich dann die Autoren der modernen Theorie der Selbstorganisation, wobei natürlich der dynamische Aspekt im Vordergrund steht: die Entstehung selbsterregter chemischer Schwingungen in der Belousov-ZhabotinskyReaktion bis hin zu den "chemischen Uhren" in allen Lebewesen, die Entstehung neuer Arten in der Evolutionsbiologie und ihre Konkurrenz in der Populationstheorie und selbstverständlich das Auftreten von dynamischem Chaos in hinreichend komplexen Systemen vom Wetter bis zur Gehirnaktivität. Dabei betonen die Autoren zu Recht, daß der heutzutage modische und spektakuläre Begriff des Chaos leider etwas überbewertet wird. Denn der fundamentalere Vorgang ist die Selbstorganisation, die sowohl zu neuer Ordnung, als auch zu chaotischem Verhalten führen kann. Gerade für die Biologie aber sind diese Prozesse der selbstorganisierten Ordnung ("Anti-Chaos") wesentlich interessanter als die Bereiche des Chaos (die auch vorkommen). In der einfachen Bifurkation stecken auch schon im Keime alle der Eigenschaften, die das deterministische Chaos so berühmt machten: die empfindliche Abhängigkeit der Entwicklung von kleinsten Störungen und die Irreversibilität. Die neue, noch in stürmischer Entwicklung befindliche Theorie der Selbstorganisation hat heute schon mehr zum Verständnis der Zeit beigetragen, als alle die eleganten, aber zeitlich reversiblen physikalischen Theorien davor. Die Autoren widmen sich sehr ausführlich den Aspekten der modernen Selbstorganisationsforschung, die darauf abzielen, den Pfeil der Zeit auch auf mikroskopischem Niveau zu finden. Ohne jede Formel kann der Leser sehr viel über die Grundaussagen der modernen Ergodentheorie und über die Versuche Roger Penroses, bei der Vereinigung von Quantenmechanik und Gravitationstheorie die Irreversibilität der Zeit explizit zu berücksichtigen lernen. "Anti-Chaos" ist ein ausgezeichnetes Buch für all jene, welche am Problem des Zeitbegriffs und an der modernen Selbstorganisationsforschung interessiert sind. Die Übersetzung ist sprachlich gut und wissenschaftlich genau, allerdings hätte man sich lieber die Mühe sparen sollen, das Zitat aus Goethes "Faust" (S. 67) aus dem englischen rückzuübersetzen. Ludwig Pohlmann, Berlin

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Paslack, Rainer: Urgeschichte der Selbstorganisation. Zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas. (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie, hrsg. von Siegfried J. Schmidt, Bd.32), Braunschweig/Wiesbaden 1991, Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft, 211 S.

Eine ,Urgeschichte der Selbstorganisation' zu schreiben ist ein mutiges Unterfangen, da es sich nicht nur um die Darstellung der Geschichte eines isolierten Spezialgebietes handelt, sondern im Grunde ein Längsschnitt durch die gesamte Wissenschaftsgeschichte spätestens seit der Antike zu vollziehen ist. Denn die Frage nach der Entstehung und der Organisation von ,toter' und ,lebendiger' Ordnung war bereits ein Grundthema in den Schöpfungsmythen und hat seither die Philosophen und Naturwissenschaftler bis in die Gegenwart beschäftigt und wird dies auch weiter tun. Rainer Paslack konstatiert in der Entwicklung des Paradigmas der Selbstorganisation zu Beginn der 1970er Jahre eine Zäsur, die durch den Durchbruch moderner Konzepte, wie der Thermodynamik irreversibler Prozesse oder der Synergetik gekennzeichnet ist und auch äußerlich durch einen enormen Zuwachs an Publikationszahlen und wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten auf diesem Gebiet belegt werden kann. Im Sinne dieser Zäsur erfolgt dann auch eine Gliederung des Buches in zwei Kapitel über die ,frühen' und die ,modernen' Konzepte der Selbstorganisation. Wichtig ist die Feststellung, daß der historische Ablauf dieser Vorstellungen nicht als lückenlose Traditionslinie zu betrachten ist (die sich durch anscheinend "kausale" Aufeinanderfolge historischer Fakten bequem konstruieren ließe), sondern als stetige Veränderung des allgemeinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkens gewirkt hat, der letzIich vor etwa 20 Jahren zu einem Umbruch führte (S. Sff.). Tatsächlich waren sich führende Vertreter der heutigen Selbstorganisationsforschung, wie etwa lIya Prigogine oder Hermann Haken bei der ursprünglichen Formulierung ihrer Ideen - die oftmals aus traditionellen Problemstellungen, etwa der Thermodynamik, heraus erfolgte - der langen Kette von Vorläufern nicht immer bewußt gewesen (S. 91ff.). In diesem Sinne könnte man von einer Entwicklung eines rational kaum zu fixierenden wissenschaftsgeschichtlichen "Unterbewußtseins" sprechen, das dennoch nachweisbare Wirkungen zeitigen kann. Die Darstellung und Bewertung des ideengeschichtlichen Vorlaufs der Selbstorganisationsforschung leitet das Kapitel der ,frühen' Konzepte ein, das wegen der Menge des abzuhandelnen Stoffes notwendig kursorisch und lückenhaft bleiben muß. So wird den religiösen Schöpfungsmythen gerade eine Seite gewidmet; auch die antiken Konzepte von Selbstordnung und Chaos finden auf gut drei Seiten Platz. Der Bogen spannt sich dann weiter vom pantheistischen Weltbild der Renaissance, der Einheit von Natur und (permanent wirkendem) Schöpfer, über die spontane Ausbildung von Wirbeln und Rotationen bei Descartes, die Etablierung des mechanischen Weltbildes im 17. bis zur Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Es finden sich dort bemerkenswerte Passagen bei Leibniz, Kant und Schelling zur Entstehung der komplexen Ordnung in der Natur, die bei Ignorieren des jeweiligen historischen Bezuges immer wieder sehr verführerisch zu dem Glauben verleiten können, daß sehr ,moderne' Ansichten bereits damals vorweggenommen (und wieder vergessen) worden sind. Die Ausführungen über den ,naturwissenschaftlichen Vorlauf' enthalten zahlreiche Angaben über den schrittweisen Wandel des Denkens in der Mechanik, der Thermo20'

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dynamik, in der physikalischen Chemie, der Evolutionsbiologie, der Psychophysik, der Gestaltpsychologie etc. bis hin zur Kybernetik und Systemtheorie vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur jüngeren Vergangenheit, der sich vor allem in dem allmählichen Übergang von der Reversibilität zur Irreversibilität und damit allgemein zur evolutionistischen Sichtweise, von der (idealisierten) Geschlossenheit zur Offenheit der Systeme, von der (lange Zeit allein behandelbaren) Linearität zur Nichtlinearität und nicht zuletzt zur Anerkennung der besonderen Rolle des Zufalls in der Entwicklung äußert. Analoge Tendenzen lassen sich auch in der Soziologie beobachten; interessant ist auch hier das Wechselspiel von dort autonom gewachsenen Denkansätzen und von physikalisch-kybernetischen Vorstellungen, die von außen her einfließen konnten. Ansätze zu Konzepten der Selbstorganisation gab es bekanntlich auch in der Ökonomie, die allerdings im vorliegenden Buch nicht behandelt werden. Bedauerlich ist auch, daß die zum Teil sogar kontinuierlich aufrechterhaltenen Traditionslinien in der physikalischen Chemie und der Biophysik, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit strukturbildenden Phänomenen und zeitlichen Rhythmen als Modelle zur Nachahmung des Lebendigen befaßt hatten, nur nebenher erwähnt werden. So erscheint etwa Wilhelm Ostwald (1853 - 1932), auf den viele ,synergetische' Ideen und Experimente zurückgehen, gerade noch in einer Fußnote zu Ludwig von Bertalanffy (S. 58), der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge (1794 - 1867), der u. a. die bekannten ,Musterbilder' schuf, gar nicht mehr; ebenso vergessen wurde der schottische Biologe D'Arcy Wentworth Thompson (1860 - 1948), der in seinem 1917 erschienenen Buch "On Growth and Form" das bereits damals bekannte Wissen über das Wirken physikalisch-chemischer Gestaltbildungsvorgänge in der Biologie zusammengefaßt hatte. Etwas näher eingegangen wird auf den Kolloidchemiker Raphael Ed. Liesegang (1869 - 1947), den Entdecker der konzentrischen Fällungsmuster, die über viele Jahrzehnte weitreichende Analogien zu biologischen und geologischen Bänderungen vermuten ließen. Ein ,Bakteriologe' (S. 49) war Liesegang jedoch nicht. Das letzte Kapitel widmet sich schließlich den ,modernen' Konzepten der Selbstorganisation, die sich seit Ende der 1960er Jahre durchzusetzen begannen. Zu den Voraussetzungen für diesen Umbruch zählen einmal der durch die Vorlaufsforschungen erbrachte ,quantitative' Wandel des wissenschaftlichen (Unter-) Bewußtseins, ferner das Auftreten von solchen Persönlichkeiten wie Ilya Prigogine, Hermann Haken, Manfred Eigen, Heinz von Foerster oder Humberto Maturana, die es mit entsprechendem Weitblick verstanden, aus einer jeweils fachspezifischen Problemstellung heraus schließlich eines der interdisziplinären Konzepte wie der ,Dissipativen Strukturen', der ,Synergetik' oder der ,Autopoiesis' zu entwickeln. Dabei konnte man sich in den zurückliegenden 20 Jahren nunmehr auch mathematischer Methoden und leistung- (und grafikfähiger) Rechentechnik zur Behandlung nichtlinearer Modellsysteme bedienen, die vordem nicht vorhanden waren und die Umsetzung und Visualisierung entsprechender Ansätze nun erst ermöglichten. Nicht zu unterschätzen ist auch die psychologische Wirkung dieser neu eingeführten Termini (verbunden mit schulbiIdenden wissenschaftsorganisatorischen Leistungen) in Hinblick auf die Konvergenz der sonst vielfach isoliert betriebenen Forschungsaktivitäten. Neben den eben genannten neuen Richtungen werden auch die Theorie autokatalytischer Hyperzyklen, die Chaostheorien, moderne system theoretisch-kybernetische Ansätze sowie die Theorie "elastischer" Ökosysteme referiert. Über die Darstellung bereits bekannter Literatur hinaus gewinnt das Buch durch die ausgiebige Verwendung

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von Interviewpassagen mit führenden Vertretern der Selbstorganisationsforschung, die uns einen Einblick in die wirkliche (und nicht im nachhinein stilisierte) Bewußtseinslage der Forscher in der Phase des beginnenden Paradigmenwechsels um 1970 gestattet. Das Buch von Rainer Paslack erlaubt es dem Leser durch seine gedrängte Form, sich in relativ kurzer Zeit einen Überblick sowohl über die geschichtlichen Wurzeln als auch die aktuelle Problemlage der Selbstorganisation zu verschaffen. Durch ausführliche Fußnoten im Text und dem Namens- Stichwort- und separaten Literaturverzeichnis kann mit dem Buch auch im Sinne eines Nachschlagewerkes ,gearbeitet' werden. Allerdings ist dieses Buch eher als eine Einführung in den Problemkreis als eine abschließende historische Behandlung zu betrachten. Verwiesen sei am Ende auf eine weitere Publikation von R. Paslack (und Peter Knost): Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung - Ideengeschichtliche Einführung und Bibliographie (1940 - 1990), (Wissenschaftsforschung Report 37), BieIefeld 1990, Kleine Verlag, 227 S., das vor allem dem auf diesem Feld selbst arbeitenden Leser als interessante Literaturquelle dienen kann, wenngleich auch hier wieder der Komplex der naturwissenschaftlichen Arbeiten recht lückenhaft bleibt. Hans-Jürgen Krug, Berlin

Ziemke, Axel: System und Subjekt. Biosystemforschung und Radikaler Konstruktivismus im Lichte der Hegeischen Logik. Braunschweig/Wiesbaden 1992, Friedr. Viehweg & Sohn, 173 S. Der Autor schreibt einleitend über die Dichotomie im Bild von Mensch und Wirklichkeit, welche die moderne Naturwissenschaft mit ihrem Anspruch der objektiven Erkenntnis fundamentiert hat. Der uralte Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus ist ein Ausdruck dieses nicht überwundenen Dualismus. Dem entgegengesetzt wird die Idee der Selbstreferentialität menschlichen Handeins: Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben (H. Maturana). Das bedeutet, daß der Mensch als ein sich immer wieder neu produzierendes (autopoietisches) System streng genommen gar keine Wirklichkeit erkennen, weil es diesem Ansatz folgend, gar keine unabhängig von ihm existierende Wirklichkeit geben kann. So konzentriert sich der Verfasser darauf, nicht etwa eine Wirklichkeit neu beschreiben zu wollen, sondern danach zu fragen, was Wirklichkeit ist. Die Genese des Subjektbegriffs in Hegels "Wissenschaft der Logik" dient als heuristische Basis und ist ihm ein Mittel, einen Beitrag für die Differenzierung, Bewertung und Weiterentwicklung des Autopoiese-Ansatzes zu leisten. Einige bekannte Strömungen innerhalb des Autopoiese-Konzepts werden analysiert und ihnen an einem ganz wesentlichen Punkt widersprochen. Autopoiese Konzepte, z. B. das von Roth, von Glasersfeld u. a., können das Verhältnis zwischen dem selbstreferentiellen System und seinen Randbedingungen nicht so erklären, daß es frei von jeglicher Objektivität bleibt. Neben einer vollzogenen einzelwissenschaftlichen (faktischen) Argumentation spricht der Autor auch von einer "Theorie in sich vermittelter Systeme", die er im Anschluß an Hegels Begriff vom "ausgeführten Zweck" folgert. Der Verfasser ist der Ansicht, damit das Moment der Objektivität in dem Verhältnis zwischen Mensch und Umfeld konstruktivistisch ausgeräumt zu haben.

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Dem Referenten erscheint aber, daß damit eben auch nur der Popularisierung des Problems das Wort geredet wird. Die Konstituierung der Theorie und Methode einer "neuen Allianz" und besonders deren konkrete Ausführung fehlen in der Wissenschaftslandschaft. Treml und Porteie orientieren in ihren Aufsätzen (in diesem Band 4, Selbstorganisation) ebenfalls auf diesen ganz entscheidenden Zusammenhang des erstrebten "Verschwindens" der Objektivität in der System/Umfeld-Relation. Porteie gelangt dabei schließlich zu einer "Tun des Nichttuns"-Aufforderung, der die Menschheit aufgrund einer ethischen Vereinbarung, die dann aber auch alle befolgen müßten, nachzugehen hätten. Der Referent ist der Meinung, daß im Prinzip die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit konstruktivistisch umgeschrieben werden könnte, so daß es möglich ist, den o. g. Dualismus und seine Probleme zu maskieren. Das kann ein Vorteil sein. Das neue, konstruktivistische Grundkonzept würde aber wiederum andere Schwachstellen zeigen, von denen einige genannt seien: eine Strukturanalyse des (zeitlichen) nichtlinearen Geschehens wird vermißt; der Zufall als kreativer Faktor und die "innere Zeit" als "Dauer" bleiben unterbelichtet ; dem Menschen wird eine überzogene Determinationsfähigkeit und damit eine absolute Verantwortlichkeit für alle Dinge und Erscheinungen unterstellt. Uwe Niedersen, Halle (Saale)

Autorenverzeichnis Doz. Dr. habil. Hans-Georg Bartei, Humboldt-Universität zu Berlin, WaltherNernst-Institut für Physikalische und Theoretische Chemie, Bunsenstraße 1, D-10117 Berlin ludith Bartei, Hufelandstraße 32, D-10407 Berlin

Prof. Dr. Friedrich Cramer, Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin, Hermann-Rein-Straße 3, D-37075 Göttingen Prof. Dr. Hans-Christian von Dadelsen, Magdalenenstraße 50, D-20148 Hamburg Andreas Göbel, Universität Gesamthochschule Essen, Fachbereich 1, Postfach 10 37 64, D-45141 Essen Rainer-M. E. lacobi, Humboldt-Universität zu Berlin, Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenese, Am Kupfergraben 5, D-10117 Berlin

Dr. Hans-lürgen Krug, Arbeitsgruppe Physikalisch-chemische Dynamik im WIP, Rudower Chaussee 5, Geb. 2.14, D-12489 Berlin Doz. Dr. habil. Uwe Niedersen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Rektorat: Projektgruppe, Postfach, D-06108 Halle/Saale Prof. Dr. August Nitschke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Kepplerstraße 17, D-70174 Stuttgart Prof. Dr. Gerhard Porteie, Universität Hamburg, Interdisziplinäres Zentrum für Hochschuldidaktik, Sedanstraße 19, D-20146 Hamburg Prof. Dr. Alfred K. Treml, Universität der Bundeswehr Hamburg, Fachbereich Pädagogik, Holstenhofweg 85, D-22043 Hamburg Prof. Dr. Wolfgang Welsch, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Markusstraße 4, D-96047 Bamberg loachim Wilke M. A., Universität Stuttgart, Universität Tübingen, Sonderforschungsbereich 230, Natürliche Konstruktionen, Leichtbau in Architektur und Natur, Universitätsstraße 21, D-70550 Stuttgart Gerard Wormser, Verlag Encyclopaedia Universalis, 10, rue Vercingetorix, F-75680 Paris, Cedex 14

Dr. Dr. Rainer E. Zimmermann, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter Allee 30, D-14195 Berlin