Schutzpflichten und Abwehrrechte am Beispiel von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr: Eine verfassungsdogmatische Untersuchung [1 ed.] 9783428587377, 9783428187379

Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Gesundheitsrisiken durch Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid durch de

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Schutzpflichten und Abwehrrechte am Beispiel von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr: Eine verfassungsdogmatische Untersuchung [1 ed.]
 9783428587377, 9783428187379

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1491

Schutzpflichten und Abwehrrechte am Beispiel von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr Eine verfassungsdogmatische Untersuchung Von

Marlon Geise

Duncker & Humblot · Berlin

MARLON GEISE

Schutzpflichten und Abwehrrechte am Beispiel von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1491

Schutzpflichten und Abwehrrechte am Beispiel von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr Eine verfassungsdogmatische Untersuchung

Von

Marlon Geise

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahr 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18737-9 (Print) ISBN 978-3-428-58737-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld im Sommersemester 2022 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis April 2022 berücksichtigt werden. Am 10. August 2022 fand die mündliche Prüfung statt. Während der Corona-Pandemie war die Fertigung einer Dissertation nicht immer leicht. Mitunter stellte mich der Lockdown vor besondere Herausforderungen, da dringend benötigte Fachliteratur zeitweise wegen der geschlossenen Bibliotheken nicht verfügbar war. Erfreulicherweise hat das Dekanat mein Vorhaben unterstützt, indem mir ein Präsenzarbeitsplatz in den Räumlichkeiten der Universität Bielefeld zur Verfügung gestellt wurde. Besonderer Dank gebührt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Andreas Fisahn, der mir die Anfertigung der Arbeit erst ermöglicht hat. Seine wertvollen Anregungen haben das Gelingen während des gesamten Promotionszeitraums erheblich gefördert. Hervorzuheben ist vor allem seine Ermutigung zur Entwicklung neuer Gedankengänge. Herrn Professor Dr. Christoph Gusy danke ich für seine gründliche und zügige Zweitbegutachtung. Zu großem Dank bin ich auch gegenüber meinen Freunden und meiner Familie verpflichtet: meinem ehemaligen Studienkollegen an der Humboldt-Universität zu Berlin, Rechtsreferendar Jonas Kayser, für die zahlreichen fachlichen Diskussionen. Auch hat er das Lektorat zusammen mit der Schriftstellerin Petra Maria Kraxner übernommen. Philipp Sasse für die Unterstützung in allen Fragen der Formatierung. Meinem Mann, der in Zeiten des langen Schreibens nicht nur unermüdliche Geduld mit mir hatte, sondern auch den gebotenen Freiraum gewährt hat. Nicht unerwähnt bleiben sollen meine Eltern, die mich stets in meinem Entschluss bestärkt haben, das Promotionsvorhaben zu realisieren und mein Projekt darüber hinaus auch in finanzieller Hinsicht gefördert haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Berlin, im August 2022

Marlon Geise

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemeinführung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018 . . . . . . . . . . . . . . .

19 23 26

B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland, Stickstoffdioxidgrenzwert und empirische Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europäischer Stickstoffdioxidgrenzwert und Umsetzung in Deutschland . . II. Ursprung des europäischen jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwerts und Kritik an der WHO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland . . . . . . . . IV. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung am Beispiel Berlins . . . . V. Kritik und Stellungnahme zum Stickstoffdioxidgrenzwert . . . . . . . . . . . . . . VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Oslo-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. USA-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nordrhein-Westfalen-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rom-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Niederlande-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kalifornien-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kanada-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Perth-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Sydney-Kohortenstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zusammenfassung der Studienergebnisse und Stellungnahme . . . . . . . . . . . VIII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 33 36 38 40 42 42 43 44 44 45 46 47 47 48 49

C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schwangerschaftsabbruch I-Entscheidung, 1974 . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kalkar I-Beschluss, 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mülheim-Kärlich-Beschluss, 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fluglärm-Beschluss, 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) C-Waffen-Beschluss, 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Straßenverkehrslärm, 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Schwangerschaftsabbruch II-Entscheidung, 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . h) Schutzpflichten bei Ausstoß von Stickoxiden, 1995 . . . . . . . . . . . . . .

51 52 52 52 54 55 55 56 56 56 57

29 29

10

Inhaltsverzeichnis

II.

i) Flughafen-Beschlüsse, 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Coronapandemie-Beschlüsse, 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Klimaschutz-Beschluss, 2021 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stand der rechtswissenschaftlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Objektiv-rechtliche Werteordnung und objektiv-rechtlicher Gehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatszweck Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schutzpflicht als allgemeiner Verfassungs- und Wertgedanke . . . . . . e) Allgemeiner Grundrechtekanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit einzelnem Grundrecht . . . . . . g) Zurechnung von erlaubtem Verhalten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzfähiges Grundrechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Schutzpflichten . . . . . . . b) Von der Literatur anerkannte Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Soziale grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedürfnis nach sozialem Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundrechtstheoretische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ablehnung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausnahme für das menschenwürdige Existenzminimum . . . . . . ee) Übertragung des menschenwürdigen Existenzminimums auf die Schutzpflichtdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Vorbehalt des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Unbestimmtheit des Schutzumfangs und Unmöglichkeit der Schutzgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Folgen einer Anerkennung eines sozialen Grundrechts für die Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ökologische grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ablehnung eines Umweltgrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Voraussetzungen für die Annahme eines ökologischen Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schutzgehalt des ökologischen Existenzminimums . . . . . . . . . . . dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 58 60 60 61 61 62 63 65 69 69 70 72 73 74 76 81 81 82 82 83 83 86 87 87 88 92 94 96 97 97 97 99 100 101

Inhaltsverzeichnis 2. Einwirkung auf das grundrechtliche Schutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schäden am grundrechtlichen Schutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsgefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erläuterung der Rechtsbegriffe Gefahr, Risiko, Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundrechtsschutz bei Grundrechtsgefahren . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Transformation des Gefahrenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Voraussetzungen für eine Transformation des Gefahrenbegriffs ee) Identifizierung der Problemkreise und Anpassung beim Transformationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Modifikationen bei der Ermittlung der Grundrechtsgefährdung gg) Herausforderungen des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anwendung des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Berücksichtigung der Betroffenenanzahl . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konflikt mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG . . . (4) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechtsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gefahrenvorsorge und Risikovorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Herleitung der Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge . . . . . . . (1) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge: Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur . . . . . . . . . . . . (2) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus dem Umweltverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bestimmung der notwendigen Anpassungen beim Vorsorgebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gefahrenvorsorge bei Diagnose- und/oder Prognoseunsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Gefahrenvorsorge und Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Anwendung des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität im Bereich der Vorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Versuche der Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Restrisiko wegen Erkenntnisdefizit als Versuch der Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 101 102 103 105 109 111 111 112 113 115 116 116 116 117 119 119 120 120 120 121 124 127 132 132 134 135 136 136 136

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Inhaltsverzeichnis (1) Bestehendes Demokratiedefizit wegen Verwissenschaftlichung parlamentarischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . (2) Lösungsvorschlag zur Beseitigung des Demokratiedefizits (3) Ermittelte Erkenntnisdefizite als Restrisiko . . . . . . . . . . . . . . bb) Restrisiko wegen Sozialadäquanz als Versuch der Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erhebliche Grundrechtsgefährdung als weiterer Versuch der Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verletzung einer Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des Prüfungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . b) Motiv für eingeschränkte Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Metamorphose zum Jurisdiktionsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Motive für umfangreichen Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kompensationscharakter der Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kritik der Bundesverfassungsrichter Simon und von Brünneck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik von Canaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kritik von Robbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Risiken der Großtechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Risiken durch neoliberalen Umbau der Gesellschaft . . . . . . . . . . dd) Grundrechtsverstärkende Wirkung des Art. 20a GG . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhalt des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kongruenzthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prüfungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungslegitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Möglichkeit des Selbstschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grundrechtliche Pattsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Stellungnahme und Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 139 140 140 143 145 145 145 146 146 151 151 155 161 161 163 164 164 166 166 168 169 169 169 171 171 173 174 176 177 178 179 181 187 191 191 191

Inhaltsverzeichnis D. Anwendung auf das Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bestehen staatlicher Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konkrete Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abstrakte Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestimmung des Schutzgutranges sowie der drohenden Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts . . . . . . . (1) Sachverhaltsdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Prognose des hypothetischen Kausalverlaufs in die Zukunft cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gefahrenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ungewissheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Restrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestehen eines staatlichen Schutzkonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Maßnahmen der Luftreinhaltepläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Softwareupdates, Hardwarenachrüstungen sowie Betriebsuntersagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 . . . . . . d) Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater . . . . . e) Weitere landespolitische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakte Prüfung des Untermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gebietsbezogene Fahrverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Möglicher Ausschluss durch § 47 Abs. 4a BImSchG . . . . . (2) Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Öffentliches Mobilitätsinteresse sowie öffentliche Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Streckenbezogene Fahrverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Umweltzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verbot des (Schwer-)Lastverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 193 193 193 194 194 194 195 196 197 198 199 199 200 201 201 201 202 203 203 203 204 205 206 208 209 209 211 212 213 214 216 218 220 221 221 222 223

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Inhaltsverzeichnis ee) Tempo 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Rücknahme oder Widerruf der Typgenehmigung . . . . . . . . . . . . . gg) Softwareupdates, Hardwarenachrüstung sowie Betriebsuntersagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 sowie Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Einfluss der grundrechtsverstärkenden Wirkung des Art. 20a GG (1) Verfassungsrang des Grenzwertes als Schutzziel . . . . . . . . . (2) Normenhierarchische Durchbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Loslösung vom Klimaschutz und Übertragung auf alle Umweltschutzbelange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als Verfassungsbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Angemessenheit unter dem Aspekt des Umweltschutzes . . . (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungslegitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gebietsbezogene Fahrverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Streckenbezogene Fahrverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Umweltzonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verbot des (Schwer-)Lastverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Tempo 30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Softwareupdates, Hardwarenachrüstung sowie Betriebsuntersagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 sowie Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konkrete Prüfung des Untermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freie und Hansestadt Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Limburg a. d. Lahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ludwigsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224 225 226

229 230 230 232 234 235 237 237 238 238 238 239 239 240 241 242 243

244 246 246 247 248 249 250 251 252 253 256 257 258

Inhaltsverzeichnis

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E. Endergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 F. Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 G. Thesenaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Epidemiologischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263 263 263 266

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 I. Verzeichnis der Internetdokumente und amtlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . 268 II. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Abkürzungsverzeichnis Für verwendete Abkürzungen wird, soweit nicht nachfolgend aufgelistet, auf das folgende Abkürzungsverzeichnis verwiesen: Kirchner, Hildebert (Begründer), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, bearbeitet von Eike Böttcher, 10. Auflage 2021. AEUV AfD AM rush AufbhG AufbhV BE BeckOK BeckRS BerlVerfGH BUWAL BW BY CETA COPD EmoG FDP FEV1 FVC HE HH HR kPa LANUV mg/m3 mg/km NI NO NO2 NW O3 ÖPNV PA

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Alternative für Deutschland Stau vor dem Mittag Aufbauhilfefonds-Errichtungsgesetz Aufbauhilfeverordnung Berlin Beck’sche Online-Kommentare Beck’sche Rechtsprechungssammlung Berliner Verfassungsgerichtshof Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Schweiz) Baden-Württemberg Bayern Comprehensive Economic and Trade Agreement Chronic obstructive pulmonary disease Elektromobilitätsgesetz Freie Demokratische Partie Forciertes exspiratorisches Atemvolumen in einer Sekunde Forcierte Vitalkapazität Hessen Hamburg Hazard ratio Kilopascal Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NordrheinWestfalen Mikrogramm pro Kubikmeter Milligramm pro Kilometer Niedersachsen Stickstoffmonoxid Stickstoffdioxid Nordrhein-Westfalen Ozon Öffentlicher Personennahverkehr Pariser Klimaschutzabkommen

Abkürzungsverzeichnis PKW PM2.5 PM rush ppb RAF RP RR SH SRa Swiss THP TTIP VfZ

Personenkraftwagen Feinstaub, der kleiner ist als 2,5 mg/m3 Stau nach dem Mittag Parts per billion Rote Armee Fraktion Rheinland-Pfalz Relatives Risiko Schleswig-Holstein Sozialrecht aktuell Schweizerisches Tropen- und Public Health-Institut Transatlantic Trade and Investment Partnership Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte

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A. Einleitung Innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenlebens treten in vielfältigen Situationen Konflikte zwischen der Ausübung von individueller Freiheit einerseits und dem Bedürfnis nach Sicherheit andererseits auf. Denke man beispielsweise nur an Tabakraucher und damit einhergehend die betroffenen Passivraucher. Obwohl der Staat zahlreiche Maßnahmen zum Nichtraucherschutz in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz angestrengt hat, stehen nichtrauchende Mieter rauchender Mieterschaft, die in der darunterliegenden Wohnung wohnt, teilweise schutzlos gegenüber, da das Unterlassen des Rauchens nicht gänzlich gefordert werden kann.1 Auch die Zulassung neuer Technologien kann mit Risiken für die Bevölkerung verbunden sein, was vor allem in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes bei der Zulassung von Atomkraftwerken eine Rolle spielte. Aktuell wird das Risiko, welches vom Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes ausgeht und ungewiss ist, diskutiert.2 Aber auch die der hohen Geschwindigkeit geschuldeten Gefährdungen des Straßenverkehrs stellen ein dreidimensionales grundrechtliches Spannungsverhältnis zwischen den Kraftfahrern, den Passanten sowie dem Staat, der die beidseitigen Interessen beachten muss, dar. Mindestens genauso nennenswert sind die Lärmimmissionen des Straßenverkehrs oder Fluglärm von Verkehrsflughäfen. Zudem können Umweltbelastungen der Industrie Auswirkungen etwa auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Häufig stehen sich dann die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und das Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber. Es existieren aber auch Bereiche, die erst auf den zweiten Blick ihren Berührungspunkt zu Schutzpflichten offenbaren. So fragt sich, ob der Staat seine Schutzpflicht in Hinblick darauf erfüllt, die Bevölkerung vor der Macht großer Konzerne zu schützen. Zu nennen sind der Niedriglohnsektor, Leiharbeit und der Trend zu Werkverträgen als Ausdruck von prekären Beschäftigungsverhältnissen. Existenzsichernde Einkommen können so nicht gewährleistet werden.

1 BGH, Urt. v. 06.01.2015 – V ZR 110/14, NZM 2015, 448–451; AG Bonn, Urt. v. 09.03.1999 – 6 C 510/98, NZM 2000, 33 (33 f.); Jobst, JA 2016, 260–268. 2 F. Schumann, in: Zeit Online vom 16.01.2019; H. Schumann/Simantke, in: Der Tagesspiegel vom 15.01.2019.

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In diesem Fall könnte das in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum3 unterschritten werden, weshalb die Betroffenen auf staatlichen Schutz angewiesen sind. Das Bedürfnis nach sozialem Schutz durch den Staat ist die notwendige kompensatorische Folge, wenn Arbeitskraft nur als Ware verstanden wird.4 Auch Investmentfonds und private Immobilienunternehmen, die Wohnraum in den Großstädten als Spekulationsobjekt ansehen, um Kapital zu maximieren, geraten in Zeiten der Wohnungsknappheit ins Visier staatlicher Schutzpflichten. Inzwischen haben diese Akteure einen Eigentumsanteil von 25 % am gesamten Berliner Wohnungsbestand.5 Diese Unternehmen sind mitursächlich für starke Mietsteigerungen und eine Verdrängung der angestammten Bewohnerschaft.6 Zwar besteht in Deutschland kein Grundrecht auf „Wohnen“,7 was einer Schutzpflichtenkonstellation entgegensteht, jedoch könnte eine Schutzpflicht in diesen Fällen in einer möglichen Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG liegen, weil Mieterschaft als Spekulationsobjekt angesehen wird, um Gewinnerwartungen zu erfüllen. Da die Gefahr besteht, dass Mieter durch Private zu einer berechenbaren Größe zum alleinigen Zweck der Kapitalvermehrung herabgestuft werden, ist der schützende Staat gefordert, aktiv zu handeln. Das Wohnen hat jedoch eine besondere Nähe zur Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG. Aus diesem Grund ist fraglich, ob das Wohnen dem Kapitalmarkt grenzenlos zugänglich sein sollte. Indem das Grundgesetz den Menschen in das Zentrum seiner Werteordnung stellt, sollte für Profitgier im Wohnungswesen kein Raum eröffnet sein. Die Frage, ob Schutzpflichten verletzt wurden, kann sich indes auch stellen, wenn ein Marktversagen aufgrund eines gestörten Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage auftritt. Darüber hinaus gewinnt die Schutzdimension der Grundrechte aus einem weiteren Grund zunehmend an Bedeutung: Privatisierungen von ehemals öffent3 BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505 (507 f.); die Einordnung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminim nur als Leistungsgrundrecht kann den schützenden Staat in dieser Konstellation nicht aktivieren und greift daher zu kurz. So aber beispielsweise Kempny/Krüger, SGb 2013, 384 (385, 390). 4 Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 81. 5 Trauvetter, Wem gehört die Stadt? S. 9. 6 Mattern, in: Mattern, Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – das Beispiel Berlin, S. 183 (191); Holm, in: Rink/Egner, Lokale Wohnungspolitik, Beispiele aus deutschen Städten, S. 43 (47). 7 Manche Landesverfassungen beinhalten ein Recht auf Wohnen, wie Art. 28 Abs. 1 der Verfassung von Berlin oder Art. 14 Abs. 1 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen. Diese Normen werden bisher nur als Staatszielbestimmungen verstanden, BerlVerfGH. Beschl. v. 22.05.1996 – 34/96, BeckRS 1996, 13975, Rn. 8; Derleder, WM 2009, 615 (616). Explizit als Staatszielbestimmung wurde beispielsweise Art. 29 Abs. 2 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen ausgestaltet.

A. Einleitung

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lichen Einrichtungen und Vermögen, teils aus dem Bereich der Daseinsvorsorge, wie sie im großen Stil seit Anfang der 1980er Jahre betrieben wurden,8 haben die Schutzmöglichkeiten durch die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte verringert, weil kein staatlicher Eingriff mehr besteht. Umso weniger der Staat durch das Abwehrrecht der Grundrechte für die Einhaltung des Grundrechtsschutzes verpflichtet werden kann, desto wichtiger wird somit der Schutzbedarf der Bevölkerung aus staatlichen Schutzpflichten.9 Staatliche Schutzpflichten stellen daher einen Fall der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht dar.10 Auch der Industrie und Technologie geschuldete zivile Bedrohungslagen haben durch die Zulassung der zivilen Nutzung der Kernenergie sowie der Gentechnik in einem erschreckenden Tempo zugenommen. Die beiden angeführten Beispiele zeigen sehr deutlich, dass sich die Welt seit der Zulassung der Kernenergie verändert hat. Mindestens im gleichen Maß hat der Abbau des Sozialstaates zu Lücken der sozialen Belange der Bevölkerung geführt. Das Verfassungsrecht hat versucht, auf diese Entwicklungen zu reagieren, aber nicht im gleichen Umfang das Schutzniveau erhöht. Ein weiteres – und mit Blick auf den Dieselabgasskandal – aktuelles Beispiel für staatliche Schutzpflichten sind Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr. An diesem Beispiel können nahezu sämtliche Problemkomplexe und Streitigkeiten im Umgang mit verfassungsrechtlichen Schutzpflichten untersucht werden. Folglich eignet sich dieses Beispiel besonders gut für eine verfassungsdogmatische Untersuchung. Die die in dieser Untersuchung angesprochenen Problemfelder und angebotenen Lösungsvorschläge gelten entsprechend für alle denkbaren Kollisionsfälle zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten im mehrpoligen Verfassungsverhältnis. In der vorliegenden Arbeit sollen die Antworten auf staatlichen Schutz nicht primär im einfachen Recht, sondern vor allem in der Verfassung gesucht werden. Eine vollständige verfassungsdogmatische Durchdringung der Schutzpflichtdogmatik wurde bisher weder durch das Bundesverfassungsgericht noch durch die Rechtswissenschaft zufriedenstellend dargeboten, obwohl sich eine Vielzahl an rechtswissenschaftlichen Publikationen mit grundrechtlichen Schutzpflichten beschäftigt hat. Mithin besteht bei diesem Thema weiterhin Forschungsbedarf, zu dem diese Arbeit beitragen möchte. 8 Ausführlich hierzu: Engartner, Staat im Ausverkauf, S. 9 ff.; Fisahn, Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie, S. 58 ff. 9 Hierauf hat bereits hingewiesen: Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 18. 10 So auch Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 254 f., 257.

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A. Einleitung

Zu hohe Stickstoffdioxid-Schadstoffkonzentrationen in deutschen Innenstädten sind seit Jahren Gegenstand kontroverser Debatten sowie zahlreicher Gerichtsverfahren. Die Emittenten sind hauptsächlich Verbrennungsmotoren von Dieselfahrzeugen.11 Immer wieder wurden gegen Deutschland durch die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren, zuletzt am 15.02.2017, wegen Nichteinhaltung der Stickstoffdioxid-Grenzwerte eingeleitet. Am 17.05.2018 hat die Europäische Kommission sodann Klage beim EuGH gegen Deutschland wegen dauerhafter Überschreitung der Stickstoffdioxidgrenzwerte erhoben.12 Mit Urteil vom 03.06. 2021 hat der EuGH der Vertragsverletzungsklage stattgegeben und festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland den jährlich gemittelten StickstoffdioxidGrenzwert im Zeitraum 2010 bis 2016 systematisch und anhaltend überschritten hat.13 Konstant wurden gültige Grenzwerte auch weiterhin überschritten. Es offenbart sich, dass die Einhaltung von Grenzwerten nicht effektiv durchgesetzt wird. Mit anderen Worten: Das Luftreinhalterecht in deutschen Innenstädten leidet an einem Vollzugsdefizit, wie es bereits in vielen Bereichen des Umweltrechts diagnostiziert wurde.14 Um den Grenzwertüberschreitungen Einhalt zu gebieten, hat das Bundesverwaltungsgericht Dieselfahrverbote für bestimmte Fahrzeugtypen in Innenstädten als äußerstes Mittel für zulässig erklärt.15 Handeln Gesetzgeber und Verwaltung bei der Luftreinhaltung nicht in hinreichendem Umfang oder stößt der Staat hier an Grenzen dessen, was durch Gesetze geregelt werden, was das Recht gar leisten kann? Bei Eingabe des Suchbegriffs „Schutzpflicht“ in der Kategorie Rechtsprechung-Bundesverfassungsgericht ergeben sich in der Onlinedatenbank Juris gerade einmal 361 Treffer. Die Tatsache, dass Schutzpflichten in der bisherigen verfassungsgerichtlichen Praxis selten Beschwerdegegenstand waren, könnte entweder damit erklärt werden, dass der Staat in der Vergangenheit insgesamt ein in jeder Hinsicht hohes Schutzniveau der Grundrechtsgüter durch seine einfachge-

11 VG Düsseldorf, Urt. v. 13.09.2016 – 3 K 7695/15, NVwZ, 2017, 899 (900); Brandt, NVwZ 2018, 945 (947); Faßbender, NJW 2017, 1995; Will, NZV 2018, 393 (397). 12 Bauchmüller/Kirchner, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2018. 13 EuGH, Urt. v. 03.06.2021 – C-635/18, BeckRS 2021, 12688, Rn. 144, 154. 14 Fisahn, in: Butterwegge/Lösch/Ptak, Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, S. 164 ff.; Hansmann/Röckinghausen, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, BImSchG, § 52, Rn. 1; Karl, in: Kirchengast/Schulev-Steindl/Schnedl, Klimaschutzrecht zwischen Wunsch und Wirklichkeit, S. 171 f.; Ziehm, ZUR 2010, 411 ff. 15 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, NVwZ 2018, 883; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 6/16, NVwZ 2018, 890.

I. Problemeinführung und Gang der Untersuchung

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setzliche Rechtsordnung und seine Verwaltungspraxis geschaffen hat. Eine andere Erklärung könnte in einer strukturellen Vernachlässigung der grundrechtlichen Schutzfunktion durch die Verfassungsrechtsprechung, aber auch durch die Literatur liegen. Dieser Befund darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Fälle, in denen staatlicher Schutz versagt, eine Notwendigkeit besteht, Schutzpflichtverletzungen vor dem Bundesverfassungsgericht zu beanstanden. Vor diesem Hintergrund müssen die verfassungsdogmatischen Konturen rund um Schutzpflichten aufgezeichnet sowie der inhaltliche Rahmen bestimmt werden. Wenn der Gesetzgeber und die Verwaltung hinter ihrer staatlichen Verantwortung zurückbleiben, indem sie ihre Schutzpflichtigkeit verkennen oder gar missachten, muss die Verfassungsrechtsprechung in der Lage sein, den Staat zur Einhaltung seines Schutzauftrages zu verpflichten. Dann nämlich ist es die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Schutzdimension der Grundrechte zu gewährleisten.

I. Problemeinführung und Gang der Untersuchung In der Rechtswissenschaft ist die Frage, ob die aktuelle Luftqualität in deutschen Großstädten dem in der Verfassung verbürgten Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in ausreichendem Maß gerecht wird, bisher nicht untersucht worden. In der Kommentarliteratur findet sich nur der Hinweis, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG neben seiner abwehrrechtlichen Dimension auch Schutzpflichten beinhaltet.16 In anderen Bereichen des Umweltrechts, wie zum Beispiel bei Gefahren durch Fluglärm, ist die Frage über mögliche Grundrechtsverletzungen durch verfassungsrechtliche Schutzpflichtverletzungen des Staates bereits rechtswissenschaftlich behandelt worden.17 Die sich zwangsläufig ergebende Spannungslage zwischen Freiheits- und Schutzansprüchen zeigt sich nirgendwo so deutlich wie bei Schutzpflichtenkonstellationen. Der Konflikt zwischen Freiheitsgewährleistung und Schutzanspruch durchdringt daher auch die gesamte vorliegende Untersuchung, wobei der Ausgangspunkt aus der Perspektive der Schutzbedürftigen erfolgt. So handelt es sich bei Stickstoffdioxidbelastungen um eine verfassungsrechtliche Dreiecksbeziehung. Auf der einen Seite stehen als schutzbedürftige Grund16 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2, Rn. 61; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2, Rn. 43; Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 188–190; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BRD, Art. 2, Rn. 91; Sodan, in: Sodan, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 23. 17 Hermann, Schutz vor Fluglärm, S. 81 ff.

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A. Einleitung

rechtsberechtigte die Bewohner der Innenstädte, deren Gesundheit durch die dauerhafte Überschreitung der Grenzwerte unter Umständen ernsthaft gefährdet wird. Demgegenüber fallen auf der anderen Seite die Autofahrer womöglich unter den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, unter den Schutzbereich der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG. Der Staat, der die individuelle Ausübung der Grundrechte gewährleistet, steht beiden Akteuren gegenüber. Ihn trifft die Verpflichtung, den Grundrechten der Betroffenen höchstmöglich Geltung zu verschaffen und eine Interessenkollision in diesem mehrpoligen Verfassungsverhältnis im Wege der sogenannten praktischen Konkordanz zu lösen.18 Der Untersuchung übergeordnet steht die Frage, wie dem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach staatlichem Schutz verfassungsrechtlich nachgekommen werden kann. Um die besondere gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Fallbeispiels einzuleiten, wird zuerst in einem empirischen Teil der aktuelle Stand der Wissenschaft über mögliche gesundheitliche Auswirkungen von Stickstoffdioxid aufgearbeitet. Sodann folgt der theoretische Teil über staatliche Schutzpflichten, der vom Umfang her den Hauptanteil der Bearbeitung darstellt und für sämtliche Schutzpflichtkonstellationen im mehrpoligen Verfassungsverhältnis angewendet werden kann. Im Rahmen des Theorieteiles wird zunächst die durchaus umstrittene dogmatische Herleitung von grundgesetzlichen Schutzpflichten vorgenommen. An die Herleitung schließt die Frage an, welchen Grundrechtsgütern eine Schutzpflichtendimension zukommt. Ob in dem Zusammenhang auch soziale und ökologische Schutzpflichten anerkannt werden können, wird ebenfalls ergründet. Daran schließen sich Überlegungen an, welche Grade der Beeinträchtigungen Schutzpflichten aktivieren können. Grundlegend erörtert wird dabei, ob Grundrechtsgefährdungen eine staatliche Schutzpflicht auslösen können. Fraglich ist ebenfalls, wie das Verfassungsrecht Grundrechtsgefahren definiert. Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Bestimmung des Gefahrenbegriffes im Verfassungsrecht. In der Untersuchung soll daher ein weiterer Fokus darauf gerichtet werden, unter welchen Voraussetzungen eine Transformation des Gefahrenbegriffs des Polizei- und Ordnungsrechts in das Verfassungsrecht ermöglicht werden kann. Im Allgemeinen haben Art und Schwere der Gefährdung im Abwägungsprozess eine herausgehobene Bedeutung. Für die Abwägung müssen der Gefahrengrad sowie der Schutzgutrang daher so genau wie möglich bestimmt werden. 18

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 70 ff., 256 ff.

I. Problemeinführung und Gang der Untersuchung

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Hierbei muss ebenfalls untersucht werden, ob der ursprünglich aus dem Polizei- und Ordnungsrecht stammende Grundsatz der umgekehrten Proportionalität Anwendung findet, wonach eine geringere Schadenseintrittswahrscheinlichkeit gilt, je höher die drohenden Schäden einzuordnen sind.19 In dem Zusammenhang soll auch der bisher ungelöste Konflikt zwischen dem Grundsatz der umgekehrten Proportionalität und der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG bei kollektiven Gefährdungen angesprochen und ein Lösungsvorschlag unterbreitet werden. Vor weiteren Herausforderungen steht die Diskussion, wenn auch die Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen ins Verfassungsrecht eingeebnet wird. Bei der Anerkennung von Gefahrenvorsorge, aber auch von Risikovorsorge, innerhalb der Grundrechte treten zusätzliche Herausforderungen zu Tage, die ebenfalls beleuchtet werden. Die Diskussion um den teilweise eingeschränkten Prüfungsmaßstab bei möglichen Schutzpflichtverletzungen erfolgt im Weiteren. Trotz der anerkannten Existenz von staatlichen Schutzpflichten weisen verschiedene Stimmen in der Literatur darauf hin, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso mehr eingeschränkt wird, je umfangreicher ihm aktive Handlungspflichten durch die Gerichte auferlegt werden.20 Dadurch werde die Gewaltenausübung von der Legislative hin zur Judikative verlagert.21 Eine solche Entwicklung stehe dem liberalen Freiheitscharakter des Grundgesetzes entgegen.22 Daher werden diese Einwände, die sich für einen beschränkten Prüfungsmaßstab stark machen, ebenfalls genauer untersucht. Im Anschluss wird eine Prognose abgegeben, ob die geäußerten Bedenken zu den beschriebenen Problemen in der Staatspraxis führen. Auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung gehört die Bestimmung des Prüfungsmaßstabes zu eines der umstrittensten Themenkomplexe im deutschen Verfassungsrecht. Der Prüfungsmaßstab bildet das Gerüst für die gesamte Prüfung der Verletzung einer Schutzpflicht, weshalb dieser gründlich festgelegt werden muss. Bei näherer Betrachtung zeigen sich beim verbreiteten Prüfungskonzept jedoch schwerwiegende Mängel, weshalb ein eigenes Prüfungskonzept erarbeitet und vorgeschlagen wird. Nachdem die Schutzpflichtkonstellation von theoretischer Seite her durchdrungen wurde, folgt der praktische Teil, in welchem das Fallbeispiel anhand der theoretischen Erkenntnisse subsumiert wird.

19

Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 119. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 168; Di Fabio, in: Dürig/ Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 GG, Rn. 41. 21 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 190. 22 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 GG, Rn. 42. 20

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A. Einleitung

Zuerst wird untersucht, ob und ab welcher Konzentration Stickstoffdioxid überhaupt gesundheitliche Auswirkungen hat. Daran schließt sich die Frage an, ob der bestehende jährlich gemittelte Grenzwert von Stickstoffdioxid seiner Höhe nach zutreffend festgesetzt wurde. Auch wird darauf eingegangen, dass mit den Grenzwertüberschreitungen nicht automatisch eine Verletzung der körperlichen Integrität im Einzelfall einhergeht. Auch kann bei den Bewohnern der Innenstädte ein mehr oder weniger großes Gesundheitsrisiko bestehen. Der Fokus der Untersuchung befasst sich dabei bewusst nicht mit der Frage einer Schutzpflicht bezüglich der Einflüsse von Feinstaub und anderen schädlichen Luftschadstoffexpositionen des Straßenverkehrs auf die Gesundheit, um den Umfang der Bearbeitung nicht zu sehr auszudehnen. Solche Untersuchungen sollten Gegenstand einer anderen rechtswissenschaftlichen Forschungsleistung sein. Sodann wird untersucht, ob der Gesetzgeber sowie der Verordnungsgeber zusammen mit der Rechtsprechung abstrakt-generell durch die Rechtsordnung ein dem Untermaßverbot genügendes Schutzkonzept erschaffen haben, was die Integration der verfassungsrechtlichen Drittinteressen sowie öffentlicher Belange in das Prüfungsprogramm erfordert. Es schließt sich die Frage an, ob die Bundesländer dieses Schutzkonzept in den deutschen Großstädten ohne Verletzung des Untermaßverbotes verfassungsgemäß umgesetzt haben, damit die Grundrechtsberechtigten vor der Luftverschmutzung durch den Stickstoffdioxidausstoß des Straßenverkehrs geschützt werden. Hierbei wird die Stickstoffdioxidbelastung im Jahr 2020 in den Blick genommen.

II. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018 Vor dem Bundesverwaltungsgericht waren straßenverkehrsbedingte Grenzwertüberschreitungen von NO2 schon im Jahr 2019 in zwei Verfahren Streitgegenstand. Diese zwei prominenten Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02. 2018, die sich mit Fahrverboten wegen NO2-Grenzwertüberschreitungen beschäftigen, kommen zu dem Ergebnis, dass Dieselfahrverbote als letztes Mittel zulässig sind, um die festgelegten Schadstoffgrenzwerte zu erreichen.23 Das Klagebegehren richtete sich auf die Änderung von Maßnahmen im Luftreinhalteplan zur schnellstmöglichen Einhaltung des Immissionsgrenzwerts von 40 mg/m3 von Stickstoffdioxid gemittelt pro Jahr. Dieser Grenzwert stammt aus

23 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, juris.

II. Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.02.2018

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dem Anhang XI, B der Richtlinie 2008/50/EG.24 Deutschland hat diesen Grenzwert in § 3 der 39. BImSchV umgesetzt. Wenn keine effektiveren und besser geeigneten Maßnahmen zur Zielerreichung zur Verfügung stehen, dann müssten Fahrverbote sogar in Betracht gezogen werden.25 Dabei stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass das Bundesimmissionsschutzgesetz – namentlich § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG – für sich genommen keine Verkehrsverbote vorsieht. Die Zulässigkeit von Fahrverboten ergebe sich jedoch aus dem Europarecht. In den Urteilen begründet das Gericht seine Entscheidungen mit der Durchsetzung des Unionsrechts.26 Gemäß § 40 Abs. 3 BImSchG können bestimmte Kraftfahrzeuge mit geringem Schadstoffausstoß durch Rechtsverordnung von Verkehrsverboten ausgenommen werden. Von dieser Ausnahme hat die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates in der 35. BImSchV abschließend Gebrauch gemacht. So konnten auch Dieselfahrzeuge, die eine grüne Plakette hatten, von Fahrverboten ausgenommen werden.27 Aus unionsrechtlicher Perspektive konnte eine solche Situation nicht unionsrechtskonform sein. Daher muss die 35. BImSchV wegen des europarechtlichen Anwendungsvorrangs unangewendet bleiben.28 Eine konkrete Handlungspflicht in Form einer bestimmten Maßnahme sieht Art. 13 der Richtlinie 2008/50/EG indes nicht vor, da die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Maßnahmen einen Spielraum haben. Rechtstechnisch handelt es sich dabei um ein planerisches Ermessen bei der Aufstellung und Änderung des Luftreinhalteplans. Allerdings schreibt das Gericht auch, dass eine konkrete Handlungspflicht bestehen kann, denn „soweit sich vor diesem Hintergrund (beschränkte) Verkehrsverbote für (bestimmte) Dieselfahrzeuge als die einzig geeigneten Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung überschrittener NO2Grenzwerte erweisen, sind derartige Maßnahmen mithin aus unionsrechtlichen Gründen zu ergreifen“.29 Angesprochen wird an dieser Stelle eine Ermessensreduzierung auf Null. Was zur Folge hat, dass ein durch das Europarecht vorgegebener Anspruch auf die Anordnung eines Dieselfahrverbotes bestehen kann. An späterer Stelle dieser Ar-

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ABl. L 152/1, 11.06.2008. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 18 f., 35, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 32, juris. 26 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 19, 31, 36, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 16, 28, 32 f., juris. 27 Rebler, UPR 2019, 7 (8). 28 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 32, 36, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 28, 33, juris. 29 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 32, juris. 25

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A. Einleitung

beit wird die Ermessensreduzierung auf Null aus verfassungsrechtlicher Sicht noch einmal erwähnt.30 Die Urteile gehen nicht auf die grundrechtliche Dimension ein, weil der Fall zutreffend anhand des einfachen Rechts und unter Berücksichtigung des Europarechts zu entscheiden war. Über die Frage, ob durch das Nichtanordnen von Dieselfahrverboten Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt werden, brauchte das Bundesverwaltungsgericht somit nicht entscheiden. Die Frage, ob aus dem Grundgesetz selbst eine Schutzpflicht in Form einer Handlungspflicht herrührt, Dieselfahrverbote zu verhängen, fand daher keine Erwähnung. Der Sachverhalt ist jedoch mit dem eingangs beschriebenen Beispielfall der Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr fast identisch. Ein Unterschied besteht nur darin, dass nicht ein Umweltverband die Änderung des Luftreinhalteplans verwaltungsgerichtlich einklagt, sondern eine fiktive Einzelperson, die vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erhebt, dass das bestehende Schutzniveau unzureichend sei. Insgesamt wird der zugrunde liegende Sachverhalt folglich leicht modifiziert als Beispielfall aus verfassungsrechtlicher Sicht beurteilt.

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Hierzu unter D. III.

B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland, Stickstoffdioxidgrenzwert und empirische Erkenntnisse Gemessen am bestehenden Grenzwert erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme, wie groß die Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland im Allgemeinen und im innerstädtischen Raum im Besonderen ist. Stickoxide sind die Summe der Volumenmischungsverhältnisse aus Stickstoffdioxid (NO2) und Stickstoffmonoxid (NO), deren Einheit der Massenkonzentration in mg/m3 ausgedrückt wird.1 Das größte Umweltproblem in Innenstädten sind indes Luftverunreinigungen durch Stickstoffoxide, die hauptsächlich durch Dieselverbrennungsmotoren entstehen.2 Dieselfahrzeuge sind für circa 80 % aller Fahrzeugemissionen im Straßenverkehr verantwortlich und machen mithin einen Löwenanteil der Schadstoffbelastung aus.3 An der Gesamtbelastung in Form von Stickstoffdioxid haben Diesel-PKW einen Anteil von 33 %.4 In Zahlen ausgedrückt emittierten Dieselfahrzeuge im Jahresdurchschnitt 2016 an vielbefahrenen Innenstadtstraßen in NRW 19,33 mg/m3 NO2, wohingegen Benzinfahrzeuge lediglich 4,67 mg/m3 NO2 emittierten.5 Was die gesundheitlichen Auswirkungen von Stickstoffdioxid im Straßenverkehr betrifft, so hat die Wissenschaft durch zahlreiche Studien Erkenntnisse gewonnen. Ob der aktuelle Stickstoffdioxidgrenzwert nach dem Stand der Wissenschaft einen gewissen Gesundheitsschutz bietet, ist ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels.

I. Europäischer Stickstoffdioxidgrenzwert und Umsetzung in Deutschland Die Festsetzung von Schadstoffgrenzwerten findet ihren Ursprung im Umwelteuroparecht. Mit der Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG wurde ein einheitliches Regelwerk für die verschiedenen Schadstoffimmissionsgrenzwerte geschaffen.

1

Richtlinie 2008/50/EG, Art. 2 Nr. 24. UBA, Wie sehr beeinträchtigt Stickstoffdioxid (NO2) die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland?, S. 4. 3 Brandt, NVwZ 2018, 945 (947). 4 Brandt, NVwZ 2018, 945 (947). 5 Brandt, NVwZ 2018, 945 (947). 2

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

Die Lebenswirklichkeit zeigt jedoch, dass die bloße Existenz von Grenzwerten nicht zu einer Verbesserung der Luftqualität geführt hat. Aus diesem Grund verpflichtet die Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG zur Einhaltung der Schadstoffgrenzwerte. Die Richtlinie 2008/50/EG regelt in Art. 5 Abs. 1 die Höchstgrenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Stickstoffoxide, Partikel, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid. Problematisch ist in erster Linie die Grenzwertüberschreitung von Stickstoffdioxid (NO2). So darf für NO2 der Grenzwert von 40 mg/m3 im Jahresdurchschnitt nicht überschritten werden.6 Bei Überschreitung der Grenzwerte müssen die Mitgliedsstaaten gem. Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie Luftqualitätspläne für Ballungsgebiete aufstellen und darin geeignete Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung der Grenzwerte festlegen. Die NO2-Grenzwerte sind in § 3 der 39. BImSchV von Deutschland umgesetzt worden. Grenzwerte sind insgesamt ein – aus Sicht der Immissionsschutzbehörden – praktikables Instrument direkter Verhaltenssteuerung des Umweltrechts, da bei Nichteinhaltung ordnungsrechtliche Maßnahmen ergriffen werden. Der europäische Gesetzgeber möchte die Gesundheit der Bevölkerung durch den Grenzwert schützen. Dafür spricht schon die „Grenzwerte [. . .] zum Schutz der menschlichen Gesundheit“ lautende Überschrift von Art. 13 der Richtlinie. Zudem taucht im Erwägungsgrund 2 der Richtlinie der Schutz der menschlichen Gesundheit auf. Auch der deutsche Gesetzgeber bezweckt mit den umgesetzten Grenzwerten den Gesundheitsschutz der Bevölkerung, da die Grenzwerte gem. § 3 Abs. 2 der 39. BImSchV zum Schutz der menschlichen Gesundheit festgesetzt wurden. Im Immissionsschutzrecht ist der Schutzgedanke grundsätzlich allgemeines Regelungsziel, wie aus § 1 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 BImSchG hervorgeht, dessen Inhalt zu folge Menschen vor schädlichen Immissionen geschützt werden sollen. Allein durch den Umstand, dass der Gesetzgeber aus dem Motiv heraus handelt, die Gesundheit der Menschen zu schützen, kann allerdings nicht automatisch auf das Bestehen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht geschlossen werden, dieses bedarf deshalb einer gesonderten Prüfung.

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Richtlinie 2008/50/EG, Anhang XI, B.

II. Ursprung des europäischen Stickstoffdioxidgrenzwerts

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II. Ursprung des europäischen jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwerts und Kritik an der WHO Ausgangspunkt für den Grenzwert von 40 mg/m3 im Jahresmittel gemäß des Anhangs XI B der Richtlinie 2008/50/EG waren laut Erwägungsgrund 2 die Normen, Leitlinien und Programme der Weltgesundheitsorganisation. Grundlage für die Grenzwerte sind daher die Luftgüteleitlinien der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2005 gewesen. In den Leitlinien wurde ein Jahresmittelgrenzwert von 40 mg/m3 empfohlen.7 Als internationale Regierungsorganisation in Gesundheitsthemen kann sie gem. Art. 21 und Art. 22 ihrer Verfassung verbindliche Regelungen erlassen und gem. Art. 23 der Verfassung unverbindliche Empfehlungen abgeben, denen die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten bisher meistens gefolgt sind. Somit kommt ihr eine starke Rolle bei der weltweiten Regulierung von Gesundheitsthemen zu. Problematisch ist jedoch die finanzielle Abhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation von privaten Akteuren, weil dadurch die Gefahr der privaten Einflussnahme besteht, weshalb die institutionelle Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation bezweifelt wird.8 Im Fall der Grenzwertempfehlung ist nicht fernliegend, dass der Grenzwert strenger vorgeschlagen oder die abgegebene Empfehlung in der Zwischenzeit an den neueren Stand der Forschung angepasst worden wäre, wenn die finanzielle Unabhängigkeit gewährleistet gewesen wäre. Beabsichtigt war ursprünglich, dass die Weltgesundheitsorganisation gem. Art. 56 ihrer Verfassung durch die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen finanziert wird. Allerdings wurden von Beginn an zusätzliche außerbudgetäre Mittel gesammelt, die bis 1975 etwa ein Viertel des Haushaltes ausmachten.9 Seit ihrer Gründung im Jahr 1948 haben die Mitgliedstaaten ihre Pflichtbeiträge kontinuierlich reduziert. Heute bezieht die Weltgesundheitsorganisation ihre finanziellen Mittel fast zur Hälfte durch private Geldgeber, wobei die Bill und Melinda Gates Stiftung (Bill & Melinda Gates Foundation) inzwischen nach den Beiträgen der USA die zweitgrößte Geldgeberin ist.10 Diese Akteure verfolgen häufig eigene wirtschaftliche Interessen. Sie unterliegen keiner demokratischen Kontrolle und sind nicht ge7

WHO – World Health Organization, Air quality guidelines, S. 375 f. In der Presse wurde die Gefährdung der Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation verschiedentlich kritisiert. Bspw. Zumach, in: Deutsche Welle vom 21.02.2012; Simmank, in: Zeit Online vom 04.04.2017; Wulf, in: medico international vom 12.03. 2018. 9 Daugirdas/Burci, Financing the World Health Organization: What Lessons for Multilateralism?, in: International Organizations Law Review 2019, Jg. 16, Heft 2, S. 299 (311). 10 Daugirdas/Burci, Financing the World Health Organization: What Lessons for Multilateralism?, in: International Organizations Law Review 2019, Jg. 16, Heft 2, S. 299 (299, 301). 8

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

wählt worden. Zudem sind die privaten Gelder zweckgebunden. Auf diesen Missstand wurde schon im Deutschen Bundestag in einem Antrag der Fraktion DIE LINKE aus dem Jahr 2020 hingewiesen und gefordert, den Einfluss von privaten Sponsoren, Unternehmen und Stiftungen durch Aufstockung der öffentlichen Beiträge zu beenden.11 Die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation ist zur Erfüllung ihrer Aufgaben unentbehrlich und würde zu einer Stärkung ihrer demokratischen Legitimation führen, da die Mitgliedsstaaten ihrerseits meistens demokratisch legitimiert sind. Besonders ihre Befugnis zur Rechtsetzung und ihre Funktion im Gesetzgebungsprozess ist mit einer Finanzierung durch Private unvereinbar. Aus diesen Gründen sollte die Abdeckung des Haushaltsbudgets allein durch die Mitgliedsstaaten erfolgen. Das stetige Betonen der Europäischen Kommission, der Grenzwert sei aufgrund wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse gesetzt worden,12 ist kein Argument, das für den Grenzwert spricht, wenn die Aussage nicht belegt wird. Im Gesetzgebungsprozess hat sich der europäische Gesetzgeber zu vergewissern, inwiefern der vorgeschlagene Langzeitgrenzwert auf wissenschaftlich gesicherter Basis beschlossen wird. Nachlässigkeiten in diesem Bereich könnten zu einem Mangel an Glaubwürdigkeit und sinkendem Vertrauen der Bevölkerung gegenüber der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament sowie dem EU-Ministerrat führen. Nach intensiver Auswertung der bis 2005 vorhandenen Studien hat selbst die Weltgesundheitsorganisation erkannt, dass die Wissenschaft nicht genügend Beweise für die gesundheitlichen Langzeitauswirkungen allein von NO2 geliefert hat.13 Der Grenzwert wurde trotzdem vorgeschlagen, was auffällig ist. Diese Ungenauigkeit im Gesetzgebungsverfahren ist jedoch wegen inzwischen neuerer Erkenntnisse im Jahr 2013 durch die Weltgesundheitsorganisation beseitigt worden. Zwischenzeitlich wurde aufgrund neuer epidemiologischer Untersuchungen festgestellt, dass gesundheitsschädigende Wirkungen bereits bei einer Langzeitexposition von durchschnittlich 20 mg/m3 eintreten können.14 Ein Kausalitätsbeweis für die gesundheitsschädigende Wirkung allein von NO2 wurde hingegen noch immer nicht erbracht.

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BT-Drucks. 19/19485. Vella, EU-Umweltkommissar bis 01.12.2019, Presseerklärung: Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid beruhen auf solider wissenschaftlicher Basis. 13 WHO – World Health Organization, Air quality guidelines, S. 375 f. 14 WHO – World Health Organization, Health risks of air pollution in Europe – HRAPIE project, S. 29. 12

III. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

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III. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland Das Umweltbundesamt hat die gemessenen Stickoxidwerte in den deutschen Ballungsgebieten für das Jahr 2019 veröffentlicht. Die folgende Tabelle stellt eine Bestandsaufnahme über das Ausmaß der Grenzwertüberschreitungen vor der Coronapandemie dar. In der Tabelle sind nur Messstellen enthalten, bei denen der jährlich gemittelte Grenzwert von 40 mg/m3 überschritten wurde. An 45 Messstationen wurde der Jahresgrenzwert überschritten. Auffällig ist, dass ausschließlich vielbefahrene Straßen in Großstädten betroffen sind. Die Interpretation der Zahlen zeigt, dass Stickstoffdioxidbelastungen ein Phänomen der Großstädte sind. Keine einzige Messstelle in vorstädtischen oder ländlichen Regionen wies eine Grenzwertüberschreitung im Jahresmittel auf. Wenn berücksichtigt wird, dass offizielle Messstellen in Großstädten lediglich punktuell installiert werden, dann zeigt die Anzahl an grenzwertüberschreitenden Messungen, dass Stickstoffdioxidemissionen nach wie vor ein aktuelles, ungelöstes Problem darstellen. Insgesamt gab es in der jährlichen Auswertung des Umweltbundesamtes 531 Messstellen, wovon 244 Messstellen auf die Stationsumgebung „städtisches Gebiet Verkehr“ entfallen. Daraus ergibt sich in diesem Sektor eine rechnerische Quote von NO2-Grenzwertüberschreitungen an 18,44 % der Messstellen. Dadurch, dass in anderen Bereichen, wie den vorstädtischen, industriellen und ländlichen Gebieten, aber auch dem städtischen Hintergrundgebiet, keine einzige Grenzwertüberschreitung vorliegt, wird deutlich, dass der Straßenverkehr Hauptemittent der NO2-Luftverunreinigung ist. Der neue vorläufige Luftqualitätsbericht des Umweltbundesamtes für das Jahr 2020 erkennt eine starke Verringerung der NO2-Konzentration, so dass der pro Jahr gemittelte Grenzwert an fast allen Messstationen eingehalten wurde.15 Das Verkehrsaufkommen sank im ersten Lockdown der Coronakrise je nach Stadt um etwa 20–50 % und war mithin für eine Reduktion der Stickstoffdioxidkonzentration während des ersten Lockdowns verantwortlich.16 Das Umweltbundesamt ging bei seiner Einschätzung des coronabedingten Effekts auf die Stickstoffdioxidkonzentration jedoch davon aus, dass das Verkehrsaufkommen mit dem Ende der Beschränkungen des öffentlichen Lebens im Frühjahr 2020 wieder auf das vorherige Niveau ansteigt.17 Der Einfluss auf die jährliche NO2-Belastung sei daher gering, weshalb vor allem „gezielte Luftreinhaltemaßnahmen in den Städten und die Flottenerneuerung die maßgeblichen Treiber des seit einigen Jahren beobachteten deutlichen Rückgangs der verkehrs15 16 17

UBA, Luftqualität 2020. Vorläufige Auswertung, S. 12, 14. UBA, Luftqualität 2020. Vorläufige Auswertung, S. 21, 29. UBA, Luftqualität 2020. Vorläufige Auswertung, S. 31.

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

Abbildung 1: Überschreitungen des jährlich gemittelten Grenzwerts von Stickstoffdioxid im Jahr 2019 in der Bundesrepublik Deutschland.18

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UBA, Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2019.

III. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

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nah gemessenen NO2-Konzentrationen“ 19 seien. Demgemäß ist das Problem der jährlich gemittelten Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid nach Auffassung des Umweltbundesamtes gelöst. Diese Auffassung ist jedoch nicht überzeugend, weil wichtige Fakten nicht berücksichtigt wurden: Im gesamten Jahr 2020 arbeiteten 42 % der Arbeitnehmerschaft in der freien Wirtschaft regelmäßig von zu Hause aus, wogegen dieser Anteil 2019 noch bei 18 % lag.20 Der Trend zum Arbeiten von zu Hause aus hat auch nach dem ersten Lockdown das gesamte Jahr 2020 über angehalten, weshalb der Straßenverkehr auch nach dem ersten Lockdown bis zum Jahresende erheblich verringert war, weil diese Berufspendler wegfielen. Diese Abnahme des Straßenverkehrs konnte für Deutschland durch den Verkehrsindex des Geodatenanbieters TomTom, der auf Daten von Navigationssystemen zurückgreift, nachgewiesen werden. Der tägliche Stau im städtischen Berufsverkehr nahm im Jahr 2020 im Vergleich zum Jahr 2019 mitunter bis zu 50 % ab und erreichte das Vorjahresniveau auch nach dem Lockdown im Frühjahr – trotz einer Zunahme – nicht mehr.21 Darüber hinaus befanden sich im ersten Lockdown etwa 8 Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit.22 Diese Zahl fiel im Dezember des Jahres 2020 auf 2,6 Millionen Arbeitnehmer, was aber im Vergleich zum Vorjahr, in dem lediglich 25.000 Arbeitnehmer in Kurzarbeit waren,23 erheblich mehr ist. Zusätzlich verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit 429.000 mehr Arbeitssuchende als im Jahr 2019,24 die das Verkehrsaufkommen durch eine Verringerung des Berufsverkehrs zwangsläufig entlastet haben. Darüber hinaus sank der Tourismus auf einen Tiefpunkt. Für Berlin beispielsweise sank die Zahl der Übernachtungen auf 12,3 Millionen im Vergleich zu 34 Millionen Übernachtungen im Jahr 2019,25 was zu einer weiteren Verringerung des innerstädtischen Verkehrsaufkommens beitrug, da quantitativ weniger Mobilität vorhanden war. Folglich gibt der vorläufige Bericht des Umweltbundesamtes über die Luftqualität des Jahres 2020 wegen des ganzjährigen Einflusses der Corona-Krise auf das Verkehrsaufkommen keine verlässliche Auskunft. Der Bericht verzerrt den tat19

UBA, Luftqualität 2020. Vorläufige Auswertung, S. 32. ifo Institut, Homeoffice vor und nach Corona: Auswirkungen und Geschlechterbetroffenheit, S. 2. 21 TomTom, Difference in rush hours. 22 Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Dezember und Jahr 2020, S. 13. 23 Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt. März 2021, S. 9. 24 Bundesagentur für Arbeit, Jahresrückblick 2020. 25 Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Pressemitteilung vom 23. Februar 2021, Zahl der Gäste in den Berliner Beherbergungsbetrieben 2020 auf dem Niveau des Jahres 2001. 20

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

sächlichen Zustand der Luftqualität, denn die Bewohnerschaft der Innenstädte ist unter normalen Bedingungen einer viel höheren Luftschadstoffexposition ausgesetzt als im Ausnahmezustand einer Pandemie. Bei der Auswertung dieses Berichts ist daher Vorsicht geboten. Die Messdaten für das Jahr 2020 treffen aus den genannten Gründen keine zuverlässige Aussage über die Luftqualität in Deutschland unter realistischen Bedingungen für die Zukunft.26 Überschreitungen des jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwertes von 40 mg/m3 sind in Deutschland und Europa daher perspektivisch noch immer ein Problem. Vorschnelle Schlüsse, es bestünde kein Luftqualitätsproblem mehr in deutschen Innenstädten, sollten daher unterlassen werden.27

IV. Bestandsaufnahme der Stickstoffdioxidbelastung am Beispiel Berlins Berlin ist die Stadt mit den zahlenmäßig meisten Grenzwertüberschreitungen bei Stickstoffdioxid im Straßenverkehr, daher bietet sich eine Bestandsaufnahme anhand dieses realen Beispiels an. Im Jahresbericht 2019 über die Luftgütemessdaten wird festgestellt, dass an fünf der sechs automatisch messenden Verkehrsstationen die Grenzwerte eingehalten wurden.28 Diese Verbesserung wird in der Erreichung der Luftqualitätsziele als „bemerkenswerte Entwicklung“ verkündet. Regine Günther, ehemalige Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz des Landes Berlin, erklärte in einer Pressemitteilung über den Jahresbericht 2019: „Die Luft ist deutlich sauberer geworden. Die Ergebnisse bestätigen, dass wir die Ursachen der Schadstoffbelastungen in Berlin richtig erkannt haben, unsere Maßnahmen zur Luftreinhaltung zielgerichtet sind und Wirkung zeigen. Diese Schadstoffreduktion ist gut für die Gesundheit der Berlinerinnen und Berliner.“ 29

Damit ist der Staat an dem teilweise bestehenden Meinungsbild, welches die Gefährlichkeit von Grenzwertüberschreitungen für die Gesundheit verharmlost,30 nicht unbeteiligt, wie man am Beispiel der Berliner Landesregierung sehen kann. Der Jahresbericht 2019 geht so weit, dass er behauptet, die NO2-Grenzwerte für

26 Dieser Einwand wird ebenso im Entwurf zur 2. Fortschreibung des Limburger Luftreinhalteplans vertreten: Hessisches Ministerium, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg. Entwurf, S. 9. 27 So aber beispielsweise Wurnig, in: rbb24, Berliner Luft bleibt 2020 erstmals so sauber wie vorgeschrieben. 28 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftgütemessdaten Berlin, Jahresbericht 2019, S. 3. 29 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Maßnahmen zur Luftreinhaltung wirken, Pressemitteilung vom 02.11.2020. 30 Hierzu unter B. V.

IV. Bestandsaufnahme am Beispiel Berlins

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das Jahresmittel von 40 mg/m3 würden bereits im Jahr 2020 flächendeckend eingehalten werden.31 Diese Prognose ist unter pandemiefreien Bedingungen sehr fragwürdig. Zudem wird verkannt, dass bereits die Überschreitung von nur einer Messstelle gem. § 47 Abs. 1 BImSchG in Verbindung mit § 27 der 39. BImSchV zu einer Fortschreibung des Luftreinhalteplans verpflichtet. Vor allem lässt die Prognose eine Würdigung der eigenen Messergebnisse vermissen. So werden neben den sechs automatischen Verkehrsmessstationen inzwischen 36 Passivsammler verwendet. Passivsammler sind kleine Röhrchen, die wegen ihrer geringen Größe mit wenig Aufwand an Straßenlaternen oder Pfosten von Straßenverkehrsschildern angebracht werden können und Stickstoffdioxid sowie Benzol messen, ohne dabei auf eine Energiezufuhr angewiesen zu sein.32 Von den 36 Passivsammlern sind die NO2-Grenzwerte an 18 Standorten nicht eingehalten worden, was einer Überschreitungsquote von 50 % entspricht. Anzumerken ist, dass im Jahr 2019 in den 36 Passivsammlern 13 neu aufgestellte Passivsammler (MS 601–MS 613) enthalten sind, wobei auffällig ist, dass von den 13 neuen Passivsammlern lediglich vier Standorte eine Grenzwertüberschreitung hatten.33 Somit steht die Frage im Raum, ob hier durch Aufstellen neuer Passivsammler an möglicherweise nicht so stark belasteten Standorten das Ausmaß der flächendeckenden Luftverunreinigung künstlich kleiner gemessen wurde als es tatsächlich ist. Rechnet man die neuen Standorte nicht mit, ergibt sich nämlich, dass von 23 Standorten 13 Passivsammler eine Grenzwertüberschreitung aufweisen, was einer Überschreitungsquote von 57 % entspricht. Die Auswertung der Messwerte der Passivsammler zeigt jedenfalls, dass die gemessenen NO2-Werte im Vergleich zu den 6 automatischen Verkehrsmessstationen erheblich höher sind. Probeentnahmestellen sind gemäß Anlage 3 B Nr. 1 lit. a) der 9. BImSchV dort einzurichten, wo die höchsten Werte auftreten, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist. Die Messwerte zeigen, dass einige Passivsammlerstandorte das Standortkriterium der 39. BImSchV viel mehr erfüllen als die automatischen Verkehrsmessstellen. Folglich ist der Aussagegehalt der Passivsammler über die Luftqualität deutlich höher als die Messwerte der Verkehrsmessstationen. Ob die neuen Standorte der Passivsammler die Standortanforderungen erfüllen, ist nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit und bedarf einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung. Obwohl die Werte der Passivsammler an 31 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftgütemessdaten Berlin, Jahresbericht 2019, S. 3. 32 LANUV- Information, Luftqualitätsmessungen mit Passivsammlern. 33 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftgütemessdaten Berlin, Jahresbericht 2019, S. 20.

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

späterer Stelle im Bericht genannt werden,34 fehlt eine Würdigung der zahlreichen Grenzwertüberschreitungen der Passivsammler in der Gesamtbeurteilung der Luftqualität vollständig. Auch die Aussage der ehemaligen Senatorin Günther wird der Dimension des Luftreinhalteproblems bei näherer Betrachtung nicht gerecht und ist zumindest irreführend. Zwar ist eine Verbesserung der Luftverunreinigung durch NO2 im Vergleich zum Vorjahr zu erkennen. Davon, dass die bisher getroffenen Maßnahmen wirken, wie im Bericht behauptet wird, kann vor dem Hintergrund, dass an 18 Standorten der Passivsammler Grenzwerte nicht eingehalten werden, infolgedessen nicht gesprochen werden. Die Maßnahmen zeigen auch erst dann Wirksamkeit im Sinne der Luftreinhalterichtlinie sowie des § 3 der 39. BImSchV, wenn der Grenzwert an jeder einzelnen Messstelle eingehalten wird. Für das Jahr 2020 wurde der jährlich gemittelte NO2-Grenzwert sodann an sämtlichen Berliner Messstellen eingehalten.35 Wie erwähnt wurde, sollte dieses Ergebnis nur als Momentaufnahme verstanden werden, da der coronabedingte Einfluss nicht berücksichtigt wurde. Eine zuverlässige und langfristige Aussage über die Luftqualität kann daher erst nach dem Erreichen des vorpandemischen Verkehrsaufkommens getroffen werden. Obendrein ist bei dem durch die Bundesregierung eingebrachten und am 08.04. 2019 vom Deutschen Bundestag verkündeten 13. Gesetz zur Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes, welches Fahrverbote bei Stickstoffdioxidgrenzwertüberschreitungen im Jahresmittel bis 50 mg/m3 in der Regel ausschließt, eine Tendenz der Bundesregierung erkennbar, die Auswirkungen von NO2-Grenzwertüberschreitungen auf die menschliche Gesundheit zu unterschätzen.36 Von der Bundesregierung und den Landesregierungen ist im Bereich der Luftreinhaltung ein insgesamt mehr an Sachlichkeit orientiertes Handeln geboten.

V. Kritik und Stellungnahme zum Stickstoffdioxidgrenzwert In den Medien wurde 2018 eine Stellungnahme des Lungenfacharztes Dieter Köhler, der in einem Positionspapier öffentlich die gesundheitlichen Auswirkungen von Stickoxiden und Feinstaub bestritt, bekannt.37 Die Stellungnahme wurde von über 100 Lungenfachärzten unterstützt.38 34 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftgütemessdaten Berlin, Jahresbericht 2019, S. 20. 35 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftgütemessdaten Berlin, Jahresbericht 2020, S. 18 f. 36 BGBl. 2019 I Nr. 12, S. 432 f. 37 Köhler, Stellungnahme zur Gesundheitsgefährdung durch umweltbedingte Luftverschmutzung.

V. Kritik und Stellungnahme zum Stickstoffdioxidgrenzwert

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Auch auf politischer Ebene wird, vor allem durch die Parteien Alternative für Deutschland (AfD) sowie der Freien Demokratischen Partei (FDP), zunehmend versucht, das Problem der Luftverunreinigung durch Stickoxide in Innenstädten zu negieren oder zu verharmlosen. Bereits die gesundheitsschädliche Wirkung ab einem Jahresmittelgrenzwert von Stickstoffdioxid von über 40 mg/m3 wird bestritten.39 Zudem hat die FDP behauptet, der Straßenverkehr sei für die Grenzwertüberschreitung von Stickstoffdioxid in Innenstädten überwiegend nicht verantwortlich.40 Die Argumentation stützt sich darauf, dass, trotz des geringeren Verkehrsaufkommens während des pandemiebedingten Lockdowns im Frühjahr 2020, Grenzwertüberschreitungen, beispielsweise an der Messstation „Stuttgart – am Neckartor“, festgestellt wurden. Somit stellt sich die Frage, ob die Kritik zum bestehenden Grenzwert gerechtfertigt ist. In der aktuellen Luftqualitätsstudie der Europäischen Umweltagentur für das Jahr 2020 wurde im Frühjahr 2020 in einem Vergleich zwischen dem Zeitraum März/April 2019 und März/April 2020 in ganz Europa an fast allen Messstationen eine deutliche Abnahme der NO2-Konzentration festgestellt.41 Die mengenmäßige Abnahme, bezogen auf die einzelnen Länder insgesamt, variierte und reichte von 0 bis 65 %.42 Einige wenige Messstellen verzeichneten hingegen einen Anstieg von 10 bis 13 %. Darüber hinaus hat die Europäische Umweltagentur gezeigt, dass die NO2-Konzentration nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 erheblich unter dem Niveau der Vorjahre zurückblieb.43 Diese Reduktion kann auch nicht durch den Wettereinfluss erklärt werden.44 Der Standpunkt der AfD und der FDP kann vor dem Hintergrund der neuen Studie der Europäischen Umweltagentur folglich nicht bestätigt werden. Beim Standort „Stuttgart – am Neckartor“ handelt es sich zudem um eine Ausnahme, wo der Wettereinfluss als Ursache für die Grenzwertüberschreitung naheliegt.45

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Charisius/Balser, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.02.2019. BT-Drucks. 19/7471, S. 1 f.; BT-Drucks. 19/5054; BT-Drucks. 19/19801. 40 BT-Drucks. 19/19801. 41 European Environment Agency, Air quality in Europe – 2020 report, S. 20 f. 42 European Environment Agency, Air quality in Europe – 2020 report, S. 25. 43 European Environment Agency, Air quality in Europe – 2020 report, S. 23. 44 European Environment Agency, Air quality in Europe – 2020 report, S. 24. 45 UBA, Luftqualität 2019. Vorläufige Auswertung, S. 7; UBA, Luftqualität 2020. Vorläufige Auswertung, S. 24. 39

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

Diese Studie ist, im Gegenteil zur Auffassung der AfD und der FDP, vielmehr ein Beleg für die Ursächlichkeit des Straßenverkehrs an der Grenzwertüberschreitung. Über die möglichen gesundheitlichen Langzeitauswirkungen von Stickstoffdioxid und die Frage, ab welcher Schadstoffmenge solche Auswirkungen resultieren, wird nachfolgend gesondert erörtert.

VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie In der Umweltepidemiologie wird im Umgang mit den NO2-Grenzwerten zwischen kurzzeitigen gesundheitlichen Wirkungen von Werten über 200 mg/m3 pro Stunde sowie langzeitigen Gesundheitsauswirkungen von dauerhaften NO2-Expositionen über 40 mg/m3 im Jahresmittel unterschieden. Die Datenlage bezüglich der Kurzzeitexpositionen von über 200 mg/m3 pro Stunde belegt eindeutig eine gesundheitsschädigende Wirkung.46 Dieser Wert darf gem. § 4 Abs. 1 der 39. BImSchV nicht mehr als 18-mal pro Kalenderjahr überschritten werden, was in Deutschland im Jahr 2019 auch nicht vorkam. Ein wissenschaftlicher Beleg über die gesundheitsschädigende Wirkung von NO2-Werten über 40 mg/m3 im Jahresmittel bei Langzeitexposition fehlte bisher. Studien, die Probanden über mehrere Jahre einer NO2-Exposition über 40 mg/m3 aussetzen würden, sind wegen der drohenden langfristigen Gesundheitsschäden aus ethischen Gründen ausgeschlossen.47 Epidemiologische Studien, also Studien, die die Menschen unter realen Umweltbedingungen beobachten, leiden daran, dass die schädigende Wirkung des Stickstoffdioxids nicht vom Luftschadstoffmix der gesamten Verkehrsimmissionen exakt isoliert bestimmt werden kann. Folglich gelingt den Studien kein Kausalbeweis, dass gerade Stickstoffdioxidwerte ab 40 mg/m3 eine gesundheitsschädigende Wirkung haben. Dennoch ist die epidemiologische Studie, für die Untersuchung der Wirkung von Stickstoffdioxid des Straßenverkehrs auf die Gesundheit, die einzig verbleibende Studienart. Eine Differenzierung in den Studien zwischen Effekten von NO2 und Feinstaub ist jedoch dadurch möglich, dass die Schadstoffbelastung an unterschiedlichen Messstellen unterschiedlich hoch ist, so dass durch Mehrschadstoffmodelle, in denen mehrere Schadstoffe untersucht werden, Aussagen über die einzelnen Wirkungen getroffen werden können.48 46 Brown, in: Inhalation Toxicology, S. 1–14; Swiss TPH, Gesundheitliche Wirkungen der NO2-Belastung auf den Menschen, S. 10–12. 47 Swiss TPH, Gesundheitliche Wirkungen der NO -Belastung auf den Menschen, 2 S. 8. 48 Swiss TPH, Gesundheitliche Wirkungen der NO -Belastung auf den Menschen, 2 S. 9.

VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie

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Der aktuelle Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie für langfristige Gesundheitsauswirkungen von NO2 konnte in verschiedenen Kohortenstudien den Zusammenhang belegen, dass die Gesamtsterblichkeit der Bevölkerung, die an verkehrsbelasteten Straßen wohnt, gegenüber der restlichen Bevölkerung, aufgrund von Luftschadstoffen des Straßenverkehrs, signifikant höher ist. Einen guten Gesamtüberblick zu der aktuellen Kohortenstudien- und Datenlage bietet das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut.49 Kohortenstudien sind Studien, die die Sterblichkeit und den Gesundheitszustand von Bevölkerungsteilen, die einer Exposition ausgesetzt sind, über viele Jahre beobachtet haben. Gleichzeitig wird ein Bevölkerungsteil beobachtet, der dieser Exposition nicht oder erheblich weniger intensiv ausgesetzt ist.50 Der in diesen Studien auftauchende Begriff der Mortalität ist als Häufigkeit von Sterbefällen zu verstehen.51 Oft wird in Studien die auf NO2-Konzentrationen zurückzuführende Sterblichkeitswahrscheinlichkeit oder Erkrankungswahrscheinlichkeit mit dem relativen Risiko („RR“) angegeben. Das relative Risiko beschreibt hierbei den Quotienten des errechneten absoluten Risikos einer stärker durch Stickstoffdioxid belasteten Gruppe mit dem normalen absoluten Risiko der Gesamtbevölkerung, zu erkranken oder zu sterben.52 Das relative Risiko liegt zwischen 0 und unendlich, wobei der Wert auch in Prozent ausgedrückt werden kann. Hierfür muss der die Zahl 1 übersteigende Wert mit 100 multipliziert werden.53 Somit bedeutet die Zahl 1 als relatives Risiko, dass kein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko gegeben ist. Ist das relative Risiko beispielsweise 1,2, dann besteht eine um 20 % erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit der schadstoffbelasteteren Gruppe (0,2 x 100 = 20 %). Zudem ist das relative Risiko ein geschätzter Mittelwert, der sich aus dem angegebenen Konfidenzintervall ergibt. Mit Konfidenzintervallen werden Spannen angegeben, in deren Grenzen der wahre Mittelwert mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit liegt.54 Manche Studien haben die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit anhand des Hazard Ratio („HR“) ermittelt. Da der Hazard Ratio die Wahrscheinlichkeit angibt, mit welcher der Tod eintritt, meint dieser Wert in den Studien, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, ebenso wie „RR“, die Sterbewahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitraum und ist zumindest hier synonym. Teilweise wird die NO2-Belastung in außereuropäischen Studien nicht in Mikrogramm angegeben (mg/m3), sondern in der Anzahl der Teilchen pro Milliarde 49 Swiss TPH, Gesundheitliche Wirkungen der NO -Belastung auf den Menschen, 2 S. 14–20. 50 Kreienbrock/Pigeot/Ahrens, Epidemiologische Methoden, S. 96 f. 51 Kuhn/Wildner, Gesundheitsdaten verstehen, S. 22. 52 Kuhn/Wildner, Gesundheitsdaten verstehen, S. 17. 53 Natrop, Angewandte Deskriptive Statistik, S. 62. 54 Kreienbrock/Pigeot/Ahrens, Epidemiologische Methoden, S. 252.

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

(ppb). Um eine bessere Vergleichbarkeit mit europäischen Untersuchungsergebnissen zu ermöglichen, muss der ppb-Wert in Mikrogramm pro Kubikmeter nach der folgenden Formel umgerechnet werden: 1 ppb = 1,9123 mg/m3.55 Da sich die Stickstoffdioxidkonzentration pro Kubikmeter bei unterschiedlichen Druckverhältnissen und unterschiedlichen Temperaturen verändert, ist ein einheitlicher Maßstab erforderlich, der den Druck und die Temperatur für solche Konzentrationsangaben festlegt. Für das gasförmige NO2 gilt als Normzustand gemäß Anhang VI C der Richtlinie 2008/50/EG ein atmosphärischer Druck von 101,3 kPa sowie eine Temperatur von 293 Kelvin, wobei 293 Kelvin einer Temperatur von 20 ëC entspricht. Was die vorhandenen Kohortenstudien zu den gesundheitlichen Langzeitauswirkungen von Stickstoffdioxid auf die menschliche Gesundheit betrifft, so ist die Studienlage aufgrund ihrer Vielzahl kaum noch überblickbar. Die wichtigsten Kohortenstudien werden im Folgenden näher beleuchtet, wobei nur ein Überblick erfolgen kann, der keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 1. Oslo-Kohortenstudie Die erste größere neuere Studie, die keine Berücksichtigung im Gesetzgebungsprozess der Richtlinie 2008/50/EG mehr fand, war die Oslo-Kohortenstudie aus dem Jahr 2007.56 Alle 105.359 Einwohner der Stadt im Alter von 50 bis 74 Jahren bildeten die Studienpopulation für einen Untersuchungszeitraum von 1992 bis 1998. Vorrangig hat diese Studie die Auswirkungen von Feinstaub auf die Sterblichkeitsrate untersucht. Auch wurde ein starker Zusammenhang zwischen einer erhöhten Feinstaubkonzentration mit einer ebenfalls erhöhten NO2-Konzentration erkannt.57 Feinstaub sei zudem für eine gesteigerte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit verantwortlich.58 2. USA-Kohortenstudie Eine Kohortenstudie aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die 2010 veröffentlicht wurde, beobachtete 53.814 männliche Arbeitnehmer aus der LKW-Branche, die umgerechnet einer durchschnittlichen NO2-Exposition von 27,2 mg/m3 ausgesetzt waren. Betrachtet wurden die Langzeitwirkungen von Luftschadstof-

55 BUWAL, Immissionsmessung von Luftfremdstoffen, S. 18; Umweltbundesamt Österreich, Luftgütemessungen, Jahresbericht 2019, S. 68. 56 Næss u.a., Air Pollution, Social Deprivation, and Mortality: A Multilevel Cohort Study, in: Epidemiology 2007, Jg. 18, Heft 6, S. 686–694. 57 Næss u.a., Air Pollution, Social Deprivation, and Mortality: A Multilevel Cohort Study, in: Epidemiology 2007, Jg. 18, Heft 6, S. 686 (688). 58 Næss u.a., Air Pollution, Social Deprivation, and Mortality: A Multilevel Cohort Study, in: Epidemiology 2007, Jg. 18, Heft 6, S. 686 (692).

VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie

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fen auf deren Sterblichkeit. Bei einem Anstieg der Stickstoffdioxidkonzentration um umgerechnet 15,3 mg/m3 wurde eine signifikante Zunahme der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit erkannt. Zunächst wurde eine um durchschnittlich 7,4 % erhöhte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit aufgrund von NO2 dieser untersuchten Gruppe berechnet.59 Aufgeteilt in genauere stickstoffdioxidbedingte Todesursachen war Lungenversagen im Durchschnitt zu 7,2 % häufiger aufgetreten. Ein tödliches Versagen des Herz- und Gefäßsystems ist mit einer Zunahme von 6,8 % berechnet worden. Die durch Atemwegserkrankungen herrührende Sterblichkeitswahrscheinlichkeiten ist zudem mit einer Erhöhung um 5,6 % ermittelt worden.60 Für Herzinfarkte und chronisch-obstruktive Bronchitis (COPD) konnte jedoch keine erhöhte Todeseintrittswahrscheinlichkeit festgestellt werden. 3. Nordrhein-Westfalen-Kohortenstudie In der Feinstaubkohortenstudie Frauen in NRW aus dem Jahr 2012 wurde herausgefunden, dass die 4.752 Probandinnen, die an einer oder mehreren verkehrsreichen Straße(n) wohnen, eine erhöhte Gesamtsterblichkeit haben. Bei dieser Studie wurden die Studienteilnehmerinnen nach der höchsten Luftschadstoffbelastung, gemessen an ihrem Wohnsitz innerhalb der Ballungsgebiete in Nordrhein-Westfalen ausgewählt. Dabei betrug die durchschnittliche Belastung der Studienteilnehmerinnen mit Stickstoffdioxid 46 mg/m3. Die NO2-bedingte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit stieg insgesamt um mindestens 22 %. Herz-KreislaufErkrankungen führten zu einer um wenigstens 57 % häufigeren Sterblichkeit, das Herz- und das Gefäßsystem betreffende Erkrankungen führten mindestens zu einer um 61 % erhöhten Sterblichkeit. Todesfälle durch Atemwegserkrankungen und Krebs aufgrund von Feinstaub und Stickstoffdioxid nahmen statistisch nicht signifikant zu.61 Zudem war die durch Lungenkrebs verursachte Sterblichkeit um mindestens 14 % höher. Insgesamt ist diese Studie dadurch, dass der Untersuchungszeitraum mit 18 Jahren gegenüber anderen Studien verhältnismäßig lang ist, neben der isolierten Betrachtung von NO2 besonders geeignet, einen signifikanten Zusammenhang mit einer erhöhten Sterblichkeitswahrscheinlichkeit aufzuzeigen. Auch wurde eine zunehmende Sterblichkeitswahrscheinlichkeit mit zunehmender Verkehrsbe-

59 Hart u. a., Long-Term Ambient Multipollutant Exposures and Mortality, in: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2011, Jg. 183, Heft 1, S. 73 (74 f.). 60 Hart u. a., Long-Term Ambient Multipollutant Exposures and Mortality, in: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2011, Jg. 183, Heft 1, S. 73 (75). 61 LANUV, Feinstaubkohortenstudie Frauen in NRW, S. 40, 46, 57.

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

lastung des Wohnsitzes in einer stufenweisen Entfernung dargestellt62, was ein weiterer Vorteil dieser Studie ist. 4. Rom-Kohortenstudie Weiterhin wurde in einer italienischen Kohortenstudie aus dem Jahr 2013 die gesamte Bevölkerung Roms, die über 30 Jahre alt war, als Studienpopulation genommen.63 Untersucht wurden die Auswirkungen von Stickstoffdioxid sowie Feinstaub auf die Sterbewahrscheinlichkeit. Genau wie die Feinstaubkohortenstudie-Frauen NRW wurde die Entfernung des Wohnsitzes zu vielbefahrenen Straßen ins Verhältnis zur Sterbewahrscheinlichkeit gesetzt. Über den Untersuchungszeitraum war die Studienpopulation einer durchschnittlichen NO2-Belastung von 43,6 mg/m3 ausgesetzt.64 In der Studie wurde die Sterbewahrscheinlichkeit in aufsteigenden Belastungsintervallen angegeben.65 So konnte insgesamt die prozentuale Todeseintrittswahrscheinlichkeit pro NO2-Anstieg von 10 mg/m3 berechnet werden. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben, erhöhte sich um 3 % pro NO2-Anstieg von 10 mg/m3. Genauso stieg die Sterblichkeit wegen Herz- und Gefäßerkrankungen jeweils um 3 %. Tödliche Herzinfarkte stiegen jeweils um 5 % an. Für Schlaganfälle konnte indes kein signifikanter Zusammenhang gefunden werden. Hingegen nahm die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit bei Atemwegserkrankungen um 3 % zu. Die lungenkrebsbedingte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit war um 5 % pro NO2-Anstieg von 10 mg/m3 erhöht. Bedeutend an den Resultaten dieser Studie ist der Umstand, dass eine gesundheitsirrelevante Schadstoffschwelle nicht existiert. Diese Feststellung deutet darauf hin, dass der gesetzliche Grenzwert sogar noch niedriger angesetzt werden sollte. 5. Niederlande-Kohortenstudie Bisher wurde in Kohortenstudien meistens die Sterbewahrscheinlichkeit und nur selten die Auswirkung durch eine Verringerung der NO2-Belastung auf die Lungenfunktion untersucht. Dieser Forschungsfrage ist eine niederländische

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LANUV, Feinstaubkohortenstudie Frauen in NRW, S. 46. Cesaroni u.a., Long-Term Exposure to Urban Air Pollution and Mortality in a Cohort of More than a Million Adults in Rome, in: Environmental Health Perspectives 2013, Jg. 121, Heft 3, S. 324–331. 64 Cesaroni u.a., Long-Term Exposure to Urban Air Pollution and Mortality in a Cohort of More than a Million Adults in Rome, in: Environmental Health Perspectives 2013, Jg. 121, Heft 3, S. 324 (326). 65 Cesaroni u.a., Long-Term Exposure to Urban Air Pollution and Mortality in a Cohort of More than a Million Adults in Rome, in: Environmental Health Perspectives 2013, 121 Jg., Heft 3, S. 324 (327). 63

VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie

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Studie aus dem Jahr 2013 nachgegangen.66 Untersucht wurde die Auswirkung von sinkenden Stickstoffdioxidbelastungen in 12 verschiedenen niederländischen Städten. Allerdings war die Studienpopulation mit 746 Teilnehmern gering. Auch war der Untersuchungszeitraum mit gerade einmal zwei Jahren – im Vergleich zu anderen Studien – kurz. Die durchschnittliche Exposition von NO2 lag im Jahr 2008 bei 40,6 mg/m3 und sank bis zum Jahr 2010 um 3,5 mg/m3. Innerhalb der Beurteilung der Lungenfunktion wurden im wesentlichen zwei aussagekräftige Lungenfunktionswerte gemessen: die forcierte Vitalkapazität (FVC) sowie das forcierte exspiratorische Atemvolumen in einer Sekunde (FEV1). Die forcierte Vitalkapazität beschreibt das Atemvolumen, welches nach maximaler Einatmung mit maximaler Geschwindigkeit insgesamt ausgeatmet werden kann, wohingegen der FEV1-Wert Auskunft über das Atemvolumen gibt, welches nach maximaler Einatmung nach schnellem Ausatmen innerhalb der ersten Sekunde ausgeatmet werden kann.67 Verminderte FVC-Werte deuten darauf hin, dass die Lunge sich nicht funktionsgerecht ausdehnen kann und ein eingeschränkter FEV1-Wert belegt eine Verengung der unteren Atemwege (Bronchien).68 An einer untersuchten innerstädtischen Hauptverkehrsstraße ging die Schadstoffbelastung um 13,4 mg/m3 zurück. Die Untersuchungsteilnehmer, die an dieser Straße wohnten, zeigten am Ende des Untersuchungszeitraums um 6 % verbesserte FVC-Werte. Der FEV1-Wert stieg um 3 %.69 Dadurch konnte gezeigt werden, dass die Lungenfunktion bei deutlicher Abnahme der NO2-Belastung verbessert wird. Da nur 31 Teilnehmer an dieser Straße wohnten, ist die Aussagekraft dieses Ergebnisses jedoch begrenzt. Bei den anderen untersuchten innerstädtischen Straßen, wo die Schadstoffbelastung nur geringfügig abnahm, konnte demgegenüber kein nennenswerter Anstieg der Lungenfunktion sowohl des FVCWertes als auch des FEV1-Wertes gezeigt werden.70 6. Kalifornien-Kohortenstudie Eine weitere Studie aus den Vereinigten Staaten von Amerika hatte die durch Luftverunreinigung bedingte Mortalität in Kalifornien zum Forschungsgegenstand. Hierbei wurden 73.711 Teilnehmer über einen Zeitraum von 1988 bis

66 Boogard u. a., Respiratory Effects of a Reduction in Outdoor Air Pollution Concentrations, in: Epidemiology 2013, Jg. 24, Heft 5, S. 753–761. 67 Montag, Facharztprüfung Pneumologie, S. 42. 68 Montag, Facharztprüfung Pneumologie, S. 41. 69 Boogard u. a., Respiratory Effects of a Reduction in Outdoor Air Pollution Concentrations, in: Epidemiology 2013, Jg. 24, Heft 5, S. 753 (757). 70 Boogard u. a., Respiratory Effects of a Reduction in Outdoor Air Pollution Concentrations, in: Epidemiology 2013, Jg. 24, Heft 5, S. 753 (756).

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B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

2002 beobachtet.71 Die durchschnittliche Stickstoffdioxidbelastung betrug umgerechnet 23,5 mg/m3. Nach der Studie stieg die Mortalitätswahrscheinlichkeit wegen NO2 um 3,1 %.72 Bei der Differenzierung der Krankheiten, die wegen Stickstoffdioxid zum Tod führten, wurde herausgefunden, dass die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit bei Lungenkrebs um 11 % erhöht war. Schlaganfälle führten zu einer um 7,8 % und Herzinfarkte um 6,6 % höheren Sterbewahrscheinlichkeit. Auch das Mortalitätsrisiko durch Herz-Kreislauferkrankungen nahm um 4,8 % zu. Für Atemwegserkrankungen konnte hingegen keine höhere Sterblichkeitsrate erkannt werden. Auffällig ist, dass die Studie Stickstoffdioxid von allen untersuchten Luftschadstoffen als den stärksten Anteil an allen Todesfällen einordnet.73 7. Kanada-Kohortenstudie Weiterhin fand ein Forschungsteam aus Kanada bei einer Kohortenstudie mit 2,5 Millionen Teilnehmern in einem Untersuchungszeitraum zwischen 1991 bis 2006 heraus, dass eine dauerhafte Erhöhung der NO2-Exposition bei 5 % der Betroffenen mit einem Anstieg des Sterblichkeitsrisikos von 4 bis 5 % einhergeht.74 Ausgangspunkt ist dabei eine durchschnittliche Belastung von 18,17 mg/m3 gewesen, wobei die Veränderung der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit für eine Mehrbelastung von 15,49 mg/m3 untersucht wurde.75 Bei diesen 5 % der Untersuchten konnten die folgenden Zunahmen der krankheitsspezifischen Mortalitätsraten beobachtet werden: für Lungenkrebs, Versagen der Bronchien und der Luftröhre eine Erhöhung um 7,4 %, Herz-Kreislauferkrankungen um 4 %, Diabetes um 3,9 %, Kreislaufversagen um 4,1 %, Erkrankung der Herzkranzgefäße um 6,3 %, Schlaganfälle um 0,4 %, Atemwegserkrankungen um 3,6 %, chronisch-obstruktive Bronchitiden um 6,8 %.76

71 Jerrett u. a., Spatial Analysis of Air Pollution and Mortality in California, in: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2013, Jg. 188, Heft 5, S. 593 (594). 72 Jerrett u. a., Spatial Analysis of Air Pollution and Mortality in California, in: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2013, Jg. 188, Heft 5, S. 593 (595). 73 Jerrett u. a., Spatial Analysis of Air Pollution and Mortality in California, in: American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine 2013, Jg. 188, Heft 5, S. 593 (596). 74 Crouse u. a., Ambient PM , O , and NO Exposures and Associations with Mor2.5 3 2 tality, in: Environmental Health Perspectives 2015, Jg. 123, Heft 11, S. 1180 (1183). 75 Crouse u. a., Ambient PM , O , and NO Exposures and Associations with Mor2.5 3 2 tality, in: Environmental Health Perspectives 2015, Jg. 123, Heft 11, S. 1180 (1182). 76 Crouse u. a., Ambient PM , O , and NO Exposures and Associations with Mor2.5 3 2 tality, in: Environmental Health Perspectives 2015, Jg. 123, Heft 11, S. 1180 (1182).

VI. Stand der Forschung in der Umweltepidemiologie

47

8. Perth-Kohortenstudie Besonders aufschlussreich ist eine weitere australische Kohortenstudie aus dem Jahr 2019, die ihren Fokus auf die Langzeitauswirkungen von geringen Stickstoffdioxidkonzentrationen auf die Mortalitätsrate sowie die Schlaganfallrate gelegt hat. Die Belastung von NO2 betrug in der untersuchten Metropolregion Perth im Durchschnitt nur 10,1 mg/m3.77 Die 11.627 Studienteilnehmer waren männlichen Geschlechts und über 65 Jahre alt, wobei der Untersuchungszeitraum von 1996 bis 2012 reichte. Bei sämtlichen Studienteilnehmern wurde anhand ihrer Wohnadressen die dortige Stickstoffdioxidbelastung ermittelt. So konnte durch einen Vergleich der Expositionsmengen zwischen den Teilnehmern herausgefunden werden, wie die Schadstoffhöhe mit der Mortalitäts- und Schlaganfallrate korreliert. Bei einer Expositionszunahme von 10 mg/m3 konnte ein signifikanter Anstieg der Gesamtmortalitätsrate um 6 % festgestellt werden, wohingegen die Sterblichkeitsrate bezüglich tödlicher Schlaganfälle beachtlicherweise gesunken ist.78 Geringe Schadstoffkonzentrationen von Stickstoffdioxid im Bereich von 10 mg/m3 haben folglich keine negativen Langzeitauswirkungen auf die Sterblichkeitsrate. Jedoch konnte aufgedeckt werden, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben, selbst bei einer geringen Zunahme der NO2-Belastung, erheblich steigt. 9. Sydney-Kohortenstudie Eine zweite Kohortenstudie aus Australien hat den Untersuchungsgegenstand ebenfalls auf die Langzeitauswirkungen von nur geringen NO2-Konzentrationen auf die Gesamtsterblichkeitswahrscheinlichkeit gelegt. Dabei wurden nur diejenigen berücksichtigt, die über 45 Jahre alt waren, was für den Untersuchungszeitraum von 2006 bis 2015 eine Teilnehmeranzahl von 75.268 bedeutete.79 Eine Differenzierung nach krankheitsbezogenen Kriterien der Sterblichkeitswahrscheinlichkeiten wurde jedoch nicht vorgenommen. Für die Teilnehmer wurden entsprechend ihrer Wohnanschriften die verschiedenen lokalen und durchschnittlichen Belastungshöhen von Stickstoffdioxid ermittelt, wobei der jährliche Mittelwert 17,8 mg/m3 auswies.80 Dabei wurde sichtbar, dass die Mortalitätsrate bei einer Erhöhung der Stickstoffdioxidkonzentration um 5 mg/m3 um 3 % stieg.81 Wenn berücksichtigt wird, 77 Dirgawati u. a., Low Air Pollutant Concentrations and the Relationship Cause Mortality, in: Epidemiology 2019, Jg. 30, Heft 1, S. 82 (83). 78 Dirgawati u. a., Low Air Pollutant Concentrations and the Relationship Cause Mortality, in: Epidemiology 2019, Jg. 30, Heft 1, S. 82 (86). 79 Hanigan u. a., All-cause mortality and long-term exposure to low level tion, in: Environment International 2019, Jg. 126, S. 762 (763, 765). 80 Hanigan u. a., All-cause mortality and long-term exposure to low level tion, in: Environment International 2019, Jg. 126, S. 762 (765). 81 Hanigan u. a., All-cause mortality and long-term exposure to low level tion, in: Environment International 2019, Jg. 126, S. 762 (768).

with Allwith Allair polluair polluair pollu-

48

B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

dass die Schadstoffbelastung von NO2 verhältnismäßig gering war, so kann eine Fortschreibung dieses Befundes beispielsweise für eine Stickstoffdioxidkonzentration von 40 mg/m3 andeuten, dass die Mortalitätsrate um über 12 % steigen würde.

VII. Zusammenfassung der Studienergebnisse und Stellungnahme Durch eine verbesserte Studien- und Datenlage in den vergangenen Jahren kann die gesundheitsschädigende Wirkung von Stickstoffdioxid inzwischen als „wahrscheinlich mitursächlich“ für Gesundheitsschäden und eine erhöhte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit eingeordnet werden. Die Diskussion um Grenzwerte steht indes vor einem grundsätzlichen Dilemma, weil es meistens unmöglich sein wird, starre Grenzwerte aus der wissenschaftlichen Wirkungsforschung mit Sicherheit abzuleiten.82 Stimmen, die der Wissenschaft eine unzureichende Forschung auf diesem Gebiet vorwerfen, übersehen, dass ihre Forderung unmöglich erfüllbar ist, weil die Wissenschaft den Kausalbeleg nicht liefern kann. Schon Hüttermann erkannte, dass die Risikobewertung durch Festlegung von Gefahrenschwellen in Form von Grenzwerten in der Regel das politische Kernproblem der Grenzwertsetzung darstellt.83 In seiner Untersuchung wird trotzdem gänzlich verkannt, dass dieses Kernproblem gleichermaßen ein juristisches ist – vor allem, wenn festgestellt werden muss, wann eine Grenzwertüberschreitung verfassungsrechtliche Schutzpflichten auslöst. Zutreffend hat Krautzberger, die bis Ende 2019 Präsidentin des Umweltbundesamtes war, darauf hingewiesen, dass es in der Wissenschaft regelmäßig um Wahrscheinlichkeiten geht und die Kritik gegenüber Grenzwerten insofern nicht geboten ist.84 Selbst wenn der Anteil der gesundheitsschädigenden Wirkung von Stickstoffdioxid in Verhältnis zu anderen Schadstoffen wie Feinstaub und Ultrafeinstaub festgestellt werden kann, dann fehlen notwendige Informationen über mögliche Wechselwirkungen der einzelnen Luftschadstoffe zueinander, die ihre volle Schadenswirkung erst durch ihr Zusammenwirken offenbaren. Mithin kann es einen hundertprozentigen Kausalbeleg nicht geben. Das Dilemma um Grenzwerte im Bereich der Luftqualität kann nur gelöst werden, wenn die Rechtswissenschaft Unsicherheiten beim Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadens, bei der Art der Schäden und bei der Kausalität akzep82

Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 379. Hüttermann, Funktionen der Grenzwerte im Umweltrecht und Abgrenzung der Begriffe, S. 140. 84 Pinzler, in: Die Zeit vom 15.03.2018. 83

VIII. Ausblick

49

tiert.85 Auch ist notwendig, statt eines Kausalbeleges eine wahrscheinliche Mitursächlichkeit eines einzelnen Schadstoffs als ausreichend zu akzeptieren. Nur dadurch ist eine Regulierung durch Grenzwerte erst möglich. Erwiesen ist jedenfalls, dass die Sterbewahrscheinlichkeit der Bewohnerschaft an vielbefahrenen Straßen und deren Wahrscheinlichkeit, bestimmte Krankheiten zu bekommen, höher ist als im städtischen Hintergrund und als im ländlichen Raum. Mitursächlich dafür sind wahrscheinlich die Stickstoffdioxide des Straßenverkehrs. Die erhöhte Sterblichkeit und das vermehrte Auftreten bestimmter Erkrankungen bestehen sogar, obwohl der Grenzwert an den meisten Messstationen eingehalten wurde. Daraus kann nur geschlussfolgert werden, dass der Grenzwert keinesfalls zu niedrig angesetzt ist, sondern eher zu hoch. Die Kritik der AfD und der FDP86 ist für die Vergangenheit zum Teil berechtigt gewesen, sie ist jedoch vor dem Hintergrund der neueren Studienlage und der neueren Forschungsergebnisse der letzten Jahre nicht mehr begründet. Stickstoffdioxid des Straßenverkehrs führt mithin bei einem Jahresdurchschnitt von über 40 mg/m3 zu einer statistisch mitursächlichen wahrscheinlichen Gesundheitsschädigung und Erhöhung der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit im medizinischen Verständnis. Damit ist jedoch noch keine Aussage über die verfassungsrechtliche Bewertung dieser Erkenntnisse getroffen. Die Behauptungen, Stickstoffdioxidbelastungen hätten keine Auswirkungen auf die Gesundheit, wie von der AfD, der FDP oder Köhler erhoben, sind jedenfalls heute wissenschaftlich nicht mehr vertretbar.

VIII. Ausblick Da sich die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse über risikoauslösende Luftschadstoffkonzentrationen nur teilweise mit den Grenzwerten der Luftqualitätsrichtlinie decken, befindet sich die Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG derzeit in der Revision. Im dritten Quartal 2021 hatte die Europäische Kommission daher eine öffentliche Konsultation durchgeführt.87 In dem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2021 neue Luftgüteleitlinien verabschiedet hat. Diese Leitlinien sehen nunmehr sogar einen langfristig 85 Hierzu wurde der Begriff des Risikos eingeführt. Genauer dazu unter C. II. 2. b) aa). 86 Hierzu unter B. V. 87 Europäische Kommission, Konsultation zur Überarbeitung der Luftqualitätsrichtlinien (2008/50/EG und 2004/107/EG).

50

B. Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland

neuen NO2-Grenzwert von maximal 10 mg/m3 im Jahresdurchschnitt vor.88 Als Zwischenziele wurden übergangsweise Grenzwerte von 40 mg/m3, dann von 30 mg/m3 sowie von 20 mg/m3 vorgeschlagen.89 Diese neuen Vorschläge beruhen auf der neuesten epidemiologischen Studienlage, die seit 2013 veröffentlicht wurde.90 Von diesem vorgeschlagenen neuen Grenzwert ist die gemessene Luftqualität in den deutschen Innenstädten noch weit entfernt.91 Vor dem Hintergrund der seit 2013 veröffentlichten Kohortenstudien verdichten sich die Hinweise, dass wahrscheinlich auch geringere jährlich gemittelte Stickstoffdioxidkonzentrationen im Bereich zwischen 10 und 20 mg/m3 zu einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit führen kann.92 Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass auch der Grenzwert für kurzzeitige Belastungen (der 24-Stunden-Mittelwert) von 200 auf 25 mg/m3 vorgeschlagen wurde,93 was die Bundesrepublik Deutschland vor erhebliche Herausforderungen stellen würde, da diese gewünschte Belastungsschwelle zurzeit vielfach nicht eingehalten wird. Daher ist naheliegend, dass der europäische Gesetzgeber die Stickstoffdioxidgrenzwerte in naher Zukunft sogar deutlich verschärfen wird, weshalb insgesamt davon auszugehen ist, dass die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament eine Verschärfung der Stickstoffdioxidgrenzwerte vorschlagen wird.

88 89 90

WHO – World Health Organization, WHO global air quality guidelines, S. 114. WHO – World Health Organization, WHO global air quality guidelines, S. 116. WHO – World Health Organization, WHO global air quality guidelines, S. 117–

119. 91

Hierzu bereits unter B. III. Für den Fall, dass das Europäische Parlament den jährlich gemittelten Grenzwert von 40 mg/m3 nicht verschärft, ist über eine Schutzpflichtverletzung wegen unterlassener Nachbesserungspflicht nachzudenken. 93 WHO – World Health Organization, WHO global air quality guidelines, S. 124. 92

C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht Eine Prüfung der möglichen Schutzpflichtverletzung anhand des Fallbeispiels kommt ohne eine vorgelagerte und generelle verfassungstheoretische Durchdringung der grundrechtlichen Schutzdimension nicht aus. Daher wird nachfolgend eine verfassungstheoretische Einordnung der grundrechtlichen Schutzpflicht vorgenommen und der inhaltliche Rahmen bestimmt. Parallel werden Problemfelder identifiziert sowie Lösungswege entwickelt. Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte der Grundrechtsberechtigten gegenüber dem Staat.1 Jedoch zeigt die Lebenswirklichkeit, dass Grundrechtsgüter wie das Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in vielerlei Hinsicht auch durch private Akteure bedroht und verletzt werden können.2 Als Beispiel braucht nur an das Tabakrauchen und die damit einhergehende Gesundheitsgefahr für Passivrauchende gedacht werden.3 Auch das Grundrechtsgut der personenbezogenen Daten im Kontext des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zeigt schnell, dass solche sensiblen Daten nicht umfassend vor den Einwirkungen durch Dritte geschützt werden können, wenn grundrechtlicher Schutz nur negatorisch über das Abwehrrecht gewährt wird. Demgegenüber kennt das Grundgesetz mit Ausnahme von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG keine unmittelbare Grundrechtsbindung zwischen Privatpersonen. Seit der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herrscht indes Klarheit, dass es keine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte zwischen Privaten gibt.4 Die Lehre hat sich dieser Auffassung überwiegend angeschlossen.5 Dadurch können die Grundrechte wie das Schutzgut der körperlichen Integrität aber nicht effizient geschützt werden. Aus diesem Grund entwickelte das Bundesverfassungsgericht die Existenz von staatlichen Schutzpflichten. Das bedeutet, dass der Bürger nicht nur einen Abwehranspruch gegenüber dem Staat gerichtet auf Unterlassen von Grundrechts1 BVerfGE 7, 198 (204 f.); Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 91; Remmert, in: Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 19 Abs. 2, Rn. 42 f. 2 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 312. 3 Faber, DVBl. 1998, 745–753. 4 BVerfGE 7, 198 (205–207). 5 Canaris, JuS 1989, 161; Dürig, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 3 Rn. 127 ff.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

eingriffen hat, sondern in bestimmten Situationen sogar ein Anspruch auf aktives Tätigwerden des Staates gegenüber Privatpersonen besteht.6 Daher beinhaltet die Grundrechtsfunktion schon nach der Statuslehre Jellineks neben der Abwehrfunktion der Grundrechte (status negativus) auch eine Handlungspflicht des Staates, Grundrechte zu schützen (status positivus).7 Diese Schutzdimension der Grundrechte verpflichtet den Staat auch ohne das Tatbestandsmerkmal des staatlichen Eingriffs, ein bestimmtes Schutzniveau zu schaffen.

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten Über die Existenz von grundrechtlichen Schutzpflichten besteht in Forschung sowie Rechtsprechung weitgehend Einigkeit.8 Die grundrechtsdogmatische Herleitung hingegen ist bis heute eine der umstrittensten Fragen in der deutschen Staatsrechtswissenschaft. 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Schutzpflichten begann 1974 und hat sich seitdem immer mehr gefestigt. Für das Verständnis einer der nach wie vor umstrittensten Grundrechtsdiskussionen ist eine Skizzierung der einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes geboten. Nur so kann die Kritik der Literatur nachvollzogen werden. a) Schwangerschaftsabbruch I-Entscheidung, 1974 Bereits in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch hatte das Bundesverfassungsgericht neben der klassischen Abwehrfunktion der Grundrechte eine Schutzpflicht des Staates entwickelt.9 Gegenstand des abstrakten Normenkontrollverfahrens war die Änderung des § 218 StGB, wonach Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis, die durch einen Arzt mit Einwilligung der Schwangeren erfolgen, nicht strafbar waren.10 Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass das ungeborene Leben ebenso unter den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG fällt wie das vollendete Leben.11 6

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 313. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87. 8 BVerfGE 39, 1 (42, 51 ff.); z. B. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 35; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 26. 9 Erichsen, JURA 1997, 85 (86). 10 BVerfGE 39, 1 (3 f.). 11 BVerfGE 39, 1 (36 f.). 7

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Die werdende Mutter, die in den Schwangerschaftsabbruch einwilligt und ihn dadurch erst ermöglicht, handelt in Wahrnehmung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, wenn das Gericht vom Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren spricht.12 Im Kern der Entscheidung formuliert das Gericht die neue Wirkdimension der Grundrechte: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.“ 13

Erstmalig hat das Bundesverfassungsgericht erkannt, dass es Situationen gibt, in denen Grundrechte durch das Verhalten Dritter beeinträchtigt werden können. Schon bei Schwangerschaften besteht eine echte verfassungsrechtliche Dreieckskonstellation. Indem das ungeborene Kind sein Recht auf Leben verfassungsgerichtlich naturgemäß nicht selbst durchsetzen kann, besteht kein effektiver Grundrechtsschutz. Daher war die Annahme einer staatlichen Schutzpflicht notwendig. Darüber hinaus erkennt das Gericht an, dass in Dreieckskonstellationen grundsätzlich auch eine Abwägung der betroffenen Grundrechte der Grundrechtsträger zu erfolgen hat, welche jedoch im konkreten Fall zu Gunsten des ungeborenen Kindes ausfällt.14 Die Art und Weise, wie der Staat in diesem Fall seiner Schutzpflicht nachkommt, ist vom Gesetzgeber zu bestimmen. Ihm wird dabei ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zuerkannt, indem er selbst entscheiden kann, ob Schutzmaßnahmen zweckdienlich, geboten und wirksam sind.15 Im Widerspruch dazu hat das Gericht dem Gesetzgeber die Pflicht auferlegt, dass die Schutzmaßnahme konkret mittels des Strafrechts umgesetzt werden muss. Dem Urteil fehlt jedoch eine Auseinandersetzung mit der dogmatischen Herleitung der Schutzpflichten. Zwar schreibt das Bundesverfassungsgericht, dass sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bereits unmittelbar die Grundlage für ein positives Tätigwerden des Gesetzgebers zur Verwirklichung seiner Schutzverpflichtung ableiten lasse, eine Begründung dafür ist jedoch nicht vorhanden.16 Weiter nennt das Urteil den Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, aus dem die Schutzpflicht, Leben zu schützen, ausdrücklich hervorgehen soll. In der Vorschrift steht, dass die Menschenwürde zu achten und zu schützen Verpflichtung aller Staatsgewalten ist. 12 13 14 15 16

BVerfGE 39, 1 (42 f.). BVerfGE 39, 1 (42). BVerfGE 39, 1 (42–44). BVerfGE 39, 1 (44). BVerfGE 39, 1 (41 f.); Hermann, Schutz vor Fluglärm, S. 87.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Unstreitig beinhalten alle Grundrechte einen Menschenwürdegehalt. Mithin beinhaltet auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einen Menschenwürdekern, der geschützt werden muss. Die Auslegung der Vorschrift nach dem Wortlaut ergibt somit nur Sinn, wenn das Gericht dem Wort „schützen“ eine eigene Bedeutung zumisst. Dann nämlich bedeutet „achten“ nicht (ungerechtfertigt) in Grundrechte einzugreifen und „schützen“ für die Verwirklichung des Schutzgutes aktiv Maßnahmen zu ergreifen. Möglicherweise dachte das Bundesverfassungsgericht bereits in dieser Entscheidung, dass sich die Schutzpflicht, Leben zu schützen, aus Art. 2. Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt. Dann aber hätte das Gericht die Normenkette auch als solche benennen können. Als Zwischenergebnis kann zum einen festgehalten werden, dass Schutzpflichten in diesem Urteil erstmals anerkannt wurden und zum anderen, dass aus dem Rechtsgut „Leben“ des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Schutzpflichten resultieren können. Wenige Jahre später bestätigte das Bundesverfassungsgericht im Zuge eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Schleyer-Urteil die grundrechtliche Schutzpflichtkonstruktion aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat verpflichte, jedes menschliche Leben umfassend zu schützen.17 Jedoch wurde eine Bezugnahme auf die objektive Werteordnung unterlassen. b) Kalkar I-Beschluss, 1978 Im konkreten Normenkontrollverfahren wurde dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die neue Fassung des § 7 des Atomgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar sei.18 Die Vorschrift ermöglichte die Genehmigungsfähigkeit eines neuen, bis dahin nicht erprobten Kernreaktors, den schnellen natriumgekühlten Reaktor, allgemein besser bekannt als „schneller Brüter“. Die Technologie war bis dahin unerprobt und das Risiko der Anlage ist ungewiss gewesen. Neben Fragen zur Wesentlichkeitstheorie und zum parlamentarischen Gesetzesvorbehalt wurde die allgemeine Schutzpflicht des Staates betont, die sich auf eine auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Risikovorsorge erstreckt. Die Erkenntnis, dass Grundrechtsgefährdungen Grundrechtsverletzungen entsprechen können, ist neu gewesen. Das Gericht nimmt die Herleitung der Schutzpflicht noch immer aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG sowie außerdem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vor.19 17 18 19

BVerfG, Urt. v. 16.10.1977 – 1 BvQ 5/77, NJW 1977, 2255 (2255). BVerfGE 49, 89 (91). BVerfGE 49, 89 (140–142).

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Ebenso erwachsen Schutzpflichten gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG aus der objektiv-rechtlichen Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde zu schützen.20 In späteren Urteilen leitete das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflichten aus der objektiv-rechtlichen Werteordnung des Grundgesetzes her, worauf im Laufe der Untersuchung noch genauer eingegangen wird.21 Jedenfalls tauchte die objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates, Grundrechte zu schützen, in diesem Beschluss erstmals auf. c) Mülheim-Kärlich-Beschluss, 1979 Mittels Verfassungsbeschwerde wandte die Beschwerdeführerin sich gegen Teilgenehmigungen zur Errichtung mehrerer Anlageteile des Atomkraftwerkes Mülheim-Kärlich. Die Beschwerdeführerin meinte, ihr Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG sei durch den Betrieb des Atomkraftwerkes gefährdet.22 Artikel 2 Abs. 2 GG beinhalte Schutzpflichten, die über ihre Abwehrfunktion hinaus das Leben und die körperliche Unversehrtheit schützen. Dies folge aus dem objektivrechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 GG.23 Erstaunlich ist, dass die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die vorher nur für das Rechtsgut Leben angenommen wurde, beiläufig auf die körperliche Unversehrtheit ausgedehnt wurde. Ob sich die Schutzpflicht über das Rechtsgut Leben hinaus auch auf das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit erstreckt, war bis dahin offen. Eine Herleitung aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG erfolgte hier nicht mehr. d) Fluglärm-Beschluss, 1981 In der Entwicklung der grundrechtlichen Schutzpflichten folgte der FluglärmBeschluss. Anwohner des zivilen Verkehrsflughafens Düsseldorf-Lohausen waren der Auffassung, der Staat unternehme zu wenig, um den Lärmschutz der Anwohnerschaft vor Fluglärm ausreichend zu gewährleisten.24 Ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sei dadurch verletzt. Sie erhoben Verfassungsbeschwerde. Auch in diesem Urteil erkennt das Gericht eine Schutzpflicht gem. Art. 2 Abs. 2 GG sowie seinen objektiv-rechtlichen Gehalt an. Wenn aufgrund inzwischen höherer Lärmbelastungen und einem neueren Stand der Forschung über die Auswirkungen von Fluglärm bestehende Lärmschutzvorschriften nicht mehr ausreichenden Schutz bieten, müssten diese nach-

20 21 22 23 24

BVerfGE 49,89 (132). Hierzu unter C. I. 2. a). BVerfGE 53, 30 (31 f.). BVerfGE 53, 30 (57). BVerfGE 56, 54 (55).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

gebessert werden.25 Nicht mehr genannt wird – wie auch schon im MülheimKärlich-Beschluss – Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. e) C-Waffen-Beschluss, 1987 Der C-Waffen-Beschluss befasste sich mit Gesundheitsgefahren wegen der Lagerung von chemischen Waffen auf deutschem Territorium durch Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika. Schutzpflichten wurden mittels der objektivrechtlichen Wertentscheidung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründet.26 Das Urteil ist daher als Fortschreibung der bisherigen Verfassungsrechtsprechung zu verstehen. f) Straßenverkehrslärm, 1988 Die Beschwerdeführer haben die Festsetzung einer vierspurigen Straße im Bebauungsplan, die in unmittelbarer Nähe zu ihrem innerhalb der geschlossenen Ortschaft gelegenen Grundstück gebaut werden soll, gerügt.27 Auch hier wurde eine grundsätzliche Schutzpflicht bei Straßenverkehrslärm gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angenommen, die vorliegend aber nicht verletzt worden ist.28 g) Schwangerschaftsabbruch II-Entscheidung, 1992 Erst im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch ergänzte und konkretisierte das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht des Staates. Auch in diesem abstrakten Normenkontrollverfahren ging dem Gericht der Schutz des ungeborenen Lebens durch den § 218 StGB nicht weit genug. Schwangerschaftsabbrüche seien für die werdende Mutter zu einfach möglich. Der zweite Senat hat betont, dass der Gesetzgeber bei Art und Umfang der zu ergreifenden Maßnahmen einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum habe.29 Ausreichend für die Erfüllung einer Schutzpflicht sei jedoch noch nicht, wenn überhaupt Schutzvorkehrungen getroffen werden. Das Bundesverfassungsgericht legt als Mindestanforderung und Grenze zugleich das sogenannte Untermaßverbot zugrunde. Zur Erfüllung einer Schutzpflicht müssten ausreichende Maßnahmen rechtlicher und tatsächlicher Art ergriffen werden.

25 26 27 28 29

BVerfGE 56, 54 (73). BVerfGE 77, 170 (214). BVerfGE 79, 174 (175). BVerfGE 79, 174 (201 f.). BVerfGE 88, 203 (254).

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Diese Maßnahmen müssten unter Abwägung mit den verfassungsrechtlich geschützten Interessen Dritter angemessen und wirkungsvoll sein.30 In der Literatur wurde vielfach versucht, diese Maßstäbe in ein verfassungsdogmatisches System einzuordnen und deren Bedeutung zu konkretisieren.31 Darüber, wie die aufgezeigten Schutzpflichten konkret ausgestaltet sein müssen, besteht ein Streit, der bisher nicht zufriedenstellend gelöst wurde. Zutreffend wurde kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht die Herleitung von Schutzpflichten verfassungsdogmatisch nicht näher begründet hat.32 Das Bundesverfassungsgericht erklärt zur Begründung von Schutzpflichten: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. GG Artikel 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“ 33

Die Schutzverpflichtung des werdenden Lebens wurde in dieser Entscheidung somit aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hergeleitet.34 Mithin ist die Entscheidung in der Verfassungsgeschichte als Fortschreibung des ersten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch zu verstehen. Die objektive Werteordnung, wie sie noch im Kalkar I-Beschluss zusätzlich zur Begründung von Schutzpflichten erwähnt wurde, fehlt auffälligerweise nunmehr. h) Schutzpflichten bei Ausstoß von Stickoxiden, 1995 Durch Beschluss hat sich das Bundesverfassungsgericht unter anderem mit Geschwindigkeitsbeschränkungen zur Verringerung der Stickoxidwerte im Straßenverkehr beschäftigt. Damals entschied das Gericht, dass der Staat seine Schutzverpflichtung zur Verringerung von Luftverunreinigungen noch eingehalten habe.35 Insofern setzt das Bundesverfassungsgericht die Existenz von Schutzpflichten im Bereich von verkehrsbezogenen Luftverschmutzungen voraus. Bei der Ausweitung von Schutzpflichten auf das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Recht der körperlichen Unversehrtheit verweist das Bundesverfassungsgericht auf die bestehende Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit unzutreffend auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum

30

BVerfGE 88, 203 (254). Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 297–304; Hermann, Schutz vor Fluglärm, S. 86–99; Calliess, JZ 2006, 321–330. 32 Hermann, Schutz vor Fluglärm, S. 87. 33 BVerfGE 88, 203 (251). 34 BVerfGE 88, 203 (298). 35 BVerfG-K, Beschl. v. 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95, NJW 1996, 651 (652). 31

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

zweiten Schwangerschaftsabbruch, obwohl in dieser lediglich die Existenz von Schutzpflichten für das Schutzgut Leben hergeleitet wurde.36 Herzog ist der Auffassung, dass die Schutzpflichten, die für das Rechtsgut Leben anerkannt wurden, möglicherweise auch auf die anderen Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG, namentlich der körperlichen Unversehrtheit und der persönlichen Freiheit, auszudehnen sind.37 Im Ergebnis ist diese Auffassung zutreffend, obwohl zumindest in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit seit dem Mülheim-Kärlich-Beschluss klar ist, dass die körperliche Unversehrtheit eine Schutzpflichtkomponente innehat und mithin bereits gefestigte Meinung des Bundesverfassungsgerichts ist. i) Flughafen-Beschlüsse, 2009 Zwei neuere Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes hatten Ergänzungsfeststellungsbeschlüsse des Verkehrsflughafens Leipzig/Halle zum Gegenstand. Die Beschwerdeführer rügten unter anderem den drohenden Fluglärm und sahen darin eine Verletzung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.38 Die Schutzpflicht ergebe sich auch laut Gericht lediglich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.39 In den Beschlüssen wird keine Herleitung aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG oder dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte mehr vorgenommen. Weshalb die Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit nur noch im Einzelgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gesehen wird, wurde nicht erwähnt. j) Coronapandemie-Beschlüsse, 2020 Eine Vielzahl an Beschlüssen ist im verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutz im Zusammenhang mit der Coronapandemie ergangen, wovon aufgrund der Flut von Entscheidungen nur einige genannt werden können. Aufgrund der Coronakrise wurden religiöse Zusammenkünfte zur Eindämmung des Infektionsgeschehens verboten. Dagegen wehrte sich der Beschwerdeführer, weil er sich in seiner Glaubens- und Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG verletzt sah.40 Das Gericht hatte innerhalb der Folgenabwägung auf die staatliche Schutzpflicht rekurriert und dabei nur Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG genannt.41 36

BVerfG-K, Beschl. v. 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95, NJW 1996, 651 (651). Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, § 72, Rn. 31. 38 BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 25; BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3474/08, BeckRS 2009, 40441, Rn. 25. 39 BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 29; BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3474/08, BeckRS 2009, 40441, Rn. 29. 40 BVerfG, NJW 2020, 1427 (1428). 41 BVerfG, NJW 2020, 1427 (1428). 37

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Weiterhin wurden in den Bundesländern Ausgangsbeschränkungen als Schutzmaßnahmen angeordnet, weshalb der Antragsteller verschiedene mögliche Grundrechtsverletzungen wie der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG rügte.42 Abermals wird die verfassungsrechtliche Schutzpflicht allein aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG entnommen.43 In einem anderen Verfahren richtete sich der Antragsteller gegen die Ablehnung der Aufhebung des anberaumten Termins zur Hauptverhandlung in einem Strafverfahren, weil er durch das Infektionsrisiko einen ungerechtfertigten Eingriff in sein Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sah.44 Die Schutzpflicht entspringe indes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.45 Ein anderer Beschwerdeführer beanstandete die beschlossenen Lockerungen der bestehenden Corona-Beschränkungen, da er einer Risikogruppe angehöre und bei Lockerungsschritten eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorliegen würde.46 Erneut erkennt das Verfassungsgericht die Schutzpflicht einzig in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.47 Des Weiteren wurden beabsichtigte und angemeldete Versammlungen aus Gründen des Infektionsschutzes untersagt. Hiergegen wehrte sich ein Antragsteller, der eine Verletzung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG gerügt hat.48 Das Bundesverfassungsgericht sah die Folgen der nicht stattfindenden Versammlung als nicht so schwerwiegend an wie die Gefahren einer Infektionsausbreitung sowie einer Überlastung des Gesundheitssystems. Angeknüpft wurde die grundrechtliche Schutzpflicht an Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.49 Zudem wehrte sich eine Fitnessstudiobetreiberin gegen die pandemiebedingte Schließung ihres Betriebs und sah sich in ihrem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.50 Jedoch ist die Folgenabwägung zu Gunsten der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG ausgefallen.51 Aus diesem Grund wurde der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Auch in dem bisher entschiedenen Hauptsacheverfahren zu pandemiebedingten Grund-

42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

BVerfG, NJW 2020, 1429 (1430). BVerfG, NJW 2020, 1429 (1430). BVerfG, NJW 2020, 2327 (2327). BVerfG, NJW 2020, 2327 (2328). BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1823). BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1823). BVerfG-K, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 BvQ 29/20, BeckRS 2020, 5620, Rn. 7. BVerfG-K, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 BvQ 29/20, BeckRS 2020, 5620, Rn. 8. BVerfG-K, Beschl. v. 28.04.2020 – 1 BvR 899/20, BeckRS 2020, 6938, Rn. 3. BVerfG-K, Beschl. v. 28.04.2020 – 1 BvR 899/20, BeckRS 2020, 6938, Rn. 13.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

rechtsbeschränkungen hat das Bundesverfassungsgericht die staatliche Schutzpflicht lediglich unter Verweis auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begründet.52 k) Klimaschutz-Beschluss, 2021 Zuletzt wurden staatliche Schutzpflichten im Beschluss des Ersten Senats über Verfassungsbeschwerden gegen das Bundes-Klimaschutzgesetz relevant. Das Klimaschutzgesetz wurde dahingehend beanstandet, dass das Ziel, die globale Erderwärmung auf maximal 1,5 ëC zu begrenzen, mit den bestehenden Regelungen nicht fristgerecht erreichbar sei.53 Die Antragsteller behaupteten, sie würden in ihrer grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 14 Abs. 1 GG, in ihren Grundrechten auf eine menschenwürdige Zukunft sowie ein ökologisches Existenzminimum, die laut Anträgen einerseits aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20a GG (menschenwürdige Zukunft) und andererseits aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG (ökologisches Existenzminimum) hergeleitet werden könnten, verletzt. Der Staat ist, so der Erste Senat, wegen seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet, die Grundrechtsträger vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen.54 Zusätzlich hat das Gericht die objektive Funktion der Grundrechte, die für die dogmatische Konstruktion der Schutzpflicht seit der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1992 nicht mehr genutzt wurde, wiederentdeckt. Nach langer Zeit leiteten die Bundesverfassungsrichter die staatliche Schutzpflicht neben dem Einzelgrundrecht wieder zusätzlich aus seiner objektiv-rechtlichen Funktion her.55 Trotz der Annahme, dass eine Schutzpflicht besteht, hat das Gericht keine Schutzpflichtverletzung erkannt, weil das geschaffene Schutzniveau nicht evident unzureichend sei.56 l) Zwischenergebnis Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Geschichte bisher hauptsächlich bei den beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch die Verletzung einer Schutzpflicht festgestellt.57 52

BVerfG, Beschl. v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21, Rn. 175. BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, BeckRS 2021, 8946, Rn. 38. 54 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, BeckRS 2021, 8946, Rn. 144. 55 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, BeckRS 2021, 8946, Rn. 145. 56 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 152; zum Klimaschutz-Beschluss genauer unter: III. 3. a) aa). 57 Ansonsten nur noch BVerfG, NJW 2005, 2363 sowie BVerfG, Beschl. v. 16.12. 2021 – 1 BvR 1541/20, BeckRS 2021, 40294. 53

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Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner häufig unterschiedlichen Verankerung von Schutzpflichten zu erheblichen Verwirrungen geführt. Wie den Urteilen zu entnehmen ist, wird die Schutzpflicht der körperlichen Unversehrtheit teils lediglich auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gestützt. Ein anderes Mal wird eine Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG hergestellt. Ebenfalls wird Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der objektiven Wertentscheidung dieses Grundrechts genannt. Während die objektiv-rechtliche Werteordnung seit der Anerkennung von Schutzpflichten lange Zeit den Ankerpunkt darstellt, wird in neueren Entscheidungen der Jahre 2018 und 2020 mit Ausnahme des Klimaschutz-Beschlusses im Jahr 2021 der Trend erkennbar, den objektiv-rechtlichen Gehalt aufzugeben.58 Dennoch ist die fehlende dogmatische Begründung von Schutzpflichten aus rechtswissenschaftlicher Sicht unbefriedigend und vom Bundesverfassungsgericht noch immer nicht nachgeholt worden. 2. Stand der rechtswissenschaftlichen Literatur In der Rechtswissenschaft wurden verschiedene Versuche unternommen, die vom Bundesverfassungsgericht hergeleiteten Schutzpflichten dogmatisch zu begründen. Dabei werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. Die wesentlichen Ansätze werden im Folgenden vorgestellt und genauer untersucht. Anschließend werden eine Stellungnahme und eine dogmatische Lösung angestrebt. Aufgrund der Vielzahl an Literatur kann jedoch nicht jeder Autor zu den Ansätzen benannt werden, sondern lediglich wichtige Vertreter der Auffassungen. a) Objektiv-rechtliche Werteordnung und objektiv-rechtlicher Gehalt der Grundrechte In der Literatur und auch vom Bundesverfassungsgericht wird häufig auf die objektive Werteordnung des Grundgesetzes oder den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte als dogmatische Grundlage für das Bestehen von Schutzpflichten abgestellt.59 Da sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch Teile der Literatur zumindest auch auf die objektive Werteordnung beziehungsweise den objektiven Gehalt der Grundrechte abstellen, muss dieses Institut ausführlich untersucht werden.

58 BVerfG NJW 2018, 2312, (2315); BVerfG, NJW 2020, 905 (909); BVerfG, NJW 2020, 1946 (1947). 59 BVerfGE 39, 1 (41 f.); BVerfGE 49, 89 (142); BVerfGE 53, 30 (57); BVerfGE 56, 54 (73); BVerfGE 77, 170 (214); BVerfGE 115, 118 (160); Jarass, AöR 1985, S.363 ff.; Dreier, JURA 1994, 505 (513); Kotulla, KJ 2000, 22 (32).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

aa) Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Seinen Ausgangspunkt findet diese Ansicht im Verbotsverfahren der SRP-Partei im Jahr 1952, wo das Verständnis, das dem Grundgesetz zugrunde liegt, in der Weise näher beschrieben wurde, dass das Grundgesetz als „Grundordnung eine wertgebundene Ordnung“ 60 darstellt. Rechtsgeschichtlich hat das Gericht zu Beginn seiner Schutzpflichtenrechtsprechung von der objektiv-rechtlichen Werteordnung gesprochen. Die objektive Werteordnung wurde jedoch schon früher, nämlich im Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erwähnt.61 Aus der objektiven Werteordnung wird die Ausstrahlungswirkung in alle Bereiche des Rechts, mithin auch ins Privatrecht, entnommen.62 Daraus folgt vor allem die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Die Grundrechte enthalten demnach eine objektive Werteordnung, die die Geltungskraft der Grundrechte verstärkt. Der Gesetzgeber, die Verwaltung und die Rechtsprechung sollen durch die Werteordnung Richtlinien und Impulse erhalten.63 Seit dem Mülheim-Kärlich-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht die Werteordnungslehre zeitweise aufgegeben und ist dahin übergegangen, Schutzpflichten (auch) am objektiv-rechtlichen Gehalt festzumachen.64 Obwohl das Gericht die objektive Werteordnung mit dem Begriff des objektiv-rechtlichen Gehalts ausgetauscht hat, ist der Sache nach die identische Aussage beschrieben, dass die Verfassungsnorm nur unter Zugrundelegung eines übergesetzlichen Verfassungsverständnisses erschlossen werden kann. Die Werteordnung präsentiert sich somit lediglich in einem neuen Gewand, obwohl die Bezeichnung des objektiven Gehalts immerhin (wert-)neutraler Natur ist. Im C-Waffen-Beschluss tauchte der Begriff der objektiven Wertentscheidung neben der objektiv-rechtlichen Funktion noch einmal auf.65 In der Folgezeit verzichtete das Gericht auf die Begrifflichkeit. Erst in der neuen Entscheidung vom 26.02.2002 zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB bezüglich des Verbots von geschäftsmäßiger Selbsttötung, hat das Bundesverfassungsgericht die Werteordnungslehre wieder entdeckt: „Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet.“ 66 60 61 62 63 64 65 66

BVerfGE 2, 1 (12). BVerfGE 7, 198 (205), auch BVerfGE 35, 79 (114). BVerfGE 7, 198 (205 f.). BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 53, 30 (77); BVerfGE 56, 54 (73). BVerfGE 77, 170 (214). BVerfG, NJW 2020, 905 (915), Rn. 277.

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Im zugrunde liegenden Sachverhalt standen sich das Abwehrrecht des Suizidwilligen und eine staatliche Schutzpflicht gegenüber. Als Abwehrrecht wurde ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt.67 Zugleich besteht eine staatliche Schutzpflicht, das Leben des Sterbewilligen, neben der Autonomie, über das eigene Lebensende zu disponieren, zu schützen.68 Bei der Gewichtung der betroffenen Grundrechte hat das Gericht inzident die Werteordnungslehre angewendet, indem es in der Verhältnismäßigkeitsprüfung das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen höher gewertet hat als die staatliche Schutzpflicht zum Schutz dieses Lebens. Da die Werteordnungslehre demgemäß noch immer Aktualität beansprucht, kann sie nicht pauschal der Rechtsgeschichte zugeordnet werden und bedarf einer Auseinandersetzung. bb) Kritik in der Literatur Der Begriff der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes ist unklar, umstritten und hat in der Literatur deutliche Kritik erfahren. Im Kontext der Werteordnungslehre sind auch staatstheoretische Überlegungen zu diskutieren. Schon in der Weimarer Republik hatte Smend im Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung ein Wertsystem gesehen.69 Demgegenüber kann Kelsen in seiner Theorie der reinen Rechtslehre keine Orientierung an einer überpositivistischen Werteordnung zulassen. Für die Rechtswissenschaft könne nur das positivierte Recht Rechtsquelle sein, nicht hingegen moralische Aspekte, weil hierarchisch über dem Gesetz stehende Wertvorstellungen durch die reine Rechtslehre nicht erschlossen werden können.70 Die höchste Rechtsquelle kann demnach nur die positive Verfassung sein.71 Der erste Kritiker der Werteordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts war Carl Schmitt in seiner polemischen und unjuristischen Schrift „Die Tyrannei der Werte“. Schon begrifflich sei der Wert eine Konstruktion des Kapitalismus, da in jenem System alles, von Sachen bis zum Menschen, eingesetzt werde, um auf dem Markt einen Mehr-Wert zu generieren.72 Seiner Ansicht nach sei ein Verfassungsverständnis in Form einer Wertphilosophie der Grundrechte falsch und führe dazu, dass der höherrangige Wert den niederrangigen Wert unterwerfe, was in letzter Konsequenz zu einer Zerstörung des Wertsystems selbst führe.73 Das Denken in Werten habe beispielsweise im Nationalsozialismus zum Holocaust 67 68 69 70 71 72 73

BVerfG, NJW 2020, 905 (906), Rn. 203 f. BVerfG, NJW 2020, 905 (909), Rn. 223. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 163 f. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Auflage, S. 25 f. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Auflage, S. 85. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 36 (36). Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 36 (48 f.).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

geführt, wie an der Schrift von Binding und Hoche aus dem Jahr 1920 „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ gezeigt werden könne.74 In der Schrift wurde die „Euthanasie“, also die Tötung von Menschen ohne deren Einwilligung, medizinisch und juristisch befürwortet. Schmitt beschrieb die Autoren im Widerspruch zur historischen Wirklichkeit gar als „liberale Menschen ihrer Zeit, beide von besten, humanen Absichten beseelt“.75 Inzwischen ist sich die Forschung einig, dass Schmitt – auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – Nationalsozialist, Antisemit sowie Rassist war und geblieben ist.76 Er hat seine rechtswissenschaftliche Karriere schon in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Herrschaft gemacht.77 Zu Recht hat unter anderem Schönberger darauf hingewiesen, dass Schmitt selber in seinen Schriften aus der NS-Zeit in Werten dachte.78 Er befand sich mit seinem Werteverständnis vor allem auf einem Irrweg der Unwerte. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere seine Schrift „Der Führer schützt das Recht“, in der er die Röhm-Morde gerechtfertigt hat.79 Schmitt hat sich aus diesem Grund für eine sachliche Auseinandersetzung mit der Werteordnungslehre in der Bundesrepublik Deutschland disqualifiziert. Auch Forsthoff stand der Werteordnungslehre kritisch gegenüber, denn der Wert eines Grundrechts werde – anstatt durch juristische Methodenlehre – nur über eine geisteswissenschaftliche Annäherung erschlossen, was unjuristisch sei.80 Die Grundrechte stehen seiner Ansicht nach auf einer Rangstufe. Aus der durch Interpretation geschaffenen Rangordnung der Grundrechte werde das Verfassungsgesetz von innen zerstört.81 Genau wie Schmitt war Forsthoff daher ein Gegner der Werteordnungslehre, weil sie sich nicht mit den klassischen juristischen Auslegungsregeln begnügt, sondern ihren Gehalt in einem überpositivistischen Wertesystem sucht. Ein weiterer Kritiker des Denkens in Werten war Böckenförde, der genau wie Forsthoff der Schmitt-Schule zuzuordnen ist.82 Auch er sieht in der Qualifizie74

Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 36 (52). Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 36 (52). 76 Rüthers, NJW 1996, 896 (903); Gross, Carl Schmitt und die Juden, S. 32; Egner, VfZ 2013, 345 (351). 77 Kersten, JuS 2016, 193 (195 f.); Müller, Furchtbare Juristen, S. 57. 78 Schönberger, in: Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 57 (71); dazu auch Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, S. 25, der bemerkt, dass NS-Juristen der „Werterei der Tyrannen“ gefolgt sind. 79 Schmitt, DJZ 1934, 945 (947). 80 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für Schmitt, S. 35 (40 f., 59); so später auch Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534) und Ridder, in: Deiseroth/ Derleder/Koch/Steinmeier, Helmut Ridder, Gesammelte Schriften, S. 355 (397). 81 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für Schmitt, S. 35 (38). 82 Günther, Denken vom Staat her, S. 112–114. 75

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rung der Grundrechte als Wertesystem einen Bruch mit der juristischen Methodenlehre zu Gunsten der philosophischen Sinnermittlung. Darüber hinaus identifiziert er ein weiteres Phänomen und spricht damit die Wandelbarkeit des Wertbegriffs an. Wegen des wechselnden geistig-kulturellen Wertverständnisses sei die Werteordnung Veränderungen ausgesetzt, was zu Tageswertungen führe.83 Zudem bemängelt auch er die fehlende Stütze im Verfassungstext und bestätigt Schmitts These der Wertekollision, wo nur dem höherrangigen Wert dem Vorzug gewährt werde.84 Diese kritische Haltung gegenüber der Werteordnung wird noch immer in der Literatur vertreten.85 cc) Stellungnahme Aus verschiedenen Gründen kann den Kritikern nicht zugestimmt werden. Zwar ist zutreffend, dass über die Frage, inwieweit Wertvorstellungen als Ausdruck des kollektiven Moralverständnisses Einzug in die juristische Verfassungstheorie finden sollten, kein Lösungsansatz besteht. Folglich kann in dem Kontext von „einem Grundproblem, das nicht gelöst werden kann“86, gesprochen werden. Demgegenüber sind Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter unstrittig keine reinen „Subsumtionsautomaten“.87 Juristisches Denken erfordert vielfach Wertungen, sei es bei der Auslegung, der Abwägung oder der Argumentation, denn andernfalls können auch Interessenkonflikte nicht zufriedenstellend gelöst werden.88 Das Grundgesetz ist durch seine Kürze und Unvollkommenheit des Wortlautes gekennzeichnet. Jede Verfassung bedarf daher der Interpretation und Auslegung eines Verfassungsgerichts und die einzelnen Grundrechte müssen sich in wechselnden Zeiten unterschiedlich stark behaupten. Folglich ist die Frage nach einer Wertehierarchie im Einzelfall dem Wandel der Zeit unterworfen und hängt am Schicksal des moralischen Vorverständnisses der Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts. Verfassungsrecht hat mithin stets einen geisteswissenschaftlichen Charakter.89 Rechtsarbeit beinhaltet somit, wie Fisahn es formuliert, stets ein „vorbewusstes Wissen um ethische Wertsysteme einer historischen Gesell83 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 130 f.; auch schon angedeutet von Forsthoff, in: Festgabe für Schmitt, S. 198 (209 f.). 84 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 132 f. 85 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I, S. 81; Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 81–91. 86 Schönberger, in: Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 57 (91). 87 Begrifflich erstmals Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, S. 826. 88 Hähnchen/Schrader/Weiler/Wischmeyer, JuS 2020, 625 (627, 629). 89 Hollerbach, AöR 1960, 241 (249).

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schaft, um die geteilten Deutungs- und Wahrnehmungsschemata und schließlich eine Kenntnis der strukturellen Zwänge einer Gesellschaft“.90 Die wandelbare Verfassungsinterpretation durch die Verfassungsrichterschaft ist im Lichte des Grundrechtsverständnisses geradezu gewollt.91 Dieser dynamische Prozess vollzieht sich nicht nur allein durch die Verfassungsrichterschaft im Wege der Verfassungsinterpretation, sondern gleichwohl durch den Gesetzgeber, wenn Verfassungsänderungen beschlossen werden. Smend versteht die Verfassung daher nicht als starr, sondern als „das sich immerfort erneuernde Verfassungsleben“.92 Vor dem geschichtlichen Hintergrund bedeutet diese Erkenntnis eine Abkehr vom absoluten Rechtspositivismus. Wenn das Grundgesetz den Eigenanspruch an eine wehrhafte Verfassung statuiert, dann muss die Jurisprudenz ein übergesetzliches Wertesystem akzeptieren. Die Verfassungsrechtsprechung hat die Werteordnung aus diesem Grund als Instrument der systematischen Verfassungsauslegung anerkannt.93 Trefflich hat Rüthers darauf hingewiesen, dass Rechtsnormen immer vor einem bestimmten weltanschaulichen Hintergrund kodifiziert werden und das Ergebnis eines weltanschaulich-politischen Prozesses sind.94 Demgemäß ist der Staat kein objektiv-starres Konstrukt, sondern stets ein Ausdruck der „geistigen Wirklichkeit“.95 Diese Erkenntnis gilt erst Recht für die Verfassung als Fundamentalordnung des menschlichen Zusammenlebens. Gerade vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte und der Schreckensherrschaft des NS-Regimes, wo Menschenrechte, ja sogar das Leben, keine Bedeutung hatten und Unwerte wie „Rasse“ und „Volksgesundheit“ postuliert wurden, stellt sich das Grundgesetz als Gegenmodell dar. Die Aussage, eine Verfassung ohne Wertesystem wäre insgesamt wertlos,96 ist insofern zutreffend. Im Falle von kollidierendem Verfassungsrecht ist das Verfassungsgericht gefordert, die betroffenen Grundrechte im Einzelfall zu bewerten. Somit stellt das Grundgesetz in der Tat ein Wertesystem dar und ist als Schicksalsgemeinschaft im Geiste ihrer Gründungsmütter und Gründungsväter miteinander verbunden. Das LüthUrteil war mithin weit weniger überraschend, als im Allgemeinen dargetan wird, sondern in aller Deutlichkeit konsequent. Auch war das Bundesverfassungsgericht von dem moralischen Motiv geleitet, zur Rehabilitierung der Bundesrepublik Deutschland vor der Weltgemeinschaft beizutragen.97 90 91 92 93 94 95 96 97

Fisahn, Scientia Juris 2011, 70 (81). Fisahn, Scientia Juris 2011, 70 (82); Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 295 f. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 81. Züllighoven, Lastengleichheit in der grundgesetzlichen Wertordnung, S. 15. Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, S. 19. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 18. Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, S. 26. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 84.

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Die reine Rechtslehre gerät insbesondere im mehrpoligen Verfassungsverhältnis an ihre Grenzen, kann die Konfliktlage zwischen mehreren betroffenen Grundrechtsträgern nicht lösen. Daraus ergibt sich die These, dass Verfassungsinterpretation zwar kein Formalismusbruch mit dem Rechtspositivismus bedeutet, sondern für eine möglichst umfassende Wirkung der Grundrechte auf eine Ergänzung des überpositivistischen Wertekanons angewiesen ist. Freilich, so mögen die Kritiker behaupten, können Werte der Rechtsgemeinschaft im Wandel der Zeit zu Unwerten umgeformt werden, was zu erkennen gibt, dass das Wechselspiel zwischen Wert- und Unwert eine Frage der Perspektive ist. Vor diesem Dilemma kann die reine Rechtslehre jedoch genauso wenig schützen. Zudem ist das Grundgesetz nicht für einen faschistisch-diktatorischen Staat geschaffen worden, sondern als dessen freiheitlich-demokratisches Gegenmodell. Eine Öffnung für das Wertesystem lässt vor allem Raum dafür, dass Unwerte wie „Rassismus“ oder „Führertum“ nach der Radbruch’schen Formel nie Werte sein können. Denn wenn der „Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“,98 dann hat das Gesetz keine Geltung. Im reinen Rechtspositivismus ist für die Radbruch’sche Formel für Kelsen jedoch kein Raum.99 Aufgrund dieser Überlegungen ist nicht abzustreiten, dass der Rechtspositivismus bei der Verfassungsinterpretation nicht alleiniges Interpretationsmittel sein kann, um eine wehrhafte Verfassung zu gewährleisten. Die Werteordnung muss dabei vor allem als eine Interpretationsanleitung verstanden werden und zeichnet die Richtung, wie die Verfassungsnorm mittels juristischer Methodik ausgelegt werden soll. Der Einwand, die Werteordnungslehre bediene sich eines kapitalistisch-ökonomischen Begriffes, verkennt den Willen des Parlamentarischen Rates, mit dem Grundgesetz einen Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, wo elementare Menschenrechte keinen Wert hatten, zu kodifizieren. In diesem Gegenentwurf sollten Menschenrechte, unabhängig von wirtschaftlich messbarem Kapital, einen eigenständigen, schützenswerten Wert erhalten. Des Weiteren lässt sich der Wert eines Grundrechts oft auch ohne geisteswissenschaftlich-komplexe Untersuchungen einfach entnehmen. Im Fall von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind die Werte schlicht das Leben und die körperliche Integrität. Im Lüth-Urteil wurde die objektive Werteordnung der Grundrechte im Zusammenhang mit ihrer Abwehrfunktion erwähnt. Jedes subjektive Grundrecht auf Abwehr gegen den Staat beinhaltet eine objektiv-rechtliche Dimension, die den 98 99

Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 42.

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Staat verpflichtet, Grundrechte zu gewährleisten. Aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte folgt mithin eine Staatsaufgabe, die Grundrechte zu wahren und ebenso ein Eingriffsverbot in Grundrechte. Das Eingriffsverbot ist Ausfluss der Grundrechte als negative Kompetenznormen.100 Aus der objektivrechtlichen Dimension lässt sich hingegen kein durch Einzelne vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbarer subjektiver Anspruch konstruieren.101 Die Vertreter des objektiv-rechtlichen Gehalts bleiben einer grundrechtstheoretischen Antwort schuldig, wie aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte eine Resubjektivierung in Form eines subjektiven Anspruchs auf Schutz begründbar ist.102 Mit anderen Worten stellt sich daher die Frage, warum es für die Herleitung von Schutzpflichten überhaupt auf den objektiv-rechtlichen Gehalt ankommt. Aus der objektiven Werteordnung lässt sich zwar eine objektiv-rechtliche Gewährleistungsfunktion der Grundrechte entnehmen, eine Aussage darüber, ob die Grundrechtsträger darüber hinaus einen subjektiven Anspruch auf Schutz haben, kann der objektiven Werteordnungslehre jedoch nicht entnommen werden. Vor allem aber fehlt eine methodische Auseinandersetzung mit der Verfassung, die das Bundesverfassungsgericht bisher nicht unternommen hat. Denn die Existenz von Schutzpflichten kann nicht aus einer diffusen Werteordnung entnommen werden. Immerhin bedeutet der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte, dass die Geltungskraft dieser verstärkt werden soll, indem die Wirkfunktion der Grundrechte sich gerade nicht lediglich auf die Abwehrfunktion der Grundrechte begrenzt, sondern darüber hinaus weitere, aber nicht näher konkretisierte Grundrechtswirkungen denkbar sind. Ausfluss des objektiv-rechtlichen Gehalts kann allenfalls die Ermächtigung des Staates sein, Freiheitsrechte zum Schutz anderer einzuschränken. Folglich gelingt dem Rückgriff auf den bestehenden objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte nicht, das Bestehen einer allgemeinen Schutzpflicht zu begründen.103 Dieser Erkenntnisgewinn führt zu der eindeutigen Antwort, dass die vom Bundesverfassungsgericht statuierte Verwurzelung von Schutzpflichten im objektivrechtlichen Gehalt nicht überzeugt.

100

Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 49. Cremer, in: Erbguth/Müller/Neumann, GS für Jeand’Heur, S. 59 (62). 102 Dreier, JURA 1994, 505 (513); Erichsen, JURA 1997, 85 (88 f.). 103 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts; Bd. IX, § 191, Rn. 171; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 438. 101

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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b) Prinzipientheorie Einen Ansatz, der Parallelen zur Wertordnungslehre hat, verfolgt Alexy. Auch er knüpft wie die Vertreter der Wortordnungslehre an das juristische Vorverständnis an, welches der Auslegung der Grundrechte vorgelagert ist. Die Grundrechte – so seine Interpretation – seien Prinzipien, die darauf abzielten, dass „etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“.104 Demnach seien die Grundrechte Optimierungsgebote.105 Neben der Charakterisierung der Grundrechte als objektive Normen wird zusätzlich die Existenz eines subjektiven Rechts auf Schutz angenommen. Das Schutzgut Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG fordere als Ausprägung des Optimierungsgebotes die Gewährung eines subjektiven Schutzanspruchs, da die Geltungskraft des Grundrechts durch die subjektive Einklagbarkeit verstärkt und mithin optimiert werde.106 Im Unterschied zu reinen Normen, die sich von Prinzipien dadurch unterscheiden, dass sie im Einzelfall entweder erfüllt werden können oder nicht, erlauben Prinzipien im Kollisionsfall mit anderen Prinzipien eine Abwägung. Alexy setzt seine Prinzipienlehre somit an die Stelle der klassischen Grundrechtsdogmatik. c) Staatszweck Sicherheit Isensee vertritt die Auffassung, dass Schutzpflichten ihren Ursprung nicht im Grundgesetz haben, sondern Ausdruck des allgemeinen Staatszwecks „Sicherheit“ sind.107 Die Schutzpflicht wird in erster Linie aus staatstheoretischen und staatsphilosophischen Erwägungen begründet. Schon Thomas Hobbes und John Locke als Pioniere für die Herausbildung des modernen, also nicht mehr durch Gott legitimierten Staates, sahen den Zweck eines Staates darin, seine Menschen vor den ständig drohenden Gefahren, die ohne staatlichen Schutz bestünden, zu bewahren. Für diesen Zweck werde der Staat Kraft der Menschen, die ihm angehören, mit Macht, Gewaltmonopol und Gehorsamsanspruch ausgestattet. Die dadurch abgegebene Eigenmacht des Individuums sowie seine damit einhergehende Friedenspflicht ermögliche erst die grundrechtliche Freiheit innerhalb des Staates.108 Die Gewährleistung von Sicherheit stelle somit die notwendige Voraussetzung von Grundrechtsausübungen überhaupt dar.109 104

Alexy, Theorie der Grundrechte, S.75. Alexy, Theorie der Grundrechte, S.75. 106 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414. 107 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 181. 108 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 23. 109 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn 183. 105

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Darüber hinaus habe der Staat „Sicherheit“ auch im Verhältnis zwischen Privaten zu gewährleisten, da das Staatsziel andernfalls nicht erfüllt werden kann. Aus der objektiven Staatsaufgabe „Sicherheit“ kann damit auch ein subjektiver Anspruch auf Schutz hergeleitet werden.110 Den Anspruch auf Schutzpflichten auf der objektiv-rechtlichen Werteordnung des Grundgesetzes zu stützen, wird von Isensee daher abgelehnt. Einen ähnlichen Ansatz wie Isensee verfolgt Robbers. Das Recht des Einzelnen auf Schutz durch den Staat sei Ausfluss des historischen Menschenrechts auf Sicherheit.111 Zwar lasse sich die Schutzpflichtdimension aus den Grundrechten dogmatisch herleiten, jedoch sei das Staatsziel, seine Bürger zu schützen, ein Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes zur Verfassungsinterpretation und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG und sei somit Ausdruck der historischen Entwicklung der Grund- und Menschenrechte. Robbers erkennt mithin ein Grundrecht auf Sicherheit an.112 Die Anerkennung eines Grundrechts auf Sicherheit von Robbers ist irreführend und so nicht überzeugend. Ein Grundrecht auf Sicherheit als absolutes Recht kann es in einem Staat, der die Freiheit der Menschen durch die Verfassung gewährleistet, nicht geben. Die Begrifflichkeit täuscht darüber hinweg, dass Freiheitsrechte der Einzelnen in einem Spannungsverhältnis zu den Schutzansprüchen anderer stehen. Freiheit und Sicherheit schränken sich gegenseitig ein und je nach Einzelfall wird eines der beiden Rechte verdrängt. Isensees staatstheoretische Gedanken zum Staatsziel „Sicherheit“ reichen für sich genommen für eine Begründung von Schutzpflichten nicht aus. Etwas so Zentrales wie die Wirkungsweise von Grundrechten muss sich zwangsläufig aus dem Grundgesetz selbst erklären lassen können. Dennoch kann sein Ansatz im Rahmen der Grundrechtsinterpretation einbezogen werden. Sein Ansatz ist vor allem ein teleologisches Argument und betont die subjektive Dimension der Grundrechte, die Grundrechtsträger zu schützen. d) Schutzpflicht als allgemeiner Verfassungs- und Wertgedanke Calliess erachtet das bloße Anknüpfen an die objektiv-rechtliche Werteordnung des Grundgesetzes als zu abstrakt und ungenau, um konkrete Schutzpflichten daraus ableiten und erklären zu können.113 Vielmehr solle das konkrete Grundrecht Handlungspflichten des Staates auslösen können.114 110 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 194. 111 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 144. 112 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121. 113 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 438.

I. Die Herausbildung staatlicher Schutzpflichten

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Darüber hinaus enthalte Art. 1 Abs. 1 GG eine Wertentscheidung für die gesamte Verfassung, nämlich die Menschenwürde zu achten und zu schützen, womit sich auch die Schutzdimension in Bezug auf die Menschenwürde offenbart. Da jedes Grundrecht einen Menschenwürdekern enthalte, beziehe sich die Schutzverpflichtung zumindest auf den Menschenwürdekern der Grundrechte. Eine Beschränkung nur auf den Menschenwürdekern eines Grundrechts wäre jedoch mit der systematischen Stellung des Schutzauftrages in Art. 1 GG wegen seiner Platzierung an der wichtigsten Stelle der Verfassung unvereinbar. Somit versteht Calliess den Schutzauftrag in Art. 1 Abs. 1 GG als allgemeinen Verfassungsgedanken und als allgemeine Wertentscheidung, was in alle einzelnen Grundrechte ausstrahlt. Letztlich spreche der Staatszweck „Sicherheit“ aus teleologischen Gründen dafür, dass der Staat seine Bevölkerung schützen müsse.115 Die Anknüpfung an die objektiv-rechtliche Wertentscheidung des jeweiligen Grundrechtes gibt Calliess auf. Hermes meint, das konkrete Grundrecht müsse aber eine besondere Nähe zur Menschenwürde aufweisen.116 Er leitet Schutzpflichten für Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aus der Ideen- und Grundrechtsgeschichte sowie dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG her.117 Gegen Hermes’ Ansatz wird angeführt, dass eine Differenzierung zwischen würdevollen und würdelosen Grundrechten nicht überzeugt, denn alle Grundrechte seien Bereiche menschlicher Verwirklichung.118 Zudem bleibt offen, nach welchen Kriterien eine Abgrenzung zwischen dem Würdekern und dem darüber hinausgehenden Schutzgehalt der Grundrechte erfolgen kann.119 Die Kritik hat daher ihre Berechtigung. Die staatliche Anmaßung, darüber zu entscheiden, welches Grundrecht mehr Würde hat als andere Grundrechte, würde tief in die persönliche Entscheidungsfreiheit Privater eingreifen, die ihrerseits den Würdegehalt eines Grundrechts autonom ganz unterschiedlich definieren. Selbst wenn der Gedankengang weiterverfolgt wird, so würden in Fällen, in denen der Menschenwürdekern nicht betroffen ist, Schutzlücken auch in schutzwürdigen Konstellationen entstehen.

114 115 116 117 118 119

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 438. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 441. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 196. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 280. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 150. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 43.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

e) Allgemeiner Grundrechtekanon Dirnberger schließt sich der Meinung an, dass Schutzpflichten zumindest bestehen, wenn der Menschenwürdekern des jeweiligen Grundrechtes verletzt ist.120 Die Funktion des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG stelle jedoch ein tragendes Konstitutionsprinzip für die gesamte Verfassung dar. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG bilde das Fundament aller Grundrechte und treffe eine Entscheidung, wie Grundrechte interpretiert werden müssen. Außerdem solle Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eher für mehr Schutz bei den Grundrechtsträgern sorgen.121 Art. 6 Abs. 1 GG stellt die Ehe und die Familie sogar ausdrücklich unter den besonderen Schutz des Staates. Im Umkehrschluss müsse es bei Grundrechten allgemeine Schutzpflichten als Ausfluss eines allgemeinen Prinzips geben.122 Darüber hinaus belässt es Dirnberger nicht wie Calliess bei Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, sondern leitet die Existenz allgemeiner Schutzpflichten aus dem gesamten Grundrechtekanon ab. Zunächst wird betont, dass der Wortlaut des Grundgesetzes nicht gegen Schutzpflichten spreche, die Grundrechte bestimmte Freiheitsbereiche verbürgen und das Grundgesetz keine explizite Aussage über die Funktionsweise der Grundrechte treffe.123 Vielmehr deute der Wortlaut mancher Grundrechte („ist unverletzlich“, „wird gewährleistet“) darauf hin, dass auch Bedrohungen der Rechtsgüter durch Dritte verhindert werden müssten.124 Die Gesetzesvorbehalte versteht Dirnberger nicht nur als Indiz für Eingriffslegitimationen als Ausdruck von Abwehrrechten, sondern vielmehr erkennt er dahinter die Aufgabe des Staates, dem legitimen Zweck von Grundrechtseinschränkungen nachzukommen. Dieser legitime Zweck bestehe im Kollisionsfall zwischen Privaten häufig darin, private Rechtsgüter zu schützen.125 Abschließend verstärke auch der staatstheoretische Ansatz von Freiheitsgewährung der Individuen die Begründung von Schutzpflichten. Nur selten liege ein bipolares Verhältnis zugrunde. Meistens führe eine Freiheitsbeschränkung des Staates zu einer Freiheitserweiterung eines Dritten. Das Gewaltmonopol verpflichte den Staat, Übergriffe Privater zu verbieten und entsprechende Gesetze zu erlassen.126

120 121 122 123 124 125 126

Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 147. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 138. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 139 f. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 120. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 121. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 143. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 152.

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f) Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit einzelnem Grundrecht Von Seewald wird der Ansatz vertreten, ein genereller Verfassungsanspruch auf Schutz resultiere aus den einzelnen Schrankenbestimmungen der Grundrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art 28. Abs. 1 Satz 1 GG.127 Demgemäß ermächtigen die Grundrechtsschranken den Staat, zur Sicherung verfassungsimmanenter Rechtsgüter gegenüber Dritten tätig zu werden. Daraus könne jedoch für sich genommen noch kein subjektiver Anspruch erstarken, da der mit den Schranken verfolgte Zweck, beispielsweise der Gesundheitsschutz, nur objektiv-rechtlichen Charakter habe.128 Ein Anspruch auf Tätigwerden ergebe sich jedoch aus dem Sozialstaatsprinzip, dessen Mindestgehalt das Gebot aller Staatsgewalt in der Pflicht zum Handeln liegt.129 Diese vorgeschlagene Lösung überzeugt so nicht und ist aus verschiedenen Gründen nicht zielführend. Seewald sieht in dem Recht auf ein ökonomisches Existenzminimum zugleich ein Recht auf Gesundheit.130 Die Gesundheit als Rechtsgut gehört schon thematisch in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und sollte vom Existenzminimum als Ausfluss der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG strikt getrennt werden. Überdies kann es ein Recht auf Gesundheit nicht geben. Subjektive Rechte gegen den Staat können allein Ansprüche zum Gegenstand haben, die auch erfüllbar und deren Anspruchsziele mithin umsetzbar sind. Deshalb entzieht sich die Gesundheit als solche eines justiziablen Anspruches. Mit dem Sozialstaatsprinzip verhält es sich wie mit allen Staatszielbestimmungen, sie sind nicht subjektiv einklagbar.131 Folglich kann allein aus ihm heraus kein subjektiver Anspruch auf Schutz konstruiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hartz IV-Urteil im Jahr 2010 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gem. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG anerkannt.132 Jedoch kann dieses Urteil nicht für diesen Ansatz ins Feld geführt werden, weil Streitgegenstand keine Schutzpflichtverletzung war. Darüber hinaus ist der Begriff des Sozialstaatsprinzips zu unbestimmt, weshalb der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Sozialstaatsziels eine weite Einschätzungs- und Gestaltungsprärogative

127

Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 78–80. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. 129 Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 81 f. 130 Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 76. 131 Neumann, NVwZ 1995, 426 (430); Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20, Rn. 103; Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 73. 132 BVerfGE 125, 175 (221); ebenso etwas später für Asylbewerberleistungen BVerfGE 132, 134 (158 f.). 128

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

hat.133 Nimmt man die Begrifflichkeit des Sozialstaatsprinzips genauer in den Blick, so können dem Wortlaut nach nur soziale Staatsziele erfasst sein. Schutzpflichten müssten demnach zumindest einen sozialen Bezug haben. Diese Interpretation würde das Ausmaß der Schutzpflichten auf einen kleinen Bereich begrenzen, was mit dem Anspruch, möglichst umfassenden Schutz zu gewährleisten, nicht kompatibel ist. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Hartz IV-Urteil festgestellt, dass der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum durch Art. 1 Abs. 1 GG begründet wird.134 Demgemäß muss sich der Anspruch auf Schutz aus dem Grundrecht selbst herleiten lassen. Ferner wirkt die Verlagerung von Ermächtigungen zum Tätigwerden gegenüber Dritten als Ausgangspunkt für Schutzpflichten in den Bereich der Grundrechtsschranken künstlich. Der Ansatz leidet an einem methodischen Mangel, denn aus der Schrankenbestimmung wird eine Aufgabe des Staates zum Tätigwerden entwickelt. Aus einer Befugnis zu Schutzbereichseingriffen kann hingegen nicht auf eine Aufgabenzuweisung geschlossen werden.135 Erst recht kann daraus keine konkrete Handlungspflicht resultieren. Die Verbindung einer Schutzpflicht mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG ist dennoch keineswegs bedeutungslos. Für bestimmte Schutzpflichten ist die Verknüpfung mit dem Sozialstaatsprinzip unentbehrlich.136 g) Zurechnung von erlaubtem Verhalten Dritter Einen völlig anderen Ansatz als das Bundesverfassungsgericht verfolgen Murswiek und Schwabe. Murswiek lehnt die Schutzpflichtenkonstruktion sogar grundsätzlich ab. Eine abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte sei ausreichend, weil das beeinträchtigende Verhalten privater Störer dem Staat zugerechnet werden könne. Begründet wird die Ansicht mit dem – bis auf Ausnahmen – bestehenden privaten Selbsthilfeverbot in Gestalt eines allgemeinen Gewaltverbotes.137 Auch spreche der Mülheim-Kärlich-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes für diese Auffassung, weil der Staat durch die Genehmigungserteilung zur Nutzung von Atomenergie eine eigene Mitverantwortung für die Grundrechtsgefährdung durch den späteren Betrieb des Atomkraftwerkes habe.138 Der Wortlaut „Mitverant133 BVerfGE 94, 241 (263); Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 70; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20, Rn. 120. 134 BVerfGE 125, 175 (222). 135 Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 49. 136 Hierzu unter C. II. 1. c) – C. II. 1. c) hh). 137 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 92. 138 BVerfGE 53, 30 (58).

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wortung“ wird als „Zurechnung“ verstanden. Folglich sei der Staat für das, was er Privaten erlaube oder zumindest dulde, verantwortlich und bei unerlaubtem Verhalten Privater können die Betroffenen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.139 Weiterhin sei der Staat auch für Verhalten Dritter verantwortlich, welches er nicht ausdrücklich verboten habe. Insofern wird dem Staat sogar ein Unterlassen zugerechnet, weil er das Verhalten Privater dulde.140 Schwabe ist der gleichen Meinung.141 Demnach hält diese Ansicht am bekannten Prüfungsschema, das aus Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung besteht, fest. Schwabes und Murswieks Ansatz wird zum Teil noch immer in der Rechtswissenschaft vertreten.142 Nach dieser Auffassung handelt es sich beim Betrieb einer Schweinemastanlage und der Nachbarschaft, die der Geruchsbelästigung ausgesetzt wird, um ein zweipoliges Verfassungsverhältnis, das lediglich die Nachbarn und den Staat in seiner abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion umfasst, weil die Erteilung der Baugenehmigung der Schweinemastanlage sogar als Eingriff in das Eigentumsrecht der Nachbarschaft aus Art. 14 GG qualifiziert wird. Inkonsequent knüpft Schwabe im Fall von Autoabgasen dann jedoch nicht an die erteilte Typgenehmigung an, sondern an die öffentlich-rechtliche Widmung der Straße für den Autoverkehr.143 Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die öffentlich-rechtliche Widmung keine Regelung über das Maß der Immissionen des motorisierten Individualverkehrs enthält. Als Akt der öffentlichen Gewalt, der vor allem die Emissionshöchstmenge regelt, wäre daher höchstens an die EG-Typgenehmigung anzuknüpfen. Bereits das Bundesverfassungsgericht erkennt in atomrechtlichen Genehmigungen keinen Grundrechtseingriff als vielmehr eine mögliche Schutzpflichtverletzung.144 Die Ansicht von Murswiek und Schwabe vermag schon aus verfassungslogischen Gründen nicht überzeugen, denn durch eine Unterlassung des Staates kann niemals ein Abwehrrecht verletzt werden.145 Aber auch bei drittbelastendem Verhalten Privater, welches der Staat ausdrücklich verboten hat, zeigen sich die Schwächen dieser Theorie. In diesen Konstellationen sind Private an das Schicksal der Ausgestaltung der Rechtsschutzmöglichkeiten des einfachen Rechts ge-

139

Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 63. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 66. 141 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 214 f. 142 Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 123. 143 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 214 f. 144 BVerfGE 49, 89 (142); BVerfGE 53, 30 (57). 145 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 94. 140

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bunden und in Fällen, in denen der Gesetzgeber keinen ausreichenden Rechtsschutz durch Gesetze bietet, gänzlich schutzlos. In Bezug auf das allgemeine Gewaltverbot als Begründungsansatz verkennt diese Ansicht, dass dem privaten Selbsthilfeverbot das Gewaltmonopol des Staates gegenübersteht, weswegen der Staat seinerseits den Schutz Privater zu gewährleisten hat. Weiterhin wird ein Unterlassen des Staates mittels der Duldungslösung künstlich in ein aktives Tun verwandelt.146 Als viel problematischer stellt sich der Widerspruch zur gesamten Verfassungsidee dar. In der Konsequenz würde jegliches Handeln Privater als Ausübung von Freiheit durch den Staat entweder verboten oder unter ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gestellt werden. Das wiederum ist unvereinbar mit dem Grundgesetz, welches möglichst umfassende Freiheiten gewährleistet. Diese Lösung würde folglich mehr grundrechtseinschränkend als freiheitsgewährend ausfallen. 3. Stellungnahme Leider hat sich in der Rechtswissenschaft seit dem ersten Schwangerschaftsurteil von 1974 bis heute – trotz zahlreicher Ansätze – kein einheitliches Bild darüber entwickelt, wie die dogmatische Herleitung aus der Verfassung konkret erfolgt. Insofern sind die verfassungsrechtlichen Diskussionen in diesem Bereich bei Weitem noch nicht erschöpft. Wegen erheblicher Bedenken können viele Ansätze nicht überzeugen. Die Notwendigkeit von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten besteht unbestritten, denn der Einzelne hat ansonsten keine Möglichkeit, Rechtsgutsangriffe durch Private durch vom Staat verbürgte Verfassungsgüter im Wege der Verfassungsbeschwerde abzuwehren. In Ermangelung einer Schutzpflicht bestünde für Beschwerdeführer schon keine Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung. Die Verfassungsbeschwerde wäre daher bereits unzulässig, da der Beschwerdeführer nicht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs.1 BVerfGG beschwerdebefugt wäre. Ein Rückgriff auf den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte ist nicht ausreichend und gibt allenfalls Auskunft darüber, dass neben der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte der Weg für weitere, nicht näher bezeichnete Wirkdimensionen offensteht. Jede Norm, die subjektiv-öffentliche Rechte vermittelt, beinhaltet als Kehrseite einen objektiv-rechtlichen Gehalt, der den Staat verpflichtet. Im Übrigen ist die Nennung des objektiv-rechtlichen Gehalts als dogmatischer Ansatz für Schutzpflichten inkonsequent, weil in abwehrrechtlichen Konstellationen auch kein Rückgriff auf den objektiv-rechtlichen Gehalt erfolgt. 146

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 429.

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Vielmehr wird die Abwehrfunktion der Grundrechte als Selbstverständlichkeit angenommen, ohne dass diese besonders begründet werden muss. Aus diesen Gründen sollte dem Irrweg des Bundesverfassungsgerichts nicht gefolgt werden. Erstaunlich ist, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in der Schutzpflichtdiskussion noch nie thematisiert wurde. In Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG steht nicht, dass Verfassungsbeschwerden nur erhoben werden können, wenn Eingriffe in Grundrechte nicht gerechtfertigt sind. Der Wortlaut begnügt sich damit, dass Verfassungsbeschwerden erhoben werden können, wenn jemand behauptet, in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein. Wie die Grundrechtsverletzung im Einzelnen ausgestaltet sein muss, bleibt vom Wortlaut her offen. Mithin kann auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG entnommen werden, dass die Grundrechte verschiedene Wirkdimensionen haben und sich nicht in ihrer Abwehrfunktion erschöpfen. Nötig ist – ungeachtet des objektiven Gehalts der Grundrechte – eine methodische Herleitung der Schutzpflichten im Grundgesetz selbst.147 Alexys Prinzipienlehre bietet einer Herleitung von Schutzpflichten ebenfalls keinen überzeugenden Anknüpfungspunkt. Es lässt sich schwer von der Hand weisen, dass die Grundrechte Optimierungsgebote darstellen. Die Kritik bezieht sich derweil bereits auf grundsätzliche Erwägungen. Der Rekurs auf eine allgemeine Prinzipienlehre überwindet und ersetzt keine klassische Grundrechtsdogmatik.148 Obwohl die Prinzipienlehre den Weg einer grundrechtlichen Abwägung eröffnet, so bleibt ihr Nutzen praktisch begrenzt, da der Abwägungsprozess bereits aus dem Kernbereich der juristischen Verfassungsauslegung entspringt.149 Unbeantwortet bleibt zudem, weshalb einem Grundrecht im Kollisionsfall auf Grundlage der Prinzipienlehre den Vorzug gewährt wird.150 Weiterhin folgt aus einem Optimierungsgebot für die hier zu ergründende Schutzdimension nicht zwingend, dass der von der Verfassung vorgesehene Optimierungsauftrag in der Gewährung eines subjektiven Schutzanspruchs liegt.151 Festzuhalten ist: Der Staat kann die Geltungskraft von Grundrechten auf gänzlich unterschiedliche Weise verstärken. Die Optimierungsthese liefert jedoch keine Antwort, ob die Optimierung selbst allein durch die Zuerkennung subjektiver Schutzrechte sicherzustellen ist. Weiterhin würde die Schutzdimension des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – soweit sie im möglichst hohen Maß optimiert werden soll – mittelbar eine erhebliche freiheitsverkürzende Wirkung entfalten, da das Optimierungsziel der höchstmögliche Schutz wäre. 147 148 149 150 151

Jeand’Heur, JZ 1995, Heft 4, 161 (167). Poscher, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 78. Poscher, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 78. Sieckmann, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 20. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 63.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Allein die staatstheoretischen Erwägungen über den Staatszweck „Sicherheit“ reichen für sich allein noch genauso wenig aus und sind neben den etablierten Auslegungsregeln subsidiär.152 Die Ansichten von Calliess und Dirnberger unternehmen eine methodenkonforme Herleitung von Schutzpflichten. Dirnberger kann aber nur teilweise gefolgt werden. Die These, dass aus den Grundrechtsschranken Aufgaben des Staates zum Tätigwerden resultieren, ist indes nicht tragfähig. Calliess’ Lösungsweg erscheint überzeugend, obwohl er sich nicht mit dem Aussagegehalt von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG auseinandersetzt. Der Wortlaut des Grundgesetzes ist gegenüber weiteren Wirkungsweisen als dem Abwehrrecht erst einmal offen.153 Aus dem besonderen Schutz der Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG kann – wie Dirnberger trefflich bemerkt – auf eine ohnehin existierende allgemeine Schutzpflicht geschlossen werden.154 Die Frage ist aber, welchen Bedeutungsunterschied es zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Schutzpflicht gibt. Dieser Unterschied kann nur darin liegen, dass in Abwägungsprozessen mit verfassungsimmanenten Grundrechtskollisionen sowie in der Ermessensausübung der Verwaltung Ehe und Familie eine überwiegende Bedeutung innewohnt. Dem Wortlaut nach wird durch den „besonderen Schutz“ eine allgemein bestehende Schutzpflicht in diesem Einzelgrundrecht verstärkt. Wenn der historische Gesetzgeber dem Wortlaut des „besonderen Schutzes“ gerade keine eigenständige Bedeutung zumessen wollte, dann hätte er das Wort „besonders“ nicht kodifizieren müssen. Die Ursache des heutigen Wortlautes findet sich bereits in Art. 119 der Weimarer Reichsverfassung, der fast gleichlautend mit Art. 6 Abs. 1 GG ist. Dieser Wortlaut des Art. 119 der Weimarer Reichsverfassung wurde durch die Verfassungsgeber des Grundgesetzes unreflektiert übernommen.155 Die historische Auslegung ist in diesem Zusammenhang folglich nicht ergiebig. Somit bleibt es bei der Indizwirkung des Wortlautes, der den Grundrechten eine allgemeine Schutzwirkung nahelegt. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt jedoch nicht zwingend ein subjektiv einklagbarer Anspruch auf Schutz. Dagegen spricht das Wortlautargument aus Art. 6 Abs. 4 GG, in welchem der Anspruch der Mutter auf Schutz kodifiziert ist. Der Mutter, die unter den Schutzbereich der Familie des Art. 6 Abs. 1 GG und somit unter

152 153 154 155

Jeand’Heur, JZ 1995, Heft 4, 161 (165). Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 120. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S. 138 f. JöR neue Folge, Bd. 1, 1951, S. 92–99.

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den besonderen Schutz des Staates fällt156, wird ein subjektives Recht auf Schutz positiv zugesprochen. Daraus könnte geschlossen werden, dass in allen anderen Schutzpflichtsituationen kein subjektives Recht auf Schutz bestehen könnte. Diese Interpretation kann wiederum nicht zutreffend sein, da die Geltungskraft der Grundrechte möglichst stark sein soll.157 Dies ist nur möglich, wenn Grundrechte auch in Schutzpflichtkonstellationen einklagbar sind. Hingegen ist eine Andeutungswirkung für allgemeine Schutzpflichten durch einen Rückgriff auf die Gesetzesvorbehalte nicht nachvollziehbar, da aus den Befugnisnormen grundsätzlich keine Rechtspflicht zum Handeln resultieren kann. Der stärkste und in der Literatur am meisten zitierte Anknüpfungspunkt ist Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. In der Tat kann Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eine allgemeine Schutzpflicht entnommen werden. Gegner dieses Ansatzes sehen das Problem, dass der Menschenwürdegehalt erheblich ausgedehnt wird und der Gehalt von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG inhaltsleer zurückbleibt.158 Eine bloße Übertragung der Menschenwürde auf den Grundrechtskatalog führt zu unzureichenden Ergebnissen, denn die Annahme von Schutzpflichten allein bei Sachverhalten anzunehmen, wo der Menschenwürdekern betroffen ist, wird dem Schutzbedarf nicht gerecht. Nicht jede Rechtsgutverletzung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit geht mit einer Verletzung der Menschenwürde einher.159 Erforderlich ist daher – losgelöst vom Menschenwürdekern – eine Qualifikation des Art. 1 Abs. 1 GG als tragendes Konstitutionsprinzip, welches die Auslegung und Interpretation der Grundrechte entscheidend bestimmen muss.160 Dafür spricht vor allem, dass der Schutz der Menschenwürde gerade nicht gewährt wird, sondern grundsätzlich vorgelagerte Voraussetzung für die Gewährleistung von Freiheitsentfaltungen ist. Eine schutzpflichtenbedingte Determinierung der Einzelgrundrechte durch den Menschenwürdekern beinhaltet schwerwiegende Abgrenzungsprobleme vom Menschenwürdekern und dem verbleibenden Schutzgut. Dessen ungeachtet hat der Staat nicht das Recht, zwischen würdigen und weniger würdigen Sachverhalten zu differenzieren. Vor allem setzt sich ein Versuch der Abgrenzung des Men-

156 157 158 159 160

BVerfGE 45, 104 (123). BVerfGE 7, 198 (205). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 413. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 230 f. Dirnberger, Recht auf Naturgenuß, S.148.

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schenwürdegehalts von weniger menschenwürdehaltigen Freiheitsbetätigungen dem Risiko aus, dass die Menschenwürde dennoch verletzt wird. Dabei ist die Menschenwürde unantastbar, Eingriffe sind nie – nicht einmal durch kollidierendes Verfassungsrecht – zu rechtfertigen und müssten deswegen unterbleiben.161 Folglich sollte ein Abgrenzungsversuch unterlassen werden. Zudem ist noch nicht abschließend geklärt, was unter dem Begriff der Menschenwürde genau zu verstehen ist und jeder Versuch, die Menschenwürde positiv zu definieren, würde einen Verstoß gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde selbst bedeuten. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mikrozensus herrscht zumindest Klarheit, dass der Staat die Menschen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns machen darf,162 was in der Rechtswissenschaft als Negativdefinition bekannt ist. Das Bundesverfassungsgericht spricht im Mikrozensusurteil sogar von einem bestimmten Menschenbild, das von der Verfassung zugrunde gelegt wird. Der Umkehrschluss aus der Aussage, den Menschen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen, bedeutet wiederum, die Individualität des Menschen ins Zentrum der Verfassung zu stellen. Diese Sichtweise wird auch von der Entstehungsgeschichte der Menschenwürde in Art. 1 GG getragen, in der die nationalsozialistische Vergangenheit überwunden werden sollte, die den Menschen gerade nicht als Individuum verstand.163 Die Grundrechte sind demnach nichts anderes als Bereiche individueller Freiheitsentfaltung als Ausprägungen des Menschenbildes, das die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG durchdringt. Mithin muss Art. 1 Abs. 1 GG als allgemeiner und konstitutiver Verfassungssowie Wertgedanke verstanden werden, der dem Verfassungsinterpreten auch Auskunft darüber gibt, dass die Grundrechte eine Schutzdimension haben. Des Weiteren ist die systematische Stellung des Art. 1 Abs. 1 GG relevant. Die Positionierung gleich zu Beginn der Verfassung deutet stark darauf hin, dass der Menschenwürde eine für die gesamte Verfassung prägende Gewichtung zukommt. Gestärkt wird diese Interpretation durch die historische Auslegung, weil der Parlamentarische Rat sowie seine Ausschüsse durch die Kodifizierung des Grundrechtekataloges die Achtung und den Schutz der Menschenwürde sehr wohl sicherstellen wollten.164 161 Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 73. 162 BVerfGE 27, 1 (6); BVerfGE 115, 118 (153). 163 Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes, S. 19; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 16. 164 Cremer, Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, S. 238.

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Im Parlamentarischen Rat hatte Carlo Schmid Art. 1 GG als die Generalklausel für sämtliche Grundrechte genannt.165 Art. 1 GG sei in seiner systematischen Tragweite der eigentliche Schlüssel für das Ganze.166 Seiner Äußerung wurde nicht widersprochen. Somit hatte der historische Verfassungsgeber bei Art. 1 GG eine Ausstrahlungswirkung in alle Grundrechte angedacht. Die Pflicht zur Friedenssicherung aus ideengeschichtlicher Sicht ist jedoch nicht bedeutungslos für die Interpretation der Verfassung. Zwar gibt die Verfassungstheorie keine Auskunft über die Auslegung der Grundrechte, sie schafft aber das notwendige Vorverständnis, aus welcher Perspektive die Verfassungsinterpreten das Grundgesetz zu verstehen haben.167 Die Maxime des Staates, das Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu befriedigen, ist auch dem Bundesverfassungsgericht nicht fremd. In einem „obiter dictum“ hatte der Zweite Senat die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu schützen, erstmals angenommen.168 Zur vollständigen Wahrheit gehört allerdings, dass nicht erst Thomas Hobbes das Staatsziel „Sicherheit“ entdeckte, wovon Isensee ausgeht,169 sondern Jean Bodin.170

II. Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht Nachdem ergründet wurde, wie die Schutzpflicht des Staates für die Schutzgüter am Beispiel der Grundrechte des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit hergeleitet werden können, schließt sich die Frage an, unter welchen Bedingungen das Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht konkret angenommen werden kann. 1. Schutzfähiges Grundrechtsgut Für die Annahme einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht muss das jeweilige Einzelgrundrecht eine Schutzdimension beinhalten.

165

Cremer, Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, S. 256. 4. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 23.09.1948, in: Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 5/1, S. 64. 167 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 190, Rn. 81. 168 BVerfGE 46, 214 (223); BVerfGE 49, 24 (56 f.); noch deutlicher Sondervotum Haas, BVerfGE 115, 371 (374). 169 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 190, Rn. 81, 83. 170 Darauf weist hin: Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 37. 166

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

a) Vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Schutzpflichten In verschiedenen Grundrechten erkannte das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsinterpretation die Existenz von Schutzpflichten. Obwohl schon das Grundgesetz die Ehe und die Familie ausdrücklich in Art. 6 GG unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt hat, konkretisierte das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe des Staates, Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen Dritter zu bewahren.171 Die Existenz einer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurde bereits eingehend thematisiert. Aber auch dem Eigentumsrecht sind Schutzpflichten zu entnehmen. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1998 hatte das Bundesverfassungsgericht die Frage noch offengelassen, ob Art. 14 Abs. 1 GG Schutzpflichten enthält.172 Im Jahr 2005 erkannte das Gericht sodann eine staatliche Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG an.173 In derselben Entscheidung wurde dem Art. 2 Abs. 1 GG eine Schutzdimension zuerkannt. Der Klimaschutz-Beschluss aus dem Jahr 2021 hat das Bestehen einer Schutzpflicht des Art. 14 Abs. 1 GG erneut bestätigt.174 Für die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG wurde die Schutzdimension ebenfalls inzwischen anerkannt.175 Jüngst wurde auch dem speziellen Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 3 GG eine Schutzpflicht zugesprochen.176 Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG aktiviert den schützenden Staat. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fordert den Staat auf, personenbezogene Daten vor dem ungewollten Zugriff durch Private zu schützen. Mithin ist das Datenschutzrecht mit all seinen Maßnahmen zumindest auch die Antwort auf eine grundrechtliche Schutzpflicht. Für das Recht des Kindes auf die Kenntnis der eigenen Abstammung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht Schutzpflichten ebenfalls ausdrücklich angenommen.177 b) Von der Literatur anerkannte Schutzpflichten Unabhängig davon entfalten auch die weiteren Grundrechte Schutzpflichten. Auch in der Literatur herrscht Konsens, dass jedes Freiheitsrecht eine Schutzdimension enthält.178 Diese Sichtweise ist überzeugend, denn sämtliche Grund171

BVerfGE 6, 55 (76). BVerfG, NJW 1998, 3264 (3265). 173 BVerfGE 114, 1 (33). 174 BVerfG, NJW 2021, 1723 (1735). 175 BVerfGE 92, 26 (46). 176 BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20, BeckRS 2021, 40294, Rn. 87 ff. 177 BVerfGE 96, 56 (64). 178 Erichsen, JURA 1997, 85 (86); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 172

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rechtsgüter erfahren Einwirkungen von dritter Seite, aber auch von der Umwelt, wie der Blick auf die Auswirkungen von Naturkatastrophen zeigt. Einzelnen Grundrechten den Schutzanspruch gegenüber der staatlichen Ordnung abzusprechen, würde bedeuten, dass die Grundrechte in ihrer Wirkreichweite auf einen fragmentarischen Charakter reduziert werden würden, was mit dem Grundgedanken des Grundgesetzes, möglichst umfassenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten, schlechthin unvereinbar ist. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG gewährleistet den Versammlungsteilnehmern beispielsweise, dass der Staat die Durchführung der Versammlung vor Beeinträchtigungen Dritter, die die Versammlung verhindern möchten, schützt.179 Die Versammlungsgesetze der Länder sowie das Versammlungsgesetz des Bundes enthalten deshalb entsprechende Regelungen zum Schutz der Versammlung. So verbietet das Versammlungsgesetz des Bundes gem. § 2 Abs. 2 und Abs. 3 VersG Störungen Dritter sowie das Mitsichführen von Waffen und stellt jene Verhaltensweisen gem. § 21 VersG und § 27 VersG unter Strafe.180 Auch entfaltet die Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG eine Schutzdimension, die durch die Straftatbestände der §§ 166, 167 StGB umgesetzt wurde.181 Hierbei wird gem. § 166 StGB die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafandrohung gestellt. Gemäß § 167 StGB wird zudem bestraft, wer einen Gottesdienst stört. Die Beispiele von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch Dritte ließe sich fortführen, was jedoch den Rahmen der Untersuchung sprengen würde. c) Soziale grundrechtliche Schutzpflichten Denkbar sind darüber hinaus auch schutzpflichtenaktivierende soziale Grundrechtsansprüche. Der Umstand, dass sich soziale Grundrechte nicht durch eine Erfassung des Verfassungswortlautes eindeutig bestimmen lassen, steht einer Annahme eines solchen Grundrechts jedenfalls nicht entgegen. aa) Bedürfnis nach sozialem Schutz Wie eingangs erwähnt,182 wächst das zivilgesellschaftliche Bedürfnis nach sozialem Schutz im gleichen Maß wie der Sozialstaat abgebaut wird. Um die Ver§ 190, Rn. 222; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, Vorb. Rn. 104; Cremer, Freiheitsgrundrechte, Funktionen und Strukturen, S. 266. 179 BVerfGE 84, 203 (209). 180 Nicht alle Bundesländer haben nach der Föderalismusreform eigene Versammlungsgesetze erlassen. Für Nordrhein-Westfalen beispielsweise gilt daher gem. Art. 125a Abs. 1 GG noch immer das Versammlungsgesetz des Bundes fort. 181 Kokott, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 4, Rn. 95. 182 Hierzu unter A.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

schlechterung der sozialen Verhältnisse aufzuzeigen, wird diese konkreter beschrieben: Die neoliberale Umwandlung der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zum Nachteil der Unterschicht hat zu einem starken Machtzuwachs großer Konzerne und zum Abbau des Sozialstaats geführt.183 Zu diesem Umbau gehört auch die Umverteilung des Gesamtvermögens. So haben die reichsten oberen 10 % der Bevölkerung in Deutschland ihr Vermögen von 1993 bis 2018 nahezu verdoppelt, während sich das Vermögen von 50 % der Bevölkerung in diesem Zeitraum von 5 % auf 3 % des Gesamtvermögens weiter verringert hat.184 In diesem Zusammenhang ist auch zu nennen, dass die Vermögenssteuer seit 1997 nicht mehr erhoben wird.185 Die Einführung von Arbeitslosengeld II (Hartz-IV) im Jahr 2005 und die Zunahme der prekären Beschäftigung186 sind Symptome dieses Prozesses. Zudem führen sich ausdehnende Privatisierungsprozesse von weiten Bereichen der Daseinsvorsorge und von Kollektivgütern starker Investoren zur Untergrabung von Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechten.187 Dadurch erhöht sich das Bedürfnis nach effektivem staatlichen Schutz vor nun privatisierter Wirtschaftstätigkeit.188 Auch wurde der vormals öffentliche urbane Raum zunehmend zu Lasten der Allgemeinheit durch private Partikularinteressen wie beispielsweise privater Großveranstaltungen verdrängt.189 Der Zugang zum nunmehr faktisch privatisierten Raum wird von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Besucher abhängig gemacht, was – normativ betrachtet – die finanziell schwächeren Bevölkerungsteile aus dem öffentlichen Raum ausschließt.190 Zutreffend hat Siehr darauf hingewiesen, dass sich die grundrechtliche Position der Bevölkerung im sogenannten semi-öffentlichen Raum erheblich verschlechtert hat und dass der Raum für die Ausübung individueller sowie kollektiver Freiheitsrechte stetig verknappt wird.191 Als weiterer Reflex des beschriebenen Umbaus erfolgte die teilweise Abkehr vom Umlageverfahren der sozialen Altersvorsorge hin zur betrieblichen und pri-

183 Bontrup, in: SF 2013, Heft 10–11, 282 (284, 287, 289); Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 16, 384, 387 f.; Fisahn, in: Butterwegge/Lösch/Ptak, Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, S. 164 (175 f.). 184 Albers/Bartels/Schularick, The Distribution of Wealth in Germany, 1895 to 2018, S. 39, 41. 185 Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reichtum rückverteilen, S. 5. 186 Deutscher Gewerkschaftsbund, Prekäre Beschäftigung, S. 6; Fisahn, Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie, S. 60–64. 187 Rügemer, in: Butterwegge/Lösch/Ptak, Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, S. 259 (272); Demirovic´, in: Butterwegge/Lösch/Ptak, Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, S. 17 (20); ausführlich Fisahn, Herrschaft im Wandel, S. 327–333; Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 94. 188 So auch Möstl, DÖV 1998, 1029 (1030). 189 Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 21. 190 Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 21, 26. 191 Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 26, 28, 590.

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vaten Altersvorsorge, die im Wege des Kapitaldeckungsverfahrens auf Renditen durch Spekulation in Wertpapiere und in Immobilien angewiesen sind.192 Diese Entwicklung vollzog sich durch eine Erweiterung der sozialen Altersvorsorge, die ursprünglich nur aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestand und im Verlauf wegen einer zunehmenden Absenkung des Rentenniveaus durch die betriebliche Altersvorsorge sowie die private Altersvorsorge ergänzt wurde, weshalb heute von den drei Säulen der Alterssicherung gesprochen wird.193 Die Europäische Zentralbank hatte im Jahr 2014 Negativzinsen für Geschäftsbanken eingeführt sowie den Leitzins im Jahr 2016 dauerhaft auf null Prozent gesenkt.194 Vermögensstarke Investoren sind am Kapitalmarkt daher darauf angewiesen, in andere Bereiche wie dem Immobilienmarkt195 und in Wertpapiere196, zu investieren, weil Kapital auf die konventionelle Weise nicht mehr maximiert werden kann. Der Machtzuwachs dieser Investoren wird schon am in der Einleitung genannten Beispiel des Berliner Wohnungsmarktes erkennbar, wenn Immobilienkonzerne und Investmentfonds große Teile des Wohnungsbestandes zwecks Spekulation aufkaufen. Der angespannte Wohnungsmarkt in Großstädten ist teilweise eine Folge der gesellschaftlichen Umverteilung des Vermögens zu Gunsten der Oberschicht. Im Falle eines solchen Marktversagens ist der Schutzbedarf weiter Teile der Bevölkerung ebenfalls eine Konsequenz der neoliberalen gesellschaftlichen Veränderung, die diesen Prozess erst ermöglicht hat, worauf der schützende Staat reagieren sollte. Dieser Themenbereich kann an dieser Stelle nicht vertieft werden, er zeigt aber, dass das Schutzbedürfnis der Bevölkerung auch in Bereichen zunimmt, die nicht der Risikogesellschaft197 geschuldet sind. Als Reaktion auf diese Entwicklung drängt sich die Frage auf, ob das Grundgesetz dem Staat auch soziale grundrechtliche Schutzpflichten als Reaktion auf soziale Schieflagen auferlegt.

192 Schellhorn/Fasselt/Paulenz, in: Fasselt/Schellhorn, Handbuch Sozialrechtsberatung, § 20, Rn. 32. 193 Schellhorn/Fasselt/Paulenz, in: Fasselt/Schellhorn, Handbuch Sozialrechtsberatung, § 20, Rn. 12 f., 32; Roppel, in: Rebeggiani/Wilke/Wohlmann, Megatrends aus Sicht der Volkswirtschaftslehre, S. 25 (33 f.). 194 Europäische Zentralbank, Pressemitteilung vom 05.06.2014, vom 10.03.2016 sowie vom 16.12.2021. 195 Henger, in: Wirtschaftsdienst 2019, Heft 9, S. 603 (604); Trauvetter, Wem gehört die Stadt? S. 9. 196 Die Marktkapitalisierung von Aktien in Deutschland hat sich seit 2009 mehr als verdoppelt. Mit Stand vom Februar 2021: 1,99 Billionen EUR im Vergleich zum Jahr 2009: 0,93 Billionen EUR, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, April 2021, Statistischer Teil, S. 52. 197 Hierzu und zum Begriff der Risikogesellschaft auch C. III. 1. c) bb) und cc).

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bb) Grundrechtstheoretische Annäherung Im Grundgesetz finden sich bis auf wenige Ausnahmen keine positiv formulierten sozialen Grundrechte.198 Lediglich Art. 6 Abs. 4 GG ist ausdrücklich als soziales Grundrecht ausgestaltet.199 Ob weitere soziale Grundrechte in der Verfassung anerkannt werden können, hängt aus staatstheoretischer Sicht davon ab, welche Grundrechtstheorie dem Grundgesetz zugrunde zu legen ist. Eine systematische Einteilung der Grundrechtstheorien wurde erstmals von Böckenförde vorgenommen.200 Für und gegen die Existenz von sozialen Grundrechten sind vor allem zwei Grundrechtstheorien zu nennen: die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) sowie die sozialstaatliche Grundrechtstheorie. Was mögliche soziale Grundrechte betrifft, so sieht die liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte in umfangreichen Freiheitsrechten, deren Ausübung der Staat nicht ohne Rechtfertigung beschränken darf, weshalb soziale Grundrechte demnach nicht bestehen können. Dem steht die sozialstaatliche Grundrechtstheorie gegenüber, die sich vor allem auf grundrechtliche Leistungs- und Schutzansprüche konzentriert, um dadurch erst die Voraussetzung für die Ausübung von individuellen Freiheitssphären zu schaffen. Hiernach sind soziale Grundrechte Ausdruck der Verfassung. Beide Theorien haben folglich ein unterschiedliches Verständnis von Freiheit. In der Entwicklung der Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes haben sich die Grundrechte jedoch hin zu einem multifunktionalen201 Grundrechtsschutz entwickelt, der sowohl freiheitsgewährende Rechte enthält als auch Leistungspflichten, Schutzpflichten und Teilhaberechte beinhaltet.202 Für alle bestehenden Grundrechtstheorien lassen sich in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Beispiele nennen, weshalb die Multifunktionalität der Grundrechte in der verfassungsgerichtlichen Praxis Wirklichkeit geworden ist.203 Mithin gilt das Festhalten an nur einer liberalen Grundrechtstheorie heute unstrittig als überholt und steht der Annahme von sozialen Grundrechten nicht entgegen.

198 Enders, VVDStR Heft 64, S. 7 (39); Lübbe-Wolff, JöR 2005, 1 (1); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 360. 199 Lübbe-Wolff, JöR 2005, 1 (1); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BRD, Art. 6, Rn. 66. 200 Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff. 201 Der Begriff geht zurück auf Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 80, 129, Fn. 53. 202 Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 41; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 20; Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, Vorb. Rn. 82. 203 Für die liberale Grundrechtstheorie: BVerfGE 7, 198 (204); für die sozialstaatliche Grundrechtstheorie: BVerfGE 39, 1 (42); für die institutionelle Grundrechtstheorie: BVerfGE 24, 367 (389); für die Werttheorie: BVerfGE 2, 1 (12).

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cc) Ablehnung in der Literatur Die Existenz von sozialen Grundrechten wird von der herrschenden Ansicht in der Literatur jedoch abgelehnt.204 Die Ablehnung von sozialen Grundrechten wird damit begründet, dass sie dem Institut der Leistungsrechte zugeordnet werden,205 ohne dass den Leistungsrechten ein justiziabler subjektiv-öffentlicher Anspruch in Form eines Leistungsanspruchs entfließt, da Leistungsrechte lediglich objektives Verfassungsrecht seien.206 dd) Ausnahme für das menschenwürdige Existenzminimum Eine Ausnahme für ein justiziables Leistungsrechte wurde für die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums vom Bundesverfassungsgericht in der Hartz IV-Entscheidung anerkannt.207 Dieses Grundrecht wurde explizit als Leistungsrecht, als „unmittelbar verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ 208 qualifiziert. Auch die Literatur ist der Meinung, dass im Rahmen des menschenwürdigen Existenzminimums justiziable Leistungsrechte bestehen.209 Die dogmatische Anknüpfung wird in Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG gesehen. Die Verknüpfung zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG ist erforderlich, um den Würdebegriff durch die soziale Ausrichtung des Grundgesetzes aufzuladen.210 Menschenwürde beinhaltet demgemäß auch ein Leben in sozialwürdigen existenzsichernden Verhältnissen, die über die bloße physische Existenzsicherung hinausgeht. Von sozialwürdigen existenzsichernden Verhältnissen erfasst sind: „die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit [. . .], als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwi204 Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band. 2, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 40; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1, Rn. 188–192, wobei Starck eine Ausnahme für das Existenzminimum anerkennt; dafür beispielsweise Schärdel, in: FS für Kloepfer, S. 175 (175, 180). 205 Petersen, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht II. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 8, Rn. 27. 206 Winkler, in: FS für Ress, S. 1387 (1405); Mayen, in: FS für Stern zum 80. Geburtstag, S. 1451 (1454); Lang/Wilms, Staatsrecht II, Grundrechte, Rn. 97–100; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 258; Dreier, JURA 1994, 505 (508). 207 BVerfGE 125, 175 ff.; ebenso etwas später für Asylbewerberleistungen BVerfGE 132, 134 (158 f.). 208 BVerfGE 125, 175 (223). 209 Benda, in: Bender/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 514; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 332; Wallerath, JZ 2008, 157 (161, 164); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1, Rn. 192. 210 In diese Richtung auch: BVerfGE 82, 60 (85).

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schenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben [. . .], denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“.211 Mithin wurde das menschenwürdige Existenzminimum auch als „soziokulturelles Existenzminimum“ 212 verfassungsrechtlich anerkannt. ee) Übertragung des menschenwürdigen Existenzminimums auf die Schutzpflichtdimension Damit ist jedoch nicht geklärt, ob die Anerkennung des menschenwürdigen Existenzminimums als Leistungsrecht auch auf Schutzpflichtkonstellationen übertragen werden kann. In dem Zusammenhang ist zuerst das systematische Verhältnis zwischen Leistungspflichten und staatlichen Schutzpflichten zu klären. Schon Jellinek als Begründer einer erstmaligen Systematisierung der subjektiven öffentlichen Rechte hat sowohl staatliche Schutzpflichten als auch Leistungsrechte dem status positivus zugeordnet, denn Jellinek formuliert die Grundrechtsfunktion des status positivus mit der Formel: „Der Einzelne erhält die rechtlich geschützte Fähigkeit, positive Leistungen vom Staat zu verlangen und für den Staat die rechtliche Verpflichtung, im Einzelinteresse tätig zu werden.“ 213

Nach Jellinek erschöpft sich die Stellung des Individuums im Staat in dem Passiven, dem Negativen, dem Positiven sowie dem Aktiven.214 Jellinek hat also die in der Rechtswissenschaft vorgenommene Trennung zwischen Leistungsrechten und Schutzpflichten nicht vorgenommen. Überwiegend wird die staatliche Schutzpflicht jedoch nicht dem positiven Statusrecht zugeordnet, sondern vielmehr dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte entnommen.215 Mit dieser Kasuistik wird Jellineks Statuslehre, die für ihn abschließenden Charakter hatte, um eine weitere eigenständige Funktion erweitert, indem die Schutzpflicht vom Leistungsrecht abgetrennt wurde. Das Schrifttum erkennt den Unterschied zwischen Leistungsrecht und Schutzpflicht darin, dass die Schutzpflicht darauf gerichtet ist, Grundrechtsgüter vor Beeinträchtigungen zu bewahren, wohingegen das Leistungsrecht auf eine Verbesserung der derzeitigen Situation abzielt.216 Demgemäß soll die Schutzpflicht 211

BVerfGE 125, 175 (223); BVerfGE 103, 197 (221); BVerfGE 113, 188 (108 f.). Seiler, JZ 2010, 500 (505). 213 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 121. 214 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87. 215 BVerfGE 39, 1 (41 f.); Lang/Wilms, Staatsrecht II, Grundrechte, Rn. 79. 216 Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 51 f.; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 258; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 45. 212

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zur Sicherung des bestehenden Zustands (status quo) dienen, das originäre Leistungsrecht soll dagegen etwas Neues schaffen, was vorher nicht vorhanden war. Der Differenzierungsversuch der Literatur hinkt allerdings deshalb, weil die Schutzpflicht nicht allein vor drohenden Grundrechtsbeeinträchtigungen bewahren soll, sondern darüber hinaus bestehen bleibt, wenn Grundrechtsverletzungen bereits eingetreten sind. Denn auch die Schadensliquidation kann Ausdruck einer nachgelagerten, auf Kompensation gerichteten Schutzpflicht sein, um die „Störung“ des Grundrechtsguts zu beenden. Leistungsrechte und Schutzpflichten lassen sich zudem nicht immer klar voneinander trennen, weshalb Jellineks Subsumtion dieser beiden Funktionen unter den status positivus naheliegend ist. Wenn für die Opfer der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Jahr 2021 Unterstützungen in Form von finanziellen Mitteln bereitgestellt werden, so erfolgt die Auszahlung des Geldes gem. § 2 Abs. 1 AufbhG 2021 zur Schadensbeseitigung und zum Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur als leistungsrechtliche Ausprägung zur Wiederherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums einerseits, aber auch in Ausübung einer Schutzpflicht in ihrer kompensatorischen Funktion. Zugleich erfolgen die finanziellen Hilfszahlungen gem. § 2 Abs. 4 AufbhG 2021 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 AufbhV 2021 zur Verbesserung des Hochwasserschutzes, was nichts anderes als die Wahrnehmung einer auf Vorsorge bezogenen Schutzpflicht ist. Allgemein formuliert erfolgen Auszahlungen von Sozialleistungen funktionell nicht allein als grundrechtliches Leistungsrecht, sondern zudem vor dem Hintergrund, die Grundrechtsträger vor sozialer Not zu schützen. Aus diesem Grund ist ein staatliches Leistungsrecht, wenn es um die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums geht, immer auch zugleich mit der Ausübung einer staatlichen Schutzpflicht verbunden. Doch nicht jede Schutzpflicht, die zum Zweck der Existenzsicherung vorgenommen wird, muss gleichzeitig ein Leistungsrecht darstellen. Im Anwendungsbereich des menschenwürdigen Existenzminimums ist das Leistungsrecht also ein Unterfall der Schutzpflicht.217 Nach der hier aufgestellten These werden durch Leistungspflichten zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zugleich stets Schutzpflichten verwirklicht, was das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1975 selbst bemerkt hat.218 Damals hat sich das Gericht jedoch noch hinter den eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsumfang zurückgezogen, da der Gesetzgeber über die Art und das Maß des sozialen Schutzes zu bestimmen habe.219 217 Eine andere Auffassung sieht die Schutzpflicht ohne Begründung als Unterfall des Leistungsrechts: Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 98 f. 218 BVerfGE 40, 121 (133). 219 BVerfGE 40, 121 (133).

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Insofern ist die Hartz IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch als eine Änderung der früheren Rechtsprechung für den Bereich des menschenwürdigen Existenzminimums zu verstehen, da die Berechnungsgrundlage für die Ermittlung des Existenzminimums bei Defiziten innerhalb der Ermittlung des gewährten sozialen Schutzumfangs einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung offensteht, was sich im Ergebnis auch auf die festgesetzte Höhe auswirkt.220 Als Änderung der bisherigen Verfassungsrechtsprechung ist die Entscheidung noch in anderer Hinsicht aufzufassen, denn ursprünglich wurde ein Schutz vor sozialer Not durch Art. 1 Abs. 1 GG ausdrücklich abgelehnt.221 Wenn somit jedes Leistungsrecht im Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20. Abs. 1 GG die Ausübung einer staatlichen Schutzpflicht darstellt, dann muss das menschenwürdige Existenzminimum auch der Schutzpflichtdimension der Menschenwürde unterfallen. Dies gilt umso eher, als dass das Leistungsrecht sich auf eine konkrete Leistung verdichtet, wohingegen die hypothetisch denkbaren Maßnahmen zur Erfüllung einer Schutzpflicht meistens vielfältig sind, so dass der verfassungsgerichtliche Einfluss auf die parlamentarische Entscheidungsfreiheit bei der Feststellung einer Schutzpflichtverletzung lange nicht so intensiv ist wie beim Verkennen eines Leistungsrechts. Mithin gilt der Schutz auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in einem Erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori) erst recht für die staatliche Schutzpflicht. Wie schon der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG offenbart, enthält das Grundrecht nicht nur ein Eingriffsverbot des Staates, sondern fordert vom Hoheitsträger die Schutzpflicht ein, die Grundrechtsträger vor menschenunwürdigen Behandlungen durch Private zu schützen.222 Der jedem zukommende Absolutheitsanspruch der Menschenwürde muss sich demnach vor allem vor Beeinträchtigungen von nichtstaatlicher Seite behaupten. Die Beispiele für Würdeverletzungen durch Dritte sind unermesslich und reichen vom profitmotiviertem Zwergenweitwurf 223, über die Zwangsprostitution, das Mobbing, dem sogenannten Stalking, bis hin zu vielfältigen Diskriminierungen im Privatrecht. All diese Beispiele führen zu einer Verletzung der Menschenwürde. Wenn das menschenwürdige Existenzminimum in Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ist, dann muss dieser Schutzumfang auch für die Schutzpflichtdimension einen Absolutheitsanspruch haben. Kausal verantwortlich für soziale Schieflagen in der Gesellschaft sind, wie schon aufgezeigt wurde, vorwiegend private Akteure. Zu einer Verletzung der Menschenwürde wegen so220

BVerfGE 125, 175 (224–226); Riehle, SRa 2010, 214 (214). BVerfGE 1, 97 (104). 222 BVerfGE 49, 89 (142); BVerfGE 1, 97 (104); Clausen, Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, S. 47; für allgemeine soziale Mindestniveaus spricht sich auch aus: Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 348. 223 VG Neustadt, NVwZ 1993, 89 ff. 221

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zialer Not kommt es mitunter durch prekäre Beschäftigung im Niedriglohnsektor sowie das Phänomen des Stellenabbaus zu Gunsten des Profitinteresses der Großaktionäre und der Unternehmer. Auch die Spekulation mit Wohnraum könnte in einem Konflikt mit der Menschenwürde stehen. Als Eingriffsinstrument224 zur Sozialisierung von privatem Wohnraumbestand wird aktuell der Art. 15 GG diskutiert,225 welcher seit seinem Bestehen im Jahr 1949, wie Kloepfer es passend ausdrückt, im „Dornröschenschlaf“ 226 weilt. Neben seiner Funktion als Eingriffsermächtigung und als Grundrechtsschranke vor allem des Art. 14 GG kann Art. 15 GG auch eine weitere Funktion entnommen werden: Im Falle eines Marktversagens der sozialen Marktwirtschaft schafft Art. 15 GG die Möglichkeit der Sozialisierung unter anderem von Grund und Boden. Damit enthält Art. 15 GG eine soziale Dimension. Das Grundgesetz sieht mithin die Option ausdrücklich vor, dass der Staat eine Schutzpflicht für die Mieter auf Grundlage des Art. 15 GG verwirklichen kann. Auch sprechen wegen der Nähe des Wohnens zur Menschenwürde gute Gründe dafür, das Wohnen als soziales Grundrecht unter Art. 1 Abs. 1 GG zu fassen. Bei jeder sozialen Not ist der schützende Staat aufgrund einer Schutzpflicht verpflichtet, die soziale Notlage zu beseitigen, beispielsweise durch Eingriffe gegenüber Dritten. Ein möglichst umfassender Grundrechtsschutz ist zudem darauf angewiesen, ein soziales Grundrecht zur Existenzsicherung als Fallgruppe des Art. 1 Abs. 1 GG anzuerkennen, um wehrhaft auf die Verschlechterungen der sozialen Verhältnisse reagieren zu können und die schon skizzierte soziale Schutzlücke verfassungsrechtlich zu schließen. Dies entspricht auch dem Anspruch an einen dynamischen, sich den zeitlichen Realverhältnissen anpassenden Grundrechtsschutz. Dieser Grundrechtsschutz steht vor der Herausforderung, den in ihrer Streubreite und Ausmaß wachsenden Bedrohungslagen der Technologisierung und der Großindustrie, die zum Teil zu einer sozialen Verschlechterung der tatsächlichen Verhältnisse führt, aber ebenso den neoliberalen Entwicklungen zu begegnen. Wenn Arbeitskraft durch Rationalisierungsprozesse zunehmend entbehrlich wird, dann nimmt soziale Not zwangsläufig zu. Contiades sieht in den postindustriellen Gefahren und Risiken sogar die grundsätzliche Ursache, dass auf dem europäischen Kontinent eine sich flächenhaft ausdehnende Konstitutionalisierung durch Schaffung neuer Grundrechte stattfindet.227 Doch diejenigen Stimmen, die das wachsende Bedürfnis nach sozialem Schutz negieren, verkennen, dass sich politische Verhältnisse schnell ändern können. Ein durch liberal-marktwirtschaftliche Kräf224

Durner, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 15, Rn. 20. Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, Volksbegehren, das auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 15 GG verweist. 226 Kloepfer, NJW 2019, 1656 (1658). 227 Contiades, JöR 2005, 27 (27). 225

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te dominiertes Parlament, das sozialen Schutz hypothetisch gänzlich abschaffen könnte, zeigt, dass die Verfassungswissenschaft selbst Vorsorge durch die Anerkennung eines in Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG beheimateten sozialen Grundrechts treffen sollte, damit bei einer solchen Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse eine wehrhafte Verfassung zur Sicherung vor sozialer Not entgegengehalten werden kann. ff) Vorbehalt des Möglichen Das Bundesverfassungsgericht sowie das rechtswissenschaftliche Schrifttum stellen die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unter den Vorbehalt des wirtschaftlich Möglichen.228 Die Forderung, das menschenwürdige Existenzminimum von einem Vorbehalt des Möglichen abhängig zu machen, steht immerhin in einem axiomatischen Widerspruch zum Absolutheitsanspruch der Menschenwürde.229 Doch die Vertreter des Vorbehalts des Möglichen behaupten, der Staat drohe bei Einhaltung dieses Absolutheitsanspruchs an seinem selbst auferlegten Dogma zu zerbrechen. Bekannterweise führen politische und militärische Konflikte sowie der Hunger auf der Welt zu zunehmender Migration nach Europa und auch nach Deutschland.230 Diese Migration kann den Staat an die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit bringen. Denkbar ist tatsächlich, dass die Migration nach Europa und damit auch nach Deutschland in Zukunft erheblich zunehmen wird. Unabhängig von einem solchen, häufig von populistisch-politischen Strömungen proklamierten Szenario,231 hat jedermann, unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit, der sich in Deutschland aufhält, einen Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums.232 Dieser Anspruch ist migrationspolitisch nicht relativierbar.233 Die Ausschöpfung der staatlichen Mittel kann indes auch durch eine Verarmung weiter Teile der Zivilgesellschaft ausgelöst werden. Nun könnte daran gedacht werden, dass durch die Verfassung vom Gesetzgeber eine Mittelverschaffung sowie eine Aufstockung des Haushalts eingefordert werden kann, denn das Verfassungsrecht darf sich den ökonomischen Realverhältnissen nicht unterwerfen und sich nicht 228 BVerfGE 35, 79 (153); BVerfGE 125, 175 (204); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 118; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 375; Lübbe-Wolff, JöR 2005, 1 (5); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Rn. 189. 229 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 354. 230 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Migrationsbericht 2019, S. 38; Luft, Die Flüchtlingskrise, S. 12, 15. 231 Hierzu beispielsweise das Wahlprogramm der Partei Alternative für Deutschland für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag: „Millionen von Menschen [. . .] können weder ökonomisch, noch sozial- und integrationspolitisch in Europa aufgefangen werden“, S. 90. 232 BVerfGE 132, 134 (159). 233 BVerfGE 132, 134 (173).

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von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig machen.234 Wenn sich die Menschenwürde sowie wirtschaftliche Beweggründe gegenüberstehen, so kann eine Gewichtung nur zu Gunsten der Menschenwürde ausfallen, denn nach dem Menschenbild, das der Verfassung zugrunde liegt, ist der Staat um des Menschen Willen da und nicht umgekehrt,235 die Wirtschaft daher kein Selbstzweck, sondern stets Mittel zum Zweck, das dem Wohl(-stand) der Menschen dienlich sein soll. Vertreten wird zum Teil, dass die Problemlösung auch nicht in einer Umformung der Gesellschaft durch staatliche Aneignung der Produktionsmittel und steuerfinanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Wohnraumbeschaffung durch Enteignung in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft liegen könne.236 Doch kann einer erheblichen sozialen Schieflage in der Bevölkerung auf unterschiedliche Weise begegnet werden. Auch eine Vermögensumverteilung, zum Beispiel durch die Erhebung einer Vermögenssteuer, ist denkbar. Als äußerstes Mittel wird allzu oft der Rückgriff auf Art. 15 GG übersehen, obwohl die Norm Teil des geltenden Verfassungsrechts ist. Art. 15 GG gestattet dabei nicht nur die Vergesellschaftung von Grund und Boden, sondern auch die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln. Generell können knappe Haushaltskassen nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes führen. Eine Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staatshaushalts ist vielmehr Ausdruck eines zu geringen Haushalts, dessen finanzielle Leistungsfähigkeit durch Steuererhöhungen wieder kostendeckend ausgestattet werden muss. Eine Erhöhung des Haushaltsetats ist jedoch in der Regel nur mittelfristig mit Verabschiedung eines neuen Haushaltsgesetzes möglich. Aus diesem Grund sind für kurzfristige Maßnahmen zur Erfüllung des Existenzminimums Einsparungen in anderen, mitunter grundrechtsrelevanten Bereichen erforderlich, was konfliktbehaftet ist, da das Haushaltsrecht im Gefüge der Gewaltenteilung eine originäre Kompetenz der Legislative ist.237 Damit ist gemeint, dass die Anerkennung von einklagbaren Leistungsansprüchen sowie sozialen Schutzpflichten dazu führt, dass im Haushalt bereitgestellte Mittel in anderen Bereichen gestrichen werden müssten, um das menschenwürdige Existenzminimum gewähren zu können. Mit anderen Worten ausgedrückt lautet der Vorwurf, dass sich das Bundesverfassungsgericht dadurch zu sehr in die Belange des Gesetzgebers einmischt, der die Haushaltsmittel nach seiner autonomen Gewichtung den verschiedenen Empfängern wie Ministerien zuordnet. Diese mittelbaren Auswirkungen

234

So auch Luthe, Optimierende Sozialgestaltung, S. 328. So ausdrücklich noch in Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Rn. 12. 236 Lübbe-Wolff, JöR 2005, 1 (7); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 398. 237 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 355. 235

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auf den Haushaltsplan der Legislative sind indes nicht vermeidbar, wenn ein Verfassungsstaat der Bevölkerung subjektiv-öffentliche Grundrechte gewährt, denn diese sind die Folge einer jeden Grundrechtsfunktion. Finanzielle Auswirkungen auf den Haushaltsplan haben namentlich auch grundrechtliche Abwehrrechte. Beispielsweise kann die verfassungswidrige Enteignung eines Grundstücks zum Bau einer Straße für den Staat mit erheblichen Mehrkosten verbunden sein, wenn die beabsichtigte Straße fortan einen Umweg um das Grundstück nehmen muss. Genauso kann die Erhebung einer verfassungswidrigen Steuer zu einer enormen Haushaltslücke führen, so dass an anderer Stelle Einsparungen vorgenommen werden müssen. Folglich bleibt festzuhalten, dass Grundrechte für den Staatshaushalt stets mit Kosten verbunden sind. Die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Staates kann in seltenen und derzeit nur hypothetisch denkbaren Szenarien eines Staatsbankrotts temporär begrenzt sein. Dennoch sollte eine solche Anerkennung des Vorbehalts des Möglichen im Rahmen des Leistungsrechts nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber sich vorschnell auf diese Ausnahme berufen kann, um sich seiner grundrechtlichen Verantwortung zu entziehen. Auch darf diese Relativierung der Menschenwürde nur als äußerstes Mittel bei einem drohenden Staatsbankrott eingesetzt werden. Insofern muss der Vorbehalt des Möglichen der vollen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung offenstehen. Auf die Schutzpflichtfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG, die darin besteht, die Menschen vor sozialer Not zu bewahren, ist der Vorbehalt des Möglichen nicht anwendbar, da trotz einer finanziellen Notlage des Staatshaushalts immer Schutzmaßnahmen denkbar sind, die nicht in einer finanziellen Leistungsgewährung bestehen müssen. Denkbar sind beispielsweise gesamtgesellschaftliche Maßnahmen zur Vermögensumverteilung und – in kleineren Dimensionen – auch diverse Beratungs- sowie Förderangebote. gg) Unbestimmtheit des Schutzumfangs und Unmöglichkeit der Schutzgewährung Für grundrechtliche soziale Leistungsrechte zum Zweck der Existenzsicherung wurde bemängelt, dass sich die Höhe und der Umfang der Leistung tatbestandlich nicht deutlich genug aus Art. 1 Abs. 1 GG ergeben.238 Die gleiche Kritik erstreckt sich auch auf die Schutzdimension, da die Art und die Höhe des Schutzniveaus gleichermaßen unkonkret sind. Die Unbestimmtheit ist dem Umstand geschuldet, dass nicht klar wird, was für ein Maß an sozialem Schutz überhaupt gefordert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Problem in der Hartz IV-Entscheidung ebenfalls erkannt und 238 Huber, in: Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 11. Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 376; Lübbe-Wolff, JöR 2005, 1 (7).

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dem Gesetzgeber bei der Festsetzung der Höhe der Leistung einen Gestaltungsspielraum zugesprochen, die Berechnungsgrundlage für die Bedarfsermittlung jedoch der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung zugänglich gemacht, wobei das Gericht bei der materiellen Kontrolle nur eine Evidenzkontrolle vornimmt.239 Unklar ist, ob sich diese Rechtsgedanken des Urteils auf die soziale Schutzpflicht übertragen lassen. Eine verfassungswidrige Unterschreitung des sozialen menschenwürdigen Existenzminimums als Schutzpflichtverletzung würde demgemäß nur vorliegen, wenn der Staat im betroffenen existenzsichernden Bereich überhaupt keine Schutzmaßnahme ergriffen hat oder aber die ergriffenen Schutzmaßnahmen nach Art und Umfang nicht ausreichen, um das menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten. Hier muss der Gesetzgeber folglich die Art der sozialen Not (Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut etc.), die es zu verhindern gilt, ermitteln. Sodann müssen die Schutzmaßnahmen, bei denen der Gesetzgeber ein Auswahl- und Gestaltungsspielraum hat, für das Gericht formell nachvollziehbar und schlüssig sein sowie in Hinblick auf die vom Gesetzgeber festgesetzten Ziele auch wirksam sein, wobei das Untermaßverbot anzuwenden ist.240 All diese Erwägungen und Maßstäbe, die zur Bewältigung der Unbestimmtheit einer Schutzpflicht herangezogen werden sollten, beziehen sich jedoch auf den Komplex der möglichen Schutzpflichtverletzung und die dort anzuwendende Prüfungsdichte. Das Bestehen von sozialen Schutzpflichten im engen Rahmen des menschenwürdigen Existenzminimums kann davon indes nicht abhängig gemacht werden. Darüber hinaus wurde die Schwäche eines sozialen Leistungsrechts darin gesehen, dass der Staat keinen Zugriff auf die zu gewährleistenden Güter wie beispielsweise Wohnungen, Arbeitsplätze, Nahrung und finanzielle Mittel habe, da sich diese vorrangig in privater Hand befinden.241 Dieser Gedanke verdient Zustimmung, denn in unserer Gesellschaft verfügen und gestalten überwiegend private Akteure über die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie besitzen die notwendigen Mittel, welche für eine menschenwürdige Existenzsicherung in Anspruch genommen werden müssten. Dieses tatsächliche Hindernis in Form einer fehlenden Verfügungsgewalt besteht in der Schutzpflichtkonstellation gerade nicht. 239

BVerfGE 125, 175 (222, 224); BVerfGE 132, 134 (62, 67). Das menschenwürdige Existenzminimum fällt mit der Untermaßverbotsschwelle zusammen. Für das inhaltliche Prüfungsprogramm hierfür siehe unter III. 3. c) bb) – III. 2. c) bb) (5). Das Prüfungsprogramm bedarf im Fall des Existenzminimums der Modifikation, dass die Wirksamkeit der ergriffenen Schutzmaßnahmen am festgesetzten Schutzziel des Gesetzgebers gemessen werden muss. 241 Huber, in: Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 11; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 24; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 376 f., 398, 401. 240

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Hierin zeigt sich vielmehr die Stärke der Ausgestaltung des sozial-menschenwürdigen Existenzminimums als Schutzpflicht, da die Schutzpflicht vom Staat lediglich die Verpflichtung einfordert, Maßnahmen zur Sicherung des Existenzminimums zu ergreifen, die nicht in einem Leistungsverschaffungsanspruch bestehen müssen. Die Schutzmaßnahmen können bezüglich des Schutzes vor Arbeitslosigkeit zum Beispiel in Förder- und Wiedereingliederungsmaßnahmen und in Kooperation mit der Arbeitgeberschaft, einer Förderung von Gewerkschaften, aber auch in Anreizen und Entlastungen für die Arbeitgeberschaft bestehen. Wohnungslosigkeit kann durch soziale Vorschriften des Mietrechts, staatlicher Bautätigkeit durch kommunale Wohnungsgesellschaften, Regulierung des Mietzinses sowie einer Beschränkung von Bodenspekulationen vermindert werden, um nur einige Alternativen zu nennen. Extremer Armut kann unter anderem mit einer Änderung des Steuerrechts, einer Erhöhung des Mindestlohns oder einer staatlichen existenzsichernden Alterssicherung begegnet werden, was nicht mit einer Belastung des Staatshaushalts verbunden sein muss. Somit zeigt sich, dass die für das Leistungsrecht bestehende Kritik nicht auf die Schutzdimension eines sozialen Grundrechts durchgreift. hh) Folgen einer Anerkennung eines sozialen Grundrechts für die Schutzpflicht Nach alldem muss erläutert werden, worin das Neue in der Anerkennung von sozialen Grundrechten bezogen auf die Schutzpflicht liegt. Das Neue an dieser Betrachtungsweise besteht darin, dass Schutzpflichten weit über das Leistungsrecht hinausgehen. Hierin zeigt sich sogleich die praktische Relevanz: Erfasst sind nicht nur Sozialleistungen in Form von staatlichen Leistungsgewährungen wie klassischerweise Transferleistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Vielmehr werden von der Schutzpflicht, wenn das menschenwürdige Existenzminimum als absolute Ausprägung der Menschenwürde und zugleich als Höchstwert der Verfassung verstanden wird, auch Lebensbereiche geschützt werden müssen, die sich dem Grundrechtsschutz bisher verschlossen haben. Genannt wurden schon der Schutz vor Wohnungslosigkeit, Schutz vor Arbeitslosigkeit sowie der Schutz vor Armut. Das Rekurrieren allein auf das Leistungsrecht ist wegen der Begrenztheit der vorhandenen Ressourcen nicht in der Lage, dem Schutzbedürfnis existenzsichernd nachzukommen. Die Schutzpflicht ist jedoch in der Lage, diese Schutzlücken im Wirksystem der Grundrechte zu schließen, da Schutz vor Arbeitslosigkeit, vor Wohnungslosigkeit und vor Armut unabhängig von staatlichen Transferleistungen durch vielfältige staatliche Maßnahmen umgesetzt werden kann. Das menschenwürdige Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG wird folglich zum Motor der sozialen Schutzpflichten, was die neue Betrachtungsweise im Kern ausmacht.

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d) Ökologische grundrechtliche Schutzpflichten Die Frage, ob das Grundgesetz ein Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum enthält, ist nicht neu und ist besonders durch den aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Bundes-Klimaschutzgesetz wieder diskutiert worden. Im Beschluss wurde die Frage, ob das Grundgesetz ein ökologisches Existenzminimum vorsieht, ausdrücklich offengelassen.242 Auch in der Literatur ist die Diskussion um ein Umweltgrundrecht im Zuge des vom Bundesverfassungsgericht ergangenen Klimaschutz-Beschlusses wieder entflammt.243 aa) Ablehnung eines Umweltgrundrechts Fest steht jedenfalls, dass ein eigenständiges Umweltgrundrecht, das seinerseits wiederum Schutzpflichten auslösen könnte, bisher nicht existiert.244 Bemühungen, ein Umweltgrundrecht einzuführen, sind gescheitert.245 Folglich sind der Arten- und Tierschutz sowie weite Teile des Natur- und Landschaftsschutzes damit nicht grundrechtlich geschützt.246 Dieser Befund mag generell positiv oder negativ bewertet werden, er entzieht sich jedoch einer verfassungsrechtlich-juristischen Einschätzung, die sich darauf beschränkt, Verfassungsnormen anzuwenden. In Ermangelung der Herleitung eines Umweltgrundrechts aus dem Grundgesetz ist der Judikative dieser Weg verschlossen. Folglich bleibt die Entscheidung, ein Umweltgrundrecht in die Verfassung aufzunehmen, eine rechtspolitische Frage, worüber der verfassungsgebende Gesetzgeber entscheiden muss.247 Klinger und Calliess haben Argumente für die Aufnahme eines Umweltgrundrechts in den Verfassungstext dargelegt, die hauptsächlich in einer Verbesserung des Umweltschutzniveaus insgesamt liegen würden.248 Für den Fall, dass ein solches Grundrecht durch die Legislative begründet werden sollte, so müsste das Festhalten am Dogma des subjektiv-öffentlichen Rechts als Rechtsschutzvoraussetzung punktuell aufgelöst werden. bb) Voraussetzungen für die Annahme eines ökologischen Existenzminimums Hingegen wird das ökologische Existenzminimum, das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird, in der Literatur 242

BVerfG, NJW 2021, 1723 (1727). Klinger, ZUR 2021, 257 f.; Calliess, ZUR 2021, 323–332. 244 BVerwGE 54, 211 (220 f.); Dellmann, DÖV 1975, 588 (589 ff.); Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 28; Benda, UPR 1982, 241 (242 ff.); Sendler, JuS 1983, 255 (258); Steinberg, NJW 1996, 1985 (1986); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 307. 245 Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht; § 2 Rn. 9; Kotulla, Umweltrecht, S. 46. 246 Calliess, ZUR 2021, 323 (325). 247 So auch Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 30 f. 248 Klinger, ZUR 2021, 257–258; Calliess, ZUR 2021, 323–332. 243

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überwiegend befürwortet.249 Zum Teil wird neben Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zusätzlich auf Art. 20a GG rekurriert.250 Die Idee dieses denkbaren Grundrechts ist somit nicht neu, die Verankerung in der Schutzpflicht hingegen schon251, da der Schutz in erster Linie über staatliche Schutzpflichten zu gewähren wäre, weil die Umweltbeeinträchtigungen meistens von Privaten oder Unternehmen ausgehen. Aber auch dem Staat als „Störer“ kommt ein Eingriffsverbot zu, das mit dem Abwehrrecht geltend gemacht werden könnte. Das ökologische Existenzminimum könnte inhaltlich eine Schutzpflicht enthalten, die den Staat verpflichtet, eine saubere252 und menschenwürdige253 Umwelt zu schaffen, zu erhalten oder wiederherzustellen, in der die Grundrechtsträger nicht eine der Umwelt geschuldete Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes oder gar um ihr Leben fürchten müssen. Was die Konkretisierung des Schutzbereichs anbelangt, so wurde vorgeschlagen, den Schutzgehalt auf notwendige Existenzvoraussetzungen wie atembare Luft, trinkbares Wasser und essbare Lebensmittel zu begrenzen.254 Doch ist damit noch keine Aussage darüber getroffen, ob das ökologische Existenzminimum als eigenständiges und schon in der Verfassung angelegtes Grundrecht zu interpretieren ist. Vorrangig ist dafür zu erwägen, welche Voraussetzungen für die verfassungsgerichtliche Schaffung und Anerkennung eines neuen Grundrechts, wie das ökologische grundrechtliche Existenzminimum eines darstellt, vorliegen müssen. Laut Bundesverfassungsgericht muss für eine richterliche Rechtsfortbildung als Akt des Richters zur „schöpferischen Rechtsfindung“ zuerst eine aktuelle Lücke im System des Grundrechtschutzes bestehen, wie schon in der Soraya-Entscheidung erklärt wurde.255 Auf das für die Anerkennung neuer Grundrechte nötige Hauptkriterium einer Schutzlücke hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehr-

249 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 116; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 229; Bock, Umweltschutz im Spiegel von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 121; Gärditz, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Art. 20a Rn. 78; Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 227; Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20a Rn. 8; Luthe, in: FS für Frank, S. 77 (90); ablehnend: Voßkuhle, NVwZ 2013, 1 (6); skeptisch: Kotulla, Umweltrecht, S. 46. 250 Calliess, ZUR 2021, 323 (329). 251 Zur Schutzpflichtdimension eines Umweltgrundrechts aber: Bock, Umweltschutz im Spiegel von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 227. 252 Klein, in: FS für Weber, S. 643 ff. 253 Dellmann, DÖV 1975, 588 ff. 254 Bock, Umweltschutz im Spiegel von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, S. 119; Calliess, ZUR 2021, 323 (329); Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2 Rn. 227. 255 BVerfGE 34, 269 (287).

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fach Bezug genommen.256 Am deutlichsten erklärte das Gericht die Schutzlücke in der Entscheidung zum Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme: „Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann.“ 257

Somit hängt die Gewährleistung eines ökologischen Existenzminimums davon ab, ob die bestehenden Grundrechte in ihren sachlichen Schutzbereichen ausreichend vor Umweltbelastungen schützen. cc) Schutzgehalt des ökologischen Existenzminimums Überwiegend wird vertreten, der Schutzgehalt des ökologischen Existenzminimums sei deckungsgleich mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Art. 14 Abs. 1 GG, weshalb es mangels Schutzlücke bedeutungslos sei.258 Demnach wäre der Streit über die Anerkennung des Grundrechts rein akademischer Natur und ohne praktische Relevanz. Eine andere Ansicht vertritt, dass der Schutzgehalt des ökologischen Existenzminimums weniger enthält als der Schutzgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 14 Abs. 1 GG gewährt, weshalb ebenfalls keine eigenständige Bedeutung festgestellt werden kann.259 Zudem wird vertreten, dass der Schutzumfang des ökologischen Existenzminimums über Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinausgehe.260 Calliess argumentiert mit dem Klimawandel, der bei Überschreitung von Kipppunkten zu unumkehrbaren Umweltschäden führt und gar in ein „Verwüstungsszenario“ mündet.261 Zudem konkretisiert Luthe den Gehalt eines solchen Grundrechts: „Das ökologische Existenzminimum ist, anders gesagt, die tatbestandliche Einheit von vorsorgendem Grundrechtsschutz einerseits (Art. 2 Abs. 2 GG) und dem Auftrag 256 Als Begründung für die Schaffung des Grundrechts auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme: BVerfGE 120, 247 (303); ebenso für die Schaffung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung: BVerfGE 65, 1 (42). 257 BVerfGE 120, 247 (303). 258 OVG Lüneburg, NVwZ 1986, 322 (325); Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20a, Rn. 8; Kotulla, KJ 2000, 22 (23); Kotulla, Umweltschutz, S. 46; Calliess, ZUR 2021, 323 (326). 259 Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 18, 29; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 95; Gärditz, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Art. 20a, Rn. 78. 260 Luthe, in: FS für Frank, S. 77 (78–90); Calliess, ZUR 2021, 323, 328 ff. 261 Calliess, ZUR 2021, 323 (330).

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zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen andererseits (Art. 20a GG). Es kommt gerade dort zur Geltung, wo eine konkrete Gesundheitsgefahr nicht besteht.“ 262

dd) Stellungnahme Die Auffassung, dass sich das ökologische Existenzminimum vom bestehenden Schutzsystem der Grundrechte abhebt, vermag nicht zu überzeugen. Schon das von Calliess nicht näher beschriebene, aber durch den Klimawandel prognostizierte Verwüstungsszenario als Beispiel des ökologischen Existenzminimums lässt die Frage unbeantwortet, worin das „Mehr“ an Schutz gegenüber dem bestehenden Schutzgehalten der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 14 Abs. 1 GG liegen soll. Denn die Vorsorge vor dem Klimawandel geschuldete Gesundheitsgefahren und Gesundheitsrisiken geht bereits vollständig im Schutzgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 14 Abs. 1 GG auf, weshalb für ein eigenständiges Grundrecht als ökologisches Existenzminimum kein Schutzbedarf besteht, was jedoch als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal Voraussetzung für die Schaffung eines neuen Grundrechts ist. Darüber hinaus geriete dieses Grundrecht in einen Kollisionskonflikt mit den bestehenden Grundrechten, was zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen würde.263 Luthes Interpretation ist entgegenzuhalten, dass sie ebenfalls keine hinreichende Gewichtung der bisherigen Verfassungsjudikatur zur staatlichen Schutzpflicht vornimmt. Denn sogar die Vorsorge vor (Umwelt-)Risiken264 wird über das Grundrecht des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aktiviert, wie bereits im Kalkar I-Beschluss und im MülheimKärlich-Beschluss zum Ausdruck gebracht wurde.265 Auf eine konkrete Gefahr kommt es für den bestehenden Grundrechtsschutz demnach nicht an. Umweltbelastungen, welche die notwendigen Existenzvoraussetzungen wie atembare Luft, trinkbares Wasser und essbare Lebensmittel bedrohen, können ebenfalls über die Abwehr- und Schutzfunktion des Grundrechts auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit geschützt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, dass ökologische Mindeststandards bereits durch die bestehenden Grundrechte sichergestellt werden.266 Gesundheits- und eigentumsrelevanter Schutz vor Umweltbelastungen geht somit schon als umweltschützende Teilgewährleistung im Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und des Art. 14 Abs. 1 GG auf. Insgesamt ist mithin kein ei262

Luthe, in: FS für Frank, S. 77 (87). Hierauf weist zutreffend hin: Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 36 f. 264 Hierzu unter C. II. 2. d). 265 BVerfGE 49, 89 (139, 143); BVerfGE 53, 30 (59). 266 BVerfG, NJW 2021, 1723 (1727). 263

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genständiger Schutzgehalt des ökologischen Existenzminimums identifizierbar, der über die bestehenden Grundrechtsgewährleistungsgehalte hinausgeht. Folglich ist die vorsätzliche Einführung eines solchen viel diskutierten Grundrechts durch das Bundesverfassungsgericht mangels Schutzbedarf abzulehnen. e) Zwischenergebnis Wie gezeigt werden konnte, beinhalten sämtliche Grundrechte eine Schutzdimension, die staatliche Schutzpflichten auslösen können. Im Rahmen des sozialen Existenzminimums konnten zudem soziale Grundrechte identifiziert, hergeleitet und in ihrer Schutzfunktion mobilisiert werden. Nur für das ökologische Existenzminimum sind Schutzpflichten wegen eines fehlenden Schutzbedarfs gegenwärtig nicht anzuerkennen. 2. Einwirkung auf das grundrechtliche Schutzgut In der abwehrrechtlichen Konstellation bedeutet ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts immer, dass eine Grundrechtsgutsbeeinträchtigung vorliegt. In Schutzpflichtenkonstellationen besteht hingegen niemals ein staatlicher Eingriff. Die Schutzguteinwirkung erfolgt durch das Verhalten von Dritten oder durch umweltbedingte Zustände. Die Einwirkung auf das Grundrechtsgut von nichtstaatlicher Seite muss bereits auf der ersten Prüfungsebene festgestellt werden, weil die Grundrechtsbeeinträchtigung die zentrale Voraussetzung für das Bestehen einer konkreten Schutzpflicht ist. Teile der Literatur verwenden anstatt der Bezeichnung „Einwirkung“ den „Übergriff eines Privaten“ 267, was der Begriff der Einwirkung ebenfalls beinhaltet. Diese Auffassung schließt äußere, nicht durch unmittelbar durch die Menschen ausgelöste Einflüsse der Umwelt und auch Beeinträchtigungen durch ausländische Gewalten generell aus der Schutzdimension aus. Anders ausgedrückt versuchen die Vertreter des „privaten Übergriffs“ die staatliche Verantwortung zu beschränken. Der Begriff der Einwirkung ist indes umfassender, da dieser nach der hier vertretenen Ansicht268 auch umweltbedingte Einflüsse, wie die Auswirkungen von Naturkatastrophen, erfasst, weshalb eher von „Einwirkung“ gesprochen werden sollte. 267 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, Vorb. Rn. 101; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 317; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 27; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 231. 268 Das Bundesverfassungsgericht scheint aus der Umwelt herrührende Grundrechtseinwirkungen ebenfalls als von der staatlichen Schutzpflicht erfasst anzusehen: BVerfGE, NJW 1987, 2287 (2287); gleichfalls für die Integration der Auswirkungen von Naturgewalten in die Schutzdimension etwa: Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 98; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 76.

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Völlig verfehlt wäre es jedoch, schon bei der Prüfung der Einwirkung auf das Schutzgut von Grundrechtsverletzungen zu sprechen, denn eine Grundrechtsverletzung beinhaltet auch in der Schutzpflichtdimension, dass kein hinreichendes Schutzniveau besteht, was jedoch erst auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung ermittelt werden kann. Somit stellt sich die Frage, wann schädigende oder gefährdende Verhaltensweisen oder Zustände Schutzpflichten begründen. a) Schäden am grundrechtlichen Schutzgut Nach dem klassischen Verständnis der Grundrechte in ihrer Schutzdimension zielt der Grundrechtsschutz darauf ab, dass Schutzpflichtverletzungen, die wegen staatlicher Untätigkeit bestehen, beendet werden sollen. Diese Schutzfunktion beschränkt sich demnach auf eine Verhinderung von Grundrechtsverletzungen für die Zukunft, indem beispielsweise eine Verhaltensweise durch Strafnormen sanktioniert wird oder für ordnungswidrig erklärt und mithin verboten wird.269 Bereits eingetretene Grundrechtsschäden können dadurch jedoch nicht mehr rückwirkend beseitigt werden. Insofern hat die staatliche Schutzpflicht auch eine in die Zukunft gerichtete negatorische Funktion. Beim verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen Grundrechtsverletzungen handelt es sich allgemein meistens um einen zeitlich nachgelagerten Grundrechtsschutz, um mögliche Grundrechtsverletzungen zu beenden und in der Zukunft von Grundrechtsbeeinträchtigungen verschont zu werden. Dies wird mit Blick auf die abwehrrechtliche Grundrechtsfunktion besonders deutlich. Murswiek sowie Rixen unterteilen Schutzpflichten in primäre und sekundäre Schutzpflichten. Staatliche Verbote gegen „Eingriffe“ Dritter qualifiziert er als primäre Schutzpflichten.270 Des Weiteren wird der Schutzanspruch der Grundrechtsträger auf die sogenannten sekundären Schutzpflichten ausgeweitet, die darin bestehen, dass für die Durchsetzung von Verboten von Grundrechtsbeeinträchtigungen ein effektiver Rechtsweg offenstehen muss.271 Zu nennen ist in dem Zusammenhang auch der Grundrechtsschutz durch Verfahren, etwa bei großen Bauprojekten, bei denen die Öffentlichkeit beteiligt werden muss. Darüber hinaus fallen in diese Kategorie Störungsbeseitigungsansprüche ebenso wie Schadensersatzansprüche, aber auch der Schutz durch das Polizei- und Ordnungsrecht.272 Diese Einteilung wird von der übrigen Literatur – soweit ersichtlich – nicht vorgenommen. Für das Bestehen einer Schutzpflicht ist diese Unterteilung ohnehin bedeutungslos. Murswiek und Rixen verkennen zudem, dass erst auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung untersucht wird, wie eine staatliche 269

Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 119. Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 108; Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 29 f. 271 Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 30. 272 Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 111–119. 270

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Schutzpflicht umgesetzt werden muss, ob also das bestehende Schutzkonzept dem verfassungsrechtlichen Schutzanspruch genügt. Werden Grundrechte durch staatliche Untätigkeit tatsächlich beeinträchtigt, so besteht jedenfalls stets eine konkrete Schutzpflicht. Verwirklichte Grundrechtsschäden stellen in der verfassungsgerichtlichen Praxis der Schutzpflichten die zahlenmäßige Ausnahme dar, weil die bestehende Rechtsordnung offenkundig hinreichend vor „Eingriffen“ von dritter Seite in die Grundrechtsgüter der Schutzbedürftigen schützt.273 Meistens fehlen gesicherte Kausalbelege über die Ursachen- und Wirkungszusammenhänge zwischen Beeinträchtigungen Privater und möglichen Schädigungen der Grundrechtsberechtigten oder es bestehen Prognoseunsicherheiten, ob und wann Grundrechte verletzt werden. Bestehende und gesicherte Grundrechtsschäden sind wohl aus diesem Grund bisher noch nie Verfahrensgegenstand bei gerügten Schutzpflichtverletzungen gewesen. Hierin unterscheidet sich die Schutzpflicht abermals deutlich vom Abwehrrecht, bei denen fast immer Grundrechtsverletzungen Beschwerdegegenstand sind. b) Grundrechtsgefährdungen Eine verwirklichte Grundrechtsverletzung des Individuums im klassischen Sinne der Grundrechtsdogmatik durch Untätigkeit des Staates ist indes meistens auch ungeachtet des mehrpoligen Verfassungsverhältnisses zwischen Staat, Störern und potenziellen Opfern nicht gegeben. Die Grundrechte werden in ihrer Ausprägung als Schutzgüter mit dynamischer Intensität von privaten Akteuren bedroht. Solche Bedrohungen können Grundrechtsgefährdungen darstellen, die dem vorbeugenden Grundrechtsschutz unterfallen könnten.274 Mehr noch: In ihrer präventiven Funktion zur Vermeidung von Grundrechtsgefahren wird die staatliche Schutzpflicht am häufigsten rekurriert, was in der abwehrrechtlichen Dimension bekanntlich die Ausnahme ist.275 Grundrechtsgefährdungen setzen im Gegensatz zur verwirklichten Grundrechtsverletzung zeitlich vorgelagert an. Sie können, wie noch gezeigt werden wird, eine präventive Schutzfunktion aktivieren.276 273 Zu Recht hat Krings darauf hingewiesen, dass Verhaltensweisen, welche die Freiheitsrechte beeinträchtigen, nicht als Eingriff bezeichnet werden sollten: Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 26. 274 Fisahn, in: Kotulla, Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 38, Rn. 24. 275 Vgl. BVerfGE 140, 42 (58); um den Grundrechtsschutz der Schutzbedürftigen nicht zu beschränken, sollten die Zulässigkeitsanforderungen an die gegenwärtige Betroffenheit bei Verfassungsbeschwerden nicht zu streng sein. Demgemäß sollte die Möglichkeit einer behaupteten Grundrechtsgefährdung auf der Ebene der Zulässigkeit genügen. 276 Eine präventive Schutzfunktion spricht auch Epping der Schutzpflicht zu: Epping, Grundrechte, Rn. 124.

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Unter welchen Voraussetzungen Grundrechtsgefährdungen dem Grundrechtsschutz unterfallen, bedarf dabei einer eingehenden Prüfung: Was das Bundesverfassungsgericht unter einer Grundrechtsgefahr versteht und welche Gefahrenschwelle für eine drohende Gesundheitsschädigung eine staatliche Schutzpflicht auslöst, muss aus verfassungsrechtlicher Sicht diskutiert werden. Grundrechtsgefährdungen sind in der Literatur bisher nur selten Gegenstand einer wissenschaftlich tiefgehenden Auseinandersetzung gewesen. Im Grundgesetz findet sich ebenfalls kein expliziter Ankerpunkt, dass auch Grundrechtsgefahren verfassungswidrig sein können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum ersten Mal im Kalkar I-Beschluss, im Rahmen von Bedrohungen durch Kernenergie, zu Grundrechtsgefährdungen geäußert.277 Grundrechtsgefährdungen können demnach unter bestimmten Umständen Grundrechtsverletzungen gleichstehen. Inzwischen ist diese Auffassung ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geworden.278 Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht zugleich, dass Grundrechtsgefährdungen grundsätzlich im Vorfeld verfassungsrechtlich erheblicher Grundrechtsbeeinträchtigungen liegen.279 Bisher hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht abschließend darüber entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine verfassungsrechtlich erhebliche Grundrechtsgefährdung einer Grundrechtsverletzung gleichkommt, was es selbst sogar zugesteht.280 Ob eine Grundrechtsgefährdung dennoch einer Grundrechtsverletzung entspricht, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie den bestehenden Regelungen ab.281 Ursprünglich hat das Bundesverfassungsgericht den grundrechtlichen Gefahrenbegriff aus dem Umwelt- und Technikrecht entnommen. Im Kalkar-I-Beschluss und im Mülheim-Kärlich-Beschluss wurden Grundrechtsgefährdungen anerkannt.282 Zwar gilt im Umweltrecht das Prinzip der Abwehr von Umweltgefahren sowie das Vorsorgeprinzip, allerdings bietet das Umwelt- und Technik277

BVerfG, NJW 1979, 359 (363). BVerfGE 56, 54 (78); BVerfGE 77, 170 (220); BVerfG, NVwZ 2009, 1489 (1489). 279 BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfG, NJW 1979, 2349 (2350); BVerfG, NJW 1997, 2509 (2509). 280 BVerfGE 77, 170 (220). 281 BVerfG, NJW 1979, 359 (363). 282 BVerfGE 49, 89 (143); BVerfGE 53, 30 (59); hierzu genauer unter C. II. 2. d) aa) (1). 278

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recht kein gefestigtes, durch Gesetzgebung, Richterschaft und Lehre283 geschaffenes feinmaschiges Regelwerk über den Gefahrenbegriff, wie dies bekanntermaßen im Polizei- und Ordnungsrecht der Fall ist. Auch das Umwelt- und Technikrecht hat sich maßgeblich aus dem Polizeirecht und teilweise aus dem Gewerberecht entwickelt.284 Dies betrifft vor allem die Eingriffsinstrumente zur Gefahrenabwehr und die Störerauswahl.285 Somit finden die Entwicklungslinien des verfassungsrechtlichen Schutzanspruchs vor Grundrechtsgefahren ihren Ursprung im Polizei- und Gewerberecht. Wenn die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Gefahr im Verfassungsrecht vorgenommen wird, bietet das Polizei- und Ordnungsrecht damit inhaltlich die Grundlage, um den Zustand, in dem sich ein Rechtsgut befindet, zu beschreiben.286 Dies liegt auch daran, dass eine eigenständige Kasuistik des Gefahrenbegriffs im Umwelt- und Technikrecht bisher fehlt. Dieser Umstand soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gefahrenbegriff zu modifizieren ist, worauf an späterer Stelle noch genauer eingegangen wird. Kein Institut bietet das Polizei- und Ordnungsrecht hingegen für die Bewältigung des Schutzbedürfnisses vor Grundrechtsrisiken.287 aa) Erläuterung der Rechtsbegriffe Gefahr, Risiko, Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge Bevor nachfolgend auf die Notwendigkeit und die Herleitung von Grundrechtsschutz vor Grundrechtsgefahren sowie den Bereich der Vorsorge eingegangen wird, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung und Abgrenzung der unterschiedlichen, von der Rechtsprechung und Literatur verwendeten Begrifflichkeiten der Gefahr, des Risikos sowie der Gefahren- und Risikovorsorge vorzunehmen. Umgangssprachlich werden die Begrifflichkeiten der Gefahr und des Risikos häufig synonym verwendet, um mögliche künftige Nachteile oder Schäden zu beschreiben. Das Verständnis der Begriffe der Gefahr und des Risikos zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten unterscheidet sich erheblich voneinander. Beispielsweise liegt nach dem Soziologen Luhmann ein Risiko vor, „wenn ein möglicher Schaden um eines Vorteils willen in Kauf genommen wird“, was das 283

Dietrich, in: Fischer/Hilgendorf, Gefahr, S. 69 (70); Krüger, JuS 2013, 985 (987). Kahl/Gärditz, Umweltrecht, § 4, Rn. 68. 285 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 154. 286 Breuer, DVBl. 1978, 829 (833); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 83; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 236; Kloepfer, DVBl. 1988, 305 (311); Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2, Rn. 49. 287 Hierzu unter C. II. 2. c). 284

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Kriterium enthält, dass eine Entscheidung für oder gegen das Risiko getroffen werden kann.288 Diese Entscheidung muss dem Entscheider selbst zugerechnet werden, während Gefahren oft durch Entscheidungen Dritter gekennzeichnet sind, die Dritten zugerechnet werden und denen Betroffene ausgesetzt werden.289 Jedenfalls bestehe bei Gefahren im Gegensatz zum Risiko keine Möglichkeit der Einflussnahme.290 Dieses Verständnis deckt sich jedoch nicht mit dem juristischen Begriffsverständnis. Wenn in unmittelbarer Nachbarschaft ein Atomkraftwerk errichtet wird, so liegt für die Rechtswissenschaft trotz fehlender Entscheidung der Nachbarschaft über die Frage, ob das Kraftwerk gebaut wird, keine Gefahr vor, sondern ein Risiko. Für Nachbarn, die erst nach der Fertigstellung des Baus entscheiden, in der besagten Nachbarschaft ihren Wohnsitz zu begründen, verwandelt sich das Risiko dadurch nicht in eine Gefahr. Luhmanns Differenzierung zwischen Fremdentscheidung und Selbstentscheidung, aber auch der Möglichkeit der Einflussnahme auf das künftige Geschehen, kann in der Rechtswissenschaft folglich keine Antwort für die Unterscheidung des Risikos und der Gefahr liefern. In der Rechtswissenschaft ist der Vorsorgebegriff noch am einfachsten erfassbar. Die Gefahrenvorsorge kennzeichnet demnach den Bereich, der im Vorfeld einer Gefahr liegt. Übertragen auf das Risiko stellt die Risikovorsorge die Antwort auf das Risiko im Risikovorfeld dar. Das Ziel der Vorsorge besteht darin, das Entstehen von Risiken oder Gefahren zu verhindern. Damit ist die Frage, worin sich die Gefahr vom Risiko unterscheidet, jedoch noch nicht beantwortet. In den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen werden die Begriffe nicht präzise genutzt, wenn im Fluglärm-Beschluss „[. . .] auch eine auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Risikovorsorge von der Schutzpflicht der staatlichen Organe umfaßt werden kann“.291 An anderer Stelle deutet das Gericht an, dass es sich bei der Unterscheidung der Begrifflichkeiten unsicher ist.292 In der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass der Risikobegriff hinter dem Gefahrenbegriff zurückbleibt, denn das Risiko verkörpert Ungewissheiten, die bei der Annahme einer Gefahr nicht vorhanden sind.293 288

Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, S. 129. Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, S. 140. 290 Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, S. 140. 291 BVerfGE 56, 54 (78); so später auch BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 29 und BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3474/08, BeckRS 2009, 40441, Rn. 29. 292 BVerfG, NJW 1979, 359 (363). 293 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 82; Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung, S. 91; Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (64); Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 98 f.; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 382; Klafki, Risiko und Recht, S. 15. 289

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Das genannte Minus des Risikos im Verhältnis zur Gefahr soll in einer geringeren Schadenseintrittswahrscheinlichkeit294, gar in der bloßen Möglichkeit des Schadenseintritts, bestehen.295 Mitunter wird sogar vertreten, Risiken seien weit in der Zukunft liegende, mögliche Schäden.296 Im Gegensatz zur Gefahrensituation beschreibt das Risiko einen Sachverhalt, über den die Entscheidungsträger, aber auch die Wissenschaft, nicht wissen, ob eine Gefahr vorliegt – und objektiv bisher auch nicht ergründbar ist. Jaeckel beschreibt die Funktion des Risikos darin, die Erkenntnisgrenzen des menschlichen Wissens zu regeln.297 Trotz des Versuchs der Differenzierung anhand des Kriteriums der Ungewissheit sollte beachtet werden, dass sich die Begriffe der Gefahr und des Risikos häufig nicht klar trennen lassen, da die Grenzen fließend sind. Dies wird bei der Beleuchtung von Gefahrensituationen erkennbar, in denen in aller Regel ebenfalls Ungewissheiten enthalten sind.298 Ob von einem im Wasserschutzgebiet aufgestellten Öltank im Einzelfall eine Gefahr für das Grundwasser ausgeht, ist ungewiss.299 Es besteht kein Wissen darüber, ob das Öl aus dem Tank entrinnt, wann ein Leck entsteht und wie wahrscheinlich ein Austreten des Öls ist. Der Öltank kann entweder gefährlich sein, genauso aber auch ungefährlich. Versperrte Fluchtwege verkörpern ebenfalls nicht per se eine Gefahr, da erhebliche Unsicherheiten über die zeitliche Nähe eines Schadens, über die konkreten drohenden Schäden sowie den Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit bestehen. Solche Fälle werden trotzdem als klassische Gefahren qualifiziert. Hier von Risiken zu sprechen, würde von Rechtswissenschaftlern abgelehnt werden. Demnach kann eine gewisse Prognoseunsicherheit nicht das entscheidende Differenzierungskriterium zwischen der Gefahr und dem Risiko sein. Bestimmte Unsicherheiten sind daher unentrinnbar, sie bestehen bei Gefahrenbeurteilungen meistens. Was die vermeintlich geringere Schadenseintrittswahrscheinlichkeit als mögliches Merkmal des Risikos betrifft, so können selbst die entferntesten Gefahren von sehr geringer Eintrittswahrscheinlichkeit als Gefahren qualifiziert werden, 294 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 85; Kahl, JA 2021, 117 (120). 295 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 82; Breuer, NVwZ 1990, 211 (213); Jaeckel, JZ 2011, 116 (117); Krause, NVwZ 2009, 496 (497). 296 Klafki, Risiko und Recht, S. 9. 297 Jaeckel, JZ 2011, 116 (120). 298 Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (64); Voßkuhle, JuS 2007, 908 (909); Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 172. 299 Zum Sachverhalt BVerwG, NJW 1970, 1890.

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wenn aufgrund des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität (Je-desto-Formel) die erwarteten Schäden ein großes Ausmaß haben und die Schadenshöhe als hoch einzuordnen ist. Der Grad der Schadenswahrscheinlichkeit ist folglich auch kein geeignetes Differenzierungselement. Genauso wenig kann der Ansatz überzeugen, Risiken seien weit in der Zukunft liegende mögliche Gefahren, da über die zeitliche Komponente des möglichen Schadenseintritts Ungewissheit herrscht. Folglich kann der mögliche Schaden tatsächlich unmittelbar bevorstehen, in weiter Zukunft liegen oder nie eintreten, wobei über das zeitliche Moment keine Kenntnis besteht. Definiert wird die Gefahr als eine Sachlage oder ein Verhalten, welches bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird.300 Die Gefahr kann damit durch fünf Elemente beschrieben werden: die Wahrscheinlichkeit (1) einer Verursachung (2) eines kausalen (3) Schadens (4) in naher Zukunft (5).301 Sind eines der Merkmale oder gleich mehrere gänzlich ungewiss, so handelt es sich jedenfalls um Gefahrenvorsorge oder um ein Risiko, wobei beide Fallgruppen dem vorbeugenden Grundrechtsschutz unterfallen müssen, damit Grundrechtsgefahren gar nicht erst entstehen. Im Fall der Gefahrenvorsorge hat der Staat sogar die Kenntnis über die Unvollständigkeit der Sachverhaltsaufklärung.302 Die Gefahrenvorsorge begründet somit eine Situation der Ungewissheit.303 Zusätzlich ist für die Annahme einer Gefahrenvorsorge klassischerweise erforderlich, dass durch Aufklärung mittels Beschaffung weiterer Informationen mutmaßlich ein Wahrscheinlichkeitsurteil über den Schadenseintritt gebildet werden kann.304 Demnach ist Gefahrenvorsorge in Ermangelung einer hinreichend sicheren Prognoseentscheidung rechtstechnisch keine Gefahr im klassischen Verständnis, obwohl dies teilweise behauptet wird.305 Üblicherweise bestehen bei der Frage, ob vom Terrorismus konkrete Gefahren in Form von Anschlägen bevorstehen, Ungewissheiten. Diese Informationsdefi300

Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 108; Krüger, JuS 2013, 985 (985 f.). PrOVG 16, 125 f.; Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 12; Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (64). 302 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 75; Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 70. 303 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 196. 304 Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 69. 305 Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 386; Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, § 8, Rn. 51. 301

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zite können jedoch durch Gefahrerforschungseingriffe zum Zweck der Informationsbeschaffung beseitigt werden. Hierin unterscheidet sich der Rechtsbegriff des Risikos erneut von der Gefahr, weil die risikospezifischen Ungewissheiten bis auf Weiteres nicht durch weitergehende Wissensbeschaffungen in absehbarer Zeit beseitigt werden können, was der Begrenztheit des weltweiten Wissens auf dem Gebiet des Umwelt- und Technikrechts geschuldet ist.306 Die neuartigen Risiken der Großtechnologien sowie der Großindustrie gehen mit weiteren Unsicherheiten einher, die sich von der Gefahrenvorsorge unterscheiden. So bestehen Unsicherheiten nicht nur bei einem der fünf Gefahrenelemente, sondern es sind stets mindestens gleich mehrere, wenn nicht sogar alle Elemente von Ungewissheit betroffen. Bei einer beabsichtigten Kernfusion, als Beispiel der neuartigen Technologien, an der unter anderem in der Experimentieranlage Wendelstein 7-X in Greifswald geforscht wird, ist gänzlich ungewiss, ob, wann und welche Schäden der Bevölkerung drohen. Auch der Grad der Wahrscheinlichkeit von Schadenseintritten kann nicht bestimmt werden. Zudem können die Kausalzusammenhänge – die hier an Komplexität zugenommen haben – und das Ausmaß der möglichen Schäden nicht konkretisiert werden. Zu einfach macht es sich daher ein Teil der Literatur, wenn er Risiken in immissions- und technikrechtlichen Sachverhalten der Gefahrenvorsorge zuordnet.307 Da Entscheidungen über die Zulassung neuartiger Technologien, die im Ungewissen getroffen werden, unumkehrbare und katastrophale, ja vernichtende Folgen für die Zivilbevölkerung haben können, hat das Bundesverfassungsgericht auch die der staatlichen Entscheidung zeitlich vorgelagerte Risikovorsorge als Reaktion auf drohende Risiken ins Verfassungsrecht übernommen.308 Zuletzt ist noch auf den Begriff des Restrisikos einzugehen, der vom Risiko abgegrenzt werden muss, was sich aus systematischen Gründen jedoch an späterer Stelle anbietet.309 bb) Grundrechtsschutz bei Grundrechtsgefahren Indem Grundrechtsgefährdungen durch das Bundesverfassungsgericht im Allgemeinen in das Vorfeld grundrechtlich erheblicher Grundrechtsbeeinträchtigungen verortet werden, bedient sich das Gericht eines restriktiveren Verständnisses 306

Vgl. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, S. 78. Bender, NJW 1979, 1425 (1426); Schattke, DVBl. 1979, 652 (657); Bender, DÖV 1980, 633 (634); Rauschning, VVDStR Heft 38, S. 167 (193); Lukes/Richter, NJW 1981, 1401 (1408); Martens, DVBl. 1981, 597 (600). 308 Auf diesen Vorgang ist gesondert einzugehen, da eine dogmatische Begründung für die verfassungsrechtliche Erfassung der Vorsorge bisher fehlt. Hierzu mehr unter C. II. 2. d) aa) (1). 309 Hierzu unter C. II. 2. e) – C. II. 2. e) cc). 307

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des übernommenen Gefahrenbegriffs. Grundrechtsgefahren reichen dem Gericht in der Regel nicht aus, um Grundrechtsverletzungen zu entsprechen. Fälle, in denen Grundrechtsgefährdungen Grundrechtsverletzungen gleichstehen, sind laut Verfassungsgericht die Ausnahme.310 Diese Rechtsauffassung kann jedoch nicht überzeugen, da sie dem Schutzgut mancher Grundrechte nicht gerecht wird, denn der Grundrechtsschutz vor allem beim Schutzgut Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie die Freiheit der Person gem. Art 2 Abs. 2 Satz 2 GG würde in aller Regel leerlaufen. Gewährleistung von Schutz käme zu spät, wenn der Körper bereits verletzt wurde311, der Mensch inzwischen tot ist oder die Freiheit entzogen wurde. Wenn konsequent an der Grundrechtsverletzung als Voraussetzung für die Gewährleistung von Grundrechtsschutz festgehalten wird, dann führt dieses Verständnis zu einer Verkürzung des Grundrechtsschutzes, der allenfalls für die Zukunft Wirkung entfaltet, teilweise auch nur auf Kompensation gerichtet ist und letztlich wirkungslos bliebe, weil die Verletzung des Rechtsguts hier unumkehrbar ist.312 Deutlicher ausgedrückt: Wenn allein der Durchführungsakt des Schwangerschaftsabbruchs eine Grundrechtsverletzung darstellt, dann kommt die Hilfe des Grundrechtsschutzes für das ungeborene Leben zu spät. Grundrechtsschutz bleibt ebenfalls wertlos, wenn einem Beschuldigten Brechmittel verabreicht werden und Rechtsschutz erst zum Zeitpunkt des Verletzungserfolgs eingreift. Grundrechtsschutz muss hier insbesondere bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG deshalb auf die Verhinderung von Grundrechtsverletzungen gerichtet sein. In der Verhinderung von Grundrechtsverletzungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit liegt bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sogar der Hauptanwendungsfall der eigentlichen Schutzdimension. Aus diesem Grund muss Grundrechtsschutz prinzipiell schon vor dem Stadium der eigentlichen Grundrechtsverletzung ansetzen. Andernfalls würde die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht ungleich stark benachteiligt und nur in Ausnahmefällen angenommen werden können. Mithin kann die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass Grundrechtsgefährdungen grundsätzlich im rechtlich unerheblichen Vorfeld von Grundrechtsverletzungen liegen, der Schutzfunktion der Grundrechte nicht gerecht werden. Folglich entsprechen Grundrechtsgefahren im Vorfeld von Grundrechtsverletzungen nicht nur ausnahmsweise Grundrechtsverletzungen313, sondern regelmäßig. 310

BVerfG, NJW 1979, 2349 (2350). Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 147, Rn. 36. 312 Ossenbühl, in: FS für Kriele, S. 159. 313 So aber BVerfG, NJW 1979, 2349 (2350). 311

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cc) Transformation des Gefahrenbegriffs Ebenfalls hat das Bundesverfassungsgericht es unterlassen, den Gefahrenbegriff als unbestimmten Rechtsbegriff eigenständig zu definieren, sondern hat den Gefahrenbegriff offenbar ohne Bedenken aus dem Polizei- und Ordnungsrecht übernommen. Auch in der Literatur wurde der Gefahrenbegriff ohne Kritik in das Verfassungsrecht übertragen.314 Dabei führen die Analyse und Übertragung des Gefahrenbegriffs zu zahlreichen rechtlichen Herausforderungen, die aus rechtswissenschaftlicher Perspektive mit Lösungsvorschlägen begegnet werden müssen. Das Grundgesetz verwendet an manchen Stellen den Begriff der Gefahr. Bei Art. 13 Abs. 2, Abs. 4 Satz 2 und Abs. 5 Satz 2 GG beispielsweise findet sich explizit der Begriff „Gefahr im Verzug“. Art. 13 Abs. 4 Satz 1 und Abs. 7 GG nennen die „dringende Gefahr“ und Art. 13 Abs. 7 spricht von „gemeiner Gefahr“. Art. 13 GG ist jedoch in erster Linie an die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sicherheitsbehörden adressiert. Daher können die Gefahrendefinitionen im Anwendungsbereich des Art. 13 GG bedenkenlos aus dem Polizeirecht übernommen werden. Ob eine generelle Übernahme der Definition für sämtliche Grundrechtsgefährdungen möglich ist, wird nachfolgend diskutiert. dd) Voraussetzungen für eine Transformation des Gefahrenbegriffs Zweifelhaft ist, ob der polizei- und ordnungsrechtliche Gefahrenbegriff auch identisch mit dem der Grundrechtsgefährdung ist. Dass der Gefahrenbegriff aus dem Polizei- und Ordnungsrecht stammt, wurde schon erläutert. Ursprünglich hatte das Preußische Oberverwaltungsgericht den Gefahrenbegriff entwickelt.315 Er ist inzwischen zu einem – in der Literatur zum Sicherheitsrecht und in der Verwaltungsgerichtsrechtsprechung – fest etablierten unbestimmten Rechtsbegriff geworden.316 Grundsätzlich ist bei der Übertragung eines Rechtsbegriffes von einem Rechtsgebiet in ein anderes Vorsicht geboten. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebietet es gerade nicht, dass Rechtsbegriffe unterschiedlicher Rechtsge-

314 Kloepfer, DVBl. 1988, 305 (311); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 236; Hermann, Schutz vor Fluglärm, S.130; Ogorek, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 11, Rn. 34, Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art 2 Abs. 2, Rn. 49; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 235. 315 PrOVGE 9, 353 ff.; PrOVGE 77, 333 (338). 316 Krüger, JuS 2013, 985 (987).

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biete oder sogar innerhalb desselben Gesetzes stets eine identische Bedeutung haben. Die Hauptaussage dieses Grundsatzes bezieht sich vor allem auf eine Rechtsordnung, die frei von Widersprüchen sein soll.317 Innerhalb einer Rechtsordnung besteht in dem Zusammenhang gleichermaßen der Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe. Rechtsbegriffe haben in einzelnen Rechtsgebieten häufig eine der Spezialmaterie geschuldete eigenständige Bedeutung, weil Rechtsbegriffe eine eigenständige Funktion erfüllen.318 Daher darf die Bedeutung von Rechtsbegriffen nicht unreflektiert in andere Rechtsgebiete übertragen werden. Solange dadurch kein Widerspruch mit der Rechtsordnung entsteht, dürfen Rechtsbegriffe unterschiedliche Bedeutungen haben.319 ee) Identifizierung der Problemkreise und Anpassung beim Transformationsprozess Der Gefahrenbegriff erfüllt im Polizei- und Ordnungsrecht eine andere Funktion als der vom Bundesverfassungsgericht genutzte Begriff der Grundrechtsgefahren. Im Polizei- und Ordnungsrecht stellt das Vorliegen einer Gefahr die notwendige Bedingung und damit Legitimationsgrundlage für Grundrechtseingriffe dar und ist Teil der Eingriffsermächtigung.320 Mit anderen Worten: Ohne eine Gefahr sind polizeirechtliche Grundrechtseingriffe nach klassischem Verständnis immer verfassungswidrig. Der Rechtsbegriff der Gefahr als Tatbestandsmerkmal beschränkt damit staatliche Gewaltausübung. Im Gegensatz dazu zielen Schutzpflichten im Grundgesetz darauf ab, Verletzungshandlungen zu verhindern. Das Polizei- und Ordnungsrecht versteht unter einer Gefahr eine Sachlage oder ein Verhalten, welches bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird.321 Dass für das Vorliegen einer Gefahr stets eine konkrete, also im Einzelfall bestehende Gefahr notwendig ist, ist Ausdruck des aus rechtsstaatlichen Gründen herrührenden Bedürfnisses nach Begrenzung polizeilicher Gewaltausübung sowie Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.322 Die Übertragung des Begriffsverständnisses auf die Grundrechtsdogmatik funktioniert der Sache nach aber nur bei einem Teil der Grundrechtsgefährdungen, namentlich bei konkret-individuellen Grundrechtsgefährdungen wie einer 317 318 319 320 321 322

BVerfGE 98, 106 (119); Engisch, in: Ferid, Deutsche Landesreferate, S. 68, 70. Hanebeck, Der Staat, 41 (2002), Heft 3, S. 429; Barczak, JuS 2020, 905 (907). BVerfG, NJW 2004, 2213 (2216); Geiger, SVR 2009, Heft 2, S. 41 (42). Dietrich, in: Fischer/Hilgendorf, Gefahr, S. 73. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 108; Krüger, JuS 2013, 985 (985 f.). Schenke, JuS 2018, 505 (506).

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Suizidgefahr bei Zwangsräumungen von Mietwohnungen oder der Verhandlungsunfähigkeit im Strafverfahren.323 Eine abstrakte Gefahr beschreibt hingegen eine allgemein gefährdende Sachlage oder ein allgemeines gefährliches Verhalten und damit gerade keine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne.324 Teilweise wird behauptet, das Polizeirecht ließe eine abstrakte Gefahr nur in Ausnahmefällen bei minder schweren Grundrechtseingriffen und zur Informationsbeschaffung im Bereich der Gefahrenvorsorge zu.325 Bei der Bestimmung der schutzpflichtauslösenden Gefahrenschwelle abstraktkollektiver Gefahren befindet man sich jedoch immer in einem Bereich, der viel eher dem Begriff der abstrakten Gefahr entspricht, darüber hinaus häufig im Vorfeld einer Gefahr – zum Zweck der Gefahrenvorsorge. Die Frage ist dabei allein, wie die Gefahrenschwelle identifiziert werden kann, deren Erreichung Voraussetzung für eine Grundrechtsgefährdung ist. Im Polizei- und Ordnungsrecht beschreibt eine Gefahr einen Zustand, in dem sich ein polizeiliches Schutzgut befindet.326 Der Grad der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit und der Schadenshöhe gibt Auskunft, ob ein Schutzgut in Gefahr ist. Dieser Rahmen lässt sich unter Berücksichtigung der folgenden Anpassungen auf die verfassungsrechtliche Fragestellung übertragen, wann eine Grundrechtsgefährdung vorliegt. Die Transformation des Rechtsbegriffs bedarf jedoch einiger Modifikationen. In Ermangelung eines eigenständigen Gefahrenbegriffes im Grundgesetz ist eine Anlehnung an den Gefahrenbegriff dennoch erforderlich, weil die Anknüpfung an den Gefahrenbegriff aus dem Polizeirecht die einzige Möglichkeit ist, den Bedrohungszustand eines Rechtsgutes zu beschreiben.327 Insgesamt muss der Gefahrenbegriff im Verfassungsrecht jedenfalls auch auf abstrakt-kollektive Gefahrensituationen ausgedehnt werden, um den komplexen Bedrohungssituationen der Grundrechte (beispielsweise durch Umweltbelastungen) gerecht zu werden. ff) Modifikationen bei der Ermittlung der Grundrechtsgefährdung Zudem sind weitere Unterscheidungen für die Ermittlung, ob eine Grundrechtsgefährdung vorliegt, vorzunehmen. Bekanntermaßen ist für die Annahme 323 324

BVerfGE 51, 324 (346); BVerfGE 52, 214 (220 f.). BVerwG, NJW 1970, 1890 (182); Schmidt, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 658,

660. 325

Schmidt, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 665 f. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 109. 327 Volkmann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, Art. 91, Rn. 19. 326

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einer (konkreten) Gefahr eine Sachlage erforderlich, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Einzelfall zu einem Schaden an einem Rechtsgut führen wird.328 Inhaltlich setzt eine Gefahr somit eine Sachverhaltsdiagnose sowie eine Prognose über die Schadenseintrittswahrscheinlichkeit voraus. Bei der Frage, ob Grundrechtsgefährdungen vorliegen, unterscheiden sich die Maßstäbe und Orientierungslinien für die Sachverhaltsdiagnose, aber auch die Prognoseentscheidungen erheblich von denen des Sicherheitsrechts, und zwar unter zeitlichen, personellen und sachlichen Gesichtspunkten, wie im Folgenden beschrieben wird. In zeitlicher Hinsicht fällt der maßgebliche Zeitpunkt für die Prognoseentscheidung mit der schutzpflichtenauslösenden Schwelle aus einer ex-ante-Perspektive zusammen, aus welcher sich die zeitlich letztmögliche Schadensvermeidungsmöglichkeit ergibt.329 Für den Wissensstand gilt vor allem der Stand von Wissenschaft und Forschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Unter diesem Aspekt ergeben sich keine Unterschiede zu polizeirechtlichen Prognosen. Personell gesehen ist im Polizeirecht umstritten, ob für die Bestimmung einer Gefahrenprognose ein objektiver oder subjektiver Maßstab der Entscheidungsträger anzusetzen ist.330 Polizeispezifisch ist von Belang, dass Polizisten häufig innerhalb kürzester Zeit eine Gefahrenprognose abgeben müssen. Oft bleibt keine Zeit für ausführliche Recherche der gesamten Tatsachengrundlage. Zudem ist der individuelle Erfahrungsschatz zwangsläufig unterschiedlich breit. Zum Teil wird daher im Polizei- und Ordnungsrecht ein subjektiver Gefahrenbegriff vertreten.331 All diese Erwägungen sind grundrechtsbezogen bei Grundrechtsgefahren belanglos. Hinsichtlich des Gesetzgebers, aber auch der Exekutive besteht für Prognoseentscheidungen erheblich mehr Zeit. Die Tatsachengrundlage und der aktuelle Stand von Wissenschaft und Forschung können umfassend erfasst werden. Sowohl der Gesetzgeber als auch der Verwaltungsapparat können auf zahlreiche Experten zurückgreifen. Die Arbeit in den Fachausschüssen im Deutschen Bundestag und in den Landesparlamenten wird von Abgeordneten wahrgenommen, die sich mit der jeweiligen Spezialmaterie befasst haben.332 Auch die Exekutive ist mit fachkundigem Personal besetzt. Entscheidungen werden in diesen Bereichen in der Regel nicht nur von einer einzelnen Person getroffen. Mithin ist offenkundig, dass ein objektiver Beurteilungsmaßstab Ausgangspunkt für die Prognose bei Grundrechtsgefahren sein 328 Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, § 8, Rn. 9. 329 Poscher, Gefahrenabwehr, S. 116. 330 Schlink, JURA 1999, 169–172; Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, § 8, Rn. 37–47; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 114. 331 Krüger, JuS 2013, 985 (986). 332 Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 40, Rn. 128 f.

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muss. Folglich ist der hergebrachte Streit für Grundrechtsgefahren ohne Relevanz. Sachlich wird im Sicherheitsrecht herkömmlicherweise für die Ermittlung der Tatsachengrundlage die allgemeine Lebenserfahrung und das Alltagswissen der Entscheidungsträger als Beurteilungsbasis genommen.333 Beurteilungen über Grundrechtsgefährdungen können sich jedoch nicht mit Alltagswissen und der allgemeinen Lebenserfahrung begnügen. Hier ist für den Wissenshorizont mehr zu fordern. Als maximaler Wissenshorizont kommt das weltweite Wissen insgesamt, das die Menschheit bisher erlangt hat, in Frage.334 Menschliches Wissen ist immer begrenzt. Daher bildet der aktuelle Stand von Wissenschaft und Forschung die natürliche Grenze bei der Diagnose für die Wahrscheinlichkeitsprognose. Für die Diagnose der Sachlage kommt es somit auf Fakten, objektives Erfahrungswissen sowie wissenschaftliche und technische Welterkenntnisse zum jetzigen Zeitpunkt an, wobei es sich um gesicherte Kenntnisse handeln muss.335 Dabei haben verschiedene Stimmen zutreffend erkannt, dass im Technikrecht, insbesondere im Immissionsschutzrecht, eine Verwissenschaftlichung des Wahrscheinlichkeitsurteils stattgefunden hat.336 Um Wertungswidersprüche innerhalb der Rechtsordnung zu vermeiden, sollte der Verwissenschaftlichungstrend bei Wahrscheinlichkeitsprognosen auch in das Verfassungsrecht integriert werden, soweit gesundheitliche Auswirkungen auf immissionsschutzrechtlichem Gebiet Gegenstand sind. gg) Herausforderungen des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität Der im Polizeirecht herrschende Grundsatz der umgekehrten Proportionalität besagt, dass die Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringer sind, je höherrangiger das Schutzgut und das Ausmaß des drohenden Schadens ist.337 Dieser Grundsatz ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips.338 Jedoch zeigen sich in der Anwendung dieses Grundsatzes einige Rechtsprobleme.

333 Erichsen, VVDStRL Heft 35, S. 175 (186); Hoffmann-Riem, in: FS für Wacke, S. 327; Scherzberg, VerwArch, 1993, 484 (492). 334 Poscher, Gefahrenabwehr, S. 124. 335 Schoch, JURA 2003, 472 (473); Gusy/Worms, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, § 1, Rn. 172, 173a. 336 Lukes, BB 1978, 317 (319, 320); Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 91; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 379. 337 BVerwGE 47, 31 (40); BVerwG 62, 36 (39); Fisahn, CETA und TTIP im Konflikt mit dem Vorsorgeprinzip, S. 6. 338 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 119.

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(1) Anwendung des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität Konsequenterweise findet dieser Grundsatz auch im Verfassungsrecht Anwendung, wenn das Bundesverfassungsrecht über mögliche schwere Gefahren von Kernreaktoren sagt: „Bei der Art und Schwere dieser Folgen muß bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genügen, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers konkret auszulösen.“ 339

(2) Berücksichtigung der Betroffenenanzahl Die Literatur ist zu der Frage, ob bei der Prognose über drohende Schäden neben Art und Ausmaß auch die Streubreite des betroffenen Personenkreises dahingehend erfasst ist, dass die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu senken sind, wenig ergiebig.340 Hingegen nimmt die Rechtsprechung eine Addition der Vielzahl drohender Einzelschäden an Leben und Gesundheit ohne Bedenken vor.341 Geboten ist bei der Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung der Abhängigkeit zwischen Schadenshöhe und Schadenseintrittswahrscheinlichkeit stets eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalles, so dass sich starre Grenzen im Rahmen dieses dynamischen Prozesses verbieten. Das Bundesverfassungsgericht hat schon im Kalkar I-Beschluss der Sache nach nichts anderes gemacht als die nur geringe Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens mit der Streubreite der drohenden schweren Schäden eines Reaktorunglücks in Relation zu setzen und im Ergebnis ein Risiko angenommen.342 Daraus folgt, dass die umgekehrte Proportionalität in einem Erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori) bei der Bestimmung einer Gefahr angewendet werden muss. Denklogisch zwingend als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips muss sich ein drohender schwerer Schaden, der sich bei einer unüberschaubaren Vielzahl an Personen realisieren kann, in einer geringeren Wahrscheinlichkeitsschwelle widerspiegeln. (3) Konflikt mit der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG Dabei wird allzu leicht der Konflikt einer solchen Addition der Betroffenenanzahl mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG übersehen. Trotz bestehender Defizite bei der Bestimmung des sachlichen Schutzbereiches des Art. 1 Abs. 1 GG hat sich 339

BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfG, NVwZ 2010, 702 (703 f.). Rehbinder, BB 1976, 1 (2); Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 171; pauschal Calliess, ZUR 2021, 323 (325); ablehnend Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 232. 341 BVerfG, NJW 2006, 1939 (1946); BVerfG, NVwZ 2010, 702 (704). 342 BVerfG, NJW 1979, 359 (363). 340

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die von Dürig für die Rechtswissenschaft aufgestellte Negativdefinition durchgesetzt, wonach es dem Staat verboten ist, das Individuum zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu degradieren und dadurch zu einer vertretbaren Größe herabzuwürdigen.343 Angenommen wird diese Grundrechtsverletzung, wenn der Staat bei der Behandlung von Menschen die Achtung des Wertes vermissen lässt, die jeder Mensch um seiner selbst willen innehat.344 Nell hat diesen Konflikt – zwar nur mit Blick auf das Strafrecht – erstmals angesprochen, lässt eine Aufsummierung von Menschenleben für die Bestimmung des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades jedoch ohne verfassungsdogmatische Begründung gelten und verweist pauschal darauf, dass für Risikobewertungen345 in Katastrophenfällen andere Bewertungsmaßstäbe anzulegen seien.346 Die Antwort darauf, welche Bewertungsmaßstäbe dann heranzuziehen sind, bleibt er schuldig. Eine Auseinandersetzung mit Art. 1 Abs. 1 GG erfolgt dabei ebenso wenig. Auch Murswiek fragt unter dem Gesichtspunkt der umgekehrten Proportionalität bei Risikoabschätzungen danach, ob auf das Individualrisiko oder das Kollektivrisiko abgestellt werden muss, ohne Art. 1 Abs. 1 GG anzusprechen.347 (4) Stellungnahme Die rechtlich relevante Frage ist, ob der Schutz der Menschenwürde eine solche Addition von bedrohten Menschenleben und gesundheitlichen Schädigungen nicht gerade verbietet. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Novelle des Luftsicherheitsgesetzes, das bei Entführung eines Flugzeugs durch Terroristen zum Abschuss ermächtigte, wurde entschieden, dass eine Aufrechnung von Menschenleben auch gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt.348 Nells Einwand, dass im Katastrophenfall andere Bewertungsmaßstäbe anzusetzen wären, ist wenig überzeugend, weil die Wertung des Art. 1 Abs. 1 GG selbstverständlich auch im Fall der Katastrophe universale Geltung entfaltet. Wenn es um die Festlegung des Wahrscheinlichkeitsgrades innerhalb einer Gefahrenprognose geht, werden drohende Schäden an Leib und Leben nicht gegen343 BVerfGE 115, 118 (153); Dürig, AöR 1956, 117 (127); Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 15; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, § 97 II 2 a; Hartleb, NJW 2005, 1397 (1398). 344 BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfGE 109, 279 (312 f.); BVerfGE 115, 118 (153); VGH Kassel, Beschl. v. 03.08.2018 – 8 B 1590/ 18, BeckRS 2018, 18201, Rn. 15; OVG Magdeburg, Beschl. v. 04.11.2020 – 3 R 218/20, BeckRS 2020, 29264, Rn. 29. 345 Das Problem betrifft Gefahrenprognosen und Risikoprognosen gleichermaßen. 346 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 171 f. 347 Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 151–165. 348 BVerfGE 115, 118 (153 f.).

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einander aufgerechnet, sondern miteinander aufsummiert. In dem Zusammenhang bleibt der Vorwurf einer Beschränkung auf eine messbare Größe dennoch im Raum. Die Folge der Anwendung der umgekehrten Proportionalität führt dazu, dass Schutzpflichten in Gefahrensituationen je eher ausgelöst werden, desto mehr Menschen betroffen sind, was ebenfalls dazu führt, dass Grundrechtsschutz tendenziell eher verwehrt bleibt, wenn nur wenige quantifizierbare Schäden drohen. Ob dadurch jedoch zugleich die Subjektqualität des Individuums in Frage stellt wird, ist zweifelhaft. Im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG wurde in Literatur angemerkt, dass der Staat das Individuum selbst dann zum Objekt gradieren kann, wenn er untätig bleibt, da das Individuum zumindest Objekt Entscheidung darüber, nichts zu unternehmen, bleibe.349

geder deder

Ursprünglich sollte Art. 1 Abs. 1 GG vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrungen vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung und Ächtung schützen.350 In den bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die ein Verbot des Staates enthielten, Individuen zum bloßen Objekt herabzusetzen, ist der betroffene Personenkreis stets konkretisierbar gewesen.351 Selbst im Fall des von Terroristen entführten Flugzeugs begrenzt sich der betroffene Personenkreis auf die hypothetischen Passagiere. Kennzeichen für Menschenwürdeverletzungen ist demgemäß ein zumindest konkretisierbarer Personenkreis, der eine weniger wertige Behandlung durch den Hoheitsträger erfährt als der übrige Bevölkerungsteil. Hieran fehlt es bei Umweltbelastungen genauso wie bei abstrakten Kollektivgefahren. So gesehen darf die Schutzdimension des Art. 1 Abs. 1 GG nicht falsch verstanden werden. Potenziell kann – ungeachtet einer besonderen Anfälligkeit und besonderer örtlicher Verhältnisse – grundsätzlich jeder Mensch von Umweltbelastungen betroffen sein, der in Deutschland beispielsweise Schadstoffen ausgesetzt ist. Somit ist völlig offen, wessen individuelle Würde eigentlich zum bloßen Objekt degradiert werden könnte. Mangels Identifizierbarkeit eines näher konkretisierbaren Personenkreises fehlt es an einem tauglichen Grundrechtsindividuum bezüglich Art. 1 Abs. 1 GG, weshalb der Achtungsanspruch der Betroffenen nicht verletzt wird. Insgesamt kann keine entwürdigende Behandlung konkretisiert werden. Mithin ist die Quantifizierbarkeit von Risiken mittels Streubreite im Fall von abstrakten Bedrohungslagen, die prinzipiell jeden treffen können, allein als Kon349 Fisahn, in: Sokol, Der gläserne Mensch – DNA-Analysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, S. 140 (151). 350 BVerfG, NJW 1952, 297 (298). 351 BVerfG, NJW 1977, 1525 (1526); BVerfG, NJW 1986, 2241 (2242); BVerfG, NJW 1993, 1457 (1458); BVerfG, NJW 1998, 519 (521); BVerfG, NJW 2006, 751 (758).

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kretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verstehen und nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde einzuordnen. Damit ist eine verfassungsdogmatische Begründung für den Grundsatz der umgekehrten Proportionalität im Bereich der Grundrechtsgefährdungen erfolgt und der Weg für dessen Anwendbarkeit im Verfassungsrecht offen. hh) Zwischenergebnis Die Anforderungen an Grundrechtsgefährdungen bedürfen vor allem einer grundrechtsspezifischen Wertung im Einzelfall. Darüber hinaus erstreckt sich der Grundrechtsschutz innerhalb der Schutzdimension auf konkrete sowie abstrakte Grundrechtsgefahren. Bei der Ermittlung, ob eine Grundrechtsgefährdung vorliegt, findet der Grundsatz der umgekehrten Proportionalität uneingeschränkt Anwendung. Zusammengefasst sind bei der Übernahme der Gefahr verschiedene Modifikationen des bisherigen Gefahrenbegriffs erforderlich, so dass ein autonomes verfassungsrechtliches Begriffsverständnis für Grundrechtsgefährdungen zugrunde zu legen ist. c) Grundrechtsrisiken Das Risiko fällt nicht unter den Begriff der Grundrechtsgefährdung. Folglich handelt es sich beim Risiko um eine eigenständige Kategorie der Einwirkung auf ein Schutzgut. Dennoch besteht die Notwendigkeit, Risiken durch staatliche Schutzpflichten beseitigen zu können. Die im Kalkar I-Beschluss sowie im Mülheim-Kärlich-Beschluss schutzpflichtenaktivierenden und anerkannten Institute des Risikos sowie der Risikovorsorge sind die notwendigen Reaktionen des Verfassungsrechts gewesen, die durch die damals neuen Technologien der Spaltung von Atomkernen und der Informationstechnologie sowie der hinzugetretenen Gentechnologie ausgelöst wurden.352 Grundrechtsrisiken bestehen hingegen nicht alleine in den Risiken der postindustriellen Großtechnologie und der Gentechnik, sondern umfassen auch Sachbereiche wie beispielsweise neuartige Arzneimittel oder neue Baustoffe, die für die menschliche Gesundheit potenziell risikobehaftet sind. Die staatliche Schutzpflichtigkeit erstreckt sich daher auch auf solche Risiken, weshalb Arzneimittel erst ein Zulassungsverfahren gem. § 21 Abs. 1 AMG durchlaufen müssen und einer ständigen staatlichen Überwachung durch Nachbeobachtungen gem. §§ 62 ff. AMG unterliegen. Baustoffe müssen ebenfalls erst durch das Deutsche Institut für Bautechnik zugelassen werden.353 Zu nennen sind darüber hinaus für die Landwirtschaft hergestellte Düngemittel und im Allgemeinen Chemikalien. 352 Fisahn, in: Sokol, Der gläserne Mensch – DNA-Analysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, S. 140 f. 353 Exemplarisch hierfür § 21 Abs. 1 BauO NRW als landesrechtliches Zulassungserfordernis für Bauprodukte.

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Insgesamt steht der Grundrechtsschutz – anders als im Polizeirecht – vor der schwierigen Aufgabe, den beiden Kategorien der Grundrechtsgefahren und der Grundrechtsrisiken zu begegnen. Wenn das Risiko keine Schutzpflichten aktivieren würde, griffe staatlicher Schutz verspätet, wenn sich das Risiko der Kernschmelze eines Atomkraftwerks schon realisiert hat und die verheerende Strahlenexposition bereits stattgefunden hat. So verhält es sich mit sämtlichen Risiken der Großtechnologie, aber auch der Gentechnik sowie allgemein der Umweltbelastungen der postindustriellen Gesellschaft. Dabei findet das Risiko – wie schon erörtert – seinen Ursprung im Umwelt- und Technikrecht. Ein Risiko für Grundrechtsgüter muss daher grundsätzlich ebenfalls durch die Schutzfunktion der Grundrechte abwehrfähig sein. d) Gefahrenvorsorge und Risikovorsorge Neben Grundrechtsverletzungen, Grundrechtsgefährdungen sowie Grundrechtsrisiken ist eine vierte Kategorie zu thematisieren, namentlich handelt es sich um den Bereich der Gefahrenvorsorge sowie der Risikovorsorge. Bei der rechtsdogmatischen Konstruktion der Vorsorge vor Grundrechtsgefahren und Risiken im Grundgesetz kommen verschiedene Ansätze in Frage. Darüber hinaus ist fraglich, ob Schutzpflichten schon im Vorfeld einer Grundrechtsgefahr und eines Risikos vorhanden sein können. aa) Herleitung der Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge Bevor eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den notwendigen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Vorsorgebegriffs erfolgt, eignet sich für die Herleitung der grundrechtlichen Vorsorge ein Blick auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung und der Literatur im Umgang mit dem Institut der Vorsorge. Auch wird eine eigenständige Herleitung der Vorsorge vorgeschlagen. (1) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge: Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur Im Kalkar I-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen zwar nicht ausdrücklich, jedoch faktisch in den Grundrechtsschutz integriert, indem eine auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Risikovorsorge als von der staatlichen Schutzpflicht erfasst verstanden wird: „Was die Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern anbetrifft, so hat der Gesetzgeber durch die in § 1 Nr. 2 und in § 7 Absatz 2 AtomG niedergelegten Grundsätze der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge einen Maßstab aufgerichtet, der Genehmigungen nur dann zuläßt, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten werden.“ 354

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Erneut wurde diese Auffassung im Mülheim-Kärlich-Beschluss bestätigt.355 Ausdrücklich wurde Risikovorsorge bezogen auf Grundrechtsgefährdungen im Fluglärm-Beschluss angenommen. Dort heißt es, dass „[. . .] auch eine auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Risikovorsorge von der Schutzpflicht der staatlichen Organe umfaßt werden kann“.356 Daran wird deutlich, dass die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung grundrechtsrelevante Risikovorsorge zunächst im Technikrecht entwickelt hat und Risikovorsorge inzwischen auch im Immissionsschutzrecht Anwendung findet. Allerdings ist das Verfassungsgericht dazu übergegangen, Vorsorge auch in Sachverhalten ohne umweltrechtlichen Bezug anzunehmen, wie Vorsorge vor Gefahren durch die Geschwindigkeit im Straßenverkehr.357 In dem Zusammenhang müsste dann korrekterweise von Risikovorsorge und nicht von Gefahrenvorsorge gesprochen werden. In der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sind im Zuge der Corona-Pandemie eine Reihe von Beschlüssen im einstweiligen Rechtsschutz gem. § 32 Abs. 1 BVerfGG ergangen. Dort wurde die Vorsorge nur aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG entnommen.358 Teilweise benennt das Gericht die Bedrohungslage als Gefahren und nicht als Gefahrenvorsorge. Dabei trennt das Bundesverfassungsgericht nicht immer zwischen Gefahr und Gefahrenvorsorge.359 In den zitierten Beschlüssen ist rechtlich aufgrund erheblicher Sachverhalts- und Prognoseunsicherheiten vielmehr der Bereich der Vorsorge eröffnet. (2) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus den Grundrechten Grundsätzlich aktiviert Gefahren- sowie Risikovorsorge die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte.360 Dabei ist für Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen 354

BVerfGE 49, 89 (143), BVerfG, NJW 1979, 359 (363). BVerfGE 53, 30 (59), BVerfG, NJW 1980, 759 (761 f.). 356 BVerfGE 56, 54 (78); so später auch BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 29 und BVerfG-K, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3474/08, BeckRS 2009, 40441, Rn. 29. 357 BVerfG, NJW 1996, 651 (652), BVerfG-K v. 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95, Rn. 7 f., juris. 358 BVerfG-K, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 BvQ 29/20, BeckRS 2020, 5620, Rn. 8; BVerfG, NJW 2020, 1427 (1428); BVerfG, NJW 2020, 2327 (2328); BVerfG, NJW 2020, 1429 (1430); BVerfG-K, Beschl. v. 29.04.2020 – 1 BvQ 47/20, BeckRS 2020, 7210, Rn. 17; BVerfG-K, Beschl. v. 28.04.2020 – 1 BvR 899/20, BeckRS 2020, 6938, Rn. 13; BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1823). 359 BVerfG-K, Beschl. v. 28.04.2020 – 1 BvR 899/20, BeckRS 2020, 6938, Rn. 12; BVerfG, NJW 2020, 1429, Rn. 10; BVerfG-K, Beschl. v. 29.04.2020 – 1 BvQ 47/20, BeckRS 2020, 7210, Rn. 16. 360 Hierfür sprechen sich im Ergebnis, aber ohne verfassungsdogmatische Begründung auch aus: Ekardt/Schmidtke, DöV 2009, 187 (195); dagegen: Murswiek, Die staat355

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und Risiken nicht nur Raum für umwelt- und technikrechtliche Sachverhalte wie dem Immissionsschutz oder dem Schutz vor ionisierender Strahlung, sondern für alle denkbaren Bedrohungslagen der Bevölkerung, wie mit Blick auf den Infektionsschutz wegen der Corona-Pandemie kaum deutlicher werden kann. So bezweckt das Infektionsschutzgesetz gem. § 1 Abs. 1 IfSG unter anderem die Vorbeugung von Krankheiten. Krankheitsrisiken sind ebenfalls kollektive Bedrohungslagen. Auch im Infektionsschutz ist demnach der Bereich der Gefahrenvorsorge betroffen. Andernfalls ließe sich eine Impfpflicht beispielsweise für Teile der Bevölkerung gem. § 20 Abs. 6–12 IfSG nicht begründen, weil noch keine Gefahr vorliegt. Ebenso verhält es sich mit vorsorglichen landesweiten Kontaktbeschränkungen des sozialen Zusammenlebens durch die Coronaschutzverordnungen der Länder aufgrund von § 32 IfSG in Verbindung mit §§ 28a, 29 IfSG, bei denen niederschwellige Gefahrenvorsorgelagen für Grundrechtseingriffe genügen, soweit der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat.361 Katastrophenschutz beginnt zeitlich ebenfalls im Vorfeld von Risiken zur Risikovorsorge, nämlich durch die Vermeidung von Risiken, die in einen Katastrophenfall münden können.362 Hierzu gehören auch Bedrohungen der Bevölkerung durch Naturkatastrophen.363 Bedrohungslagen durch mögliche terroristische Anschläge betreffen sowohl das Katastrophenschutzrecht als auch das Sicherheitsrecht. Gemeinsame Schnittstelle beider Rechtsgebiete ist, dass Terrorismus schon im Vorfeld einer Gefahr bekämpft wird.364 Anwendbar ist Risiko- und Gefahrenvorsorge zudem in der Reaktorsicherheit, in den Landesbauordnungen und in diversen Brandschutzbestimmungen.365 Ob in diesen weiteren Beispielen ebenfalls auf Grundrechtsgefährdungen bezogene Gefahrenvorsorge oder eine Risikovorsorge eröffnet ist, ist nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Vieles spricht jedenfalls dafür, dass auch hier staatliche Schutzpflichten Ausgangspunkt sind. liche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 281; Keuthen, Die abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung, S. 158; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 235. 361 VG Saarlouis, Beschl. v. 18.5.2017 – 2 L 854/17, BeckRS 2017, 112997, Rn.11; Rixen, NJW 2020, 1097 (1097). 362 Kloepfer, Handbuch des Katastrophenrechts, § 15, Rn. 26; Gusy, in: Lange/Gusy, Kooperation im Katastrophen- und Bevölkerungsschutz, S. 65 (74–76). 363 Grüner, Biologische Katastrophen, S. 69. 364 Stober/Eisenmenger, NVwZ 2005, 121 (121 f.). 365 Thiele, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. III, § 54, Rn. 12.

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Folglich besteht das verfassungsrechtliche Bedürfnis nach einer Ausweitung der Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen sowie der Risikovorsorge auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, in denen mögliche Gefahren oder (Kollektiv-)Risiken, wie beispielsweise Umweltbelastungen, die staatliche Gemeinschaft bedrohen. Zu Recht kritisiert Di Fabio für den Umgang mit Risiken, dass Schutzpflichten zu häufig nur im Umweltrecht bei Industrieanlagen diskutiert werden und erkennt, dass Risiken in vielen Lebenssituationen auftauchen können.366 Die rechtlich bestehenden Handlungsmöglichkeiten der beispielhaft genannten Bedrohungslagen bezwecken allesamt die Integrität des Schutzgutes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Als höchstes Verfassungsgut und Grundrechtsvoraussetzung für die Menschenwürde kann gerade bei – durch gewisse Unsicherheiten geprägten – Risikoabschätzungen nicht untätig geblieben werden, wenn Risiken, die große Teile der Zivilbevölkerung betreffen oder wenn Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr vorhanden sind, die jedoch die Gefahrenschwelle noch nicht begründen. Anders als im Polizeirecht sind mit der Annahme von Schutzpflichten im Vorfeld einer Gefahr auch nicht zwingend Grundrechtseingriffe bei Dritten verbunden. Für eine Verbannung des Vorfelds der im Ansatz skizzierten Bedrohungslagen aus dem verfassungsrechtlichen Schutz besteht zudem kein Grund. Das Ziel der Anerkennung von Vorsorge besteht im Verfassungsrecht darin, den Eintritt einer Risiko- oder Gefahrensituation für Grundrechtsgüter zu verhindern. Nur ein solches Verständnis wird der Wertigkeit von Leben und körperlicher Integrität innerhalb der Verfassung gerecht, indem selbst Risiko- und Gefahrensituationen für diese Rechtsgüter verfassungsrechtlich vermieden werden müssen. Folglich ergibt sich die Wirkdimension der Vorsorge bezogen auf die Vermeidung von Grundrechtsgefährdungen und Risiken für die Grundrechtsgüter aus dem jeweiligen Einzelgrundrecht. Die Aufnahme von Vorsorge in die Schutzwirkung der Grundrechte ist mit Blick auf die erwähnten Beispiele auch dringend erforderlich, um Grundrechtsgefährdungen oder zumindest einem Risiko vorzubeugen. Da Grundrechtsschutz bezogen auf Grundrechtsgefährdungen allein noch keinen ausreichenden Schutz gewährt, muss Grundrechtsschutz zeitlich schon beginnen können, bevor abstrakte und/oder konkrete Grundrechtsgefährdungen, aber auch bevor Risiken vorliegen, um eine Schutzlücke im Wirksystem der Grundrechte zu vermeiden. Zudem gibt es keinen Anlass, Grundrechtsrisiken 366 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2, Rn. 93.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

und den Bereich der Grundrechtsvorsorge einem möglichen Abwägungsprozess zwischen den Schutzpflichten der Betroffenen und den Abwehrrechten der privaten „Störer“ zu entziehen. (3) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus dem Umweltverfassungsrecht Für das Umweltverfassungsrecht stellt das Grundgesetz mit Art. 20a eine eigenständige Norm zur Verfügung. Unstrittig stellt Art. 20a GG kein Umweltgrundrecht dar, sondern wurde als Staatszielbestimmung ausgestaltet,367 was zur Folge hat, dass aus ihr kein justiziables subjektiv-öffentliches Recht hervorgeht.368 Dafür weist die Norm dem Staat die Aufgabe des Umweltschutzes zu, was mit einer Handlungs- und Umweltförderungspflicht einhergeht.369 Vor dem rechtsgeschichtlichen Hintergrund zur verfassungsgerichtlichen Judikatur ist ebenfalls denkbar, eine auf Umweltbelastungen bezogene Risikovorsorge neben Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zusätzlich auf Art. 20a GG zu stützen.370 Aus Art. 20a GG wird das im Umweltrecht beheimatete Vorsorgeprinzip entnommen, was an der Verantwortung für künftige Generationen erkennbar wird, weshalb der Staat Risiken für die nachfolgenden Generationen abzuwenden hat.371 Indem das Vorsorgeprinzip in Art. 34 Abs. 1 des Einigungsvertrages als Aufgabe des Gesetzgebers kodifiziert wurde, ist als Folge am 15.11.1994 der Art. 20a GG neu ins Grundgesetz aufgenommen worden.372 Erklärt wird diese Entwicklung im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung mit der vermehrten Forderung von Umweltschutzgruppen nach mehr Umweltschutz, da insbesondere Umweltschutzgruppen einen großen Beitrag zum Ende der DDR geleistet haben.373 Jedoch existierte das Vorsorgeprinzip schon vor der Grundgesetzergänzung um Art. 20a GG als Prinzip des deutschen Umweltrechts. Schon in der Deklaration der Rio-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung von 1992 wurde sich auf das Vorsorgeprinzip verständigt. Im europäischen Primärrecht findet sich das Vorsorgeprinzip heute in Art. 191 Abs. 2 AEUV. 367

BVerfG, NVwZ 2010, 114 (118); Kotulla, KJ 2000, 22 (22 f.); Kahl/Gärditz, Umweltrecht, § 3, Rn. 4; Voßkuhle, NVwZ 2013, 1 (5); Fisahn, in: Voigt, Handbuch Staat, S. 1591 (1592). 368 Kotulla, Umweltrecht, S. 46. 369 BVerwG, NJW 1995, 2648 (2649); Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 20a, Rn. 12–14. 370 So etwa Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 121. 371 Fisahn, CETA und TTIP im Konflikt mit dem Vorsorgeprinzip, S. 7; Sommermann, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20a, Rn. 21; Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 2, Rn. 15. 372 BGBl. 1994 I, S. 3146. 373 Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 2, Rn. 13.

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Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip im Art. 20a GG an, was im Urteil zum Gentechnikgesetz deutlich wird: „Der Gesetzgeber muss bei der Rechtsetzung nicht nur die von der Nutzung der Gentechnik einerseits und deren Regulierung andererseits betroffenen Interessen, welche insbesondere durch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), [. . .] geschützt werden, in Ausgleich bringen. Sondern er hat gleichermaßen den in Art. 20a GG enthaltenen Auftrag zu beachten, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen (vgl. BVerfGE 118, 79 ). Dieser Auftrag kann sowohl die Gefahrenabwehr als auch die Risikovorsorge gebieten.“ 374

Zutreffend hat das Gericht festgestellt, dass das polizei- und ordnungsrechtliche Institut der Gefahrenabwehr nicht in der Lage ist, die Umwelt vollumfänglich zu schützen, wenn keine Risikovorsorge betrieben wird.375 Konsens besteht in der Rechtsprechung und in der Literatur, dass der Schutzauftrag des Art. 20a GG zum Schutz von Umweltgütern auch Gefahrenabwehr und Risikovorsorge umfasst.376 Überwiegend wird vertreten, dass Art. 20a GG den grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt der Grundrechte beispielsweise des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bei drittbetroffenen Bürgern, verstärken kann.377 Beim Versuch, die Risikovorsorge auf Art. 20a GG zu stützen, ergeben sich indes erhebliche rechtliche Bedenken. Traditionell kann aus dem Vorsorgeprinzip keine individualrechtsschützende Funktion entnommen werden, da der Vorsorge dienende Normen keinen Drittschutz vermitteln.378 Demnach entfaltet das Vorsorgeprinzip kein subjektiv-öffentliches Recht im Sinne der Schutznormtheorie. Trotzdem hat die bisherige Verfassungsrechtsprechung Risikovorsorge erstmals in umwelt- und technikrechtlichen Sachverhalten und inzwischen auch grundsätzlich in den Grundrechtsschutz integriert.379 Dabei ist eine einheitliche überzeugende Herleitung der Vorsorge bezogen auf den Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht bisher unterblieben. 374

BVerfG, Urt. v. 24.11.2010 – 1 BvF 2/05, Rn. 135, juris. BVerfG, Urt. v. 24.11.2010 – 1 BvF 2/05, Rn. 140, juris; Fisahn, CETA und TTIP im Konflikt mit dem Vorsorgeprinzip, S. 8. 376 BVerwG, NVwZ 1998, 952 (953); Kloepfer, in: Bonner Kommentar; Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 20a, Rn. 49. 377 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BRD, Art. 20a, Rn. 16; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20a, Rn. 90; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band. 2, § 20a, Rn. 87, 89; Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 2, Rn. 17. 378 BVerwG, NVwZ 1983, 32 (34); OVG Münster, NVwZ 2009, 987 (988); Kloepfer/ Durner, Umweltschutzrecht, § 3, Rn. 8, § 5, Rn. 9; Kahl/Gärditz, Umweltrecht § 4, Rn. 23. 379 BVerfG, NJW 1996, 651 (652), BVerfG-K v. 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95, Rn. 7 f., juris. 375

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Ursprünglich war von den „in § 1 Nr. 2 und in § 7 Absatz 2 AtomG niedergelegten Grundsätzen der [. . .] Gefahrenabwehr und Risikovorsorge“ 380 die Rede, nunmehr wird nur noch von Risikovorsorge gesprochen. Hierbei lässt das Bundesverfassungsgericht eine klare Trennung zwischen der Risikovorsorge und dem Vorsorgeprinzip vermissen. Die Bezugnahme zu dem im Atomrecht niedergelegten Grundsatz der Risikovorsorge kann nur so interpretiert werden, dass das Gericht eine Risikovorsorge aus dem im einfachen Recht verankerten Vorsorgeprinzip entnommen hat. Da der Kalkar I-Beschluss (1978) und der Mülheim-Kärlich-Beschluss (1979) viele Jahre vor der Einfügung des Art. 20a GG in die Verfassung ergangen sind, konnte das Vorsorgeprinzip noch nicht aus Art. 20a GG entnommen werden. Der Gentechnikbeschluss aus dem Jahr 2010 deutet jedoch darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht Risikovorsorge aus Art. 20a GG herleitet.381 Wird die Vorsorge am Art. 20a GG festgemacht, kann Risikovorsorge dennoch keine allgemeingültige Wirkung für Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder für sonst ein Grundrecht entfalten, weil die Funktion als Staatszielbestimmung sonst vereitelt würde, die über eine bloße Handlungs- und Förderungspflicht keinen grundrechtlichen Schutzanspruch aktivieren kann.382 Der verfassungsrechtliche Vorsorgebegriff kann auch deswegen nicht den Anknüpfungspunkt im Art. 20a GG finden, weil vielfältige Fallkonstellationen vorhanden sind, in denen es gerade nicht um umweltrechtliche Belange geht. Denn Umweltbelastungen, deren Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit mit Ungewissheiten behaftet sind, erfassen allenfalls die Risikovorsorge, nicht hingegen die Gefahrenvorsorge. Auch das Vorsorgeprinzip, das dem Art. 20a GG immanent ist, hilft für die Bestimmung des Ausmaßes über Grundrechtsfunktionen nicht weiter, da diesem gerade keine individualrechtsschützende Bedeutung zukommt. Darüber hinaus gilt das Vorsorgeprinzip in Deutschland wohl noch nicht einmal als allgemeines Rechtsprinzip, sondern eher als Leitprinzip.383 Das Bundesverfassungsgericht kann das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip zudem nicht zum Verfassungsrang erheben und noch dazu aus einfachgesetzlichen Umweltvorschriften wie dem Atom-, dem Bundesimmissionsschutz- oder dem Gentechnikgesetz die Antwort über die Wirkdimension der Grundrechte entnehmen. Vielmehr muss sich diese Antwort aus dem Grundgesetz selbst ergeben. Vor diesem Hintergrund ist die angesprochene Verfassungsrechtsprechung zur Vorsorge nicht sehr erhellend. 380

BVerfGE 49, 89 (143), BVerfG, NJW 1979, 359 (363). BVerfG, Urt. v. 24.11.2010 – 1 BvF 2/05, Rn. 135, juris. 382 So aber Luthe, in: FS für Frank, S. 77 (86). 383 Di Fabio, in: FS für Ritter, S. 807 (820); Köck, in: Hansjürgens/Nordbeck, Chemikalienregulierung, S. 85 (92). 381

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Nach der hier vertretenen Auffassung ist eine Herleitung der Vorsorge aus Art. 20a GG nicht möglich, zumindest wenn Art. 20a GG für die Gefahren- und Risikovorsorge konstitutiv sein soll. Eine grundrechtsverstärkende Funktion384 kann der Norm in der Tat zukommen. Bei der Prüfung einer Gefahrenlage kann sich der Schutzgutrang erhöhen, wenn ein Grundrechtsgut zusätzlich durch Umweltbelastungen gefährdet wird. Innerhalb eines Abwägungsprozesses bei kollidierenden Verfassungsgütern hat Art. 20a GG ein eigenständiges Gewicht.385 Im Fall von Schutzpflichten im mehrpoligen Verfassungsverhältnis führt diese Erkenntnis dazu, dass beispielsweise Umweltbelastungen innerhalb der Interessenabwägung zwischen „Opfer“ und „Störer“ eine eigenständige Gewichtung erfahren. Im Verwaltungsverfahren kommt dem Umweltschutz eine ermessenslenkende Wirkung zu.386 Für die Schutzpflichtdiskussion hat dies zur Folge, dass insbesondere der Gesetzgeber, aber auch die Verwaltung und die Gerichte bei der Handlungsauswahl unter mehreren denkbaren Maßnahmen diejenige zu wählen haben, die dem Umweltschutz Rechnung trägt. Der vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum kann dann nur auf Maßnahmen beschränkt sein, die den Umweltschutz berücksichtigen. (4) Gefahrenvorsorge sowie Risikovorsorge aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Weiterhin kann überlegt werden, ob Vorsorge vor Grundrechtsgefahren und Risiken darüber hinaus auch wegen des Einflusses des Unionsrechts Schutzpflichten aktiviert. Im deutschen Verwaltungsrecht ist in § 42 Abs. 2 VwGO das Verletztenklagemodell geregelt. Demnach muss der Kläger geltend machen, in einem eigenen subjektiv-öffentlichen Recht verletzt zu sein.387 Somit dient das deutsche Prozessrecht vor allem dem Individualrechtsschutz. Der Kläger muss die Verletzung

384 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BRD, Art. 20a, Rn. 16; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20a, Rn. 90; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, § 20a, Rn. 87, 89; Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 2, Rn. 17. 385 BVerfG, NVwZ 2007, 808 (810); Blasberg, Inhalts- und Schrankenbestimmungen, S. 163; Keuthen, Abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung, S. 173; Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20a, Rn. 91; ablehnend: Kotulla, der den Umweltschutz als öffentlich-rechtliche Aufgabe ansieht und den Einfluss in die Ermessensausübung aus der öffentlich-rechtlichen Aufgabe entnimmt, Kotulla, Umweltschutz, S. 47. 386 Peters, NVwZ 1995, 555 (556 f.); Kloepfer, DVBl. 1996, 73 (75 f.); Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 20a, Rn. 94. 387 Porsch, NVwZ 2013, 1393 (1393); Wysk, in: Wysk, Verwaltungsgerichtsordnung, § 42, Rn. 110.

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eines subjektiv-öffentlichen Rechts geltend machen, weil die Klage sonst unzulässig ist, was an einem Vergleich der §§ 42 Abs. 2 VwGO und § 113 VwGO deutlich wird.388 Durch das Europarecht ist das Konzept des Individualrechtsschutzes allerdings erschüttert worden. Zunächst wurde Umweltverbänden im Trianel-Urteil der Zugang zu nationalen Gerichten eingeräumt, um die Nichteinhaltung objektiver Umweltnormen rügen zu können.389 Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Janecek-Urteil darüber hinaus ein Individualklagerecht anerkannt.390 Hintergrund war ein Vorabentscheidungsverfahren des Bundesverwaltungsgerichts. Als letztinstanzliches nationales Gericht hatte das Bundesverwaltungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht, dem Europäischen Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren die zu klärende unionsrechtliche Frage vorzulegen.391 Gefragt wurde unter anderem, ob sich aus Art. 7 Abs. 3 der damaligen Luftqualitäts-Rahmenrichtlinie392 ein Anspruch des Einzelnen auf Erstellung eines Aktionsplanes bei der Gefahr einer Grenzwertüberschreitung von Feinstaub ergibt. Diese Frage bejahte der Europäische Gerichtshof, ließ jedoch die Frage zum Inhalt des Aktionsplans unbeantwortet. Die neue Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG hat die LuftqualitätsRahmenrichtlinie im Jahr 2008 abgelöst. Franzius meint, dass diese neue Richtlinie ein Individualklagerecht nur noch für Stickstoffdioxid und Schwefeldioxid vermittelt.393 Er begründet seine Auffassung mit dem in Art. 24 der Richtlinie 2008/50/EG eingeräumten Ermessen, welches die Mitgliedstaaten für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen eingeräumt bekommen haben. Dieses Ermessen besteht laut Richtlinie jedoch nicht für Stickstoffdioxid und Schwefeldioxid. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH auch für andere Schadstoffe der Richtlinie ein individuelles Klagerecht anerkennen wird. Insgesamt besteht jedoch der Trend der Instrumentalisierung der Bürger zur Durchsetzung des (auch objektiven) europäischen Umweltrechts durch die Europäische Union.394 Mit diesem Trend wäre eine Versagung zum Zugang nationaler Gerichte durch den EuGH bei den übrigen Luftschadstoffen der Richtlinie, die zumindest auch dem Gesundheitsschutz dienen, schwerlich vereinbar. Für Stickstoffdioxid und Schwefeldioxid je-

388

Wysk, in: Wysk, Verwaltungsgerichtsordnung, § 42, Rn. 123. EuGH, Urt. v. 12.05.2011 – C-115/09, NVwZ 2011, 801 (802). 390 EuGH, Urt. v. 25.07.2008 – C-237/07, Rn. 42, EuZW 2008, 573. 391 Latzel/Streinz, NJOZ 2013, 97 (99); Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, Art. 267, Rn. 27. 392 ABl. L 296/55 vom 21.11.1996. 393 Franzius, in: FS für Kloepfer, S. 377 (380); anderer Meinung ist das Bundesverwaltungsgericht, das die Janecek-Entscheidung ohne Weiteres auf Luftreinhaltepläne überträgt, BVerwG, NVwZ 2014, 64 (67), Rn. 41. 394 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, S. 19– 50. 389

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denfalls geht der EuGH von einem subjektiv-öffentlichen Recht aus. Der § 42 Abs. 2 VwGO muss in diesen Fällen unionsrechtskonform ausgelegt werden.395 Exemplarisch zeigt dieses Urteil den Willen der Europäischen Union, den Bürger zur Durchsetzung des europäischen Umweltrechts zu mobilisieren.396 Das deutsche Recht trennt zwischen nicht justiziabler Vorsorge und drittschützender Gefahrenabwehr. Dagegen kennt der EuGH eine solche Trennung nicht. Mithin führt die europäische Rechtsprechung bei Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid zu einer Durchbrechung der deutschen Rechtsdogmatik, weil das Gericht die Vorsorge mit der Gefahr gleichsetzt. Daher sind der Gesundheit dienende Umweltnormen auch durch Einzelne einklagbar. Diese Erkenntnis hat zur Folge, dass Vorsorge, beispielsweise durch Stickstoffdioxidgrenzwerte, gem. § 42 Abs. 2 VwGO ein subjektiv-öffentliches Recht aufgrund der unionsrechtlichen Überlagerung begründet. Für die Schutzpflichtdiskussion stellt sich die Frage, welche Auswirkungen insbesondere das Janecek-Urteil auf die Wirkdimension des Grundgesetzes hat. Anders als im Verwaltungsrecht stellt sich das Problem der Vorsorge hier nicht auf der Ebene der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs innerhalb der Klagebefugnis. Auf den ersten Blick könnte die Verfassungsbeschwerde an der Beschwerdebefugnis gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG, genauer gesagt an der eigenen Betroffenheit, scheitern. Grundsätzlich müssen Beschwerdeführer, um „Popularbeschwerden“ zu vermeiden, behaupten können, dass sie in eigenen Rechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind.397 Um an das Unterlassen eines Mindestschutzniveaus nicht zu strenge Voraussetzungen zu knüpfen, reicht hingegen aus, wenn substanziiert dargelegt wird, dass eine Grundrechtsverletzung nicht von vornherein ausgeschlossen ist.398 Dafür müssen sich Beschwerdeführer „mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auch unter Berücksichtigung einschlägiger Rechtsprechung des BVerfG auseinandersetzen und hinreichend substanziiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint“.399

Das tatsächliche Bestehen eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf Schutz ist somit auf der Ebene der Begründetheit zu prüfen. Selbst betroffen ist dabei jeder, 395 Dazu Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 536–539; teilweise wird gefordert, die Klagebefugnis über § 42 Abs. 2 1. Hs. VwGO („soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt“) herzuleiten, dazu Rozek, JURA 2021, 30 (37); für die grundrechtliche Dimension ist der Ausgang des Streits ohne Bedeutung. 396 Franzius, in: FS für Kloepfer, S. 377 (379). 397 BVerfGE 53, 30 (48); Barzcak, in: Barczak, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 92, Rn. 29. 398 So auch BVerfGE 53, 30 (50), BVerfGE 77, 170 (213), Möstl, DÖV 1998, 1029 (1033). 399 BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1823).

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der den Risiken ausgesetzt ist, auch wenn der Kreis der Betroffenen groß sein mag.400 Auch sollte die Prüfung der Gegenwärtigkeit nicht zu streng erfolgen, denn seit dem Kalkar I-Beschluss ist klar, dass auch der Bereich der Risikovorsorge Schutzpflichten aktivieren kann. Da innerhalb der Risikovorsorge Ungewissheit herrscht, ob Gefährdungen überhaupt bestehen, wirkt sich die Ungewissheit auch auf die Gegenwärtigkeit aus. Ob die Beschwerdeführer somit schon oder noch in ihrer grundrechtlich verbürgten Schutzsphäre betroffen sind, kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Indem die Schutzpflichtdimension regelmäßig im Vorfeld einer Gefahr oder eines Risikos aktiviert wird, muss diese Eigenschaft im Prüfungssystem der Verfassungsbeschwerde berücksichtigt werden.401 Aus diesem Grund muss die Möglichkeit der gegenwärtigen Betroffenheit für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ausreichend sein. Andernfalls würde die gerichtliche Durchsetzbarkeit des Schutzanspruchs regelmäßig ins Leere laufen. Zudem wäre es wegen Vorwegnahme der Begründetheitsprüfung systemwidrig, schon im Rahmen der Zulässigkeit die schutzpflichtenaktivierende Schwelle zu bestimmen. Es zeigt sich mithin, dass die Beschwerdebefugnis deutlich weiter und für die Beschwerdeführer günstiger ausgestaltet ist als im verwaltungsgerichtlichen Prozessrecht. Aus diesem Grund verlagert sich die Fragestellung, inwiefern Vorsorge grundrechtlichen Individualrechtsschutz ermöglicht, in die Prüfung der Begründetheit. Dort wird festgestellt, ob eine Schutzpflicht besteht. Innerhalb dieses Themenkomplexes entscheidet sich, ob eine Vorsorge bezogen auf die Vermeidung von Grundrechtsgefahren oder die Risikovorsorge Schutzpflichten auslöst. Mithin wird über grundrechtlichen Individualrechtsschutz bei Vorsorge von Grundrechtsgefahren und Risiken erstmalig in der Begründetheitsprüfung entschieden. Vor dem Hintergrund, dass das Verfassungsrecht nach der hier vertretenen These einen eigenständigen, dem Grundgesetz entnommenen Vorsorgebegriff beinhaltet, erfährt der beschriebene Konflikt mit § 42 Abs. 2 VwGO eine erhebliche Relativierung. Diese Relativierung wird vor allem dadurch gestärkt, dass das Bundesverfassungsgericht das Unionsrecht bei der nationalen Verfassungsauslegung beachten muss, was schon im Costa/ENEL-Urteil des EuGH angesprochen und im Urteil Internationale Handelsgesellschaft ausdrücklich geklärt wurde.402 Denn eine Auslegung der Verfassung, die im Widerspruch zum Unionsrecht steht, kann nicht im Einklang mit dem Unionsrecht sein, soweit die Europäische Union in400

Möstl, DÖV 1998, 1029 (1033). Möstl, DÖV 1998, 1029 (1033). 402 EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64, BeckRS 1964, 105086, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 17.12.1970 – 11/70, BeckRS 2004, 71230; Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 359. 401

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nerhalb ihrer durch die Verträge zugesprochenen Kompetenzen handelt. Anders vermag das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis zwischen dem Grundgesetz und dem Unionsrecht einordnen. Zutreffend sollte im Umgang zwischen EuGH und BVerfG jedoch nicht von einem Machtkonflikt oder einer Hierarchie gesprochen werden, sondern eher von verschieden gelagerten Kompetenzen oder von einem durch Kooperation geprägtes Netzwerk.403 Ohne die Materie des Rangverhältnisses näher zu beleuchten, ist immerhin klar, dass das Verfassungsgericht das Grundgesetz europarechtsfreundlich auslegt.404 Demgemäß wird sich das Bundesverfassungsgericht vor dem Janecek-Urteil des EuGH nicht verschließen. Die Richtlinie 2008/50/EG dient laut der Überschrift des Art. 13 und dem Erwägungsgrund 2 nicht nur dem Umweltschutz, sondern auch dem Gesundheitsschutz. Für das Grundgesetz bedeutet dies, dass die Richtlinie auch Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen sowie vor Risiken der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG genannten Rechtsgüter betreibt. Zwar prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob ein Akt der öffentlichen Gewalt die Grundrechte dadurch verletzt hat, dass der Einfluss der Grundrechte in allen Bereichen des Rechts verkannt wurde.405 Aufgrund der europarechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes ist der der Gesundheit dienende Zweck der Richtlinie somit als Vorsorge bezogen auf die Vermeidung von Grundrechtsgefährdungen und Risiken für die Güter der körperlichen Unversehrtheit und das Leben zu verstehen. Für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht das Bestehen von Schutzpflichten bei Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid oder Schwefeldioxid ablehnen möchte, hat es im Falle einer einschlägigen anhängigen Verfassungsbeschwerde ein Vorlageersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten. Bereits in der Solange I-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht das Vorabentscheidungsverfahren als für sich verbindlich anerkannt.406 Beim Unterlassen des Vorlageersuchens droht sonst ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische Kommission.407 Zudem geriete das Bundesverfassungsgericht in Wertungswidersprüche, wenn Vorsorge zumindest bei Stickstoffdioxid- und Schwefeldioxidgrenzwerten vor dem verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug individualschützend ist, das Grundgesetz den Grundrechtsschutz jedoch verwehren würde. 403

Fisahn/Ciftci, JA 2016, 364 (369 f.). BVerfG, NJW 2009, 2267 (2270); BVerfG, NJW 2010, 3422 (3424); Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (2); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, Art. 1, Rn. 24. 405 BVerfGE 13, 318 (325); Gusy, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1619 (1620); Wieland, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, Art. 93, Rn. 87. 406 BVerfGE 37, 271 (282); Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, Art. 267, Rn. 27. 407 Lenski/Mayer, EuZW 2005, 225. 404

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Da die Gefahren- und Risikovorsorge schon nach dem Grundgesetz Schutzpflichten auslöst, kann die europarechtlich skizzierte Dimension insgesamt nur zu einer Aufwertung und Verstärkung des Grundrechtsschutzes bei der Vorsorge von Grundrechtsgefahren und Risiken führen, unabhängig davon, ob sich der Vorsorgegedanke des Unionsrechts auf Stickstoffdioxid- und Schwefeldioxidgrenzwerte beschränkt oder ob sich die Vorsorge auf alle in der Richtlinie 2008/ 50/EG genannten Luftschadstoffe erstreckt. (5) Zwischenergebnis Festzuhalten bleibt, dass sich Vorsorge gerichtet auf die Vermeidung von Grundrechtsgefahren und Risiken aus der Wirkdimension der einzelnen Grundrechte ergibt. Sind zusätzlich Umweltbelange in Form von Umweltbelastungen betroffen, kann sich sowohl der Schutzgutrang innerhalb der Prüfung einer Vorsorgesituation erhöhen, als auch im Abwägungsprozess in mehrpoligen Verfassungsverhältnissen eine Bedeutung erlangen. Zudem gebietet auch das Europarecht eine Stärkung der Grundrechtsvorsorge, wenn ein Rechtsakt der Europäischen Union wie die Richtlinie 2008/50/EG dem Gesundheitsschutz und zugleich dem Umweltschutz dient. Wenn Rauschning die Meinung vertritt, dass Gefahrenvorsorge keine grundrechtlichen Schutzpflichten auslösen könne,408 kann ihm somit nicht gefolgt werden. bb) Bestimmung der notwendigen Anpassungen beim Vorsorgebegriff Wie gezeigt wurde, ist für die Verwirklichung der Grundrechte unabdingbar, den Bereich der Gefahren- und Risikovorsorge im Grundgesetz insgesamt auszudehnen. Im Umgang mit Vorsorge besteht jedoch allgemein Zurückhaltung bei der Anwendung innerhalb der Rechtsordnung. Die Gefahrenvorsorge als Eingriffsschwelle im Vorfeld einer konkreten Gefahr wurde bisher im Sicherheitsrecht zur Abwehr unklarer Gefährdungslagen des Terrorismus, genauer im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Novelle des BKA-Gesetzes, nur für Informationsbeschaffung und -verarbeitung zur Vorbeugung von Gefahren und zur Verhinderung von Straftaten zur internationalen Terrorismusbekämpfung für verfassungsgemäß erachtet.409 Sicherheitsrechtliche Grundrechtseingriffe im Bereich der Gefahrenvorsorge sind dort als sogenannte Gefahrerforschungseingriffe nur zur Ermittlung einer Gefahrenlage, also zur Gefahraufklärung durch Informationsbeschaffung, -gewinnung und -verarbeitung,

408 409

Rauschning, VVDStR Heft 38, S. 167 (193). BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785).

II. Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht

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zulässig.410 Zu Recht weist Möstl in dem Zusammenhang darauf hin, dass sicherheitsrechtliche (einfachgesetzliche) Gefahrenvorsorge nicht nur zur Bekämpfung des Terrorismus zulässig sein sollte, sondern auch bei anderen Bedrohungslagen, weil Rechtsgüterschutz nicht an einer bestimmten Motivation, namentlich der des Terrorismus, festgemacht werden dürfe.411 Durch neue Polizeigesetze der Länder in den letzten Jahren ist die Tendenz erkennbar, dass vermehrt Befugnisnormen für Grundrechtseingriffe im Vorfeld einer konkreten Gefahr geschaffen wurden.412 Für Grundrechtseingriffe im Rahmen der Gefahrenvorsorge hat das Bundesverfassungsgericht strenge Maßstäbe festgelegt.413 So ist stets eine hinreichend bestimmte Eingriffsgrundlage nötig, die tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr fordert.414 Darüber hinaus muss ein überragend wichtiges Rechtsgut bedroht sein.415 Letztlich muss sich die Maßnahme auf bestimmte Personen beschränken.416 Die zurückhaltende Nutzung der Gefahrenvorsorge als Eingriffsschwelle im Sicherheitsrecht ist im Verfassungsrecht hingegen nicht geboten, weil abstrakt-kollektive Bedrohungen unterhalb der Gefahrenschwelle dem Grundrechtsschutz nicht einfach entzogen werden dürfen.417 Überdies stellt sich die Frage, ob die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten strengen Kriterien für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen zur Gefahrenvorsorge auf Grundrechtsgefährdungen und Risiken übertragbar sind. Der Sinn und Zweck für die zurückhaltende Anwendung der Gefahrenvorsorge im Sicherheitsrecht liegt in dem Umstand, dass teils intensive Grundrechtseingriffe in die Privatsphäre Einzelner wegen des Vorbehalts des Gesetzes einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage bedürfen.418 Je mehr der Gefahrenbegriff ins Vorfeld des Konkreten verschoben wird, desto weniger Tatsachengrundlage ist für eine Gefahrenprognose vorhanden. Die Folge könnte eine Ausuferung polizeilicher Gewaltausübung bedeuten. Die gewaltenbegrenzende Funktion des klassischen Gefahrenbegriffs würde dadurch vereitelt. Dieses gewaltbegrenzende Motiv ist bei der Vorsorge vor Grundrechtsgefahren und Grundrechtsrisiken nicht vorhanden, denn die Annahme einer Schutzpflicht stellt für 410 Gusy, JA 2011, 641 (642); Gusy, in: Graulich/Simon, Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, S. 273 (278); Möstl, in: Kulick/Goldhammer, Der Terrorist als Feind?, S. 76. 411 Möstl, in: Kulick/Goldhammer, Der Terrorist als Feind?, S. 80. 412 Möstl, DVBl. 2007, 581 (582 f.). 413 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785). 414 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785). 415 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785). 416 BVerfG, NJW 2016, 1781 (1785). 417 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 247. 418 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 20, Rn. 172.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

sich genommen noch keine Eingriffsgrundlage in Grundrechte Dritter dar,419 sondern bedarf für Eingriffe wegen des Vorbehaltes des Gesetzes einer eigenständigen gesetzlichen Eingriffsgrundlage durch den Gesetzgeber oder durch ein exekutives Handeln.420 Mit anderen Worten bedeutet das: Schutzpflichten sollen Grundrechtsgüter schützen und nicht begrenzen. Darüber hinaus dient grundrechtliche Vorsorge nicht, wie im Polizeirecht, allein zur Gefahraufklärung durch Informationsbeschaffung, sondern zur Auslösung von Schutzpflichten allgemein. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, folgt daraus, dass eine Anwendung der strengen Anforderungen an Gefahrenvorsorge im Sicherheitsrecht, bei Vorsorge vor Grundrechtsgefährdungen sowie bei der Risikovorsorge nicht geboten ist. Damit ist geklärt, welche Anpassungen bei der Übertragung des Vorsorgebegriffs nötig sind. Die Frage, ob eine derartige begriffliche Ausdehnung des Vorsorgebegriffs verfassungsrechtlich möglich ist, wurde schon eigenständig erörtert.421 Im Verfassungsrecht sind mithin erhebliche Ausweitungen und Anpassungen des tradierten Vorsorgebegriffs zwingend, so dass das Vorliegen einer Vorsorgesituation selbst Schutzpflichten auslösen kann. Dieses Ergebnis darf nicht falsch verstanden werden. Im Sicherheitsrecht hat die restriktive Anwendung der Gefahrenvorsorge für Grundrechtseingriffe wegen ihrer unmittelbaren Eingriffsqualität ihre Berechtigung und darf nicht aufgegeben werden. cc) Gefahrenvorsorge bei Diagnose- und/oder Prognoseunsicherheiten Der Bereich der Gefahrenvorsorge ist eröffnet, wenn Unsicherheiten auf Diagnoseebene und/oder bei der Gefahrenprognose bestehen.422 Manche Stimmen vertreten die Ansicht, die Gefahrenvorsorge beziehe sich nur auf Informationsdefizite bei der Sachverhaltsermittlung, nicht hingegen auf Prognoseunsicherheiten.423 Hierbei wird außer Acht gelassen, dass Informationsdefizite stets zu unsichereren Prognoseentscheidungen führen. Sachverhaltsdiagnose und Prognoseentscheidung sind demnach untrennbar miteinander verbundene Elemente einer 419 Driendl, Zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer Strafgesetzgebungswissenschaft in der Gegenwart, S. 23. 420 Dieses Problem übersieht Jeand’Heur, JZ 1995, 161 (164). 421 Dazu III. 2. b) dd) (1) – (5). 422 BVerwG, Urt. v. 18.12.2002 – 6 CN 3/01; BeckRS 2003, 23131; BVerwG, Beschl. v. 02.08.2013 – 6 BN 1.13, LKV 2013, 464, Rn. 16; Voßkuhle, JuS 2007, 908 (909); Schoch, JURA 2003, 472 (475); Fisahn, CETA und TTIP im Konflikt mit dem Vorsorgeprinzip, S. 6; Meyer, JURA 2017, 1259 (1265); Trurnit, in: Möstl/Trurnit, BeckOK Polizeirecht Baden-Württemberg, § 1, Rn. 26. 423 Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, § 8, Rn. 51; Mühl/Fischer, in: Möstl/Bäuerle, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Hessen, § 1, Rn. 70.

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Prognoseentscheidung. Demnach reagiert die Gefahrenvorsorge auf Diagnosedefizite und auf die Prognose des hypothetischen Kausalverlaufs. dd) Gefahrenvorsorge und Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten Um im Polizeirecht einen Gefahrenverdacht anzunehmen, müssen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die darauf schließen lassen, dass eine Gefahr möglicherweise besteht. Das Festhalten an dem Erfordernis von tatsächlichen Anhaltspunkten ist dort wichtig, weil der Staat sonst willkürlich jedes freiheitsrelevante Verhalten mit jedem erdenklichen hypothetischen Besorgnispotential jenseits der praktischen Vernunft rechtfertigen könnte.424 Deswegen reichen dem Polizeirecht bloße Vermutungen und Verdachtsmomente nicht aus.425 Daher steht die Frage im Raum, ob am Erfordernis von tatsächlichen Anhaltspunkten im Verfassungsrecht für den Bereich der Vorsorge vor Grundrechtsgefahren festgehalten werden muss. Denn die Schutzpflicht greift, anders als die Gefahrenvorsorge im Polizeirecht, niemals in Grundrechte Dritter ein. Zudem fordert das Risiko lediglich eine aufgrund von wissenschaftlichen Erkenntnissen prognostizierte Möglichkeit einer künftigen Gefahr, deren Verwirklichung nicht jenseits der praktischen Vernunft liegen darf. Tatsächliche Anhaltspunkte sind somit keine Voraussetzung für die Annahme eines Risikos. Sind hingegen Risiken, sogar die Risikovorsorge, ausreichend, um staatliche Schutzpflichten zu aktivieren, dann erscheint es merkwürdig, wenn die Anforderungen an die Vorsorge vor Grundrechtsgefahren höher liegen sollen. Dennoch sind auch im Verfassungsrecht, wenn der Bereich der Gefahrenvorsorge eröffnet ist, tatsächliche Anhaltspunkte zu fordern, schon um die Begrifflichkeiten voneinander zu trennen. Außerdem sind Sachverhalte denkbar, in denen keine Risiken bestehen, wohl aber Gefahrenvorsorge geboten ist. Dies wird schon am Beispiel von terroristischen Bedrohungen deutlich. Terroristische Bedrohungen sind keine Kategorie, in der die Wissenschaft und Forschung Wissensdefizite beseitigen kann. Fehlen also tatsächliche Anhaltspunkte, so ist der Bereich der Vorsorge vor Grundrechtsgefahren vorerst nicht betroffen. Es ist anschließend danach zu fragen, ob eventuell ein Risiko für eine Grundrechtsgefahr besteht. Was sodann unter tatsächlichen Anhaltspunkten verstanden wird, bedarf der Klärung. Tatsächliche Anhaltspunkte müssen mehr sein als bloße Vermutungen ins Blaue hinein. Tatsächliche Anhaltspunkte sind auch nicht gleichzusetzen mit Tatsachen, sondern begnügen sich mit weniger strengen Anforderungen. Sonst bestünde kein Unterschied zum Gefahrenbegriff mehr. Für die Rechtsprechung 424 Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 425 VGH München, Beschl. v. 30.04.2009 – 10 CS 09.1008, BeckRS 2010, 53471, Rn. 15.

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liegen tatsächliche Anhaltspunkte vor, wenn es nach polizeilicher oder gefahrenabwehrbehördlicher Erfahrung als möglich erscheint, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt und hierfür bestimmte Indizien sprechen.426 Die bloße Möglichkeit, dass kollektive Gefährdungen bestehen, gibt es in einer industrialisierten Welt immer. Aus rechtsstaatlichen Gründen wie dem Willkürverbot oder dem Gebot der Beschränkung staatlicher Gewaltausübung reicht die bloße Möglichkeit, dass eine Gefahr vorliegen könnte, nicht aus. Tatsächliche Anhaltspunkte können demnach nur Indizien darstellen. Das Vorliegen von Tatsachen muss mittels der vorhandenen Indizien wahrscheinlich sein.427 ee) Anwendung des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität im Bereich der Vorsorge Indem das Verhältnismäßigkeitsprinzip das gesamte Verfassungsrecht durchdringt, gilt als dessen Ausprägung der Grundsatz der umgekehrten Proportionalität auch im Bereich der grundrechtlichen Vorsorge.428 Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet diese Abwägungsregel im Vorfeldbereich einer polizeirechtlichen Gefahr.429 Unter Anwendung der umgekehrten Proportionalität lassen sich ebenfalls Unsicherheiten bei der Prognose der hypothetischen Kausalverläufe durch das Ausmaß der drohenden Schäden und des Schutzgutranges ausgleichen.430 e) Versuche der Begrenzung Durch eine uneingeschränkte Anwendung der Vorsorge würde sich der grundrechtliche Schutzanspruch unendlich weit ins Gefahren- und Risikovorfeld erstrecken, da Gefahren sowie Risiken durch nahezu jede Verhaltensweise von privaten Dritten oder durch Umwelteinflüsse entstehen können. Daher besteht die Notwendigkeit, den Bereich der Vorsorge einzuschränken. aa) Restrisiko wegen Erkenntnisdefizit als Versuch der Beschränkung Der Versuch in der Literatur, Risiken, die die Gefahrenschwelle noch nicht erreicht haben, grundsätzlich als allgemeine Risikotragungspflicht der Allgemeinheit aufzuerlegen,431 überzeugt wegen des Bedürfnisses nach vorsorgendem Grundrechtsschutz im Vorfeld einer Grundrechtsgefährdung oder eines Risiko426 427 428 429 430 431

VG Frankfurt am Main, Urt. v. 01.12.2014 – 5 K 2486/13.F, LKRZ 2015, 55 (56). Poscher, NVwZ 2001, 141 (142). Basten, Recht der Polizei, Rn. 626. BVerfGE 113, 348 (386). Hierzu unter C. II. 2. b) gg) – C. II. 2. b) hh). Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 143.

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schutzes nicht. Vor allem die Begründung in Gestalt eines Vergleichs mit dem Polizeirecht, wo Private den Risiken unterhalb der Gefahrenschwelle ebenfalls ausgesetzt seien,432 wird der Dimension der Grundrechte und den beschriebenen Differenzen zwischen Verfassungs- und Polizeirecht nicht gerecht. Die Vertreter der allgemeinen Risikotragungspflicht beschäftigen sich nicht hinreichend mit dem von der Allgemeinheit hinnehmbaren Restrisiko, wo bestimmte Risiken eingeordnet werden müssen. In einer technisierten Industriegesellschaft kann absolute Sicherheit im Sinne von maximalem Schutz nicht existieren.433 Der Ansicht, die vertritt, dass es ein Grundrecht auf „risikofreies Leben“ 434 nicht gibt, ist in diesem Zusammenhang zuzustimmen. Schließlich besteht der von der Zivilgesellschaft zu tragende Preis für Wohlstand und moderner Industrie darin, dass manche Risiken hingenommen werden müssen.435 Daher ist klar, dass nicht jede irgendwie geartete ungewisse Bedrohung der Grundrechte Schutzpflichten auslösen kann. Andernfalls läge der Schwerpunkt staatlichen Handelns auf Beschränkungen von Freiheitsbereichen, was der Grundkonzeption des Grundgesetzes entgegensteht.436 Daher müssen sogenannte Restrisiken hingenommen werden. Als denkbare Grenze hat bereits das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass Risiken, die anhand des aktuellen Standes von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen sind, keine Schutzpflichten aktivieren können: „Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen.“ 437

Das Recht kann naturgemäß keinen Schutz vor theoretischen Restrisiken fordern, wenn keinerlei Erkenntnisgrundlage vorhanden ist und wissenschaftlich auch nicht ergründbar ist. Risikoentscheidungen im Bereich des staatlichen Handelns im Ungewissen, die aufgrund des aktuellen Standes der Wissenschaft und Forschung praktisch ausgeschlossen sind, obliegen daher allein einem politischen Abwägungsprozess des Gesetzgebers und den verwaltungsinternen Entscheidungsträgern.438 Andererseits geriete eine Verlagerung zwischen den Gewalten zu Gunsten der Judikative in einen Konflikt mit der Gewaltenteilung.

432

Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 137. Marburger, WiVerw 1981, S. 241 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 242; Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, S. 128. 434 Benda, ET, 1981, 868 (869). 435 Gethmann/Kloepfer, Handeln unter Risiko im Umweltstaat, Vorwort. 436 Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 143. 437 BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfG, NVwZ 2009, 171 (172). 438 BVerfG, NJW 1979, 359 (360). 433

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Die Folge in dem Zusammenhang besteht zudem darin, dass der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen im Rahmen eines solchen Entschließungs- und Auswahlermessens insoweit ein eigener Beurteilungsspielraum zuzusprechen ist, der sich einer (verfassungs-)gerichtlichen Nachprüfung entzieht. Die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle im Bereich des Restrisikos besteht jedoch nur insoweit, als dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch ausgewertet werden und anhand des vorhandenen Informationspools eine Risikoanalyse durchgeführt wird. Fehlen diese Elemente, so muss der verfassungsgerichtliche Rechtsweg auch für solche formellen Beanstandungen des Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren innerhalb des Restrisikos offenstehen.439 Dadurch erlangen die Grundrechtsträger zumindest einen rügefähigen Beschwerdegegenstand im Grundrechtsschutz. (1) Bestehendes Demokratiedefizit wegen Verwissenschaftlichung parlamentarischer Entscheidungen Die Knüpfung der Vorsorgeschwelle im Umgang mit Zulassungen von neuer Technologie an den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik ist insgesamt ein geeignetes Abgrenzungskriterium, offenbart aber zurzeit noch bestehende Schwächen. Der dynamische, wandelbare Begriff des aktuellen Standes von Wissenschaft und Technik berücksichtigt aktuelle Erkenntnisdefizite und fordert mit Zunahme von Erkenntnisgewinnen eine Nachbesserungspflicht,440 so dass dadurch die Vorsorgeschwelle zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann. Nur dadurch wird technischer Fortschritt erst ermöglicht.441 Der Begriff des aktuellen Standes von Wissenschaft und Technik, der ursprünglich im Technikrecht entwickelt wurde, lässt sich auf alle Konstellation von potenziellen Risiken grundsätzlich übertragen, wo legislatives und exekutives Handeln in Unkenntnis über die Gefahrenlage stattfindet. Freilich setzt das von der Gesellschaft nicht hinnehmbare Risiko damit voraus, dass das neuartige Risiko wie neue Technologien einer wissenschaftlichen Überprüfung zugänglich ist und eine Risikoanalyse sowie Risikoprognose erfolgen kann. Dieser Aspekt ist besonders bedeutungsvoll. Denn die Verknüpfung des Risikos mit der Verpflichtung des Staates zur am Stand der Wissenschaft und Forschung gemessenen Risikoanalyse und Risikoprognose zum Zweck der Risikobegrenzung stellt das entscheidende Rechtfertigungsmoment dar, dass neuartige

439 So im Umkehrschluss auch das Bundesverfassungsgericht: BVerfG, NVwZ 2010, 702 (704). 440 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 235. 441 Benda, ET, 1981, 868 (870).

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Technologien wie die Gentechnik oder aber der Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes der Zivilgesellschaft in Gestalt einer allgemeinen Risikotragungspflicht überhaupt zugemutet werden können. Mit dem Verbindungsglied des Standes von Wissenschaft und Technik wird eines deutlich: Die parlamentarische und exekutive Risikoentscheidung wird maßgeblich von externen Akteuren, nämlich der Wissenschaft, mitgestaltet, wenn auch die Letztentscheidung durch die Staatsgewalt vorgenommen wird.442 Dadurch erfahren Wissenschaft und Forschung eine erhebliche Aufwertung durch das öffentliche Interesse, jedoch zu Lasten der demokratischen Entscheidungsfreiheit des Parlaments. Wissenschaft und Forschung liegen im öffentlichen Interesse und dienen dem Gemeinwohl. Vor diesem Hintergrund zeigt sich ein Konflikt mit dem Demokratieprinzip, wie er zumindest aus diesem Blickwinkel bisher nicht ausreichend kritisch hinterfragt wurde. Im Jahr 2019 betrugen die Ausgaben der Wirtschaft für Forschung und Entwicklung circa 70,9 Milliarden A, während der Anteil des Staates für denselben Zeitraum nur rund 30,6 Milliarden A betrug.443 Da die Privatwirtschaft teilweise protektionistische Ziele verfolgt, besteht die Gefahr, dass sie von der geförderten Wissenschaft, die in einem faktischen finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu der Wirtschaft steht, Resultate, die für die Unternehmen zweckdienlich sind, erwartet. Für das Risiko gesprochen kann in der Risikoanalyse der Schwerpunkt dann weniger neutral gesetzt werden und/oder bei der Risikoprognose Teilszenarien vernachlässigt behandelt werden. Diese Schwäche sollte daher beseitigt werden. Ein weiterer Schwachpunkt an der derzeitigen Finanzierungspraxis besteht darin, dass in Forschungsgebieten, die wirtschaftlich wenig interessant sind, kaum geforscht wird. Solche Technologien werden dann mangels wissenschaftlichen Wissens viel eher dem Restrisiko zugeordnet. (2) Lösungsvorschlag zur Beseitigung des Demokratiedefizits Aus diesem Grund sollte die Finanzierung von Wissenschaft und Forschung als Gemeinwohlbelang durch den Staat sichergestellt werden und nicht zu einem beachtlichen Anteil durch die Privatwirtschaft erbracht werden. Alternativ könnten Gelder der Privatwirtschaft durch den Staat gesammelt, verwaltet und neutral vergeben werden. Um grundrechtliche Konflikte mit Art. 5 Abs. 3 GG sowie Art. 12 Abs. 1 GG zu vermeiden, sollte dies im besten Fall auf freiwilliger Basis beruhen.

442 So schon Däubner, in: Jahrbuch Arbeit und Technik in Nordrhein-Westfalen 1988, 21 (26). 443 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bildung und Forschung in Zahlen 2021, S. 7.

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(3) Ermittelte Erkenntnisdefizite als Restrisiko Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Sachverhalte, zu denen keinerlei Kenntnisse über Risiken vorhanden sind, dem Restrisiko unterfallen. Bekannterweise kann ein Restrisiko gerade bei neuartiger Technologie, bei der keine Kenntnis über die Risiken vorliegen, mit Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem späteren Zeitpunkt die Schwelle zur grundrechtsrelevanten Risikovorsorge erreichen.444 Die aufkommende Feinstaubproblematik, die mitunter durch den Gummiabrieb von Kraftfahrzeugen verursacht wird, zeigt dies sehr einprägsam, da diese Auswirkungen bis vor wenigen Jahren wegen eines Wissensdefizits nicht als potenziell risikobehaftet bekannt waren. Folglich dürfen die Begriffe des Restrisikos, des Risikos und der Gefahr nicht falsch verstanden werden, denn die Begriffe sind keine starren Sachverhalte. Sie unterliegen dem zeitlichen Wandel der wissenschaftlichen Durchdringung. Was heute noch ein Restrisiko ist, kann morgen aufgrund neuer Erkenntnisse schon ein Risiko sein. Was heute als Risiko eingeordnet wird, kann morgen in eine Gefahr umschlagen. Im Widerspruch zu den ergangenen Corona-Beschlüssen445 im Eilrechtsschutz hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss, in dem der Angeklagte in einem Strafverfahren die Aussetzung des anberaumten Termins zur Hauptverhandlung aufgrund des Coronavirus begehrte, entschieden. Das Infektionsrisiko stelle für die Bevölkerung ein allgemeines Lebensrisiko dar, das in diesem Fall keine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auslöse.446 Diese Auffassung bedeutet, dass das Infektionsrisiko dem grundrechtlich nicht relevanten Restrisiko zugeordnet wird, was nicht nur widersprüchlich ist, sondern auch inhaltlich unzutreffend ist, da zumindest der Bereich der Vorsorge eröffnet ist. bb) Restrisiko wegen Sozialadäquanz als Versuch der Beschränkung Das Bundesverfassungsgericht definiert das Restrisiko als sozialadäquate Lasten, die von der Gemeinschaft hingenommen werden müssen.447 Folglich werden sämtliche Risiken, die sozialadäquat sind, dem Restrisiko zugeordnet. Das aufgestellte Kriterium der Sozialadäquanz448 als Versuch des Ausschlusses von Schutzpflichten ist in der Rechtswissenschaft nicht neu. Es ist im Gegenteil ein weitverbreitetes Institut, welches ursprünglich von Welzel im Jahr 1939 begründet wurde, um die Strafbarkeit auszuschließen. 444 BVerfGE 49, 89 (130, 141); BVerfGE 56, 54 (78, 81); BVerfG, NJW 2002, 1638 (1639), BVerfG, NVwZ 2007, 805 (805); Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 198. 445 BVerfG-K, Beschl. v. 09.04.2020 – 1 BvQ 29/20, BeckRS 2020, 5620, Rn. 8; BVerfG, NJW 2020, 1427 (1428); BVerfG, NJW 2020, 2327 (2328). 446 BVerfG, NJW 2020, 2327 (2328). 447 BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfG, NVwZ 2009, 171 (172). 448 BVerfG, NJW 1979, 359 (363); BVerfG, NVwZ 2009, 171 (172).

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Handlungen, „die sich funktionell innerhalb der geschichtlich gewordenen Ordnung des Gemeinschaftslebens eines Volkes bewegen“, sollen kein strafbares Unrecht darstellen.449 Rechtsgüterschutz solle nicht vor allen Einwirkungen schützen, sondern nur diejenigen Einwirkungen abwehren, die mit dem „sittlich-geordnete[-n] Gemeinschaftsdasein“ unverträglich sind.450 Die Strafrechtswissenschaft lässt daher bei sozialadäquaten Handlungen nach überwiegender Auffassung die objektive Zurechnung jener Handlung entfallen, was zur Folge hat, dass der Tatbestand eines Deliktes nicht erfüllt ist.451 Qualifizierungen von Handlungen als sozialadäquat erfordern stets Bewertungen im Einzelfall. Das Institut der Sozialadäquanz ist mithin ein normatives Korrektiv. Dieses normative Korrektiv scheint das Bundesverfassungsgericht unreflektiert und ohne Bedenken im Verfassungsrecht anzuwenden, ohne sich der verfassungsrechtlichen Konsequenzen bewusst zu sein. Denn die Einordnung von Risiken als Restrisiken und damit als von der Allgemeinheit zu tragenden „sozialadäquaten Lasten“ ist bedenklich. Die Notwendigkeit des Instituts der Sozialadäquanz, das sich im Strafrecht zur normativen Einschränkung des Tatbestandes herausgestellt hat, besteht wiederum nicht gleichermaßen im Verfassungsrecht. Sozialadäquates Verhalten ist als Rechtsbegriff zudem deutlich zu unbestimmt. Der Rückgriff auf sozialadäquate Restrisiken erfordert zwangsläufig eine Wertung durch das Gericht. Was für den einen sozial angemessen erscheint, ist für den anderen unsozial. Polemisch ausgedrückt können mit dem Kriterium der sozialadäquaten Risiken eine unüberschaubare Vielzahl an grundrechtsgefährdenden Einwirkungen im von Unsicherheiten geprägten Bereich der Vorsorge als von der Allgemeinheit hinnehmbare Lasten abgetan und aus dem Grundrechtsschutz ausgeschlossen werden. So kann verfassungsgerichtlich je nach Zeitgeist beispielsweise auch jede Zulassung neuartiger Technologien, Arzneimittel oder Lebensmittelzusatzstoffe sowie Gefahrstoffe mit dem Hinweis einer Sozialadäquanz akzeptiert werden, obwohl trotz bestehender wissenschaftlicher Unsicherheiten massive Risiken für die Bevölkerung bestehen.452 Verfassungsgerichtlich stellt das Institut der Sozialadäquanz mithin einen weiteren Versuch dar, die Schutzpflicht normativ einzuschränken. Dadurch braucht sich das Bundesverfassungsgericht mit der inhaltlichen Prüfung, ob Schutzpflich449

Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (516). Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (516). 451 Roxin/Greco, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, § 10, Rn. 38; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, § 13, Rn. 51; Rönnau, JuS 2011, 311 (312); Valerius, JA 2014, 561 (562). 452 Dies könnte jedenfalls isoliert betrachtet für die Verfassung gelten, wenn die europarechtliche Dimension unberücksichtigt gelassen wird. 450

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ten verletzt wurden, nicht mehr zu befassen. Zugleich wird durch die Einordnung als sozialadäquat eine Vorwegnahme der Rechtsgüterabwägung zu Gunsten der Allgemeininteressen und zu Lasten des Schutzbedürfnisses Einzelner vorgenommen, die mithin systemwidrig ist, da eine solche erst auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung vorzunehmen ist. Da der Begriff von einer starken subjektiven Wahrnehmungskomponente geprägt ist, noch dazu als Rechtsbegriff zu unbestimmt ist, sollte er daher insgesamt besser abgelehnt werden, wenn das Bestehen von Schutzpflichten davon abhängt. Sozialadäquates Verhalten als Kriterium für eine allgemeine Duldungspflicht453 von Umweltbelastungen ist ebenfalls kein effektives Abgrenzungsmerkmal, weil Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Umweltverunreinigungen, aber auch anderer Kollektivrisiken, weder sozial noch adäquat sind.454 So sind beispielsweise die typischen Risiken des Straßenverkehrs nicht wegen der Sozialadäquanz von der Allgemeinheit hinzunehmen455, sondern deshalb, weil der Gesetzgeber die Risiken des Straßenverkehrs legalisiert und durch zahlreiche Maßnahmen minimiert hat. So wird das Risiko wegen der Ausgestaltung als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, unter anderem durch das Erfordernis der Fahrerlaubnis, erheblich eingegrenzt. Auch zu nennen sind Maßnahmen der streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen sowie die allgemeinen Verkehrskontrollen nach § 36 Abs. 5 StVO. Ein Rückgriff auf die polizeilichen Generalklauseln sowie der Spezialbefugnisse für Maßnahmen der Gefahrenabwehr zum Zweck der Untersagung des Straßenverkehrs ist aufgrund der Gewaltenteilung gesperrt, da allein der Gesetzgeber darüber entscheidet, ob polizeiliche Grundrechtseingriffe verfassungsgemäß erfolgen können. Die Polizei darf den Straßenverkehr daher nicht verbieten. Selbstverständlich treffen den Staat auch Schutzpflichten im Straßenverkehr.456 Insofern ist allein die Einordnung von Risiken als sozialadäquat verfassungsrechtlich nicht ausreichend, um Risiken aus dem grundrechtlichen Schutz zu verbannen, denn das würde bedeuten, dass dem Staat überhaupt keine justiziablen Schutzpflichten beispielsweise im Straßenverkehr mehr treffen würden. 453 Benda, ET, 1981, 868 (869); Wahl/Appel, in: Wahl, Prävention und Vorsorge, S. 90; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 165. 454 Steiger, in: Salzwedel, Grundzüge des Umweltrechts, S. 35. 455 So beispielsweise Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 195; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 110; Klafki, Risiko und Recht, S. 16 f.; siehe hierzu auch Schmidt, Selbstgefährdung und Polizei, S. 177 f., der darauf hinweist, dass das Kriterium der Sozialadäquanz für die Anwendung der polizeilichen Generalklausel nur in Betracht kommt, wenn der Gesetzgeber die Materie bisher nicht geregelt hat. 456 Limbach, NZV 2001, 97 (98); Keuthen, Die abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung, S. 146.

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Der Grund für die Hinnahme der Risiken des Straßenverkehrs ist viel eher darin zu sehen, dass der Staat ein ausreichendes Schutzkonzept für den Schutz potenzieller Opfer geschaffen hat. Die Frage sollte sich somit darauf beschränken, ob die Schwelle zur Risikooder Gefahrenvorsorge erreicht ist oder nicht – unabhängig vom Kriterium der Sozialadäquanz. Welche Risiken und welche Gefahren der Gesellschaft zugemutet werden, ist mithin eine Frage, die durch eine Interessenabwägung innerhalb einer Untermaßverbotsprüfung zu klären ist.457 Auf diese Weise lassen sich sozialadäquate Einwirkungen auf Grundrechte Dritter in das Prüfungssystem integrieren, in dem sie im Rahmen der im letzten Stadium vorzunehmenden Abwägung Bedeutung erlangen können. cc) Erhebliche Grundrechtsgefährdung als weiterer Versuch der Beschränkung Das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, dass nur erhebliche Grundrechtsgefährdungen Schutzpflichten auslösen können. Ob eine erhebliche Grundrechtsgefährdung vorliegt, „hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen ab.“ 458

Eine nur geringe Gefährdung eines Grundrechtsguts „niederen Ranges“ und einer nur geringen Intensität der drohenden Grundrechtsverletzung würde demnach mangels Erheblichkeit eine bloße Bagatellbeeinträchtigung oder sogar eine bloße Belästigung darstellen. Andererseits sind Grundrechtsgefährdungen und Risiken nach der schon angedeuteten These459 nicht grundsätzlich unerheblich. Somit bleibt die Frage im Raum, was unter den Begriff der unerheblichen Grundrechtsgefährdungen zu verstehen ist. Die Diskussion um eine von manchen Stimmen geforderte Bagatellgrenze oder Erheblichkeitsschwelle ist schon aus der eingriffsabwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion bekannt, bei der unerhebliche Eingriffe in Freiheitsrechte keinen Grundrechtseingriff darstellen sollen,460 um nicht jedes staatliche Handeln von nur

457

Hierzu genauer unter C. III. BVerfG, NJW 1979, 359 (363). 459 Hierzu unter C. II. 2. b) bb). 460 BVerwGE 46, 1 (7); Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 193 ff.; Hufen, Der Ausgleich verfassungsrechtlich geschützter Interessen bei der Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes, S. 171; für die Anwendung einer Bagatellgrenze in der Schutzpflichtdimension: Kahl, JA 2021, 117 (120). 458

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

geringer Beeinträchtigungsqualität für den Staat rechtfertigungsbedürftig zu machen.461 Spiegelbildlich wird teilweise auch in Schutzpflichtkonstellationen vertreten, die Schutzpflicht unter einen Bagatellvorbehalt zu stellen.462 Die Forderung nach einer Bagatellgrenze vermag jedoch in keiner der Grundrechtsdimensionen zu überzeugen, da mit der Bewertung, welche Beeinträchtigungen erheblich sind, Verhältnismäßigkeitserwägungen vorweggenommen werden, die erst auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung zu erörtern sind, weshalb die Verortung auf die Tatbestandsebene des Bestehens einer Schutzpflicht systemwidrig ist.463 Des Weiteren besteht die Gefahr, dass sich der Staat zunächst hinter dem Deckmantel einer vermeintlichen Bagatellbeeinträchtigung zurückziehen und dadurch seiner Verantwortung entziehen könnte, weil die Ersteinordnung einer möglichen Bagatellbeeinträchtigung durch die Legislative oder die Exekutive erfolgt. Auch würde eine durch den Staat als Bagatelle eingeordnete Schutzgutgefährdung oder auch eines Schutzgutrisikos die freiheitsgewährende Dimension der Verfassung insgesamt in Frage stellen, denn ob ein Schutzgut eher stark oder eher schwach beeinträchtigt wird, hängt nicht nur von der Einschätzung der grundrechtsverpflichteten Entscheidungsträger ab, sondern maßgeblich von der subjektiven Wahrnehmungskomponente der einzelnen Grundrechtsträger. Was für den einen eine nicht erwähnenswerte und unerhebliche Beeinträchtigung seines Grundrechtsguts bedeutet, wird von dem anderen als massive Grundrechtsgefährdung wahrgenommen. So erachten manche Menschen eine Verletzung im Umgang mit ihren personenbezogenen Daten als wenig intensiv, da die eingetretenen Schäden körperlich und vor allem kognitiv oft nicht als Schaden empfunden werden. Andere wiederum erachten eingetretene Schäden als schwerwiegend. Ein grundrechtlicher Schutzanspruch auf Datenschutz wurde daher erst 1983 im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erschaffen.464 Bis dahin schien der Umgang mit personenbezogenen Daten keinen Grundrechtsschutz zu benötigen. Dies könnte damit erklärt werden, dass die Erhebung, Speicherung und Verwendung von personenbezogenen Daten aus Sicht des Staates nur zu einer unerheblichen Belästigung führen oder lediglich Bagatellen darstellen würden. Mit dem Institut der Bagatellgrenze könnte somit fast jede Grundrechtsgefährdung und jedes Grundrechtsrisiko aus dem Grundrechtsschutz herausgenommen werden, 461

Heintzen, VerwArch 1990, 532 (536 ff.). Hufen, Der Ausgleich verfassungsrechtlich geschützter Interessen bei der Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes, S. 173. 463 So auch für die abwehrrechtliche Dimension: Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 58. 464 BVerfGE 65, 1. 462

III. Verletzung einer Schutzpflicht

145

da die Einordnung als Bagatelle von der dem Zeitgeist unterliegenden Betrachtungsweise der staatlichen Entscheidungsträger abhängt. Eine Erheblichkeitsschwelle kann folglich kein taugliches Mittel zur Begrenzung von Grundrechtsgefahren und Risiken sein. Zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang Murswiek, der das Bundesverfassungsgericht so versteht, dass unerhebliche Grundrechtsgefährdungen nur solche sind, die die Schwelle zur Vorsorge noch nicht erreicht haben und somit ein rechtlich irrelevantes Restrisiko darstellen.465 Letztlich ist die Argumentation dann zirkulär, da unerhebliche Grundrechtsgefährdungen und Grundrechtsrisiken mit Restrisiken inhaltlich synonym sind, weswegen die separate Prüfung der Erheblichkeit entbehrlich ist. f) Zwischenergebnis Wie aufgezeigt wurde, erschöpfen sich Einwirkungen auf die Schutzgüter der Grundrechte nicht bereits in Grundrechtsverletzungen, sondern sie gehen darüber hinaus am häufigsten von Grundrechtsgefährdungen und Grundrechtsrisiken aus. Eine Einwirkung auf die Grundrechtsgüter kann sich zudem durch eine staatlich unterlassene Grundrechts- und Risikovorsorge vollziehen. 3. Zwischenergebnis Damit bestehen dem Grunde nach staatliche Schutzpflichten bei Grundrechtsverletzungen, Grundrechtsgefährdungen, Grundrechtsrisiken sowie im Bereich der Gefahren- und Risikovorsorge.

III. Verletzung einer Schutzpflicht Grundrechtliche Schutzpflichten begründen für die hoheitliche Gewalt grundsätzlich keine konkreten Handlungspflichten. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im Einzelnen.466 Schutzpflichten sind entgegen der Meinung von Klein467 jedoch nicht alleine vom Gesetzgeber umzusetzen, sondern können genauso die Verwaltung und die Gerichte zum Handeln verpflichten. Der Schutzanspruch der Grundrechtsberechtigten kann jedoch vernünftigerweise nicht grenzenlos zugesprochen werden, da eine inflationäre Zunahme des staatlich herbeigeführten Sicherheitsniveaus zwangsläufig zu einer Verengung, wenn nicht sogar zu einer Aushöhlung, des Raumes der grundrechtlichen Freiheitsbetätigung der anderen Individuen führen würde. Wegen dieser Gefahr müssen die grundrechtlichen Freiheitsrechte der Drittbetroffenen in das Prüfungspro465 466 467

Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 146. BVerfGE 88, 203 (254). Klein, JuS 2006, 960 (960 f.).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

gramm, ob Schutzpflichten verletzt wurden, integriert und abgewogen werden. Auf welche Weise diese Integration durchgeführt werden kann und welche Besonderheiten dabei berücksichtigt werden müssen, wird im folgenden Kapitel untersucht. Eine Schutzpflichtverletzung kann indessen nur angenommen werden, wenn das Schutzbedürfnis im Einzelfall verfassungsrechtlich höher zu gewichten ist als das Freiheitsinteresse privater Dritter. Was in der klassischen Abwehrdimension als Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs bekannt ist, erlangt auch in der Schutzdimension eine zentrale Bedeutung. 1. Bestimmung des Prüfungsmaßstabes Innerhalb der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wurde stets betont, dass der Staat bei der Ausgestaltung seiner Schutzpflichten eine weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsprägorative hat.468 Bei der Sichtung der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zeigt sich ein uneinheitliches Bild zur gerichtlichen Kontrolldichte. Auch in der Rechtswissenschaft wird der Umfang der gerichtlichen Kontrolldichte ebenfalls unterschiedlich verstanden. Denkbar sind gestuft und mit steigender Kontrolldichte eine Evidenzkontrolle, eine Vertretbarkeitskontrolle und eine Inhaltskontrolle. a) Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts Schon im Urteil zum ersten Schwangerschaftsabbruch erkannte das Bundesverfassungsgericht, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bei Schutzpflichtenkonstellationen eingeschränkt ist.469 Ergriffene Maßnahmen müssen zweckdienlich, geboten und wirksam sein.470 Im Fluglärmbeschluss wurde dann konkretisiert, dass Zweckdienlichkeit, Gebotenheit und Wirksamkeit eine Evidenzkontrolle als Kontrollmaßstab bedeutet.471 Schutzpflichten sind demnach nur verletzt, wenn das Schutzniveau offensichtlich unzureichend ist. Eher beiläufig wurde erwähnt, dass der Kontrollmaßstab umso umfangreicher sei, desto höherrangiger die bedrohten Rechtsgüter sind.472 Im Rahmen der Evidenzkontrolle könne nur überprüft werden, ob Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen wurden oder aber ob ergriffene Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.473 468 BVerfGE 77, 170 (214); BVerfGE 79, 174 (202); BVerfG, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 30; BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1824). 469 BVerfGE 39, 1 (44, 51). 470 BVerfGE 39, 1 (44). 471 BVerfGE 56, 40 (80). 472 BVerfGE 56, 40 (81). 473 BVerfGE 77, 170 (215).

III. Verletzung einer Schutzpflicht

147

Neu wurde der Prüfungsmaßstab in der Entscheidung zum zweiten Schwangerschaftsabbruch definiert. Erstmals wurde das Untermaßverbot als Kontrollmaßstab formuliert. Ergriffene Maßnahmen und Regelungen müssen einen angemessenen, wirksamen und ausreichenden Schutz gewährleisten sowie auf einer sorgfältigen Tatsachenermittlung beruhen als auch vertretbar eingeschätzt worden sein.474 Zudem wurde angedeutet, dass einem Mindestmaß an Schutz entsprochen werden muss und eine Abwägung mit widerstreitenden Interessenlagen zu erfolgen habe.475 Rechtshistorisch ist diese Entscheidung als Änderung der bisherigen Rechtsprechung zu interpretieren. Teilweise wird in der Literatur in diesem Zusammenhang von einer Vertretbarkeitskontrolle gesprochen.476 Wenn die Kontrolldichte auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt wird, so wird das Bundesverfassungsgericht unvollständig wiedergegeben. In der Tat wird eine Vertretbarkeitskontrolle durchgeführt. Wenn aber zusätzlich geprüft wird, ob ergriffene Maßnahmen einen angemessenen, wirksamen und ausreichenden Schutz bieten, dann wird der Sache nach auch eine inhaltliche Prüfung vorgenommen, die über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle erheblich hinausgeht. Später hat die 2. Kammer des Ersten Senats sich dann wiederum bei der Frage, ob Geschwindigkeitsbeschränkungen zur Verminderung der Schadstoffe im Straßenverkehr eingeführt werden müssen, auf eine Evidenzkontrolle beschränkt.477 Gerade einmal einen Monat später kombinierte die 1. Kammer des Ersten Senats bei Gesundheitsgefahren durch erhöhte Ozonkonzentrationen die Evidenzkontrolle mit dem Untermaßverbot.478 Obwohl das Untermaßverbot beachtet werden müsse, könne eine Schutzpflichtverletzung nur festgestellt werden, wenn Maßnahmen evident unzureichend sind.479 Im Widerspruch dazu wurde in den Flughafen-Beschlüssen zwar die Kombination der Evidenzkontrolle mit dem Untermaßverbot beibehalten, jedoch müsse über die Evidenzprüfung hinaus das Untermaßverbot gewahrt worden sein.480 Zuletzt wurde ohne Begründung nur noch eine Evidenzkontrolle durchgeführt,481 was mit der bisherigen Entwicklung zur Schutzpflichtenrechtsprechung nicht vereinbar ist. Bei der Durchsicht der verfassungsgerichtlichen Schutzpflichtenrechtsprechung wird eines klar: Der Prüfungsmaßstab wird uneinheitlich verstanden, ohne dass 474

BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (254 f.). 476 Calliess, JZ 2006, 321 (323). 477 BVerfG, NJW 1996, 651 (652). 478 BVerfG, NJW 1996, 651 (651). 479 BVerfG, NJW 1996, 651 (651). 480 BVerfG, Beschl. v. 15.10.2009 – 1 BvR 3522/08, BeckRS 2009, 40442, Rn. 30. 481 BVerfG, NVwZ 2020, 1823 (1824); BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 152. 475

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

dafür sachliche Gründe ersichtlich sind. Obwohl bereits im Urteil zum ersten Schwangerschaftsabbruch beschrieben wird, dass der Kontrollmaßstab bei höherrangigen Rechtsgütern ausgeweitet wird, bleibt unverständlich, weshalb diese Erkenntnis nicht schon im konkreten Verfahren umgesetzt und mittels Untermaßverbotsprüfung angewendet wurde. Erst recht ist die Anwendung des uneinheitlichen Kontrollumfangs, der auf das Urteil zum zweiten Schwangerschaftsabbruch folgenden Rechtsprechung nicht nachvollziehbar, bei der das Bundesverfassungsgericht zum Teil erneut nur evidenzbasiert prüft und im Übrigen mehr oder weniger stark eine Kombination aus Evidenz- und Inhaltsprüfung vornimmt. Mit dem Differenzierungskriterium der Rangstufe der Grundrechtsgüter kann diese Uneinheitlichkeit nicht erklärt werden, weil in den meisten Verfahren, bei denen es um Schutzpflichten ging, Leben und körperliche Integrität die betroffenen Rechtsgüter darstellten, welche als Höchstwerte innerhalb der Verfassungsordnung gelten, weshalb prinzipiell zumindest auch eine Inhaltskontrolle vorzunehmen gewesen wäre. Dies wird am Beschluss des Ersten Senats zum Bundes-Klimaschutzgesetz besonders deutlich, weil das Gericht eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, bei der mit dem Leben und der Gesundheit verfassungsrechtliche Höchstgüter geschützt werden, angenommen hat und sich dennoch auf eine Evidenzkontrolle zurückzog, was damit begründet wurde, dass der Gesetzgeber einen erheblichen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum habe.482 Wegen der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolldichte könne eine Schutzpflichtverletzung daher nicht festgestellt werden. Jedoch sieht das Gericht durch die unzureichenden Regelungen zur Treibhausgasreduktion schon jetzt die nicht konkret genannten Grundrechte der künftigen Generationen antizipiert als verletzt an.483 Somit prüft das Bundesverfassungsgericht Teile des Bundes-Klimaschutzgesetzes anhand der abwehrrechtlichen Dimension und bewegt sich mithin im gewohnten Fahrwasser. Im Ergebnis ist die Entscheidung zwar zutreffend, die Begründung vermag jedoch nicht zu überzeugen. In Ermangelung eines staatlichen Eingriffs wird dafür das diffuse Institut der eingriffsähnlichen Vorwirkung erschaffen.484 Durch die staatliche Zulassung von jährlichen Emissionshöchstmengen bis zum Jahr 2030 wird die Gesamtmenge an Treibhausgasen, die eine Begrenzung der Erderwärmung von maximal 1,5 ëC im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter gerade noch zulässt, nahezu aufgebraucht sein.485 Grundrechtsgefährdungen bestehen für die Antragsteller ab 2031 darin, dass diese wegen der dann anstehenden Reduktionslast erhebliche Frei482

BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 152,

162. 483 484 485

BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 182. BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 184. BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 231.

III. Verletzung einer Schutzpflicht

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heitsbeschränkungen hinnehmen müssten.486 Unbeantwortet bleibt die Frage, in welchem konkreten Verhalten der staatliche Eingriff in Freiheitsrechte dann liegen soll. Ein solcher Eingriff wird auch im Jahr 2031 nicht vorliegen. Zudem ist dieses Vorgehen verfassungsdogmatisch systemwidrig und auch inhaltlich fehlerhaft. Die Systemwidrigkeit ergibt sich daraus, dass der Sachverhalt, welcher der Entscheidung zugrunde gelegen hat, allein aus der Perspektive der Schutzdimension hätte beurteilt werden müssen.487 Die Schutzperspektive wird hingegen in das abwehrrechtliche Prüfungsprogramm gepresst. Der Beschwerdegegenstand besteht jedoch in einem staatlichen (unechten) Unterlassen,488 weil der Gesetzgeber durch das Bundes-Klimaschutzgesetz das verfassungsrechtlich geforderte Mindestschutzniveau vermeintlich unterschritten hat. Der Sache nach geht es indes darum, dass der Staat zu wenig unternommen hat, die globale Erderwärmung zu begrenzen. Dafür ist jedoch die Schutzdimension vorgesehen und nicht das Abwehrrecht. Wie schon erörtert, beginnt die Verantwortlichkeit für staatlichen Schutz bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG meistens schon im Vorfeld von Grundrechtsgefährdungen.489 Aus dem durch Treibhausgas bedingten Klimawandel resultieren klassischerweise Risiken, die den Schutzanspruch aktivieren können. Beim Rekurs auf die eingriffsähnliche Vorwirkung zeigen sich darüber hinaus inhaltliche Mängel, weil die Treibhausgasemissionen ganz überwiegend von privaten Dritten ausgehen und nicht durch den Staat verursacht werden. Obwohl der Staat die Emissionsmengen zulässt, kann ihm das Verhalten Dritter nicht einfach zugerechnet werden.490 Von einer Zurechnung scheint das Gericht jedoch, ohne sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, automatisch auszugehen, wenn es die Grundrechtsverletzung damit begründet, dass der „Gesetzgeber [. . .] Grundrechte verletzt, weil er keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hat, die – wegen der gesetzlich bis 2030 zugelassenen Emissionen in späteren Zeiträumen möglicherweise sehr hohen – Emissionsminderungspflichten grundrechtsschonend zu bewältigen [sind]“.491

Tatsächlich wird jedenfalls nach der hier vertretenen Auffassung fehlerhaft an einem antizipierten Eingriff des Staates angeknüpft, denn die drohenden Reduktionsmaßnahmen ab dem Jahr 2031 erfolgen primär mit der Absicht, die Men-

486

BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 195,

246. 487 So auch Faßbender, NJW 2021, 2085 (2088); Calliess, ZUR 2021, 355 (357); Kloepfer/Wiedmann, DVBl. 2021, 1333 (1337, 1339). 488 Da der Staat nicht völlig untätig geblieben ist, ist nur ein unechtes Unterlassen zu diskutieren. 489 Hierzu bereits unter C. II. 2. d). 490 Hierzu bereits unter C. I. 2. g). 491 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 182.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

schen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, mithin zumindest neben dem Umweltschutz zur Wahrnehmung einer staatlichen Schutzpflicht. Das geht bereits aus dem Zweck des Bundes-Klimaschutzgesetzes hervor, wenn der Gesetzeszweck gem. § 1 KSG darin liegt, vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Auch das Pariser Übereinkommen, das mit dem Klimaschutzgesetz ins deutsche Recht umgesetzt wurde, erkennt den Zweck der Begrenzung der globalen Klimaerwärmung gem. Art. 7 Abs. 2, der im Schutz der Menschen, der Existenzgrundlagen und der Ökosysteme liegt. Den Umstand, dass der Staat durch das Bundes-Klimaschutzgesetz Schutzpflichten wahrnimmt, erkennt das Bundesverfassungsgericht sogar selbst: „Der Gesetzgeber muss Leben und Gesundheit also insbesondere durch Beiträge zur Bekämpfung des Klimawandels schützen. Dies tut er mit dem Klimaschutzgesetz [. . .].“ 492

Folglich handelt es sich bei den zukünftig drohenden Emissionsreduktionsmaßnahmen schwerpunktmäßig um Schutzmaßnahmen. Der Schutz vor den klimawandelbedingten Schäden stellt damit insgesamt die notwendige Voraussetzung für die Betätigung von Freiheitsrechten in der Zukunft dar. Der Umstand, dass das Ergreifen von Schutzmaßnahmen als Kehrseite der Medaille zu anderweitigen Grundrechtseingriffen führen kann, ist eine zwangsläufige Folge des Instituts der Schutzpflichten, sollte jedoch zu keinem Perspektivwechsel zu Gunsten der Abwehrrechte führen. Die Krücke der eingriffsähnlichen Vorwirkung zeigt jedenfalls, dass sich das staatliche Unterlassen juristisch nicht sauber in die abwehrrechtliche Prüfung integrieren lässt. Daher wäre das Bundesverfassungsgericht gut beraten gewesen, eine Schutzpflicht anhand des Untermaßverbotes zu prüfen. Bei der Analyse der bisherigen Rechtsprechung kann kein eindeutiger Prüfungsmaßstab festgestellt werden. Vorsichtig kann immerhin der Trend erkannt werden, dass über die einstige auf Evidenz beschränkte Kontrolle inzwischen häufig eine Prüfung des Untermaßverbotes vorgenommen wird. Dieser Befund gilt umso mehr, wenn die höchsten Schutzgüter des Grundgesetzes bedroht sind: das Leben und die körperliche Integrität sowie die Menschenwürde. Ein Teil der Literatur versteht das Bundesverfassungsgericht so, dass stets allein das Untermaßverbot den Prüfungsmaßstab bildet.493 Andere Stimmen wiederum legen eine bloße Evidenzkontrolle zugrunde.494

492

BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 157. Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 219. 494 Faber, DVBl. 1998, 745 (749); Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, vor Art. 1, Rn. 36. 493

III. Verletzung einer Schutzpflicht

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Hauptsächlich wird vertreten, dass eine Inhaltskontrolle anhand des Untermaßverbotes durchzuführen ist.495 b) Motiv für eingeschränkte Kontrolldichte Begründet wird der eingeschränkte Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts mit dem weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Legislative. Eine Schutzpflicht kann regelmäßig auf unterschiedliche Weise realisiert werden, weshalb der Gesetzgeber ein Auswahlermessen hat.496 Auch führe dies, wenn das Untermaßverbot in die verfassungsgerichtliche Nachprüfung integriert wird, zu einer Verlagerung von Entscheidungskompetenzen zwischen den Verfassungsorganen, namentlich vom Gesetzgeber hin zum Bundesverfassungsgericht.497 Diese drohende Folge der Verwandlung vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat hin zum Jurisdiktionsstaat wurde auch von Rechtsgelehrten schon beschrieben.498 Das Bundesverfassungsgericht erklärt den eingeschränkten Kontrollmaßstab mit der hochkomplexen Fragestellung, die darin besteht, in welcher Form Schutzpflichten gesetzgeberisch umgesetzt werden können.499 Darüber hinaus gebe es regelmäßig mehrere denkbare Handlungsoptionen. Auch die Entscheidung darüber gehöre aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips sowie der demokratischen Legitimation zur Kompetenz des Gesetzgebers.500 Ob tatsächlich eine Verlagerung gesetzgeberischer Entscheidungskompetenzen zu Gunsten der Judikative droht, bedarf der näheren Auseinandersetzung, weil der Prüfungsmaßstab vom Ausgang dieser Diskussion abhängt. In diesem Zusammenhang ist eine rechtshistorische Auseinandersetzung, die teilweise in die nationalsozialistische Vergangenheit der Rechtswissenschaft eintaucht, notwendig. aa) Metamorphose zum Jurisdiktionsstaat Die Kritik am Machtzuwachs des Bundesverfassungsgerichts erfolgte vor dem Hintergrund einer Reihe von Entscheidungen, bei denen sich das Verfassungs495 Canaris, JuS 1989, 161 (163); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 86; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 291; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 102; Sodan, NVwZ 2000, 601 (605); Calliess, JZ 2006, 321 (328). 496 BVerfGE 56, 54 (81); Cremer, Freiheitsgrundrechte, Funktionen und Strukturen, S. 273. 497 Sondervotum Rupp-von Brünneck/Simon, BVerfGE 39, 1 (69). 498 Gusy, EuGRZ 1982, 93 ff.; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 402; Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 190; Forsthoff, in: FS für Schmitt, S. 35 (59 f.). 499 BVerfGE 56, 54 (81). 500 BVerfGE 56, 54 (81).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

gericht seine Kompetenz autonom ausgeweitet hatte. Zu nennen sind in dem Zusammenhang vor allem das Lüth-Urteil aus dem Jahr 1958, die erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1975 und die zweite Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung aus dem Jahr 1985, bei denen das Verfassungsgut der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als Grundrechtsschranke erfunden wurde.501 In der zweiten Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung wurde aus dem den Gesetzgeber eingeräumten Ermessen des Wortlauts in Art. 12a Abs. 1 GG „Männer können zum Wehrdienst verpflichtet werden“ faktisch eine Wehrpflicht postuliert.502 Eine Zuspitzung hat die Kritik am Jurisdiktionsstaat mit der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch erfahren,503 da das Bundesverfassungsgericht im Wege einer Vollstreckungsanordnung gem. § 35 BVerfGG durch die Tenorierung eigenständig, wenn auch temporär, Recht geschaffen hat und dem Gesetzgeber darüber hinaus detaillierte Vorgaben an die neu zu erlassenden Strafnormen gemacht hat. Der Hauptkritiker des vermeintlichen Verlagerungsprozesses von der Legislative zur Judikative war Böckenförde. Er war Schüler und langjähriger Weggefährte von Carl Schmitt und bis zu Schmitts Tod mit diesem befreundet.504 Ebenso hatte schon vorher Forsthoff eine Wandlung zum Justizstaat befürchtet.505 Aber auch von Ridder wurde eine Entwicklung zum Jurisdiktionsstaat beschrieben, wenn das Bundesverfassungsgericht „als Super-Gesetzgeber“ auftritt.506 Ridder kritisiert jedoch hauptsächlich die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG für alle Staatsgewalten und spricht gar von einem grundgesetzwidrigen Machtzuwachs des Gerichts.507 Die unterschiedliche Kritik an der Machtkonzentration beim Bundesverfassungsgericht ist aus allen politischen Lagern erklärt worden. Angefangen bei Schmitt, der dem rechten Lager zuzuordnen ist.508 Forsthoff hatte sich indes vom

501 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 64; Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 290 f.; Fisahn spricht bei der zweiten Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung sogar von einer Verfassungsauslegung contra legem. 502 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 70 f. 503 Sondervotum Rupp-von Brünneck und Simon: BVerfGE 39, 1 (73); Kriele, JZ 1975, 222 (223 f.); Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 48, Rn. 67–69. 504 Grote, ZaöRV 2019, 737 (740); Lamprecht, myops 15/2012, 28 (35 f.); Böckenförde war sogar Mitherausgeber einer Festgabe zu Ehren des 80. Geburtstages von Carl Schmitt. 505 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS für Schmitt, S. 35 (60). 506 Ridder, in: Deiseroth/Derleder/Koch/Steinmeier, Helmut Ridder, Gesammelte Schriften, S. 355 (393). 507 Ridder, in: Deiseroth/Derleder/Koch/Steinmeier, Helmut Ridder, Gesammelte Schriften, S. 355 (394). 508 Rüthers, NJW 1996, 896 (903); Gross, Carl Schmitt und die Juden, S. 32; Egner, VfZ 2013, 345 (351).

III. Verletzung einer Schutzpflicht

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Nationalsozialismus abgewendet und vertrat konservative Positionen.509 Böckenförde war zwar Schmitt-Anhänger, aber trotzdem sozialdemokratisch eingestellt.510 Ridder war hingegen politisch links eingestellt.511 Dabei ist zu betonen, dass der drohende Jurisdiktionsstaat ursprünglich eine rechte Kritik von Schmitt war.512 In einem Aufsatz hat Böckenförde den Versuch unternommen, Schmitts Staatsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland teilweise zu integrieren. Er versteht Schmitt so, dass ein Gericht nie Hüter der Verfassung sein könne, weil dieses an Anträge sowie an das Antragsbegehren gebunden sei.513 Ebenso sei es an vorgegebenes positiviertes Recht gebunden und erschaffe dieses nicht erst selbst.514 Politische Ziel- und Zwecksetzung falle zudem nicht in die Befugnis der Judikative.515 Dennoch war Böckenförde in Abgrenzung zu Schmitt ein Vertreter des Liberalismus und Sozialdemokrat, er machte sich jedoch dafür stark, Regelungen über den Notstand in das Grundgesetz einzufügen, wobei ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz trotz Notstand gewährleistet bleiben solle.516 Wenngleich Böckenförde ein anderes Staatsverständnis hatte, bleibt offen, wie weit sein Staatsbild durch Schmitt geprägt wurde. Böckenfördes vehemente Kritik zum Jurisdiktionsstaat hat dessen ungeachtet auch Zustimmung in der heutigen Rechtswissenschaft gefunden.517 Gusy erkennt ebenfalls die Machtverschiebung zu Gunsten des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings sieht dieser den Grund der Kompetenzzunahme zusätzlich in der Werteordnungslehre.518 Zudem beschreibt Fisahn das Spannungsverhältnis zwischen dem Parlament und Bundesverfassungsgericht, problematisiert jedoch vorrangig die Tendenz des Gerichts, sich an der vergangenen Verfassungsjudikatur zu orientieren, was zu einer Konservierung der Verfassung führe.519 Höffe befürchtet gar eine Gefährdung der Demokratie insgesamt.520 509 510 511

Viotto, Das öffentliche Interesse, S. 89, 93, 99. Möllers, ZIG 2010, 107 (110–113). Ridder, Die Soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 17; Engelmann, KJ 2020,

144. 512

Schmitt, in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954,

S. 98. 513

Böckenförde, in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 357. Böckenförde, in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 357. 515 Böckenförde, in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 357. 516 Böckenförde, in: FS für Hirsch, S. 259 (268–270). 517 Willoweit, JZ 2016 (434); Knies, in: FS für Stern zum 65. Geburtstag, S. 1155 (1178); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, Art. 93, Rn. 35; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2, Rn. 41. 518 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 77 f.; zur Notwendigkeit eines Wertesystems bereits unter III. 1. b) aa) (3). 519 Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 294. 514

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Aus diesem Grund ist eine kritische und sachliche Auseinandersetzung mit Böckenfördes Bedenken geboten. Seine Kritik an der Verlagerung der originären Rechtsgestaltungsaufgabe vom Gesetzgeber hin zur Rechtsprechung zu Gunsten der Rechtsprechung wird durch die Entfaltung des objektiven Gehalts der Grundrechte erklärt, die auch Schutzpflichten auslösen.521 Da die Verfassung überwiegend unbestimmt, gar rudimentär, kodifiziert wurde, ist sie auf Verfassungsinterpretation angewiesen. Indem das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus jedoch immer mehr verfassungskonkretisierend agiert, vollziehe sich der Jurisdiktionsstaat.522 Mit diesem Prozess wird ein Verfassungsgericht beschrieben, das das Parlament entmachtet, indem das Gericht gesetzgeberisch tätig wird und indem die eigenen Kompetenzen ausgeweitet werden. In diesem Befund wird ein Konflikt oder ein Spannungsverhältnis mit der Gewaltenteilung sowie einer geringeren demokratischen Legitimation seitens des Bundesverfassungsgerichts gesehen.523 Dem könne nur durch eine Relativierung des Verständnisses der Grundrechte als objektive Werteordnung begegnet werden, indem sich die Grundrechtsfunktion allein auf die subjektive Abwehrfunktion der Bürger gegenüber dem Staat beschränkt.524 Auch als Bundesverfassungsrichter hat Böckenförde seine Kritik an der „Kompetenzanmaßung“ durch das Bundesverfassungsgericht Einzug in die Verfassungsrechtsprechung gefunden. Sein Sondervotum im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch stimmt zwar der bestehenden Schutzpflicht zu, die es gebiete, Schwangerschaftsabbrüche pauschal mittels des Strafrechts zu verbieten. Die Auffassung, dass die Beratungskosten im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen pauschal als Sozialversicherungsleistung verboten sein sollen, lehnt er jedoch unter Verweis darauf ab, dass das Parlament diese Frage allein zu klären habe, aus der sich das Gericht heraushalten müsse.525 Der Begriff des Jurisdiktionsstaates wurde indes nicht von Böckenförde erschaffen, sondern von Schmitt.526 Mit größter Skepsis betrachtete Schmitt den Staatsgerichtshof in der Weimarer Republik. Der Staatsgerichtshof könne jedenfalls nicht Hüter der Verfassung sein, weil sonst alle politischen Aufgaben und Entscheidungen in letzter Konsequenz in ihm konzentriert werden.527 Mithin 520

Höffe, Der Staat, 38 (1999), Heft 2, S. 185. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 188. 522 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 190. 523 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 191; Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 294. 524 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 193 f., 195 ff. 525 Sondervotum Böckenförde, BVerfGE 88, 203 (364 f.). 526 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 76. 527 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 155. 521

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sieht Schmitt zwischen politisch neutraler und unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Entscheidungsfindung eine unüberwindbare Barriere. Wegen genau dieser Gefahr der Ausuferung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in Bereichen, für die grundsätzlich der Gesetzgeber allein zuständig ist, wird dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von Schutzpflichten durch das Verfassungsgericht teilweise ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zuerkannt. Der Versuch einer Kompetenzbegrenzung der Verfassungsjudikatur durch Rücknahme der Kontrolldichte ist somit ein Versuch gewesen, auf diesen vermeintlichen Verschiebungsprozess zwischen den beiden Gewalten zu reagieren. Als weitere Reaktion auf diesen befürchteten Verlagerungsprozess wurde der Grundsatz des judicial self-restraint angewendet, der dem Parlament einen Raum politischer Freiheitsentfaltung garantiert.528 Das Bundesverfassungsgericht verzichtet im Wege der richterlichen Selbstbeschränkung darauf, in die Sphäre des Parlaments unnötig einzugreifen und unterlässt es dadurch, so der eigene Anspruch, politisch tätig zu werden.529 Funktionell steht hinter dem judicial selfrestraint der ursprüngliche Gedanke, dass das Bundesverfassungsgericht mitunter nicht die Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen kann, beispielsweise aufgrund eines Informationsdefizits oder aus Respekt vor der Gewaltenteilung, soweit das Gericht nicht in der Lage ist, die Konsequenzen einer möglichen Entscheidung zu überblicken.530 bb) Stellungnahme Ob tatsächlich eine Verwandlung zum Jurisdiktionsstaat droht, ist in Anbetracht der Verfassungswirklichkeit fraglich. Schon die überschaubare Anzahl an verfassungsgerichtlichen Verfahren seit 1974, die Schutzpflichten zum Gegenstand hatten,531 zeigt, dass der befürchtete Untergang des Rechtsstaats in Form einer Entmachtung des Parlaments durch das Bundesverfassungsgericht ausgeblieben ist. Bei der mitschwingenden Fundamentalkritik, dass das Bundesverfassungsgericht zu sehr politisch agiere, führt kein Weg an der Entscheidung vorbei zu bestimmen, wer „Hüter der Verfassung“ ist. Daran schließt sich die Überlegung an, welche Kompetenzen mit der damit betrauten Wächterfunktion einhergehen. Allein begrifflich betrachtet passt die Bezeichnung, dass das Bundesverfassungsgericht „Hüter der Verfassung ist“. Da der Begriff jedoch historisch vorbelastet ist, indem er durch Schmitt für die Funktionszuschreibung des Reichspräsi528

Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 192. BVerfGE 36, 1 (14); kritisch hierzu Schlaich/Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 505; Ruf, Die legislative Prognose, S. 91 f. 530 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 56. 531 Hierzu unter C. I. 1. 529

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

denten der Weimarer Republik begründet wurde,532 soll dieser Begriff aus diesem Grund abgelehnt werden. Als historisch nicht vorbelasteter Begriff bietet sich beispielsweise an, von einer „Wächterfunktion“ zu sprechen. Unabhängig von Schmitts Befürchtung hat sich das Bundesverfassungsgericht seit seiner Gründung im Jahr 1951 als Wächter der Verfassung bewährt und hat die Bundesrepublik Deutschland nicht in einen Jurisdiktionsstaat verwandelt.533 Das Grundgesetz schreibt dem Bundesverfassungsgericht die Wächterfunktion über die Verfassung vor allem in Art. 93 GG sogar ausdrücklich zu. Dies wird an der Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts deutlich, da Normen für nichtig erklärt werden können.534 Nach anfänglicher Kritik besteht seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland über die Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht die Wächterfunktion über die Verfassung ausübt, auch kein echter Streit mehr.535 Dass die demokratische Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers durch die Letztentscheidungskompetenz des Verfassungsgerichts bereits durch die Verfassung in ihrer Reichweite begrenzt ist, bemerkt auch Böckenförde.536 Die Vehemenz, mit der er die Gefahren eines Jurisdiktionsstaates vertrat,537 kann damit begründet werden, dass für ihn das Bundesverfassungsgericht allzu sehr politisch agiert und der wahre „Hüter der Verfassung“ zumindest auch im Parlament zu sehen ist. Zudem ist Schmitts Einfluss auf Böckenförde nicht von der Hand zu weisen. Schmitt hatte ursprünglich schon in der Weimarer Republik einen drohenden Jurisdiktionsstaat durch eine expandierende Justiz kritisiert.538 Diese Kritik hat auch Böckenförde in der jungen Bundesrepublik Deutschland vertreten. Auch Forsthoff war Kritiker der zunehmenden Politisierungserscheinungen des Bundesverfassungsgerichts und sah den Rechtsstaat durch einen aufkeimenden Jurisdiktionsstaat bedroht.539 Hierbei ist zu bemerken, dass Forsthoff bei Schmitt promoviert hatte und zudem eine intensive Beziehung zu diesem pflegte, wie bereits aus ihrem Briefwechsel zu entnehmen ist.540 532

Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 158 f. So auch Schneider, NJW 1999, 1497 (1500). 534 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 36, 40. 535 Gusy, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1619 (1624); Mayer, AöR 2004, 411 (412 f.). 536 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 192; auch Isensee, in: FS für Kloepfer, S. 39 (44). 537 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 190; Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 402. 538 Schmitt, in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, S. 98. 539 Forsthoff, in: FS für Schmitt, S. 35 (59 f.). 540 Mußgnung, D./Mußgnung, R./Reinthal, Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt 1926–1974, S. 548. 533

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Doch die beanstandete Politisierungstendenz des Bundesverfassungsgerichts ist insgesamt weit weniger problematisch, als die Kritiker dies kundgeben. Die Rolle des Verfassungsgerichts als politischer Akteur hängt schon damit zusammen, dass die Verfassung selbst „politischen Charakter“ 541 hat. Indem das Grundgesetz den Rahmen für politische Betätigungen vorgibt und gleichzeitig begrenzt, kann die Verfassung als „politisches Recht“ qualifiziert werden.542 Durch seine Aufgabe der Kontrolle über alle drei Staatsgewalten gerät das Bundesverfassungsgericht automatisch in ein Spannungsfeld mit der Gewaltenteilung, weil Verfassungsrechtsprechung die Aufgabenwahrnehmung aller Gewalten beeinflusst.543 Von einem Eingriff in den Kompetenzbereich der staatlichen Gewalten kann dennoch nicht gesprochen werden.544 Wann immer die Grenze der Verfassung durch eine Staatsgewalt überschritten wird, kann niemals eine Kompetenz für dieses verfassungswidrige Verhalten bestanden haben. Folglich besteht auch kein Eingriff in einen ex-tunc niemals existierenden Kompetenztitel. So betont Gusy trefflich, dass das Grundgesetz stets die Grenze der legislativen Handlungsbefugnisse markiert.545 Zutreffend erkennt Knies, dass Gesetze stets unter dem Vorbehalt der Verfassungsmäßigkeit stehen.546 Die Gewährleistung einer Wächterfunktion des Bundesverfassungsgerichts wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen des demokratischen Zerfalls während der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur konstituiert.547 Zudem wurde die Schwäche des Staatsgerichtshofs in der Weimarer Republik, die darin bestand, dass keine Normenkontrollkompetenz bestand, beseitigt.548 Als Ausfluss dieser Wächterfunktion hat das Bundesverfassungsgericht die Gewährleistung der Grundrechte zu wahren. Im Laufe der Staatspraxis ist das Bundesverfassungsgericht der Wächter der Verfassung geworden.549 Ob das Verfassungsgericht die Grundrechte nun konkretisiert oder im Wege der Grundrechtsinterpretation materiell-rechtlich ausgestaltet, führt im Ergebnis zu keinem Unterschied. Eine Beschränkung der Bundesverfassungsrichter auf die Grundrechtsinterpretation kann nämlich genauso zu einer Verschiebung von der parlamentarischen Gewalt zum Bundesverfassungsgericht führen.550 Die Diffe541 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 132; Vorländer, in: van Ooyen/Möllers, Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 299 (302). 542 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 42. 543 Knies, in: FS für Stern zum 65. Geburtstag, S. 1155 (1158). 544 So aber: Knies, in: FS für Stern zum 65. Geburtstag, S. 1155 (1158). 545 Gusy, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1619 (1621). 546 Knies, in: FS für Stern zum 65. Geburtstag, S. 1155 (1159). 547 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 30 f. 548 Waldhoff, JuS 2019, 737 (743). 549 Waldhoff, JuS 2019, 737 (742). 550 Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat?, S. 199.

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renzierung zwischen Normkonkretisierung und Norminterpretation gibt keine Antwort auf die Frage, inwieweit das Verfassungsgericht politische Entscheidungen treffen darf. Zudem gehört die Verfassungsinterpretation zur Kernaufgabe des Verfassungsgerichts.551 Darüber hinaus geht das Bundesverfassungsgericht sogar weit über die Verfassungsinterpretation hinaus, indem es durch Rechtsfortbildung neue Grundrechte – wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil – erschafft.552 Dadurch erweitert das Verfassungsgericht autonom seinen ohnehin starken Machtzuwachs. Diese Machtkonzentration vergrößert sich weiter, wenn die Prüfungskompetenz des Gerichts sich nicht in den bestehenden Grundrechten erschöpft, sondern Freiheits- und Schutzgewährleistungen der Menschen umfassend garantiert werden sollen. Zwangsläufig muss damit der Weg für neuartige Grundrechte durch bundesverfassungsrichterliche Rechtsfortbildung offen sein. Eine Beschränkung auf den Verfassungstext der Grundrechte hieße, dass neuartige Bedrohungslagen – beispielsweise durch neue Technologien – verfassungsrechtlich nicht wirksam begegnet werden könnten. Dadurch werden für die Bevölkerung weitere neuartige Freiheitssphären geschaffen, die den staatlichen Zugriff rechtfertigungsbedürftig machen. Somit gehört selbst die verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung zum Wesen eines Verfassungsgerichts und stellt gerade nicht eine Entmachtung der Parlamente dar, auch wenn es dadurch gesetzgeberisch tätig wird. Hier zeigt sich erneut, dass das Verfassungsrecht einem permanenten Wandlungs- und Anpassungsdruck unterliegt. Bezogen auf die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten hat das Bundesverfassungsgericht die alleinige Kompetenz, Schutzpflichtverletzungen festzustellen.553 Das Gericht stellt im Falle einer Schutzpflichtverletzung indes lediglich fest, dass der Gesetzgeber bis zum Ablauf einer festgesetzten Frist zur Nachbesserung einer gesetzlichen Regelung verpflichtet ist, wobei auch inhaltliche Vorgaben gemacht werden können. Bei drohenden und unumkehrbaren, schweren Schäden kann es gem. § 35 BVerfGG auch eine eigene Übergangsregelung durch eine Vollstreckungsanordnung treffen, aber auch Vorgaben über geforderte Neuregelung machen. In dem Fall handelt das Gericht als (Ersatz-)Gesetzgeber.554 Wenn ein Gesetz als mit dem Grundgesetz für unvereinbar, vereinbar oder für nichtig erklärt wird, hat die Entscheidung gem. § 31 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 BVerfGG Gesetzeskraft dergestalt, dass das Gesetz für niemanden mehr Wirkung entfaltet, indem die Entscheidung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG alle Verfassungsorgane bin551

Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 295. BVerfGE 65, 1 (41, 43); Fisahn, in: Sokol, Der gläserne Mensch – DNA-Analysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, S. 140 (144). 553 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 288. 554 Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 474; Drüen, DStR 2016, 643 (647 f.). 552

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det.555 Die Erklärung eines Gesetzes für nichtig stellt in der Schutzpflichtdimension nicht mehr als das Äquivalent zum Abwehrrecht dar und greift somit nicht verfassungswidrig in die Kompetenz des Gesetzgebers ein. Liegt eine Schutzpflichtverletzung durch verfassungswidriges echtes Unterlassen des Gesetzgebers vor, so fehlt ein Legislativakt, der für nichtig erklärt werden könnte, da die Legislative bisher überhaupt nicht tätig wurde. Aus diesem Grund kann das Unterlassen nur für verfassungswidrig erklärt werden.556 Beim unechten Unterlassen ist ein unzureichendes Schutzniveau ebenfalls als verfassungswidrig festzustellen. In der bloßen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens kann zudem noch keine gesetzgeberische Betätigung des Gerichts erkannt werden. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens erklärt lediglich, dass der Gesetzgeber zur Schaffung eines höheren Schutzniveaus verpflichtet ist. Das Verfassungsgericht hat in dem Fall dennoch die Möglichkeit, gem. § 35 BVerfGG inhaltliche Vorgaben für eine noch zu ergreifende Regelung zu machen. Dadurch macht das Bundesverfassungsgericht zwar politische Vorgaben, sie sind allerdings aufgrund der Wächterfunktion der Verfassung, die den Gesetzgeber vor erneuten Verfassungsverstößen bewahren soll, zwingend. Die Möglichkeit, im Ausnahmefall gem. § 35 BVerfGG durch Vollstreckungsanordnung vorübergehend Recht zu setzen, verkörpert eine eigenständige, durch die Judikative wahrgenommene Schutzpflichtausübung, um bestehende Schutzlücken bis zur gesetzgeberischen Neuregelung zu schließen. Die verfassungsgerichtliche Feststellung von Schutzpflichtverletzungen beinhaltet somit keinen Kompetenzkonflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Legislative. Zudem hat das Parlament aufgrund seiner Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsprägorative die Kompetenz, eine oder mehrere verfassungsgemäße Maßnahmen zur Schutzpflichtverwirklichung autonom auszuwählen. Zu diesen Maßnahmen können auch solche gehören, die das Gericht noch nicht gesehen hatte. Allerdings erstreckt sich die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG nicht nur auf den Tenor, sondern zusätzlich auf die die Entscheidung tragenden Gründe.557 Der subjektiv-öffentliche Anspruch der Einzelnen auf staatlichen Schutz richtet sich damit neben der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens oder der Nichtigkeitserklärung einer Norm wegen Unterschreitung des von Verfassung wegen geforderten Schutzniveaus auf eine verfassungsgemäße Auswahl der hypothetischen Maßnahmen, gegebenenfalls unter der Rechtsauffassung des Bundes-

555

Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 496. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 189. 557 BVerfGE 1, 14 (37); BVerfGE 19, 377 (392); Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 485. 556

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verfassungsgerichts. Parallelen zum Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Verwaltungsbehörde in Form der Bescheidungsklage gem. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO sind deutlich erkennbar. Beim unechten Unterlassen wird die Norm jedoch regelmäßig nicht für nichtig erklärt werden, da das unzureichende Schutzniveau dadurch sogar noch verschlechtert werden würde.558 Eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips vollzieht sich erst in dem Moment, in dem sich die Auswahl der verfassungsgemäßen Maßnahmen auf eine einzige verbleibende Maßnahme verdichtet. Erst dann kann das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsorgane zur Ergreifung einer bestimmten Maßnahme verpflichten. Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt diese Möglichkeit: „[Ihre] Freiheit [die Freiheit der Verfassungsorgane] in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist.“ 559

Wegen des damit verbundenen Eingriffs in das Primat der Politik darf dieser nur restriktiv angewendet werden und nur als äußerstes Mittel ausnahmsweise verfassungskonform sein. Der Grundsatz des judicial self-restraint560 stellt sehr wohl einen brauchbaren Lösungsansatz dar. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht einen weiten Handlungsspielraum und eine eingeschränkte Kontrolldichte gegenüber der Legislative akzeptiert. Der Handlungsspielraum des Parlaments sowie die Zurücknahme gerichtlicher Kontrolldichte und der Grundsatz des judicial selfrestraint stehen jedoch nicht als drei verschiedene Maßnahmen nebeneinander, wie teilweise behauptet wird.561 Vielmehr folgt aus der richterlichen Selbstbeschränkung das nötige Vorverständnis der Verfassungsrichter, die Anerkennung eines weiten Handlungsspielraums des Gesetzgebers als auch die zum Teil beschränkte Kontrolldichte zu beachten.562 In der Schutzpflichtenrechtsprechung wird hierfür zwar nicht der Grundsatz richterlicher Selbstzurückhaltung genannt, tatsächlich stellt dieser nach der hier vertretenen These das zentrale Motiv dar. Kritisch mag gesehen werden, dass die Frage darüber, ob ein Anwendungsfall des judicial self-restraint vorliegt, vom subjektiven Empfinden der Verfassungsrichter abhängt. In der Verfassungspraxis hat die richterliche Selbstzurückhaltung bisher hingegen gut funktioniert. 558

Möstl, DÖV 1998, 1029 (1039). BVerfG, NJW 1977, 2255; aber auch BVerfGE 88, 203 (257) und BVerfGE 39, 1 (1), in dem der Gesetzgeber zum Einsatz des Strafrechts verpflichtet wurde. 560 BVerfGE 36, 1 (14). 561 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 192. 562 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, Art. 93, Rn. 36. 559

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Der Umstand, dass dem Bundesverfassungsgericht der Handlungsspielraum des Parlaments insgesamt bekannt ist, spricht vielmehr dafür, dass die Richterschaft für diesen Konflikt bereits hinreichend sensibilisiert ist. Die dargestellte Kritik richtet sich der Sache nach nicht gegen die Schutzpflicht an sich, sondern gegen die Machtposition des Verfassungsgerichts als solches. Insgesamt bestehen bei den Kritiken in Bezug zur verfassungsgerichtlichen Jurisdiktion wegen des zunehmenden Machtzuwachses keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Einer Prüfung anhand des Untermaßverbotes insbesondere bei Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG steht folglich nichts entgegen. c) Motive für umfangreichen Prüfungsmaßstab Wie gezeigt werden konnte, droht durch die Anerkennung einer Kompetenz zur Feststellung einer Schutzpflichtverletzung durch das Verfassungsgericht keine verfassungsrechtlich bedenkliche Verlagerung zu einem Jurisdiktionsstaat. Für eine Prüfung anhand des umfangreichen Untermaßverbotes anstatt einer bloßen Evidenzkontrolle lassen sich indes gewichtige Aspekte ins Feld führen. aa) Kompensationscharakter der Schutzpflicht Zunächst fordert der Kompensationscharakter der Schutzpflichtdimension eine inhaltlich umfassende Prüfkompetenz durch das Bundesverfassungsgericht. Der Kompensationscharakter der Schutzpflicht ist vor allem wegen des Ausflusses des Gewaltmonopols des Staates durch privaten Gewaltverzicht notwendig.563 Bei einer strikten Anwendung der Evidenzkontrolle würde der Kompensationscharakter jedoch regelmäßig leerlaufen, da das Gericht sich hinter dem beschränkten Prüfumfang verstecken könnte. Um der Kompensationswirkung gerecht zu werden, müssen Abwehrrecht und Schutzpflicht nach der hier vertretenen These verfassungsrechtlich gleichrangig nebeneinander stehen, was zur Folge hat, dass die Schutzpflicht dem Abwehrrecht nicht prinzipiell zu weichen hat.564 Daher kann eine Gleichberechtigung zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht nur unter Anwendung des Untermaßverbotes hergestellt werden. Dies gilt umso mehr wegen des strukturellen Ungleichgewichts, das zwischen Abwehrrecht des/der Dritten und Schutzanspruch des Betroffenen besteht, denn die Abwehr eines Eingriffs in einen Freiheitsbereich richtet sich gegen eine konkrete Maßnahme, während der Schutzberechtigte 563

Calliess, JZ 2006, 321 (327). So auch Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 297, 300; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 458; Ekardt, in: Kloepfer, Katastrophenrecht. Grundlagen und Perspektiven, S. 71. 564

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ein Mehr an Schutz fordert. Dieses geforderte Mehr an Schutz ist diffuser Natur, weil unklar ist, was für eine Maßnahme unter allen hypothetisch denkbaren Maßnahmen eigentlich gefordert wird.565 Rechtlich hat der Staat für jede Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, eine Rechtfertigungspflicht. Bei staatlichem Unterlassen besteht bisher indes keine Begründungs- und Rechtfertigungspflicht dafür, alle denkbare Maßnahmen zur Schaffung eines Schutzniveaus nicht realisiert zu haben.566 Auch hierin besteht ein Nachteil der Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht. Über ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Abwehr- und Schutzdimension hinaus besteht vor allem ein tatsächliches Ungleichgewicht zwischen „Störer“ und „Opfer“, wenn es um gesundheitsrelevante Umweltbelastungen geht. Verursacher von Umweltbelastungen sind häufig die „marktstärkeren“ Akteure wie große Konzerne im Energiesektor, der Schwerindustrie oder der Abfallwirtschaft. Diese Verursacher haben regelmäßig erheblich mehr finanzielle Mittel, um zum einen rechtlich effektiv gegen die Rechtsbehelfe der Betroffenen vorzugehen und zum anderen durch Lobbyarbeit, um wirtschaftliche Interessen – durch zunehmende politische Einflussnahme – durchzusetzen.567 Derweil ist die Durchsetzungskraft der „Marktschwächeren“ gegen jene Umweltbelastungen schwach.568 Häufig gelingt ihnen schon nicht der kausale Nachweis über die Gesundheitsschädlichkeit der Umweltbelastung. Hier zeigt sich eine weitere Ungleichheit.569 Die Schutzberechtigten tragen die Beweislast für ein zu geringes Schutzniveau, wenn sie den Nachweis über die Gesundheitsschädlichkeit der Umweltbelastung erbringen müssen. Die Umweltbelaster müssen indes keinen Nachweis erbringen, dass ihr Verhalten nicht schädlich ist, um ihren grundrechtlichen Freiheitsbereich ausüben zu dürfen. Zudem sind die Betroffenen häufig in ihrer wirtschaftlichen und politischen Stellung vergleichsweise beschränkt,570 um verfassungsrechtlichen Schutz in Anspruch zu nehmen.

565 566

Klein, JuS 2006, 960 (962). Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 43 f.; Gusy, VVDStRL, Heft 63, S. 153

(181). 567 Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 336; für die EU-Ebene: Fisahn, in: Forum Wissenschaft, 2017, Heft 2, S. 22 (24); mit Stand vom 21.04.2021 sind im EU-Transparenzregister etwa 12.500 Lobbyorganisationen registriert, hierzu Europäische Kommission, Transparenzregister, Statistiken des Transparenzregisters. Für den Deutschen Bundestag wurde daher am 01.01.2022 ein verpflichtendes Lobbytransparenzregister eingeführt, BGBl. 2021 I Nr. 19 S. 818 ff.; auch wurden vom 01.12.2017–26.10.2018 für 502 Lobbyverbände 778 Hausausweise zum Zweck der informellen Einflussnahme durch die Fraktionen sowie die Bundestagsverwaltung ausgegeben, hierzu Abgeordnetenwatch, Neue Hausausweisliste: Diese Lobbyisten können jederzeit in den Bundestag. 568 Bruch, in: FS für Kloepfer, S. 333 f. 569 Klein, JuS 2006, 960 (963). 570 Auf dieses Problem hat bereits hingewiesen: Bruch, in: FS für Kloepfer, S. 333 f.

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Mithin haben Umweltbelaster besonders wegen der politischen Grundentscheidung, Großtechnologien zuzulassen, eine faktische Grundrechtsübermacht, womit der Kern des Problems angesprochen ist. Vor diesem Hintergrund besteht rechtlich der Bedarf, die Schutzpflicht nicht nur theoretisch, sondern auch in der Verfassungsrechtsprechung effektiv zu stärken. Die ernüchternde Bilanz der Betroffenenperspektive wird in jüngster Zeit noch dadurch verschlechtert, dass der neoliberale Umbau, der seit Beginn der 1990erJahre vollzogen wird, zuungunsten der Lohnarbeiter erfolgt. Dieser Umbau führte zu einer Umverteilung von unten nach oben, denn „die Nettoeinkommen aus Kapital und ,selbstständiger Arbeit‘ wuchsen seither deutlich stärker als diejenigen aus abhängiger Arbeit“ 571, was zu einer neuen Unterschicht, ja einer neuen Armut geführt hat.572 Auf die wachsende Ungleichheit zwischen den sozial Schutzbedürftigen gegenüber den schutzbeschränkenden stärkeren Privaten wurde schon eingegangen.573 Auch die wachsende sozialen Schieflage gebietet somit eine Gleichbehandlung zwischen Schutzpflichten einerseits und Abwehrrechten andererseits. Die Theorie der Ranggleichheit zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht hat dennoch teilweise Kritik erfahren. (1) Kritik der Bundesverfassungsrichter Simon und von Brünneck Im Sondervotum des ersten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch haben die Richterin von Brünneck und der Richter Simon die weitreichendste Kritik an der Schutzpflicht geäußert, indem die Schutzfunktion der Grundrechte gänzlich abgelehnt wurde, da eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlass von Strafnormen die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehre.574 Durch die Anerkennung einer Schutzfunktion würde die abwehrrechtlich-negatorische Funktion der Grundrechte entwertet.575 Diese Auffassung wollte die Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht folglich nicht nur schlechter stellen, sondern gänzlich aus dem Grundrechtsschutz verbannen. Argumentativ wird an den Grundsatz des judicial self-restraint angeknüpft: „Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), das als das Lebenselexier der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden 571

Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 383 f. Fisahn, Die Saat des Kadmos, S. 383 f.; Fisahn, Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie, S. 79 f. 573 Hierzu unter C. II. 1. c) aa). 574 BVerfGE 39, 1 (73). 575 BVerfGE 39, 1 (73). 572

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ist, gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen.“ 576

Diese Sichtweise wird heute, soweit ersichtlich, nicht mehr vertreten. Auch wurde diese Kritik durch die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die Schutzpflichten in ständiger Rechtsprechung anerkennt, überholt. Zugegeben kann sich eine Grundrechtsfunktion, die die Grundrechtsinteressen des „Opfers“ in den Blick nimmt und für schützenswert auffasst, im Ergebnis freiheitsverkürzend für die Position der „Störer“ auswirken. Von Brünneck und Simon haben jedoch die Tragweite verkannt, die der Schutzdimension als den Freiheitsrechten vorgelagerte notwendige Bedingung von Sicherheit als Freiheitsvoraussetzung zukommt. Denn Grundrechtsgüter, die durch Dritte konsequent beeinträchtigt werden, können faktisch von niemandem mehr ausgeübt werden. Pauschal ist zudem weder die Schutzfunktion noch das Abwehrrecht vorzugswürdig, sondern bedarf stets eine Einzelfallabwägung der widerstreitenden Interessen, die zu beiden Seiten hin offen ist. Demnach kann die Kritik des Sondervotums heute nicht mehr aufrechterhalten werden. (2) Kritik von Canaris Dagegen vertritt Canaris, dass Abwehrrecht und Schutzpflicht ungleich behandelt werden müssen, um den Staat nicht zu bevormunden und nicht uferlos in Grundrechte Dritter einzugreifen.577 Aus diesem Grund könne an ein Unterlassen des Staates nicht dieselbe Begründungs- und Argumentationslast gestellt werden wie bei Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen. Zudem könne ein umfassender Schutz der Bevölkerung faktisch unmöglich gewährleistet werden.578 Dabei übersieht Canaris den Kompensationscharakter der Schutzpflicht ebenso wie den Umstand, dass die Schutzpflicht nur ein Mindestmaß an Schutz fordert, weshalb der Staat bei der Umsetzung einer Schutzpflicht einen Spielraum hat. Letztlich wird sogar die Wirkdimension der Grundrechte in ihrer Tragweite verkannt. Auch ist es nicht die Schutzpflicht, die in Grundrechte Dritter eingreift, sondern in der Regel ein einfaches Gesetz. Canaris’ Einwände begegnen folglich nicht durchgreifenden Bedenken. (3) Kritik von Robbers Auch Robbers übergeht die Kompensationsfunktion der Schutzpflicht. Für ihn muss die Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht eine schlechtere Behandlung 576 577 578

BVerfGE 39, 1 (69 f.). Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 44. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 44.

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erfahren. Sein Argument ist ein finanzielles: Die Überwachung von Regelungen, die einem angeordneten Schutzniveau dienen, würden erhebliche finanzielle, personelle und sachliche Mittel erfordern, welche hingegen begrenzt sind.579 In Zeiten von knappen Haushaltskassen sei das Parlament dann darauf angewiesen, Haushaltsmittel umzuverteilen, was wiederum in anderen Bereichen zu einer Absenkung eines bereits geschaffenen Schutzniveaus führen könne.580 Selbst wenn durch ein gefordertes Schutzniveau nicht der Staat, sondern Private belastet würden, so müssten die volkswirtschaftlichen Nachteile in Form von Abwanderung der Industrie, Abnahme der Arbeitsplätze und einer geringeren Steuereinnahme dahingehend berücksichtigt werden, dass die Schutzpflicht gegenüber dem Abwehrrecht schwächer ausgestaltet sein müsse.581 Diese Ansicht ist insgesamt nicht tragfähig. Robbers verkennt, dass Menschenrechte ebenso wie der Justizapparat stets Geld kosten. Die Aktivierung einer grundrechtlichen Schutzpflicht wird pauschal unter den Vorbehalt des finanziell, personell und sachlich Möglichen gestellt. Diese Ansicht führt zugespitzt dazu, dass der Staat umso weniger verpflichtet ist, Schutzpflichten umzusetzen, desto mehr er an Personal spart und desto kleiner er den Finanzhaushalt ausstattet. Staatlicher Schutz wird mithin vollständig der Willkür der Finanzpolitik und der Personalplanung ausgesetzt. Grundrechtsschutz kann jedoch weder von dem Vorhandensein von finanziellen Haushaltsmitteln abhängig gemacht werden noch dem Schicksal der Personalausstattung des Verwaltungsapparats unterworfen werden. Ebenso wenig kann Grundrechtsschutz von der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängen. Was den Haushalt anbelangt, so regelt Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG und § 8 Satz 1 BHO, dass alle Ausgaben durch Einnahmen innerhalb eines Haushaltsjahres gedeckt sein müssen. Jedoch besteht bei unvorhersehbarem und unabweisbarem Bedarf die Möglichkeit der über- und außerplanmäßigen Ausgaben durch Einwilligung des Bundesfinanzministers, § 37 Abs. 1 BHO. Auch ist gem. § 33 BHO ein Nachtragshaushalt möglich. Die Landeshaushaltsordnungen beinhalten äquivalente Regelungen. Kurz ausgedrückt können Mehrausgaben selbstverständlich geleistet werden, besonders wenn eine Pflichtaufgabe wie die Umsetzung einer Schutzpflicht vorliegt. Unabhängig davon besteht für kommende Haushaltsjahre die Möglichkeit, einen erhöhten Finanzbedarf durch eine Erhöhung von Steuern, steuerähnliche Einnahmen, Beiträge, Gebühren, Krediten sowie Finanzzuweisungen beispielsweise durch die Europäische Union abzudecken. Letztlich können freiwillige Ausgaben gekürzt werden. Haushaltsrechtlich geht die Erfüllung einer Schutzpflicht jedenfalls nicht mit einer Senkung eines anderweitig bestehenden Schutzniveaus einher.

579

Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161. Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 153. 581 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161 f.; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 153. 580

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Was die personelle Ausstattung der Behörden und der Gerichte anbelangt, so hat der Staat ebenfalls für eine angemessene Personaldecke für die Erfüllung der grundgesetzlichen Staatsaufgaben zu sorgen. Die Schwächung von staatlichen Schutzpflichten wegen der negativen volkswirtschaftlichen Folgen geht schon deshalb fehl, weil das Grundgesetz nach der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts wirtschaftspolitisch neutral ist.582 Daraus folgt, dass sich das Grundgesetz dem bestehenden Wirtschaftssystem nicht unterordnen darf, sondern dass das Wirtschaftssystem im Gegenteil in den Grundrechten seine Grenze findet. Eventuelle volkswirtschaftlich nachteilhafte Schutzmaßnahmen können demnach nicht zu Lasten des Grundrechtsschutzes gehen. Zudem können verfassungsgerichtliche Kassationen wegen eines verfassungswidrigen Eingriffs in Abwehrrechte ebenfalls zu den von Robbers beschriebenen Kosten führen. Somit besteht für eine Ablehnung der Gleichrangigkeit von Abwehrrecht und Schutzpflicht kein nachvollziehbarer Grund. (4) Zwischenergebnis Schließlich vermag die verschiedentlich vorgetragene Kritik an einer prinzipiellen Ranggleichheit zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten eine Gleichbehandlung beider Grundrechtsfunktionen nicht zu erschüttern. Der Ranggleichheit beider grundrechtlicher Dimensionen stehen mithin keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Vielmehr lassen sich weitere die Schutzfunktion stärkende Argumente ins Feld führen. bb) Risiken der Großtechnologie So korrelieren die von der Großtechnologie ausgehenden Risiken mit einem vermehrten Schutzbedürfnis der Bevölkerung. Eine ausführliche inhaltliche Prüfungskompetenz kann diese neuartigen Risikolagen zumindest im Ansatz kompensieren. Schon der Soziologe Ulrich Beck beschrieb den Übergang von der Industriegesellschaft zur Risikogesellschaft. Das Risiko sei zunehmend kein persönliches Risiko der Einzelnen mehr, sondern eine globale Gefährdungslage, wie mit Blick auf die Kernspaltung sowie der Lagerung von Atommüll deutlich werde.583 Was Beck damit anspricht, sind die vom zunehmenden Technisierungsprozess herrührenden Risiken, die alle Menschen, sogar die Reichen und Mächtigen, gleichermaßen bedrohen.584 Dieser Auffassung hat Fisahn widersprochen, indem er darauf hinwies, dass Risiken häufig die soziale Unterschicht stärker belasten, weswegen die Risiken innerhalb der Weltgemeinschaft oft ungleich ver-

582 583 584

BVerfGE 4, 7 (17 f.); BVerfGE 50, 290 (338). Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 28. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 30.

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teilt sind.585 Ein gutes Beispiel dafür, dass Risiken global betrachtet ungleich verteilt sind, stellt der Zugang zum Impfstoff gegen das Coronavirus dar. In einer Studie wurde herausgefunden, dass sich die einkommensstarken Staaten 70 % des verfügbaren Impfstoffes durch Vorverträge gesichert haben, obwohl diese Staaten nur 16 % der Weltbevölkerung repräsentieren: „On the basis of public records, governments in high-income countries, representing 16 % of the global population, have struck pre-orders covering at least 4.2 billion doses of COVID-19 vaccines. These countries have secured at least 70 % of doses available in 2021 of five leading vaccine candidates, on the basis of known deals.“ 586

Beck hat jedoch zumindest Recht, wenn er in der zunehmenden Risikogesellschaft neuartige Bedrohungslagen erkennt, über deren Vorliegen Unkenntnis und Unsicherheit besteht und die quantitativ eine Vielzahl von Menschen betreffen. Das Recht hat inzwischen auf die sich technisierende Risikogesellschaft reagiert, indem der Begriff der Gefahr um das Risiko ergänzt wurde und sogar die Risikovorsorge in den vorbeugenden Grundrechtsschutz integriert worden ist.587 Jedoch ist dieser Reflex des Rechts nicht zu Ende gedacht worden, weil die Risikovorsorge nicht verfassungsautonom bestimmt wurde. Darüber hinaus ist ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab nicht im Stande, den neuartigen Bedrohungen der zunehmend technisierten Risikogesellschaft zu begegnen. Der Reflex des Rechts als Antwort auf die Risikogesellschaft hat folglich auf halber Strecke Halt gemacht. Der Großtechnologisierung entspricht auch die Dieseltechnologie. Die großindustrielle Massenproduktion von Autos und der gewachsene Lebensstandard in der Risikogesellschaft ermöglichte der breiten Bevölkerung seit den 1970er-Jahren die Anschaffung eines Autos. So lag der Gesamtfahrzeugbestand im Jahr 1960 nur bei 4,5 Millionen Fahrzeugen und 1995 schon bei 40,4 Millionen.588 Im Jahr 2020 war die Anzahl der Fahrzeuge, die in Deutschland zugelassen sind, auf 66,9 Millionen angestiegen, wobei Dieselfahrzeuge einen Anteil von 31,2 % hatten.589 Im Jahr 1996 lag der Diesel-Anteil an der gesamten Fahrzeugflotte noch bei 13,7 %.590

585 Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (68). 586 Wouters u.a., Challenges in ensuring global access to COVID-19 vaccines: production, affordability, allocation and development, in: The Lancet 2021, Heft 357, S. 1023 (1028). 587 Fisahn, in: Sokol, Der gläserne Mensch – DNA-Analysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, S. 140 (141). 588 Kraftfahrt-Bundesamt, Bestand an Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern in den Jahren 1960 bis 2021 nach Fahrzeugklassen. 589 Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 8/2021, Der Fahrzeugbestand am 1. Januar 2021. 590 Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung, Bestand an Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern in Deutschland am 1. Januar 2001.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum der Diesel im PKW-Bereich erst Anfang der 1990er-Jahre populär wurde. Die Antwort liegt darin, dass der Dieselmotor im Vergleich zum Ottomotor lange Zeit als zu leistungsschwach galt. Erst die Abgasturboaufladung und neue Hochdruck-Einspritzsysteme führten zu einer vergleichbaren Leistungsfähigkeit mit dem Ottomotor.591 Zusätzlich wurde der Dieselkraftstoff im Jahr 1990 steuerlich vergünstigt.592 Mit dem Aufkommen der Großtechnologie haben sich neue und häufig kollektive Risiken verbreitet, welche die staatliche Gemeinschaft zunehmend vor neue Herausforderungen stellt. Klassische Freiheitsbeschränkungen drohen somit nicht mehr nur von Seiten des Staates, sondern zunehmend von großen hoch technologisierten Industriekonzernen, also von privaten Dritten. Die Grundrechtstheorie hat sich mithin von einem rein liberalen, freiheitsgewährenden Staat in Richtung grundrechtssicherndem Staat erweitert.593 Insgesamt offenbart sich eine zunehmende Macht der großen Technologiekonzerne, die vor dem Hintergrund der politischen Entscheidung für die grundsätzliche Zulassung neuartiger Großtechnologien mit einem neuen Bedürfnis nach Schutz vor den damit verbundenen Risiken verbunden ist. Wenn das Schutzbedürfnis ernst genommen werden soll, dann reicht eine bloße Evidenzkontrolle bezüglich der staatlichen Schutzpflichten nicht aus, sondern ist auf eine inhaltlich umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle angewiesen. cc) Risiken durch neoliberalen Umbau der Gesellschaft Darüber hinaus ist der stetig zunehmende Bedarf nach staatlichem Schutz inzwischen nicht mehr auf die Risiken der Großtechnologie beschränkt. Wie schon eingehend beschrieben, ist der dynamische Grundrechtsschutz des Grundgesetzes gefordert, auf die spürbare Verschlechterung der sozialen Verhältnisse der Zivilbevölkerung zu reagieren, indem der Grundrechtsschutz für die Annahme von staatlichen Schutzpflichten ausgeweitet werden sollte.594 Die sozialen Schieflagen sind nach der hier vertretenen Auffassung gerade eines der Motive für die Anerkennung von Schutzpflichten. Wenn der Schutzanspruch auf Tätigwerden auf der Prüfungsebene der Schutzpflichtverletzung durch eine nur eingeschränkte gerichtliche Prüfungsdichte abgetan würde, bliebe die verfassungsrechtliche Schutzdimension unvollständig und im Ergebnis wirkungslos. Somit sollte der

591 Reif, Grundlagen Fahrzeug- und Motorentechnik im Überblick, S. 3; Reif, Dieselmotor-Management, S. 19, 25. 592 BGBl. 1990 I, S. 1318 f. 593 Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1538); Gusy, VVDStRL, Heft 63, S. 153 (175); Clausen, Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, S. 136. 594 Hierzu bereits unter C. II. 1. c).

III. Verletzung einer Schutzpflicht

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Prüfungsumfang möglichst streng – im Sinne einer Inhaltskontrolle – ausfallen, um dem Schutzbedürfnis überhaupt gerecht werden zu können. dd) Grundrechtsverstärkende Wirkung des Art. 20a GG Letztlich ist bei gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen gleichzeitig Art. 20a GG betroffen. Wie schon näher beschrieben,595 kann dem Umweltschutz innerhalb des Abwägungsprozesses im mehrpoligen Verfassungsverhältnis nur eigenständiges Gewicht zukommen, wenn der Abwägungsprozess überhaupt eröffnet ist. Zudem kann eine grundrechtsverstärkende Wirkung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen des ebenfalls betroffenen Umweltschutzes aus Art. 20a GG, wenn die Schutzdimension diskutiert wird, nicht durch eine Evidenzprüfung verwirklicht werden. Um letztlich beurteilen zu können, welche denkbare Schutzmaßnahme den Umweltschutz berücksichtigt, ist die Prüfung anhand des Untermaßverbotes erforderlich. d) Zwischenergebnis Zumindest wenn Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder aus dem sozialen Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG betroffen sind, muss eine umfassende verfassungsgerichtliche Prüfungskompetenz anhand des Untermaßverbots angenommen werden. Dies gilt erst recht, wenn gleichzeitig Umweltschutzbelange betroffen sind. 2. Anwendbarkeit des Untermaßverbotes Vereinzelt wird das Untermaßverbot auf Sachverhalte begrenzt, in denen Grundrechtsgefährdungen oder Grundrechtsverletzungen durch staatliches Unterschreiten des Mindestschutzniveaus auf dem Verhalten anderer Bürger beruhen beziehungsweise aus der Gesellschaft herrühren.596 Dieses Verständnis setzt somit mindestens ein dreipoliges Verfassungsverhältnis in Gestalt Bürger – Staat – Bürger voraus. Diese Auffassung überzeugt nur zum Teil. Für die Fälle, in denen der Staat selber durch aktives Handeln in Grundrechte eingreift, beispielsweise wenn der Staat zum „Störer“ wird, bietet die bewährte Abwehrdimension grundrechtlichen Schutz, da ein Eingriff vorliegt. Für Sachverhalte im bipolaren Verhältnis Staat – Bürger, in denen kein Verhalten Dritter vorliegt, stellt sich die Frage, welches 595

Hierzu bereits unter C. II. 2. d) aa) (3). Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 1, Vorb. Rn. 101; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 5; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 40; Merten, in: GS Burmeister, S. 227 (236); Keuthen, Die abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung, S. 144, 146. 596

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Prüfungsprogramm anwendbar ist. Bei Naturkatastrophen und Krankheiten hat der Staat jedenfalls auch Schutzpflichten, obwohl diese Ereignisse weder durch Private noch durch die Gesellschaft verursacht werden. Darauf gerichtete Schutzmaßnahmen können dabei genauso intensiv in die Freiheitsbereiche Dritter eingreifen wie im mehrpoligen Verfassungsverhältnis. Ohne Zweifel handelt ein Bundesland in Wahrnehmung einer Schutzpflicht, wenn es sich dazu entscheidet, in bebauten Küstenabschnitten einen Deich zum Schutz der Bevölkerung vor Sturmfluten zu errichten. Wenn deshalb Grundstücke Dritter enteignet werden müssen, führt dies in letzter Konsequenz zu Grundrechtseingriffen Dritter, hier in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Somit bestehen sehr wohl bipolare Verfassungsverhältnisse zwischen Staat und schutzbedürftigen Bürgern, die auf das Untermaßverbot nicht verzichten können, um die Grundrechtsinteressen Dritter mittels Abwägung integrieren zu können. Folglich muss das Untermaßverbot aufgrund des Höchstranges zumindest bei Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG und bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stets angewendet werden – und zwar sowohl im zweipoligen Verfassungsverhältnis ebenso wie in mehrpoligen Grundrechtskonstellationen. Fehlen grundrechtsrelevante Interessen Drittbetroffener kann die Abwägung diese Interessen mangels Existenz nicht berücksichtigen und beschränkt sich auf mögliche öffentliche Interessen. Bei unterlassener Nachbesserung einer bereits bestehenden schutzpflichtbedingten Regelung neigt das Bundesverfassungsgericht zur Evidenzprüfung durch Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte.597 Dieses Vorgehen ist allerdings nicht plausibel. Wenn bei bestehenden Schutzregelungen, die sich im Nachhinein als unzureichend erweisen, nur eine Prüfung auf offensichtliche Schutzpflichtverletzungen (Evidenzprüfung) erfolgt, dann wird gesetzgeberisches Untätigbleiben privilegiert, was zur Lähmung des Gesetzgebers zur Schaffung eines verfassungsrechtlich notwendigen Schutzniveaus führt. Folglich muss sich das Untermaßverbot auch auf Sachverhalte der unterlassenen Nachbesserung erstrecken. Jedoch erschöpfen sich Schutzpflichten grundsätzlich nicht schon dadurch, dass private Übergriffe durch Gesetze verboten werden. Vielmehr muss der Staat auch für die Durchsetzung von Verboten sorgen.598 Darüber hinaus wird bei bestehenden Schutzregelungen nach der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ein Bestandsschutz anerkannt, wenn das Untermaßverbot bei Änderung oder Außerkraftsetzung unterschritten wird.599

597

BVerfGE 56, 54 (81); aber auch BVerfG, NJW 1996, 651 (652). Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 267. 599 BVerfGE 88, 203 (210 f., 254 f.); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 292. 598

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Das bedeutet, dass ein einmal geschaffenes Mindestschutzniveau später nicht mehr unterschritten werden darf. 3. Inhalt des Untermaßverbotes Mindestens ebenso umstritten wie die Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten ist der Inhalt des Rechtsinstituts des Untermaßverbotes. Streit herrscht schon bei der Frage, worin sich das Untermaßverbot vom Übermaßverbot unterscheidet. Wie das inhaltliche Prüfprogramm des Untermaßverbotes ausgestaltet ist, bedarf ebenfalls einer Auseinandersetzung. Was das Übermaßverbot als Grenze für grundrechtliche Eingriffe in die Abwehrrechte darstellt, das ist in der Schutzdimension das Untermaßverbot als von der Verfassung geforderte Untergrenze an staatlichem Schutz.600 Vereinzelt wurde unzutreffend davon ausgegangen, dass die Prüfung des Untermaßverbots identisch mit der Evidenzkontrolle sei.601 a) Kongruenzthese Teile der Literatur vertreten die Ansicht, dass das Übermaßverbot und Untermaßverbot im mehrpoligen Verfassungsverhältnis deckungsgleich seien, weil es keine Spanne zwischen Mindest- und Höchstschutz gebe. Das Untermaßverbot hätte daher keine eigenständige Bedeutung, weil ein Ausgleich zwischen Störerund Opferinteressen nur in einem Punkt denkbar sei.602 Diese Vertreter der sogenannten Kongruenzthese gehen davon aus, dass das Untermaßverbot schon in der Prüfung des Übermaßverbotes aufgehe, was wiederum bedeutet, dass das Untermaßverbot jedenfalls auf der Ebene der Angemessenheit eine aus der Abwehrdimension der Grundrechte bekannten Verhältnismäßigkeitsprüfung ist.603 Dieser Auffassung haben verschiedene Stimmen widersprochen.604 Insbesondere orientiere sich die Prüfung der Erforderlichkeit in der abwehrrechtlichen 600 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 303. 601 So Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 202. 602 Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84, 87; SchulzeFielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 2, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 198; Hain, DVBl. 1993, 982 (983). 603 Beispielsweise Calliess, JZ 2006, 321 (329); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87; Hain, DVBl. 1993, 982 (983); Starck, JZ 1993, 816 (817); Erichsen, JURA 1997, 85 (88). 604 Beispielsweise Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 127, 131; Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 304 f.; Sodan, NVwZ 2000, 601 (605); Cremer, Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, S. 313; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 300.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Dimension definitionsgemäß am legislativ formulierten Gesetzeszweck der Eingriffsgrundlage, während sich die Erforderlichkeit des Mindestschutzniveaus nur an der Verfassung orientiert und über den Gesetzeszweck hinausgehen kann.605 Auch wurde darauf hingewiesen, dass das Untermaßverbot für Fälle von Naturkatastrophen, bei denen keine staatlichen Eingriffe bestehen, angewendet werden müsse, wenn das geschaffene Schutzniveau unzureichend ist, aber auch bei der Aufhebung eines bestehenden Schutzniveaus.606 Störring hat das treffliche Beispiel der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch genannt und modifiziert.607 Demnach wäre eine Informationsbroschüre zwar für einen Grundrechtseingriff der Mutter erforderlich, jedoch kann dadurch kein erforderliches Schutzniveau für das werdende Leben erreicht werden. Der Unterschied zwischen den Verhältnismäßigkeitsprüfungen von Abwehrrechten und Schutzpflichten ist offensichtlich. Bei der Angemessenheitsprüfung des Eingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wird danach gefragt, ob ein Höchstmaß an Schutz für Dritte überschritten wurde, nicht hingegen, ob ein Mindestmaß an Schutz verwirklicht wurde.608 Das Untermaßverbot und das Übermaßverbot sind somit nicht grundsätzlich kongruent. Zutreffend ist daher die Erkenntnis, dass das Übermaßverbot die obere Grenze von dessen markiert, inwieweit der Staat in Grundrechte eingreifen darf, wogegen das Untermaßverbot die Schwelle markiert, bis zu welcher der Staat zur Erfüllung seiner Schutzpflichtigkeit handeln muss.609 Nur diese Auffassung belässt der Legislative den notwendigen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum, der aus dem Gewaltenteilungsprinzip entfließt.610 Um diesen Spielraum zu wahren, entzieht sich dieser Spielraum einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle und kann durch Einzelne nicht eingeklagt werden. Somit beinhaltet der Spielraum alle hypothetischen Maßnahmen, die zwischen der Schwelle des Untermaßverbotes und des Übermaßverbotes liegen und gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen Grenzen der Staat in verfassungsgemäßer Weise handeln darf. Dieser Handlungskorridor kann in Ausnahmefällen auch sehr klein ausgestaltet sein, wenn beispielsweise von Anwohnern eines Verkehrs605

Dietlein, ZG 1995, S. 131 (136 f.). Lee, in: FS für Starck, S. 297 (307); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 456. 607 BVerfGE 88, 203 ff.; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 126. 608 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 128. 609 Cremer, Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, S. 313; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 304. 610 So auch Cremer, Freiheitsgrundrechte. Funktionen und Strukturen, S. 313. 606

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flughafens ein nächtliches Flugverbot zum Schutz ihrer Gesundheit gefordert wird. b) Prüfungsschema Entscheidend für die Prüfung des Untermaßverbots ist seine konkrete Ausgestaltung. Überwiegend herrscht Konsens, dass das Untermaßverbot eine Abwägung mit den Freiheitsrechten Dritter, also eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, enthalten muss.611 In der Prüfung ist die Integration der durch die Schaffung oder Erhöhung des Schutzniveaus betroffenen Grundrechtspositionen Dritter notwendig, um drohende Grundrechtsverletzungen bei jenen Dritten zu verhindern. Inhaltlich bestehen hingegen Unterschiede zur Verhältnismäßigkeitsprüfung in der abwehrrechtlichen Konstellation, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Die Kollisionslage im mehrpoligen Verfassungsverhältnis lässt sich jedoch nur durch eine mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung lösen.612 Diese Vorgaben für eine Prüfung hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aufgenommen, denn „der Gesetzgeber [hat] das Untermaßverbot zu beachten; insofern unterliegt er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Notwendig ist ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz; entscheidend ist, daß er als solcher wirksam ist.“ 613

Schöpfer des Untermaßverbotes war jedoch weder das Bundesverfassungsgericht noch der auf den in der Entscheidung Bezug genommene Isensee,614 sondern der Zivilrechtler Canaris.615 Die Literatur prüft die Verletzung des Untermaßverbotes überwiegend dreistufig.616 In den einzelnen Ebenen unterscheiden sich die Prüfungskonzepte jedoch. Positiv sollte erwähnt werden, dass die Literatur bei der Herausbildung eines allgemeingültigen Prüfungsprogramms des Untermaßverbotes, Konzepte und Vorschläge entwickeln konnte. Bei genauerer Überprüfung zeigt das vorgeschlagene Prüfungskonzept indes Schwächen. Vereinzelt wird daher gefordert, die Prüfung auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu beschränken.617 611 Stober, NJW 2007, 2008 (2013); Calliess, JZ 2006, 321 (329); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 253; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 99; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 200. 612 Calliess, JZ 2006, 321 (329); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. 613 BVerfGE 88, 203 (254). 614 BVerfGE 88, 203 (254); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 1984, 201 (228). 615 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 1984, 201 (228). 616 Michael, JuS 2001, 148 (151); Sodan, NvWZ 2000, 601 (605 f.); Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038 f.); Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 104; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. 617 So Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 212.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Mit leichten Abweichungen wird überwiegend das folgende Prüfungsprogramm vorgeschlagen: „– Besteht mit Blick auf das vom jeweiligen Grundrecht geschützte Rechtsgut, das durch private Handlungen beeinträchtigt wird, überhaupt ein staatliches Schutzkonzept (Vorfrage)? – Wenn ja, ist dieses Schutzkonzept geeignet, das vom jeweiligen Grundrecht geschützte Rechtsgut wirksam zu schützen (1. Stufe)? – Wenn ja, gibt es ein Schutzkonzept, das einen wirksameren Schutz gewährt, als das bereits geltende Schutzkonzept, ohne stärker als letzteres in Rechte Dritter einzugreifen oder öffentliche Interessen zu beeinträchtigen? Mit anderen Worten, gibt es ein wirksameres, ebenso mildes Schutzkonzept (2. Stufe)? Auf diese Weise können auch Teile des Schutzkonzepts auf ihre Wirksamkeit untersucht und im Falle mangelnder Effektivität als gegen das Untermaßverbot verstoßend angesehen werden. – Wenn ja, ist der Schutz unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessen (3. Stufe)? Dabei ist zu prüfen, ob die Hinnahme der nach dem geltenden Schutzkonzept verbleibenden Gefahren und Risiken für das vom Grundrecht geschützte Rechtsgut unter Abwägung mit kollidierenden privaten und öffentlichen Interessen zumutbar ist.“ 618

Dieses Prüfungsprogramm soll im Folgenden genauer auf seine verfassungsrechtliche Tauglichkeit untersucht werden. aa) Verfassungslegitimer Zweck Meistens wird in der Literatur zuerst geprüft, ob ein verfassungslegitimer Zweck verfolgt wird.619 Zwecke, die mit der Verfassung im Widerspruch stehen, können niemals legitim sein. Unklar ist dabei, ob sich der Zweck aus dem bestehenden Schutzkonzept ergeben muss.620 Manche knüpfen den verfassungslegitimen Zweck sogar an die kollidierenden Abwehrrechte Dritter621 und übersehen dabei die dem Abwehrrecht entgegengesetzte Perspektive der Schutzpflichten. In der Abwehrdimension wird innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung schließlich auch erst auf der letzten Stufe (der Angemessenheitsprüfung) die Schutzdimension Dritter erörtert und gewichtet. Demgemäß sollte für das in der Literatur vorgeschlagene Prüfungsprogramm der Schutzpflicht nichts anderes gelten. Aus 618 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 108. 619 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 100; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Calliess, JZ 2006, 321 (329); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 253; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 205. 620 So Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, S. 28; Erichsen, JURA 1997, 85 (88); Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038). 621 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 253; Pietrzak, JuS 1994, 748 (751).

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dem gleichen Grund ist auch die Meinung von Michael622 abzulehnen, die unter den verfassungslegitimen Zweck sowohl den grundrechtlichen Schutzzweck der Maßnahmen als auch die kollidierenden Grundrechtsinteressen Dritter subsumieren möchte. Zum Teil wird der verfassungslegitime Zweck auch in einer Vorfrage vor der eigentlichen Prüfung des Untermaßverbotes geprüft.623 Unabhängig davon fragt Calliess in seinem Prüfungsprogramm in einer anderen Vorfrage danach, ob ein staatliches Schutzkonzept besteht.624 Störring geht davon aus, dass sich der verfassungslegitime Zweck aus den bestehenden Maßnahmen, soweit solche existieren, ergeben müsse.625 Diese Auffassung ist nicht tragfähig. Zum einen können Schutzkonzepte, aber auch einzelne Maßnahmen eine Vielzahl an Zwecken verfolgen, die grundrechtlich zwar legitim sind, jedoch unabhängig von der Umsetzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht verfolgt werden können. Die Förderung von Kulturveranstaltungen beispielsweise dient nicht der Wahrnehmung einer Schutzpflicht. Daher kann sich ein verfassungslegitimer Zweck allenfalls aus den grundrechtlichen Schutzpflichten selbst ergeben. Zu fragen ist somit nur danach, ob Schutzmaßnahmen dem Zweck des Schutzes einzelner Grundrechte dienen. Wird diese Frage verneint, so liegt bereits ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vor. Diese Erkenntnis führt zu einem schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Dilemma, auf das an späterer Stelle eingegangen wird.626 Daraus resultiert zwangsläufig ein Konflikt in Fällen, in denen der Staat völlig untätig geblieben ist, weil ein Zweck zur Umsetzung einer Schutzpflicht gerade nicht bestehen kann. Für die Lösung dieses Konflikts kommen verschiedene Optionen in Betracht: Zunächst kann überlegt werden, das Untermaßverbot in diesen Sachverhalten unangewendet zu lassen und nur anhand der Evidenzkontrolle zu prüfen. Dieser Lösungsweg würde allerdings zu einer nicht nachvollziehbaren Begünstigung von staatlicher Untätigkeit führen, um dem strengeren Untermaßverbot zu entgehen. Dadurch könnte der Gesetzgeber vor der Schaffung eines Schutzniveaus abgeschreckt werden. Auch wenn bisher kein Schutzniveau geschaffen wurde, können drittbetroffene Grundrechtsbelange bedeutend sein. Denkbar sind Sachverhalte, in denen schon die Umsetzung einer beliebigen Schutzmaßnahme mit dem Übermaßverbot von Dritten kollidiert. Diesen Konflikt übersieht Möstl, wenn er in Fällen eines vollständig fehlenden Schutzkonzeptes das Untermaßverbot unzutreffenderweise automatisch als verletzt ansieht.627 Bei

622

Michael JuS 2001, 148 (151). Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 253 f.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. 624 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. 625 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 205. 626 Hierzu unter C. III. 3. b) ee). 627 Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038). 623

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einem von Terroristen entführten zivilen Verkehrsflugzeug ist nämlich nur der staatliche Abschuss des Flugzeuges denkbar, um das Schutzinteresse der am Boden befindlichen Menschen zu erfüllen. Solche Fälle lassen sich nur mit dem Untermaßverbot lösen, bei dem die widerstreitenden Interessen abgewogen werden.628 Das Untermaßverbot kann in diesen Konstellationen des gänzlichen Unterlassens des Staates – so die hier vertretene These – dergestalt angewendet werden, dass zunächst lediglich eine Angemessenheitsprüfung erfolgt. Wird sodann festgestellt, dass die staatliche Untätigkeit für die Schutzbedürftigen unangemessen ist, so muss darüber hinaus erwogen werden, ob eine Schutzerhöhung hypothetisch verfassungsgemäß wäre. Die Prüfung ist daher insofern zu modifizieren. Diese Angemessenheitsprüfung, die unter dem Vorbehalt der hypothetischen Verfassungsmäßigkeit einer Schutzniveauhöhung steht, bietet einen weitergehenden Schutz als eine bloße Evidenzkontrolle. Zudem orientiert sich die Geeignetheit und die Effektivität der Untermaßprüfung immer am eingangs festgestellten verfassungsrechtlichen (Schutz-)Zweck, dessen Bestimmung beim gänzlichen Unterlassen unmöglich feststellbar ist. Auch wegen fehlender Alternativlösungen ist der hier skizzierte Lösungsweg insgesamt geboten. Weshalb die Prüfung des verfassungslegitimen Ziels mitunter nicht in das Prüfungsprogramm integriert wird, ist nicht nachvollziehbar. Folglich sollte die Prüfung des verfassungslegitimen Zwecks in das Prüfungsprogramm aufgenommen werden. bb) Geeignetheit Als zweiter Schritt ist nach überwiegender Ansicht die Geeignetheit zu prüfen. Die ergriffenen Schutzmaßnahmen müssen dafür geeignet sein, die Schutzdimension des einschlägigen Grundrechts zu fördern.629 Abermals prüfen manche Stimmen nur – wie schon beim legitimen Zweck –, ob der Zweck geeignet ist, die Freiheitsrechte Drittbetroffener zu wahren.630 Diese Vorgehensweise ist – wie schon erörtert – systemwidrig, verkennt die Perspektive der Schutzpflicht und ist daher abzulehnen. In der Literatur scheint sich ein Trend abzuzeichnen, der die abstrakte Möglichkeit der Eignung ausreichen lassen möchte.631 Demgemäß sind Schutzmaßnahmen geeignet, wenn sie nicht völlig ungeeignet sind.

628 Der Konflikt mit Art. 1 Abs. 1 GG soll hier vereinfachend zunächst nicht thematisiert werden. 629 So auch Sodan, NVwZ 2000, 601 (605); Merten, in: GS für Burmeister, S. 227 (240); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038). 630 Hierzu bereits unter C. III. 3. b) aa); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 254; Pietrzak, JuS 1994, 748 (751); Michael, JuS 2001, 148 (151). 631 Merten, in: GS für Burmeister, S. 227 (240); Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 103.

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Ausreichend ist – auch mit Blick auf den Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers –, wenn eine einzige Maßnahme besteht, welche die Schutzpflicht fördert. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber zwischen mehreren geeigneten Maßnahmen ein Wahlrecht bei der Auswahl der Schutzmaßnahmen hat. Calliess geht über die bloße Geeignetheit des Schutzkonzepts weit hinaus, indem er sogar fordert, dass die geeigneten Maßnahmen bezogen auf das grundrechtlich zu schützende Rechtsgut wirksam sein müssen.632 Hierbei ist anzumerken, dass die Frage der Wirksamkeit der Maßnahmen die Kernfrage der erst im Anschluss zu prüfenden Effektivität ist. Insofern ist die Auffassung nur im Ergebnis zutreffend, weil die Feststellung eines nicht wirksamen Schutzkonzepts eine Verletzung des Untermaßverbotes bedeutet. cc) Effektivität Anstatt der üblichen Erforderlichkeitsprüfung wird sodann nach der Effektivität gefragt. Anzuknüpfen ist erneut konsequent an das bestehende Schutzkonzept, soweit eines vorhanden ist. In der Literatur wird vorgeschlagen, auf dieser Ebene sämtliche bestehenden und hypothetischen Schutzmaßnahmen auf ihre Effektivität, das heißt auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.633 Unter den bestehenden und denkbaren Schutzmaßnahmen müsse sodann diejenige gewählt werden, welche den wirksamsten Schutz gewährleistet, jedoch am wenigsten intensiv öffentliche Belange oder Grundrechte Dritter einschränkt.634 Dieser Vorschlag ist in der dargebotenen Ausprägung jedoch nicht verfassungskonform, weil der dem Gesetzgeber zukommende Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsprärogative dadurch konterkariert wird. Zudem gewährleistet das Grundgesetz nicht den wirksamsten Schutz, sondern lediglich ein Mindestmaß an Schutz.635 Das Schutzniveau muss dafür bloß wirksam sein, also die Untermaßschwelle erreichen. Auch sind nur wenige Fälle denkbar, in denen eine wirksamere Schutzmaßnahme auf der anderen Seite nicht mit einer Intensivierung von 632

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 109; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. 634 Michael, JuS 2001, 148 (151); Möstl, Die Staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 108; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Zwermann-Milstein, Grund und Grenzen einer verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Mindestversorgung, S. 220; dazu, dass innerhalb der grundrechtlichen Abwägung auch Gemeinwohlbelange ein eigenständiges Gewicht haben, schon Häberle, VVDStRL Heft 30, S. 43 (106); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 249. 635 So zutreffend Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 209. 633

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Grundrechtseingriffen oder einer Beschränkung von Gemeinwohlinteressen einhergeht.636 Ebenso können Schutzmaßnahmen zur Erhöhung des Schutzniveaus in verfassungsgemäßer Weise stärker in Grundrechte anderer eingreifen, solange sie angemessen sind.637 Aus diesem Grund muss die Effektivitätsprüfung dahingehend angepasst werden, dass das Schutzkonzept lediglich hinsichtlich des von der Verfassung geforderten Mindestschutzes wirksam sein muss, ohne übermäßig in Abwehrrechte Dritter einzugreifen und ohne öffentliche Interessen unverhältnismäßig zu beschränken. Daraus ergibt sich jedoch, dass eine Aussage darüber, ob das effektive Maß an Schutz gewährleistet wird, erst nach der Ermittlung der Untermaßschwelle in der Angemessenheit getroffen werden kann. Hier zeigt sich abermals eine Schwäche des verbreiteten Prüfungsprogramms. Wenn wirksame Schutzmaßnahmen die Drittbelange und öffentlichen Interessen am wenigsten intensiv beeinträchtigen sollen, dann wird innerhalb der Effektivität eine Interessenabwägung vorgenommen und die Angemessenheitsprüfung unnötigerweise vorweggenommen. dd) Angemessenheit Auf einer letzten Stufe wird nach dem bisherigen Stand in der rechtswissenschaftlichen Literatur die Angemessenheit des bestehenden Schutzkonzeptes untersucht. Das bestehende Schutzniveau muss unter Berücksichtigung kollidierender Grundrechte sowie öffentlicher Interessen ausreichend und zumutbar sein.638 Vorzunehmen ist somit eine Interessenabwägung mit kollidierenden öffentlichen und privaten Interessen. Diese inhaltliche Prüfung anhand einer Abwägung hat auch das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch anerkannt, denn „notwendig ist ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz“.639 Zu diesen Rechtsgütern gehören sowohl Grundrechtsbelange Dritter als auch öffentliche Interessen wie der Bereich der Verkehrsmobilität. Als passendes sprachliches Bild hat Merten formuliert, dass man „Spatzen nicht mit Kanonen schützen muß“.640 Wenn jedoch nur das bestehende Schutzniveau untersucht wird, ist die Prüfung unvollständig, da zusätzlich ergründet werden muss, ob ein mögliches höheres Schutzniveau in Bezug auf kollidierende Rechtspositionen aus verfassungsrechtlicher Sicht überhaupt umsetzbar wäre.641 Ansonsten würde bei einer Feststellung 636 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 171; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 211; Michael, JuS 2001, 148 (151). 637 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 210. 638 Michael, JuS 2001, 148 (151). 639 BVerfG 88, 203 (254). 640 Merten, in: GS für Burmeister, S. 227 (242). 641 Darauf weist auch Cremer hin: Cremer, Freiheitsgrundrechte, Funktionen und Strukturen, S. 276.

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der Verfassungswidrigkeit des existierenden Schutzkonzeptes wegen Verstoßes gegen das Untermaßverbot eine Verbesserung der Schutzmaßnahme(-n) gefordert, die möglicherweise verfassungsrechtlich unmöglich realisierbar ist/sind. Als Abwägungsregeln für die Schutzdimension gelten die Ränge der betroffenen Rechtsgüter, die Höhe der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe.642 Das bedeutet, dass das Mindestschutzniveau umso höher liegt, desto höher der Schutzgutrang einzuordnen ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Schadensrealisierung ist und desto gravierender der Schadensausmaß sein wird. Parallel müssen die kollidierenden Grundrechte der „Störer“ und die betroffenen öffentlichen Interessen gewichtet werden. Zu prüfen ist somit, ob eine Erhöhung des Schutzkonzepts zu einem Verstoß mit dem Übermaßverbot führen würde. Insgesamt bedarf die anzustellende Abwägung auf der Ebene der Angemessenheit schon wegen der Vielzahl an denkbaren Schutzmaßnahmen und kollidierender Interessen stets einer Einzelfallprüfung. Innerhalb der Angemessenheitsprüfung sind Sachverhalte denkbar, die die inhaltliche Prüfung modifizieren können, aber auch erhebliche rechtliche Probleme offenbaren, weswegen diese Fälle näher erörtert werden müssen. Diese Fälle bestehen in der Möglichkeit des Selbstschutzes von Schutzbetroffenen sowie in grundrechtlichen Pattsituationen. (1) Möglichkeit des Selbstschutzes In der Literatur wird zum Teil als Abwägungskriterium auch die Möglichkeit der Selbsthilfe beziehungsweise des Selbstschutzes der Schutzgutträger genannt, da in solchen Situationen kein Bedürfnis nach grundrechtlichem Schutz bestehe.643 Im Mittelpunkt dieser Auffassung steht der eigenverantwortlich handelnde und mündige Mensch. Dieser Ansatz erinnert an das Strafrecht, in dem eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers die objektive Zurechenbarkeit des Handelnden tatbestandsmäßig entfallen lässt.644 Übertragen auf das Verfassungsrecht würde dieser Gedankengang dazu führen, dass der Staat objek-

642 Gusy, StWStP 1994, 187 (206); Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 111; Merten, GS für Burmeister, S. 227 (242 f.); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 301. 643 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 80; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 111; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 83; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 219. 644 BGHSt 32, 262 (264 f.); Timpe, JR 2014, 52 (54).

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tiv nicht verpflichtet ist, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wenn die Grundrechtsträger selbst für das bestehende Schutzbedürfnis sorgen können. Folglich werden den Schutzsuchenden die durch Dritte erzeugten Risiken einseitig zugerechnet. Rechtsdogmatisch handelt es sich bei dieser Auffassung um einen Ausschlussgrund der staatlichen Schutzpflicht im Einzelfall zu Gunsten des Abwehrrechts. Bei genauerer Betrachtung beinhaltet diese Ansicht den Gedanken, dass der Schutzpflicht nicht der gleiche Rang zukommt wie dem Abwehrrecht. Die Schutzdimension erfährt mithin eine Abwertung zu Gunsten des Freiheitsrechts. Mehr noch führt diese Auffassung zu einer Durchbrechung des jedenfalls in der Europäischen Union geltenden Verursacherprinzips als allgemeinen Rechtsgedanken. Dies gilt zumindest, wenn die Risiken aus Umweltbelastungen resultieren, wie mit Blick auf Art. 191 Abs. 2 AEUV deutlich wird. In Deutschland ist die Geltung des Verursacherprinzips als allgemeines Rechtsprinzip hingegen umstritten.645 Unabhängig davon ist dem Verursacherprinzip jedenfalls der Regelungsgehalt zu entnehmen, dass die Verursacher von Umweltbelastungen materiell für die Folgen verantwortlich sein sollen und ihnen zugerechnet werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Verursachungsprinzip im Umweltrecht der einfachgesetzlichen Konkretisierung bedarf.646 Mithin zeigt sich, dass Verursacher von Schäden in der Rechtsgemeinschaft nicht prinzipiell durch Schonung privilegiert werden sollen.647 Dennoch kann die Möglichkeit des Selbstschutzes jenseits von Umweltbelastungen in den Abwägungsprozess integriert werden. Exemplarisch dafür steht der Konsum von alkoholischen Getränken, die gesundheitsgefährdend sind. Hierbei haben die Konsumenten, soweit sie nicht alkoholabhängig sind, die tatsächliche Möglichkeit, auf den Konsum zu verzichten. In dem Zusammenhang wäre ein Begehren der Konsumenten auf staatlichen Schutz schlechthin widersprüchlich. Wenn die Betroffenen hingegen nur eine hypothetische Möglichkeit auf Selbstschutz haben, aber keine realistische, dann ist bei diesem Abwägungselement Vorsicht geboten. In der Risikogesellschaft sind in aller Regel gesundheitsrelevante Umweltbelastungen für die Bedrohung von Leben und Gesundheit verantwortlich. Diese Risiken sind gesellschaftlich häufig ungleich verteilt.648 Dies wird beispielsweise bei Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr deutlich, denn an vielbefahrenen Hauptverkehrsstraßen der Innenstädte wohnen oft die sozialschwächeren Bevölkerungsteile, da der Mietzins dort geringer ist. Dort ist die Schadstoffbelastung hoch und infolgedessen finden oft auch Grenzwertüber645 Dagegen beispielsweise Kloepfer, Umweltrecht, § 4, Rn. 108; Adams, JZ 1989, 787 (789); dafür beispielsweise Sanden, ZUR 2009, 3 (5); Monien, Prinzipien als Wegbereiter eines globalen Umweltrechts?, S. 402. 646 Zur Konkretisierungsbedürftigkeit: Kahl/Gärditz, Umweltrecht, § 4, Rn. 28 f. 647 BVerfGE 49, 89 (143); ähnlich auch Gusy, VVDStRL, Heft 63, S. 153 (173). 648 Hierzu bereits unter C. III. 1. c) bb).

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schreitungen statt. Das Gleiche gilt tendenziell auch für die Randbebauung von Industriegebieten. Hypothetisch können diese Bevölkerungsgruppen ihren Wohnsitz zu Gunsten ihrer Gesundheit in die ländlichen Gebiete oder in die Vororte verlagern. Tatsächlich besteht diese Möglichkeit hingegen in der Regel nicht, weil die finanziellen Mittel für teureren Wohnraum begrenzt sind und weil im ländlichen Raum schlechtere Berufsperspektiven bestehen. Ähnlich argumentiert auch Fisahn, der die Tatsache, dass sozial schwächere Bevölkerungsteile eher in schadstoffbelasteten Gebieten wohnen, als mit dem Gedanken der Umweltgerechtigkeit unvereinbar einordnet.649 Aus diesem Grund sollte das Abwägungskriterium des möglichen Selbstschutzes bei kollektiven Umweltbelastungen nicht verwendet werden. (2) Grundrechtliche Pattsituation Bisher offen ist die Frage, wie sich das Abwehrrecht und die Schutzpflicht in grundrechtlichen Pattsituationen zueinander verhalten, wenn sich also Freiheitsund Sicherheitsanspruch unmittelbar gegenüberstehen, wenn sich, wie Isensee trefflich formuliert, „Leben gegen Leben, Würde gegen Würde, Abwehrrecht gegen Schutzpflicht steht“.650 In solchen Entweder-Oder-Konstellationen, in denen sich zwei gleichrangige Rechte gegenüberstehen, beansprucht entweder das Freiheitsrecht oder der Schutzanspruch den Vorrang. Diese Frage muss systematisch in der Angemessenheitsprüfung beantwortet werden.651 Allerdings folgt die Prüfung des Grundrechtspatts eigenen Regeln in Gestalt der Dogmatik der Grenzsituationen.652 Manche Stimmen sehen den Vorrang des Abwehrrechts, weil der Staat primär die Verpflichtung habe, seiner Bevölkerung Freiheit zu gewährleisten.653 Diese Auffassung knüpft zum Teil an eine vermeintlich liberale Grundrechtstheorie an.654 Darauf folgern sie den Grundsatz in dubio pro libertate – im Zweifel für die Freiheit. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Abwehrrecht der Passagiere im Luftsicherheits-Urteil den Vorzug gewährt, indem das Menschenwürdeargument nur für die Passagiere als absolutes Abwehrrecht, nicht hingegen für

649 Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (68). 650 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 296. 651 Dies bedeutet, dass eine Abwägung im Bereich des Art. 1 Abs. 1 GG möglich ist, was das Bundesverfassungsgericht bisher ablehnt: BVerfGE 93, 266 (293). 652 Zur Dogmatik der Grenzsituationen Lepsius, in: FG für Hirsch, S. 47 (68). 653 Kersten, NVwZ 2005, 661 (663); Rettenmaier, VR 2006, 109 (112); Winkler, NVwZ 2006, 536 (537); Merkel, JZ 2007, 373 (381). 654 Winkler, NVwZ 2006, 536 (537).

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die Menschen am Boden, die ebenfalls einen Schutzanspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde haben, gewürdigt wird.655 „Sie [die Passagiere] werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“656

In einer solchen Zwangslage könnte der Staat durch Untätigkeit jedoch die Menschenwürde derjenigen verletzen, die am Boden sehenden Auges getötet werden.657 Unstreitig ist Ausfluss der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, dass jedem Leben das gleiche Lebensrecht zukommt und zwar unabhängig davon, ob Menschen erkrankt sind oder vermutlich nur noch wenig Lebenszeit haben.658 Aus diesem Grund ist der Umstand, dass die Passagiere am Bord des Flugzeugs ohnehin nicht mehr lange leben werden, verfassungsrechtlich bedeutungslos.659 Andere möchten die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer staatlichen Rettungsaktion anders als das Bundesverfassungsgericht aus der Perspektive der Schutzdimension beantworten und sprechen der Schutzpflicht damit letztlich dem Vorrang zu.660 Im Falle der grundrechtlichen Pattsituation, bei einer Gleichrangigkeit der Rechtsgüter, solle im Zweifel durch Aufopferung Unschuldiger zum Schutz der Allgemeinheit entschieden werden.661 Diese Erwägungen münden darin, dass im Zweifel für die Sicherheit und den Bestand der staatlichen Gemeinschaft zu entscheiden ist, also in dubio pro securitate. Rechtlich ist daher zu klären, wie sich die tatsächliche Unmöglichkeit der Herstellung einer praktischen Konkordanz innerhalb der Angemessenheit auswirkt. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz hatte die Pattsituation nicht beantwortet. Solche Extremsituationen lassen sich nicht allein durch die Methodik der Verfassungsdogmatik lösen, sondern

655 BVerfGE 115, 118 (152 f.); Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 311; Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (221, 226). 656 BVerfGE 115, 118 (154); ähnlich auch schon im Urteil zum ersten Schwangerschaftsabbruch: BVerfGE 39, 1 (58 f.). 657 Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (227); Fisahn, in: Sokol, Der gläserne Mensch – DNA-Analysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, S. 140 (151), der anmerkt, dass die Entscheidung, nicht aktiv tätig zu werden, ebenfalls gegen die Menschenwürde verstoßen kann. 658 BVerfGE 39, 1 (59); BVerfGE 115, 118 (152, 158); Hartleb, NJW 2005, 1397 (1398). 659 BVerfGE 115, 118 (152, 158). 660 Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (226); Brugger, Der Staat 35 (1996), Heft 1, S. 81; Hillgruber, JZ 2007, 209 (217). 661 Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (229).

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sind auf einen Rückgriff auf rechtsphilosophische und rechtstheoretische Erkenntnisse angewiesen. Schon in der griechischen Antike hatte der Philosoph Karneades das Beispiel von zwei Schiffbrüchigen beschrieben, die sich nur mit Hilfe eines umhertreibenden Brettes retten konnten, wobei dieses Brett nur eine Person tragen konnte.662 Im Strafrecht wird diskutiert, ob der Überlebende in einem späteren Gerichtsverfahren wegen Totschlag gem. § 212 Abs. 1 StGB bestraft werden kann. Das Strafrecht begründet die Straflosigkeit persönlich Handelnder in diesen Fällen nach überwiegender Auffassung wegen einer unlösbaren Pflichtenkollision mit dem Vorliegen eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes, was den Schuldvorwurf entfallen lässt.663 Da jedoch nur Menschen schuldfähig sein können, scheitern staatliche Entschuldigungsgründe an der fehlenden Schuldfähigkeit des Staates. Somit bietet die strafrechtliche Beurteilung/Lösung keine verfassungsrechtliche Lösung der Pattsituation an.664 Dieses ausgedachte Beispiel ist nicht nur theoretischer Natur, sondern hat auch in der Staatspraxis Aktualität. Genannt wurde bereits die Situation des durch Terroristen bemächtigten Verkehrsflugzeugs, in der das Dilemma bei der Beurteilung der Strafbarkeit des Bundeswehrsoldaten, der den Schießbefehl ausführt, von Bedeutung ist.665 Für das Verfassungsrecht ist von Relevanz, ob die den Abschuss legitimierende Norm mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Aber auch der Fall eines Feuerwehrmannes, der sich bei einer brennenden Schule für die Rettung von Kindern aus einem von zwei Gebäudetrakten entscheiden muss, offenbart das Problem. Auch beim autonomen Fahren kann das Dilemma des Brettes des Karneades auftauchen.666 Aktuell sind sogenannte „Triage-Entscheidungen“ im Zuge der CoronaPandemie Gegenstand heftiger juristischer Debatten,667 bei denen Ärzte bei begrenztem Kontingent von Beatmungsgeräten entscheiden müssen, welche Patienten weiter behandelt werden und bei welchen Patienten die Behandlung abgebrochen wird, was den sicheren Tod dieser Patienten bedeutet. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 16.12.2021 entschieden, dass aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine Schutzpflicht resultiert, die den Staat verpflichtet, behinderte Menschen vor Diskriminierungen zu schützen, die durch eine feh662 Der überlieferte und übersetzte Text findet sich beispielsweise in: Aichele, Jahrbuch für Recht und Ethik 2003, S. 245 (247). 663 Pawlik, JZ 2004, 1045 (1051); Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, Vorbem. §§ 32 ff. StGB, Rn. 115; Rönnau, JuS 2017, 113 (115); Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, § 26, Rn. 40–47; ablehnend beispielsweise Stübinger, ZStW 2011, 403 (445); Zieschang, JA 2007, 679 (685). 664 Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (211); Fischer, Der Abschuss entführter Zivilflugzeuge, S. 121. 665 Hierzu Sinn, NStZ 2004, 585 ff. 666 Weber, NVZ 2016, 249 ff. 667 Aus strafrechtlicher Sicht beispielsweise Engländer/Zimmermann, NJW 2020, 1398 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht beispielsweise Merkel, JZ 2007, 373 ff.

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lende rechtliche Regelung einer möglichen Triagesituation zum Nachteil behinderter Menschen erfolgen können.668 Das Menschenwürdeargument ist jedenfalls bei genauerer Betrachtung ein Zirkelschluss. Denn gleich, ob der Staat sich zum Abschuss oder zum Unterlassen entscheidet, er verletzt dadurch das absolute Objektivierungs- und Abwägungsverbot669 des Art. 1 Abs. 1 GG der Menschen am Boden oder derjenigen an Bord. Daran zeigt sich, dass das verfassungsrechtlich verbriefte Dogma der Unverletzlichkeit der Menschenwürde im Katastrophenfall nicht eingelöst werden kann.670 Diese Zwangslage führt unvermeidbar zu einer ausnahmsweise notwendigen Durchbrechung des Abwägungsverbots der Menschenwürde zwischen Würde und Würde, zwischen Leben und Leben. Für eine Überwindung des absoluten Abwägungsverbotes sind in der Literatur verschiedene Begründungsversuche unternommen worden: Manche versuchen, die Kollisionslage der in Verbindung mit Rettungshandlungen Getöteten durch eine hypothetische Einwilligung der „Opfer“ zu begründen.671 Ein solches Verständnis ist hingegen fernliegend, denn Passagiere oder Patienten sind durch das Betreten des Flugzeuges oder des Krankenhauses in aller Regel mutmaßlich gerade nicht einverstanden, ihr Leben zu Gunsten Dritter aufzugeben. Zutreffend hat daher auch das Bundesverfassungsgericht diese Konstruktion, wie auch Teile der Literatur, wegen fehlender Freiwilligkeit der mutmaßlichen Einwilligung als lebensfremde Fiktion eingeordnet.672 Ein weiterer Versuch zur Auflösung des Dilemmas ist die Theorie des rechtsfreien Raums. Diese Idee stammt ursprünglich von Engisch aus dem Jahr 1952, wird aber nach wie vor vertreten.673 Durch den Rückgriff auf einen rechtsfreien Raum entzieht sich das tatsächliche Geschehen in Form einer skizzierten Dilemmaentscheidung der verfassungsgerichtlichen (Nach-)Prüfung. Kategorisierungen 668 BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20, BeckRS 2021, 40294, Rn. 87; ob zugleich eine Schutzpflichtverletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorliegt, wurde hingegen nicht erwähnt. 669 BVerfGE 75, 369 (380); BVerfGE 93, 266 (293); Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 1, Rn. 11. 670 So auch Clausen, Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, S. 207. 671 Hochhuth, NZWehrr 2002, 154 (166, Fußnote 44); durch eine hypothetische Einwilligung der Opfer für die Solidargemeinschaft löst auch Depenheuer das Dilemma: Depenheuer, in: FS für Isensee, S. 43 (57, 59). 672 BVerfGE 115, 118 (157); Hartleb, NJW 2005, 1397 (1399); Fischer, Der Abschuss entführter Zivilflugzeuge, S. 73; Winkler, NVwZ 2006, 536 (537). 673 Engisch, ZgS, 108 Bd., 1952, 385 ff.; Lindner, DöV 2006, 577 (587 f.); dafür, dass zumindest das Verfassungsrecht sich der Abwägungsfrage über Leben gegen Leben zu entziehen habe, soweit solche Abwägungsentscheidungen auf ethischen gesamtgesellschaftlichen Wertungsentscheidungen beruhen: Poscher, in: Hörnle/Puster/Poscher, Triage in der Pandemie, S. 41 (53 f.).

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zwischen verfassungsmäßig und verfassungswidrig finden nach dieser Theorie ebenso wenig statt wie eine Unterscheidung von Erlaubtem und Verbotenem.674 Solche der Notsituation geschuldeten Entscheidungen werden dadurch dem Verantwortungsbereich staatlicher Herrschaft entzogen und allein der Gewissensentscheidung Einzelner, die aber auch Teile der Zivilgesellschaft sein können, überlassen. Isensee sieht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz ebenfalls nur die Handlungsmöglichkeit, dass sich im Ernstfall der Krise ein heroischer Entscheidungsträger findet, der das Notwendige im Widerspruch zur Verfassung vollziehen wird.675 Bei der Anerkennung eines rechtsfreien Raums würde sich der Staat aus seiner verfassungsrechtlich zugewiesenen Verantwortung für alle Bereiche der staatlichen Gewaltausübung entziehen und das Kollisionsproblem verdrängen. Die Entscheidung hängt sodann einzig an der Willkür Einzelner, was einen Bruch mit dem Verfassungs- und Wertesystem der staatlichen Gemeinschaft darstellt. Dabei wird zu schnell übersehen, dass die Verfassung gem. Art. 1 Abs. 3 GG auch und gerade in Krisensituationen Geltungsanspruch entfaltet. Zudem bindet das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG die Staatsgewalten an die Verfassung. Diese Bindungswirkung gilt ohne zeitliche Begrenzung oder sonstige Einschränkungen.676 Selbst bei einer möglichen Verfassungsänderung unterliegt Art. 1 Abs. 1 GG der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG und ist mithin nicht disponibel.677 Auch würde dadurch das absolute Tötungsverbot des Strafrechts als einfachgesetzliche Ausprägung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG untergraben werden, indem Tötungen sogar ohne Ermächtigungsgrundlage erfolgen können. Der Theorie vom rechtsfreien Raum sollte daher nicht gefolgt werden.678 Grundrechtlich scheint das Rätsel des Patts nur durch die Anerkennung eines Sonderopfers aufgrund einer allgemeinen Solidarpflicht lösbar zu sein, um der Gemeinschaft im Ausnahmefall der Katastrophe Sicherheit zu gewährleisten.679 674

Lindner, DöV 2006, 577 (587 f.). Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (232–234). 676 Zur Unmöglichkeit, Grundrechte in Notsituationen außer Kraft zu setzen: Kloepfer, Handbuch des Katastrophenrechts, § 3, Rn. 18 f.; Epping, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 115c, Rn. 22. 677 BVerfGE 109, 279 (311 ff.); Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GrundgesetzKommentar, Art. 79, Rn. 114. 678 Ablehnend auch Baldus, NVwZ 2006, 532 (535); Clausen, Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, S. 203 f.; Fischer, Der Abschuss entführter Zivilflugzeuge, S. 118 f. 679 Pawlik, JZ 2004, 1045 (1054); Hartleb, NJW 2005, 1397 (1400); Gramm, DVBl. 2006, 653 (659 f.); Hase, DöV 2006, 213 (218); Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (230); Enders, DöV 2007, 1039 (1043); ausführlich auch Depenheuer, in: FS für Isen675

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Eine solche Durchbrechung des Absolutheitsanspruchs der Menschenwürde kann indes nur ultima ratio, also als äußerstes Mittel, nur im Notfall und niemals im Normalfall zulässig sein.680 Aus dem grundsätzlich abwägungsfesten Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG wird im Falle eines Zusammentreffens mit der Menschenwürde anderer eine Abwägung zu Gunsten der staatlichen Gemeinschaft, des größtmöglichen Lebensschutzes oder aber der einzig verbleibenden Maßnahme zur Grundrechtsverwirklichung erfolgen müssen.681 Innerhalb der Abwägung darf die Anzahl der betroffenen Leben durch die Reduzierung auf eine berechenbare Größe keine Rolle spielen, um die Würde der Menschen durch Objektivierung nicht zu verletzen, sondern darf lediglich an der einzig verbleibenden Rettungsmaßnahme orientiert sein.682 Indem der Staat zur Wahrnehmung der Dilemma-Entscheidung grundrechtlich verpflichtet ist, stellt dieser Lösungsweg die einzig verbleibende Handlungsoption dar. In solchen Notsituationen kann durch staatliches Handeln keine Verletzung der Menschenwürde angenommen werden, da der Grundrechtseingriff gerechtfertigt ist.683 Andernfalls drohe der Staat, wie Schenke es trefflich formuliert hat, an dem Anspruch zwischen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG und der Realität zu zerreißen.684 Konkret ausgedrückt bedeutet diese Kritik, dass der Staat bei terroristischen Angriffen auf die grundrechtliche Wertegemeinschaft und ihren Bestand bei fortwährender Prinzipientreue des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Unantastbarkeit der Menschenwürde handlungsunfähig ist und mangels Gewährleistung von Sicherheit in seiner Existenz gefährdet wird. Man kann die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz zugespitzt ausgedrückt auch als Festschreibung der Kapitulation gegenüber terroristischen Angriffen verstehen. Hieran zeigt sich, dass die Gewährleistung eines bestimmten Sicherheitsniveaus durch die Staatsgewalt erst die Voraussetzung für die Ausübung individueller Freiheiten schafft.685 Gusy hat das Verhältnis zwischen Schutz- und Freiheitsanspruch eindrucksvoll formuliert: „Sicherheit ist Verfassungsvoraussetzung. Freiheit ist Verfassungsinhalt“.686 see, S. 43 ff., der die Theorie vom Solidaropfer für die staatliche Gemeinschaft durch eine hypothetische Einwilligung der Opfer begründet; ablehnend Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1086–1088); Fischer, Der Abschuss entführter Zivilflugzeuge, S. 114 f.; Clausen, Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflichten in Ausnahmesituationen, S. 169. 680 So auch Welding, RuP 2005, 165 (167); Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1088). 681 So im Ergebnis auch Hillgruber, JZ 2007, 209 (217); Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 55, Rn. 71. 682 Gramm, DVBl. 2006, 653 (660). 683 Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 55, Rn. 71. 684 Schenke, in: FG für Hirsch, S. 75 (86); ähnlich auch Hillgruber, JZ 2007, 209 (218), der ergänzt, dass die zu gewährleistende Sicherheit gleichen Verfassungsrang haben kann. 685 So auch Gusy, in: Lange/Ohly/Reichertz, Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen, S. 321 (325).

III. Verletzung einer Schutzpflicht

187

Im Schleyer-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts begehrte der Antragsteller, der Staat möge den Forderungen der Entführenden von Hanns Martin Schleyer nachkommen, inhaftierte RAF-Mitglieder aus der Haft zu entlassen, um das Leben von Schleyer zu retten.687 Bei einer Entlassung aus der Haft drohten jedoch ebenfalls Gefährdungen für Leib und Leben der Bevölkerung durch die Terroristen. Trotz bestehender Schutzpflicht für das Leben Schleyers wurde der Antrag abgelehnt, denn bei der Konstellation Leben gegen Leben müsse der Staat handlungsfähig bleiben, damit Entführende ihr Vorgehen nicht kalkulieren können, weswegen die staatliche Maßnahme zur Schutzverwirklichung nicht von vornherein feststehen darf, sondern im Ermessen des Staates liegen müsse.688 Einen Rekurs auf die Menschenwürde hatte das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung noch nicht vorgenommen. Gemessen daran stellt die Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz eine Diskontinuität dar, indem ein Ermessen über den hypothetisch in der Zukunft liegenden Ernstfall vorweggenommen und gesperrt wird. Isensee begründet die Notwendigkeit des solidarischen Sonderopfers, um im Bilde zu bleiben, damit, dass sich der domestizierte, liberale Leviathan John Lockes nicht in einen Teddybären verwandeln darf.689 Diese Auffassung ist insgesamt vorzugswürdig. Der Staat und auch das Bundesverfassungsrecht dürfen sich der staatsrechtlichen Verpflichtung, grundrechtliche Pattsituationen zu entscheiden, nicht verschließen. Ebenso darf sich die Staatsgewalt gegenüber Angriffen durch Dritte wie Terroristen, die die Allgemeinheit als Ganzes bedrohen, nicht passiv-wehrlos verhalten. Insofern gilt in solchen Fällen der Grundsatz in dubio pro securitate der staatlichen Gemeinschaft und es kommt unentrinnbar zu einer bereichsspezifischen Abwägung zwischen Würde und Würde. Besteht allerdings tatsächlich auf beiden Seiten eine Gleichheit sowohl bei den bedrohten Rechtsgütern als auch beim Schaden in quantitativer Hinsicht, so hat der Staat ein Auswahlermessen.690 ee) Stellungnahme und Lösungsvorschlag Bereits Störring hat vorgeschlagen, die Prüfung der Geeignetheit und der Effektivität gänzlich aufzugeben und letztlich nur eine Angemessenheitsprüfung vorzunehmen.691 Begründet wurde dieser Vorschlag damit, dass ergriffene Schutzmaßnahmen bei fehlender Geeignetheit und/oder Effektivität einen Verstoß gegen das Unter686 Gusy, VVDStRL, Heft 63, S. 153 (154); ähnlich auch Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 34. 687 BVerfGE 141, 60 (61). 688 BVerfGE 141, 60 (165). 689 Isensee, in: FS für Jakobs, S. 205 (233). 690 BVerfGE 141, 60 (165). 691 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 208 f., 211 f.

188

C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

maßverbot darstellen, obwohl Situationen denkbar sind, in denen dem Staat die Schaffung eines höheren Schutzniveaus verfassungsrechtlich verwehrt ist, was bedeutet, dass das bestehende Schutzniveau, trotz Ungeeignetheit und/oder Ineffektivität, verfassungsgemäß ist. Mit anderen Worten ausgedrückt kann ein ungeeignetes und ein unwirksames Schutzniveau dennoch wegen Interessen Drittbetroffener oder öffentlicher Interessen mit dem Grundgesetz im Einklang stehen. Dies ist dann der Fall, wenn eine hypothetische Verbesserung der Schutzmaßnahmen zu einem Verstoß mit dem Übermaßverbot Drittbetroffener führen würde oder mit anderen öffentlichen Interessen von Verfassungsrang kollidieren würde. Das Bundesverfassungsgericht würde das Untermaßverbot als verletzt ansehen, obwohl der Sache nach keine Unterschreitung des Untermaßes vorliegt. Das Problem liegt darin begründet, dass die drittbetroffenen Interessenlagen sowie öffentliche Belange erst auf der Ebene der Angemessenheit ermittelt werden. Gewiss betrifft derselbe Einwand schon die Prüfung des verfassungslegitimen Zwecks der Schutzmaßnahme(-n). Das Dilemma soll nochmals am Beispiel des von Terroristen entführten zivilen Verkehrsflugzeugs veranschaulicht werden: Die Entscheidungsfreiheit des Staates ist in der Situation derart eingeschränkt, dass das Flugzeug nur abgeschossen werden oder aber untätig geblieben werden kann. Untätigkeit ist offenkundig kein verfassungslegitimer (Schutz-)Zweck, nicht geeignet und auch nicht wirksam (im Sinne einer Effektivität), das grundrechtliche Schutzgut Leben der Menschen am Boden zu fördern und zu retten, was nach dem gängigen Prüfungsmodell einen Verstoß gegen das Untermaßverbot der Menschen am Boden aufzeigen würde. Das Bundesverfassungsgericht würde in einem solchen Fall bei strikter Anwendung des in der Literatur verbreiteten Prüfungskonzepts eine Schutzpflichtverletzung wegen Verletzung des Untermaßverbotes feststellen und dem Gesetzgeber eine Erhöhung des Schutzniveaus auftragen. Der Abschuss als einzige Schutzmöglichkeit würde hingegen das Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit der Passagiere möglicherweise auf unverhältnismäßige Weise einschränken, weil das Übermaßverbot, neben der möglichen Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG, überschritten werden könnte. Ein solches Ergebnis wäre mangels Interessenabwägung verfassungsrechtlich unbefriedigend und widersprüchlich. Die Schwäche der Untermaßverbotsprüfung wird vorliegend insgesamt deutlich. Der Tauglichkeitsmangel des gängigen Prüfungsprogramms liegt darin begründet, dass die grundrechtlichen Belange Dritter sowie öffentliche Interessen in der Geeignetheit keine Rolle spielen und erst in der Effektivität aufleben. Dabei ergibt sich die Schwelle des verfassungsrechtlich garantierten Untermaßes in Gestalt eines Mindestmaßes an Schutz erst durch eine Gewichtung, Gesamtschau sowie Abwägung der widerstreitenden Belange im Rahmen der Angemessenheit.

III. Verletzung einer Schutzpflicht

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Auf den ersten Blick mag dieses beschriebene Problem verwirren, weil die öffentlichen Interessen und die Grundrechtsgüter Drittbetroffener in der vertrauten, auf Abwehr gerichteten Eingriffs- sowie Rechtfertigungsprüfung zutreffend erst in der Angemessenheit diskutiert werden, ohne dass dadurch grundrechtliche Konfliktlagen mit dem Untermaßverbot entstehen. Allerdings erfordert das Denken im mehrpoligen Verfassungsverhältnis ein Umdenken durch eine Abkehr vom gewohnten Prüfungsprogramm des Übermaßverbotes der abwehrrechtlichen Dimension. Mit der Abkehr vom Denken der abwehrrechtlichen Perspektive sollte die Notwendigkeit sichtbar werden, dass die Untermaßschwelle zunächst im Rahmen der Angemessenheitsprüfung erfasst werden muss. Obwohl gerade die Prüfung der Angemessenheit innerhalb der gesamten Prüfung am ungenauesten, ja am diffusesten ausfällt, erscheint dieser Weg zwingend geboten. Die Unklarheit der Angemessenheit liegt in der Unschärfe der Schutzpflicht selbst begründet, da regelmäßig eine Vielzahl an bestehenden und hypothetischen Schutzmaßnahmen gesichtet und beurteilt werden müssen, was in der Eingriffsprüfung meistens unproblematisch ist, da nur eine bestimmte Maßnahme als Beschwerdegegenstand angegriffen wird. Erst wenn die grundrechtlichen Drittinteressen berücksichtigt wurden, kann gemessen daran geprüft werden, ob die ergriffenen Maßnahmen einen verfassungslegitimen Zweck verfolgen, darüber hinaus geeignet und effektiv sind. Die bekannte Prüfung muss sich in gewisser Weise umkehren. Daher erweist sich Störrings Vorschlag, lediglich eine Angemessenheitsprüfung vorzunehmen, indes als unvollständig, weil unbeantwortet bleibt, ob das bestehende Schutzkonzept letztlich wirksam ist und zudem völlig offen bleibt, ob eine Erhöhung des Schutzniveaus im Falle seiner Unangemessenheit hypothetisch möglich ist. Da sich die skizzierte Konfliktsituation bereits bei der Prüfung des verfassungslegitimen Zwecks ergeben kann, sollte in einem ersten Schritt die Angemessenheitsprüfung erfolgen (1. Stufe). Wenn innerhalb dieser Prüfung offenbart wird, dass die Untermaßschwelle bereits mit der staatlichen Untätigkeit identisch ist, so erübrigt sich die weitere Prüfung. Erst wenn die seitens der Verfassung geforderte Mindestschutzschwelle höher liegt, der Staat also wegen Unangemessenheit des Schutzumfangs zum Tätigwerden verpflichtet ist, so muss differenziert werden: Beim gänzlichen Fehlen eines staatlichen Schutzkonzepts muss lediglich eine hypothetische Verhältnismäßigkeitsprüfung der hypothetischen Schutzerhöhung vorgenommen werden. Zur besseren Übersichtlichkeit kann die Frage, ob ein staatliches Schutzkonzept besteht, auch schon in einer Vorfrage – wie von Calliess vorgeschlagen – untersucht werden.692 692

Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460.

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Besteht hingegen ein Schutzkonzept, so ist in einem zweiten Schritt, der das Schutzkonzept abstrakt auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft, der verfassungslegitime Zweck der bestehenden Schutzmaßnahme/-n (2. Stufe) und in einem dritten Schritt die Geeignetheit (3. Stufe) dieser Schutzmaßnahme/-n zu prüfen. Im vierten Schritt (4. Stufe) sollte/-n sodann die Schutzmaßnahme/-n auf seine/ihre Effektivität im Sinne einer Wirksamkeit geprüft werden. Hier schließt sich im Falle eines unzureichenden Schutzes die Prüfung der hypothetischen Verfassungsmäßigkeit einer hypothetischen Schutzniveauerhöhung zumindest einer hypothetischen Schutzmaßnahme an. Die rechtsdogmatische Lösung liegt mithin darin, dass zwei Verhältnismäßigkeitsprüfungen durchgeführt werden müssen, wobei die erste Prüfung das bestehende Schutzkonzept und die widerstreitenden Interessen untersucht. Die zweite Prüfung nimmt eine Prognose vor, in der erörtert wird, wie sich ein höheres Schutzniveau auf die widerstreitenden Interessenlagen auswirken würde. Sollte dabei im Ergebnis keine Schutzpflichtverletzung festgestellt werden können, da das Schutzkonzept abstrakt ein Mindestmaß an Schutz bietet, dann ist das Beschwerdevorbringen der konkreten Antragsteller in den Blick zu nehmen. Das Schutzkonzept muss gemessen am Antragsvorbringen im Einzelfall auch verhältnismäßig angewendet worden sein, damit ein tatsächliches Mindestschutzniveau verfassungsrechtlich einklagbar wird. Zugegeben handelt es sich bei Sachverhalten, in denen nur eine hypothetische Schutzmaßnahme denkbar ist, um Ausnahmen. Jedoch besteht das Defizit des bisher vorherrschenden Prüfungsmusters darin, dass zunächst mangels Kenntnis der Grundrechtsinteressen Dritter sowie öffentlicher Belange überhaupt nicht erkennbar wird, ob die Untermaßgrenze tatsächlich unterschritten wurde. Insofern kann der verfassungsrechtliche Konflikt auch in Fällen auftreten, in denen mehrere Schutzmaßnahmen in Betracht kommen. Für die erste Stufe bleibt anzumerken, dass in Fällen des menschenwürdigen Existenzminimums, in denen völlige Untätigkeit die Untermaßschwelle markieren könnte – mit Ausnahme der grundrechtlichen Pattsituation – nicht denkbar sind. Bestand bisher hingegen überhaupt kein staatliches Schutzkonzept, so sollte sich die Prüfung des Untermaßverbotes im ersten Schritt auf die Prüfung der Angemessenheit beschränken, um zu prüfen, ob eine Erhöhung des Schutzniveaus verfassungsrechtlich möglich ist.693 Dabei muss jedoch im Anschluss in einem weiteren Schritt, nachdem festgestellt wurde, dass das grundrechtlich gewährleistete Niveau an Mindestschutz ein „Mehr“ an Schutz fordert als die bloße Untätigkeit, geprüft werden, ob zumindest eine hypothetische Schutzmaßnahme ergriffen werden kann, die den verfassungslegitimen Zweck des betroffenen Grund693

Hierzu bereits unter C. III. 3. b) aa).

IV. Ergebnis

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rechtsguts verfolgt, diesen Zweck fördert (Geeignetheit) und darüber hinaus wirksam (Effektivität) ist. Der Blick auf hypothetische Schutzoptionen ist wichtig, denn das Recht kann insbesondere vom Gesetzgeber keine Schutzniveauerhöhung fordern, wenn diese an der verfassungsrechtlichen Unmöglichkeit scheitert. Sind trotz fehlenden Schutzkonzepts keine Schutzmaßnahmen denkbar, die den Schutzzweck des Grundrechts fördern oder die den geforderten Mindestschutz wirksam gewährleisten können, so kann das Bundesverfassungsgericht auch keine verfassungswidrige Unterschreitung des Mindestschutzniveaus feststellen.694 Andernfalls wäre die Legislative zum gesetzgeberischen Tätigwerden gezwungen, obwohl eine Schaffung eines Schutzkonzepts für niemanden realisierbar ist. c) Zwischenergebnis Wie gezeigt werden konnte, folgt die Prüfung des Untermaßverbotes anderen Regeln als die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf daher zahlreicher Modifikationen, um dem zwingenden Perspektivwechsel der Schutzfunktion gerecht werden zu können. Das gesamte System der Verhältnismäßigkeitsprüfung in der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension muss dafür umgedreht, bildlich ausgedrückt auf den Kopf gestellt werden. 4. Zwischenergebnis Sämtliche durch die Beschwerdeführer behaupteten Schutzpflichtverletzungen sind am Maßstab des Untermaßverbotes zu überprüfen, soweit die geschützten Grundrechtsgüter des Art. 1 Abs. 1 GG ggf. in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG oder des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betroffen sind. Im Übrigen ist die gerichtliche Kontrolldichte eingeschränkt und es wird lediglich eine Evidenzprüfung angewendet.

IV. Ergebnis Durch den theoretischen Teil dieser Arbeit können sämtliche Schutzpflichtenkonstellationen anhand eines verfassungsdogmatisch erarbeiteten Systems einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden. Dabei wird je nach Sachverhalt sowohl das bipolare Verfassungsverhältnis, wie im Fall von Naturgewalten, als auch das mehrpolige Verfassungsverhältnis bei „Einwirkungen“ durch private Dritte umfassend berücksichtigt.

694 Bei Gleichrangigkeit der betroffenen Grundrechtsgüter hat die Exekutive sowie die Legislative einen verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Entscheidungsspielraum. Wenn die gleichrangigen Grundrechte jedoch Art. 1 Abs. 1 GG und/oder Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind, dann kommt eine Auflösung des grundrechtlichen Patts nach der Theorie vom solidarischen Sonderopfer in Betracht. Hierzu unter C. III. 3. b) dd) (2).

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C. Verfassungsdogmatik der staatlichen Schutzpflicht

Abbildung 2: Vorschlag eines neuen Prüfungsschemas zum Untermaßverbot (eigene Darstellung).

D. Anwendung auf das Fallbeispiel Mit Hilfe der im ersten und zweiten Teil erlangten Erkenntnisse sowie des theoretischen Rahmens kann das praktische Beispiel der Stickstoffdioxidbelastungen des Straßenverkehrs unter der Frage, ob grundrechtliche Schutzpflichten verletzt werden, überprüft werden. Falls eine Schutzpflichtverletzung festgestellt wird, ist im Anschluss zu untersuchen, welche materiellrechtlichen und verfassungsprozessualen Rechtsfolgen damit eintreten können und gegebenenfalls müssen.

I. Bestehen staatlicher Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge Als durch Dieselabgase bedrohtes Grundrecht kann vor allem Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betroffen sein. Wie schon erläutert, beinhaltet dieses Grundrecht hauptsächlich eine Schutzpflichtausprägung und eine Abwehrkomponente. Vor der dogmatischen Herleitung von Schutzpflichten wurde schon erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG seit dem Kalkar IBeschluss eine Schutzdimension zuspricht. Schutzpflichten bestehen darüber hinaus auch bei im Straßenverkehr ausgestoßenem Stickoxid.1 Die Frage ist jedoch, ob bei einer Grenzwertüberschreitung gesundheitliche Schäden drohen und wann eine verfassungsrechtliche Schutzpflicht ausgelöst wird. 1. Grundrechtsverletzung Ob durch die NO2-Belastung des Straßenverkehrs eine Verletzung der Grundrechtsgüter der hypothetischen Beschwerdeführer besteht, kann nicht kausal belegt werden. Wie schon erörtert wurde, führen langfristige Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid nicht mit Sicherheit zu einer Gesundheitsverletzung bei jedem einzelnen Anwohner einer vielbefahrenen Straße. Im empirischen Teil dieser Arbeit wurde herausgefunden, dass Stickstoffdioxid auch nur eine von vielen Luftschadstoffen ausmacht.2 Selbst bei auftretenden Krankheitsbildern wie Asthma Bronchiale oder HerzKreislauferkrankungen können die krankheitsauslösenden Faktoren im Einzelfall nicht sicher ausgemacht werden, da die pathologischen Ursachen meistens multi1 2

BVerfG-K, Beschl. v. 26.10.1995 – 1 BvR 1348/95, NJW 1996, 651 (652). Hierzu unter B. VI.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

kausal sind und auf vielfältige Weise zum Entstehen von Erkrankungen beitragen.3 Eine genetische Anfälligkeit für Krankheiten wirkt in Verbindung mit Vorerkrankungen sowie negativen Umwelteinflüssen und der konkreten Lebensweise meistens zusammen.4 Das Vorliegen der Tatsachen, dass Grundrechte verletzt werden, kann auch nicht gem. § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG durch ein verfassungsgerichtliches Beweiserhebungsverfahren festgestellt werden. Der notwendige Kausalbeweis kann mithin unmöglich erbracht werden, auch wenn Grundrechtsverletzungen am Leben und der körperlichen Unversehrtheit sogar wahrscheinlich bei vielen Grundrechtsträgern eintreten. Daher kann eine stickstoffdioxidbedingte Grundrechtsverletzung durch mögliche unterlassene oder zu geringe Schutzmaßnahmen nicht festgestellt werden. 2. Grundrechtsgefahr Nachdem schon der theoretische Rahmen für Grundrechtsgefährdungen erörtert wurde, kann eine schutzpflichtenaktivierende Grundrechtsgefährdung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch NO2-Grenzwertüberschreitungen vorliegen. Denkbar sind sowohl konkrete als auch abstrakte Gefahren. a) Konkrete Gefahr Bei einer konkreten Gefahr ist eine Sachlage erforderlich, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Einzelfall zu einem Schaden an einem Rechtsgut führen wird.5 Auf den konkreten Einzelfall bezogen besteht eine Gefahr, wenn sie sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit konkretisiert.6 Bei Gesundheitsgefährdungen durch Grenzwertüberschreitungen von NO2 handelt es sich jedoch nicht um einen Sachverhalt im Einzelfall, sondern um eine Vielzahl von Sachverhalten. Ebenso wenig droht ein Schadenseintritt bei jeder denkbaren Person. Ungewiss ist nicht nur, bei wem sich Gesundheitsgefahren konkret realisieren, sondern auch, wann und wo Schädigungen eintreten. Demnach besteht eine konkrete, das heißt im Einzelfall bestehende, Gefahrenlage nicht. b) Abstrakte Gefahr Im Fall der Bedrohung durch Luftverunreinigungen des Straßenverkehrs kommt sodann eine abstrakt-kollektive Gefahr in Betracht, bei der ungewiss ist, 3 Blümcke, in: Blümcke, Pathologie, S. 3 (7); Schnoy, in: Blümcke, Pathologie, S. 54 (58). 4 Blümcke, in: Blümcke, Pathologie, S. 3 (7); Schnoy, in: Blümcke, Pathologie, S. 54 (57). 5 Kingreen/Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht mit Versammlungsrecht, § 8, Rn. 9. 6 Krüger, JuS 2013, 985 (987).

I. Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge

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ob dem Einzelnen eine Gesundheitsschädigung droht. Hingegen gewiss ist nur, dass sich die Gefahr einer Gesundheitsschädigung und einer Lebensgefahr bei nicht näher bestimmbaren Individuen innerhalb der Bevölkerung realisiert. Für die Annahme einer – hier genügenden – abstrakten Gefahr muss eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führen, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden an einem verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgut im Einzelfall einzutreten pflegt.7 Die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gilt somit nicht nur für die konkrete Gefahr, sondern ebenso für die abstrakte Gefahr.8 Erforderlich ist dabei eine hinreichend sichere Prognose.9 Da der Grad der Wahrscheinlichkeit vom Rang des Schutzgutes und dem Ausmaß der drohenden Schäden abhängig ist, muss zuerst eine Einordnung von Schutzgut und Schäden erfolgen. aa) Bestimmung des Schutzgutranges sowie der drohenden Schäden Dem Stand der Wissenschaft und Forschung nach führen Grenzwertüberschreitungen zu diversen Gesundheitsschädigungen und sind für eine erhöhte Sterblichkeitsrate verantwortlich.10 Die somit bedrohten Grundrechtsgüter sind das Leben und die körperliche Integrität gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar, weil es die Grundlage für die Menschenwürde schafft und Voraussetzung für die Ausübung aller Grundrechte ist.11 Laut ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind das Leben und die körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtige Rechtsgüter.12 Mithin ist der Rang des betroffenen Schutzgutes also auf höchstdenkbarer Stufe einzuordnen. Bezogen auf das Ausmaß und die Folgenschwere der drohenden Schäden wurde schon dargestellt, dass Grenzwertüberschreitungen zu höheren Sterberaten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Lungenkrebs führen, um nur einige der Folgewirkungen auszuzählen.13 Atemwegserkrankungen wie Asthma Bronchiale, COPD und chronische Bronchitis sind in der Regel chronische Krankheitsbilder, 7

BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892); Voßkuhle, JuS 2007, 908 (909). BVerwG, DÖV 1970, 713 (715); BVerwG, Urteil vom 28.06.2004 – 6 C 21/03, BeckRS 2004, 25030; Dietrich, in: Fischer/Hilgendorf, Gefahr, S. 76. 9 BVerfG, NJW 1979, 2349 (2350). 10 Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. 11 BVerfG, NJW 1975, 573 (575); BVerfGE 49, 24 (53); BVerfG, NJW 2020, 905 (909). 12 BVerfG, ZUM 2008, 301, Rn. 247; BVerfGE 146, 1 (10 f.); BVerfG, Beschl. v. 12.05.2020 – 1 BvR 1027/20, BeckRS 2020/8419, Rn. 7. 13 Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. 8

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

was impliziert, dass diese Krankheiten nicht mehr heilbar sind. Ausmaß und Folgenschwere dieser Schäden sind somit als hoch zu qualifizieren. Alle statistisch in Erscheinung getretenen Krankheiten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie schlechthin lebensbedrohlich sind, was neben der typischerweise auftretenden Beschwerdesymptomatik mit besonders schwerwiegenden Schäden am Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht. Wenn Schäden für Leib und Leben drohen, ist der notwendige Grad für die Wahrscheinlichkeit als eher niedrig anzusetzen.14 Auch der Umstand, ob der ursprüngliche Zustand nach Schadenseintritt wiederhergestellt werden kann, hat Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeitsbestimmung.15 Hinsichtlich der erhöhten Sterberate sowie der chronischen Erkrankungen ist eine Versetzung in den vorherigen Zustand unmöglich, so dass auch dieses Kriterium für eine niedrige Wahrscheinlichkeitsanforderung spricht. Insgesamt sprechen damit alle Teilaspekte für die Zugrundelegung eines eher geringen Grads der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit bezogen auf die drohenden Schäden am Grundrechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. bb) Hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts Ob Schadenseintritte hinreichend wahrscheinlich sind, entscheidet sich anhand einer umfassenden Diagnose, Prognose und Bewertung des Sachverhaltes anhand von Tatsachen- und Erfahrungswissen.16 Nachdem die Voraussetzungen für die Bestimmung von Grundrechtsgefahren geschaffen wurden, kann hinsichtlich der Stickstoffdioxidimmissionen geprüft werden, ob eine abstrakte Gefahr vorliegt, also eine Sachlage, die bei generellabstrakter Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden an einem verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgut im Einzelfall einzutreten pflegt.17 Ob eine Grundrechtsgefahr vorliegt, hängt von einer Diagnose des Sachverhaltes anhand der vorhandenen Tatsachenbasis und von einer prognostischen Fortschreibung des durch Diagnose aufgeklärten Sachverhaltes für die Zukunft ab.18

14

Schenke, JuS 2018, 505 (506). Schenke, JuS 2018, 505 (506). 16 Bäcker, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch des Polizeirechts, S. 259, Rn. 86 ff. 17 BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892); Park, Wandel des klassischen Polizeirechts zum neuen Sicherheitsrecht, S. 189. 18 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 112 f. 15

I. Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge

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(1) Sachverhaltsdiagnose Für den generell-abstrakt zu betrachtenden Sachverhalt sind alle Individuen in den Blick zu nehmen, die üblicherweise einer grenzwertüberschreitenden Stickstoffdioxidimmission ausgesetzt sind. Vorrangig also alle Menschen, die sich an verkehrsbelasteten innerstädtischen Straßen, an denen zu hohe Werte gemessen werden, aufhalten. Bei der Diagnose kann nicht an die Verhaltensweise einzelner Fahrzeuge, die zu viel Stickstoffdioxid ausstoßen, angeknüpft werden, weil ein einzelnes Fahrzeug, das zwar isoliert betrachtet zu viel NO2 abgibt, jedoch ohne Zusammenwirken mit anderen Fahrzeugen nicht zu einer Grenzwertüberschreitung führen kann. Hieraus kann nie eine (abstrakte) Gefahr entstehen.19 Allein eine Kumulierung der kausalen Einzelbeiträge einzelner Fahrzeuge kann zu einer Grundrechtsgefahr erstarken, wenn nämlich der bezeichnete Grenzwert überschritten wird.20 Daher wird an den Zustand der einzelnen Grenzwertüberschreitungen der Messstellen angeknüpft. Darüber hinaus müssen durch diese Zustände im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schäden an den Rechtsgütern des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einzutreten pflegen. Aufgrund der inzwischen gefestigten Datenlage über die Ursache-WirkungsBeziehung von Stickstoffdioxid auf die menschliche Gesundheit wurde bereits festgestellt, dass die Mortalität wahrscheinlich ansteigt sowie bestimmte Erkrankungen gehäuft auftauchen, wenn der Grenzwert von 40 mg/m3 im Jahresmittel überschritten wird.21 Dabei handelt es sich bei den Studien immer nur um Annäherungswissen. Absolute Gewissheit kann es in diesem Fall nicht geben. Dieses Annäherungswissen stellt zugleich die Grenze des derzeitigen menschlichen Erkenntnisvermögens dar. Wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen vor allem darin, ob gerade das Stickstoffdioxid gesundheitsschädlich ist oder andere chemische Anteile des Schadstoffgemischs. Trotz des Umstandes, dass diagnostische Analysen in der Regel immer unvollständig sind, weil über manche Tatsachen keine Kenntnis vorhanden ist und diese Tatsachen dem aktuellen weltweiten Wissen noch nicht unterfallen, besteht auch bezüglich des vorhandenen Standes von Wissenschaft und Forschung in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen des Stickstoffdioxids Unsicherheit.

19

Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 58. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 232; LübbeWolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 58. 21 Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. 20

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Tatsachen sind – nach einhelliger Meinung – Ereignisse oder Zustände der Vergangenheit oder der Gegenwart, die dem Beweis zugänglich sind.22 Wie schon erwähnt, liefern die genannten Studienergebnisse keinen Kausalbeleg über die Ursachen-Wirkungs-Beziehung.23 Folglich scheiden die Ergebnisse der Studien mangels Beweiskraft für die Diagnose einer Gefahrensituation aus und sind insofern nicht als Tatsachen im rechtlichen Sinne zu qualifizieren. Anhand des vorhandenen objektiven Erfahrungswissens kann auch keine Erkenntnis aus der Vergangenheit gezogen werden, weil Gesundheitsschädigungen und Sterbefälle im Einzelfall nie mit Sicherheit auf die schädigende Wirkung des Stickstoffdioxids zurückzuführen sind. Gesicherte Tatsachen sind für die Annahme einer abstrakten Gefahr jedoch nötig.24 Somit leidet die – auf Tatsachen gestützte – Diagnose grundsätzlich an einer nicht gesicherten Tatsachenbasis. (2) Prognose des hypothetischen Kausalverlaufs in die Zukunft Unsicherheiten bestehen aber ebenfalls bei der prognostischen Fortschreibung des hypothetischen Kausalverlaufes in die Zukunft. Die abstrakte Gefahr ist dadurch gekennzeichnet, dass bei bestimmten Zuständen eine konkrete Gefahr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit typischerweise einzutreten pflegt.25 Der abstrakten sowie der konkreten Gefahr ist inhärent, dass zu einem in der Zukunft liegendem Zeitpunkt Sicherheit besteht, ob der Schaden sich realisiert hat oder eben nicht eingetreten ist. Gerade hierin zeigt sich die Schwäche in Form von Unsicherheit auch auf der Prognoseseite über den hypothetischen Kausalverlauf des Geschehens. Hier stößt der klassische Gefahrenbegriff in der Praxis an die Grenzen dessen, was menschlich greifbar ist. Kein Totenschein kann verlässlich Stickstoffdioxid als Todesursache offenbaren. Keine Krankheit lässt sich kausal und mit Gewissheit auf Stickstoffdioxid zurückführen. Mithin ist die Prognose, ob Schäden jemals eintreten werden, unsicher, auch wenn Anhaltspunkte durch die sich verdichtende Studienlage der Wissenschaft und Forschung Schäden nahelegen, gar für wahrscheinlich halten.26 22 RGSt 55, 129, 131; BVerfG, NJW 1984, 1741 (1745); BVerfG, NJW 1994, 1779 (1779); BGHSt 15, 24 (26); Hefendehl, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, § 263, Rn. 75; Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, § 263, Rn. 73. 23 Hierzu unter B. VI. – B. VII. 24 BVerwG, Urt. v. 18.12.2002 – 6 CN 3/01, BeckRS 2003, 23131; VG Hamburg, Urt. v. 01.09.2003 – 5 VG 3300/2003, BeckRS 2003, 25177, Rn. 40. 25 BVerwG, NJW 1970, 1890 (1892); Park, Wandel des klassischen Polizeirechts zum neuen Sicherheitsrecht, S. 189. 26 Hierzu unter B. VI. – B. VII.

I. Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge

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Auch die abstrakte Gefahr fordert, dass der Kausalverlauf ausreichend aufgeklärt ist.27 Ein Kausalbeleg über den Zusammenhang zwischen Stickstoffdioxid und Gesundheitsschädigung fehlt jedoch. Folglich kann in absehbarer Zeit nie ein Schaden im Einzelfall belegt werden. Zwar muss sich für eine abstrakte Gefahr die Schadensprognose nicht auf einen Einzelfall beziehen,28 allerdings ist der Grad der Wahrscheinlichkeit zwischen konkreter und abstrakter Gefahr identisch.29 Bei der Gefahrenprognose einer abstrakten Gefahr ist keine Aussage über die exakte Schadenseintrittshäufigkeit möglich, sondern lediglich Vermutungen über deren Häufigkeit.30 Zwar ist das Vorliegen einer abstrakten Gefahr möglich, allerdings kann auf Prognoseseite – auch wegen der unsicheren Tatsachenbasis – keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für dessen Realisierung bestimmt werden. cc) Zwischenergebnis Obwohl die Anwendung des Grundsatzes der umgekehrten Proportionalität einen geringeren Tatsachenumfang und eine geringere Prognose des Kausalverlaufs ausreichen lässt, kann eine abstrakte Gefahr wegen fehlender gesicherter Tatsachen insgesamt nicht festgestellt werden. Zumindest müssen die Tatsachen, die vorhanden sind, begriffsnotwendig erwiesen sein. Ein Verzicht auf den Kausalbeleg von Tatsachen würde zudem zu Wertungswidersprüchen innerhalb der Rechtsordnung, nämlich mit dem Gefahrenbegriff, führen. Das Vorliegen einer abstrakten Gefahr kann somit nicht bestätigt werden. Mangelt es an hinreichenden Sachverhaltserkenntnissen bei der Diagnose und/ oder bestehen Kausalitätsunsicherheiten auf der Prognoseebene, so ist allenfalls der Bereich der Gefahrenvorsorge eröffnet oder aber es liegt ein Risiko vor.31 c) Zwischenergebnis Eine bestehende Grundrechtsgefährdung kann nicht angenommen werden, da nicht nur die Seite der Sachverhaltsdiagnose, sondern auch die Prognoseseite mit 27 Münkler, in: Möstl/Schwabenbauer, Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, LStVG, Art. 23, Rn. 19. 28 Ogorek, Gefahrenvorfeldbefugnisse, JZ 2019, 63 (65). 29 BVerwG, Beschl. v. 28.06.2004 – 6 C 21/03, BeckRS 2004, 25030. 30 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, S. 63. 31 BVerwG, NVwZ 2003, 95 (96); Fisahn, in: Dilling/Markus, Ex Rerum Natura Ius? – Sachzwang und Problemwahrnehmung im Umweltrecht, S. 61 (64); Möller, Die Anwendbarkeit des europäischen und nationalen Gentechnikrechts auf gentechnisch veränderte Tiere, S. 78; Bäcker, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch des Polizeirechts, S. 265, Rn. 105 ff.; Graulich, in: Bäcker/Denninger/Graulich, Handbuch des Polizeirechts, S. 412, Rn. 161.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

erheblichen Ungewissheiten behaftet ist. Die bestehenden Ungewissheiten können gleichwohl grundrechtliche Schutzpflichten auslösen, wenn der Bereich der grundrechtlichen Gefahrenvorsorge eröffnet ist oder wenn ein Grundrechtsrisiko besteht. 3. Gefahrenvorsorge Für die Annahme einer grundrechtlichen Gefahrenvorsorge müssen Unsicherheiten bezogen auf die Tatbestandsmerkmale einer Gefahr, namentlich der Wahrscheinlichkeit einer Verursachung eines kausalen Schadens in naher Zukunft, vorhanden sein. Wie bereits mehrfach zum Ausdruck gekommen ist, ist ungewiss, wie groß der Verursachungsbeitrag des Stickstoffdioxids als eines von vielen Schadstoffen des Abgasgemischs an der Entstehung von Gesundheitsschäden oder einer erhöhten Sterblichkeitswahrscheinlichkeit hat. Ob dieser Schadstoff für Gesundheitsbeeinträchtigungen ursächlich ist, kann zudem nicht belegt werden, da der Kausalbeweis nicht erbracht werden kann.32 Mit Unsicherheit behaftet ist darüber hinaus auch eine Wahrscheinlichkeitsprognose, weil der Wahrscheinlichkeitsgrad eines Schadens nicht bezifferbar ist. Zudem besteht keine Kenntnis, bei welchem Individuum ein Schaden eintreten kann. Unwissen besteht außerdem bei der Konkretisierung eines Gesundheitsschadens, da viele vielleicht mitverursachten Krankheiten noch nicht erforscht oder bekannt sind. Beispielsweise wurde bisher nicht epidemiologisch untersucht, ob ein erhöhter Stickstoffdioxidausstoß, welcher den aktuellen Grenzwert überschreitet, zu einem vermehrten Auftreten von Depressionen führen kann. Letztlich ist die zeitliche Komponente offen, weil Unkenntnis herrscht, wann mögliche Gesundheitsschäden eintreten werden. Zahlreiche Ungewissheiten über das Vorliegen einer Grundrechtsgefahr können somit identifiziert werden. Zu den Ungewissheiten hinzutreten müssen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte in Form von Indizien, die darauf hindeuten, dass ein Sachverhalt gefährlich sein kann.33 Die derzeitige einschlägige Studienlage, welche im epidemiologischen Teil dieser Arbeit summarisch vorgestellt wurde, stellt Indizien dar, die darauf hindeuten, dass NO2 die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen kann und das Leben verkürzen kann, weshalb der Schadstoff möglicherweise gefährlich für die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist. Damit liegen zugleich tatsächliche Anhaltspunkte für eine bestehende Grundrechtsgefahr vor, die indes nicht belegt werden können. Erforderlich ist aber zusätzlich, dass die bestehenden Wissensdefizite durch weitere Informationsbeschaffungen beseitigt werden können.34 Wie ebenfalls 32 33 34

Hierzu unter D. I. 2. b) bb). Hierzu unter C. II. 2. d) dd). Hierzu unter C. II. 2. b) aa).

I. Schutzpflichten bei Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselfahrzeuge

201

schon im epidemiologischen Kapitel erwähnt,35 bilden Kohortenstudien die einzig zulässige wissenschaftliche Untersuchungsmethode ab. Diesen gelingt der Kausalbeweis über die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen NO2 und Gesundheitsschaden nicht. Auch kann der Verursachungsbeitrag des Stickstoffdioxids in Falle eines Todes nicht isoliert beziffert werden, da Erkrankungen häufig eine Vielzahl an krankheitsauslösenden Faktoren zugrunde liegen. Eine weitergehende Informationsbeschaffung ist bis auf Weiteres auf rechtlich zulässige Weise unmöglich zu erlangen.36 Daher kann der Bereich der grundrechtlichen Gefahrenvorsorge insgesamt nicht eröffnet sein. 4. Grundrechtsrisiko Der Stickstoffdioxidausstoß durch Dieselkraftfahrzeuge kann jedoch ein grundrechtliches Risiko für das Leben und die körperliche Unversehrtheit darstellen. Für die Qualifikation als Grundrechtsrisiko müssen Ungewissheiten dahingehend ausgemacht werden, dass keine sichere Aussage getroffen werden kann, ob eine grundrechtliche Gefahrenlage besteht. Weiterhin darf ein anhand der Wissenschaft und Forschung feststellbares mögliches Risiko nicht dem rechtlich irrelevanten Restrisiko unterfallen. a) Ungewissheiten Wie gezeigt wurde, sind für eine (abstrakte) Gefahr durch Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid im Straßenverkehr sowohl die Diagnosebasis als auch die Prognose des hypothetischen Kausalverlaufs mangels gesicherter Belege nicht hinreichend.37 Unsicherheiten auf Diagnose- sowie Prognoseseite liegen damit – wie schon festgestellt – vor. Bezogen auf die Tatbestandsmerkmale einer Grundrechtsgefahr wurden die vorhandenen Ungewissheiten näher herausgearbeitet.38 Auffällig ist dabei, dass das Vorliegen von sämtlichen Merkmalen des Gefahrenbegriffs unklar bleibt und bis auf Weiteres nicht durch weitergehende Informationsbeschaffungen zu einer Wissenszunahme führen kann. Die Einschätzung und Bewertung einer möglichen Gefahr werden mithin von dem Moment der Ungewissheit überlagert. b) Kein Restrisiko Damit das Risiko nicht dem Restrisiko als von allen Menschen zu tragende Allgemeinlast unterfällt, müssen die bestehenden risikobezogenen Ungewisshei35 36 37 38

Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. Hierzu unter B. VI. Hierzu unter B. VI. – B. VII. und D. I. 2. b) bb) (2). Hierzu unter D. I. 2.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

ten sodann diesseits der Erkenntnisgrenze des Standes von Wissenschaft und Forschung liegen.39 Gemessen am Stand von Wissenschaft und Forschung müssen also Erkenntnisse vorliegen, die eine Risikoanalyse sowie eine Risikoprognose ermöglichen. Die Forschung auf dem Gebiet der Umweltepidemiologie hat zahlreiche Kohortenstudien hervorgebracht, die nicht nur eine umfassende Analyse der Risiken des Stickstoffdioxidausstoßes im Straßenverkehr zugelassen hat, sondern auch Risikoprognosen durch statistisch-mathematische Methoden bezogen auf die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit erbracht hat.40 Hierbei herrscht im wissenschaftlichen Forschungsspektrum überwiegend Konsens, dass jedenfalls NO2-Konzentrationen ab 40 mg/m3 im Jahresmittel statistisch wahrscheinlich mit einer deutlichen Erhöhung der Mortalitätsrate und einem vermehrten Auftreten von Erkrankungen einhergeht.41 Stickstoffdioxid-Grenzwertüberschreitungen sind daher auch nicht dem rechtlich nicht relevanten – von der Zivilgesellschaft zu tragenden – Restrisiko zuzuordnen, weil nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung Schäden gerade nicht praktisch ausgeschlossen sind, wie im Kalkar I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als Abgrenzungsmerkmal zwischen Risikovorsorge und Restrisiko erwähnt wurde.42 Unter Einbeziehung des aktuellen Standes der Wissenschaft liegt bei den Auswirkungen der Luftverunreinigungen durch zu hohe Stickstoffdioxidbelastungen kein staatliches Handeln im Ungewissen jenseits der Grenze menschlichen Erkenntnisvermögens vor. Folglich sind die diskutierten Grenzwertüberschreitungen dem Grundrechtsschutz nicht dadurch entzogen, dass sie womöglich mangels staatlicher Kenntnis über ihre Gefährlichkeit von der Allgemeinheit hingenommen werden müssten. 5. Zwischenergebnis In Folge von NO2-Grenzwertüberschreitungen von über 40 mg/m3 im Jahresmittel liegt ein Grundrechtsrisiko für die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vor. Bei Stickstoffdioxidgrenzwertüberschreitungen von über 40 mg/m3 im Jahresmittel werden aufgrund des Risikos von Grundrechtsverletzungen von Leben und körperlicher Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtliche Schutzpflichten aktiviert. Damit bestehen dem Grunde nach staatliche Schutzpflichten.

39 40 41 42

Hierzu unter C. II. 2. e). Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. Hierzu unter B. VI. 1. – B. VI. 9. BVerfG, NJW 1979, 359 (363).

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel Für die Feststellung einer Schutzpflichtverletzung muss überprüft werden, ob das Untermaßverbot, welches hier wegen der betroffenen Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit Anwendung findet, im Falle von Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr bei Grenzwertüberschreitungen verletzt wird. 1. Bestehen eines staatlichen Schutzkonzeptes Bevor eine Angemessenheitsprüfung durchgeführt werden kann, muss zuerst eine Bestandsaufnahme des bisherigen Schutzkonzeptes vorgenommen werden. Im Falle eines vorhandenen Schutzkonzepts ist im Anschluss die Untermaßverbotsschwelle unter Berücksichtigung der Drittinteressen sowie öffentlicher Belange durch eine modifizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bestimmen und zu prüfen, ob bei einer Unterschreitung der Mindestmaßschwelle an Schutz eine Erhöhung des Schutzniveaus in verfassungsrechtlich zulässiger Weise möglich ist.43 Um das Fallbeispiel in das vorgeschlagene Prüfungsprogramm korrekt einzuordnen, ist es erforderlich, zu ermitteln, ob zum Schutz der Gesundheit überhaupt ein staatliches Schutzkonzept entwickelt wurde. Was Gesundheitsschutz vor Stickstoffdioxidimmissionen im Straßenverkehr anbelangt, so wurde als primäre Schutzmaßnahme der Grenzwert von 40 mg/m3 im Jahresmittel gesetzlich festgelegt.44 Über eine bloße Schutzmaßnahme hinaus formuliert diese zugleich den von staatlicher Seite zugestandenen Schutzumfang. Ein Grenzwert kann sich naturgemäß nicht von selbst vollziehen. Daher wurden für den Vollzug zur Erreichung des Grenzwertes sekundäre Schutzmaßnahmen durch die Exekutive ergriffen. Zusätzlich hat der Gesetzgeber – unabhängig von den Exekutivmaßnahmen – eigene Schutzmaßnahmen ergriffen, worauf im Folgenden genauer eingegangen wird. a) Maßnahmen der Luftreinhaltepläne Diese Schutzmaßnahmen werden teilweise durch eine Fortschreibung des Luftreinhalteplans für betroffene Innenstädte gem. § 47 Abs. 1 BImSchG in Verbindung mit § 27 der 39. BImSchV konkretisiert. Dabei enthält die Europäische Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG gem. Art. 23 Abs. 1 keine näher bezeichneten zu ergreifenden Maßnahmen, sondern fordert abstrakt, dass im Luftqualitätsplan geeignete Maßnahmen festgeschrieben werden, um den Zeitraum der Grenzwertüberschreitung so kurz wie möglich zu halten. Die auf nationaler Ebene erlassenen Umsetzungsgesetze enthalten gem. § 47 Abs. 1 BImSchG in Verbindung mit § 27 Abs. 1 und Abs. 2 der 39. BImSchV ebenfalls keine konkreten Maßnahmen 43 44

Hierzu unter C. III. 3. b) ee). Hierzu unter B. I.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

zur schnellstmöglichen Einhaltung der Grenzwerte. Die konkrete Ermächtigungsgrundlage dieser Maßnahmen findet sich für Verkehrsbeschränkungen in § 40 Abs. 1 BImSchG, wobei die Straßenverkehrsbehörden nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften handeln.45 Zu den Maßnahmen gehören gem. § 45 Abs. 1 Nr. 3 StVO in Verbindung mit § 45 Abs. 4 StVO in erster Linie Verkehrsbeschränkungen wie Geschwindigkeitsbeschränkungen – so exemplarisch ein angeordnetes Tempo 30 zur Schadstoffreduktion in Innenstädten –, aber auch die Nutzung nur bestimmter Fahrzeuge beziehungsweise einer Untersagung für den Schwerlastverkehr, streckenbezogene Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge und die Errichtung von Umweltzonen, die den Fahrzeugverkehr nur für abgasarme Fahrzeuge zulassen.46 Die Schutzgewährung folgt somit mittelbar aus den Luftreinhalteplänen und unmittelbar durch die Umsetzung der festgeschriebenen Maßnahmen. Was speziell Dieselfahrverbote betrifft, so hat das Bundesverwaltungsgericht dadurch, dass es sogar gebietsbezogene Fahrverbote für zulässig erklärt hat,47 zu einer Erhöhung des staatlichen Schutzkonzeptes beigetragen. Die Urteilsbegründung erklärt die Zulässigkeit von Dieselfahrverboten aus unionsrechtlichen Gründen, um das Europarecht durchzusetzen.48 In tatsächlicher Hinsicht kann jedoch nicht von der Hand gewiesen werden, dass durch die Judikative gleichzeitig inzident – und vielleicht sogar unbeabsichtigt – ein neues ordnungsrechtliches Instrument zur Erhöhung der verfassungsrechtlichen Schutzgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erschaffen wurde. b) Softwareupdates, Hardwarenachrüstungen sowie Betriebsuntersagungen Die meisten in der Europäischen Union hergestellten Kraftfahrzeuge haben gem. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 2018/858/EU49 eine Typgenehmigung, damit sie für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassen werden können. Diese Verordnung gilt seit dem 01.09.2020 und hat zugleich die Richtlinie 2007/46/EG50 abgelöst.

45 BVerwG, NVwZ 2018, 883 (884, 886); Reese, in: Giesberts/Reinhardt, Beck’scher Online-Kommentar Umweltrecht, BImSchG, § 40, Rn. 3; anders hingegen Kloepfer/ Durner, Umweltschutzrecht, § 8, Rn. 75, die die Ermächtigungsgrundlage nur in § 45 StVO sehen. 46 Jarass, Bundesimmissionsschutzgesetz, Kommentar, § 40, Rn. 6–8; Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 8, Rn. 74. 47 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, juris. 48 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 91, juris. 49 ABl. L 151/1 vom 14.06.2018. 50 ABl. L 263/1 vom 09.10.2007.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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Im Zuge des Dieselabgasskandals hatte sich herausgestellt, dass zugelassene Neufahrzeuge unter anderem des Herstellers Volkswagen mit dem Motortyp EA 189 im realen Betrieb erheblich mehr Schadstoffe ausstoßen als auf dem Prüfstand im Labor. Dieses Vorgehen vollzieht sich durch eine Abschalteinrichtung, die im Falle eines Tests auf dem Rollenprüfstand automatisch in einen schadstoffarmen Modus wechselt.51 Anders als die luftreinhalterechtlichen Instrumente knüpfen diese Maßnahmen an der Belastungsquelle an. Softwareupdates und Hardwarenachrüstungen werden angeordnet, weil der für die Zulassung relevante Emissionsgrenzwert für Dieselfahrzeuge durch Abschalteinrichtungen im realen Betrieb deutlich überschritten wird. So gilt beispielsweise ein Emissionsgrenzwert für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 von 180 mg/km sowie der Abgasnorm Euro 6 von 80 mg/km.52 Durch die deutliche Überschreitung ist der reale Betrieb dieser Fahrzeuge überproportional stark für Grenzwertüberschreitungen des jährlich gemittelten Immissionsgrenzwertes von NO2 verantwortlich. Folglich führen Softwareupdates und Hardwarenachrüstungen im Ergebnis zu Immissionssenkungen von Stickstoffdioxid. Als Reaktion auf die illegalen Abschalteinrichtungen hatte das zuständige Kraftfahrt-Bundesamt gem. § 25 Abs. 2 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung für 2,4 Millionen Fahrzeuge des Herstellers Volkswagen einen Rückruf angeordnet, um Software- sowie Hardwarenachrüstungen vorzunehmen, damit der Schadstoffausstoß auf ein zulässiges Maß begrenzt wird.53 Zwar handelte das Kraftfahrt-Bundesamt in erster Linie in Wahrnehmung der europarechtlichen Verpflichtung, jedoch liegt in der staatlich angeordneten Nachrüstung gleichzeitig eine dem Gesundheitsschutz dienende Schutzmaßnahme, weil eine Reduktion der kumulierten Schadstoffemissionen – auch durch Softwareupdates – nach derzeitigem Kenntnisstand zu einer signifikanten Verringerung des jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwertes führen kann.54 Sollte einer Aufforderung zur Mängelbeseitigung nicht nachgekommen werden, so kann die Zulassungsbehörde den Betrieb eines Fahrzeuges nach § 5 Abs. 1 FZV untersagen. c) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 Neben den genannten ordnungsrechtlichen Instrumenten direkter Verhaltenssteuerung wurde durch die Bundesregierung eine emissionsärmere Mobilität durch das Sofortprogramm Saubere Luft 2017–2020 mittels Bereitstellung finan51

EuGH, NJW 2021, 1216 (1220), Rn. 99, 104. Gemäß Tabelle 1 und Tabelle 2 des Anhangs I der Verordnung 715/2007/EG, ABl. L 191/1, 29.06.2007. 53 Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung vom 16.10.2015. 54 UBA, Minderung der Stickstoffdioxid-Emissionen durch Softwareupdates an Diesel-PKW, S. 3. 52

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

zieller Mittel gefördert, um NO2-Grenzwerte in Zukunft einhalten zu können.55 Das Förderprogramm hat dadurch Anreize geschaffen und auf die Freiwilligkeit der potenziellen Förderungsempfänger abgezielt. Aus diesem Grund ist diese Maßnahme als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung zu qualifizieren.56 Das Maßnahmenpaket förderte die Elektrifizierung des innerstädtischen Verkehrs wie Elektrobusse, die Nachrüstung von Dieselbussen des öffentlichen Personennahverkehrs mit Abgasreinigungssystemen und die Digitalisierung des Verkehrs.57 Zudem wurden Hardwarenach- und Umrüstungen von schweren Kommunalfahrzeugen wie Abgasnachrüstungen von Dieselbussen oder Müllfahrzeugen, aber auch von Handwerker- und Lieferfahrzeugen finanziell unterstützt.58 Das Gesamtfördervolumen betrug beträchtliche 1,5 Milliarden A.59 d) Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater Eine weitere Schutzmaßnahme und indirekt verhaltenssteuernd ist die Förderung der Elektromobilität durch Zahlung einer Kaufprämie an private Käufer von bestimmten Elektrofahrzeugen und Hybridautos. Neben zahlreichen Förderprogrammen des Bundes und der Länder sind als prominentestes Programm vor allem die Förderrichtlinien zum „Umweltbonus“ zu nennen. Insgesamt wird der Zuschuss je zur Hälfte durch die Automobilhersteller und den Bund geleistet, wie sich aus Nr. 4 der Förderungsrichtlinien ergibt.60 Folglich verdoppelt sich der in den Richtlinien angegebene Förderbetrag, den der Bund gewährt. Die Förderungsrichtlinien wurden seit der Einführung im Jahr 2016 mehrfach novelliert. Dabei sahen die ersten Förderungsrichtlinien einen staatlichen Zuschuss von 2.000 A für rein elektrobetriebene Fahrzeuge vor, wohingegen für Hybridfahrzeuge 1.500 A gezahlt wurden.61 Eine Förderung war indes ausgeschlossen, wenn der Netto-Listenpreis des Fahrzeuges über 60.000 A lag. Der Gesamt55 Vgl. hierzu die aktuelle Förderrichtlinie Elektromobilität vom 14.12.2020, BAnz. AT 24.12.2020 B3. 56 Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung, S. 103; Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 4, Rn. 59, 97. 57 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Sofortprogramm Saubere Luft; vgl. aktuelle Förderrichtlinie zur Anschaffung von Elektrobussen: BAnz. AT 15.03.2018 B4, vgl. aktuelle Förderrichtlinie zur Nachrüstung von Dieselbussen: BAnz. AT 31.01.2020 B5 sowie zur Förderung der kommunalen Elektromobilität: BAnz. AT 24.12.2020 B3. 58 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Sofortprogramm Saubere Luft. 59 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Sofortprogramm Saubere Luft. 60 BAnz. AT 05.11.2020 B1. 61 BAnz. AT 01.07.2016 B1; BAnz. AT 02.03.2018 B1; BAnz. AT 05.06.2019 B1.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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zuschuss lag mithin bei 4.000 A für rein elektrobetriebene Fahrzeuge und bei 3.000 A für Hybridfahrzeuge. Seit der Änderung der Förderrichtlinie im Jahr 2020 hat sich der Förderbetrag zum einen deutlich erhöht und zum anderen wurde die Bedingung aufgegeben, dass eine Förderung nur bis zu einem NettoListenbetrag von 60.000 A möglich ist.62 Allerdings unterscheiden sich seitdem die Beträge der Förderzuschüsse in Abhängigkeit davon, ob der Netto-Listenpreis über oder unter 40.000 A liegt. Für elektrobetriebene Autos mit einem Netto-Listenpreis bis 40.000 A werden 3.000 A gewährt, was zusammen mit dem Zuschuss der Automobilhersteller eine Gesamtförderung von 6.000 A bedeutet. Liegt der Netto-Listenpreis über 40.000 A, so werden nur 2.500 A geleistet, was zu einer Fördersumme von 5.000 A führt. Hybridfahrzeuge werden bis zu einem Netto-Listenpreis von 40.000 A mit 2.250 A seitens des Bundes gefördert. Mit dem Zuschuss der Automobilproduzenten sind folglich 4.500 A an Gesamtzuschuss möglich. Bei Netto-Listenpreisen oberhalb von 40.000 A beziffert sich die Förderung des Staates auf 1.875 A, was zusammen mit dem Zuschuss der Autohersteller zu einem Gesamtzuschuss von 3.750 A führt. Mit der Änderung der Förderrichtlinie vom 25.06.2020 wurde temporär eine Innovationsprämie durch eine Verdoppelung des staatlichen Zuschusses für Anträge, die bis zum 31.12.2021 gestellt werden, gewährt.63 Daraus ergibt sich dann ein staatlicher Zuschuss in Höhe von 6.000 A beispielsweise für elektrobetriebene Autos, was in Verbindung mit dem Zuschuss der Automobilhersteller eine Gesamtförderung von 9.000 A bedeutet. Die Innovationsprämie ist zudem bis zum 31.12.2022 verlängert worden.64 Alle staatlichen Zuschüsse stehen unter der Bedingung, dass die bereitgestellten Haushaltsmittel noch nicht erschöpft sind. Das zur Verfügung stehende Investitionsvolumen beträgt bisher knapp 3 Milliarden A.65 Zudem wird der Aufbau einer notwendigen Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge gefördert.66 Bisher wurden 300 Millionen A an Fördermitteln für dieses Programm gewährt.67 Als weitere Maßnahme sind Elektrofahrzeuge gem. § 3d Abs. 1 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes von der Erhebung der Kraftfahrzeugsteuer für die Dauer von zehn Jahren seit der erstmaligen Zulassung befreit, wenn sie spätestens bis zum 31.12.2025 zugelassen werden. Als sogenannte indirekte Verschonungssubven62 BAnz. AT 18.02.2020 B2; BAnz. AT 07.05.2020 B1; BAnz. AT 07.07.2020 B2; BAnz. AT 05.11.2020 B1. 63 BAnz. AT 07.07.2020 B2, Nr. 4. 64 BAnz. AT 30.12.2021 B1. 65 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Rahmenbedingungen und Anreize für Elektrofahrzeuge und Ladeinfrastruktur. 66 Aktuelle Fassung der Förderrichtlinie: BAnz. AT 07.06.2021 B2. 67 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Ladeinfrastruktur.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

tion ist die Steuerbefreiung als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung einzuordnen.68 Die Erforschung und Entwicklung der Elektromobilitätstechnologie wurden bisher mit etwa 300 Milliarden A bezuschusst.69 Zumindest mittelbar schafft diese Maßnahme damit die Voraussetzung, die eine Förderung von Elektrofahrzeugen überhaupt erst ermöglicht, weshalb sie ebenfalls eine Schutzmaßnahme im weiteren Sinne darstellt. Als zusätzlichen Anreiz können durch die Einführung des Elektromobilitätsgesetzes (EmoG) im Jahr 2015 näherbezeichnete Elektrofahrzeuge gem. § 3 Abs. 4 EmoG gegenüber reinen verbrennungsmotorbetriebenen Fahrzeugen bevorzugt behandelt werden. Die Bevorrechtigung kann sich namentlich auf das Parken auf öffentlichen Straßen oder Wegen, auf die Nutzung von für besondere Zwecke bestimmten öffentlichen Straßen oder Wegen, auf die Zulassung von Ausnahmen von Zufahrtsbeschränkungen oder Durchfahrtverboten und im Hinblick auf das Erheben von Gebühren für das Parken auf öffentlichen Straßen oder Wege erstrecken. e) Weitere landespolitische Maßnahmen Weiterhin haben die Bundesländer zahlreiche Einzelmaßnahmen getroffen. Hierzu gehören unter anderem Förderprogramme und der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, zum Beispiel durch ein vergünstigtes monatliches Nahverkehrsticket für Berufspendler sowie des Rad- und Fußverkehrs.70 Aber auch die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftungszonen und die Verringerung der Stellplatzflächen sind als Ausprägung der Bemühungsmaßnahmen zu nennen.71 Indem der motorisierte Individualverkehr zunehmend unattraktiv gegenüber alternativen Mobilitätsmitteln ausgestaltet wird, soll das Verhalten der Bevölkerung indirekt verändert werden. Auf diesem Weg soll der motorisierte Individualverkehr verringert werden, was im Ergebnis zu einer Verbesserung der Luftqualität führt. Für die weitere Untersuchung werden die landespolitischen Instrumente jedoch nicht integriert, da die Wirksamkeit dieser Maßnahmen weder messbar noch verlässlich abschätzbar ist. Gemessen am bereits skizzierten Schutzkonzept dürfte die Wirkung der einzelnen landespolitischen Maßnahmen auf die Einhaltung des Grenzwertes auch in quantitativer Hinsicht vernachlässig68

Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 4, Rn. 97. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Elektromobilität in Deutschland; vgl. hierzu die aktuelle Förderrichtlinie: BAnz. AT 26.03.2021 B1. 70 Vgl. beispielsweise das Berliner Mobilitätsgesetz sowie die ergriffenen landespolitischen Maßnahmen: Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 116; Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 68, 72, 75; Regierungspräsidium Stuttgart, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 5 f. 71 UBA, Parkraummanagement, S. 10, 18. 69

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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bar sein. Eine grundrechtliche Relevanz für Drittbetroffene ist zudem nicht erkennbar. f) Zwischenergebnis Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Staat auf vielfältige Weise ein Schutzkonzept verwirklicht hat. Jedoch kann ungeachtet dessen noch keine Aussage getroffen werden, ob durch das bestehende Schutzkonzept die Mindestschutzschwelle des Untermaßverbotes eingehalten wurde. 2. Abstrakte Prüfung des Untermaßverbots Für die Prüfung des Untermaßverbots könnte zuerst in Erwägung gezogen werden, dass der Grenzwert zugleich die verfassungsrechtliche Untermaßschwelle definiert. Würde der Grenzwert die Untermaßschwelle abbilden, wäre jede Grenzwertüberschreitung automatisch verfassungswidrig. Auf die bei Überschreitung zu ergreifenden Maßnahmen würde es dann nicht mehr ankommen, da diese nicht mehr Teil des bestehenden Schutzkonzeptes wären. Diesem Rechtsverständnis ist entgegenzuhalten, dass die Richtlinie 2008/50/EG bei Überschreitungen des Grenzwertes zu einer Aufstellung oder Anpassung des Luftreinhalteplanes verpflichtet, der geeignete Maßnahmen erhalten muss, damit der Grenzwert so schnell wie möglich eingehalten werden kann. Wortgleich wurde diese Verpflichtung gem. § 47 Abs. 1 Satz 3 BImSchG und § 27 Abs. 2 der 39. BImSchV ins nationale Recht umgesetzt. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass eine kurzzeitige Unterschreitung des Grenzwertes verfassungsgemäß sein könnte, wenn diese so schnell wie möglich beseitigt wird. Zudem kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit laut Bundesverwaltungsgericht eine kurzzeitige Überschreitung erlauben.72 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit existiert nicht nur auf nationaler Ebene, sondern findet auch im Europarecht Anwendung.73 Dieser ist auch für sämtliche Maßnahmen zu beachten, die zum Zweck der schnellstmöglichen Einhaltung des Grenzwertes ergriffen werden.74 In § 47 Abs. 4 BImSchG ist sogar ausdrücklich erwähnt, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen, wobei diese Erwähnung rein deklaratorischen Charakter hat. Zudem greift kein Grenzwert unmittelbar in die Grundrechte Dritter ein, sondern vielmehr die bei dessen Überschreitung zu ergreifenden Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung (wie Fahrverbote), die grundrechtsbeschränkende Relevanz haben. Auch betroffene öffentliche Belange werden durch eine Überschreitung des Grenzwertes nicht unmittelbar betroffen. 72

BVerwG, NVwZ 2020, 1191 (1195). EuGH, Urt. v. 11.07.1989 – C-265/87, BeckRS 2004, 72769, Rz. 21; EuGH, Urt. v. 22.01.2013, C-283/11, Rn. 50, ZUM 2013, 202; Pache, NVwZ 1999, 1033 ff.; Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 ff. 74 EuGH, Urt. v. 24.10.2019 – C-636/18; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 39, juris; Jarass, BImSchG, § 47, Rn. 30. 73

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Nur mittelbar führen Grenzwertüberschreitungen zu grundrechtsverkürzenden Maßnahmen, da aus jeder Überschreitung Rechtsfolgen in Form von grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen oder zumindest der Verkürzung von öffentlichen Interessen entstehen. Würde das Schutzkonzept lediglich auf das Schutzziel in seiner Ausgestaltung als Grenzwert bezogen sein, so wären drittbetroffene Grundrechte sowie öffentliche Belange stets einer Abwägung entzogen, was das Untermaßverbot gerade nicht beabsichtigt. Die Drittbetroffenheit sowie die Auswirkungen auf öffentliche Interessen ergeben sich folglich immer erst aus den ergriffenen Maßnahmen. Der Grenzwert ist mithin mit den ergriffenen Maßnahmen gekoppelt und muss demnach auch zusammen betrachtet werden. In die durchzuführende Abwägung sind folglich auch die bereits ergriffenen Maßnahmen zu integrieren. Allein der bestehende Grenzwert ist damit jedenfalls nicht als Untermaßschwelle zu definieren. Denkbar wäre zudem, das Schutzkonzept auf die Maßnahmen zu begrenzen, die gem. Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/50/EG sowie der § 47 Abs. 1 Satz 3 BImSchG und § 27 Abs. 2 der 39. BImSchV durch eine Fortschreibung des Luftreinhalteplans durch die jeweilige Behörde, welche für die Erstellung und Fortschreibung solcher Luftreinhaltepläne zuständig ist, angeordnet werden können. Für Nordrhein-Westfalen beispielsweise ist die jeweilige Bezirksregierung als Landesmittelbehörde für die Aufstellung und Fortschreibung der Luftreinhaltepläne zuständig.75 Da Luftreinhaltepläne lediglich Handlungspläne darstellen, die ihrer Rechtsnatur Verwaltungsvorschriften ähneln, müssen die im Plan vorgesehenen Maßnahmen durch die zuständigen Behörden noch umgesetzt werden.76 Die Anordnung der im Luftreinhalteplan vorgesehenen Maßnahmen erfolgt sodann durch die kommunalen Straßenverkehrsbehörden.77 In den beiden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit zonaler Fahrverbote hat sich das Gericht jedenfalls auf Maßnahmen beschränkt, die im Luftreinhalteplan vorgesehen werden können. Die verfassungsrechtliche Perspektive ist allerdings eine andere. Das Grundgesetz fragt nicht danach, welche Schutzmaßnahmen die europäische Richtlinie oder das einfache Gesetz vorsehen, sondern danach, ob generell sämtliche bestehende Schutzmaßnahmen zur Grenzwerteinhaltung den geforderten Mindestschutz gewährleisten. Zu diesen Maßnahmen gehören mithin auch solche Maßnahmen, für die andere Behörden zuständig sind oder die der Gesetzgeber eingeführt hat. Art und Maß der Umsetzung einer staatlichen Schutzpflicht sind immer auf eine einfachgesetzliche Konkretisierung durch den Gesetzgeber und den Verordnungsgeber angewiesen. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers sowie des Verord75 § 7 Abs. 2 LOG NRW in Verbindung mit § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 ZustVU sowie dessen Anhang II Nr. 10.6. 76 BVerwG, NVwZ 2012, 1175 (1176), Rn. 10. 77 Fisahn, in: Kotulla, Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 40, Rn. 9, 15.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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nungsgebers, das grundrechtlich geforderte Schutzniveau durch Gesetze und Rechtsverordnungen zu formulieren und darüber hinaus den Vollzug zu regeln, da Gesetze und Rechtsverordnungen, die einen Schutzumfang gewährleisten sollen, sich regelmäßig nicht von selbst vollziehen können. Durch den jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwert wurde das von der grundrechtlichen Schutzpflicht geforderte Schutzniveau gesetzlich konkretisiert. Die Frage, ob die durch den Grenzwert festgeschriebene Höchstmenge an Stickstoffdioxidimmissionen in Verbindung mit den Maßnahmen zur Grenzwertdurchsetzung das grundrechtliche Mindestschutzniveau markiert, ist vom Bundesverfassungsgericht und auch von der Literatur bisher jedenfalls nicht diskutiert worden. Materiell ist zu erörtern, ob der Grenzwert in Verbindung mit den ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung der Grenzwertschwelle zum einen die Schutzpflicht verfassungsmäßig konkretisieren und zum anderen, ob die Untermaßschwelle abgebildet wird. Dies ergibt sich in einem ersten Schritt aus einer modifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung des bestehenden Schutzkonzeptes, das zuerst abstrakt untersucht wird. a) Angemessenheit Ob durch diesen geschaffenen Schutzumfang die Mindestschutzschwelle dargestellt wird, ergibt sich durch das Ergebnis einer modifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Abwägungsprozess der Interessenlagen der Schutzbedürftigen einerseits und der betroffenen Grundrechte Dritter sowie öffentlichen Interessenlagen andererseits. Das Schutzgut des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begegnet hier vor allem den Grundrechten Dritter, namentlich der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, aber auch der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Dessen ungeachtet ist ein öffentliches Mobilitätsinteresse der Bevölkerung zu nennen. Ein öffentliches Interesse besteht darüber hinaus an einer florierenden Volkswirtschaft, die auf Individualverkehr, beispielsweise dem Güterverkehr, angewiesen ist.78 Zusätzlich ist die Gewährleistungsfunktion des Staates im Bereich der Daseinsvorsorge als öffentliches Interesse einzuordnen. Auch eine finanzielle Belastung des Staatshaushalts berührt das öffentliche Interesse. Bei der anzustellenden Gewichtung der Interessenlagen ist entscheidend, welchem Rang den betroffenen Grundrechtsgütern innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung zukommt. Zudem ist der eintretenden individuellen Schadenshöhe 78 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 41, juris; auch wurde eine Differenzierung nach Euro-Abgasnormen der Dieselfahrzeuge durchgeführt, so dass nur ältere Dieselfahrzeuge unterhalb von Euro 5 vom möglichen Fahrverbot erfasst werden. Für Euro 5 galt eine Übergangsfrist.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

der geschützten Grundrechtsgüter Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, ob die Schadensintensität der drittbetroffenen „Störer“ durch zumutbares Alternativverhalten gemildert werden kann. Für das Gesundheitsrisiko der Schutzbedürftigen ist zudem die Höhe der statistischen Risikoeintrittswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Nicht berücksichtigt werden kann die hypothetische Möglichkeit des Selbstschutzes der Bewohnerschaft.79 Letztlich muss das Schutzkonzept auch gegenüber den öffentlichen Belangen überwiegen. Zunächst müssten die luftreinhalterechtlichen Instrumente aus dem grundrechtsintensivsten Teilbereich des staatlichen Schutzkonzeptes für das Schutzziel angemessen sein. aa) Gebietsbezogene Fahrverbote Für zonale Fahrverbote ist als Ermächtigungsgrundlage lediglich § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG einschlägig.80 Auf Grundlage von § 40 Abs. 3 BImSchG hat der Gesetzgeber durch Rechtsverordnung in Gestalt der 35. BImSchV Fahrverbote abschließend durch Umweltzonen geregelt, in der Fahrzeuge nach Schadstoffanteilen differenziert werden müssen und nur aufgezählte schadstoffintensive Fahrzeuge von Fahrverboten erfasst werden.81 Unabhängig von der Plakettenregelung sind gebietsbezogene Fahrverbote jedoch aus unionsrechtlichen Gründen zu ergreifen, wenn sie sich als einzig wirksames Mittel zur schnellstmöglichen Einhaltung des Grenzwertes erweisen.82 Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG regelt die zuständige Straßenverkehrsbehörde den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften. Fahrverbote werden jedoch nur für Umweltzonen in § 45 Abs. 1f StVO geregelt. Eine Sperrwirkung für weitere Fahrverbote soll von der Vorschrift aus unionsrechtlichen Grünen jedoch nicht ausgehen.83 Zonale Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge sind – so schon das Bundesverwaltungsgericht – bei Beachtung ihres Verursachungsanteils und entsprechender Ausnahmen für bestimmte Gruppen verhältnismäßig, wenn diese Maßnahme die einzige wirksame Maßnahme zur schnellstmöglichen Grenzwerteinhaltung darstellt.84 Gemäß der Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts hat der Gesetzgeber in § 47 Abs. 4a BImSchG ein Konzept erstellt, das detaillierte Vorgaben über die Verhältnismäßigkeit eines zonalen Fahrverbotes enthält. Das Urteil hat zudem mögliche Grundrechtsbeeinträchtigungen gewichtet.85 79 80 81 82 83 84 85

Hierzu unter C. III. 3. b) dd) (1). BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn.

21, juris. 23–30, juris. 91, juris. 53, juris. 21, 41 f., 45, juris. 21, 41 f., 45, juris.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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(1) Möglicher Ausschluss durch § 47 Abs. 4a BImSchG Einzugehen ist in diesem Kontext auf die Einführung einer Erheblichkeitsschwelle in § 47 Abs. 4a BImSchG für die Anordnung eines zonalen Fahrverbotes. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass das Gesetz nur für zonale Fahrverbote, nicht hingegen für streckenbezogene Fahrverbote gilt, obwohl der Wortlaut beide Varianten erfasst.86 Das Gesetz begegnet jedoch verfassungsrechtlichen Bedenken, denn das Gesetz sieht vor, dass Fahrverbote in aller Regel wegen Unverhältnismäßigkeit ausgeschlossen sind, soweit eine jährlich gemittelte Schadstoffkonzentration von 50 mg/m3 nicht überschritten wird. Eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit dieser Norm wurde bereits mehrfach vertreten, da die unionsweit gleiche Durchsetzung des Europarechts durch eine nationale Abweichung von der Richtlinie unterlaufen würde.87 Die Bundesregierung erhoffte sich bei der Einführung des Gesetzes durch angekündigte und umgesetzte Maßnahmen (Softwareupdates, Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017– 2020 mit den Schwerpunkten Elektrifizierung des Verkehrs, Nachrüstung von ÖPNV-Bussen mit Abgasreinigungssystemen, Digitalisierung des Verkehrs, Hardwarenachrüstung von schweren Kommunalfahrzeugen, Hardwarenachrüstung von Handwerker- und Lieferfahrzeugen) eine Verbesserung der Luftqualität und in der Folge eine baldige Einhaltung des Grenzwertes.88 Grenzwertüberschreitungen konnten dennoch und werden vermutlich nach dem Ende der Coronapandemie nicht wie erhofft verhindert werden. 89 Auch verfassungsrechtlich ist der durch den Grenzwert festgesetzte Schutzgehalt nicht verhandelbar, da er aufgrund der Erkenntnisse aus der epidemiologischen Forschung einen Mindestschutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit gewährleisten soll. Dabei hat der Gesetzgeber bei der Einführung des Grenzwertes bereits eine Abwägung zwischen den betroffenen Interessenlagen vorgenommen. Das Gesetz führt daher, wenn die Vorschrift als regelmäßiger Ausschluss von gebietsbezogenen Fahrverboten verstanden wird, zu einem unangemessenen Schutzniveau, da das geschuldete Schutzziel für Grenzwertüberschreitungen bis zu einer Höhe von 50 mg/m3 nicht eingehalten werden kann. Aus diesem Grund wäre das Gesetz wegen des Verstoßes gegen das Untermaßverbot als eigenständige Schutzpflichtverletzung anzusehen und mithin auch nach nationalem Recht verfassungswidrig. Zum Teil schätzt auch die Literatur die Norm als verfassungswidrig ein.90 86

BT-Drucks. 19/6335, S. 9, Jarass, BImSchG, § 47, Rn. 38. VGH Mannheim, NVwZ 2019, 813 (818), Rn. 74 f.; OVG Münster, Urt. v. 31.07. 2019 – 8 A 2851/18, BeckRS 2019, 20361, Rn. 134 ff.; Laskowski, ZRP 2019, 44 (48); Berkemann, ZUR 2019, 412 (420); Klinger, ZUR 2019, 131 (133 ff.). 88 BT-Drucks. 19/6335, S. 7, 9. 89 Hierzu unter B. III. 90 Klinger hält die Norm sogar für verfassungswidrig: Klinger, ZUR 2019, 131 (134). 87

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Vorrangig ist in diesem Fall jedoch eine verfassungskonforme Auslegung zu erwägen, um dem Interesse der Normerhaltung Rechnung zu tragen.91 Eine verfassungskonforme Auslegung ist immer dann möglich, wenn zumindest eine Interpretationsmöglichkeit der Auslegung mit der Verfassung im Einklang gebracht werden kann.92 Die Grenze der verfassungskonformen Auslegung bildet sowohl der Wortlaut als auch der klar zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers.93 Die Gesetzesbegründung und damit der Wille des Gesetzgebers schafft hingegen Klarheit, dass zonale Fahrverbote auch bei Werten unter 50 mg/m3 pro Kalenderjahr ergriffen werden sollen, wenn alle weniger belastenden Maßnahmen ausgeschöpft sind.94 Wenn die Vorschrift dahingehend interpretiert wird, dass gebietsbezogene Fahrverbote nur ausnahmsweise im Bereich zwischen 40 und 50 mg/m3 zu ergreifen sind, so bildet sie lediglich die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ab, weil Fahrverbote nur dann zu ergreifen sind, wenn keine anderen Maßnahmen geeignet sind, die Einhaltung des Grenzwertes schnellstmöglich sicherzustellen.95 Daher sollte das Schwert der Verfassungswidrigkeit der Norm nicht vorschnell gezogen werden. Der Wortlaut, dass Fahrverbote in der Regel nur in Gebieten in Betracht kommen, in denen der Wert von 50 mg/m3 überschritten wird, kann ebenfalls verfassungskonform ausgelegt werden, da das Wortverständnis klar zu erkennen gibt, dass Fahrverbote ausnahmsweise auch unter einem Wert von 50 mg/m3 ergriffen werden können. Als ermessenslenkende Vorschrift spiegelt die Norm damit lediglich die Rechtsprechung wieder und ist als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungsgemäß. Ein zonales Fahrverbot für bestimmte Fahrzeuge muss jedoch darüber hinaus unter Abwägung der widerstreitenden Grundrechtsinteressen sowie der öffentlichen Belange angemessen sein. (2) Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG Die Maßnahme kann auf den ersten Blick in einen Konflikt mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geraten. Verlockend ist daher der Gedanke, das Eigentumsrecht der Fahrverbotsadressaten mit dem Gesundheitsschutz der Schutzbedürftigen abwägen zu wollen.96 Bei genauerer Betrachtung erweisen sich solche Versuche indes regelmäßig als verfehlt. Der verfassungsrechtliche Begriff des Eigentums ist durch den Gesetzgeber konkretisierungsbedürftig und erfasst unter anderem alle dem Einzelnen als Ei91 BVerfGE 2, 266 (282); Lüdemann, JuS 2004, 27 (28 f.); Voßkuhle, AöR 2000, 177 (180 f.). 92 BVerfGE 2, 266 (282); BVerfGE 32, 373 (383 f.); BVerfGE 86, 288 (320). 93 BVerfGE 54, 277 (299); BVerfGE 90, 263 (275). 94 BT-Drucks. 19/6335, S. 8; Klinger, ZUR 2019, 131 (133). 95 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 32, juris. 96 Schäfer, DVBl. 2019, 473 (477); Schwarz, GewArch 2018, 101 (104).

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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gentum zugeordneten vermögenswerten Rechte und Güter des Privatrechts.97 Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG wird jedoch meistens nicht eröffnet sein, da das Grundrecht lediglich den konkreten Bestand von Rechten und Gütern gewährleistet, nicht hingegen bloße Umsatz- und Gewinnchancen.98 Maßnahmen wie das zonale Fahrverbot für Fahrzeuge von Gewerbetreibenden führen in aller Regel zu Umsatzeinbußen, die laut Bundesverfassungsgericht eher in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG zu verorten sind: „Nicht unter Art. 14 GG fallen demnach Berechtigungen, bei denen es primär um den Erwerb und nicht um das Erworbene geht. Solche Berechtigungen sind Art. 12 GG und nicht Art. 14 GG zuzuordnen.“ 99

Zur Abgrenzung wird auf den Anlass der Fahrt abgestellt.100 Dabei kommt es auf den Schwerpunkt der Freiheitsausübung des vorrangig betroffenen Grundrechts an.101 Die Eigentumsfreiheit erfasst auch die Nutzungsmöglichkeit eines Fahrzeugs, die sich aus § 903 BGB ergibt.102 Grundlegend hat der Bundesgerichtshof zu dieser Frage entschieden, dass eine Nutzungseinschränkung im Falle eines eingesperrten Schiffs eine Eigentumsverletzung darstellt, weil die bestimmungsgemäße Verwendungsmöglichkeit vollständig aufgehoben war.103 Sind lediglich bestimmte Verwendungsmöglichkeiten ausgeschlossen, soll keine Eigentumsverletzung vorliegen, da die Nutzungsmöglichkeiten nicht gänzlich aufgehoben werden.104 Gemessen daran werden die Nutzungsbeschränkungen von Fahrzeugen, die von Fahrverboten betroffen sind, nicht gänzlich unterlaufen, da Kraftfahrzeuge unabhängig von der betroffenen Straße oder Zone uneingeschränkt verwendet werden können.105 Lediglich gewerbliche Anlieger haben einen Anspruch auf die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für den notwendigen Anlieferverkehr, um eine Verlet97

BVerfGE 70, 191 (199). BVerfGE 105, 252 (278); BVerfGE 112, 93 (107); VG Düsseldorf, Beschl. v. 02.10.2013 – 6 L 1424/13, BeckRS 2013, 57661. 99 BVerfG, NJW 1992, 36 (37). 100 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BRD, Art. 14, Rn. 4; Bryde/Wallrabenstein, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, Rn. 29. 101 BVerfGE 30, 292 (335); Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 62. 102 BVerfGE 31, 229 (239); Brückner, in: Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 8, § 903, Rn. 23. 103 BGH, NJW 1971, 886 (888); BAG, NJW 2006, 666 (667), Rn. 29, 32. 104 BGH, NJW 1971, 886 (888); BAG, NJW 2006, 666 (667), Rn. 29, 32. 105 So im Ergebnis auch Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 62 f.; anderer Auffassung ist Schwarz, der jede verkehrsbezogene Nutzungseinschränkung unter den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG fassen möchte. Das Anliegerrecht und der Gemeingebrauch wird von Schwarz nicht mehr erörtert: Schwarz, GewArch 2018, 101 (104). 98

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

zung von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zu verhindern, wobei die Kundschaft nicht in den Genuss einer Ausnahmegenehmigung kommen kann, da sie keine Eigentümerin oder Besitzerin des Gewerbegrundstücks ist. Für die Kundschaft ist eine fußläufige Erreichung demnach ausreichend.106 Eine Ausnahmegenehmigung im Interesse Einzelner ist gem. § 1 Abs. 2 der 35. BImSchV möglich. Obwohl die 35. BImSchV abschließend Umweltzonen regelt, sind auch die Ausnahmemöglichkeiten des § 1 Abs. 2 der 35. BImSchV entweder im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung oder durch eine Nichtanwendung der Verordnung im Einzelfall, die zonalen Fahrverboten für bestimmte Fahrzeuge entgegenstehen könnte, auf sämtliche Verkehrsverbote zu erstrecken.107 Die Anbindung des Grundstücks an das öffentliche Straßennetz ist als Anliegerrecht vom sachlichen Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst.108 Allerdings gehört die uneingeschränkte Anfahrmöglichkeit bis an die eigene Haustür in der innerstädtischen Fußgängerzone nicht zum Kernbereich des Anliegerrechts aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.109 Bedeutung könnte indes das Anliegerrecht der Grundstückseigentümer oder der Grundstücksbesitzer erlangen, wenn deren Grundstücke mit ihren Fahrzeugen nicht mehr erreicht werden können.110 Dem ist entgegenzuhalten, dass der Zugang zum Grundstück weiterhin möglich ist. Der Zugang durch das Mittel des Kraftfahrzeugs ist demnach nicht notwendig, da er auch mit dem Fahrrad oder zu Fuß erfolgen kann.111 Für besondere Anlässe und für schwerbehinderte Anlieger müssen jedoch Ausnahmemöglichkeiten112 und Härtefallregelungen vorgesehen sein, da andernfalls das verfassungsrechtliche Anliegerrecht in seinem Kernbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt würde. Für die Ausnahmeerteilung gilt erneut § 1 Abs. 2 der 35. BImSchV. (3) Art. 12 Abs. 1 GG Auch darf sich das bestehende Schutzkonzept im Verhältnis zur Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht als unangemessen erweisen. Praktisch bedeutsam sind vor allem die Berufspendler. Als zwingende vorgelagerte Freiheitsgewährleistungsvoraussetzung gehört auch die Erreichbarkeit der Arbeitsstätte zur Berufsausübungsfreiheit.113 106

So auch BVerfG, NVwZ 1991, 358 (358); OVG Berlin, NVwZ-RR 1994, 10 (11). BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 27, 34, juris; BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 30, 37, juris. 108 BVerfG, NVwZ 1991, 358; Papier/Shirvani, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, Rn. 220. 109 BVerwG, NVZ 1994, 125 (125). 110 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 41, juris. 111 Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 77. 112 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 41, juris. 113 Salzwedel, in: Bartlsperger/Blümel/Schroeter, Ein Vierteljahrhundert Strassenrechtsgesetzgebung, S. 97 (101); Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 106. 107

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Durch ein zonales Fahrverbot wird die Erreichbarkeit der Arbeitsstätte indes nicht unmöglich gemacht, sondern lediglich verändert. Der Arbeitsweg kann sowohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder je nach Fahrtweg auch mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt werden. Demnach ist die Arbeitsstätte auf zumutbare Weise erreichbar. Aus der Berufsausübungsfreiheit ergibt sich folglich keine Wahlfreiheit über die konkreten Verkehrsmittel, auch wenn dies mitunter behauptet wird.114 Weitere und vom Bundesverwaltungsgericht in seinen beiden Urteilen zu Dieselfahrverboten nicht erwähnte Grundrechtsbelange betreffen Fahrer, deren Beruf zumindest teilweise aus der Erbringung der Fahrt besteht. Beispielsweise unterfällt das Taxifahren, das Zustellen von Paketen sowie die Auslieferung von Speisen und Getränken dem sachlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit. Diese Tätigkeiten werden auf Dauer angelegt sowie zum Zweck der Schaffung und zum Zweck des Erhalts einer Lebensgrundlage ausgeübt.115 Jedoch ist in einem Verkehrsverbot für bestimmte Fahrzeuggruppen kein unmittelbarer Grundrechtseingriff erkennbar. Für faktisch-mittelbare Grundrechtseingriffe in die Berufsfreiheit muss die Maßnahme eine objektiv berufsregelnde Tendenz aufweisen, damit nicht jede staatliche Maßnahme zugleich wegen eines Eingriffs in die Berufsfreiheit rechtfertigungsbedürftig ist. Unter einer objektiv berufsregelnden Tendenz wird eine Maßnahme verstanden, die zwar nicht die Berufstätigkeit regelt, jedoch zu einer Änderung der Rahmenbedingungen der Berufsausübung führt, so dass sie durch ihre Ausgestaltung einen so engen Zusammenhang mit der Berufsausübung erreicht, dass sie im Ergebnis objektiv eine berufsregelnde Tendenz hat.116 Mit anderen Worten ausgedrückt muss die tatsächliche Folge einer Maßnahme einen bestimmten Berufskreis stärker treffen als die übrigen Adressaten. Gebietsbezogene Fahrverbote richten sich allerdings an jeden, der ein vom Verbot betroffenes Fahrzeug hält und/oder führt, ohne dass relevant ist, ob und gegebenenfalls welchen Beruf jemand ausübt.117 Die Ausgestaltung des Verkehrsverbots trifft demnach alle vom Verbot erfassten Fahrzeuge gleichermaßen. Auch führt die Maßnahme nicht zu einer besonderen Nähe zu einem Beruf oder einer Berufsgruppe. Aus diesem Grund scheidet ein Eingriff in die Berufsfreiheit grundsätzlich aus.118 Selbst wenn ein Grundrechtseingriff angenommen werden 114 Schwarz, GewArch 2018, 101 (103). Schwarz, der vermissen lässt, dass Art. 12 Abs. 1 GG lediglich eröffnet wäre, wenn die Arbeitsstätte unmöglich oder zumindest nur unzumutbar erreichbar werden würde. 115 BVerfGE 7, 377 (397); BVerfGE 97, 228 (252); BVerfGE 105, 252 (265). 116 BVerfGE 111, 191 (213). 117 BVerfGE 47, 1 (21); BVerfGE 129, 208 (267); eine andere Ansicht stellt nur auf die tatsächlichen Auswirkungen auf die in ihrer Berufsfreiheit Betroffenen ab und lehnt das Kriterium der objektiv berufsregelnden Tendenz im Ergebnis ab: Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 117. 118 Anderer Ansicht ist Schwarz, der von einer objektiv berufsregelnden Tendenz ausgeht. Die Frage, weshalb bestimmte Berufsgruppen stärker betroffen sind als alle vom

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könnte, wäre der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit gerechtfertigt, da vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen. Als vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls fällt vor allem der Gesundheitsschutz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für die zu schützenden Betroffenen innerhalb des ausgewiesenen Gebiets ins Gewicht und überwiegt die Berufsinteressen. (4) Art. 2 Abs. 1 GG Als Auffanggrundrecht für die überwiegende Zahl der Verkehrsteilnehmer ist lediglich die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG in den Blick zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich jede Form menschlichen Handelns vom sachlichen Schutzbereich des Grundrechts erfasst.119 Unabhängig von den bestehenden Überlappungen mit den speziellen Freiheitsbereichen wird die Mobilität durch den motorisierten Individualverkehr als solches von keinem speziellen Grundrecht erfasst, weshalb diese Betätigungsform von einem Teil der Literatur und zudem auch von der Rechtsprechung unter den sachlichen Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gefasst wird.120 Indessen hat das Bundesverfassungsgericht das Führen eines Kraftfahrzeugs als solches als von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt angesehen.121 Der hier betroffene Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen fällt grundsätzlich auch in den sachlichen Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.122 Umstritten ist indes nur, ob die allgemeine Handlungsfreiheit durch den motorisierten Fahrzeugverkehr in ihrer abwehrrechtlichen Funktion123 oder aber in ihrer derivativen Teilhabefunktion124 an Vorhandenem betroffen ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in einer Entscheidung stark in Richtung der derivativen Teilhabefunktion bewegt, wenn sich der Betroffene „mit Verbot Betroffenen, wird weder gestellt noch beantwortet: Schwarz, GewArch 2018, 101 (103). 119 BVerfGE 54, 143 (146); BVerfGE 80, 137 (152). 120 BVerfGE 17, 306 (313); pauschalierend BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 38, juris; Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 158; Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 7. 121 BVerfG, NJW 2005, 349 (350). 122 BVerwG, NJW 1969, 284 (285); BVerwG, VerwRspr 1970, 84 (86); von Mannstein, Die Nutzung der öffentlichen Straßen, S. 149; Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 366. 123 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 41, juris; Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 169; Brenner, NZV 2009, 374 (375); Rennert deutet das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss BVerfGE 80, 137 so, als würde dieses die Schaffung eines vorher nicht vorhandenen Gemeingebrauchs als von der Abwehrfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG erfasst verstehen: Rennert, NJW 1989, 3261 (3263). 124 BVerwGE 32, 222 (225). Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, S. 392; Koch, ZfV 1994, 545 (552), Herber, in: Kodal, Straßenrecht, 24. Kapitel, Rn. 59.

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dem abfinden muß, was – und wie lange es – geboten wird“.125 Zudem ist im Zusammenhang mit dem Gemeingebrauch entscheidend, dass sich sein Umfang erst durch die Erschaffung und Überlassung des Staates inhaltlich ausfüllen lässt.126 So ist der Gemeingebrauch einer öffentlichen Bundesfernstraße durch einen hoheitlichen Widmungsakt gem. § 7 Abs. 1 FStrG sowie der Indienststellung nur unter dem Vorbehalt für jeden gestattet, der den Gebrauch im Rahmen der Widmung vornimmt. Zusätzlich steht der Gemeingebrauch unter dem Vorbehalt, dass die Teilnahme am Straßenverkehr nur im Rahmen der straßenverkehrsbehördlichen Vorschriften zulässig ist. Eine gleiche Regelung enthält beispielsweise § 14 Abs. 1 StrWG NRW für alle weiteren Straßen und Wege, die der Landeszuständigkeit unterliegen. Für die derivative Teilhabefunktion spricht vor allem, dass die Verkehrsteilnehmer an durch den Staat der Öffentlichkeit gewidmeten staatlichen Leistungen teilnehmen möchten. Grundrechtsfunktional geht es den Betroffenen nicht um die Ausübung von Freiheit, sondern um die Teilhabe an bestehenden öffentlichen Sachen, auch wenn das subjektive Empfinden anders sein mag. Insofern ist die motorisierte Teilnahme am Straßenverkehr nicht anders zu bewerten als die Nutzung von anderen öffentlichen Sachen wie staatliche Bibliotheken oder staatliche Schulen. Teilhabe am vorhandenen Gemeingebrauch steht mithin stets unter dem Vorbehalt der zulässigen straßenverkehrsrechtlichen Beschränkungen.127 Ein Bestandsschutz ist insgesamt auch nicht anzunehmen, da öffentliche Straßen und Wege umgewidmet oder entwidmet werden können. Folglich ist das Begehren der vom Fahrverbot Betroffenen nicht vom Gemeingebrauch gedeckt. Allenfalls eine mögliche Ungleichbehandlung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer ist erörterungsbedürftig,128 wenn ein zonales Fahrverbot nur für bestimmte Fahrzeuge angeordnet wird. Ein solcher derivativer Teilhabeanspruch kann sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.129 Als wesentlich gleich gelten die Kraftfahrzeugführer und Kraftfahrzeughalter, sie bilden den gemeinsamen Oberbegriff. Die Ungleichbehandlung zwischen Kraftfahrzeugführern sowie -haltern, die vom Fahrverbot ausgenommen sind, und den vom Fahrverbot Betroffenen ist hingegen gerechtfertigt, da vom Verbot betroffene Fahrzeuge erheblich mehr Schadstoffe ausstoßen und so hauptsächlich zur Grenzwertüberschreitung beitragen, weshalb sie das Gesundheitsrisiko der Schutzbedürftigen überwiegend erschaffen. Bei verkehrsbeschränkenden Maßnahmen liegt eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten, nicht hin125

BVerwGE 32, 222 (225). Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 358–360. 127 So im Ergebnis auch von Mannstein, Die Nutzung der öffentlichen Straßen, S. 261; Herber, in: Kodal, Straßenrecht, 24. Kapitel, Rn. 28–30. 128 Ronellenfitsch, DAR 1992, 321 (324). 129 Anerkennend für die Berufsfreiheit BVerfGE 33, 303 (332); generell Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 2, Rn. 38; ähnlich auch Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 639, 641. 126

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

gegen von Personengruppen, vor. Daher findet die Willkürformel Anwendung, nicht hingegen die strengere sogenannte Neue Formel Anwendung.130 Durch das Vorliegen eines sachlichen Grundes ist eine mögliche Ungleichbehandlung daher nicht willkürlich erfolgt. Mithin kann auch keine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG angenommen werden. (5) Öffentliches Mobilitätsinteresse sowie öffentliche Daseinsvorsorge Abwägungsbedürftig ist folglich allein das öffentliche Interesse an einem motorisierten Individualverkehr.131 Dazu zählt das Privatinteresse der Bevölkerung, aber auch das volkswirtschaftliche Mobilitätsinteresse, welches ohne Zweifel ins Gewicht fällt. Diesen Interessen ist der Lebens- und Gesundheitsschutz der innerstädtischen Betroffenen entgegenzuhalten. Im Falle einer Grenzwertüberschreitung ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als höherrangiges Rechtsgut als schützenswerter einzuordnen. Die epidemiologischen Erkenntnisse zeigen, dass Grenzwertüberschreitungen erhebliche Gesundheitsschäden und eine erhöhte Sterblichkeitswahrscheinlichkeit für eine Vielzahl der Betroffenen bedeuten. Das Mobilitätsinteresse wird jedoch nicht grundsätzlich unterlaufen, weil motorbetriebener Individualverkehr mit schadstoffarmen Fahrzeugen weiterhin möglich ist. Für Dieselfahrzeuge der Schadstoffklasse Euro 5 galt eine Übergangsfrist bis zum 01.09.2019.132 Zudem ist der öffentliche Personennahverkehr sowie zum Teil der Gütertransport mit der Eisenbahn gewährleistet. Noch dazu sind meistens nur sehr begrenzte Gebiete vom Fahrverbot betroffen, so dass diese Gebiete mit wenig Aufwand umfahren werden können, so dass das öffentliche Mobilitätsinteresse nur wenig intensiv beeinträchtigt wird. Darüber hinaus ist die öffentliche Daseinsvorsorge als öffentliches Interesse zu benennen. Fahrzeuge der kommunalen Abfallwirtschaft, des öffentlichen Personennahverkehrs, des Winterdiensts, der Straßen- und Kanalisationsreinigung sowie Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge, um nur einige Ausprägungen zu nennen, sind zur Aufrechterhaltung und zur Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsfunktion im Bereich der Daseinsvorsorge133 von Fahrverboten nicht betroffen.134 Sie benötigen jedoch keine Ausnahmegenehmigung nach § 40 Abs. 3 Satz 2 BImSchG, sondern sind von straßenverkehrsrechtlichen Beschrän130

BVerfGE 91, 389 (401). So auch Schink/Fellenberg, NJW 2018, 2016 (2018). 132 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 42, juris. 133 Begründer des Instituts der öffentlichen Daseinsvorsorge war Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, S. 370; zur öffentlichen Daseinsvorsorge: Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung; Doerfert, JA 2006, 316 ff. 334 ff.; Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 326. 134 Fisahn, in: Kotulla, Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 40, Rn. 21a. 131

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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kungen gem. § 35 StVO befreit, da sie Sonder(-fahr-)rechte haben.135 Somit stellen sich zonale Fahrverbote, was das Schutzkonzept betrifft, als angemessen dar. (6) Zwischenergebnis Wie gezeigt werden konnte, kann ein spezielles Einzelgrundrecht, das motorisierten Individualverkehr schützt, nicht identifiziert werden. Vielmehr können Teilbereiche der Automobilität als notwendige Grundrechtsvoraussetzung den einzelnen Grundrechten unterfallen.136 Bezogen auf gebietsbezogene Fahrverbote zeigen sich keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber den Grundrechten Dritter sowie den öffentlichen Interessen. bb) Streckenbezogene Fahrverbote Bei streckenbezogenen Fahrverboten nur für bestimmte Dieselfahrzeuge kommt als Ermächtigungsgrundlage ebenfalls nur § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Betracht.137 Eine Sperrwirkung dieses Verkehrsverbotes ergibt sich aus unionsrechtlichen Grünen ebenfalls nicht durch die 35. BImSchV. Fahrverbote, die lediglich einzelne Straßen oder Straßenabschnitte betreffen, stellen deutlich geringere Grundrechtseingriffe der betroffenen Fahrer sowie Halter von Dieselfahrzeugen dar. Das Bundesverwaltungsgericht begründet den weniger intensiven Grundrechtseingriff von streckenbezogenen Fahrverboten wie folgt: „[Streckenbezogene Fahrverbote] führen lediglich dazu, dass die betroffenen Autofahrer einzelne Fahrtziele nicht oder nur unter Inkaufnahme von mehr oder weniger großen Umwegen erreichen und ihre Fahrzeuge nicht auf den von dem Verbot erfassten Straßen(abschnitten) abstellen können. Derartige Einschränkungen gehen ihrer Intensität nach nicht über sonstige straßenverkehrsrechtlich begründete Durchfahrtund Halteverbote hinaus, mit denen Autofahrer stets rechnen und die sie grundsätzlich hinnehmen müssen. Dies gilt auch für von einem streckenbezogenen Verkehrsverbot betroffene Anlieger und Anwohner. Eine uneingeschränkte Anfahrtsmöglichkeit zu einem Grundstück bis unmittelbar vor die Haustür gehört in städtischen Ballungsgebieten auch für den Eigentümer eines Wohngrundstücks nicht zum Kernbereich des Anliegergebrauchs. Anlieger und Anwohner haben keinen Anspruch auf eine bestimmte Ausgestaltung und einen bestimmten Umfang der Grundstücksverbindung mit der Straße, sofern diese nur als Verkehrsmittler erhalten bleibt. Sondersituationen kann insoweit durch Erteilung von Ausnahmegenehmigungen hinreichend Rechnung getragen werden.“ 138

135 136 137 138

Koehl, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, § 35 StVO, Rn. 19 ff. So auch: Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 168. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 26/16, Rn. 27, juris. BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 41, juris.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

In Anbetracht des Umstands, dass sich selbst zonale Fahrverbote als angemessen erwiesen haben, kann für weniger grundrechtsbeeinträchtigende streckenbezogene Fahrverbote von keiner Unangemessenheit der Maßnahme ausgegangen werden. Daher ist die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts überzeugend. Demnach sind streckenbezogene Fahrverbote ebenfalls angemessen. Wenn die durchgeführte verfassungsrechtliche Interessenabwägungen für gebietsbezogene Fahrverbote sogar angemessen ist, dann kann eine Abwägung für weniger belastende streckenbezogene Fahrverbote zu keinem anderen Ergebnis führen. cc) Umweltzonen Zudem können in Innenstädten Umweltzonen gem. §§ 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG, 45 Abs. 1f StVO angeordnet werden. Als gebietsbezogenes Instrument der Luftreinhaltung enthält die Anordnung einer Umweltzone ein Fahrverbot für abgasintensive Fahrzeuge.139 Diese Maßnahme betrifft nicht nur von manipulierten Abgaseinrichtungen betroffene Dieselfahrzeuge, sondern sämtliche Fahrzeuge, die durch verschiedene am Fahrzeug angebrachte Plaketten140 nicht als schadstoffarm deklariert sind. Auf den ersten Blick erscheint dieses Instrument als Verkehrsverbot zu ähnlichen grundrechtlichen Spannungslagen zu führen wie bei zonalen Fahrverboten. Die Angemessenheit wurde vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg im Jahr 2011 festgestellt141 und später auch von anderen Verwaltungsgerichten bestätigt.142 Zudem trägt die Einordnung der Fahrzeuge in verschiedene Fahrzeugklassen durch Erteilung einer roten, gelben oder grünen Plakette gem. § 2 Abs. 2 der 35. BImSchV dem unterschiedlichen Grad des Verursachungsanteils an der Gesamtschadstoffbelastung Rechnung. Eine mögliche Ungleichbehandlung wurde auch von Teilen der Rechtsprechung erwogen. Doch wird die verfassungsrechtliche Fragestellung allein am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG erörtert,143 nicht hingegen aus der Kombination des derivativen Teilhaberechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG.144 Wegen des Vorliegens eines sachlichen Differenzierungskriteriums wurde eine Ungleichbehandlung jedoch im Ergebnis zutreffend abgelehnt. Der Hinweis des Oberlandesgerichts Hamm, dass in der Ausnahme von Fahrverboten für Oldtimer sowie zwei- und dreirädrigen Kraftfahrzeugen gem. des Anhangs 3 zu § 2 Abs. 3 der 35. BImSchV gegenüber den vom Verbot Be-

139

Scheidler, UPR 2018, 241 (243). Geregelt in der 35. BImSchV. 141 OVG Lüneburg, NordÖR 2011, 456 (460). 142 BVerwG, NVwZ 2014, 64 (69), VG Wiesbaden, Urt. v. 16.08.2012 – 4 K 165/ 12.WI, BeckRS 2012, 55841. 143 OLG Hamm, NVZ 2014, 52; VG Stuttgart, Urt. v. 26.06.2009 – 6 K 1387/09, Rn. 23, juris. 144 Hierzu bereits unter D. II. 2. a) aa) (4). 140

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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troffenen kein sachliches Differenzierungskriterium vorliegen könnte,145 ist ernst zu nehmen. Die Ungleichbehandlung kann nur mit dem geringen Verursachungsanteil an der Gesamtschadstoffbelastung von Oldtimern und Krafträdern aufgrund der geringen Fahrzeuganzahl gerechtfertigt werden.146 Inzwischen sind etwa 90 % der Fahrzeugflotte mit einer grünen Umweltplakette ausgestattet, so dass der Kreis der Betroffenen deutlich zurückgegangen ist.147 Auch wurde die Einführung von Umweltzonen phasenweise vorgenommen sowie Ausnahme- und Härtefallregelungen vorgesehen.148 Darüber hinaus sind Fahrzeuge der öffentlichen Daseinsvorsorge gem. § 35 StVO vom Fahrverbot im Bereich der Umweltzone befreit. Auch die vorzunehmende Abwägung der Verfassungsgüter lässt die Grundrechte der Betroffenen sowie die öffentlichen Belange hinter dem hohen Schutzgut der menschlichen Gesundheit zurücktreten. Folglich ist auch dieses Instrument als angemessen anzusehen. dd) Verbot des (Schwer-)Lastverkehrs Streckenbezogene oder zonale Durchfahrtsverbote für Lastkraftwagen über einer zulässigen Gesamtmasse von 3,5 Tonnen,149 andernorts 7,5 Tonnen150 oder für schwere Nutzfahrzeuge zum Teil erst über einer zulässigen Gesamtmasse von 12 Tonnen151 sind als Verkehrsverbot nur für bestimmte Fahrzeuge gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO ein weiteres Instrument zur Luftreinhaltung,152 das ebenfalls zutreffend für angemessen gehalten wird.153 Insofern gilt für die Angemessenheit dieser Maßnahme nichts anderes als für gebietsbezogene Fahrverbote.154 Um zudem eine im Einzelfall mögliche Grundrechtsverletzung des gewerblichen Anliegerrechts aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zu vermeiden, müssen jedoch Ausnahmen für gewerblichen Anlieger- und Anlieferverkehr vorgesehen werden.155 Die vom Verwaltungsgericht Minden erklärte Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfrei-

145

OLG Hamm, NVZ 2014, 52. Am 01.01.2021 betrug der Gesamtfahrzeugbestand in Deutschland knapp 67 Millionen Fahrzeuge. Davon waren 660.520 Oldtimer zugelassen und 4,7 Millionen zweiund dreirädrige Krafträder: Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 8/2021, Der Fahrzeugbestand am 1. Januar 2021. 147 UBA, Umweltzonen in Deutschland. 148 Rebel, NVwZ 2010, 98 (98 ff.). 149 Exemplarisch: Luftreinhalteplan für die Landeshauptstadt Dresden 2017, S. 111. 150 VG Minden, Beschl. v. 09.12.2013 – 2 L 478/13, BeckRS 2013, 59357. 151 BVerwG, NJW 2012, 1608. 152 Fisahn, in: Kotulla, Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 40, Rn. 16. 153 VG Minden, Beschl. v. 09.12.2013 – 2 L 478/13, BeckRS 2013, 59357. 154 Hierzu bereits unter D. II. 2. a) aa). 155 Rebler, SVR 2005, 211 (217). 146

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

heit aus Art. 2 Abs. 1 GG stelle sich laut Gericht als geringfügig dar.156 Zum Beschluss des Gerichts bleibt anzumerken, dass es bei genauerer Grundrechtsprüfung schon an einer sachlichen Schutzbereichseröffnung des Art. 2 Abs. 1 GG fehlt.157 Den grundrechtlich nicht geschützten Interessen der Betroffenen stehen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen der Schutzbedürftigen gegenüber, denen verfassungsrechtlich Vorrang einzuräumen ist, da staatliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bestehen. Wie schon für zonale Fahrverbote erwogen, sind Lastkraftwagen der öffentlichen Daseinsvorsorge, unabhängig von der Ausnahmemöglichkeit des § 40 Abs. 3 Satz 2 BImSchG, nicht von Durchfahrverboten betroffen, weil sie gem. § 35 StVO gesetzliche Sonderfahrrechte haben. Im Ergebnis ist somit auch dieses Instrument angemessen. ee) Tempo 30 Zusätzlich wurde in vielen innerstädtischen Straßen eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO angeordnet, um zu einer Verringerung der Stickstoffdioxidkonzentration beizutragen. Mit diesem Instrument der Verkehrsbeschränkung sind, anders als mit Verkehrsverboten, nur geringfügige Interessenbeeinträchtigungen verbunden,158 da durch die Geschwindigkeitsbeschränkung eine bloße Verkehrsregelung vorliegt, welche die Art und Weise der Teilnahme am Straßenverkehr betrifft. Anders ausgedrückt wird das „Wie“ des Straßenverkehrs geregelt und nicht das „Ob“. Auswirkungen auf die grundrechtliche Interessenlage der von den Geschwindigkeitsbeschränkungen betroffenen Adressaten sind hingegen nicht zu erkennen. Mangels Grundrechtsrelevanz für die Fahrzeugführer und -halter, sind Ausnahmen von der Verkehrsbeschränkung, die im öffentlichen Interesse oder im Privatinteresse liegen könnten, bei diesem Instrument nicht in Betracht zu ziehen. Die Gewährleistungsfunktion des Staates für den Bereich der Daseinsvorsorge kann auch bei Tempo 30 eine eigene Bedeutung erlangen. Fahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr sowie Rettungsfahrzeuge sind von Geschwindigkeitsbeschränkungen gem. § 35 Abs. 1 und Abs. 5a StVO befreit. Schließlich erweist sich auch diese Maßnahme als angemessen. Unabhängig von luftreinhalterechtlichen Instrumenten bestehen weitere Schutzmaßnahmen, für die jedoch andere Behörden oder Organe zuständig sind. 156

VG Minden, Beschl. v. 09.12.2013 – 2 L 478/13, BeckRS 2013, 59357. Hierzu bereits unter D. II. 2. a) aa) (4). 158 Fisahn weist darauf hin, dass Verkehrsbeschränkungen für die Betroffenen stets weniger belastend sind als Verkehrsverbote: Fisahn, in: Kotulla, Bundes-Immissionsschutzgesetz, § 40, Rn. 16. 157

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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ff) Rücknahme oder Widerruf der Typgenehmigung Als weitere im Gesetz vorgesehene Maßnahme könnte zumindest von Dieselfahrzeugen, die über eine illegale Abschalteinrichtung verfügen,159 die EG-Typgenehmigung zurückgenommen oder widerrufen werden. Illegale Abschalteinrichtungen führen im Betrieb zu einem erheblich größeren Stickstoffdioxidausstoß als in der EG-Typgenehmigung vorgesehen ist.160 Um am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen zu dürfen, ist eine Zulassung des Fahrzeugs erforderlich. Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 19 StVZO sowie § 3 Abs. 1 Satz 1 FZV. Für die Zulassung ist eine Betriebserlaubnis vorzulegen, die meistens gem. § 1 Abs. 1 Satz 2 StVG sowie § 3 Abs. 1 Satz 2 FZV durch Vorlage einer EG-Typgenehmigung nachgewiesen wird. Durch die EG-Typgenehmigung gewährleistet der Hersteller, dass serienmäßig produzierte Fahrzeuge mit den Angaben der Typgenehmigung übereinstimmen, weshalb der Hersteller jedem Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung beilegt.161 Da Fahrzeuge mit illegaler Abschalteinrichtung jedoch nie die Abgasanforderungen der EG-Typgenehmigung einhalten, ist die erteilte Typgenehmigung von Anfang an rechtswidrig gewesen, weshalb ein Widerruf einer rechtmäßigen begünstigenden Typgenehmigung gem. § 49 Abs. 2 VwVfG nicht möglich ist, sondern nur eine Rücknahme gem. § 48 Abs. 2 VwVfG.162 Zum Teil wurde behauptet, dass die Rücknahme einer EG-Typgenehmigung nach § 48 Abs. 2 VwVfG wegen der spezielleren Vorschrift des § 14 FZV zur Außerbetriebsetzung ausgeschlossen sein soll.163 Dieser Auffassung ist zutreffend entgegnet worden, dass § 14 FZV lediglich Außerbetriebsetzungen erfasst, die die Zulassungsbegünstigten beantragen müssen, weshalb der Norm keine allgemeine Bedeutung für jegliche Außerbetriebssetzungen zukommt.164 Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Köln165 führt eine Betriebsuntersagung auch nicht zum Wegfall der ursprünglich erteilten Betriebserlaubnis, da es sich um zwei eigenständige Verwaltungsakte handelt.166 Auch eine Rücknahme der EG-Typgenehmigung führt nicht automatisch zur Betriebsuntersa159 Bei Softwareeinrichtungen, welche die Emissionsgrenzwerte nur zum Zweck der Zulassung auf dem Prüfstand sicherstellen und welche sich im Normalbetrieb auf der Straße regelmäßig abschalten, handelt es sich um illegale Abschalteinrichtungen: EuGH, NJW 2021, 1216 (1221), Rn. 115. 160 VG Saarlouis, Beschl. v. 10.01.2019 – 5 L 1832/18, BeckRS 2019, 290, Rn. 2. 161 Führ/Below, ZUR 2018, 259 (261). 162 Führ/Below, ZUR 2018, 259 (263, 265). 163 VG Köln, Beschl. v. 17.01.2019 – 18 L 2782/18, Rn. 3, 4, BeckRS 2019, 317; Rebler, SVR 2010, 453 (460). 164 Führ/Below, ZUR 2018, 259 (266). 165 VG Köln, Beschl. v. 17.01.2019 – 18 L 2782/18, Rn. 3 f., BeckRS 2019, 317. 166 Huppertz, in: König, Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, Bd. 1, § 5 FZV, Rn. 17.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

gung, denn auch die EG-Typgenehmigung ist als eigenständiger Verwaltungsakt zu bewerten. Die innere Wirksamkeit der Betriebserlaubnis wird jedoch gehemmt und unter die aufschiebende Bedingung einer späteren nachgewiesenen Mängelbeseitigung gestellt, was daran deutlich wird, dass im Ergebnis keine neue Zulassung erteilt zu werden braucht, wenn der Nachweis erfolgreich erbracht wird. Für Fahrzeuge mit einer EG-Typgenehmigung gilt daher, dass diese einer Rücknahmemöglichkeit gem. § 48 Abs. 2 VwVfG unterliegen. Zuständig für eine solche Rücknahme ist das Kraftfahrt-Bundesamt gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a KBAG. Durch eine Rücknahme der EG-Typgenehmigung wird jedoch intensiv in das Eigentumsrecht der Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG eingegriffen, da das Nutzungsrecht am Fahrzeug dadurch vollständig aufgehoben wird. Auch bei den Verkaufenden würde diese Maßnahme zu einem Eingriff zumindest in Gestalt der Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG führen, da die betroffenen Fahrzeuge nicht mehr veräußert werden können. In diesem Fall besteht auch eine objektiv berufsregelnde Tendenz des Eingriffs, wobei der Eingriff immerhin durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt wäre. Zudem fällt das Verhalten der Herstellenden ins Gewicht, denn die unzulässige Einrichtung einer Abschalteinrichtung kann nicht dazu führen, dass diese Art der Berufsausübung zum späteren Zeitpunkt der Entdeckung der fehlerhaften Einrichtung als verfassungsrechtlich vorrangig schützenswert gegenüber derjenigen erachtet werden könnte, die dadurch gesundheitlichen (Mehr-)Risiken ausgesetzt werden. Unangemessen wäre eine Rücknahme der EG-Typgenehmigung jedoch aus einem anderen die Fahrzeugfahrer und -halter betreffenden Grund, denn die dann drohende dauerhafte Betriebsuntersagung gem. § 5 Abs. 1 FZV kann später nicht mehr durch eine Mängelbeseitigung abgewendet oder rückgängig gemacht werden. Mit dem Fahren im ländlichen Raum sind luftreinhalterechtlich trotz des vermehrten Stickstoffdioxidausstoßes keine Konflikte zu befürchten, weshalb eine völlige Nutzungsuntersagung eine Unverhältnismäßigkeit bedeuten würde. Erwägungen der Angemessenheit als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips machen die rechtlich zulässige Nutzung dieses Instruments damit aus luftreinhalterechtlicher Sicht verfassungswidrig. Demzufolge verstößt die Maßnahme gegen das Übermaßverbot, weshalb von ihr kein Gebrauch gemacht werden sollte. gg) Softwareupdates, Hardwarenachrüstung sowie Betriebsuntersagungen Für die Fahrzeugfahrer und -halter kann im Falle einer illegalen Abschalteinrichtung eine Aufforderung zur Mängelbeseitigung nach § 5 Abs. 1 FZV erfolgen. Da vom Diesel-Abgasskandal betroffene Fahrzeuge erheblich größere Mengen an Stickstoffdioxid emittieren als von der EG-Typgenehmigung vorgesehen ist, sind diese Fahrzeuge überproportional stark für Grenzwertüberschreitungen

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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mitursächlich. Für die Mängelbeseitigung wird den Fahrzeugführern oder -haltern eine angemessene Frist bestimmt.167 So können wegen manipulierter Abgaseinrichtungen gebotene Softwareupdates und Hardwarenachrüstungen die Mängel beseitigen. Softwareupdates bedeuten, dass das Betriebssystem der Abgaseinrichtung dahingehend aktualisiert wird, dass sich die Abgaseinrichtung im Betrieb nicht mehr abschaltet. Darüber hinaus bestehen Hardwarenachrüstungen darin, die technischen Fahrzeugteile an der Abgaseinrichtung zu verändern oder auszutauschen. Vorzunehmende Software- und Hardwarenachrüstungen sind häufig direkt an die Hersteller adressiert, damit die unzulässige Abschalteinrichtung entfernt wird. In diesem Fall der sogenannten verpflichtenden Rückrufaktion erlässt das Kraftfahrt-Bundesamt gem. § 25 Abs. 2 EG-FGV nachträglich Nebenbestimmungen zur bereits erteilten EG-Typgenehmigung gegenüber den Herstellern.168 Daraufhin informiert der Hersteller oder das Kraftfahrt-Bundesamt die Fahrzeughaltenden und fordert sie zu einer Mängelbeseitigung in einer Vertragswerkstatt auf. Das Kraftfahrt-Bundesamt fordert sodann von den Fahrzeughaltern oder den Eigentümern nach Ablauf einer angemessenen Frist einen Nachweis über die Mängelbeseitigung. Wird die Mängelbeseitigung nicht nachgewiesen, so kann die Zulassungsbehörde den Betrieb des Fahrzeugs gem. § 5 Abs. 1 FZV untersagen, bis die Abgaseinrichtung der Nebenbestimmung nachkommt. Eine Betriebsuntersagung kann nach dem eindeutigen Wortlaut des § 5 Abs. 1 FZV nur angeordnet werden, wenn die Frist zur Mängelbeseitigung durch die Zulassungsbehörde gesetzt wurde und verstrichen ist. Eine Information und Fristsetzung durch den Hersteller reichen folglich nicht aus. Vergleichbar mit einer Androhung von Zwangsmitteln169 ist die Aufforderung zur Mängelbeseitigung als eigenständiger Verwaltungsakt zu qualifizieren. Eine Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsaktes kommt den Herstellern als juristische Personen des Privatrechts grundsätzlich nicht zu. Das Kraftfahrt-Bundesamt und die Hersteller sind dazu übergegangen, vermehrt freiwillige Softwareupdates durch die Hersteller vornehmen zu lassen, ohne dass eine staatliche Nebenbestimmung erlassen wird. Freiwillige Softwareupdates verkörpern das Ergebnis eines informellen Verwaltungshandelns. Dennoch können auch sie zur Grundlage von Betriebsuntersagungen nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 FZV gemacht werden, wenn sich die erhoffte Wirksamkeit von Softwareupdates durch das Kraftfahrt-Bundesamt nicht nachweisen lässt. In dem Fall ordnet das Kraftfahrt-Bundesamt doch noch einen verpflichtenden Rückruf an, wobei eine behördliche Frist zur Mängelbeseitigung im Rahmen des Rückrufs bei erfolglosem Verstreichen zur Betriebsuntersagung führen kann.

167

Wohlfahrt, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, § 5 FZV, Rn. 4. Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Rn. 6a. 169 Barczak, JuS 2018, 238 (245); Troidl, in: Engelhardt/App/Schlachtmann, Verwaltungsvollstreckungsgesetz, Verwaltungszustellungsgesetz, VwVG, § 13, Rn. 1b. 168

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

An der Angemessenheit solcher Maßnahmen haben die Verwaltungsgerichte grundsätzlich keine Bedenken geäußert.170 Im Unterschied zur Rücknahme der EG-Typgenehmigung ist eine Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung gem. § 5 Abs. 1 FZV und § 25 Abs. 2 EG-FGV im Verhältnis zum Gesundheitsschutz aller Schutzbedürftigen angemessen, weil dem betroffenen Fahrzeughalter dadurch die Möglichkeit eingeräumt wird, die Mängel nachträglich zu beseitigen. Auch die Kosten für Softwareupdates und Hardwarenachrüstungen werden von den Herstellenden übernommen.171 Mögliche erst durch die Folge der Mängelbeseitigung auftretende Schäden am Fahrzeug sind für die Abwägung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses zwischen den Betroffenen und dem Staat ohne Bedeutung, sondern betreffen allein das Zivilrechtsverhältnis.172 Die dadurch aufkommenden finanziellen Belastungen für die Hersteller sind grundrechtlich nicht geschützt, da das Vermögen als solches nicht vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst ist.173 Auch eine ausnahmsweise abwehrfähige Erdrosselungswirkung174 der zu erwartenden finanziellen Belastungen kann in diesem Fall nicht angenommen werden, weil die Hersteller für diese Belastungen durch die Installation der illegalen Abschalteinrichtungen selbst verantwortlich sind. Sollte durch Softwareupdates oder Hardwarenachrüstungen keine Mängelbeseitigung möglich sein, würde eine Betriebsuntersagung einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG darstellen, weil die bestimmungsgemäße Nutzungsbefugnis vollständig aufgehoben wäre. Da den Fahrzeugeigentümern ihr Eigentum vom Staat nicht entzogen wird, liegt mit § 5 Abs. 1 FZV eine Inhalts- und Schrankenbestimmung vor, die auch angemessen ist. Die Inhalts- und Schrankenbestimmung ist im Falle ihrer Anwendung durch die Behörde ebenfalls angemessen, da betroffene Fahrzeuge durch eine Kumulation der Stickstoffdioxidemissionen erheblich zu gesundheitlichen Risiken beitragen. Zudem besteht für die Betroffenen die Möglichkeit, die Hersteller wegen der Mangelhaftigkeit der Fahrzeuge zivilgerichtlich in Regress zu nehmen.175 Schließlich erweist sich auch diese Maßnahme als angemessen.

170 VGH Kassel, NVwZ 2019, 1297 (1299), Rn. 16; VGH München, DAR 2020, 53 (56); VG Mainz, Beschl. v. 16.11.2018, Rn. 12, juris. 171 VGH München, DAR 2020, 53 (56); OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ 2019, 1143 (1144), Rn. 12. 172 OVG Münster, NVwZ 2018, 1662 (1664), Rn. 28; VGH München, DAR 2020, 53 (56). 173 BVerfGE 4, 7 (17). 174 BVerfGE 14, 221 (241). 175 Der zivilgerichtliche Haftungsumfang kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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hh) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 sowie Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater Eine Vielzahl der Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 wie die Elektrifizierung der Busse des innerstädtischen öffentlichen Personennahverkehrs, der Nachrüstung von dieselbetriebenen Bussen oder schweren Kommunalfahrzeugen durch Abgasreinigungssysteme betreffen Aufgaben im Bereich der vom Staat gewährleisteten Daseinsvorsorge. Für solche Fahrzeuge, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben eingesetzt werden, trägt der Staat die Verantwortung, dass diese nicht selbst Mitverursacher der Grenzwertüberschreitungen sind, damit der Staat nicht gleichermaßen „Störer“ bleibt. Die Verpflichtung zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung ist nämlich als eigenständige öffentlich-rechtliche Aufgabe anzusehen.176 In den Bereichen, in denen der Staat sein eigenes Emissionsverhalten verbessern kann, ist er folglich zum Ergreifen solcher Maßnahmen angehalten. Nicht unterschätzt werden sollte darüber hinaus die Vorbildfunktion des Staates im Bereich des Umweltschutzes. Dem Gesundheitsschutz steht bei den genannten Maßnahmen allenfalls ein öffentliches Finanzinteresse an einer sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung von öffentlichen Mitteln gegenüber.177 Ein öffentliches Finanzinteresse besteht hingegen nicht am Unterlassen der Fördermaßnahmen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Indem die Mehrheit des Deutschen Bundestages eine Förderung befürwortet, hat die Bundesregierung diesen Willen umgesetzt.178 Die Haushaltshoheit des Gesetzgebers wird indessen nicht berührt, da der Gesetzgeber die Haushaltsmittel für die beschriebenen Maßnahmen autonom bereitgestellt hat. Unabhängig vom Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge wurden Hardwarenach- und -umrüstungen von Handwerker- und Lieferfahrzeugen von Privatpersonen oder juristischen Personen des Privatrechts finanziell unterstützt.179 Darüber hinaus wurde die Förderung der Elektromobilität durch Zahlung einer Kaufprämie an privaten Käufer von bestimmten Elektrofahrzeugen und Hybridautos, der Förderung der Ladeinfrastruktur sowie die Befreiung von Elektrofahrzeugen von der Kraftfahrzeugsteuer, aber auch die Erforschung und Entwicklung der Elektromobilitätstechnologie gewährt.180 Letztlich sind die Bevorrechtigungen für Elektrofahrzeuge im öffentlichen Raum zu nennen. Das gesamte skizzierte Maßnah-

176

BVerfGE 115, 25 (43). Hansmann, Der Schutz des öffentlichen Finanzinteresses bei der Gewährung von Subventionen, S. 6 ff. 178 BAnz AT 24.12.2020 B3. 179 Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Sofortprogramm Saubere Luft. 180 Hierzu unter D. II. 1. c). 177

230

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

menpaket beansprucht erhebliche finanzielle öffentliche Mittel. Bei der Subventionierung bestimmter Unternehmen muss zusätzlich darauf geachtet werden, dass nicht gegen das europäische Beihilferecht nach Art. 107, 108 AEUV verstoßen wird. Vom grundsätzlich notwendigen Notifizierungsverfahren gem. Art. 108 Abs. 3 AUEV sind dem Umweltschutz dienende Subventionen jedoch gem. Art. 108 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit Art. 36 der Verordnung 651/2014/ EU181 freigestellt. Allerdings müssen die Voraussetzungen des Art. 36 der Verordnung 651/2014/EU in jedem Fall eingehalten werden. In Anbetracht des hohen Grundrechtsguts des Lebens- und Gesundheitsschutzes erscheinen diese Mittel dennoch als angemessen, denn staatliche Schutzpflichten gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG können von staatlicher Seite in der Regel nicht kostenlos gewährleistet werden. Gemessen am Bedeutungsgehalt der Schutzfunktion der Grundrechte verliert der Kosteneinwand vollends seine Sprengkraft. Grundrechtsschutz beansprucht in jeder Grundrechtsfunktion stets öffentliche Finanzmittel. 182 Insofern ist Albert Einstein zuzustimmen, wenn er notierte: „Was nichts kostet, ist nichts wert“ 183. Kritik, die sich auf das Kostenargument als Gegenargument zur staatlichen Schutzpflicht beruft,184 entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine Kritik am Rechtsstaat schlechthin. ii) Einfluss der grundrechtsverstärkenden Wirkung des Art. 20a GG Die Angemessenheit des Schutzkonzeptes kann darüber hinaus losgelöst vom Schutzgut der menschlichen Gesundheit aus einer anderen Perspektive heraus mitbegründet werden. Wegen des Einflusses des Art. 20a GG wird der Abwägungsprozess unter Berücksichtigung der Umweltschutzbelange erweitert. Durch den jüngsten Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat der Klimaschutz eine erhebliche verfassungsrechtliche Aufladung erfahren. Ob der Klimaschutz-Beschluss auch Auswirkungen auf den jährlich gemittelten NO2Grenzwert sowie die daran gekoppelten Schutzmaßnahmen im Rahmen der anzustellenden Abwägung hat, bedarf der eingehenden Untersuchung. (1) Verfassungsrang des Grenzwertes als Schutzziel Erstmals wurden Grenzwerte im Fluglärmbeschluss mit staatlichen Schutzpflichten in Verbindung gebracht.185 Die Beschwerdeführer rügten, dass vorhan181

ABl. L 187/1, 26.06.2014. Hierzu unter C. III. 1. c) aa) (3). 183 Einstein, in: Calaprice, Einstein sagt: Zitate, Einfälle, Gedanken, S. 125. 184 So aber Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 153. 185 BVerfGE 56, 54 (80, 85). 182

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

231

dene Grenzwerte vorwiegend den passiven Lärmschutz am Einwirkungsort regelten, was für einen Schutz der körperlichen Unversehrtheit unzureichend sei und zu wenig für den aktiven Lärmschutz an der Emissionsquelle unternommen worden sei.186 Jedoch wurde die Verfassungsbeschwerde unter anderem deshalb verworfen, weil lärmschützende Grenzwerte für den passiven und aktiven Lärmschutz durch den Gesetzgeber eingeführt worden waren.187 Eine mögliche grundrechtswidrige Überschreitung der streitgegenständlichen Grenzwerte wurde hingegen nicht gerügt. In einem weiteren Beschluss, in dem es vorrangig um begehrte Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr ging, wurde die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.188 Zudem wurde festgestellt, dass durch die immer strenger gewordenen Emissionsgrenzwerte keine Schutzpflichtverletzung des Gesetzgebers vorlag.189 Aus dem Bereich des Straßenverkehrs stammt sodann ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der sich mit Schutzpflichten wegen Gesundheitsgefahren von Ozonkonzentrationen befasste. Mit der Verfassungsbeschwerde wurde begehrt, dass insbesondere der damals neu geschaffene Immissionsgrenzwert des § 40a BImSchG niedriger angesetzt und daher geändert werden müsse.190 Der ehemalige § 40a Abs. 1 BImSchG sah Verkehrsverbote ab einer Ozonkonzentration von 240 mg/m3 vor. Diesen Grenzwert erachtete das Bundesverfassungsgericht nach dem damals vorhandenen Erkenntnisstand als nicht ungeeignete Schutzmaßnahme.191 Ähnlich gelagert war ein Sachverhalt, in dem sich der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde gegen die elektromagnetischen Immissionen einer in der Nähe seines von ihm bewohnten Grundstücks errichteten Mobilfunkanlage wehrte und sinngemäß eine Reduktion des Grenzwertes forderte.192 Der Antrag wurde verworfen, da der Grenzwert zur elektrischen Feldstärke im Anhang 1 zu § 2 der 26. BImSchV, der im konkreten Fall eingehalten wurde, nicht zu beanstanden sei. Eine Reduktion des Grenzwertes könne nämlich nicht gefordert werden, da keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Gesundheitsgefährdungen unterhalb der Grenzwertschwelle vorlägen.193 Begründet wird diese Auffassung damit, dass der Gesetzgeber bzw. der Verordnungsgeber beim 186

BVerfGE 56, 54 (64 f.). BVerfGE 56, 54 (85). 188 BVerfG, NJW 1996, 651 (651). 189 BVerfG, NJW 1996, 651 (652). 190 BVerfG, NJW 1996, 651. 191 BVerfG, NJW 1996, 651. 192 BVerfG, NJW 2002, 1638 (1638). 193 BVerfG, NJW 2002, 1638 (1639); anstatt von hypothetischen Gefährdungen zu sprechen hätte besser von einem Restrisiko gesprochen werden sollen. 187

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Handeln im Ungewissen einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum hat, der sich einer gerichtlichen Nachkontrolle entzieht.194 Erneut hatten sich Nachbarn einer Mobilfunkanlage wenige Jahre später gegen die elektromagnetischen Immissionen gewehrt.195 Das Bundesverfassungsgericht hatte seine bisherige Rechtsprechung hingegen bestätigt und die Verfassungsbeschwerde verworfen.196 Vor dem Hintergrund von staatlichen Schutzpflichten kann der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls entnommen werden, dass ein der Gesundheit dienender Grenzwert bei ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht angreifbar ist. Ob eine Schadstoffüberschreitung hingegen bei gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen eines solchen Grenzwertes rügefähig ist, wurde damit nicht beantwortet. Festzuhalten bleibt somit, dass das Bundesverfassungsgericht noch nie über Schutzpflichtverletzungen entschieden hat, wenn gesundheitsschützende Grenzwerte überschritten wurden. (2) Normenhierarchische Durchbrechung Zuletzt hat sich das Bundesverfassungsgericht im Klimaschutz-Beschluss mit jährlichen Emissionshöchstmengen des Treibhausgases CO2 zur Begrenzung der Klimaerwärmung beschäftigt. Die von den Beschwerdeführern angegriffenen und im Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) in § 4 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Anlage 2 KSG für zulässig erklärten Emissionshöchstmengen verletzen diese in ihren Grundrechten.197 Jährliche Emissionshöchstmengen sind Grenzwerte von Gesamtemissionen eines Schadstoffs innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls, in diesem Fall von CO2.198 Artikel 20a GG fordert den Staat zwar zum Klimaschutz auf, die Norm muss jedoch durch den Gesetzgeber durch das einfache Recht konkretisiert werden. Beim Bundes-Klimaschutzgesetz handelt es sich hingegen um ein einfachgesetzliches Regelwerk. Die normenhierarchische Folge in diesem Zusammenhang besteht darin, dass das Bundes-Klimaschutzgesetz unterhalb der Verfassungsebene einzuordnen ist. Grundsätzlich kann die Verfassungsauslegung grundrechtsdogmatisch nicht autonom durch den Gesetzgeber vorgenommen werden, sondern allein durch das Bundesverfassungsgericht. Dieser Grundsatz hat neuerdings eine Relativierung erfahren, die bisher nur bei Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bekannt war,

194

BVerfG, NJW 2002, 1638 (1639). BVerfG, NVwZ 2007, 805 (805). 196 BVerfG, NVwZ 2007, 805 (805 f.). 197 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20, BeckRS 2021, 8946, Rn. 142. 198 Vgl. § 33 der 39. BImSchV und Art. 3 lit. a der ehemaligen Richtlinie 2001/81/ EG. 195

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

233

bei der der Gesetzgeber den Schutzbereich maßgeblich durch das Privatrecht ausgestaltet. Denn das Bundesverfassungsgericht hat das Bundes-Klimaschutzgesetz auf den Verfassungsrang erhoben, wenn es schreibt: „Die Temperaturschwelle des § 1 Satz 3 KSG ist als verfassungsrechtlich maßgebliche Konkretisierung auch der verfassungsgerichtlichen Prüfung zugrundezulegen. Dabei ist die gewählte Temperaturschwelle nicht allein Ausdruck des politisch aktuell Gewollten, sondern ist auch als Konkretisierung gerade des verfassungsrechtlich gebotenen Klimaschutzziels zu verstehen. Dafür spricht vor allem, dass es sich bei dem in § 1 Satz 3 KSG genannten Klimaschutzziel um die international vereinbarte Temperaturschwelle des Art. 2 Abs. 1 lit. a PA handelt, die der Gesetzgeber bewusst und ausdrücklich als solche zugrunde gelegt hat. In seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung geht dies über die durch Vertragsgesetz gegebene Zustimmung des deutschen Gesetzgebers zum Pariser Übereinkommen hinaus.“ 199

Diese Passage gibt zunächst Auskunft, dass der Inhalt des Art. 20a GG durch das einfache Recht konkretisierungsbedürftig ist. Hierdurch wird das einfache Recht im Anwendungsbereich des Art. 20a GG sodann zum konkretisierten Verfassungsrecht.200 Genauso wie Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist Art. 20a GG damit normgeprägt. Weiterhin bedeutet die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass die normenhierarchische Durchbrechung neben der Bedeutung des Art. 20a GG mit einem Rückgriff auf das Pariser Klimaschutzabkommen begründet wird.201 Beim Pariser Klimaschutzabkommen handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag. Diesen hat auch die Europäische Union, die gem. Art. 216 Abs. 1 AEUV eine Abschlusskompetenz für völkerrechtliche Verträge hat, ratifiziert.202 Gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV besteht die Bindungswirkung solcher Verträge auch für die Mitgliedsstaaten. Zudem resultiert die Bindungswirkung des Pariser Klimaschutzabkommens zugleich durch die eigenständige Ratifikation der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Zustimmungsgesetzes gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG.203 Die jährlichen Emissionshöchstmengen, um sowohl das Klimaschutzziel des § 1 Satz 3 KSG als auch des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen, werden sodann durch das Bundesverfassungsgericht zum Verfassungsrang erhoben.204 199

BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 208–

210. 200 So auch Beckmann, UPR 2021, 241 (244); ablehnend: Polzin, DÖV 2001, 1089 (1095). 201 Ablehnend: Polzin, DÖV 2001, 1089 (1095). 202 ABl. L 282/1, 19.10.2016. 203 BAnz AT 30.09.2016 V 26. 204 Schlacke versteht das Bundesverfassungsgericht so, dass das Klimaschutzgebot Verfassungsrang erhalte: Schlacke, NVwZ 2021, 912 (915).

234

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

(3) Loslösung vom Klimaschutz und Übertragung auf alle Umweltschutzbelange Das bedeutet, dass überstaatliche Vereinbarungen zum Klimaschutz wie der völkerrechtliche Vertrag des Pariser Klimaschutzabkommens über die rechtliche Bindungswirkung des Art. 20a GG Verfassungsrang in dem Sinne genießen, dass Klimaschutzvereinbarungen einen Teil des objektiven Verfassungsrechts darstellen. Die Frage der Justiziabilität des objektiven Verfassungsrechts ist in dem Zusammenhang irrelevant. Völkerrechtliche Verträge gelten gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG im Rang des konkreten Zustimmungsaktes,205 was in diesem Fall den Rang eines Bundesgesetzes bedeutet.206 Das umstrittene normhierarchische Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem deutschen Grundgesetz braucht an dieser Stelle nicht gelöst zu werden. Denn wenn völkerrechtlichen Klimaschutzvereinbarungen schon Verfassungsrang zukommt, dann muss dies gleichermaßen für Klimaschutzbestimmungen der Europäischen Union gelten, auf die sich die Mitgliedsstaaten im Europäischen Parlament verständigt haben. Hierfür spricht auch die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, das Klimaschutzgebot des Pariser Klimaschutzabkommens ebenfalls unter die Bestimmung des Art. 20a GG zu fassen: „[Das Bundes-Klimaschutzgesetz] steht in einem besonderen Zusammenhang zu dem Klimaschutzgebot des Art. 20a GG. Wegen der genuin globalen Dimension des Klimawandels kann der Staat das Ziel des Art. 20a GG, den Klimawandel anzuhalten, letztlich nur in internationaler Kooperation erreichen.“ 207

Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts führt sogar schon die Konkretisierung des Klimaschutzauftrags aus Art. 20a GG durch das einfache Recht zu einer verfassungsrechtlichen Aufladung. Demgemäß muss dieses Verständnis in einem Erst-recht-Schluss (argumentum a fortiori) auch für unionsrechtliche Konkretisierungen dieses Klimaschutzgebots gelten, da das Grundgesetz bei seiner Auslegung des Art. 20a GG im Wege der europarechtskonformen Auslegung208 eine durch das Europarecht geprägte Stärkung erfährt. Die europarechtskonforme Auslegung bedeutet, dass nationale Vorschriften durch die Rechtsanwender im Sinne des einschlägigen europäischen Rechtsaktes ausgelegt werden müssen. Anders als in diesen bekanntesten und häufigsten Fallkonstellatio205

Herdegen, Völkerrecht, § 22, Rn. 6; Krajewski, Völkerrecht, § 5, Rn. 47. BVerfGE 74, 358 (370); BVerfGE 111, 307 (317); BVerfGE 141, 1, Rn. 33–38; Kempen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, Art. 59, Rn. 92. 207 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 210. 208 Zur europarechtsfreundlichen Auslegung: EuGHE 1984, 1921; EuGHE 1984, 1891; BVerfGE 123, 267 (354); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV / AEUV, Art. 1, Rn. 24; Ehlers, in: Schulze/Janssen/Kadelbach, Europarecht, § 11, Rn. 46–51. 206

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

235

nen, in denen eine europarechtskonforme Auslegung einer nationalen Vorschrift angewendet wird, um dem Anwendungsvorrang des Europarechts Geltung zu verschaffen, sollte diese Auslegungsmethode auch unabhängig vom Anwendungsvorrang herangezogen werden, um den Verfassungsrang eines einfachen Gesetzes, wie zum Beispiel eines nationalen Grenzwertes, im Anwendungsbereich des Art. 20a GG zu verstärken. Diese Argumentation sollte analog für den gesamten Bereich des Umweltschutzes angeführt werden, da die meisten Umweltbelastungen grenzüberschreitende Auswirkungen haben. Ein wirksamer Umweltschutz kann daher ebenfalls nur durch eine europäische und internationale Verständigung auf gemeinsame Standards wie beispielsweise Grenzwerte gelingen. In der Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG hat der europäische Gesetzgeber die grenzüberschreitende Kooperation im Bereich Luftqualität im Erwägungsgrund 25 explizit für notwendig erachtet, wenn es heißt, dass: „die Ziele dieser Richtlinie auf Ebene der Mitgliedstaaten wegen des grenzüberschreitenden Charakters von Luftschadstoffen nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind“.209 Europäische Grenzwerte, die im deutschen Recht umgesetzt wurden, verkörpern mithin ebenso eine Konkretisierung des Klima- und Umweltschutzgebotes aus Art. 20a GG. Darüber hinaus haben diese die Umwelt und die Gesundheit schützenden Grenzwerte zugleich Verfassungsrang, da sich der deutsche und der europäische Gesetzgeber dazu entschieden haben, ein bestimmtes Umweltschutzniveau festzuschreiben. Diese Erkenntnis gilt folglich – die These sei an dieser Stelle formuliert – für sämtliche aus dem Europarecht stammende Grenzwerte, die neben dem Umweltschutz zumindest auch dem Gesundheitsschutz dienen. Damit sind dem Umweltund Gesundheitsschutz dienende Normen des einfachen Rechts, durch die staatliche Schutzpflichten verwirklicht werden sollen, stets konkretisiertes Verfassungsrecht.210 (4) Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als Verfassungsbedingung Verfassungskonkretisierende Grenzwerte stehen unter dem Vorbehalt, dass Grenzwerte dem Stand der Wissenschaft und Forschung abbilden. Dieser Vorbehalt ist erforderlich, um die Verfassungsmäßigkeit des durch einfaches Recht konkretisierten Verfassungsrechts sicherzustellen. Anders ausgedrückt kann ein nationaler Grenzwert niemals Verfassungsrang erlangen, wenn er den Stand von Wissenschaft und Forschung offenkundig nicht abbildet. Darüber hinaus kann der 209

Richtlinie 2008/50/EG, Erwägungsgrund 25. Die Erkenntnis, dass der Klimaschutz-Beschluss der Sache nach eine Schutzpflichtproblematik betrifft, wurde unter III. 3. a) aa) ermittelt. 210

236

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

einmal erlangte Verfassungsrang später auch wieder entfallen, sobald sich der Grenzwert aufgrund neuer Erkenntnisse als unzureichend erweist. Wenn der Grenzwert aufgrund des Standes der Wissenschaft und Forschung offenkundig nicht ausreichend sein sollte, so besteht jedoch eine von Verfassung geforderte und justiziable staatliche Nachbesserungspflicht: „Eine Verletzung der Nachbesserungspflicht durch den Verordnungsgeber [kann] gerichtlich erst festgestellt werden, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz der Gesundheit auf Grund neuer Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden ist [. . .]. Eine kompetente eigenständige Risikobewertung durch die Gerichte kann erst erfolgen, wenn die Forschung so weit fortgeschritten ist, dass sich die Beurteilungsproblematik auf bestimmte Fragestellungen verengen lässt, welche anhand gesicherter Befunde von anerkannter wissenschaftlicher Seite geklärt werden können.“ 211

Im Klimaschutz-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht diesen Gedanken nochmals aufgegriffen und zum Verfassungsrang des Art. 20a GG und zu seiner Verfassungskonkretisierung durch einfaches Recht erklärt: „Neue hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die Entwicklung der anthropogenen Erderwärmung oder deren Folgen und ihre Beherrschbarkeit könnten allerdings auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums eine andere Zielfestlegung im Rahmen des Art. 20a GG erforderlich machen. Das unterliegt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Durch Art. 20a GG ist dem Gesetzgeber eine permanente Pflicht aufgegeben, das Umweltrecht den neuesten Entwicklungen und Erkenntnissen in der Wissenschaft anzupassen.“ 212

In der Tat sprechen die neueren epidemiologischen Studienergebnisse dafür, dass Gesundheitsschädigungen schon unterhalb des aktuellen jährlich gemittelten Grenzwertes von 40 mg/m3 eintreten können.213 Doch vermutlich wird alsbald ein Gesetzgebungsverfahren zur Verschärfung des Grenzwertes auf europäischer Ebene beginnen.214 Die Europäische Kommission besitzt dafür gem. Art. 17 Abs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 294 Abs. 2 AEUV das alleinige Initiativrecht für Gesetzgebungsakte. Indem sich die Luftqualitätsrichtlinie 2008/50/EG durch die Europäische Kommission zurzeit in der Revision befindet und dem Europäischen Parlament aufgrund der neuen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation wahrscheinlich eine Verschärfung des Grenzwertes vorschlagen wird, ist mit einer Anpassung des Grenzwertes zu rechnen.215 Potenzielle Beschwerdeführer würden keinen effektiven Grundrechtsschutz erhalten, wenn der Gesetzgeber keine Gelegenheit erhält, ein Schutzdefizit eigenständig zu beseitigen,

211 212 213 214 215

BVerfG, NJW 2002, 1638 (1639). BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 BvR 2656/18, BeckRS 2021, 8946, Rn. 212. Hierzu unter B. VIII. Hierzu unter B. VIII. Hierzu unter B. VIII.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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obwohl die Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens konkret geplant ist. Sollte eine mögliche Verfassungsbeschwerde eine Verschärfung des Grenzwertes zum Beschwerdegegenstand haben, so würde das Bundesverfassungsgericht, das mangels gesetzlicher Frist autonom entscheiden darf, zu welchem Zeitpunkt es eine Entscheidung trifft, so lange mit der Entscheidung warten, bis der Gesetzgebungsprozess beendet ist. Dies fordert der Grundsatz des judicial self-restraint,216 der in diesen Fällen richterliche Zurückhaltung und Mäßigung gebietet. Folglich kann zurzeit nicht effektiv beanstandet werden, dass der Gesetzgeber es offenkundig unterlässt, den betroffenen Grenzwert zu verschärfen. Ein evidentes Missverhältnis zwischen dem Grenzwert und dem Stand der Wissenschaft und Forschung kann insofern noch nicht angenommen werden. (5) Angemessenheit unter dem Aspekt des Umweltschutzes Parallel zum Schutz der menschlichen Gesundheit beabsichtigt der Zweck des jährlich gemittelten NO2-Grenzwerts den Umweltschutz. Dieser führt im Abwägungsfall zu einer zusätzlichen Gewichtung,217 so dass die Grundrechtsposition der Schutzsuchenden stets eine weitere Verstärkung erlangt. Die einzelnen Schutzmaßnahmen sind folglich zusätzlich aus Gründen des Umweltschutzes als angemessen zu qualifizieren. Was die verschiedenen Förderungen von Privatpersonen und juristischen Personen des Privatrechts zur Elektromobilität betrifft, so sind Anreize durch indirekte Verhaltenssteuerung ein wichtiger Baustein, da rechtmäßig zugelassene und die Abgasnormen einhaltende Fahrzeuge nicht einfach durch ordnungsrechtliche Instrumente ausgetauscht werden können. Daher sind fördernde Maßnahmen neben der Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch unter Berücksichtigung des Art. 20a GG als angemessen anzusehen. (6) Zwischenergebnis Was den jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 mg/m3 im Jahresmittel betrifft, so stellt dieser gem. § 3 Abs. 2 der 39. BImSchV nationales einfaches Recht dar. Zugleich findet sich der identische Grenzwert im Anhangs XI B der Richtlinie 2008/50/EG und ist damit Teil des europäischen Sekundärrechts. Als dem Umweltschutz und der Gesundheit dienende Norm ist der Grenzwert vom konkretisierungsbedürftigen Regelungsbereich des Art. 20a GG erfasst. Mithin bildet der Grenzwert konkretisiertes Verfassungsrecht ab, ihm kommt objektiv Verfassungsrang zu, so dass das Umweltschutzziel die Angemessenheit der verschiedenen Schutzmaßnahmen zusätzlich verstärkt.

216 217

Hierzu unter C. III. 1. b) aa). Hierzu unter C. III. 1. c) dd).

238

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

jj) Zwischenergebnis Das bisherige zur Einhaltung des Grenzwerts erschaffene Schutzkonzept hat sich bereits durch die bestehende staatliche Schutzpflicht zu Gunsten der Schutzbedürftigen gegenüber den betroffenen Grundrechten Dritter sowie öffentlicher Belange als angemessen herausgestellt, da das Schutzbedürfnis in jeder Hinsicht überwiegt. Im Verhältnis zu den drittbetroffenen Grundrechten greift das staatliche Schutzkonzept nicht unangemessen in die Grundrechte Drittbetroffener ein. Ferner erweist sich das Schutzkonzept auch gegenüber den gegenläufigen öffentlichen Interessen als angemessen. Unter Zugrundelegung des bestehenden Schutzkonzepts stellt sich dieses abstrakt betrachtet als angemessen dar. b) Verfassungslegitimer Zweck Das staatliche Schutzkonzept muss außerdem der Schutzfunktion einzelner Grundrechte dienen. Sämtliche Schutzmaßnahmen bezwecken die schnellstmögliche Einhaltung des Grenzwertes, damit verfassungsrechtlich missbilligte Gesundheitsrisiken beseitigt werden. Insgesamt wurde das staatliche Schutzkonzept zur Umsetzung einer staatlichen Schutzpflicht geschaffen. Sowohl der Grenzwert als auch die einzelnen Schutzmaßnahmen werden mithin vom gemeinsamen Schutzzweck des Gesundheitsschutzes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereint, weshalb ein verfassungslegitimer Schutzzweck anzunehmen ist. c) Geeignetheit Weiterhin ist die Geeignetheit der Schutzmaßnahmen in den Blick zu nehmen. Diese müssen den verfassungslegitimen Schutzzweck fördern. Die gerichtliche Nachprüfung erstreckt sich demnach darauf, ob die Schutzmaßnahmen einen kausalen Beitrag zur Grenzwerteinhaltung leisten. Mit anderen Worten ausgedrückt ist danach zu fragen, ob das Schutzkonzept zu einer Verringerung der Stickstoffdioxidbelastung im Straßenverkehr führt. Dabei ist die Geeignetheit des Schutzkonzeptes schon dann anzunehmen, wenn lediglich eine Schutzmaßnahme von vielen sich als förderlich erweist, soweit sie auf der Prüfungsebene der Effektivität im Ergebnis auch einen effektiven Schutz bietet. Auskünfte über die Wirksamkeit der Maßnahmen geben zum einen die verschiedenen Luftreinhaltepläne, zum anderen aber auch die jährlichen Auswertungen der Luftqualitätsmessdaten sowie eigenständige wissenschaftliche Untersuchungen, aber mitunter auch Behörden und die Rechtsprechung. Da zurzeit etwa 160 Städte in Deutschland einen Luftreinhalteplan haben, können nicht alle Pläne ausgewertet werden. Aus diesem Grund wird sich zum Zweck der Informationserhebung über die Wirksamkeit der luftreinhalterechtlichen Instrumente auf drei verschiedene Großstädte beschränkt. Die Städte Berlin, Stuttgart und Hamburg haben in der Vergangenheit Schwierigkeiten gehabt, den jährlich gemittelten

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

239

Stickstoffdioxidgrenzwert einzuhalten. Folglich eignen sich die entwickelten luftreinhalterechtlichen Instrumente dieser Städte besonders gut, um die Minderungspotenziale der Maßnahmen zu evaluieren. Im Lichte der Fragestellung, die Geeignetheit der Maßnahmen zu beurteilen, ist stets darauf zu achten, dass Verlagerungseffekte vermieden werden. Maßnahmen, die zwar zu einer Schadstoffreduktion führen, können dann nicht zur Erreichung des Schutzziels geeignet sein, wenn sie an anderer Stelle zu einer Grenzwertüberschreitung führen.218 aa) Gebietsbezogene Fahrverbote Dieselfahrzeuge haben einen Anteil von 43 % an der gesamten Stickstoffdioxidbelastung des Verkehrssektors.219 Daher bieten zonale Fahrverbote für Dieselfahrzeuge das größte Minderungspotenzial der verkehrsbezogenen Stickstoffdioxidimmissionen.220 Stuttgart ist die einzige Stadt in Deutschland, die ein gebietsbezogenes Fahrverbot für Dieselfahrzeuge unterhalb der Abgasnorm Euro 6 in der kleinen Umweltzone eingeführt hat.221 Folglich fehlen Erfahrungswerte anderer Städte. Bei zonalen Fahrverboten konnte je nach Messstelle für die Stadt Stuttgart ein Minderungspotenzial für das Jahr 2020 von 4 mg/m3 bis 7 mg/m3 der gesamten Immissionslast von NO2 prognostiziert werden.222 Spätere Messungen haben gezeigt, dass diese Prognose im Wesentlichen übertroffen werden konnte.223 Bei den späteren Messungen sollte der begünstigende Einfluss der Coronapandemie sowie der damit einhergehenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens nicht verkannt werden, so dass das tatsächliche Minderungspotenzial in etwa wie ursprünglich prognostiziert einzuordnen sein dürfte. Trotzdem ist die Wirksamkeit dieses Instruments beachtlich. bb) Streckenbezogene Fahrverbote Die grenzwertsenkende Wirkung dieses Instruments wird unterschiedlich bewertet, wenn auch im Ergebnis unstreitig als belegt angesehen.224 Es versteht 218 BVerwG, NVwZ 2018, 883 (890), Rn. 66; VGH München, ZUR 2018, 691 (696), Rn. 102. 219 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 84. 220 VG Berlin, 09.10.2018 – 10 K 207.16, BeckRS 2018, 24178, Rn. 62. 221 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 25; die kleine Umweltzone besteht aus einem kleinen Bereich, der innerhalb der stadtweiten großen Umweltzone liegt. 222 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 32. 223 Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, Jahreswerte 2020. 224 Regierungspräsidium Stuttgart, Ergänzung der 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplanes Stuttgart, S. 16; Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 131; Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 126, 130, 133.

240

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

sich von selbst, dass die Wirksamkeit von Fahrverboten umso stärker ist, desto mehr Fahrzeuge betroffen sind. So ist zu differenzieren, ob das Verkehrsverbot lediglich Dieselfahrzeuge der Schadstoffklasse Euro 4 und schlechter oder aber Dieselfahrzeuge der Schadstoffklasse Euro 5 und schlechter erfasst. In der Ergänzung der 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Stuttgart hat das Regierungspräsidium Stuttgart für die Messstelle Stuttgart – Am Neckartor, die seit vielen Jahren NO2-Grenzwertüberschreitungen verzeichnet, eine isolierte Immissionssenkung von 1,7 mg/m3 errechnet, wenn Durchfahrten für Dieselfahrzeuge der Schadstoffgruppe Euro 5 und schlechter an bestimmten Tagen verboten werden.225 Deutlich stärker wurde das Minderungspotenzial in der 4. Fortschreibung zum Luftreinhalteplan für die Stadt Stuttgart eingeschätzt, wenn ein streckenbezogenes Fahrverbot ganzjährig eingeführt wird. Die Prognose geht je nach Messstelle von einer Immissionsminderung zwischen 3 und 6 mg/m3 aus.226 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz des Landes Berlin, die eine Abnahme der Stickstoffdioxidimmissionen von 1,7 bis 7,5 mg/m3 ermittelt.227 Am stärksten hat die Freie und Hansestadt Hamburg die potenzielle Minderungswirkung in Höhe von 7,2 bis 14,1 mg/m3 beurteilt.228 cc) Umweltzonen Bei der Einführung eine Umweltzone ist zu bemerken, dass das Immissionsminderungspotenzial mit zunehmendem Zeitraum des Bestehens der Umweltzone stetig abnimmt, da die Fahrzeugflotte zu Gunsten einer schadstoffärmeren Fahrzeugflotte ausgetauscht wird.229 Somit ist der stärkste Effekt im Einführungsjahr zu erwarten.230 Das Land Berlin hat schon im Jahr 2008 eine Umweltzone eingeführt.231 Gegenüber dem Vorjahreszeitraum konnte eine Stickstoffdioxidabnahme in Höhe von 15 Prozent beobachtet werden.232 225 Regierungspräsidium Stuttgart, Ergänzung der 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplanes Stuttgart, S. 16. 226 Regierungspräsidium Stuttgart, 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 40. 227 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 131. 228 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 126, 130, 133. 229 UBA, Bestandsaufnahme und Wirksamkeit von Maßnahmen der Luftreinhaltung, S. 118. 230 UBA, Bestandsaufnahme und Wirksamkeit von Maßnahmen der Luftreinhaltung, S. 118. 231 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Luftreinhalteplan und Aktionsplan für Berlin 2005–2010, S. 28.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

241

Zu einer ähnlichen Prognose kam das Regierungspräsidium Stuttgart, das in der Stadt Stuttgart im Jahr 2010 eine Umweltzone festgelegt hat. Demnach sollte je nach Messstelle bis zum Jahr 2012 ein Rückgang der NO2-Immissionslast zwischen 10 % und 17 % eintreten.233 Am geringsten fiel die hypothetische Minderungserwartung in der Freien und Hansestadt Hamburg im Jahr 2012 aus, wo das Minderungspotenzial von Stickstoffdioxidimmissionen auf maximal 1,9 mg/m3 und im Durchschnitt auf 0,8 mg/m3 geschätzt wurde.234 Mitunter hatte sich zudem die Rechtsprechung zur Geeignetheit von Umweltzonen geäußert und diese unter Berücksichtigung von Gutachten als geeignetes Mittel zur Luftreinhaltung von Stickstoffdioxid eingeordnet.235 Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg nahm sogar eine Reduktion von 10 % bis 15 % der NO2-Immissionen an.236 Indem der Rückgang der Immissionslast insgesamt angenommen wird, stellt die Schutzmaßnahme mithin ein geeignetes Instrument dar. dd) Verbot des (Schwer-)Lastverkehrs Der Anteil der Lastkraftwagen mit einem zulässigen Gesamtgewicht über 3,5 Tonnen in Innenstädten schwankt und beträgt zwischen 1 und 4 %, wobei der Anteil im Durchschnitt 3 % ausmacht, auf Hauptverkehrsstraßen sogar 12 %.237 Trotz der verhältnismäßig geringen Fahrzeuganzahl sind Lastkraftwagen für 10 % der gesamten Immissionslast von Stickstoffdioxid verantwortlich.238 Durchfahrverbote von Lastkraftwagen gehen am Beispiel des Landes Berlin mit einem Rückgang der NO2-Immissionslast von 2,3 bis 11,5 % einher, was im Durchschnitt eine Immissionsminderung von 4,9 % bedeutet.239 In Mikrogramm ausgedrückt bedeutet dies einen Rückgang von 0,4 bis 2,2 mg/m3. Für die Stadt Stuttgart, die bereits im Jahr 2010 ein Durchfahrverbot für Lastkraftwagen eingeführt hatte, wurde die erwartete Immissionsminimierung von NO2 zwischen 232 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 123. 233 Regierungspräsidium Stuttgart, Fortschreibung des Aktionsplanes zur Minderung der PM10- und NO2-Belastung, S. 25. 234 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 73. 235 OVG Lüneburg, NordÖR 2011, 456 (458); VG Wiesbaden, Urt. v. 16.08.2012 – 4 K 165/12.WI, BeckRS 2012, 55841. 236 OVG Lüneburg, NordÖR 2011, 456 (458). 237 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 57, 82. 238 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 58. 239 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 130.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

2 und 9 % angegeben.240 Auch die Freie und Hansestadt Hamburg hat einschlägige Berechnungen durchgeführt. Im Jahr 2017 wurde für ein streckenbezogenes Durchfahrverbot des Lastverkehrs mit einer potentiellen NO2-Abnahme von 1,2 bis 4,7 mg/m3 bis zum Jahr 2020 bemessen.241 An anderen Messstellen erwartet die Freie und Hansestadt Hamburg bei streckenbezogenen Durchfahrverboten für Lastkraftwagen in Abhängigkeit zur Messstation eine Gesamtbelastungsreduktion des Stickstoffdioxids von 0,9 bis 3,2 mg/m3.242 Somit ist der Anteil an der gesamten Immissionslast erheblich und das Minderungspotenzial durchaus gewichtig. ee) Tempo 30 Bei einer Geschwindigkeitsbeschränkung von Tempo 50 auf Tempo 30 besteht das Ziel der Maßnahme darin, dass die Fahrzeuge nicht in kurzer Zeit auf 50 km/h beschleunigen, um im Anschluss sofort wieder abbremsen zu müssen, da der NO2-Ausstoß bei diesem Vorgang besonders intensiv ist. Daher ist eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h nur förderlich im Sinne einer Stickstoffverringerung, wenn der Verkehrsfluss gleichbleibend ist, was durch eine Koppelung der Ampelschaltungen mit Hilfe einer „grünen Welle“ sichergestellt werden kann.243 So sind Minderungspotenziale um mindestens 5 mg/m3, zum Teil sogar bis 12,8 mg/m3 zu erwarten.244 Im Land Berlin konnte durch die Einführung von Tempo 30 eine Abnahme von 5,8 bis 7,1 mg/m3 verzeichnet werden.245 Nicht so groß ist die Minderungsprognose der gesamten NO2-Immissionen in der Freien und Hansestadt Hamburg mit 1,1 bis 1,7 mg/m3 ausgefallen.246 Mit einer Tempo 40-Geschwindigkeitsbeschränkung hat die Landeshauptstadt Stuttgart das Instrument modifiziert angewendet und eine positive Erfahrung gemacht. Bei Verstetigung des Verkehrsflusses konnte eine Verringerung der Stickstoffdioxidimmissionen in Höhe von 11 mg/m3 verzeichnet werden.247 Eine Verringerung der Immissionslast ist durch dieses Instrument mithin objektivierbar. 240 Regierungspräsidium Stuttgart, Fortschreibung des Aktionsplanes zur Minderung der PM10- und NO2-Belastung, S. 25. 241 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 112. 242 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 126, 130, 133. 243 UBA, Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen, S. 14 f. 244 VG Berlin, 09.10.2018 – 10 K 207.16, BeckRS 2018, 24178, Rn. 78; UBA, Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen, S. 14 f. 245 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 123. 246 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 117. 247 Regierungspräsidium Stuttgart, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 8.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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ff) Softwareupdates, Hardwarenachrüstung sowie Betriebsuntersagungen Allein im Jahr 2015 hat das Kraftfahrt-Bundesamt einen verpflichtenden Rückruf von 2,4 Millionen Volkswagen-Fahrzeugen angeordnet.248 Die Zahl gibt zu erkennen, dass der Anteil der betroffenen Fahrzeuge gemessen an der gesamten Fahrzeugflotte (61,5 Millionen Fahrzeuge, Stichtag 01.01.2016)249 und damit auch an der gesamten Immissionslast von NO2 erheblich ist. Die Wirksamkeit von Softwareupdates wurde durch das Kraftfahrt-Bundesamt untersucht und in einem Bericht veröffentlicht.250 In der Untersuchung wurde der Realbetrieb auf der Straße simuliert.251 Auch berücksichtigen die einzelnen Untersuchungen die natürlichen Temperaturschwankungen der Außenluft.252 Leider differenziert der Bericht nicht zwischen den einzelnen Stickstoffdioxidschadstoffen, sondern fasst die Wirksamkeit unter der Schadstoffgruppe „NOx“ zusammen, wozu auch das hier relevante Stickstoffdioxid zählt. Beim verpflichtenden Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt konnte im Durchschnitt eine temperaturübergreifende Emissionsminderung von NOx in Höhe von 41 % bezogen auf alle betroffenen Fahrzeuge ermittelt werden.253 Für freiwillige Softwareupdates wird diese Emissionsminderung in Höhe von 59 % nochmals deutlich übertroffen.254 Eine andere Studie, die jedoch nur Berechnungen für zwei Messstellen jeweils in München und Stuttgart zum Gegenstand hatte, schätzt das Minderungspotenzial von Stickstoffdioxid durch Softwareupdates gemessen an der Gesamtimmission zwischen 3 bis 7 % ein.255 Schätzungen über die Wirksamkeit von Hardwarenachrüstungen, die abermals nur zwei Messstellen in zwei Städten untersucht haben, gehen von einer langfristigen Minderung der Gesamtimmissionen von NO2 zwischen 15 und 32 mg/m3 aus.256 Für Hardwarenachrüstungen von Dieselfahrzeugen der Schadstoffklasse Euro 5 konnte eine emissionsmindernde Wirkung von NOx in einer weiteren Un248

Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung vom 16.10.2015. Kraftfahrt-Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 8/2016, Der Fahrzeugbestand am 1. Januar 2016. 250 Kraftfahrt-Bundesamt, Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren. 251 Kraftfahrt-Bundesamt, Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren, S. 7 f. 252 Kraftfahrt-Bundesamt, Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren, S. 116. 253 Kraftfahrt-Bundesamt, Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren, S. 126. 254 Kraftfahrt-Bundesamt, Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren, S. 129. 255 UBA, Wirkung der Beschlüsse des Diesel-Gipfels auf die NO -Gesamtkonzentra2 tion, S. 4. 256 UBA, Ergänzung der Bewertung zu marktverfügbaren fahrzeugseitigen NO x Nachrüsttechnologien und Bewertung der Nachbesserung, S. 16 f. 249

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

tersuchung des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs nachgewiesen werden.257 So wurde im realen Betrieb während des Sommers je nach Fahrzeug eine Reduktion von 64 bis 80 % verzeichnet.258 Zudem lag die Reduktion im Herbst noch zwischen 51 und 77 % sowie im Winter immerhin noch zwischen 38 und 53 %.259 Eine grenzwertsenkende Wirkung kann aufgrund der derzeitigen Studienlage demnach angenommen werden. Bei fehlender Mängelbeseitigung verfügen die Zulassungsbehörden gem. § 5 Abs. 1 FZV eine Betriebsuntersagung. Von stickstoffdioxidbedingten Betriebsuntersagungen wurde in den letzten Jahren vermehrt Gebrauch gemacht.260 Allein im Jahr 2018 wurden im Zuge des Dieselabgasskandals 47.675 Betriebsuntersagungen angeordnet.261 Im Jahr 2020 ist diese Anzahl gesunken und betrug noch 6.977 Fälle.262 Indem diese Fahrzeuge vollständig vom öffentlichen Straßenverkehr ausgeschlossen werden, führen solche Betriebsuntersagungen zu einer Verringerung der Gesamtimmissionsbelastung von Stickstoffdioxid in Innenstädten. Die exakte Höhe der Minderung der NO2-Gesamtbelastung kann jedoch nicht bestimmt werden. Gemessen am Gesamtkraftfahrzeugbestand von etwa 59 Millionen Fahrzeugen263 ist der Anteil der Fahrzeuge, die eine Betriebsuntersagung erhalten haben, mit unter einem Prozent eher gering. Folglich sind die erwartbaren Schadstoffminderungen im unteren einstelligen Prozentbereich zu schätzen. Wenn auch gering, so ist dieses Schutzinstrument dennoch als förderlich anzusehen. gg) Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 sowie Förderung und Bevorrechtigung der Elektromobilität Privater Die prognostizierte Wirkung der Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 wurde punktuell für die einzelnen Maßnahmen in den einzelnen Luftreinhalteplänen berechnet. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat durch die Förderung und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum Jahr 2020 einen Rückgang der NO2-Immissionen von 0,0 bis maximal 0,5 mg/m3 berechnet.264 Im Fall des 257 ADAC Württemberg/ADAC, Überprüfung der Funktions- und Leistungsfähigkeit hardwareseitig umgerüsteter Euro 5-Dieselfahrzeuge im Alltagsbetrieb. 258 ADAC Württemberg/ADAC, Überprüfung der Funktions- und Leistungsfähigkeit hardwareseitig umgerüsteter Euro 5-Dieselfahrzeuge im Alltagsbetrieb, S. 9. 259 ADAC Württemberg/ADAC, Überprüfung der Funktions- und Leistungsfähigkeit hardwareseitig umgerüsteter Euro 5-Dieselfahrzeuge im Alltagsbetrieb, S. 10 f. 260 Kraftfahrt-Bundesamt, Rückrufe. 261 Kraftfahrt-Bundesamt, Rückrufe. 262 Kraftfahrt-Bundesamt, Rückrufe. 263 Kraftfahrt-Bundesamt, Bestand nach Fahrzeugklassen und Aufbauarten. 264 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 71.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

245

Hamburger Luftreinhalteplans ist zu beachten, dass sich die Minderungsprognosen über einen längeren Zeitraum vom Zeitpunkt der Planveröffentlichung im Jahr 2017 bis zum Jahr 2020 erstrecken. Der Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur könnte durch eine Verringerung des motorisierten Individualverkehrs zu einer Immissionsabnahme von 0,3 bis 0,7 mg/m3 NO2, die Förderung der Elektromobilität zu einer Abnahme von 0,2 bis 0,4 mg/m3 führen.265 Bei der Nachrüstung und Umrüstung schwerer kommunaler Nutzfahrzeuge wird ein Minderungspotenzial von 0,1 bis 0,2 mg/m3 erwartet.266 Zusammen mit einigen weiteren kommunalen Maßnahmen soll die diesen Maßnahmen zuzuschreibende Immissionsabnahme zwischen 1,8 bis 3,2 mg/m3 liegen.267 Anders als in Hamburg bezieht sich die Wirkung der Berechnungen im Luftreinhalteplan des Landes Berlin schon auf das Folgejahr. Saubere Fahrzeuge durch Elektrobusse, die Nach- und Umrüstung schwerer Kommunalfahrzeuge sowie die Verbesserung der Ladeinfrastruktur könnten demnach zu einer Verringerung der Stickstoffdioxidimmissionen von 1 bis 4 mg/m3 führen.268 Dafür wurde die erwartete Immissionsabnahme durch die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs sowie des Fuß- und Radverkehrs insgesamt lediglich auf unter 1 mg/m3 geschätzt.269 Indessen hat die Landeshauptstadt Stuttgart im Entwurf zur 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans einen Umweltverbund geplant.270 Zur Umsetzung des Umweltverbundes sollte der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut und gefördert werden.271 Zudem sollten kommunale Busse zur Verbesserung der Abgaswerte nach- und umgerüstet werden.272 Parallel war der Ausbau des Rad- und Fußverkehrs geplant.273 Der so geschaffene Umweltverbund sollte aus den im

265 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S.74, 89. 266 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 105. 267 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 109. 268 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 140–142. 269 Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, Luftreinhalteplan für Berlin. 2. Fortschreibung, S. 144 f. 270 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 103–109. 271 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 103–108. 272 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 106. 273 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 109.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Plan erwähnten Maßnahmen M3 bis M14 entstehen.274 Die Immissionsabnahme wurde aufgrund des Umweltverbundes stadtweit mit 2 mg/m3 prognostiziert.275 Weiterhin wurde durch die beabsichtigte Ersetzung der kommunalen Fahrzeugflotte durch Elektrofahrzeuge eine Verringerung der Immissionen in Höhe von 2 % berechnet, wobei die 2 % Minderungspotenzial nicht den Schadstoff NO2 abbildet, sondern die Gruppe der Stickoxide als Ganzes.276 Bezogen auf die Förderung der Elektromobilität von Privaten haben die Bundesländer sowie die Kommunen mit Ausnahme der Verbesserung der Ladeinfrastruktur sowie der Bevorrechtigung im Rahmen der Parkraumbewirtschaftung wenig Einflussmöglichkeiten. Zudem lässt sich die gewünschte Wirkung der Immissionsminderung nicht verlässlich beziffern. Der Anteil an zugelassenen elektrobetriebenen Personenkraftwagen ist zwar von 136.617 Fahrzeugen am 01.01. 2020 auf 309.083 Fahrzeuge zum Stichtag 01.01.2021 gestiegen, gemessen an der gesamten Fahrzeugflotte ist die prozentuale Steigerung von 0,3 auf 0,6 % jedoch als gering anzusehen.277 Darüber hinaus ist unmöglich messbar zu beurteilen, wie viele Personen ihre Kaufentscheidung von der staatlichen Förderung abhängig gemacht haben. Die Förderung mag zwar wahrscheinlich ursächlich für den Kauf des Elektrofahrzeugs gewesen sein, der genaue Einfluss lässt sich jedoch nicht belegen. Dennoch ist eine – nicht näher bezifferbare – fördernde Wirkung zu unterstellen. hh) Zwischenergebnis Eine den Schutzzweck fördernde Wirkung kann den einzelnen Schutzmaßnahmen zugesprochen werden. Die einzelnen Maßnahmen mögen zwar unterschiedliche Minderungspotenziale versprechen, unabhängig davon erweist sich das staatliche Schutzkonzept für die Einhaltung des Grenzwertes gleichwohl als geboten, da die Schadstoffkonzentration immissionsseitig verringert wird. d) Effektivität Zu überprüfen bleibt, ob das vorhandene staatliche Schutzkonzept im Ergebnis effektiv ist. Die Frage, ob der festgeschriebene Grenzwert auch durch für Drittbetroffene weniger intensive Schutzmaßnahmen erreicht werden kann, wie mitunter 274 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 103. 275 Zu der erwarteten Wirksamkeit des Umweltverbundes bezogen auf die Schadstoffabnahme: Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 110. 276 Regierungspräsidium Stuttgart, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, Entwurf, S. 114. 277 Kraftfahrt-Bundesamt, Der Fahrzeugbestand im Überblick am 1. Januar 2021 gegenüber dem 1. Januar 2020.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

247

gefordert wird,278 stellt sich vorliegend nicht, da die Verfassung nicht den wirksamsten Schutz fordert. Folglich wäre eine – spiegelbildlich zur abwehrrechtlichen Dimension – vorgenommene Prüfung des mildesten, aber mindestens gleich geeigneten Mittels unzutreffend, wenn nach dem wirksamsten, aber am wenigsten drittbeeinträchtigenden Mittel gesucht werden würde. Soweit sich das staatlich geschaffene Schutzkonzept im Rahmen des Korridors hält, der sich zwischen dem Übermaßverbot einerseits und dem Untermaßverbot andererseits befindet, fehlt dem Bundesverfassungsgericht jegliche Prüf- und Rügekompetenz. Innerhalb dieses Spielraums haben der Gesetzgeber sowie der Verordnungsgeber einen uneingeschränkten Einschätzungs-, Wertung- und Gestaltungsspielraum.279 Demgemäß muss das bestehende Schutzinstrumentarium zumindest insgesamt wirksam sein, um die schnellstmögliche Einhaltung des jährlich gemittelten NO2Grenzwerts sicherzustellen. Mit dem bisher untersuchten Maßnahmenkatalog kann die flächendeckende Einhaltung des jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwertes in Deutschland – zumindest bei kumulierter Anwendung – abstrakt eingehalten oder zumindest innerhalb eines Kalenderjahres erreicht werden. Unter Zugrundelegung der im letzten Kapitel dargelegten Minderungspotenziale der einzelnen Maßnahmen kann der Grenzwert selbst bei pessimistischer Prognose bei Anwendung der Maßnahmen grundsätzlich an jedem Ort in der Bundesrepublik Deutschland eingehalten oder binnen eines Jahres erreicht werden. Dies gilt sogar dann, wenn der pandemiebedingte Minderungseffekt unberücksichtigt bleibt, indem sicherheitshalber die Grenzwerte des Jahres 2019 zum Ausgangspunkt genommen werden.280 Das bestehende Schutzkonzept gewährleistet durch den jährlich gemittelten NO2-Grenzwert in Verbindung mit den aufgezeigten Maßnahmen einen effektiven Schutz der Grundrechtsgüter des Lebens sowie der körperlichen Integrität. e) Zwischenergebnis Insgesamt hat der Staat durch den Gesetzgeber sowie den Verordnungsgeber und die Rechtsprechung durch die Bereitstellung der bestehenden Schutzmaßnahmen ein wirksames Schutzkonzept installiert, das grundsätzlich in der Lage ist, die Menschen vor stickstoffdioxidbedingten Gesundheitsrisiken zu schützen. Sämtliche Schutzmaßnahmen haben sich zudem als verhältnismäßig im engeren Sinne erwiesen. Bei abstrakter Überprüfung der zur Verfügung gestellten Schutzmaßnahmen kann keine staatliche Schutzpflichtverletzung festgestellt werden.

278 279 280

Hierzu unter C. III. 3. b) cc). Hierzu unter C. III. 1. b) – C. III. 1. b) bb); C. III. 3. a). Hierzu unter B. III.

248

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

3. Konkrete Prüfung des Untermaßverbots Schließlich können staatliche Schutzpflichten auch verletzt werden, wenn die Landesverwaltungen das vorhandene rechtlich geschaffene Schutzkonzept nicht oder nicht ausreichend anwenden. Die staatliche Verpflichtung macht bei der Festsetzung eines Grenzwertes nicht halt, sondern erstreckt sich folglich auch auf die rechtsförmige Durchsetzung des Grenzwertes durch die Ergreifung wirksamer Schutzmaßnahmen, weshalb die Landesverwaltungen verpflichtet sind, im Wege einer Änderung des Luftreinhalteplans für die Erreichung des konkretisierten Schutzumfangs zu sorgen. Daher sind für den Vollzug erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, die einen Teil des bestehenden Schutzkonzeptes widerspiegeln.281 Hierbei können jedoch wegen des Gesetzesvorbehalts nur solche Maßnahmen berücksichtigt werden, die sich auf eine einfachgesetzliche und verhältnismäßige Ermächtigungsgrundlage stützen können. In der eingriffsabwehrrechtlichen Grundrechtsprüfung wird bei Urteilsverfassungsbeschwerden zuerst die Eingriffsgrundlage auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersucht, bevor in einem zweiten Schritt die verfassungsmäßige Anwendung der Eingriffsgrundlage im Einzelfall überprüft wird. Ähnlich, aber doch spiegelbildlich sollte das Prüfungsprogramm gemäß der Abbildung 2282 auch in der Schutzpflichtdimension vorgenommen werden. Danach sollte die mögliche Verletzung des Untermaßverbots durch das abstrakte Schutzkonzept und die Verletzung des Untermaßverbots durch die konkrete (Nicht-)Anwendung dieses Schutzkonzeptes getrennt vorgenommen werden. Es reicht somit nicht aus, lediglich die rechtlich geschaffenen Schutzinstrumente zu betrachten. Staatlicher Schutz kann darüber hinaus auch an der fehlenden oder unzureichenden Umsetzung der Schutzmaßnahmen im Einzelfall versagen. Der Staat hat bei der Umsetzung einer staatlichen Schutzpflicht ein Ermessen, weshalb die gerichtliche Kontrolle eingeschränkt ist.283 Die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht erstreckt sich jedoch bei Anwendung des Untermaßverbotes dahingehend auf die Ermessensüberprüfung, dass das bestehende Schutzkonzept einen wirksamen Schutz bieten muss.284 Auf der Prüfungsebene der konkreten Anwendung des Schutzkonzeptes bedeutet dies, dass die Exekutive ein Auswahlermessen bezüglich der ergreifbaren Schutzmaßnahmen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat demnach zu überprüfen, ob eine Ermessensunterschreitung oder sogar ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt.

281 282 283 284

Hierzu schon unter D. II. 2. Hierzu unter C. III. 3. b) ee). Hierzu unter C. III. 1. b) – C. III. 1. b) bb); C. III. 3. a). Hierzu unter C. III. 3. b) ee).

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

249

Die durch das Umweltbundesamt für das Jahr 2020 veröffentlichten Luftqualitätsdaten der deutschen Messstationen weisen zum Teil pandemiebedingt nur an sieben Messstellen Überschreitungen des jährlich gemittelten NO2-Grenzwertes auf:

Abbildung 3: Überschreitungen des jährlich gemittelten NO2-Grenzwerts im Jahr 2020.285

Bei der Durchsicht der verschiedenen Luftreinhaltepläne der betroffenen Städte zeigt sich, dass die Bundesländer zahlreiche Schutzmaßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität ergriffen haben. Innerhalb der abstrakten Prüfung des bestehenden Schutzkonzepts wurde bereits festgestellt, dass sich sämtliche Schutzmaßnahmen abstrakt als angemessen erwiesen haben. Daher ist in der nachfolgenden konkreten Prüfung des Untermaßverbots hauptsächlich die Effektivität der ergriffenen Schutzmaßnahmen zweifelhaft. a) Darmstadt Für die Stadt Darmstadt ist auffällig, dass trotz ambitionierter Maßnahmen im Luftreinhalteplan im Jahr 2020 noch eine Grenzwertüberschreitung bei jährlich gemittelten 42 mg/m3 an der Messstelle „Hügelstraße I“ zu verzeichnen ist.286 So wurde selbst im Bereich der Hügelstraße ein streckenbezogenes Fahrverbot für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 und schlechter und für ottobetriebene Fahrzeuge der Abgasnormen Euro 0 bis 2 vorgesehen und später auch angeordnet.287 Eine Prognose über die Ausgestaltung des streckenbezogenen Fahrverbots sah in einer Variante ein Minderungspotenzial von 27,2 mg/m3 bei einer Ausnahme der nachgerüsteten Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 vor.288 Zudem wurde eine zweite Variante berechnet, in der pauschal 20 % derjenigen Fahrzeuge 285

UBA, Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2020. UBA, Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2020. 287 Hessisches Ministerium, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für den Ballungsraum Rhein-Main, S. 63–65. 288 Hessisches Ministerium, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für den Ballungsraum Rhein-Main, S. 74. 286

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Ausnahmen erhalten können, die eigentlich vom Verbot erfasst sind. Diese Variante würde zu einer NO2-Abnahme von 24,8 mg/m3 führen.289 Das Hessische Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz als planaufstellende Behörde entschied sich für die zweite Variante.290 Dadurch, dass der Grenzwert an der betroffenen Messstelle dauerhaft nicht eingehalten wird, wird der Zeitraum der Grenzwertüberschreitung nicht so kurz wie möglich gehalten, weil die angewendeten Maßnahmen – trotz des begünstigenden Pandemieeinflusses – nicht ausreichend wirken. Die ergriffenen Maßnahmen haben folglich noch immer nicht ausgereicht, um im Jahr 2020 für eine dem Untermaßverbot gerecht werdende Luftqualität zu sorgen. Darüber hinaus sind die ergreifbaren Schutzmaßnahmen noch nicht erschöpft gewesen. So hätte von der Ausnahmegenehmigung für nicht nachgerüstete Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 deutlich restriktiver Gebrauch gemacht werden können. Zudem wäre an ein zonales Fahrverbot bestimmter Dieselfahrzeuge zu denken gewesen, damit eine Verbesserung der Luftqualität angrenzender Straßenzüge zu einer Verringerung der Immissionslast an der betroffenen Messstelle geführt hätte. Auch der Einsatz von Stickstoffdioxid-Filtersäulen hätte einen positiven Effekt haben können.291 Da keine weitergehenden Instrumente oder Effektivierungen der ergriffenen Maßnahmen durch eine Fortschreibung des Luftreinhalteplans erfolgen, wurde durch das tatsächliche Schutzniveau das Untermaßverbot verletzt. b) Freie und Hansestadt Hamburg Die Freie und Hansestadt Hamburg wies an der Messstelle „Habichtstraße“ eine leichte Grenzwertüberschreitung bei jährlich gemittelten 41 mg/m3 während des Jahres 2020 auf.292 Der im Luftreinhalteplan im Jahr 2017 angekündigte Einsatz emissionsarmer Busse vermochte die Einhaltung des Grenzwertes nicht sicherzustellen.293 Sämtliche in Betracht kommenden ordnungsrechtlichen Schutzinstrumente wurden unter Verweis der vermeintlichen Unverhältnismäßigkeit verworfen, obwohl die von diesen Maßnahmen erwarteten Immissionsminderungen als erheblich angesehen wurden.294 In welcher Weise weitergehende Maßnahmen in einer Unverhältnismäßigkeit münden würden, wurde nicht begründet. Da sich 289 Hessisches Ministerium, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für den Ballungsraum Rhein-Main, S. 74. 290 Hessisches Ministerium, 3. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für den Ballungsraum Rhein-Main, S. 75. 291 Vgl. Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 20. 292 UBA, Stickstoffdioxid (NO ) im Jahr 2020. 2 293 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 126. 294 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 126.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates gegenüber den Grundrechten Dritter sowie öffentlichen Interessen behaupten muss, können auch nur Grundrechte Dritter und öffentliche Belange entgegenstehen. Eine sich durch die möglichen Schutzmaßnahmen ergebende Unverhältnismäßigkeit konnte indes nicht erkannt werden.295 Durch die Anordnung ordnungsrechtlicher Instrumente wie Durchfahrverbote oder Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge wäre zudem keine zusätzliche Grenzwertüberschreitung an anderer Stelle eintreten.296 Bisher hat die Freie und Hansestadt Hamburg als einzige Stadt in Deutschland keine Umweltzone, da auch der aktuelle Luftreinhalteplan keine Umweltzone vorsieht.297 Zudem sieht der Luftreinhalteplan für die betroffene Messstelle keine weiteren Schutzmaßnahmen vor. Das Maßnahmenprogramm Saubere Luft 2017–2020 konnte an der betroffenen Messstation im Jahr 2020 offenkundig auch keine ausreichende Wirkung entfalten. Zudem wird der Umstand, dass hauptsächlich Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung ergriffen wurden, dem Untermaßverbot in der Regel ebenso wenig gerecht.298 In Ermangelung einer weiteren Fortschreibung des Luftreinhalteplans seit dem Jahr 2017 ist das Untermaßverbot im Jahr 2020 als verletzt anzusehen, da eine Vielzahl an hypothetischen und verhältnismäßigen Schutzmaßnahmen nicht ergriffen wurde. c) Limburg a. d. Lahn Auch in Limburg a. d. Lahn wurde der Grenzwert an der Messstation „Schiede I“ mit 44 mg/m3 gemittelt pro Kalenderjahr im Jahr 2020 deutlich überschritten.299 In der 1. Fortschreibung des Luftreinhalteplans wurden – mit Ausnahme der Einführung einer Umweltzone – hauptsächlich Schutzmaßnahmen ergriffen, die dem Maßnahmenprogramm Saubere Luft 2017–2020 zuzuordnen sind.300 Mit der Einhaltung des Grenzwertes an der betroffenen Messstelle wurde erst im Jahr 2022 gerechnet.301 Mit diesem Vorgehen wird der Zeitraum der zu hohen Schadstoffbelastung mangels Ausschöpfung aller verhältnismäßigen Schutzmaßnahmen nicht so kurz wie möglich gehalten, was zu einer Verletzung des Untermaßverbots führt. 295

Hierzu unter D. II. 2. a). Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung), S. 127. 297 Behörde für Umwelt und Energie, Luftreinhalteplan für Hamburg (2. Fortschreibung). 298 Kloepfer/Durner, Umweltschutzrecht, § 4, Rn. 61. 299 UBA, Stickstoffdioxid (NO ) im Jahr 2020. 2 300 Hessisches Ministerium, 1. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg, S. 45, 68. 301 Hessisches Ministerium, 1. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg, S. 69. 296

252

D. Anwendung auf das Fallbeispiel

Sehr ambitioniert sind hingegen die im aktuellen Entwurf zur 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans vorgesehenen weitergehenden Instrumente einzuordnen: Durch die Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 40 kann bereits eine Minderung von 1,4 mg/m3 erreicht werden, was jedoch zusammen mit den ergriffenen Maßnahmen noch nicht ausreichen wird, eine Grenzwertüberschreitung zu vermeiden.302 Vorgesehen ist darüber hinaus ein streckenbezogenes Fahrverbot für mit einem Ottomotor betriebene Fahrzeuge der Abgasnorm Euro 2 und schlechter, für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 und schlechter sowie für schwere dieselbetriebene Nutzfahrzeuge ab einem zulässigen Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen ab der Abgasnorm Euro 5 und schlechter.303 Zusammen mit den ergriffenen Maßnahmen und dem beabsichtigten Tempo 40 wurde eine Abnahme von 9,4 mg/m3 prognostiziert, so dass der Grenzwert schon im Jahr 2022 sicher eingehalten werden könnte.304 Darüber hinaus sind aufgrund der Maßnahmen keine Grenzwertüberschreitungen an anderen Straßen durch Verkehrsverlagerungen zu befürchten.305 Insgesamt sind die weitergehenden geplanten Schutzinstrumente geeignet, den Grenzwert schnellstmöglich einzuhalten und im Übrigen auch in ihrer konkreten Anwendung verhältnismäßig.306 Sollte der Entwurf veröffentlicht und damit bestandskräftig werden, wird das Untermaßverbot folglich nicht weiter verletzt. d) Ludwigsburg An der Ludwigsburger Messstelle „Schlossstraße“ wurde ein jährlich gemittelter Wert von 47 mg/m3 NO2 gemessen.307 Damit weist die Messstelle die zweithöchste Überschreitung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2020 auf. Zur Klarstellung sollte erwähnt werden, dass es sich um eine Messstation handelt, die erst im vierten Quartal 2019 aufgestellt wurde.308 Seit dem Jahr 2013 besteht in der Stadt Ludwigsburg eine großflächige Umweltzone.309 302 Hessisches Ministerium, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg. Entwurf, S. 104. 303 Hessisches Ministerium, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg. Entwurf, S. 107. 304 Hessisches Ministerium, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg. Entwurf, S. 113. 305 Hessisches Ministerium, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Limburg. Entwurf, S. 112. 306 Vgl. hierzu schon unter D. II. 2. d). 307 UBA, Stickstoffdioxid (NO ) im Jahr 2020. 2 308 Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 21.04.2021. 309 Regierungspräsidium Stuttgart, 1. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Ludwigsburg, S. 29.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

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Die 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Ludwigsburg aus dem Jahr 2019 erfasst ein bereits eingeführtes LKW-Durchfahrtsverbot für bestimmte Straßen, nicht hingegen die Schlossstraße.310 Auch wurde die Aufstellung von Stickstoffdioxid-Filtersäulen vorgesehen.311 Des Weiteren wurden Maßnahmen des Maßnahmenprogramms Saubere Luft 2017–2020 sowie die Förderung der Elektromobilität in den Plan aufgenommen.312 Auf den Einsatz weiterer Instrumente direkter Verhaltenssteuerung wurde bisher verzichtet. An der neu eingerichteten betroffenen Messstelle „Schlossstraße“ besteht weder ein LKWDurchfahrtsverbot noch ein streckenbezogenes oder zonales Fahrverbot für bestimmte Dieselfahrzeuge. Ohne eine weitere Fortschreibung des Luftreinhalteplans, der neue wirksame Schutzmaßnahmen aufnimmt, wird das Untermaßverbot verletzt. Am 28.05.2021 hat das Bundesverwaltungsgericht das Land BadenWürttemberg verurteilt, den Luftreinhalteplan wegen einer fehlerhaften Planprognose fortzuschreiben.313 Wegen der abschließenden Tatsachenfeststellung der Vorinstanz konnte das Bundesverwaltungsgericht die „neue“ Grenzwertüberschreitung nicht mehr berücksichtigen.314 Um das Untermaßverbot noch zu wahren, sollte das Regierungspräsidium Stuttgart die Grenzwertproblematik in der Schlossstraße bei der Fortschreibung des Luftreinhalteplans durch effektive Schutzmaßnahmen ergänzen. e) München Trotz der die Luftqualität begünstigenden Pandemieauswirkungen liegt die Grenzwertüberschreitung der Münchener Messstelle „Landshuter Allee“ bei 54 mg/m3 NO2 im Kalenderjahr 2020.315 Die betroffene Messstation befindet sich auf dem Münchener Altstadtring, der eine wichtige Funktion im Münchener Verkehrsnetz wahrnimmt. Mit dieser Messung liegt die höchste Grenzwertüberschreitung des Jahres 2020 im gesamten Bundesgebiet vor.316 Die im Jahr 2019 aufgestellte 7. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt München legt dar, dass seit 2008 eine Umweltzone sowie ein LKW-Durchfahrtsverbot bestehen.317 Außerdem wurde eine Geschwindigkeitsbeschränkung 310 Regierungspräsidium Stuttgart, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Ludwigsburg, S. 22. 311 Regierungspräsidium Stuttgart, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Ludwigsburg, S. 30. 312 Regierungspräsidium Stuttgart, 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans für die Stadt Ludwigsburg, S. 25. 313 BVerwG, Urt. v. 28.05.2021 – 7 C 2.20, BeckRS 2021, 29039. 314 BVerwG, Urt. v. 28.05.2021 – 7 C 2.20, BeckRS 2021, 29039, Rn. 35. 315 UBA, Stickstoffdioxid (NO ) im Jahr 2020. 2 316 Vgl. hierzu unter D. II. 3., Tabelle 2. 317 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan für die Stadt München, 7. Fortschreibung, S. 56.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

von 60 auf 50 km/h auf der Landshuter Allee angeordnet.318 Darüber hinaus sind Maßnahmen des Sofortprogramms Saubere Luft 2017–2020 oder vergleichbare Maßnahmen sowie die Förderung der Elektromobilität ergriffen worden.319 Als Schutzmaßnahme wurde ein streckenbezogenes Fahrverbot für die Landshuter Allee für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 und schlechter in Betracht gezogen.320 Durch diese Maßnahme wurde eine Abnahme von 15 mg/m3 NO2 für das Jahr 2019 Kalenderjahr erwartet.321 Nach den Erläuterungen der Regierung von Oberbayern erweist sich ein streckenbezogenes Fahrverbot nachvollziehbar nicht als geeignetes Schutzmittel, da die durch das Verkehrsverbot eintretenden Verkehrsverlagerungen zu erstmaligen Grenzwertüberschreitungen oder zu Erhöhungen bestehender Überschreitungen an anderen Messstellen führen würden.322 Letztlich würde ein solches Fahrverbot sich auch als unverhältnismäßig erweisen.323 Auffällig ist dabei, dass kein Grundrecht genannt wird, welches durch das Verkehrsverbot betroffen sein kann. Sodann fehlt eine grundrechtsbezogene Abwägung vollständig, da lediglich Privatinteressen und allgemeine Beeinträchtigungen erörtert werden.324 Wie bereits dargelegt wurde, führt ein solches Instrument in der Regel zu keinen Grundrechtsverletzungen, soweit Ausnahme- und Härtefallregelungen vorhanden sind.325 Die Unverhältnismäßigkeit kann daher nicht das Kriterium sein, das gegen diese Maßnahme spricht. Unabhängig von der Unverhältnismäßigkeit würden öffentliche Interessen am motorisierten Individualverkehr gegenüber dem Gesundheitsschutz überwiegen.326 Dabei ist anzumerken, dass eine Gewichtung zwischen dem Gesundheitsschutz sowie dem öffentlichen Interesse an einem motorisierten Individualverkehr wegen des hohen Verfassungsrangs zu Gunsten des Gesundheitsschutzes ausfallen sollte.327 Insofern stellt sich diese Abwägung als unzutreffend dar. Auf318 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 56–58. 319 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 56–58. 320 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 68. 321 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 68. 322 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 68. 323 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 71–73. 324 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 71–73. 325 Hierzu unter D. II. 2. a). 326 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan schreibung, S. 71. 327 Vgl. hierzu unter D. II. 2. a) aa) (5).

für die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fortfür die Stadt München, 7. Fort-

für die Stadt München, 7. Fort-

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

255

grund der fehlenden Geeignetheit verletzt die Nichtanwendung dieses Instruments jedoch nicht das Untermaßverbot. Auch ein zonales Fahrverbot wird durch die Regierung von Oberbayern als unverhältnismäßig eingestuft und deshalb nicht ergriffen.328 Diese Auffassung ist nicht überzeugend, da zonale Fahrverbote verhältnismäßig sein können. Das in Stuttgart geltende zonale Fahrverbot hat sich ebenfalls als verhältnismäßig erwiesen.329 Wie gezeigt wurde, sind gebietsbezogene Fahrverbote grundsätzlich verhältnismäßig, wenn Ausnahme- und Härtefallregelungen bestehen.330 Die Abwägung ist nicht nur deshalb zu kritisieren, weil die vermeintlich betroffenen Grundrechte der Fahrzeugführer und -halter nicht benannt werden, sondern weil eine Minderungsprognose dieses Instruments gänzlich fehlt. Zudem wird das Gesundheitsrisiko, welches bei Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid besteht, nicht nur verharmlost, sondern grundsätzlich in Frage gestellt und deshalb in die Verhältnismäßigkeitsprüfung integriert.331 Diese Erläuterungen stehen im klaren Widerspruch zum Stand der epidemiologischen Forschung, die den jährlich gemittelten Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 mg/m3 als absolute Mindestschutzgrenze für die menschliche Gesundheit einordnet.332 Die Argumentation trägt dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in verhältnismäßiger Weise Rechnung, zumal der aktuelle Grenzwert nach derzeitigem Kenntnisstand der Wissenschaft und Forschung eher verschärft werden sollte.333 Trotz der mutmaßlich großen Fläche und in der Folge großen Betroffenenanzahl des in Betracht kommenden zonalen Verkehrsverbots wird der Gesundheitsschutz zu wenig gewichtet. Ein Fahrverbot für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm 5 und schlechter führt indes nicht dazu, dass kein individueller motorisierter Verkehr mehr ermöglicht wird, da alle anderen Fahrzeuge weiterhin fahren dürfen. Für Anwohner und den Lieferverkehr sind zudem Ausnahme- und Härtefallregelungen zu ergreifen. Der Einwand, dass auch „Nichtstörer“ vom zonalen Fahrverbot erfasst werden, die mit der konkreten Messstelle bisher keine Berührungspunkte hatten, ist jedem zonalen Fahrverbot immanent, weshalb dieses Instrument nur als äußerstes Mittel angewendet werden darf.334 Die Tatsache, dass mitunter Fahrzeugfahrer erfasst werden, die an der Grenzwertüberschreitung unbeteiligt sind, steht der Anwendung des Instruments jedenfalls nicht grundsätzlich entgegen. Ob es bei befürchteten Verlage328 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan für die Stadt München, 7. Fortschreibung, S. 73. 329 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 21, 41 f., 45, juris. 330 Hierzu unter D. II. 2. a) aa). 331 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan für die Stadt München, 7. Fortschreibung, S. 73 f. 332 Hierzu unter B. VI – B. VII. 333 Hierzu unter B. VIII. 334 BVerwG, Urt. v. 27.02.2018 – 7 C 30/17, Rn. 21, 41 f., 45, juris.

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

rungseffekten zu anderweitigen Grenzwertüberschreitungen kommt, wurde nicht berechnet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Verlagerungseffekte nur von kurzer Dauer sein werden, da die Betroffenen sich schadstoffärmere Fahrzeuge zulegen werden, womit die Fahrzeugflotte im Ganzen erneuert wird.335 Zudem sind auch weitere Schutzmaßnahmen denkbar, wie eine weitere Beschränkung der Geschwindigkeit von 50 auf 40 oder gar 30 km/h oder aber Stickstoffdioxid-Filtersäulen. Trotz der bestehenden und geplanten Schutzmaßnahmen kann die Messstation „Landshuter Allee“ den Grenzwert laut Prognose erst im Jahr 2026 einhalten.336 Dieser Zeitraum wird mithin bewusst nicht so kurz wie möglich gehalten, da verfassungsgemäße Schutzinstrumente wie das zonale Fahrverbot nicht ergriffen werden. Folglich wird das Untermaßverbot zurzeit auch in der Stadt München verletzt. f) Stuttgart Die Landeshauptstadt Stuttgart hat im Jahr 2020 an zwei Messstationen Grenzwertüberschreitungen zu verzeichnen.337 So betrug der jährlich gemittelte NO2Grenzwert an der Station „Pragstraße“ 43 mg/m3 sowie an der Messstelle „Talstraße“ 41 mg/m3.338 Jedoch wurden bereits zahlreiche – auch ordnungsrechtliche Instrumente – ergriffen, die im Folgenden genauer betrachtet werden. Von allen Städten in Deutschland wurden in Stuttgart besonders viele Anstrengungen unternommen, die Luftqualität zu verbessern, was sich aus den zahlreichen Fortschreibungen des Luftreinhalteplans ergibt. Am wirksamsten hat sich dabei das zonale Fahrverbot für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm Euro 5 und schlechter in der kleinen Umweltzone erwiesen.339 Beide Messstellen liegen zudem in der kleinen Umweltzone. Im Vergleich zu einem entsprechendem Dieselfahrverbot in der großen Umweltzone haben Berechnungen ergeben, dass das Verbot in der kleinen Umweltzone eine bessere Wirkung erzielt als in der großen Umweltzone.340 Zudem wurde schon im Jahr 2010 eine Umweltzone eingerichtet sowie ein Durchfahrverbot für Lastkraftwagen für einen großen Bereich des Stadtgebiets eingeführt.341 335

Vgl. UBA, Bestandsaufnahme und Wirksamkeit von Maßnahmen der Luftreinhaltung, S. 118. 336 Regierung von Oberbayern, Luftreinhalteplan für die Stadt München, 7. Fortschreibung, S. 133. 337 UBA, Stickstoffdioxid (NO ) im Jahr 2020. 2 338 Vgl. hierzu unter D. II. 3., Tabelle 2. 339 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 25. 340 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 32. 341 Regierungspräsidium Stuttgart, Fortschreibung des Aktionsplanes zur Minderung der PM10- und NO2-Belastung, S. 25.

II. Anwendung des Untermaßverbotes auf das Fallbeispiel

257

Im Luftreinhalteplan wurde die Grenzwertproblematik der Messstelle „Pragstraße“ damit gerechtfertigt, dass sich die Schadstoffbelastung perspektivisch durch den Bau des Rosensteintunnels erledigen würde.342 Der Rosensteintunnel wird jedoch frühestens im Jahr 2024 fertiggestellt werden.343 Da die Grenzwertüberschreitung so kurz wie möglich gehalten werden muss, hat dieses Bauprojekt mangels (zeitnaher) Effektivität nicht ausgereicht, um dem Untermaßverbot zu entsprechen. Zusätzlich wurde in der Pragstraße bereits eine Tempo 40-Geschwindigkeitsbeschränkung eingeführt.344 Auch wurden an dieser Straße Stickstoffdioxid-Filtersäulen aufgestellt.345 Diese Bestandsaufnahme bedeutet jedoch nicht, dass keine weitergehenden Schutzmaßnahmen hätten ergriffen werden können. Zunächst blieb die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen von bestehenden Verkehrsverboten im Einzelfall restriktiver zu erteilen. Zudem hätte eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Tempo 30, soweit sich eine konkrete Prognose als wirksam erwiesen hätte, angeordnet werden können. Weiterhin hätte die städtische Hintergrundbelastung, die sich auf die Messstelle ausgewirkt, auch durch verkehrsunabhängige Maßnahmen gegenüber der Industrie oder der Gebäudeeigentümer verbessert werden können. Was die Talstraße betrifft, so wurde auch hier eine Geschwindigkeitsreduzierung auf Tempo 40 angeordnet.346 Soweit ersichtlich, wurde in der Talstraße von der Schutzmaßnahme der Stickstoffdioxid-Filtersäulen bisher kein Gebrauch gemacht. Ergänzend hätte auch in der Talstraße eine weitere Geschwindigkeitsreduzierung eine Wirkung erzielen können. Die bis zum Jahr 2020 ergriffenen Schutzmaßnahmen waren nicht in der Lage, die Grenzwertüberschreitungen an den beiden betroffenen Messstationen so kurz wie möglich zu halten, weshalb das Untermaßverbot in der Stadt Stuttgart verletzt wurde. 4. Zwischenergebnis Durch die konkrete Anwendung des bestehenden Schutzkonzeptes wurde in manchen Bundesländern gegen das Untermaßverbot verstoßen, da die rechtlich vorhandenen Schutzinstrumente nicht immer ausgeschöpft wurden. Eine hypo-

342 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 33. 343 Landeshauptstadt Stuttgart, Fragen und Antworten. 344 Regierungspräsidium Stuttgart, 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 44. 345 Regierungspräsidium Stuttgart, 5. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 20. 346 Regierungspräsidium Stuttgart, 4. Fortschreibung des Luftreinhalteplans Stuttgart, S. 44 (Hinweis zur Fundstelle: die Talstraße ist eine Vorfahrtsstraße. Sie liegt im sogenannten Talkessel, weshalb die Talstraße von der Tempo 40-Verkehrsbeschränkung erfasst ist).

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D. Anwendung auf das Fallbeispiel

thetische Erhöhung des tatsächlichen Schutzniveaus durch Anwendung des rechtlich vorhandenen Instrumentariums hätte zudem – wie gezeigt werden konnte – nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen.

III. Ergebnis Der Gesetzgeber hat zusammen mit der Rechtsprechung durch die bestehende Rechtsordnung zahlreiche Mittel zur Schutzzielerreichung bereitgestellt. Jedoch haben die Bundesländer von den Maßnahmen mitunter zu selten und nicht im ausreichenden Ausmaß Gebrauch gemacht. Das verfassungsrechtlich zu gewährleistende Schutzniveau scheitert schließlich zu häufig an der Staatspraxis der planaufstellenden Landesbehörden sowie der Kommunen, was teilweise zu Schutzpflichtverletzungen im Jahr 2020 geführt hat. Das Bundesverfassungsgericht müsste im Fall einer zulässigen Verfassungsbeschwerde die Feststellung der Schutzpflichtverletzung tenorieren.347 Eine Nichtigerklärung des betroffenen Luftreinhalteplans kommt indes nicht in Betracht, da das bestehende Schutzniveau dadurch weiter abgesenkt werden würde.348 Die Frage, ob ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, stellt sich für das Bundesverfassungsgericht nicht, da mehrere weitergehende und wohl auch wirksame Schutzmaßnahmen ergriffen werden können.349 Die bisherigen Bemühungen, die Schutzdimension regelmäßig aus dem Grundrechtsschutz zu verbannen, führt zu einem Vollzugsdefizit, was auch im Umweltrecht zu beklagen ist.350 Umweltschutz und Gesundheitsschutz lassen sich im Fall von Grenzwerten, die sowohl die menschliche Gesundheit als auch die Umwelt schützen, nicht voneinander trennen. Eine Schutzpflichtverletzung ist jedoch vor dem Bundesverfassungsgericht justiziabel. Das nötige subjektiv-öffentliche Recht ergibt sich unmit-

347

BVerfGE 39, 1 (2); BVerfGE 88, 203 (208). Möstl, DÖV 1998, 1029 (1039). 349 Im Fall des Verbleibens einer einzigen wirksamen Schutzmaßnahme könnte das Bundesverfassungsgericht den staatlichen Akteur verpflichten, diese bestimmte Maßnahme zu ergreifen: BVerfG, NJW 1977, 2255; Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 2 Nr. 1, Rn. 83; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 520, 523; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191, Rn. 219, 295; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 107. 350 Zum Vollzugsdefizit im Umweltrecht: Fisahn, in: Butterwegge/Lösch/Ptak, Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, S. 164 ff.; Hansmann/Röckinghausen, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, BImSchG, § 52, Rn. 1; Karl, in: Kirchengast/Schulev-Steindl/Schnedl, Klimaschutzrecht zwischen Wunsch und Wirklichkeit, S. 171 (171 f.); Ziehm, ZUR 2010, 411 ff. 348

III. Ergebnis

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telbar aus dem Grundrecht des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Indem dadurch automatisch der Umweltschutz in die verfassungsgerichtliche Prüfung integriert wird, vollzieht sich das europäische Umweltrecht durch das nationale Verfassungsrecht. Die Grundrechtsträger werden so in gewisser Weise zugleich zum Motor des europäischen Umweltrechts aktiviert.

E. Endergebnis Insgesamt ist das Untermaßverbot zum Teil durch die nicht ausreichende Anwendung des staatlichen Schutzkonzeptes unterschritten worden. Damit ist eine staatliche Schutzpflichtverletzung feststellbar. Die kommunalen Vollzugsbehörden, die für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen zuständig sind, müssen für die Schaffung und Einhaltung eines höheren Schutzniveaus sorgen, wobei die Auswahl der dafür in Betracht zu ziehenden Schutzmaßnahmen im Ermessen der Behörden liegt.

F. Schlussbetrachtung und Ausblick Durch das Bundesverfassungsgericht wird die Perspektive der Schutzbedürftigen bisher viel zu selten in den Fokus genommen, weshalb sich bisher auch keine zufriedenstellende Verfassungsdogmatik herausgebildet hat. Auf der Spurensuche der Verfassungsdogmatik einer Schutzpflichtdimension bleibt festzuhalten, dass das Grundgesetz bereits sämtliche Lösungen für eine umfangreiche Schutzgewährleistung bietet. Die grundrechtliche Schutzfunktion wird jedoch von verfassungsgerichtlicher Seite nicht im Ansatz erschöpfend genutzt. Bei einem Teil der Leserschaft dürfte sich indes Ernüchterung ausbreiten, wenn vergegenwärtigt wird, mit welcher äußersten Zurückhaltung die Schutzpflicht in der Rechtsprechung, in der Lehre sowie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum behandelt wird, obwohl hierfür keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Einwände festgestellt werden können. Beim Beharren auf einer rein liberalen Grundrechtstheorie droht der hochgehaltene Freiheitsanspruch leicht am unzureichenden staatlichen Schutz als der Freiheit vorgelagerte Voraussetzung zu zerbrechen. Für Teile der Bevölkerung bleibt die grundrechtlich verbriefte Freiheitsausübung zunehmend von hypothetischer Natur, wird tatsächlich gar unerreichbar. Im Ergebnis ist nicht nachvollziehbar, weshalb den verfassungsrechtlichen Ansprüchen der „Störer“, welche ihre grundrechtlichen Freiheitsbereiche ausleben (können), prinzipiell ein höhergewichteter Grundrechtsschutz zugesprochen wird als den schutzbedürftigen „Opfern“. Dieser Befund führt zu der Einsicht, dass den schutzbedürftigen Grundrechtsträgern in aller Regel ein ausreichender Grundrechtsschutz vorenthalten wird. Kritisch sollte zudem gesehen werden, dass staatliche Untätigkeit verfassungsrechtlich zu Gunsten der Freiheitsrechte belohnt wird, wohingegen staatliches Handeln in Form von Grundrechtseingriffen in die Freiheitsrechte betroffener Dritter durch das Bundesverfassungsgericht kassiert werden kann. So gesehen kann die verfassungsgerichtlich abgesicherte Privilegierung der gesetzgeberischen Untätigkeit sogar zu einer Lähmung des Parlaments führen, um einer drohenden Niederlage im Fall der gesetzgeberischen Tätigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht zu entgehen. Was die grundrechtlichen Gesundheitsrisiken durch eine dauerhafte Überschreitung von Stickstoffdioxidgrenzwerten anbelangt, so hat der Staat ein umfassendes Instrumentengefüge bereitgestellt, um die Luftqualität möglichst schnell zu verbessern. Bildlich gesprochen ist der Werkzeugkasten an Maßnahmen sogar vorzüglich ausgestattet.

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F. Schlussbetrachtung und Ausblick

Manche Bundesländer nutzen das zur Verfügung gestellte Werkzeug jedoch nicht sachgerecht oder zu wenig. Aus diesem Grund bleibt der Staat teilweise hinter seinem grundrechtlich geschuldeten Mindestschutzniveau zurück. Der Staat unternimmt folglich noch immer zu wenig, um die Bevölkerung vor Schadstoffrisiken zu schützen. Daher wären die Bundesländer gut beraten, dringend für Abhilfe in Form einer Verringerung der Stickstoffdioxidbelastung im Straßenverkehr zu sorgen. Sollte der aktuelle jährlich gemittelte Stickstoffdioxidgrenzwert tatsächlich von 40 auf 10 mg/m3 verschärft werden, so werden selbst die bisherigen Instrumente direkter Verhaltenssteuerung voraussichtlich nicht mehr ausreichen, um die Einhaltung sicherzustellen. In dem Fall wird auch über Fahrverbote der Abgasnorm Euro 6 für Dieselfahrzeuge sowie für mit einem Ottomotor betriebene Fahrzeuge nachzudenken sein. Ob eine Verletzung des Untermaßverbots auch in den eingangs genannten Schutzpflichtfällen vorliegt,1 kann pauschal nicht beantwortet werden. Die Beantwortung dieser Fragen bedarf daher weiterer eingehender Forschungsleistungen unter Zugrundelegung des Untermaßverbots. Abschließend bleibt zu hoffen, dass in den Kreisen der Verfassungsrichterschaft ein Umdenken zu Gunsten einer Gleichbehandlung zwischen dem Schutzbedürfnis und der individuellen Freiheitsbetätigung der Menschen stattfinden wird. Ein Umdenken ist unausweichlich, wenn die Schutzlücke im Wirksystem des Grundrechtsschutzes geschlossen werden soll. Dies gilt umso mehr, wenn das Schutzbedürfnis durch den Gesetzgeber sowie die Verwaltung zunehmend vernachlässigt behandelt wird und der Ruf nach Karlsruhe nach staatlichem Schutz lauter wird. Aus alldem folgt, dass der Verfassungsauftrag auch darin besteht, auf gesamtgesellschaftliche Schieflagen wie soziale Not oder Umweltemissionen, durch welche die Menschen erkranken, durch kompensatorischen Schutz zu reagieren. Denn der wahre Wächter der Verfassung erkennt das Grundgesetz stets in seiner die Grundrechtsgüter schützenden und in seiner freiheitsgewährleistenden Funktion. Die staatliche Verantwortung sollte sich daher insgesamt auf beide Grundrechtsfunktionen erstrecken. In seinem Hartz IV-Urteil im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht durch die Anerkennung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das über den lebensnotwendigen materiellen Mindestgehalt hinaus auch ein soziokulturelles Existenzminimum umfasst, einen wichtigen Anfang gemacht. Dieser Anfang kann die Basis für ein neues, sozialeres Grundrechtsverständnis sein, deren Pforte erst geöffnet wurde.

1

Hierzu unter A.

G. Thesenaufstellung I. Epidemiologischer Teil 1. Zum Schutz der menschlichen Gesundheit sowie der Umwelt wurde vom europäischen Gesetzgeber ein Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 mg/m3 pro Kalenderjahr für die Außenluft erschaffen. Epidemiologische Kohortenstudien konnten weltweit einen statistischen Zusammenhang zwischen einer jährlich gemittelten NO2-Konzentration über 40 mg/m3 und einer Zunahme der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit sowie vermehrter Erkrankungen nachweisen. Gelegentlich erhobene Kritik an diesem Grenzwert kann wissenschaftlich nicht als berechtigt angesehen werden. Da die Weltgesundheitsorganisation eine entscheidende tatsächliche Rolle im Gesetzgebungsverfahren einnimmt, sollte die finanzielle Ausstattung dringend vollständig durch die Mitgliedsstaaten und nicht mehr durch private Akteure finanziert werden.

II. Theoretischer Teil 2. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Literatur haben erkannt, dass die Grundrechte auch eine Schutzfunktion beinhalten. Die Begründung von Schutzpflichten durch das Bundesverfassungsgericht ist jedoch uneinheitlich und verfassungsdogmatisch nicht stringent. Für die Herleitung von Schutzpflichten ist vor allem ein Anknüpfen an die objektiv-rechtliche Werteordnung der Grundrechte nicht zielführend, obwohl sich die Kritik der Literatur am Werteordnungsbegriff nicht als gerechtfertigt erwiesen hat. Immerhin stehen durch den objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte auch andere Wirkdimensionen als die Abwehrfunktion offen. Offen für weitere Grundrechtsfunktionen ist auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Das staatstheoretische Vorverständnis des Staatsziels der Sicherheit weist den Weg für eine Verfassungsinterpretation, die den Schutz der Bevölkerung erfasst. Aus Art. 1 Abs. 1 GG als tragendes Konstitutionsprinzip folgt sodann eine allgemeine Schutzdimension der Grundrechte, ohne dass eine Beschränkung auf den Menschenwürdekern nötig ist. Art. 6 Abs. 1 GG indiziert ebenfalls eine allgemein bestehende Schutzpflicht. 3. Sämtlichen Freiheitsrechten des Grundgesetzes kommt eine Schutzdimension zu. Darüber hinaus konnte auch die Existenz von sozialen Grundrechten hergeleitet werden, die ihren Ausgang im menschenwürdigen Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG findet. Dadurch konnte eine staatliche Schutzpflicht postuliert werden, die den Staat in die Pflicht nimmt, seine Bevölkerung vor sozialer Not zu bewahren.

264

G. Thesenaufstellung

Nicht angenommen werden konnten spezielle ökologische Schutzpflichten, da aus der Verfassung kein solches subjektiv-öffentliches Recht abgeleitet werden kann. Forderungen nach ökologischen Schutzpflichten verkennen, dass für die Schaffung solcher Schutzpflichten rechtspolitische Entscheidungen notwendig sind. 4. Auf die Grundrechtsgüter kann hingegen nicht allein durch Grundrechtsschädigungen eingewirkt werden. Diese negatorische Schutzfunktion mit Wirkung für die Zukunft ist sogar der seltenere Anwendungsfall. Der Hauptanwendungsfall von staatlichen Schutzpflichten ist in der Verhinderung von Grundrechtsschäden zu finden. In aller Regel ist auf die Schutzpflicht zu rekurrieren, soweit Grundrechtsgüter gefährdet werden. Dabei können die Gefährdungen von privaten Dritten ausgehen, aber ihren Ursprung gleichermaßen in der Umwelt finden. Art und Maß der abwendungsfähigen Gefahren ergeben sich jedoch nicht aus dem Polizei- und Ordnungsrecht, sondern autonom aus den Schutzgütern der einzelnen Grundrechte. Um Grundrechtsgefahren tatbestandlich zu definieren, muss der allgemeine Gefahrenbegriff des Polizei- und Ordnungsrechts dennoch übernommen werden, obwohl in vielfacher Hinsicht Anpassungen des Gefahrenbegriffs berücksichtigt werden müssen. Ohne verfassungsrechtliche Bedenken kann für die Feststellung einer Gefahr auf den Grundsatz der umgekehrten Proportionalität zurückgegriffen werden, da trotz Addition der individuellen Gefahren keine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen ist. 5. Genau wie Gefährdungen der grundrechtlichen Schutzgüter lösen auch Grundrechtsrisiken Schutzpflichten aus. Im Unterschied zur Gefahr sind beim Risiko meistens sämtliche Tatbestandsmerkmale des Gefahrenbegriffs ungewiss. 6. Die Schutzfunktion der Grundrechte hat eine erhebliche Ausdehnung erfahren, indem die Verfassung auch Vorsorge vor Grundrechtsgefahren und Grundrechtsrisiken in die Schutzpflicht integriert, wobei auch hierbei die Unterschiede zu berücksichtigen sind, die gegenüber der sicherheitsrechtlichen Vorsorge bestehen. Schutzpflichten, die den Staat verpflichten, Vorsorge zu betreiben, ergeben sich aus den Grundrechten selbst. Die Vorsorgepflicht wird darüber hinaus durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verstärkt. Eine verfassungsdogmatische Herleitung der Vorsorge aus dem Umweltverfassungsrecht, namentlich aus Art. 20a GG, ist hingegen systemwidrig. 7. Verschiedene Versuche, bestimmte Grundrechtsgefahren sowie Risiken aus dem Grundrechtsschutz auszuschließen, können nicht überzeugen. Das Kriterium der Sozialadäquanz hat sich als untaugliches Mittel erwiesen, gleiches gilt für die Forderung nach einer Erheblichkeitsschwelle. Lediglich bei Erkenntnisdefiziten erfahren Schutzpflichten Einschränkungen, soweit eine auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung basierende Risikoanalyse sowie Risikoprognose Grundrechtsschäden praktisch ausgeschlossen erscheinen lassen. In diesem Fall besteht dennoch eine staatliche Beobachtungspflicht.

II. Theoretischer Teil

265

8. Was den Prüfungsmaßstab betrifft, der zugrunde gelegt wird, um festzustellen, ob Schutzpflichten verletzt wurden, so kann anhand der Durchsicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein einheitlicher Prüfungsmaßstab entnommen werden. Der vom Bundesverfassungsgericht gelegentlich und von der Literatur häufig erklärte eingeschränkte Prüfungsmaßstab wird mit der ansonsten drohenden Gefahr eines zunehmenden Jurisdiktionsstaats begründet, in dem die Rechtsprechung ein deutliches Übergewicht zu Lasten des Gesetzgebers erhalten würde. Die drohende Verlagerung der Machtverhältnisse des Parlaments zu Gunsten der Rechtsprechung sei der Grund, weshalb dem Gesetzgeber ein je nach Einzelfall dynamischer Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommen müsse. Die Kritik am drohenden Jurisdiktionsstaat als Zukunftsszenario vermag jedoch nicht zu überzeugen, da sich die Kritik gegen die Aufgaben eines Verfassungsgerichts als solches richtet. Im Gegenteil sprechen zahlreiche Gründe für einen umfassenden Prüfungsmaßstab in Gestalt des Untermaßverbots, da die Schutzpflicht die Belastungen, welche durch die gewährleisteten Freiheitsrechte entstehen, wirksam kompensieren muss. Das zum Teil vorgetragene Argument, Schutzpflichten würden den staatlichen Haushalt belasten, hat sich nicht als tragfähig erwiesen. Zusätzlich ist das gesamtgesellschaftliche Schutzbedürfnis durch die neuen und kollektiven Risiken der Großtechnologisierung deutlich gestiegen. Auch der neoliberale Umbau, der zu einer neuen sozialen Schieflage führt, verstärkt den Bedarf nach staatlichem Schutz. Zumindest, wenn Risiken durch Umweltbelastungen abgewendet werden sollen, entfaltet Art. 20a GG eine grundrechtsverstärkende Wirkung. Jedenfalls beim Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist mithin das Untermaßverbot anzuwenden. 9. Inhaltlich ist das Untermaßverbot nicht mit dem Übermaßverbot identisch, da das Untermaßverbot nur ein Mindestmaß an Schutz fordert, da zwischen der Mindestgrenze und der Höchstgrenze an Schutz ein variabler Spielraum liegt. Das gängige Prüfungsschema, welches in der Literatur für das Untermaßverbot angewendet wird, weist durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken auf, da der Staat durch das Bundesverfassungsgericht verpflichtet werden könnte, eine mit dem Übermaßverbot kollidierende verfassungswidrige Schutzniveauerhöhung vorzunehmen. Dieser schwerwiegende Mangel kann nur durch eine Umkehrung der bekannten Verhältnismäßigkeitsprüfung beseitigt werden, die zudem unter dem Vorbehalt der hypothetischen Verfassungsmäßigkeit einer hypothetischen Schutzniveauerhöhung stehen muss. Sollte sich zeigen, dass ein bestehendes Schutzkonzept die Untermaßschwelle unterschreitet, so muss folglich eine weitere hypothetische Verhältnismäßigkeitsprüfung eines gedachten höheren Schutzniveaus vorgenommen werden. Nur in dem Fall, dass sich eine hypothetische Schutzniveauerhöhung als verhältnismäßig erweist, kann das Bundesverfassungsgericht eine Schutzpflichtverletzung feststellen.

266

G. Thesenaufstellung

10. Auch bietet es sich an, das Untermaßverbot in einem ersten Schritt auf eine abstrakte Prüfung der Rechtsordnung zu beschränken. Erst im Anschluss sollte gegebenenfalls überprüft werden, ob das bestehende Schutzkonzept auch durch die Anwendung im Einzelfall dem Untermaßverbot hinreichend Rechnung trägt. 11. Die Möglichkeit des Selbstschutzes sollte jedenfalls bei Umweltbelastungen und Kollektivrisiken nicht in die vorzunehmende Interessenabwägung aufgenommen werden. Bei Gleichrangigkeit der Grundrechte ist eine Pattsituation gegebenenfalls durch die Akzeptanz eines solidarischen Sonderopfers gegenüber der staatlichen Gemeinschaft zu lösen. Auch kann die staatliche Auswahlmöglichkeit auf das einzig verbleibende Mittel beschränkt sein; andernfalls besteht ein verfassungsgerichtlich nicht nachprüfbares Ermessen. Hierbei ist anzumerken, dass staatliches Unterlassen nicht weniger verfassungswidrig ist wie staatliches Handeln.

III. Praktischer Teil 12. Der europäische sowie der deutsche Gesetzgeber beabsichtigen durch den NO2-Grenzwert, einer staatlichen Schutzpflicht nachzukommen. Daher besteht eine grundsätzliche Schutzpflicht, die Bewohner vor schädlichen Luftschadstoffen zu schützen. Grenzwertüberschreitungen von Stickstoffdioxid stellen deutsche Großstädte vor große Probleme, wobei der Straßenverkehr für den größten Anteil der Luftverunreinigung durch NO2 verantwortlich ist. Gesundheitliche Auswirkungen von NO2-Grenzwertüberschreitungen sind mangels Kausalbeleg und erheblicher Unsicherheiten nicht unter den Begriff der Grundrechtsgefahren zu fassen. Da durch Informationsbeschaffungen nicht ermittelt werden kann, wann sich bei welchem Individuum welche Schäden zeigen werden, ist auch der Bereich der Gefahrenvorsorge nicht eröffnet. Vielmehr ist somit von einem Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung auszugehen. 13. Bei der Überprüfung des staatlichen Schutzkonzepts sind nicht nur der jährlich gemittelte Stickstoffdioxidgrenzwert in den Blick zu nehmen, sondern zusätzlich auch die an den Grenzwert gekoppelten Maßnahmen, welche zur schnellstmöglichen Einhaltung des Grenzwertes ergriffen werden. Durch vielfältige Maßnahmen haben der Gesetzgeber sowie der Verordnungsgeber und die Rechtsprechung ein staatliches Schutzkonzept erschaffen. Dieses Schutzkonzept ist abstrakt betrachtet auch als angemessen anzusehen. Selbst gebietsbezogene Fahrverbote stellen keine Verletzung des Übermaßverbotes dar. Auch § 47 Abs. 4a BImSchG kann verfassungskonform ausgelegt werden. In aller Regel gehen von den Schutzmaßnahmen keine Grundrechtsverletzungen aus. Mitunter sind jedoch Ausnahmen und Härtefallregelungen vorzubehalten. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Daseinsvorsorge ist bei allen Schutzmaßnahmen zusätzlich zu berücksichtigen, nicht hingegen das öffentliche Finanzinteresse an einer Schonung

III. Praktischer Teil

267

des Haushalts. Eine weitere Aufwertung hat die Abwägung zu Gunsten der Schutzbedürftigen durch den Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts erfahren. Das bestehende Schutzkonzept ist auch im Übrigen verhältnismäßig und insbesondere wirksam. 14. Anders verhält es sich mit der konkreten Anwendung des Schutzkonzepts in den Bundesländern. Zwar haben die Landesverwaltungen eine Vielzahl an Schutzmaßnahmen ergriffen. Diese sind jedoch nicht flächendeckend wirksam im Sinne des Untermaßverbots. In manchen Städten, die seit vielen Jahren Grenzwertüberschreitungen zu verzeichnen haben, offenbart sich für das Jahr 2020 eine Ermessensunterschreitung, da keine wirksamen Schutzmaßnahmen ergriffen wurden, welche die Einhaltung des Grenzwerts so schnell wie möglich sicherstellten. In den Luftreinhalteplänen wurde häufig vorgetragen, dass bestimmte Schutzmaßnahmen unverhältnismäßig wären. Eine Nennung von Grundrechten und vor allem eine grundrechtliche Abwägung wird meistens nicht vorgenommen. Im Gegensatz dazu haben sich sämtliche Schutzmaßnahmen als verhältnismäßig offenbart. In einigen Städten der Bundesrepublik Deutschland wurde das Untermaßverbot im Jahr 2020 folglich verletzt. Das Bundesverfassungsgericht kann daher bei einer möglichen Verfassungsbeschwerde eine Schutzpflichtverletzung feststellen. Da mehrere wirksame Schutzmaßnahmen ergriffen werden könnten, ist das Auswahlermessen nicht auf Null reduziert. Genauere Vorgaben zur Umsetzung der Schutzpflicht vermag das Bundesverfassungsgericht mithin nicht zu geben.

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Archiv Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Band 5/1, S. 64

Sachwortverzeichnis Abgasnorm 205, 237, 239, 249 f., 252, 254 ff., 262 Abschalteinrichtungen 205, 225 ff. Abwehrfunktion der Grundrechte 21, 23, 51, 148, 161, 181, 218 – Status negativus 52 Anlieferverkehr 215, 223 Anliegerrecht 216, 223 Anwendungsvorrang 27, 235 Arbeitsstätte 216 f. Atomkraftwerk 19, 55, 106, 120 – Atommüll 166 – atomrechtliche Genehmigung 75 – Genehmigungsfähigkeit 54 – Kernenergie 21 – Kernschmelze 120 – Kernspaltung 119, 166 Bagatellgrenze 143 f. Bedarfsermittlung 95 Beschwerdebefugnis 76, 129 f. Besorgnispotential 135 Bestandsschutz 219 Betriebserlaubnis 225 f. Betriebsuntersagung 225, 227 f., 243 f. Beurteilungsspielraum 138 Bewertungsmaßstäbe 117 Bindungswirkung 159, 185, 233 Corona-Krise 33, 35, 38 f., 58, 121 f., 140, 167, 183, 213, 239 – Impfpflicht 122 – Impfstoff 167 – Infektionsrisiko 140 – Kontaktbeschränkungen 122 – Lockdown 33, 35, 39 – Triage-Entscheidungen 183 f.

Daseinsvorsorge 21, 84, 211, 220, 223 f., 229 Demokratiedefizit 138 f. Derivative Teilhabefunktion 218 ff., 222 Dieselabgasskandal 21, 205, 206 Dieselfahrverbot 22, 26 f., 204, 219, 256 – Durchfahrverbote 223 f., 241 f., 251, 253, 256 – Gebietsbezogene Fahrverbote 204, 210, 212 ff., 217 ff., 239, 250, 253, 255 f. – Streckenbezogenes Fahrverbot 213, 221 f., 239, 249, 252 f., 254 Dieselfahrzeuge 29, 167, 205, 212, 220 f., 225, 240, 243, 249 f., 252, 254 f. EG-Typgenehmigung 75, 225 ff. – Außerbetriebsetzung 225 – Nebenbestimmung 227 – Rücknahme 225, 228 Einheit der Rechtsordnung 112 Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum 53, 56, 127, 146, 148, 151, 159, 172, 177, 232, 247 Einwirkung 101 Emissionsgrenzwert 205 Emissionshöchstmengen 148, 232 Erderwärmung 148 Ermessen 27, 78, 128, 138, 152, 187, 248, 260, 266 – Auswahlermessen 138, 187, 248, 267 – Ermessensnichtgebrauch 248 – Ermessensreduzierung auf Null 27 f., 258, 267 – Ermessensunterschreitung 248, 267 Europäische Umweltagentur 39 Evidenzkontrolle 146 f., 150, 161, 168, 170, 175

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Fahrzeugklassen 222 Feinstaub 26, 38, 40, 42 ff., 128, 140 Fluglärm 19, 23, 55, 58 Förderprogramm 206 Freiheit 19, 219 Gefahrenbegriff 105 ff., 111 f., 198 Gefahrenvorfeld 113, 132 f., 136, 149 Gefahrenvorsorge 106, 108, 120, 132, 200 Gefahrerforschungseingriffe 109 Gemeingebrauch 218 f. Gentechnik 21,119 f., 125, 139 Geschwindigkeitsbeschränkungen 204, 224, 242, 252 f., 257 Gesundheit 30, 73, 173, 197 – Gesundheitsauswirkungen 41 – gesundheitsschädigende Wirkung 32, 48, 162 Gewaltenteilungsprinzip 151, 155, 160, 172 Gewaltmonopol 69, 72, 161 Gewaltverbot 74, 76 Gewerbetreibende 215 Glaubensfreiheit 83 Grenzwertempfehlung 31 Großtechnologie 109, 119 f., 163, 166 ff., 265 Grundrecht auf Eigentum 24, 211, 214 f., 226, 228 – Inhalts- und Schrankenbestimmung 228 Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 51, 144 Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit 23, 51, 55, 193, 195, 204, 211, 213, 220, 255, 259 Grundrecht auf Wohnen 20 Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit 19, 24, 211, 218, 223 Grundrecht der Berufsfreiheit 24, 211, 216 f. – objektiv berufsregelnde Tendenz 217, 226

Grundrecht der Versammlungsfreiheit 83 Grundrecht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 82 Grundrechtliche Pattsituation 181 ff. – hypothetische Einwilligung 184 – rechtsfreier Raum 184 f. – solidarisches Sonderopfer 185 ff. Grundrechtsbeeinträchtigung 101 Grundrechtseingriff 21, 52, 75, 101, 149 f., 161, 172, 217, 221, 226, 228 – eingriffsähnliche Vorwirkung 148 ff. Grundrechtsgefährdung 24, 103 ff., 109 f., 194, 196 – erhebliche Grundrechtsgefährdung 143 – Gefahrenvorsorge 24, 108 f., 123 Grundrechtsinterpretation 70, 157 Grundrechtsschäden 102, 104 Grundrechtstheorie 86, 168, 181 – bürgerlich-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie 86 – sozialstaatliche Grundrechtstheorie 86 Grundrechtsübermacht 163 Grundrechtsverletzung 102 ff., 110, 129, 173, 193 f. Grundsatz der umgekehrten Proportionalität 24, 108, 115 ff., 136 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 209 Hardwarenachrüstungen 205, 226 ff., 243 Hartz-IV 73 f., 84, 87, 90, 94, 262 Haushaltsetat 32, 93 Haushaltskasse 165 Haushaltsplan 94 Hochwasserkatastrophe 89 Hüter der Verfassung 153 ff. Immissionsschutzbehörde 30 Immobilienmarkt 85 Industrie 19, 21, 91, 109, 137, 165 ff., 257 Informationsdefizit 134, 200

Sachwortverzeichnis Instrument direkter Verhaltenssteuerung 30, 253, 262 Instrument indirekter Verhaltenssteuerung 206, 208, 251 Judicial-self-restraint 155, 160, 163, 237 Jurisdiktionsstaat 151 ff. – Machtverschiebung 153 Justiziabilität 73, 142, 234 – justiziable Leistungsrechte 87 – subjektiver Anspruch 68, 78 f. – subjektives-öffentliches Recht 88, 97, 124, 128 f., 258 Katastrophenfall 117, 184 f. Katastrophenschutz 122 Kausalbeweis 40, 48 f., 103, 193, 199 Klimaschutz 82, 148, 230, 234 Klimawandel 60, 100, 150 Kompetenz 93, 131, 151 f., 154, 157 ff., 161, 166 – Entscheidungskompetenz 151, 156 – Kompetenzbegrenzung 155 – Kompetenzzunahme 153 – Verwerfungskompetenz 156 Kongruenzthese 171 ff. Kriegsdienstverweigerung 152 Langzeitwirkungen 32, 40 Lärmimmissionen 19 Leistungsrecht 87, 89 f., 94 ff. – originäres Leistungsrecht 89 Lobbyarbeit 162 Luftqualität 36, 38, 48, 50, 213, 235, 250, 253, 256 – Fortschreibung des Luftreinhalteplans 37, 240, 250 ff. – Luftqualitätsbericht 33 – Luftqualitätspläne 30, 203, 257 – Luftqualitätsstudie 39 – Luftreinhalteplan 26, 209 f., 238, 240, 244 f., 248 f., 250 f., 256, 258 Luftverunreinigung 29, 38 f., 57, 194

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Marktversagen 20, 85, 91 Mehrpoliges Verfassungsverhältnis 21, 23 f., 53, 127, 169 f., 189 Mehrschadstoffmodelle 40 Menschenrechte 66 f., 70, 84, 165 Menschenwürde 20, 53 f., 55, 80, 118, 181 ff. – Abwägungsverbot 184 – Eingriffsverbot 90 – Menschenwürdekern 71 f., 79 f. – menschenwürdiges Existenzminimum 20, 73, 87 ff., 92 f., 96, 190 Mieter 19 f., 91 Minderungspotenzial 239 ff. Mittelbare Drittwirkung 21 Naturkatastrophen 72, 83, 101, 122, 170, 172 Negativzinsen 85 Nichtraucherschutz 19 NO2 30, 32 f., 41, 194, 196, 200, 239, 242 f., 245 ff., 252, 254 – NO2-Belastung 193 – NO2-Exposition 40 – NO2-Grenzwert 30, 38, 205 f., 237, 240, 247, 256 – NO2-Konzentration 35, 39, 41, 202 – NO2-Werte 37 Nutzfahrzeuge 223, 245, 252 Nutzungsbeschränkungen 215 Nutzungsuntersagung 226 Objektiv-rechtliche Wertordnung 55, 58, 61 ff., 76, 154 Öffentliches Mobilitätsinteresse 211, 220 Optimierungsgebote 69, 77 Pariser Klimaschutzabkommen 150, 233 f. Passivsammler 37 Praktische Konkordanz 24 Prinzipiennormen 69 Privatisierung 20 Prüfungsmaßstab 25, 147, 151

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Radbruch’sche Formel 67 Rechtsfortbildung 98, 158 Rechtspositivismus 63, 66 f. Reine Rechtslehre 63 Relativität der Rechtsbegriffe 112 Risiko 19, 54, 106 ff., 119, 149, 166, 180 – absolutes Risiko 41 – Allgemeine Risikotragungspflicht 136 f. – Grundrechtsrisiken 119, 123, 255 – Infektionsrisiko 59 – kollektive Risiken 168 – relatives Risiko 41 – Restrisiko 136 f., 201 f. – Risikogesellschaft 85, 166 f., 180 – Risikovorsorge 25, 106, 109, 120 ff., 132 – Sterblichkeitsrisiko 41 – Umweltrisiken 100 Rückruf 205, 227, 243 Schadenseintrittswarscheinlichkeit 25, 107, 113 f., 116, 179, 196 Schutzauftrag 23, 71, 125 Schutzkonzept 26, 143, 177 f., 189 ff., 203, 209 f., 212, 238, 247 ff. Schwangerschaftsabbruch 52 f., 56 ff., 110, 147 f., 152, 154, 163, 170, 172 f., 178 Schwerlastverkehr 204 Sicherheit 19, 137, 185 f. – Staatszweck Sicherheit 69, 78 Sofortprogramm saubere Luft 205, 229, 244, 251, 253 Softwareupdates 205, 226 ff., 243 Sondervotum 154, 163 f. Sozialadäquanz 137, 140 ff. Soziale Altersvorsorge 84 f. Sozialer Schutz 20, 83 ff Sozialisierung 91 Sozialstaat 21, 83 f. Sozialstaatsprinzip 20, 73 f., 87 Spielraum 27, 164, 172 – Handlungsspielraum 160 f.

Staatliche Schutzpflicht 21, 23, 30, 51, 53, 55 f., 76, 82, 91, 148, 158, 224 – Kompensationscharakter 161, 164 – Mindestschutzniveau 129, 149, 169, 171 f., 179, 190 f., 211, 262 – Nachbesserungspflicht 138, 158, 170, 236 – ökologische Schutzpflichten 97 – primäre Schutzpflichten 102 – Schutzpflichtverletzung 28, 102, 158, 187, 258, 260 – sekundäre Schutzpflichten 102 – soziale Schutzpflichten 24, 83 ff., 95 – soziales Existenzminimum 169 – status positivus 52, 88 f. Staatsbankrott 94 Staatszielbestimmung 124, 126 Stand von Wissenschaft und Technik 114 f., 120, 135 ff., 202, 235 f. Steuereinnahmen 165 Steuererhöhungen 93 Stickstoffdioxid 30, 128, 193, 198, 200, 205, 224, 226, 241, 243, 255 – Stickstoffdioxidbelastung 29, 33, 193, 238 f., 244 – Stickstoffdioxid-Filtersäulen 250, 253, 256 f. – Stickstoffdioxidgrenzwerte 22, 26, 31, 36, 50, 131, 200, 205, 211, 213, 239, 247, 251 – Stickstoffdioxidgrenzwert-Überschreitung 26, 33, 38 f., 180 f., 202, 209, 220, 250, 253 – Stickstoffdioxidimmissionen 21, 180, 196 f., 203, 211, 228, 239 f., 242 Straßenverkehr 19, 21, 26, 29, 35 ff., 142 f., 193 f., 203, 219, 224, 238 Subventionen 230 Tabakraucher 19 – Passivrauchende 51 Tatsächliche Anhaltspunkte 133, 135, 200 Tempo-30 204, 224, 242, 257 Treibhausgasemissionen 149, 232

Sachwortverzeichnis Übermaßverbot 171 f., 188, 247 Umverteilung 84 f., 163 – Vermögensumverteilung 93 f. Umweltbelastungen 19, 162, 169, 180, 235, 249 Umweltbundesamt 33, 35, 48 Umweltepidemiologie 40 f., 202, 213, 255 – epidemiologische Studie 40, 236 – Kohortenstudien 41 ff., 201 Umweltgerechtigkeit 181 Umweltgrundrecht 97 – ökologisches Existenzminimum 97 ff. Umweltplakette 222 f. Umweltschutz 124, 169, 229, 235, 237 Umweltzonen 204, 212, 222 f., 239 ff., 251, 256 Ungleichbehandlung 219, 222 f. – Neue Formel 220 – Willkürformel 220 Untermaßverbot 26, 95, 143, 147, 150, 161, 169 ff., 189, 209 ff., 213, 247, 248 ff., 251, 253, 256 f. – Angemessenheit 176, 178 ff., 187, 189, 211, 222 f., 228, 230, 237 – Effektivität 177 f., 187 f., 191, 246, 257 – Geeignetheit 176 f., 187, 191, 238, 255 – hypothetische Schutzmaßnahmen 172, 177, 188 f. – hypothetische Verhältnismäßigkeitsprüfung 189

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– Möglichkeit des Selbstschutzes 179 ff., 212 – Prüfungsprogramm 174, 188 – Untermaßschwelle 189, 209 – Verfassungslegitimer Zweck 174 f., 188, 190, 238 Verfassungskonforme Auslegung 214 Verfassungsrang 230 ff., 235 f. Verhältnismäßigkeitsprüfung 171 ff., 190 f., 203, 211 Verkehrsbeschränkungen 204, 219, 224 Verkehrsverbot 27, 216 f., 221 ff., 231, 240, 254 ff., 257 Verletztenklagemodell 127 Vermögenssteuer 93 Vertretbarkeitskontrolle 147 Verursacherprinzip 180 Vollstreckungsanordnung 152, 158 f. Vollzugsdefizit 22, 258 Vorsorge 100, 105 ff., 120 ff. – Vorsorgeprinzip 104, 124 f. Weltgesundheitsorganisation 31 f., 236 Widmung 219 Wirtschaftspolitische Neutralität 166 Wissenshorizont 115 Zurechnung 74 ff. 5G-Mobilfunknetz 19, 139