Schuld und Schuldgefühl: Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt [7 ed.] 9783666014734, 9783647014739, 9783525014738

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Schuld und Schuldgefühl: Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt [7 ed.]
 9783666014734, 9783647014739, 9783525014738

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Mathias Hirsch­

Schuld und

Schuldgefühl Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt Mit 5 Abbildungen

7., überarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht



Umschlagabbildung: Masaccio »Die Vertreibung aus dem Paradies«, Science Photo Library / akg-images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-01473-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, 2002, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Karo Creativ Süd | KCS GmbH, Stelle



Inhalt

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9

I.  Schuld Schuld fängt »bei Adam und Eva« an. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   15 Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   16 Die Schöpfungsgeschichte als Bild für die Ontogenese. . . . . .   22 Überblick über den Schuldbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   28 Schuld und Gewissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   31 Kritik des psychoanalytischen Gewissensbegriffs. . . . . . . . . . . .   35 Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   37 Schuld und Gewissen im Kontext von Beziehung. . . . . . . . . . . .   39 Kollektivschuld und Generationenhaftung. . . . . . . . . . . . . . . . . .   40 Christliche Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   43 Schulddialektik und Schulddilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   46 Schuldbewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   47 Schuldbewusstsein und Reue. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   48 Schuldanerkennung, Umkehr und Vergebung. . . . . . . . . . . . .   53 Juristische Schuldbewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   55 Schuldabwehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   56 Schuldzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   58 »Schuld der Mütter«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   60 Psychoanalyse und Schuld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   62

II.  Schuldgefühl Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   67 Über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   75 »Frühes« Über-Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   79 »Reifes« Über-Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   81

6 Inhalt

Abwehr von Schuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   84 Regression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   84 Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   85 »Verbrechen aus Schuldgefühl«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   86 Introjektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   90 Unbewusstes, entlehntes Schuldgefühl (Freud 1923). . . . . . .   92 Das Introjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   96 Ferenczi: »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  100 Identifikation mit dem Introjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 Identifikation mit dem Aggressor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  107 Subtile Traumata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  118 Sexualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  123 Wiederholungszwang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl. . . . . . . . . .  127 Die Existenz des Kindes ist nicht gewollt . . . . . . . . . . . . . . . .  133 Rollenumkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 Die Existenz ist gewollt, aber das Kind ist nicht »richtig« . . .  152 Die »tote Mutter« als eigenes basales Falsch-Sein erlebt. . . . .  169 Adoption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  172 Familiengeheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  174 Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität . .  176 Ödipales Schuldgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  177 Sexualität und Schuldgefühl I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  180 Scheitern am Erfolg I – Erfolg bedeutet Übertreffen. . . . . . . .  182 »Terrorismus des Leidens«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187 Geschwisterrivalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 Überlebendenschuldgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  199 Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl . . . . .  207 Trennungsschuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  208 Sexualität und Schuldgefühl II – Sexualität bedeutet Trennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  219 Scheitern am Erfolg II – Erfolg bedeutet Trennung. . . . . . . . .  223 Vierte Gruppe der Schuldgefühle: Traumatisches Schuldgefühl.  242 Familiäre Traumata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  243 Verluste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  246 Folter und KZ-Haft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255 Transgenerationale Weitergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  260

Inhalt 7

III.  Schuld und Schuldgefühl Das Schuldgefühl ist mehrfach determiniert. . . . . . . . . . . . . . . . .  275 Die Schuld des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  277 Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl. . . . . . . . . . . . . .  284 Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  288 Zur Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl in der analytischen Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  292 »Unschuldsvermutung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  292 Durcharbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  294 Trennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  298 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  304 Filme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  318 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  319



Einleitung

Schuld ist ein Grundphänomen menschlicher Existenz, das Schuld­ thema durchzieht das menschliche Leben, es ist unerschöpflich und findet sich überall in Mythologie, Kunst und Dichtung sowie im Alltag. Insofern ist jeder Mensch sein eigener Experte auf diesem Gebiet, jeder hat seine ­persönliche Auffassung, was Schuld bedeutet und von wann an sie beginnt. Auch Schuldgefühl ist ein ubiquitäres Phänomen, unentbehrlich für die Re­gulation menschlichen Zusammenlebens, bei jeder psychischen Stö­rung ins Pathologische gesteigert anzutreffen. Die Domäne der Psy­cho­ana­lyse ist das Intra­psy­chi­sche, die Dyna­mik der inne­ren Instan­zen; im Zusam­men­hang mit dem Schulderleben eines Men­schen geht es der Psy­cho­ana­lyse um die Ein­wir­kun­gen des Über-Ich auf das Ich, die sich als Schuldgefühl bemerkbar machen. Es wird sich hier in der Regel um ein irra­tio­na­les, unrea­li­sti­sches oder neu­ ro­ti­sches Schuld­ge­fühl han­deln, eher ver­bor­ge­nen Wün­schen und ins­ be­son­dere laten­ten Aggres­sio­nen ent­sprun­gen. Aber auch reale Taten, die ein Böses, eine tat­säch­li­che Ver­let­zung bewir­ken, hin­ter­las­sen ein Schuld­ge­fühl, des­sen Qua­li­tät jedoch von erste­rem unter­schied­lich ist, da das Bewusst­sein einer schuld­haf­ten Hand­lung mit ihm ver­bun­den ist. Freud (1930a, S. 491) zufolge sollte die­ses letz­tere Schuld­ge­fühl gar nicht Gegen­stand der Psy­cho­ana­lyse sein, da es sich ja um eine Reak­tion auf ein rea­les zwi­schen­mensch­li­ches Gesche­hen han­delt; ihn inter­es­sierte viel­mehr, was in der Psy­che des Indi­vi­du­ums vor sich geht: »Die Psy­cho­ana­lyse tut also recht daran, den Fall des Schuld­ge­ fühls aus Reue von die­sen Erör­te­run­gen aus­zu­schlie­ßen, so häu­fig er auch vor­kommt und so groß seine prak­ti­sche Bedeu­tung auch ist.« Ich plä­diere für eine strenge begriff­li­che Tren­nung von unrea­li­sti­schem Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein, das heißt Aner­ken­nung einer rea­len Schuld, auf die der Affekt der Reue fol­gen kann. Längst aber hat sich die Psy­cho­ana­lyse fort­be­wegt von einer »EinPer­so­nen-Psy­cho­lo­gie«, wie Balint (1969) es aus­drückte, in der die den ein­zel­nen umge­ben­den Men­schen besten­falls Objekte der Libido sind, nicht aber als interagierende, han­delnde Per­so­nen in Erschei­nung tre­ten, hin zu einer »Zwei- und Mehr-Per­so­nen-Psy­cho­lo­gie«; Ver­hal­

10 Einleitung

ten, Gestal­tung von Bezie­hun­gen, even­tu­elle patho­lo­gi­sche Sym­pto­ ma­tik hän­gen sowohl ab von den rea­len Erfah­run­gen in Bezie­hun­gen der Ver­gan­gen­heit als auch von dem, was das »Ich dar­aus gemacht hat« (A. Freud 1976) und was aus Anla­gen (im Sinne von Ent­wick­ lungs­po­ten­zial) und affek­ti­ven Bedürf­nis­sen sowie Impul­sen (Triebe) ent­stan­den ist. Wenn sich aber der Gegen­stand der Psy­cho­ana­lyse von den aus­schließ­lich inne­ren Pro­zes­sen hin zu den Objekt­be­zie­hun­gen (der Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart) und beson­ders ihren intrapsychischen Nie­der­schlä­gen (Objekt­bil­dern, Objekt­re­prä­sen­tan­zen) ver­la­gert hat, kann sie das Han­deln der Men­schen unter­ein­an­der nicht ver­leug­ nen. Dann darf sie nicht bei der Beschäf­ti­gung mit den auf­grund von innerpsychischen Kon­flik­ten ent­stan­de­nen Schuld­ge­füh­len ste­hen­blei­ ben, son­dern muss sich auch der durch kon­kre­tes Han­deln ande­ren oder sich selbst gegen­über ent­stan­de­nen rea­len Schuld anneh­men. Denn nicht nur unrea­li­sti­sche Schuld­ge­fühle, auch schuld­hafte reale Grenz­ ver­let­zun­gen wer­den von unbe­wuss­ten Moti­ven und Triebschicksalen mit­be­stimmt, also von urei­ge­nen Berei­chen der Psy­cho­ana­lyse. Wenn sich auch Schuld im äuße­ren zwi­schen­mensch­li­chen, Schuld­ge­fühl dage­gen im intrapsychischen Bereich ereig­net, so sind sie doch mit­ein­ an­der ver­wo­ben, wie Haynal (1989, S. 326) es aus­drückt, aller­dings auf das Dop­pelte von Traumatisierung (ent­spricht Schuld) und Phan­ ta­sie (ent­spricht Schuld­ge­fühl) bezo­gen: »Die Ver­bin­dung zwi­schen äuße­rer und inne­rer Wirk­lich­keit, dem Ereig­nis und sei­nem Ein­fluß auf die innere Welt des Men­schen [ist] ein schwie­ri­ges und kom­ple­xes Pro­blem.« Dar­über hin­aus betrifft die Aner­ken­nung rea­ler äuße­rer Ein­flüsse und damit die einer Ver­ant­wor­tungs- oder Schulddimension auch die the­ra­peu­ti­sche Bezie­hung. Diese kann heute nicht mehr als von »Indif­ fe­renz« (Freud 1915a) oder Neu­tra­li­tät bestimmt ange­se­hen wer­den, der Anteil des Ana­ly­ti­kers auch nicht mehr als bloß auf die Über­tra­ gung rea­gie­rend, er muss viel­mehr bei aller Asym­me­trie als eige­ner ori­gi­nä­rer Bei­trag zur Gestal­tung und Ent­wick­lung der Bezie­hung ver­stan­den wer­den. Dabei gehen durch­aus unver­meid­lich Hal­tun­gen, Werte, sogar Cha­rak­ter­züge und per­sön­li­che Vor­lie­ben sowie Abnei­ gun­gen des Ana­ly­ti­kers in die Bezie­hung ein, und da man sie nicht unter­drücken kann, muss man für sie die Ver­ant­wor­tung über­neh­men, sie als Rea­li­tät sogar benen­nen, wenn der Ana­ly­sand sie nicht klar als Äuße­res von sei­nem Inne­ren unter­schei­den kann (vgl. Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage 1992). Das bedeu­tet kei­nes­wegs, eine immer not­wen­dige Absti­nenz auf­zu­ge­ben oder gar mutu­elle Ana­lyse zu betrei­ ben. Wei­ter­hin hat die ana­ly­ti­sche Arbeit mit Extremtraumatisierten, auch mit Opfern fami­liä­rer Gewalt gezeigt, dass sehr wohl das, was



Einleitung 11

»dem Ich ange­tan« wurde (A. Freud 1976), als rea­les Trauma vom Ana­ly­ti­ker aner­kannt und gege­be­nen­falls benannt und bestä­tigt wer­den muss, bevor eine Ana­lyse des Intrapsychischen begin­nen kann (vgl. Amati 1990; Hirsch 1993b; Oliner 1995, S. 299; Grubrich-Simitis 1995, S. 358). Trotz­dem trifft man eine grobe Unter­schei­dung zwi­schen Schuld­ge­ fühl und Schuld ebenso wie eine von intrapsychisch und interpersonell. Schul­dig wird man am ande­ren, am Gegen­über (vgl. beson­ders Buber 1958 und Jaspers 1946) oder an sich selbst als Objekt des Han­delns (das geht beson­ders auf Heidegger zurück). Des­halb ist Schuld vor­ nehm­lich eine Sache von Reli­gion und Phi­lo­so­phie; schließ­lich geht es um sitt­li­che Maß­stäbe des Ver­hal­tens im (Zusam­men-)Leben der Men­schen und um ihr Sein und die Ver­ant­wor­tung dafür. Sicher hat das Phä­no­men Schuld ein Doppelgesicht, es exi­stiert sozu­ sa­ gen gar nicht, ohne dass eine (ethisch-mora­ li­ sche) Instanz Schuld de­fi­niert. Ande­rer­seits gibt es diese Instan­zen; not­falls, wenn die mensch­lichen Maß­stäbe nicht aus­rei­chen, ver­legt man sie ins Meta­ phy­si­sche. Will die Psy­cho­ana­lyse die (trau­ma­ti­sche) Rea­li­tät berück­ sich­ti­gen, muss sie auch reale Schuld aner­ken­nen; auch wenn sie sich nicht selbst zum Richter machen darf, muss sie die exi­stie­ren­den Kri­ te­rien, die Schuld defi­nie­ren, ein­be­zie­hen. Eine Tren­nung der bei­den Berei­che des Schulderlebens ist für ein Ver­ständ­nis ihrer Ver­schie­den­heit, für ein begriff­li­ches und schließ­lich the­ra­peu­ti­sches Arbei­ten nütz­lich und not­wen­dig, ande­rer­seits fal­len sie oft im immer viel­fach deter­mi­nier­ten Schulderleben par­ti­ell wie­ der zusam­men. Ihre Tren­nung im Ein­zel­fall wirkt dann künst­lich und ver­langt nach Syn­these, um die Kom­ple­xi­tät der man­nig­fal­ti­gen Kom­ po­nen­ten von Schuld und Schuld­ge­fühl in der Schulderfahrung des Ein­zel­nen zu ach­ten. Des­halb ist die vor­lie­gende Unter­suchung in drei Teile geglie­dert: Schuld und Schuld­ge­fühl wer­den zunächst in je einem Abschnitt getrennt behan­delt, um dann in einem drit­ten ihre viel­fäl­ti­ gen Über­schnei­dun­gen und Untrennbarkeiten auf­zu­zei­gen. Am Anfang des ersten Abschnitts wer­den die Schöpfungsmythen als Geschichte der Mensch­wer­dung ver­stan­den, hier liegt der Anfang aller Schuld, ent­steht Schuld­fähig­keit durch den Aus­tritt des Men­schen aus dem instinktgesteuerten Tier­reich. Man kann die Schöp­fungs­ge­schich­te aber auch als Erzäh­lung der ontogenetischen Indi­vi­dua­tion eines jeden, anfangs »unschul­di­gen« Men­schen ver­ste­hen. Daran an­schlie­ßend wird die Aus­ein­an­der­set­zung der Daseinsanalyse und auch der christ­li­chen Theo­lo­gie mit dem Schuldgefühlskonzept der Psy­cho­ana­lyse the­ma­ tisiert, wobei oft genug eine erstaun­li­che Igno­ranz der Psy­cho­ana­lyse unter­stellt, dass sie alle, auch reale und exi­stenzi­elle Schuld »wegana-

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lysieren« wolle und zu können vorgebe. Der Deter­mi­nis­mus der Psy­ cho­ana­lyse – das Über-Ich ist stets durch Umwelt­er­fah­rung geprägt – erregt den Arg­wohn der­je­ni­gen, die ein »auto­chtho­nes« Ge­wis­sen des Men­schen anneh­men. Für die christ­li­che Theo­lo­gie, die auf der An­nahme der frei gewählten Tat, die schul­dig macht, besteht, ist das Kon­zept des Unbe­wuss­ten der Psy­cho­ana­lyse, das den Men­schen in sei­ner Ent­schei­dung oft genug unfrei macht, anschei­nend bedroh­lich. Das Schuld­ge­fühl wird der psy­cho­ana­ly­ti­schen Theo­rie zufolge vom Über-Ich erzeugt, des­sen Ent­ste­hung und ver­schie­dene Qua­li­tä­ ten dis­ku­tiert wer­den. Schuld­ge­fühl setzt Ambi­va­lenz vor­aus; nur die Liebe zum gleich­zei­tig gehassten Objekt lässt Reue und Wiedergutmachungswunsch ent­ste­hen. Der Urgrund des Schuld­ge­fühls lässt sich des­halb in der Ambi­va­lenz der Brust gegen­über, in der oral-kanni­ba­ listi­schen Phase, sehen; nicht zufäl­lig nimmt die orale The­ma­tik einen brei­ten Raum ein, Bei­spiele aus Mytho­lo­gie und Dich­tung illu­strie­ren die Grundambivalenz des Men­schen von Abhän­gig­keits- und Autonomiebestrebung: Bei­des lässt Schuld­ge­fühle ent­ste­hen, das Begeh­ren und Ver­ein­nah­men des Liebesobjekts ebenso wie das Zurück­las­senWol­len des Objekts aus Frei­heits­be­dürf­nis. Lange hat die Psy­cho­ana­lyse Schuld­ge­fühl aus­schließ­lich auf die ödi­pa­len Regun­gen zurück­ge­führt (die Kleinianer auf den Todestrieb), bis Modell (1965; 1971) sozu­sa­gen in einem Quan­ten­sprung die Mög­ lich­ keit eines Schuldgefühlskonflikts auf­ grund nicht triebbedingter Bestre­bun­gen wie Erfolgsstreben, das Stre­ben nach Auto­no­ mie, ver­stan­den als Wunsch, ein »eige­nes Leben« füh­ren zu wol­len, beschrieb. Modell kon­zi­pierte so ein Trennungsschuldgefühl sowie ein Schuld­ge­fühl auf­grund vita­ler Bedürf­nisse. Einen wei­te­ren Bereich beschrieb Niederland (1961; 1981) mit dem Überlebendenschuldgefühl auf­grund sei­ner Erfah­run­gen mit Über­le­ben­den des Nazi-Ter­rors. Die moderne psy­ cho­ ana­ ly­ ti­ sche Traumaforschung ist mit dem Schuldthema untrenn­bar ver­bun­den, denn das Opfer ver­schie­den­ster familiärer und außerfamiliärer Gewalt ent­wickelt immer eine schwere Schuldgefühlsymptomatik. Mei­nes Erach­tens hat Ferenczi (1933) das Fun­ da­ ment für ein Ver­ ständ­ nis der Internalisierungsvorgänge trau­ma­ti­scher Gewalt gelegt, Introjektbildung und Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor gehen auf ihn zurück. Gewalt-, aber auch Ver­lust­er­fah­ run­gen schla­gen sich als Introjekt im Selbst nie­der und wir­ken selbst­ zer­stö­re­risch weiter, Sym­pto­ma­tik und Selbstwerterniedrigung ver­ur­ sa­chend. Hier ergibt sich nun ein direk­ter Zusam­men­hang zwi­schen Schuld und Schuld­ge­fühl: Die reale Schuld des Täters (die jener nicht aner­kennt) wird zum Schuld­ge­fühl des Opfers (das unschul­dig ist), weil das Introjekt wie ein feind­lich ver­fol­gen­des Über-Ich Schuld­ge­fühle



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macht. Und es sind kei­nes­wegs nur mas­sive Traumatisierungen, die eine oft lebens­lange Schuldgefühlsproblematik ver­ur­sa­chen, son­dern gerade auch sub­tile Beziehungstraumata inner­halb der Fami­lie des sich ent­wickeln­den Kin­des. Über das Schuld­ge­fühl des Opfers hin­aus muss man noch einen Anteil rea­ler Schuld im Sinne von Mit­schuld oder Mit­ver­ant­wor­tung auch des Opfers anneh­men, da auf­grund von, wenn auch tra­gi­schen, Iden­ti­fi­ka­tio­nen im Sinne von Unter­wer­fung unter das Gewaltsystem oder sei­ner Bil­li­gung die schuld­hafte Tat begün­stigt oder auch vom Opfer Schwä­che­ren gegen­über wie­der­holt wird. Eine dif­fe­ren­zierte, psy­cho­ana­ly­tisch fun­dierte Syste­ma­ti­sie­rung des Schuld­ge­fühls gibt es bis­her nicht. Ledig­lich Weiss und Sampson (1986) hat­ten die erwähn­ten Arbei­ten von Modell und Niederland ihrem Kon­zept eines Trennungs- oder Auto­no­mie- und eines Überlebendenschuldgefühls (des­sen Defi­ni­tion sie sehr weit fass­ten) zugrunde gelegt. In die­sem Buch möchte ich fol­gende Ein­tei­lung des Schuld­ge­fühls vor­schla­gen: 1. Basisschuldgefühl, das heißt ein Schuld­ge­fühl auf­grund der blo­ßen Exi­stenz des Kin­des oder sei­nes So-Seins, ins­be­son­dere sei­nes Ge­ schlechts. 2. Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät, das heißt expan­sive Bestre­bun­gen, das Begeh­ren, Haben-Wol­len, Erfolg-haben-Wol­len, Andere-über­tref­ fen-Wol­len wer­den dadurch schuld­haft erlebt, dass sie von der fami­ liä­ren Umge­bung nicht will­kom­men gehei­ßen wer­den kön­nen. 3. Trennungsschuldgefühl. Hier sind die Autonomiebestrebungen des Kin­des in allen Lebensaltern mit Schuld­ge­fühl ver­bun­den, da Tren­ nung für die elter­li­chen Objekte eine Bedro­hung dar­stellt. 4. Trau­ma­ti­sches Schuld­ge­fühl: Schwere Gewalt- und Ver­lust­er­fah­ run­gen hin­ter­las­sen einen Fremd­kör­per im Selbst, ein Introjekt, das Schuld­ge­fühle ver­ur­sacht. Inter­es­san­ter­weise sind alle Qua­li­tä­ten in der Schöp­fungs­ge­schichte als Schuld der Men­schen ent­hal­ten: Sowohl orale Gier (das Essen des Apfels, nicht umsonst rund wie eine Brust) als auch Sexua­li­tät, die erst nach der Ver­trei­bung aus der Latenz ersteht, kön­nen als Schuld(gefühl) aus Vita­li­tät gese­hen wer­den. Der Drang nach Erkennt­nis und die damit ver­bun­dene Über­tre­tung des väter­li­chen Gebots ent­spricht einem schuld­haf­ten Trennungs-, Autonomiebestreben. Auch ein trau­ma­ti­ sches Schuld­ge­fühl könn­te im Mythos gese­hen wer­den: Die Schuld am trau­ma­ti­schen Ver­lust des Para­die­ses müs­sen sich die Men­schen selbst geben. Und einem Basisschuldgefühl ent­spricht die Auf­fas­sung von der Erb­sünde, der basalen Schuld des Men­schen­ge­schlechts.

14 Einleitung

In einem drit­ten Abschnitt wird der Grenz­be­reich des Zusam­men­ tref­fens von Schuld und Schuld­ge­fühl, etwa im Zusam­men­hang mit der Iden­ti­fi­ka­tion mit der Gewalt, bear­bei­tet. Schließ­lich wird auf die Not­wen­dig­keit der Dif­fe­ren­zie­rung der ver­schie­de­nen Schuldgefühlsqualitäten von­ein­ander und die­ser von den Antei­len rea­ler Schuld in der psy­cho­ana­ly­ti­schen The­ra­pie hin­ge­wie­sen. Irra­tio­na­les Schuld­ge­fühl sollte ent­we­der in sei­ner Triebkonfliktbedingtheit ver­stan­den oder bis auf seine tief ver­bor­ge­nen Wur­zeln von trau­ma­ti­scher Erfah­rung und ihrer phantasmatischen Ver­ar­bei­tung zurück­ge­führt und schließ­lich auf­ge­löst wer­den. Reale Schuld, ein­mal als sol­che erkannt und abge­ grenzt, soll aner­kannt, benannt und mit Scham und Reue über­wun­den wer­den, wofür die The­ra­pie letzt­lich nicht umhin kön­nen wird, Auf­ga­ ben der Bewer­tung und Ent­schei­dung zu über­neh­men, um Rea­li­tät von Phan­ta­sie im Schulderleben tren­nen zu hel­fen. Jede psy­chi­sche Erkran­ kung hat mit (auch unbe­wuss­tem) Schuld­ge­fühl zu tun, wie es Freud früh ent­deckte, aber jeder Mensch, auch der psy­chisch Lei­dende, ist gleich­zei­tig sowohl an sei­nem Sein als auch an sei­nem Tun stets real schul­dig.

I. Schuld

Schuld fängt »bei Adam und Eva« an Alle Schöpfungsmythen erzäh­len vom Ursprung des Men­schen in dem Sinne, dass sie die Ent­wick­lung zum Mensch-Sein meta­pho­risch beschrei­ben und damit Eigen­schaf­ten und Bedin­gun­gen wie­der­ge­ben, die ihn von ande­ren Lebe­we­sen unter­schei­den. Wie die Spra­che, auch das Lachen, das Reflexionsvermögen (über sich selbst), das Bewusst­ sein der Sterb­lich­keit und die Scham ist die Schuld – man spricht von Schuld­fähig­keit – eine der Bedin­gun­gen des Mensch-Seins. Eine ver­glei­chende Betrach­tung der Schöpfungsmythen der Mensch­­ heit kann hier nicht gelei­stet wer­den, aber ich möchte mich der Be-­ mer­kung von Stork (1988a, S. 35) anschlie­ßen, der meint, »es wäre nicht schwer, auf­zu­zei­gen, daß sich in allen Schöpfungsmythen, … in denen es um den Ursprung des Men­schen geht, der Held, der diese Los­ lö­sung des Men­schen voll­zog, sich selbst und den Men­schen für diese Tat den Tod ein­han­delt.« Nicht nur den Tod, son­dern auch Schmerz, Mühe, Angst, Schuld und Scham, ande­rer­seits Krea­ti­vi­tät, Frei­heit der Ent­schei­dung durch Fähig­keit zum Den­ken, zum Wis­sen und Wis­senWol­len, zur Refle­xion zur vorausschauenden Planung und zur Kommunikation mit anderen. Über allen die­sen Eigen­schaf­ten, Erfah­run­gen und Fähig­kei­ten, die den Men­schen vom Tier unter­schei­den, schwebt die Schuld – als Schuld­fähig­keit, Schulderleben bis hin zum Schuld­ ge­fühl –, weil die Bestre­bun­gen des Indi­vi­du­ums, die mit Tren­nung, Los­lö­sung, Auto­no­mie – damit hängt auch Sexua­li­tät zu­­sammen, wor­ auf ich zurück­kom­men werde – ver­bun­den sind, immer ein­wir­ken auf einen ande­ren, von dem man sich trennt, des­sen Exi­stenz und Iden­ti­ tät ver­än­dert wird durch die Tren­nung, der nicht mehr so ist wie im Zustand des Zusam­men­seins. Schöpfungsmythen stel­len Trennungsbewegungen dar, zum einen die der Ent­wick­lung des Men­schen aus der Tier­welt (phylogenetische Ebene), zum ande­ren die der Indi­vi­dua­tion eines jeden Men­schen, sei­ner Los­lö­sung aus der frü­hen Abhän­gig­keit (ontogenetische Ebene).

16 Schuld

Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Men­schen »Wer daher spräche, ich bin mir kei­ner Schuld bewußt, also habe ich nichts zu bereuen, der wäre ent­we­der ein Gott oder ein Tier. Ist der Spre­chende aber ein Mensch, so weiß er vom Wesen der Schuld noch nichts.« Häfner (1959/60, S. 671) gibt hier ein Wort Schelers wie­ der, das kurz und prä­gnant den Zusam­men­hang zwi­schen Schuld und Mensch-Sein bezeich­net. Für mich ist die Paradiesgeschichte vor allem eine Meta­pher für den Aus­tritt des Men­schen aus dem Reich der völ­lig instinktgesteuerten Tier­welt. Tiere, so denkt man, wis­sen nichts vom Tod und kön­nen Scham und Schuld nicht emp­fin­den. Die Instinkte sind das Maß ihres Ver­hal­tens, ein Maß, das nicht über­schrit­ten wer­ den kann. Mit der Frei­heit des Den­kens und der Ent­schei­dung haben die Men­schen das natur­ge­ge­bene Maß ver­lo­ren, sie müs­sen es sich her­stel­len (sie schaf­fen sich Göt­ter, Moral, Gesetze) und sind immer wie­der vor die Ent­schei­dung gestellt, es ein­zu­hal­ten oder zu über­ schrei­ten. Das Über­schrei­ten eines sol­chen Maßes, sei­ner Gren­zen, bedeu­tet Schuld; ohne die Frei­heit zur Grenz­über­schrei­tung gibt es keine Schuld. »Schuld hat, wer gewählt hat« (Platon, Politeia, zit. nach Dorn 1976, S. 110). An die eine Seite des mensch­lichen Bereichs grenzt also das Tier­ reich, an die andere das der Göt­ter, die mit kei­ner Schuld jemals zu tun haben, wie aus Schelers Bemer­kung her­vor­geht. Eine Haupt­schuld des Men­schen wird ja auch damit in Ver­bin­dung gebracht, dass er wie Gott sein will. Die Schlange sagt dem Weib – noch nicht »Eva« – im Para­dies: »Wel­ches Tages ihr davon esset, so wer­den eure Augen auf­ ge­tan, und ihr wer­det sein wie Gott und wis­sen, was gut und böse ist« (1. Mose 3,5). Auch wenn er es nicht errei­chen wird, sein Wol­len ist schon Schuld; Gott zieht anschei­nend mit einem gewis­sen Bedau­ern die Kon­se­quenz: »Siehe, Adam ist gewor­den wie unser einer und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht aus­strecke seine Hand und bre­che auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewig­lich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Gar­ten Eden, daß er das Feld bebaute, davon er genom­men ist, und trieb Adam aus …« (1. Mose 3, 22 f.).

Der Anfang aller Schuld liegt also im Aus­tritt des Men­schen aus der instinktgesteuerten Natur des Tie­res, dar­ge­stellt im Bild vom Para­dies; sein Wis­sen-Wol­len, Tun-Wol­len und Frei-ent­schei­den-Wol­len wird mit der Um­schrei­bung »Wie-Gott-sein-Wol­len« aus­ge­drückt. Fromm (1947, S. 118) ver­steht die Geschichte vom Sün­den­fall als Pro­to­typ des auto­ri­tä­ren Systems:



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18 Schuld »Die Pflicht, eine Über­le­gen­heit der Auto­ri­tät anzu­er­ken­nen, schließt eine Reihe von Ver­bo­ten ein. Das umfas­send­ste ist das Tabu, sich der Auto­ri­tät gegen­über als gleich­wer­tig zu emp­fin­den … Adams und Evas Sünde bestand darin, daß sie Gott gleich zu wer­den ver­such­ten.«

Gott gleich sein zu wol­len ver­bin­det Fromm mit dem Schöp­fe­ri­schen im Men­schen, das aber wegen der Abhän­gig­keit von Gott als Aus­druck sei­nes Wil­lens Schuld­ge­fühl her­vor­ruft. Im Zusam­men­hang mit dem Schöp­fungs­my­thos, der die Tren­nung aus der para­die­si­schen Ein­heit mit Gott (mit der Natur) beschreibt, ist es inter­es­sant, dass ein gro­ßer Bereich des ubi­qui­tä­ren, oft neu­ro­tisch-kon­flikt­haf­ten Schuld­ge­fühls (also nicht der rea­len Schuld und ihres Bewusst­seins, son­dern das irra­ tio­nale Ge­fühl, schul­dig zu sein) als Trennungsschuldgefühl ver­stan­den wer­den muss, wie wir sehen wer­den. Das indi­vi­du­elle Schuld­ge­fühl, sich als Adoleszenter von den Eltern tren­nen zu wol­len, fände sich auf phylogenetischer Ebene als Nie­der­schlag all­ge­mei­ner mensch­licher Erfah­rung in der Schöp­fungs­ge­schichte wie­der. Man kann den bib­li­schen Schöp­fungs­my­thos mit dem des Pro­me­ theus ver­bin­den (vgl. Fromm 1947; Stork 1988b, S. 128). Pro­me­ theus wurde von den Göt­tern bestraft, weil er den Men­schen das Feuer brachte. Aus freier Ent­schei­dung über­trat er das Ver­bot des Zeus, der – ähn­lich wie der jahwistische Gott – den Men­schen Wis­sen und Erkennt­nis vor­ent­hal­ten wollte. Er bringt den Men­schen Wis­sen und Kunst­fer­tig­keit, das bedeu­tet Frei­heit von der Abhän­gig­keit von Gott oder, wie ich stattdes­sen sagen würde, Lösung aus dem abso­lu­ten Ein­ ge­bun­den­sein in die Natur. Gleich­zei­tig aber wird Pro­me­theus an den Fel­sen geket­tet, also unfrei gemacht, als Zei­chen des Beginns des Lei­ dens, des Ein­ge­schränkt- und Begrenztseins des Men­schen, letzt­lich vor allem im Tode. Im Falle Adams ist es der Acker­boden, an den er gebun­den ist; und übri­gens musste Pro­me­theus Schmerz erlei­den, wie auch Adam und Eva und das fol­gende Men­schen­ge­schlecht. Auch Schmerz (see­li­scher und gege­be­nen­falls auch psy­cho­ge­ner Körperschmerz) steht auf der ontogenetischen Ebene wie das Schuld­ge­fühl sehr oft im Zusam­men­hang mit Trennungs- oder Loslösungsbestrebungen des Indi­vi­du­ums. Je mehr der Mensch sich von der selbst­ver­ständ­li­chen Eingebundenheit in die Natur ent­fernt, desto mehr muss er offen­bar ver­su­chen, sie eigen­mäch­tig zu gestal­ten und zu beherr­schen. Und die­ses Die-Naturver­än­dern-Müs­sen ist der Schritt des Men­schen aus dem instinktgeleiteten Tier­reich, und die­ser Schritt ist mit Schuld ver­bun­den, der Basisschuld des Men­schen­ge­schlechts. Ich habe schon eine Meta­pher, die die­sen Schritt bezeich­net, erwähnt: Der Mensch steht zwi­schen Tier und Gott, ist viel­leicht gott­ähn­lich, wird aber nie ein Gott oder so sein



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wie Gott. Anschei­nend muss er aber immer mehr so sein wol­len, und gerade das ist ihm stets als seine Schuld vor­ge­hal­ten wor­den. Eins­sein mit der Natur ent­spricht voll­kom­men der Vor­stel­lung des Einsseins mit Gott, das den Men­schen abhan­den gekom­men ist. »Und die ganze jahwistische Urge­schichte liest sich also als der Ver­such, den Ver­ lust Got­tes durch Selbstvergötterung aus­zu­glei­chen« (Drewermann 1977b, S. 583). Ähn­lich beschreibt Richter (1979, S. 23) den Aus­tritt des Men­schen aus der rela­ti­ven Gott-Nähe des Mit­tel­al­ters: »Der ein­mal ein­ge­lei­tete Pro­zeß der Ablö­sung aus der voll­stän­di­gen Unmün­dig­keit und Pas­si­vi­tät ent­hielt von vorn­her­ein die Ten­denz zu einem rasan­ten Umschlag ins Gegen­teil, in die Iden­ti­fi­zie­rung mit der gött­li­chen All­wis­sen­heit und All­macht« (Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Für Freud (1930a, S. 450 f.) steht Gott nicht für Natur, viel­mehr schafft sich der Mensch seine Göt­ter als Pro­jek­tio­nen der eige­nen Ideale: Er »hatte sich seit lan­gen Zei­ten eine Ide­al­vor­stel­lung von All­macht und All­wis­ sen­heit gebil­det, die er in sei­nen Göt­tern ver­kör­perte. Ihnen schrieb er alles zu, was sei­nen Wün­schen uner­reich­bar erschien – oder ihm ver­bo­ten war. Man darf also sagen, diese Göt­ter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Errei­chung die­ses Ide­als sehr ange­nä­hert, ist bei­nahe selbst ein Gott gewor­den. Frei­lich nur so, wie man nach all­ge­mein mensch­li­chem Urteil Ideale zu errei­chen pflegt. Nicht voll­ kom­men, in eini­gen Stücken gar nicht, in ande­ren nur so halb­wegs. Der Mensch ist sozu­sa­gen eine Art Prothesengott gewor­den, recht groß­ar­tig, wenn er alle seine Hilfs­or­gane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm ver­wach­sen und machen ihm gele­ gent­lich noch viel zu schaf­fen.«

Dem Zwi­schen­be­reich der mensch­lichen Exi­stenz ent­spricht auch der selt­sam doppelwertige Cha­rak­ter der mensch­lichen Frei­heit. Der Mensch ist frei zu den­ken, sich zu ent­schei­den, mithilfe von Krea­ti­vi­tät und Pro­duk­ti­vi­tät sich auf den Weg zu machen, die Natur zu beherr­ schen und gar gott­ähn­lich sein zu wol­len. Aber ist er wirk­lich frei? Er ist frei und ziem­lich erfin­de­risch, Krank­hei­ten zu hei­len, steht aber Krank­heit, Hun­ger und Armut von Mil­li­ar­den Men­schen hilf­los gegen­ über. Er kann die Umwelt gestal­tend ver­än­dern; aber ist er Herr über die von ihm – einem Zauber­lehr­ling gleich – her­vor­ge­ru­fe­nen »Natur«Kata­stro­phen? Der Mensch ist frei zu töten – aber er erscheint unfä­hig, Kriege zu ver­hin­dern oder zu been­den, wie wir noch heute jeden Tag erfah­ren. Sicher tötet auch das Tier, aber nur in dem Maße, wie es für das eigene Leben not­wen­dig ist. Die­ses »natür­li­che« Maß ist den Men­ schen abhan­den gekom­men. Anders als im all­ge­mei­nen das Tier macht er übri­gens auch kei­nes­wegs halt vor der Tötung sei­ner Art­ge­nos­sen, wie es die Gene­sis auch gleich vom Men­schen, kaum dass er das Para­ dies ver­lo­ren hat, am Bei­spiel des Brudermords berich­tet.

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In der Schöp­fungs­ge­schichte kann man die »Illu­sion sub­jek­ti­ver Frei­heit bei wach­sen­der objek­ti­ver Unfrei­heit« (Drewermann 1977b, S. 582) ent­decken, die Frei­heit, Gren­zen zu über­schrei­ten (die ver­bo­ tene Frucht zu essen), untrenn­bar ver­bun­den mit der Unfrei­heit, wirk­ lich Herr über sein Han­deln zu blei­ben. Auch hier dürfte es sich um zwei Dimen­sio­nen mensch­licher Schuld han­deln, um eine unver­meid­lich exi­sten­zi­elle – im­mer töten zu müs­sen, um leben zu kön­nen (Drewermann 1977b, S. 613) –, dann aber auch um eine andere, näm­lich die des ver­lo­re­nen Maßes, der Grenz­über­schrei­tung. Natür­lich kann die Frage K.s aus Kafkas »Pro­zeß« auch an die­ser Stelle wie­der gestellt wer­den: »Wie kann denn ein Mensch über­haupt schul­dig sein?« (1935, S. 180). Denn er ist doch unaus­weich­lich sei­ner mensch­lichen Natur ver­haf­tet, hat eben nicht die Frei­heit, sie zu ver­las­sen, anders zu sein, als er ist, wenn er »natur­haft« lebt, wenn sein »Ver­hal­ten aus sei­ner bio­lo­gi­schen und psy­cho­lo­gi­schen Anlage selbst resul­tiert« (Drewermann 1977b, S. 356). Hält man sich an den Schöpfungsmythos, könnte man den Men­schen auch von jeder Schuld frei­spre­chen. Man darf nicht ver­ges­sen, dass es »Zwei Bäume im Gar­ten«1 Eden gab, näm­lich den Lebens­baum, den »Baum im Hin­ter­grund« (Blumenberg 1988, S. 95), und den Baum der Erkennt­nis. Blumenberg (1988, S. 95) macht auf einen Satz Kafkas in dessen drit­ten »Oktavheft« auf­merk­sam: »Warum kla­gen wir wegen des Sün­ denfalles? Nicht sei­net­we­gen sind wir aus dem Para­diese ver­trie­ben wor­den, son­dern wegen des Bau­mes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen« (Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Das ist die »Sub­stanz, die das Geheim­nis des ›Pro­zeß‹ aus­macht«. Ein per­so­ni­fi­zier­ter Gott konnte es Blumenberg zufolge nicht ertra­gen, dass er nicht ein­zig blei­ben könnte. Es gibt also keine »Urschuld« des Men­schen, denn die Früchte des Lebens­baums waren doch erlaubt. »Der Mensch, der kei­nen Grund gege­ben hatte, ihm die­sen Baum zu ver­bie­ten, … wurde in eine Affäre ver­strickt, die den Vor­wand gab, ihm die Göttergleichheit zu ent­zie­hen, nach der zu begeh­ren es gar kei­ner Ver­su­chung bedurfte, denn dort stand er, der Baum des Lebens. So kam es zur Fik­tion einer Schuld, die der Ver­trei­bung den Schein des Rechts gab. Die Ver­trei­bung über­lie­ferte das Leben dem Tod … Der Tod war es, der aus der fik­ti­ven Schuld die reelle wer­den ließ: Das sterb­li­che Wesen kann nicht leben ohne die Schuld, wegen sei­ner end­li­chen Lebens­zeit den Näch­sten als den Riva­len um jedes Lebensgut nicht lie­ben zu kön­nen« (Blumenberg 1988, S. 95).

Der Tod also als Begren­zung der Lebens­zeit macht den – pri­mär un­schul­di­gen – Men­schen schul­dig. Weil Gott kei­nen Riva­len dul­dete, »machte er sein Eben­bild zu Riva­len unter­ein­an­der« (S. 95), und fol­ge­ rich­tig ist der erste Tod ein unna­tür­li­cher: »Der erste Mord, der ­aussieht



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wie Neid auf den Erfolg um die Gottesgunst, ist ein Akt der Ri­va­li­tät um die ›Tech­nik‹ der Naturherrschaft als Ersatz für den Le­bensbaumbesitz« (S. 96; alle Hervorhebungen ori­gi­nal). Es geht hier offen­bar um nichts weni­ger als um den Ursprung der Schuld, denn folgt man Kafkas und Blumenbergs Gedan­ken, liegt sie bei Gott, der schuld­haft han­delte, weil er zuerst »sein Eben­bild« als Riva­len fürch­tete. Bei genaue­rem Hin­se­hen muss­ten also Adam und Eva schon vor dem Sün­den­fall zwi­schen »gut« und »böse« unter­schei­ den ler­nen, da ihnen von ver­bo­te­nen und erlaub­ten, guten und bösen Früch­ten also, gesagt wurde. Diese erste Unter­schei­dung aber traf Gott; es war also nicht alles glei­cher­ma­ßen »gut«. Wenn Par­al­le­len gezo­gen wer­den sol­len zwi­schen Mytho­lo­gie und kind­li­cher Ent­wick­lung bzw. ihrer psy­cho­ana­ly­ti­schen Theo­rie, kommt man kaum umhin, an die Wech­sel­fälle der Schuldzuschreibung für die Ursa­che der Neu­rose zu den­ken, die mit der Geschichte der Psy­cho­ ana­lyse ver­bun­den sind. Anfangs näm­lich war sich Freud sicher, dass der Schul­dige der Erwach­sene war, der dem Kind höchst eigen­nüt­zig ein (sexu­el­les) Trauma zufügte (»Verführungstheorie«; vgl. Hirsch 1987). In einer sol­chen Auf­fas­sung ent­sprä­che der Erwach­sene einem pri­mär han­deln­den Gott, der seine Schöp­fung fürch­tet, wie der pseudoödi­pale Vater, der den Sohn nur als Riva­len sieht und die Toch­ter allein besit­zen muss. Der Schöp­fungs­my­thos als Gebilde einer schon patri­ar­ cha­li­schen Kul­tur gibt aber dem Geschöpf die Schuld, das Ver­bot wird gar nicht hin­ter­fragt (erst von Kafka), allein seine Über­tre­tung zählt und macht schul­dig. Ebenso gibt der Ödi­pus-Kom­plex, den Freud nach dem Auf­ge­ben der Verführungstheorie an deren Stelle gesetzt hat, dem Kind und sei­nen Trie­ben die Initia­tive für das ödi­pale Gesche­hen1. Grotstein (1990, S. 20) drückt das fol­gen­der­ma­ßen aus: »Zu den Ver­mächt­nis­sen, die Freud mit sei­ner zwei­ten Theo­rie der Psy­cho­ana­ lyse (im Anschluß an die Theo­rie eines ver­dräng­ten sexu­el­len Trau­mas) hin­ter­ließ, gehört das Postu­lat des inhä­ren­ten Schuld­ge­fühls, das der Mensch von Geburt an auf­grund jener unver­meid­li­chen und uner­bitt­li­chen Phan­ta­sien erwirbt, in denen er von dem einen Eltern­teil voll­stän­dig Besitz ergreift und eine mör­de­ri­sche Aggres­ sion gegen den andern Eltern­teil rich­tet, d. h. auf­grund des Ödi­pus-Kom­ple­xes.«

Freud ist in den letz­ten Jah­ren vehe­ment, aller­dings in unzu­läs­si­ger Sim­pli­fi­zie­rung, zum Vor­wurf gemacht wor­den, dass er den Ursprung des Trau­mas von der schuld­haf­ten Tat des Erwach­se­nen, mit der er das Kind missbraucht, in die trieb­haf­ten Wün­sche des (»unschul­di­gen«) 1 Eine in den Mythen dar­ge­stellte Schuld ent­spricht regel­mä­ßig einem Schuld­ge­fühl des Indi­vi­du­ums; zum Beispiel Sün­den­fall – Schuld­ge­fühl aus Autonomiestreben; Schuld des Ödi­pus  – ödi­pa­les Schuld­ge­fühl.

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Kin­des ver­legt habe (z. B. Masson 1984; vgl. Hirsch 1987). Und zwar aus Iden­ti­fi­ka­tion mit eben den patri­ar­cha­li­schen Macht­ver­hält­nis­sen, so der Vor­wurf, die man auch bei einem Gott Jahwe, folgt man Kafka, ver­mu­ten muss. Wo immer man nun den Ursprung der Schuld fin­den mag und wie immer man den Wider­spruch zwi­schen nur Mensch-sein-Kön­nen und als Mensch Schul­dig-sein-Müs­sen auch zu lösen ver­sucht, ich denke, der Schuldbegriff sollte erhal­ten blei­ben als Erin­ne­rung an die Un­frei­ heit der mensch­lichen Exi­stenz, der Not­wen­dig­keit zu ent­kom­men, zu töten und zu leben, und als fort­wäh­rende Mah­nung, die Hybris aller mög­li­chen Grenz­über­schrei­tun­gen zu beden­ken und ihr Aus­ufern zu begren­zen, soweit es nur mög­lich ist. Denn die Über­schrei­tung ver­ nünf­ti­ger Gren­zen ver­ur­sacht jeden Tag Beein­träch­ti­gung oder Zer­ stö­rung der mensch­lichen und öko­lo­gi­schen Umwelt und bedeu­tet damit beson­dere Schuld. Übri­gens hat Freud (1930a, S. 506) schon sei­ner­zeit die Mög­lich­keit der aller­letz­ten Grenz­über­schrei­tung durch die Mensch­heit ins Auge gefasst: »Die Men­schen haben es jetzt in der Beherr­schung der Natur­kräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, ein­ander bis auf den letz­ten Mann ­aus­zu­rot­ten.«­

Die Schöp­fungs­ge­schichte als Bild für die O ­ ntogenese

Man kann die Schöp­fungs­ge­schichte auch onto­lo­gisch, also als Meta­ pher für den Aus­tritt aus der »unschul­di­gen« Gebun­den­heit inner­halb der psy­chi­schen Ent­wick­lung des Klein­kin­des in eine eigene Iden­ti­tät ver­ste­hen, als Meta­pher für Indi­vi­dua­tion (vgl. Drewermann 1977b; Stork 1988a, 1988b; Kind 1992). Und tat­säch­lich, viele Berei­che der Kindesentwicklung wer­den im Schöp­fungs­my­thos behan­delt. Da ist die Erkennt­nis von Gut und Böse und der Erwerb der Schuld­fähig­ keit (bzw. des Schuld­ge­fühls), die Ent­ste­hung von Scham wegen der Nackt­heit und der sexu­el­len Wün­sche, die Namens­gebung, schließ­lich auch der Erwerb eines Begriffs vom Tode. Nur die Spra­che scheint sich im Schöp­fungs­my­thos nicht ent­wickeln zu müs­sen, obwohl wir sie in der Ent­wick­lung des Kin­des als einen wich­ti­gen Mei­len­stein der Abgrenzungsfähigkeit ken­nen, man denke an das erste »Nein!« eines klei­nen Kin­des. Wenn auch die Vor­stel­lung der Psy­cho­ana­lyse von einem objektlosen primärnarzisstischen Anfangs­sta­dium der Ent­wick­lung auf­grund der neue­ ren Säuglingsforschungen auf­ ge­ ge­ ben wer­ den muss, lässt sich wohl noch immer ein Ablauf der zuneh­men­den Dif­fe­ren­zie­rung



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der Bewer­tung und Ein­ord­nung von Erfah­run­gen des Säug­lings, ihrer Affektqualitäten und ihrer Her­kunft anneh­men (vgl. beson­ders Stern 1985; Dornes 1993; Fonagy, Gergely, Jurist u. Target 2004). Melanie Klein (1946) hat Spaltungsvorgänge, wel­che Erfah­run­gen des Säug­lings mit sich selbst und den umge­ben­den Objek­ten in »nur gute« und »nur böse« Teilerfahrungen tren­nen (deren Reprä­sen­tan­zen »nur gute« und »nur böse« Teil­ob­jek­te sind), für ein sehr frü­hes Alter ange­nom­men. Die Annahme eines der­art frü­hen Zeit­punkts lässt sich zwar nicht mehr hal­ten, aber gute und schlechte Erfah­run­gen wer­den Stern (1985, S. 351) zufolge vom Säug­ling durch­aus in »hedonische Grup­pen« ein­ge­ord­net, wenn auch anfäng­li­che Qua­li­tä­ten von »gut und böse« erst spä­ter auf­grund rei­fe­rer Symbolisierungsmöglichkeiten mit zwi­schen­mensch­li­chen Erfah­run­gen ver­bun­den wer­den kön­nen. Man kann anneh­men, dass die Zuflucht in eine sau­bere Tren­nung von Gut und Böse einem anfäng­li­chen Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen ent­spricht, das durch die Erkennt­nis von Gut und Böse im Schöp­fungs­my­thos dar­ ge­stellt wird. Und das Wis­sen-Wol­len ist eine der Grundmo­tivationen schon des ganz jun­gen Men­schen; auch hier hat die Psy­cho­ana­lyse ein ein­sei­ti­ges Kon­zept der trieb­haf­ten Lust-Unlust-Ver­mei­dungs-Moti­va­ tion revi­die­ren müs­sen. Eines der fünf von Lichtenberg (1988) auf­ ge­stell­ten motivational-funk­tio­na­len Systeme ist das Bedürf­nis nach Selbst­be­haup­tung und Explo­ra­tion; beide bezeich­nen ein Autonomiestreben, das in der Schöp­fungs­ge­schichte gut wie­der­ge­fun­den wer­den kann, wenn man sie als Meta­pher für Indi­vi­dua­tion und für das Her­ aus­tre­ten des Men­schen aus einer Unmün­dig­keit ver­ste­hen will. Den Zusam­men­hang von Wis­sen-Wol­len und Fähig­keit der Dif­fe­ren­zie­rung von Eigen­schaf­ten und Erfahrungsqualitäten be­schreibt auch Kind (1992, S. 32; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) in bezug auf die Schöp­fungs­ge­ schichte: »Die Prä­gung von gut und schlecht als Kate­go­rie wird erst dadurch mög­lich, daß der Mensch wis­sen will … Der Mensch erschafft seine erste eigene kogni­tive Kate­go­rie, die Anti­these von Gut und Böse.« Folgt man Melanie Klein (1946), so ent­steht ein erstes Schuld­ ge­fühl aus der Auf­he­bung der Spal­tung, zu der der etwas ältere Säug­ ling fähig ist. Er muss rea­li­sie­ren, dass die Aggres­sion zu ihm gehört, mit der er ein gelieb­tes Objekt gleich­zei­tig hasst und bekämpft, da es glei­cher­ma­ßen »gut« ist wie auch ver­sa­gend. Die Ent­wick­lung des Schuld­ge­fühls ist an die Fähig­keit, Ambi­va­lenz aus­zu­hal­ten, geknüpft (»depres­sive Posi­tion« bei M. Klein). Den Zusam­men­hang zwi­schen Oralität und Ambi­va­lenz hat zuerst Abraham (1924) ent­ wickelt, indem er auf eine präambivalente Stufe des rei­nen lust­vol­len Saugens eine oral-sadi­sti­sche, kanni­balis­tische der Ambi­va­lenz fol­gen lässt.

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Der Säug­ling ver­spürt Impulse, aggres­siv bemäch­ti­gend in die Brust zu bei­ßen, die ihm doch die Nah­rung spen­det. »Die Libido droht dem Objekt Ver­nich­tung durch Auf­fres­sen« (Abraham 1924, S. 141). Nahrungsbedürfnis, also Leben, ist mit der kanni­ba­listi­schen Aggres­sion, dem Töten, also dem Tod, eng ver­bun­den. Freud (1912–13) hat mit sei­ner spe­ku­la­ti­ven Stu­die »Totem und Tabu« die Wur­zel des Schuld­ge­fühls in dem Mord der Urhorde an dem Urva­ter gese­hen, eine Tat, die der ödi­pa­len Situa­tion des männ­ li­chen Kin­des ent­spricht; ein Motiv der Urhorde ist dem­ent­spre­chend, die Frauen, die der Vater allein bean­sprucht, zu besit­zen. Hier ent­steht das Schuld­ge­fühl eben­falls aus der Ambi­va­lenz. Aber wie die Psy­ cho­ana­lyse sich ins­ge­samt von der Zen­tra­li­tät des Ödi­pus-Kom­ple­xes zugun­sten einer Auf­ein­an­der­folge frü­he­rer und spä­te­rer Ent­wick­lungs­ sta­dien und der zuge­hö­ri­gen Objektbeziehungsqualitäten abge­wandt hat, kann man mit der Schöp­fungs­ge­schichte die orale Ambi­va­lenz2 als Grund­ lage des Schuld­ ge­ fühls ansehen. Drewermann (1977b, S. 597) ver­mu­tet sie in der Not­wen­dig­keit der prä­hi­sto­ri­schen Men­ schen, die als Jäger die Tiere töten muss­ten, die sie doch als Göt­ter ver­ehr­ten: »Die erste prä­hi­sto­ri­sche Erfah­rung von Schuld wird wirk­lich in einem Mord bestan­den haben, aber nicht in einem Mord aus sexu­el­len Moti­ven, son­dern in dem furcht­ba­ren Tötenmüssen um des eige­nen Lebens wil­len … ein Gedanke, der mit ein­schließt, daß man schul­dig wer­den muß, um das Dasein zu gewähr­lei­sten.«

Die ande­ren Berei­che der Über­ein­stim­mung von Gene­sis und kind­li­cher Ent­wick­lung sind Scham, Sexua­li­tät und Namens­gebung. Wäh­rend die Schuld sowohl eine des Tuns, des Han­delns als auch eine des Seins, der Exi­stenz sein kann, bezieht sich das Schuldgefühl vor­wie­gend auf eine Tat, der man sich schul­dig fühlt. Ebenso ist Scham ein Affekt, ein Gefühl, bezieht sich aber vor­wie­gend auf das Sein, das So-Sein. Die Nackt­heit bedeu­tet unver­hüll­tes Sein, des­sen man sich bewusst wird, indem man sieht, etwa in einem Spie­gel, oder vor allem, indem man gese­hen wird. Dadurch kommt man nicht umhin anzu­er­ken­nen, dass man so ist, wie man ist; Ver­leug­nung und Beschö­ni­gung ver­sa­gen, und da man nicht ein­ver­stan­den ist mit sei­nem So-Sein, schämt man sich. (Wäre man es, so wäre der Affekt: Stolz.) Augen­fäl­lig ist die Par­al­ lele des Über­gangs eines Sta­di­ums der »unschul­di­gen«, vorbewussten Akzep­tanz der eige­nen Nackt­heit im Klein­kind­al­ter und im Para­dies 2 Nicht umsonst ist es eine Frucht, etwas Leben­di­ges, das ster­ben muss, indem es geges­sen wird, die die »Erkennt­nis« sym­bo­li­siert. André Gide lässt, wie Stork (1988b) berich­ tet, in einer Erzäh­lung über den »schlecht gefes­sel­ten Pro­me­theus« end­lich Pro­me­theus »sei­nen« Adler ver­spei­sen.



Schuld fängt »bei Adam und Eva« an

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vor dem Sün­den­fall (»Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schäm­ten sich nicht« [1. Mose 2, 25]). Die Nackt­heit besteht jeweils schon vor­her, aber das Erken­nen, das Ken­nen, das Wis­sen um sie gibt ihr eine neue Qua­li­tät. Die Scham hängt mit dem Ver­lust des Einsseins mit sich (mit der Natur, mit Gott) zu­sammen, und die ersten Men­schen nach dem Sün­den­fall »schäm­ten sich des­sen, was sie ohne Gott sind, ihres geschöpflichen Man­gels« (Drewermann 1977b, S. 209). Interessant, dass Masaccio (Abbildung 1) Eva ihre »Scham« bedecken lässt, während Adam die Hand vor die Augen hält: nicht gesehen werden und nicht sehen wollen. Ich denke, auch das Klein­kind ver­liert zuneh­mend die Über­ein­stim­mung mit sich durch die zuneh­ mende Indi­vi­dua­li­tät, die zuneh­mende Tren­nung aus der Ein­heit mit der müt­ter­li­chen Umge­bung. Nackt­heit hat über das all­ge­meine Sein hinaus wohl immer etwas mit dem ge­schlecht­li­chen Sein zu tun. Denn die Kör­per­teile, die unsere ge­schlecht­li­che Iden­ti­tät zu erken­nen geben (»Geschlechts­merk­ male«), sind sowohl in der Kind­heit als auch in der Schöp­fungs­ge­ schichte bevor­zugte Objekte des Scham­ge­fühls; Adam und Eva bedecken ihre »Scham« mit den Blät­tern des Bau­mes, des­sen Frucht ihnen zur »Erkennt­nis« ver­hol­fen hatte. Auch Sexua­li­tät bedeu­tet immer Tren­nung aus den Bezie­hun­gen der Fami­lie wegen des Inzest-Ver­bots, und selbst die masturbatorische Sexua­li­tät ist mit einem Rück­zug von ihnen ver­bun­den. Dass Sexua­li­tät mit dem Ver­las­sen der Eltern und der Bezie­hung zu neuen Men­schen zu tun hat, geht bereits aus 1. Mose 2, 24 her­vor: »Darum wird ein Mann Vater und Mut­ter ver­las­sen und an sei­nem Weibe hangen, und sie wer­den sein ein Fleisch«; das klingt wie eine Ahnung des nach dem Sün­den­fall Kom­men­den. Fol­ge­rich­tig tre­ten in der Ado­les­zenz die genann­ten Berei­che der Scham wie­der in den Vor­der­grund. Auch hier sind es der nackte Kör­ per, beson­ders die Geschlechts­teile, an denen der Hader mit dem (geschlecht­li­chen) So-Sein fest­ge­macht wird, oft wahnhaft ins Patho­ lo­gi­sche gestei­gert in Form von Dysmorphophobie und Hypo­chon­drie (vgl. Hirsch 1989a). Und die Sexua­li­tät ist schließ­lich der Schau­platz der Identitätskämpfe des Jugend­li­chen (auch die Wahl bestimm­ter Objekte sei­nes sexu­el­len Begeh­rens kann mit hef­ti­ger Scham ver­bun­ den sein), wie sie auch der kräf­tig­ste Motor ist, ihn exogamisch aus der Fami­lie hin­aus­zu­trei­ben. Die Auf­gabe der indi­vi­du­el­len Ent­wick­lung wäre, sich in sei­nem Selbst­be­wusst­sein der­art neu zu ord­nen und zu fin­den, dass man (über­wie­gend) wie­der ein­ver­stan­den sein kann mit sei­nem So-Sein, auch ohne die ursprüng­li­che Sicher­heit der umge­ben­ den Fami­lie; wenn die mensch­liche Exi­stenz auch nicht ohne Schuld

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denk­bar ist, so bleibt doch immer­hin die Mög­lich­keit, weit­ge­hend Schuldgefühl und Scham(gefühl) zu über­win­den. Neben der sexu­ el­ len Iden­ ti­ tät, mit wel­ chem Begriff man das geschlecht­li­che So-Sein bezeich­net, kann man sich aber auch des sexu­el­len Tun-Wol­lens und Tuns schä­men (und Schuld­ge­fühle bekom­ men). Viel­leicht gibt es wenig Gele­gen­hei­ten, bei denen man soviel von sich zu erken­nen gibt, wie beim sexu­el­len Han­deln, das ja auch in aller Regel vom öffent­li­chen Ein­blick abge­schlos­sen ist. Wie immer es auch ety­mo­lo­gisch her­ge­lei­tet wer­den kann, jeden­falls »erkannte« Adam sein Weib Eva, und sie wurde schwan­ger (1. Mose 4, 1), das heißt, es scheint von alters her bekannt zu sein, dass in der sexu­el­len Begeg­nung ein Erken­nen statt­fin­det. Die Namens­gebung, das Benen­nen, kann man als sym­bo­li­schen Akt der Bezeich­nung und Fest­schrei­bung einer Iden­ti­tät ver­ste­hen. Der Vor­name, der einem Kind gege­ben wird, bezeich­net übri­gens auch sein Geschlecht. Der Fami­li­en­name bezeich­net die Abstam­mung, zum Teil auch die geo­grafi­sche Her­kunft (z. B. »… von Preu­ßen«). Es er­ scheint nur logisch, dass die Spra­che auch die genea­lo­gi­sche Her­kunft mit dem Wort »Geschlecht« bezeich­net, jemand ist »vom Geschlecht derer von …«. Die Namens­gebung wird wohl immer als Ritus began­ gen (vgl. Hirsch 2004a); in unse­rer Kul­tur ist es die Taufe, die auch eine ritualisierte Auf­nahme des Neu­ge­bo­re­nen in die mensch­liche und fami­liäre Gemein­schaft bedeu­tet (vgl. Bally 1960, S. 308). Auch die Initia­tions­ri­ten man­cher Natur­völ­ker sind mit der Ver­lei­hung neuer Namen ver­bun­den: »Eine andere weit ver­brei­tete Sitte ist, den Initi­ier­ ten neue Namen zu geben. Dies ist der inti­men Ver­bin­dung zwi­schen einem Men­schen und sei­nem Namen sowie magi­scher Funk­tio­nen wegen, die Namen oft zuge­schrie­ben wer­den, ein beson­ders bedeu­ tungs­vol­ler Akt« (Bettelheim 1954, S. 159). Die Ver­än­de­rung des Namens drückt immer einen Neu­be­ginn aus; ein Pati­ent Lebovicis (1988, S. 56) gab sich eines Tages einen neuen Namen, er »ver­wei­ gerte … die Iden­ti­tät, die ihm seine Eltern gege­ben hat­ten.« Man denke auch an die Auf­nahme neuer Mit­glie­der eines Ordens oder einer Sekte, die mit der Annahme eines neuen Namens ein­her­geht; bis vor kur­zem war ja auch in unse­rer Kul­tur die Namensveränderung der Braut bei der Ehe­schlie­ßung dadurch obli­ga­to­risch, dass sie den Namen des Man­nes anneh­men musste, was man als Sym­bol für die Unter­ord­nung der Frau in der patri­ar­cha­li­schen Gesell­schaft, für das Opfern ihrer eigen­stän­di­ gen Iden­ti­tät ver­ste­hen kann. Inter­es­sant ist, die Benen­nung der »ersten Men­schen« in der Ge­ nesis zu ver­fol­gen. In der ersten Fas­sung (1. Mose 1) wer­den sie als »Mann und Weib« (1. Mose 1, 27) bezeich­net, und Gott spricht



Schuld fängt »bei Adam und Eva« an

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von »aller­lei Kraut … Bäume[n] … Getier, Vögel[n] … Gewürm« (29 f.). Diese all­ge­mei­nen Bezeich­nun­gen wer­den auch im 2. Kapi­ tel bei­behal­ten. Der »Mensch« wird durch Einblasen des »leben­di­ gen Odem[s]« (7) mit einer »leben­di­gen Seele« (7) aus­ge­stat­tet, aber einen Namen bekommt er nicht. Die »Gehil­fin« (18), die der Mensch bekom­men soll, lässt sich nicht unter den Tie­ren fin­den; Gott bringt alle Tiere, die er gemacht hat, »zu dem Men­schen, dass er sähe, wie er sie nannte; denn wie der Mensch aller­lei leben­dige Tiere nen­nen würde, so soll­ten sie hei­ßen. (19) Und der Mensch gab einem jeg­ li­chen Vieh und Vogel unter dem Him­mel und Tier auf dem Felde sei­nen Namen; aber für den Men­schen ward keine Gehil­fin gefun­ den, die um ihn wäre« (20). Dar­auf­hin erst schuf Gott »ein Weib« aus der Rippe des Men­schen (22), und der Mensch meint, »man wird sie Männin hei­ßen, darum daß sie vom Manne genom­men ist« (23). Auch die »Männin« hat noch kei­nen Eigen-Namen; ledig­lich die Tiere sind benannt wor­den, und zwar vom Men­schen, als scheute sich Gott, die Auf­gabe der Namens­gebung selbst zu über­neh­men. Auch noch wäh­rend des Sün­den­falls im 3. Kapi­tel tre­ten keine Namen auf (»Das Weib … aß und gab ihrem Mann auch davon …« [6]). Erst danach, und zwar in dem Moment, in dem sie ihrer Nackt­heit gewahr wer­den und sich schä­men, wird erst­ma­lig, völ­lig unver­mit­telt, der Mensch mit dem Namen »Adam«3 belegt (8), und fortan behält er ihn, wäh­rend »das Weib« noch kei­nen bekom­men hat. Das geschieht erst, nach­dem Gott den Men­schen ihre Hauptbestimmungen genannt hat – das Weib soll gebä­ren, der Mann den Acker bestel­len: »Und Adam hieß sein Weib Eva, darum daß sie eine Mut­ter ist aller Leben­di­gen« (20). Es scheint so, als ob in der para­die­si­schen Ureinheit eine individualisierende Benen­nung nicht nötig gewe­sen ist, als ob Gott gar nicht an eine sol­che Mög­lich­keit gedacht hätte und erst der Mensch die Tiere und nach sei­ner end­gül­ti­gen Mensch­wer­dung sich selbst benen­nen sollte4. Kain und Abel be­reits wer­den ohne wei­te­res von Geburt an mit ihrem Namen benannt. Wenn es auch nicht expli­zit aus­ge­spro­chen wird, scheint doch der Autor der Vor­lage der Über­set­zung durch Luther nicht ohne Sinn den Namen Adams erst­ma­lig nach dem Sün­den­fall erwähnt zu haben, viel­leicht hat auch erst Luther diese Unter­schei­ dung durch die Über­set­zung getrof­fen.

3 »Adam« soll »rot, blutfarben« bedeu­ten, weil er aus roter Erde gemacht wurde; »Eva« bedeu­tet Leben (s. Büchner 1877). 4 In Grie­chen­land bekom­men die Kin­der erst mit etwa einem Jahr ihren Namen (viel­leicht als Zei­chen grö­ße­rer Indi­vi­dua­tion), vor­her hei­ßen sie ein­fach to móro, das Baby.

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Über­blick über den Schuldbegriff Je mehr man über Schuld nach­denkt, desto mehr kann es einem so vor­ kom­men, als gäbe es sie gar nicht wirk­lich, als schwebe sie im Raum über den Köp­fen der Men­schen, die rat­los wie (nicht mehr unschul­dige) Kin­der mit etwas wie Äuße­rem und doch Eige­nem kon­fron­tiert sind, mit dem sie fertig werden müs­sen, schwan­kend zwi­schen Abwehr und Aner­ken­nung von etwas Vagem, Unbe­stimm­tem. Und in der Tat bedarf Schuld, um sich zu mani­fe­stie­ren, einer Instanz, die sie defi­niert und auch den Schul­di­gen selbst als sol­chen bezeich­net. Diese Instanz kann außer­halb des Indi­vi­du­ums lie­gen oder in ihm selbst; im letz­te­ren Fall den­ken wir an das Gewis­sen, im erste­ren an das Gericht, das Nor­men über­wacht und schul­dig spricht, aber auch an eine über­mensch­li­che, meta­phy­si­sche Instanz, eine höhere Ord­nung, der man sich ver­pflich­tet füh­len und vor der man schul­dig wer­den kann. Eine anschau­li­che Glie­de­rung der Schuldmöglichkeiten und ihrer Instan­zen gibt Jaspers (1946, S. 17 f.; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) in »Die frage«. Unter dem Ein­ druck der Nazi-Herr­ schaft und ihrer Schuld­ Be­en­di­gung geschrie­ben, haben diese Sätze eine erstaun­li­che Gül­tig­ keit bewahrt:

»1. Kri­mi­nelle Schuld: Ver­bre­chen beste­hen in objek­tiv nach­weis­ba­ren Hand­lun­ gen, die gegen ein­deu­tige Gesetze ver­sto­ßen. Instanz ist das Gericht, das … die Gesetze anwen­det. »2. Poli­ti­sche Schuld: Sie besteht in den Hand­lun­gen der Staats­män­ner und in der Staats­bür­ger­schaft eines Staa­tes, infolge derer ich die Fol­gen der Hand­lun­gen die­ses Staa­tes tra­gen muß, des­sen Gewalt ich unter­stellt bin und durch des­sen Ord­nung ich mein Dasein habe (poli­ti­sche Haf­tung). Es ist jedes Men­schen Mit­ver­ant­wor­tung, wie er regiert wird. Instanz ist die Gewalt und der Wille des Sie­gers  … »3. Mora­li­sche Schuld: Für Hand­lun­gen, die ich doch immer als die­ser ein­zelne begehe, habe ich die mora­li­sche Ver­ant­wor­tung  … Nie­mals gilt schlecht­hin ›Befehl ist Befehl‹ … Die Instanz ist das eigene Gewis­sen und die Kom­mu­ni­ ka­tion mit dem Freunde und dem Näch­sten, dem Lie­ben­den, an mei­ner Seele inter­es­sier­ten Mit­men­schen. »4. Meta­phy­si­sche Schuld: Es gibt eine Soli­da­ri­tät zwi­schen Men­schen als Men­ schen, wel­che einen jeden mit­ver­ant­wort­lich macht für alles Unrecht und alle Unge­rech­tig­keit in der Welt … Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu ver­hin­dern, so bin ich mit­schul­dig. Wenn ich mein Leben nicht ein­ge­setzt habe zur Ver­hin­de­rung der Ermor­dung ande­rer, son­dern dabei­ge­stan­den bin, fühle ich mich auf eine Weise schul­dig, die juri­stisch, poli­tisch und mora­lisch nicht ange­mes­sen begreif­lich ist. Daß ich noch lebe, wenn sol­ches gesche­hen ist, legt sich als untilg­bare Schuld auf mich … Instanz ist Gott allein.«

Zu ergän­zen ist, dass im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch die Schuld vor Gott mit Sünde bezeich­net wird. Durch das Wir­ken der einen oder ande­ren die­ser Instan­zen führt das



Überblick über den Schuldbegriff

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Fak­tum der Schuld zu einem Schulderleben, einer Schulderfahrung. Mit einer Aus­nahme: Wenn der Schuld­spruch eines Gerichts nicht auf ein emp­fäng­li­ches Gewis­sen fällt, der Täter also, ver­stockt, seine Schuld leug­net, bleibt es eben bei der Schulddefinition von außen ohne kor­re­spon­die­ren­des Schulderleben. Die­ses nun lässt sich weiter dif­ fe­ren­zie­ren in ein Schuld­ge­fühl, des­sen Bezeich­nung schon die Nähe zum Affek­ti­ven ent­hält, das eher also das Irra­tio­nale, Unrea­li­sti­sche und das emo­tio­nal Drückende bezeich­net, jedoch durch­aus die Ein­ sicht in einen Anteil rea­ler Schuld ent­hal­ten kann. Die All­tags­spra­che ent­hält dem­ent­spre­chend auch den Satz: »Ich fühle mich schul­dig.« Über­wiegt die Rea­li­tät der Schuld, die man aner­ken­nen muss, spricht man bes­ser von Schuld­be­wusst­sein, wie es der Sprach­ge­brauch auch bezeich­net: »Ich bin mir (k)einer Schuld bewusst!« Mit dem Schuld­be­wusst­sein kann auch der Affekt der Scham ver­ bun­den sein, der sich nicht so sehr auf das Han­deln, son­dern auf das Sein bezieht; ich war so, dass ich das getan habe. (Zur Dis­kus­sion der Dif­fe­renz von Sein und Tun vgl. Teil I, S. 56.) Auch die Scham ist ein Affekt, der aus der Span­nung zwi­schen der Ide­al­vor­stel­lung sei­ner Selbst (Ideal-Ich) und der Rea­li­tät des Selbst, die die­sem nicht ent­spricht und die anzu­er­ken­nen man nicht umhinkommt, resul­tiert. Scham kann aber auch durch das Vom-ande­ren-gese­hen-Wer­den ent­ ste­hen; ähn­lich wie beim Schulderleben gibt es auch hier eine innere und äußere Instanz, näm­lich das Ideal-Ich als innere, den »Blick des ande­ren« (Seidler 1995) als äußere. Schuld­ge­fühl rührt also von der Span­nung zwi­schen Über-Ich und Ich her und betrifft vor­wie­gend das Tun und damit über­wie­gend das, was man dem ande­ren antut, Scham dage­gen betrifft eher das Sein und das, was man sich selbst schul­det, indem man nicht so ist, wie man sein könnte oder müsste. Aber die Berei­che von Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein bzw. Scham wer­ den sich über­schnei­den; oft äußert sich das Sein am Tun und ist erst durch die­ses zu erken­nen. Ein wei­te­rer Affekt, der zur Schuldanerkennung gehört, ist der der Reue; auch die Reue ist erfor­der­lich für eine Ver­än­de­rung, eine Ent­ wick­lung (»Wand­lung«) des schul­di­gen Men­schen, mit der die Schuld zwar nicht auf­ge­ho­ben wird (das kann in kei­nem Fall gesche­hen, Schuld bleibt immer beste­hen), aber bewäl­tigt wer­den kann. Über­dies wird Trauer auf­tre­ten dar­über, dass man so war und ist und nicht ein ande­rer. Ist man einem ande­ren gegen­über schul­dig gewor­den, ist Reue die Vor­aus­set­zung der Wie­der­gut­ma­chung und einer Ver­söh­nung, zu der der andere mit Ver­zei­hung bei­trägt. Inso­fern kann der Bitte um Ent­schul­di­gung eigent­lich nicht ent­spro­chen wer­den, die Bitte um Ver­ zei­hung wäre ange­mes­sen, da sie erfüll­bar ist. Trotz­dem gibt es die­ses

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Gegen­satz­paar auch in ande­ren Spra­chen: par­don – excuser; I’m sorry (hier ist – sprach­lich jeden­falls – auch Reue ent­hal­ten) – excuse me; ebenso schei­nen sich die bei­den Qua­li­tä­ten der Schuldbewältigung im Latei­ni­schen »ignoscere«, das heißt »nicht wis­sen«, und im Grie­chi­ schen syngignoskein (συγγιγνώσϰειν), das heißt auch »über­ein­stim­ men«, ein­ge­ste­hen. Bei der Beschäf­ti­gung mit rea­ler Schuld fällt eine Zwei­tei­lung auf: Reale Schuld erscheint ein­mal als Schuld der Tat und eine sol­che des Seins (Häfner [1959/60] nennt das »Tatschuld« ver­sus »Existenzschuld«). Der Cha­rak­ter des Dop­pel­ten oder Dia­lek­ti­schen der Schuld zeigt sich auch in der alten Unter­schei­dung von »culpa« (schul­dig gewor­den sein) und »debitum« (jeman­dem etwas schul­den). »Culpa« betrifft das Tun, das Han­deln am ande­ren (aber auch an sich selbst), mit dem man sich schul­dig gemacht hat, lässt sich also auch als Beziehungsgeschehen begrei­fen, wäh­rend die Schuld am Sein von der Ver­ nach­läs­si­gung der Ver­ant­wor­tung und Ver­pflich­tung gegen­über der eige­nen Iden­ti­tät her­rührt, der nie umfas­sen­den, nie voll­kom­me­nen eige­nen Exi­stenz des Men­schen (dem ent­spricht die christ­li­che Lehre von der Erb­sünde als unaus­weich­li­che Gegeben­heit); man schul­det sich (und den ande­ren), in gewis­ser Weise zu sein. Nicht zuletzt gehört zum Wesen der Schuld die Frei­heit des Men­ schen; schul­dig wer­den kann nicht das instinktgesteuerte Tier, auch nicht ein Gott, nur der Mensch, der in einem Zwi­schen­be­reich zwi­ schen bei­den ange­sie­delt ist. Aber die Frei­heit der Ent­schei­dung zu han­deln und das Sein zu bestim­men, ist wahr­lich rela­tiv und schließt längst nicht die Frei­heit ein, Schuld gänz­lich zu ver­mei­den. Im Gegen­ teil, Schuld gehört exi­stenzi­ell zum Mensch-Sein, nur der Mensch ist zur Schuld fähig. Die Schuld­fähig­keit gehört zur Würde des Men­schen (Sölle 1971), ebenso wie auch die Fähig­keit zur Aner­ken­nung sei­ner Schuld. Buber (1958, S. 16 f.) sondert Schuld und Schuld­ge­fühl:

»Ein Mensch steht vor uns, der han­delnd oder Hand­lung unter­las­send eine Schuld auf sich gela­den … hat … Ihm ist von der Genese sei­nes Übels nichts ver­hoh­ len …, was ihn immer wie­der antritt, hat mit kei­ner elter­li­chen oder gesell­schaft­ li­chen Rüge irgend zu tun …«

Unter deut­li­cher Bezug­nahme auf die Psy­cho­ana­lyse stellt Buber fest, dass das Schulderleben nicht unbe­wusst ist, auch nichts mit inter­na­li­ sier­ten elter­li­chen Gebo­ten, dem Über-Ich also, zu tun hat. Viel­mehr liege eine weit­ge­hende Ein­sicht in die Schuld des Han­deln­den vor. Wenn man auch nicht anneh­men kann, dass bei jeder schuld­haf­ten Tat eines jeden Men­schen eine der­ar­tige Ein­sicht bewusst vor­han­ den ist, kann man doch sehen, dass es Buber auf eine Dimen­sion der



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Tiefe ankommt, die er vor­aus­setzt, um eine per­sön­li­che Schuld von be­trächt­licher Trag­weite zu defi­nie­ren, die er Existenzialschuld nennt: »Existentialschuld, d. h. Schuld, die eine Per­son als sol­che und in einer per­sön­li­chen Situa­tion auf sich gela­den hat, … geschieht, wenn jemand eine Ord­nung der Men­schen­welt ver­letzt …« (Buber 1958, S. 18 f.). Es erscheint mir aller­dings etwas pro­ble­ma­tisch, eine per­sön­li­che, durch eine Tat her­vor­ge­brachte Schuld »Existentialschuld« zu nen­nen, erin­nert die­ser Begriff doch allzu sehr an die ganz andere »exi­sten­ti­ elle Schuld« der Daseinsanalyse, auf die wir im Folgenden zu spre­chen kom­men wer­den.

Schuld und Gewis­sen »Ein Gesetz der Menschenordnung« (Buber 1958, s. o.) zu ver­let­ zen, macht schul­dig; aber wel­ches Gesetz? Kennt es jeder­mann? Maß­ stäbe müs­sen her, an denen Schuld gemes­sen wer­den kann, Regeln, geschrie­bene und unge­schrie­bene, an denen sich der ein­zelne wie auch die Gemein­schaft ori­en­tie­ren kön­nen. Man kann die Regeln in ethischmora­li­sche und juri­sti­sche auf­tei­len, dar­über hin­aus noch Nor­men einer christ­li­chen Ethik oder Moral set­zen sowie mit Jaspers (1946) eine poli­ti­sche Haf­tung for­dern. Die ein­mal von außen gesetz­ten Nor­men, die das mensch­liche Mit­ ein­an­der regeln sol­len und die aus den genann­ten Berei­chen stam­men, wer­den vom ein­zel­nen Indi­vi­duum ver­in­ner­licht – sogar die juri­sti­ schen zum Teil und soweit man mit ihnen bekannt­ge­wor­den ist; das Ergeb­nis des Auf­ge­nom­me­nen ist das Gewis­sen. Hier kommt die Psy­ cho­ana­lyse zu Wort, wenn auch nicht von allen unwi­der­spro­chen: Freud hat gezeigt, wie äußere Vor­stel­lun­gen, Werte und Nor­men, Gebote und Ver­bote sich in einer inne­ren Instanz, dem Über-Ich, nie­ der­schla­gen, des­sen bewusster Teil er mit dem Gewis­sen iden­ti­fi­ziert hat. In sei­nem spä­ten Auf­satz »Das Unbe­hagen in der Kul­tur« ent­wirft Freud (1930a, S. 484) das Kon­zept der Gewis­sens­bil­dung von den Anfän­gen im Klein­kind­al­ter: »Das Böse ist also anfäng­lich das­je­nige, wofür mit Lie­bes­ver­lust bedroht wird; aus Angst vor die­sem Ver­lust muß man es ver­mei­den … Man heißt die­sen Zustand ›schlech­tes Gewis­sen‹, aber eigent­lich ver­dient er die­sen Namen nicht, denn auf die­ser Stufe ist das Schuld­be­wußt­sein offen­bar nur Angst vor dem Lie­bes­ver­lust, ›soziale‹ Angst.«

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Die Ver­hält­nisse ändern sich durch die Ver­in­ner­li­chung der elter­li­chen Auto­ri­tät, »durch die Auf­rich­tung eines Über-Ichs … Damit wer­den die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe geho­ben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewis­sen und Schuld­ge­fühl spre­chen  …« (Freud 1930a, S. 484 f.). Wir sind von der rea­len Schuld und dem Gewis­sen als Instanz, einem ver­in­ner­lich­ten Maß­stab, an dem Schuld gemes­sen wer­den kann, aus­ ge­gan­gen. Nun stel­len wir fest, dass das Über-Ich Schuld­ge­fühle macht, deren Qua­li­tät durch­aus auch irra­tio­nal sein kann, je nach­dem näm­lich, in wel­cher Weise wel­che Nor­men an das her­an­wach­sende Kind durch die fa­miliäre Umge­bung her­an­ge­tra­gen wur­den. Ein sol­ches Über-Ich mit­samt sei­nem bewuss­ten Anteil, dem Gewis­sen, kann also durch­aus sowohl rea­li­sti­sche als auch irra­tio­nale, »neu­ro­ti­sche« Inhalte ent­hal­ ten, kann rea­li­sti­sche Schuld­ge­fühle machen, die das soziale Ver­hal­ ten genü­gend regeln, aber auch unrea­li­sti­schen Druck auf­grund inne­rer irra­tio­na­ler Kon­flikte aus­üben kön­nen, der eine kon­struk­tive Ent­wick­ lung behin­dert. Die psy­cho­ana­ly­ti­sche Sicht des Gewis­sens ist immer wie­der hef­tig kri­ti­siert wor­den. Das Über-Ich ist dabei allzu sehr nur als das Ergeb­nis ober­fläch­li­cher Anpas­sung an elter­li­che und gesell­schaft­li­che Nor­men ver­stan­den wor­den, angeb­lich, ohne eine Tiefendimension des Gewis­ sens, ein im Mensch-Sein ver­an­ker­tes, sozu­sa­gen natur­ge­ge­be­nes Wis­ sen um ethi­sche und mora­li­sche Richt­li­nien zu berück­sich­ti­gen. Aus einer daseinsanalytischen Sicht akzep­tiert Häfner (1959/60, S. 675) zwar die von der Psy­cho­ana­lyse beschrie­bene Über-Ich- und also auch Gewis­sens­bil­dung, meint aber, dass diese zu einer anfangs zwar not­ wen­di­gen, spä­ter aber zu durch­bre­chen­den Anpas­sung führe, und for­ dert ein dar­über hin­aus­ge­hen­des Gewis­sen höhe­rer Qua­li­tät: »Wenn man die Indi­vi­dua­li­tät der mensch­lichen Per­son bejaht, dann muß man auch zur Exi­stenz eines per­so­na­len Gewis­sens jen­seits der Über-IchFunk­tio­nen ste­hen.« Ebenso spricht Boss (1962, S. 21) vom »eige­nen Gewis­sen« im Gegen­satz zu den »Dressurprodukten« der Gebote und Ver­bote der Eltern. Fromms (1947) ähn­liche Unter­schei­dung zwi­schen auto­ri­tä­rem Gewis­sen – das er mit dem Über-Ich gleich­setzt – und huma­ni­sti­schem Gewis­sen – das dem per­so­na­len Gewis­sen Häfners ent­spricht – passt hier gut hin­ein. Ich denke, in diese Dicho­to­mie der Gewissensarten gehö­ren auch die Gedan­ken Ballys (1960) über die zwei Mög­lich­kei­ten, schul­dig zu wer­den: Ange­passte Men­schen hal­ten sich streng an die Gebote, die sie vor­fin­den, tun ihre Pflicht, gehor­chen der Obrig­keit und suchen sich »in der Ver­fe­sti­gung in ethi­schen Gebo­ ten und Geset­zen …, was gut und böse ist«, abzu­si­chern (Bally 1960, S. 308). Die ande­ren schwin­gen sich »über jede sol­che Gesetz­lich­keit



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hin­aus« (S. 308), kön­nen dadurch zwar in der Hybris schei­tern, ande­ rer­seits aber einem höhe­ren Gewis­sen fol­gen, als es die Nor­men der ande­ren ver­lan­gen. In den 1950er Jah­ren war wohl die Dis­kus­sion um das Dilemma zwi­schen Autoritätsgehorsam und Ver­­antwor­tung vor sich selbst ange­sichts der kaum ver­blass­ten Greuel in Nazi-Deutsch­ land (die ande­rer­seits bereits kräf­tig ver­drängt waren) beson­ders aktu­ ell. Jaspers (1946) hatte gleich nach dem Ende Nazi-Deutsch­lands eine Abwehr von Schuld durch die Beru­fung auf Staats­rä­son und hier­ar­chi­ sche Abhän­gig­kei­ten (»Befehl ist Befehl«) als nun end­gül­tig ille­gi­tim ver­wor­fen. Sicher beschreibt auch Buber (1958, S. 38) eine sol­che Hier­ar­ chie der Gewissensqualitäten, wenn er vom »Vulgärgewissen, das … unfä­hig ist, der Schuld auf ihren Grund und Abgrund zu kom­men …« spricht. »Dazu bedarf es eines grö­ße­ren, eines ganz personhaft gewor­ de­nen Gewis­sens … Denn es ist dem Gewis­sen des Men­schen ein­ ge­bo­ren, sich erhe­ben zu kön­nen.« (Sich zu erhe­ben wohl gegen die von Men­schen gemach­ten Gesetze, um eine vorhergesehene grö­ßere Schuld zu ver­mei­den.) Unverständlicherweise stellt sich Fromm (1947, S. 115) in Oppo­si­ tion zur Psy­cho­ana­lyse Freuds, wenn er das auto­ri­täre Gewis­sen mit dem Über-Ich gleich­setzt, denn Freud beschreibt ganz ähn­lich wie Fromm die an die äußere Auto­ri­tät ange­passte Hal­tung, die gut oder böse ledig­lich nach der Anwe­sen­heit der Auto­ri­täts­per­son und nach der Wahr­schein­lich­keit der zu erwar­ten­den Strafe misst, als Vor­stufe des Über-Ich. Freud (1930a, S. 484) meint auch exakt wie Fromm den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter des Erwach­se­nen, wenn er hin­zu­fügt: »Beim klei­nen Kind kann es nie­mals etwas ande­res sein, aber auch bei vie­len Erwach­se­nen ändert sich nicht mehr daran, als daß anstelle des Vaters oder bei­der Eltern die grö­ßere mensch­liche Gemein­schaft tritt. Darum gestat­ten sie sich regel­ mä­ßig, das Böse, das ihnen Annehm­lich­kei­ten ver­spricht, aus­zu­füh­ren, wenn sie nur sicher sind, daß die Auto­ri­tät nichts davon erfährt oder ihnen nichts anha­ben kann, und ihre Angst gilt allein der Ent­deckung. Mit die­sem Zustand hat die Gesell­ schaft unse­rer Tage im all­ge­mei­nen zu rech­nen.«

Fromm (1947, S. 125; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) setzt dem auto­ri­tä­ren Gewis­sen das »huma­ni­sti­sche« ent­ge­gen, das heißt »nicht die nach innen ver­legte Stimme einer Auto­ri­tät …; es ist die eigene Stimme, die in jedem Men­schen gegen­wär­tig ist und die von kei­nen äuße­ren Stra­fen und Beloh­nun­gen abhängt … Stimme unse­res wah­ren Selbst, die uns auf uns selbst zurück­ruft, pro­duk­tiv zu leben, uns ganz und har­mo­nisch zu ent­wickeln – d. h. zu dem zu wer­den, was wir unse­rer Mög­lich­keit nach sind.« Das Ziel des »huma­ni­sti­schen Gewis­sens« ist Fromm zufolge Pro­duk­ti­vi­tät des Men­schen (auch Krea­ti­vi­tät, könnte

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man hin­zu­fü­gen); Häfner spricht von Wand­lung, auf die das »per­ so­nale Gewis­sen« hin­aus will, im Gegen­satz zur Unter­wer­fung und Sta­gna­tion, die mit dem Über-Ich-Gewis­sen ver­bun­den sind. Beide, Fromm und Häfner, spre­chen von der Angst vor dem Tod (wie auch Buber, s. o.): »Das Gefühl, nicht gelebt zu haben, ist die Ursa­che die­ser irra­tio­na­len Furcht vor dem Tode. Sie ist der Aus­druck unse­res schlech­ten Gewis­sens, daß wir das Leben ver­geu­det und die Gele­gen­heit ver­säumt haben, von unse­ren Fähig­kei­ten pro­duk­ ti­ven Gebrauch zu machen« (Fromm 1947, S. 128).

Häfner führt die Todes­angst auf das Anwach­sen der »Existenzschuld« zurück, die beim Ange­passten immer größer gewor­den ist. Beide Auto­ren neh­men Freud in sei­ner Kon­zep­tion des Über-Ich allzu wört­lich und bleiben dabei in der ersten Stufe der Über-Ich-Bildung stecken, in der das Über-Ich noch reine Strafangst war. Auchter (1996, S. 87 f.) spricht von »Über-Ich-Gehorsam« und »Über-IchMoral«, die zum Kadavergehorsam eines Befehlsempfängers führen, der die Art des Befehls nicht mit dem eigenen Gewissen abgleicht, ihn vielmehr blind befolgt. Denn Freud beschreibt selbst ver­schie­ dene Rei­fe­grade des Über-Ich; er rech­net pessimistischerweise »im all­ge­mei­nen« mit der Mehr­zahl der Men­schen, die auf der Stufe des auto­ri­tä­ren Über-Ich stecken­ge­blie­ben sind. Andere kom­men dar­über hin­aus, indem im »Unter­gang des Ödi­pus-Kom­plexes« eine Iden­ti­fi­ka­ tion mit ihren Wer­ten statt­fin­det, die mei­nes Erach­tens viel eher eine Hineinnahme in die eigene selbst­ver­ant­wor­tete Iden­ti­tät bedeu­tet als bloße Anpas­sung aus Unter­wer­fung. Im Grunde besteht die Auf­gabe schon für das etwa sechs­jäh­rige Kind, die elter­li­chen Nor­men nicht nur introjektiv auf­zu­neh­men, son­dern sie zu inte­grie­ren, durch Assi­mi­la­ tion sich zu eigen zu machen und – ins­be­son­dere in einer neu­er­li­chen Bear­bei­tung in der Ado­les­zenz – sich durch­aus von Tei­len die­ser elter­ li­chen Ange­bote und Vor­bil­der auch wie­der zu tren­nen, um eine Iden­ ti­tät im eige­nen Recht zu schaf­fen, etwa unter Ein­be­zie­hung ande­rer Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mu­ster außer­halb der Fami­lie. Inso­fern wird der Mensch auch im psy­cho­ana­ly­ti­schen Ent­wick­lungs­kon­zept nicht aus der Ver­ ant­wor­tung ent­las­sen, sich um die Ent­wick­lung des eige­nen authen­ti­ schen Selbst zu küm­mern, eine Auf­gabe, an der er auch – schuld­haft – schei­tern kann. Fromm und Häfner sagen nichts über die Genese des nicht-auto­ ri­tä­ren Gewis­sens. Die Phi­lo­so­phie schafft anschei­nend zuwei­len die Dinge aus sich selbst her­aus, wie es in der For­mu­lie­rung von Bron (1990, S. 481) auch für Kant gilt: »Für Kant ist das Gewis­sen die ›Stimme des inne­ren Rich­ters‹ … Kant ver­zich­tet auf inhalt­li­che Aus­sa­gen über die­ses Bewußt­sein und fragt nicht nach dem Ein­fluß



Kri­tik des psy­cho­ana­ly­ti­schen Gewissensbegriffs

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psycho­so­zia­ler Bedin­gun­gen und objek­ti­ver Ord­nun­gen auf die Gewis­ sens­bil­dung.« Freud dagegen vertritt für die Über-Ich-Bil­dung eine rein psycho­ lo­gische Ansicht: »Ein ursprüng­li­ches, sozu­sa­gen natür­li­ches Unter­ schei­dungs­ver­mö­gen für gut und böse darf man ableh­nen« (Freud der Ein­ fluß« 1930a, S. 483), wie bereits erwähnt, denn »ein frem­ (S. 483) bestimmt, was gut und böse ist. Heute nehmen wir an, dass es ein angeborenes Potenzial zur Entwicklung von Empathie, Mentalisierung und damit Gewissensbildung gibt, dass diese Entwicklung aber eine fördernde soziale Umgebung voraussetzt. Mentalisierung bedeutet, sich vorzustellen, was im Anderen vorgeht, sodass man in der Identifikation damit ihm nicht antun möchte, was man selbst nicht erleiden will.

Kri­tik des psy­cho­ana­ly­ti­schen Gewissensbegriffs Gegen einen sol­chen Deter­mi­nis­mus der Gewis­sens­bil­dung durch äußere Ein­flüsse bei Freud wehrt sich Boss (1962, S. 35) vehe­ment:

»Ist ande­rer­seits ein rei­fes Sich-schul­dig-füh­len-Kön­nen sei­nem Gotte oder sei­ nem Geschicke oder sei­nem Mensch-Sein gegen­über nur des­halb unecht und etwas Abge­lei­te­tes, Ver­scho­be­nes, Pro­ji­zier­tes, weil ein Schuldigsein sich auch bei einem Kinde vor sei­nem Vater ereig­nen kann?«

Hier han­delt es sich um ein dra­sti­sches Bei­spiel von unzulässiger Ver­ mi­schung von Schuldgefühl und Schuld, noch dazu patho­lo­gi­schem Schuldgefühl (»unecht  … Ver­scho­be­nes  … Pro­ji­zier­tes«) mit einem Schuldigsein und die­sem fol­gen­den Sich-schul­dig-Füh­len, das heißt einem rea­li­sti­schen Schuld­be­wusst­sein. Eine der­ar­tige Ver­mi­schung oder Ver­wechs­lung von Schuld und Schuld­ge­fühl fin­det sich in der Lite­ra­tur allent­hal­ben (z. B. Bally 1952, S. 228; Buber 1958, S. 30; Zacher 1987, S. 171; vgl. auch Körner 2010, S. 18), erscheint oft unre­flek­tiert und ver­hin­dert zu sehen, daß Schuld und Schuld­ge­fühl tat­säch­lich (und nicht wegen ihrer unsau­be­ren Defi­ni­tio­nen) inein­ an­der über­ge­hen kön­nen. Als ginge es der Psy­cho­ana­lyse tat­säch­lich darum, ein »psy­cho­the­ra­peu­ti­sches Gewissensabbauverfahren« (Boss 1962, S. 22) zu instal­lie­ren oder »einen Ana­ly­san­den sich wirk­lich und grund­sätz­lich schuld­los füh­len zu las­sen« (S. 36). Es scheint sich um ein gran­dio­ses Miss­ver­ständ­nis zu han­deln, über des­sen Hin­ter­gründe hier nur spe­ku­liert wer­den kann. Zum Bei­spiel könnte das Inter­esse an der Auf­recht­er­hal­tung irra­tio­na­len Schuld­ge­fühls und die Befürch­ tung, die Psy­cho­ana­lyse könnte allzu weit­ge­hend von Schuld­ge­fühl

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und damit von Abhän­gig­keit be­freien, zu der Unter­stel­lung geführt haben, sie wolle und sei fähig, jede Schuld »abzu­bauen«. Dass die Psy­ cho­ana­lyse sich mit den intrapsychischen Schuldgefühlsmechanismen beschäf­tigt, heißt doch kei­nes­wegs, dass sie die Exi­stenz rea­ler Schuld ein­fach negiert; sie beschäf­tigt sich eben nicht damit. Noch weni­ger bedeu­tet das aber, dass sie ver­spricht oder auch nur andeu­tet, je reale Schuld genauso wie irra­tio­na­les Schuld­ge­fühl »aus der Welt schaf­fen« zu wol­len (Bally 1952, S. 228). Trotz aller Pole­mik unter­schei­det Boss (1962, S. 61) schließ­lich doch zwi­schen neu­ro­ti­schem Schuld­ge­fühl und exi­sten­zi­el­ler Schuld. »Es kann einem Men­schen von klein auf eine Moral andressiert wor­ den sein, die sein Eigenwesen … wesent­lich behin­dert und ver­stüm­ melt …« Genau dem wäre zuzu­stim­men, dass es näm­lich gerade auf die Dif­fe­ren­zie­rung von Schuld und Schuld­ge­fühl (letz­te­res kann durch­aus erstere bewir­ken oder ver­grö­ßern!) ankommt, um beide dif­ fe­ren­ziert wür­di­gen zu kön­nen. Die Sorge der daseinsanalytisch ori­en­tier­ten Auto­ren scheint zu sein, dass das, was sie als auto­chtho­nes oder eige­nes, auch personales Gewis­sen bezeich­nen, von dem Über-Ich- bzw. Gewissensbegriff der Psy­cho­ana­lyse absor­biert wird. Hole (1989, S. 97) dage­gen ver­steht die Über-Ich-Bil­dung als »stets not­wen­dige[s] Durch­gangs­sta­dium«, in der eine Internalisierung von Wer­ten und Nor­men statt­finde. Ohne eine Basis sei die »Bil­dung eines per­sön­li­chen Gewis­sens … psy­cho­ lo­gisch nicht denk­bar«. Eine ähn­liche Befürch­tung, dass die Psy­cho­ana­lyse sowohl Schuld als auch ein ursprüng­li­ches Gewis­sen abschaf­fen wolle, scheint die christ­ li­che Theo­lo­gie zu bewe­gen. Baumann und Kuschel (1990, S. 90; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) for­mu­lie­ren an die Adresse der (psy­cho­ana­ly­ ti­schen?) Psy­cho­lo­gie die Frage: »Wird nicht viel­leicht doch alle Schuld in Schuld­ge­fühl auf­ge­löst, echte Schuld ver­ drängt statt besprechbar gemacht, so daß keine ›Sünde‹ übrigbleibt … und infol­ge­ des­sen auch keine Schuld, die von ihm [Gott] ver­ge­ben wer­den könnte? … Ist es denn nicht ver­ant­wor­tungs­lose Ver­füh­rung  …, Men­schen von ihren Schuld­ge­füh­ len zu befreien, ohne ihnen ein Gefühl für Schuld zu ver­mit­teln …?«

In die­ser Fra­ge­stel­lung wird wenig­stens die Unter­schei­dung von Schuld­ge­fühl und Schuld ein­deu­tig getrof­fen. Auch Rahner (1959, S.  61) unter­schei­det sorg­fäl­tig zwi­schen Schuld­ge­fühl und der »exi­ sten­ti­el­len Grundbefindlichkeit« von Schuld und gesteht durch­aus zu, dass Schuld­ge­fühle »daher Gegen­stand ärzt­li­cher Tätig­keit sein« kön­ nen. Sollte die Psy­cho­ana­lyse nicht nur in der Theo­rie, son­dern auch



Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse 37

in der Pra­xis reale Schuld und ihre not­wen­dige Aner­ken­nung ver­nach­ läs­si­gen, Schuld­ge­fühl mit Schuld­be­wusst­sein ver­wech­seln, wären die Zwei­fel berech­tigt. Aber wie in der Frage des Ein­flus­ses rea­ler Trau­ ma­ti­sie­rung auf die Neurosenentstehung war die Psy­cho­ana­lyse nie der Auf­gabe ent­ho­ben, zwi­schen äuße­rer Rea­li­tät, deren Ver­zer­rung im Erle­ben und in der Phan­ta­sie sowie rei­ner Phan­ta­sie­tä­tig­keit zu dif­fe­ ren­zie­ren, und ebenso wird sie sich auch immer die Mühe der Dif­fe­ ren­zie­rung von rea­ler Schuld und neu­ro­ti­schem Schuld­ge­fühl gemacht haben müs­sen, wenn auch zuwe­nig über diese Auf­gabe publi­ziert wor­ den ist.

Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse Schuldigsein gehört Heidegger zufolge wesen­haft zum mensch­lichen Dasein, es ist ein Existenzial, wie Condrau (1962, S. 151 f.) refe­riert: »Das Dasein ist in sei­ner Grund­struk­tur schul­dig, das heißt, die Schuld bil­det nicht etwas zufäl­lig oder akzi­den­tell dem Men­schen Anhaf­ten­ des, kein ›Attri­but‹ des Daseins, son­dern wird im Begriff des Daseins mitbegriffen.« Eine sol­che exi­sten­zi­elle Schuld ist ganz ver­schie­den von einer Tatschuld, auch unab­hän­gig von der Über­tre­tung defi­nier­ ter sozia­ler Nor­men. Sie beglei­tet den Men­schen von der Geburt bis zum Tod, unab­hän­gig davon, ob er davon weiß, also ein Bewusst­sein einer sol­chen Schuld ent­wickelt. Auch Condrau betont, dass eine sol­che Schuld unab­hän­gig von ihrem (Schuld-)Bewusst­sein ist; auch ein freier Wille, wie ihn die kirch­li­che Moral für das Schuldigwerden ebenso vor­aus­setzt wie eine Kennt­nis des Übels, das man wil­lent­lich begeht (wir wer­den im Folgenden dar­auf zurück­kom­men), ist für die­ ses Schuldig­sein an der blo­ßen Exi­stenz nicht Vor­aus­set­zung. Nach all­ge­mei­ner Über­ein­stim­mung wäre es aber nicht legi­tim, sich auf die­ser Erkennt­nis, dass jede Exi­stenz unaus­weich­lich Schuld ent­ hält auf­grund des So-und-nicht-anders-Seins, das geschul­det wird, aus­ zu­ru­hen und die exi­sten­zi­elle unver­meid­bare Schuld als »Ent-Schul­ di­gung« für ver­meid­ba­res indi­vi­du­el­les, situa­ti­ves Schuldigwerden zu gebrau­chen. Die grund­le­gende Schuld der Exi­stenz erin­nert an die »All-Schuld« bei Dostojewski (»Die Brü­der Karamasoff«, 1908b), die radi­kale bewusste Über­nahme von Schuld »allen gegen­über«: »Die Sünde aber ist für Dostojewski … eine Macht, die über den ein­zel­ nen und seine Frei­heit ver­fügt … Ohn­macht kann zum Alibi, Bedingt­ heit durch die ›Umwelt‹ zur Aus­rede wer­den« (Baumann u. Kuschel 1990, S. 10). Die Alter­na­tive wäre die Über­nahme der All-Schuld, »die

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Fähig­keit, daß der Unschul­dige frei­wil­lig die Schuld ande­rer über­neh­ men kann, um die über­große Schul­den-Last der Mensch­heit zu til­gen« (S. 10). Ähn­lich auch die Frage Kafkas, die er dem Prot­ago­ni­sten sei­ nes Romans »Der Pro­zeß« in der zen­tra­len Dom-Szene in den Mund legt: »›Ich bin aber nicht schul­dig‹, sagte K. ›Es ist ein Irr­tum. Wie kann denn ein Mensch über­haupt schul­dig sein? Wir sind doch alle Men­schen, einer wie der andere‹« (Kafka 1976, S. 180). Die Frage bedeu­tet im Grunde, ob ein indi­vi­du­el­les Schuldigwerden ange­sichts einer exi­sten­zi­el­len Basisschuld über­haupt noch denk­bar ist. Das aber ist es aller­dings, denn man ist sei­ner indi­vi­du­el­len Schuld nicht dadurch ledig, dass man sich auf die exi­sten­zi­elle Schuld aller Men­schen beruft. Auch die christ­li­che Reli­gion kennt diese bei­den Ebe­nen der Schuld; denn die Beru­fung auf die »Erb­sünde darf nicht zu einem Wege des Ausweichens vor der … Schuld wer­den« (Jaspers 1946, S. 69). Zwi­schen der exi­sten­zi­el­len Schuld des Men­schen und einer indi­vi­ du­el­len, in jedem Augen­blick mög­li­chen all­täg­li­chen Tat-Schuld gibt es eine dritte Form der Schuld, näm­lich die Auf­gabe zu ver­nach­läs­ si­gen, die Exi­stenz, das eigene Leben mög­lichst so zu gestal­ten, dass man sei­nen Fähig­kei­ten, Bega­bun­gen, sei­ner Bestim­mung letzt­lich mög­lichst nahe­kommt und gerecht wird. Hier ent­steht die Kon­zep­tion Heideggers von Gewis­sen, das »Man« ent­spricht dem auto­ri­tä­ren Gewis­sen Fromms und dem Vulgärgewissen Bubers (s. o.). Es gibt also eine mitt­lere Ebene der Ver­ant­wor­tung und Schuld für die Gestal­ tung des eige­nen Lebens trotz der gleich­zei­tig beste­hen­den »Geworfenheit«, nicht nur als Ver­pflich­tung, son­dern auch als »Mög­lich­keit zur Über­nahme eige­ner Ver­ant­wort­lich­keit und damit auch Schuld« (Condrau 1962, S. 164). Schuld im exi­sten­zi­el­len Sinne ist wie­der mit Angst ver­knüpft, sei­ ner Exi­stenz, das heißt sei­nen Mög­lich­kei­ten, Bega­bun­gen und Fähig­ kei­ten, sogar sei­nen Lust- und Triebmöglichkeiten, auch sei­nen Ver­ wirk­li­chungs­mög­lich­kei­ten in Bezie­hun­gen zu ande­ren Men­schen nicht gerecht gewor­den zu sein, eine Identitätsangst. Es ist die Angst, an der – unge­nü­gen­den  – Ver­wirk­li­chung der eige­nen Exi­stenz schul­ dig gewor­den zu sein, einer Angst vor dem Tode als dem Ende eines zu wenig geleb­ten Lebens.



Schuld und Gewis­sen im Kon­text von Bezie­hung

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Schuld und Gewis­sen im Kon­text von Bezie­hung Hubbertz (1992, S. 52) ver­bin­det die Frage der Iden­ti­tät mit dem »Prin­zip Ver­ant­wor­tung« (Jonas 1984), vor­nehm­lich die Ver­ant­wor­ tung auch für etwas zu Tuendes, nicht etwa nur für etwas Geta­nes. »In der Schuld geht der Blick zurück, in der Ver­ant­wor­tung jedoch nach vorn« (Hole 1989, S. 97). Jonas (1984, S. 391) dehnt die Ver­ ant­wor­tung für die eigene Exi­stenz auf eine für die Mit­men­schen aus: »Ver­ant­wor­tung ist die als Pflicht aner­kannte Sorge um ein ande­res Sein, die bei Bedro­hung sei­ner Ver­letz­lich­keit zur ›Besorg­nis‹ wird« (zit. nach Hubbertz 1992, S. 53; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Verantwortung bedeutet also Verpflichtung, für jemanden und sich selbst zu sorgen, während Schuld erst entsteht, wenn jemand seiner Verantwortung (durch Tat oder Unterlassung) nicht gerecht geworden ist. Die umge­bende Gruppe gibt dem Neu­ge­bo­re­nen ein Ver­spre­chen, ihm zu einer Exi­stenz als Mensch zu ver­hel­fen, und der ritu­elle Aus­ druck dafür ist die Namens­gebung (vgl. die Bedeu­tung des Namens im Zusam­men­hang mit den Schöpfungsmythen), die Taufe in der christ­li­ chen Kul­tur, aber auch die Kon­fir­ma­tion oder Firmung als unsere Form des Intitiationsritus. Bally (1960, S. 309; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) fügt die­ses Ein­ge­bun­den­sein in die umge­bende (zuerst fami­liäre) Gruppe der Exi­stenz­phi­lo­so­phie hinzu: »Kein Men­schen­we­sen ist also im vor­ hin­ein bei sich und damit gleich­zei­tig bei der Welt als der sei­nen und damit auch schon als der unse­ren. Es kommt viel­mehr erst zu sich. Es ist ver­mit­telt. Wir wer­den, die wir sind.« Ähn­lich wie der späte Freud (1930a): Ursprüng­lich kann der Mensch gut und böse nicht unter­schei­ den, weiß nichts, hat kein Gewis­sen (s. o.). Auch Boss (1962, S. 50; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) sieht den Men­schen im Zusam­men­hang mit den ihn umge­ben­den Din­gen und auch der sozia­len Gruppe: »Gerade dies und nichts ande­res als ein sol­ches Sich-brau­chen-Las­sen ist es aber im tief­sten, was der Mensch dem, was ist und zu sein hat, schul­det. Darum grün­den in die­sem Schul­dig-Sein alle mensch­lichen Schuld­ge­ fühle über­haupt.« Ähn­lich auch Condrau (1962, S. 168): »Ver­ant­wor­ tung ist Ver­pflich­tung im Miteinandersein, weil Mensch­sein immer schon das Mitmenschsein ein­schließt …« Schließ­lich bleibt Binswanger (1942) zu nen­nen, des­sen Arbeit »Grund­for­men und Erkennt­nis mensch­lichen Daseins« Hubbertz (1992, S. 205) als »groß­an­ge­leg­ten Gegen­ent­wurf zu Heideggers ›Sein und Zeit‹« bezeich­net. Binswanger ent­wickelt den Gedan­ken, »Daseinserkenntnis habe ›im lie­ben­den Miteinandersein von Ich und Du ihren eigent­li­chen Grund und Boden‹« (Hubbertz 1992, S. 205). Schuld, Tod und Grenz­ver­let­zung zer­stö­ren kei­nes­wegs die »Wirheit« der Lie­ben­den unbe­dingt, son­dern machen

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sie »frei für … den Reich­tum des Verzeihens und die Kraft der Demut, diese eigent­li­chen Zei­chen der Lie­besfülle …« (zit. bei Hubbertz 1992, S. 207; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Kol­lek­tiv­schuld und Generationenhaftung Wenn die Schuld des Men­schen sich nicht nur an den Fol­gen sei­ner Taten misst, son­dern sei­nem jeweils bestimm­ten Sein, liegt die Frage nach der Schuld jen­seits der Kau­sa­li­tät einer Tat und ihren Fol­gen nahe. Die soziale Dimen­sion der Schuld ent­hält die Ver­ant­wor­tung für das in die Gruppe hineingeborene neue Indi­vi­duum, ein Ver­spre­chen der ande­ren, ihm zu einer Exi­stenz als Mensch zu ver­hel­fen. Das Gelin­ gen eines sol­chen Vor­ha­bens hängt aller­dings nicht davon ab, was ein Mit­glied einer der­ar­ti­gen (Fami­lien-)Gruppe tut oder unter­lässt, son­ dern viel­mehr davon, wer und was es ist. Und so wie ein Fami­li­en­mit­ glied ist, wird es nicht nur Vor­bild­funk­tion für das her­an­wach­sende Kind haben – aber da wird es durch sein So-Sein bereits schul­dig wer­ den, da es nicht anders ist, als es ist, dem Kind kein ande­res Vor­ bild abge­ben kann –, son­dern unver­meid­lich als Teil der Gruppe mit den ande­ren inter­agie­ren, sodass Rück­wir­kun­gen auf die Ent­wick­lung des neuen Lebens unver­meid­lich sind, auch und gerade, wenn der ein­ zelne nichts tut oder indem er ihm gar nicht gegen­über­tritt, sodass sein Nicht-Dasein Wir­kun­gen zeigt. Eine sol­che Sicht­weise ent­spricht der For­de­run­g Sölles (1971), Schuld nicht mehr pri­vat zu sehen, son­dern unser Gewis­sen »ein wenig« zu poli­ti­sie­ren. Denn »am Lei­den ande­rer erwacht unsere Scham dar­über, glück­lich zu sein, und über das Mit­ lei­den hin­aus füh­len wir uns mit­ver­ant­wort­lich, ja mit­schul­dig, auch dann, wenn der Zusam­men­hang zwi­schen unse­rem Glück und dem Unglück des ande­ren nicht kau­sal dedu­ziert … wer­den kann« (Sölle 1971, zit. nach Imbach 1989a, S. 42 f.). Es han­delt sich also, wie ich ergän­zen möchte, wenn wir nichts tun oder zu wenig tun, um eine Art der Über­lebensschuld (kein Über­lebendenschuld­ge­fühl, das im zwei­ ten Teil des Buches aus­führ­lich behan­delt wer­den wird) denen gegen­ über, die mehr lei­den müs­sen als wir, die wir – übri­gens eher zufäl­lig, »unver­schul­det« – bes­ser leben. Es gibt auch eine »geschicht­li­che Dimen­sion« der Schuld (Baumann u. Kuschel 1990, S. 74), da Schuld in der Geschichte »als das Ende einer lan­gen Kette mensch­licher Taten« (S. 74) erscheint. Eine Gnade der spä­ten Geburt ent­schul­digt nie­man­den; »uns bleibt die ahnungs­volle Frage, was wir selbst und unsere Gene­ra­tion wohl zur



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unheil­vol­len Stö­rung der Geschichte künf­ti­ger Gene­ra­tio­nen bei­tra­gen: aus Ego­is­mus, beque­mer Sorg­lo­sig­keit, aus gutgemein­ter Sorge, aus Ahnungs­lo­sig­keit oder Über­klug­heit, viel­leicht auch aus Ent­täu­schung und Ver­bit­te­rung« (S. 75). Ähn­lich auch Camus (1974, »Der Mensch in der Revolte«), den Hubbertz (1992, S. 214) zitiert: »Der Mensch end­lich ist nicht voll­kom­men schul­dig, denn er hat die Geschichte nicht begon­nen, doch auch nicht unschul­dig, da er sie ja fort­führt. Die­je­ni­ gen, die diese Grenze über­schrei­ten und ihre völ­lige Unschuld beteu­ ern, enden in der Wut einer end­gül­ti­gen Schuld.« Ich möchte zu beden­ken geben, ob nicht durch Iden­ti­fi­ka­tio­nen der Mit­glie­der einer grö­ße­ren oder klei­ne­ren sozia­len Gruppe mit­ein­an­ der und auch der Ver­tre­ter auf­ein­an­der­fol­gen­der Gene­ra­tio­nen Iden­ ti­tä­ten mitgeschaffen wer­den, die eine par­ti­elle Über­ein­stim­mung mit den Taten der ande­ren, denen man sich ver­bun­den fühlt, ent­hält. Durch diese Iden­ti­fi­ka­tio­nen mit den Mit­glie­dern einer beste­hen­den Gruppe – eine hori­zon­tale Ebene – oder mit den Vor- und Nach­fah­ren – eine ver­ti­kale Ebene – ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass durch Wie­der­ho­lung oder auch Dul­dung die schuld­haf­ten Taten in den eigent­lich Unschul­ di­gen wie­derauf­er­ste­hen – und mögen die Iden­ti­fi­ka­tio­nen auch zum Teil gewalt­sam auf­ge­pfropft oder aus exi­sten­zi­el­ler Not her­aus vor­ ge­nom­men wor­den sein. Auf der­ar­tige transgenerationale Wiederholungszwänge auf­grund von Introjektionen und Iden­ti­fi­ka­tio­nen werde ich im zwei­ten Teil des Buches zurück­kom­men. Jean Améry (1966, S. 92; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) will Kol­lek­tiv­ schuld defi­nie­ren als »Summe indi­vi­du­el­len Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils ein­zel­ner Deut­scher – Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – die Gesamtschuld eines Vol­kes. Der Be­griff der Kol­lek­tiv­schuld ist vor sei­ner Anwen­ dung zu ent­ my­ thi­ sie­ ren und zu entmystifizieren.« Jaspers (1946, S. 25) ver­neint eine Kol­lek­tiv­schuld: »Ein Volk als Gan­zes gibt es nicht … Ein Volk kann nicht zu einem Indi­vi­duum gemacht wer­den.« Es könne weder eine ver­bre­che­ri­sche, noch eine mora­li­sche oder meta­ phy­si­sche Kol­lek­tiv­schuld geben, wohl aber eine poli­ti­sche Haf­tung. »Ein Volk haf­tet für seine Staat­lich­keit. Ange­sichts der Ver­bre­chen, die im Namen des Deut­schen Rei­ches ver­übt wor­den sind, wird jeder Deut­sche mit­ver­ant­wort­lich gemacht. Wir ›haf­ten‹ kol­lek­tiv« (S.  40). Haft­bar sein bedeute jedoch nicht, tat­säch­lich schul­dig zu sein. Die poli­ti­sche Haf­tung lei­tet sich aus der Zuge­hö­rig­keit zur staat­li­chen Gemein­schaft ab: »Aber geschicht­lich blei­ben wir gebun­den an die nähe­ren und enge­ren Gemein­schaf­ten und wür­den ohne sie ins Boden­ lose sin­ken« (S. 51). Mei­nes Erach­tens beschreibt Jaspers hier die Ver­ant­wor­tung eines

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jeden Mit­glieds einer Gemein­schaft für ihren Cha­rak­ter und ihre Taten, da jeder durch Iden­ti­fi­ka­tio­nen unlös­bar immer ein Teil auch der Aus­ wir­kun­gen und Aus­wüchse ist, die er für sich ent­schie­den ablehnt. Und ebenso erstreckt sich diese Identitätsgemeinschaft auf die nach­fol­gen­ den Gene­ra­tio­nen: Jaspers denkt an das Gefühl der Mit­schuld »für das Tun unse­rer Fami­lien­ange­höri­gen«. Das würde das Tun unse­rer Kin­der, denen wir Vor­bild waren, betref­fen, aber auch das der Eltern­ ge­ne­ra­tion. Sicher kann es dabei nicht um reale, »greif­bare« Schuld gehen, eher um ein Schuld­ge­fühl bzw. -bewusst­sein in einer Art Soli­ da­ri­tät im Bösen inner­halb der Gene­ra­tio­nen­folge. Auch Améry (1966, S. 96) will nicht »die Jun­gen« ankla­gen, die »frei sind von indi­vi­du­el­ ler und die indi­vi­du­elle zur kol­lek­ti­ven auf­sum­mier­ter Schuld«. Aber er meint eben die Iden­ti­fi­ka­tio­nen, wenn er einen »Jun­gen« zitiert: »›… schließ­lich sind wir es leid, immer wie­der zu hören, daß unsere Väter sechs Mil­lio­nen Juden umge­bracht haben‹« (S. 95). Das Gegen­ teil die­ser Klage täte not: Deutsch­land »würde dann … sein ver­gan­ge­ nes Ein­ver­ständ­nis mit dem Drit­ten Reich als die totale Ver­nei­nung … des eige­nen bes­se­ren Herkommens begrei­fen ler­nen, würde die zwölf Jahre, die für uns andere [die Opfer] wirk­lich tau­send waren, nicht mehr ver­drän­gen, ver­tu­schen, son­dern als seine ver­wirk­lichte Weltund Selbstverneinung, als sein nega­ti­ves Eigen­tum in Anspruch neh­ men« (S. 98). Das ist die For­de­rung nach Schuldanerkennung, wie sie auch beim Indi­vi­duum als Vor­aus­set­zung einer Ver­söh­nung not­wen­ dig ist; und Améry zeich­net eine Uto­pie: »Zwei Men­schen­grup­pen, Überwältiger und Über­wäl­tigte, wür­den ein­ander begeg­nen am Treff­ punkt des Wun­sches nach Zeitumkehr und damit nach Mora­li­sie­rung der Geschichte … Die deut­sche Revo­lu­tion wäre nach­ge­holt, Hit­ler zurück­ge­nom­men« (S. 98). Wenn es keine Kollektivschuld gibt, so sprechen wir doch von Generationenhaftung und transgenerationaler Verantwortung. Karl Jaspers (1946, S. 17 f.) hatte wohl eine vage Vorstellung davon, wie wir bereits gesehen haben, wenn er von politischer Haftung spricht und von metaphysischer Schuld, entstanden durch die Solidarität zwischen allen Menschen, »welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt« (vgl. Jaspers 1946, S. 17 f., Teil I, S. 28). In sehr überzeugender Weise hat Bernhard Schlink (2002) eine Schuld beschrieben, die daraus entsteht, dass die Angehörigen des Täters mit ihm solidarisch bleiben, sich nicht von ihm lossagen. Zwar »kann der Schuldbegriff, wenn überhaupt, im Zusammenhang kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne nur als irrationaler Schuldbegriff anerkannt werden; als psychisches Phänomen« (S. 24). Das wäre ein kollektives Schuldgefühl. Jedoch: »Das Kollektiv haftet,



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soweit es die Solidar- und auch Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Täter aufrechterhält, von ihm profitiert, ihn begünstigt und seine Bestrafung vereitelt« (S. 26). Schlink bezeichnet die Verbundenheit mit dem Täter als Solidarität, wo ich eher von Identifikation sprechen würde; es ist dasselbe gemeint. Weiter Schlink: »Der rechtsgeschichtliche Rückblick zeigt, dass auch das Nichtlossagen, Nichtverurteilen, Nichtverstoßen Schuld stiftet. […] Das Nichtlossagen verstrickt in alte und fremde Schuld, aber so, dass es neue, eigene Schuld erzeugt« (S. 29 f.).

Christ­li­che Reli­gion Für Sölle (1971) gehört die Schuld­fähig­keit zur Würde des Men­schen. Baumann und Kuschel (1990, S. 92) fra­gen: »Wird die Mög­lich­keit mensch­licher Schuld abge­schafft, wird dann nicht zwangs­läu­fig die Frei­heit zu mensch­li­chem Han­deln mit abge­schafft?« In der Tat, nur der Mensch ist schuld­fä­hig auf­grund der prin­zi­pi­el­len Frei­heit sei­ner Ent­schei­dung, etwas »Gutes« oder »Böses« zu tun. Ein Cha­rak­te­ri­sti­kum, das in den Abhand­lun­gen zur theo­lo­gi­schen Auf­fas­sung von Schuld durch­ge­hend vor­kommt, ist das des »freien Wil­lens«, der wis­sent­li­chen Ent­schei­dung für die unstatt­hafte Tat. Schuld kann Rahner (1959, S. 56) zufolge nur in Bewusst­sein und Frei­heit began­gen wer­den. Und es geht um eine Tat, eine Hand­lung, wie schon Augustinus im 4. Jahr­hun­dert nach Chri­stus sagte: »Schuld ist die Folge einer Tat oder eines Begeh­rens gegen die Wei­sung des Ewi­gen Geset­zes« (zit. von Condrau 1962, S. 133). Es ist, als ob die christ­li­che Theo­lo­gie, sofern sie an der Auf­fas­sung der Ent­schei­dungs­frei­heit fest­hält, sowohl gegen die Exi­stenz­phi­lo­so­ phie ankämp­fen müsste als auch gegen die Psy­cho­ana­lyse. Denn wenn es sich nur um eine »Tatschuld« (Häfner 1959/69) han­deln kann, ist die dem Sein, der Exi­stenz imma­nente Schuld unmög­lich. Ebenso aus unbe­wuss­ten Moti­ven her­aus schul­dig zu wer­den. Dem­ent­spre­chend gebe es keine tra­gi­sche Schuld im Sinne des Dilem­mas, dass jemand von zwei Übeln, die ihn beide schul­dig wer­den las­sen, das klei­nere wäh­len müsste, da dann keine Ent­schei­dung für das Böse vor­läge, wenn man keine Wahl habe. Auch hält Rahner es gera­dezu für »unsitt­lich« (1959, S. 56), von Mut zur Schuld zu reden, das heißt die mutige Aner­ ken­nung exi­sten­zi­el­ler, rea­ler Schuld zu emp­feh­len. Die Beto­nung des freien Wil­lens, der bewuss­ten Ent­schei­dung gegen die Gesetze der Ord­nung Got­tes muss zwangs­läu­fig einer Auf­fas­sung der Psy­cho­ana­lyse, dass der Mensch in sei­nem Ver­hal­ten und Den­ken

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viel­fäl­tig auch unbe­wusst deter­mi­niert ist und auch für sein Unbe­wuss­ tes die Ver­ant­wor­tung trägt, zuwi­derlau­fen. In den »Vor­le­sun­gen zur Ein­füh­rung in die Psy­cho­ana­lyse« hält Freud (1916–17, S. 104) sei­nen Zuhö­rern vor, »daß ein tief wur­zeln­der Glaube an psy­chi­sche Frei­heit und Willkürlichkeit in Ihnen steckt, der aber ganz unwis­sen­schaft­lich und vor der Anfor­de­rung eines auch das Seelen­le­ben beherr­schen­den Deter­mi­nis­mus die Segel strei­chen muß«. Von theo­lo­gi­scher Seite fra­gen Baumann und Kuschel (1990, S. 94) kri­tisch, ob wir denn über­haupt »Herr im Hause« seien. Sie mei­nen ein Schrump­fen des Spiel­raums der freien Ent­schei­dung des ­ein­zel­nen zu bemer­ken. Es kann auch in der christ­li­chen Ethik ein Doppel­tes, eine Dia­lek­tik fest­ge­stellt wer­den, dass einer­seits eine schuld­hafte Tat in freier Ent­schei­dung des Indi­vi­du­ums geschieht; ande­rer­seits kann sie nicht über­se­hen, dass »das Böse« viel­fach gesell­ schaft­lich und lebens­ge­schicht­lich bedingt ist, sodass die Frei­heit einer bewussten Ent­schei­dung weit­ge­hend ein­ge­schränkt ist. Nimmt man das Unbe­wusste als deter­mi­nie­ren­den Fak­tor hinzu, ist man schon gar nicht »Herr im eige­nen Haus«, wie Freud (1916–17, S. 295) die­ses Bild in die­sem Zusam­men­hang for­mu­liert hatte. Die christ­li­che Reli­gion hat mei­nes Erach­tens immer ein dia­lek­ti­ sches Kon­zept von Schuld ver­tre­ten: Es gibt einer­seits die Sünd­haf­ tig­keit, die Erb­sünde (vgl. Jaspers [1957] über Augustin), die »Ur­ schuld« (Buber 1958, S. 7), die zur Exi­stenz des Men­schen, zu sei­ner Defi­ni­tion als Mensch grund­le­gend gehört, die mit der prin­zi­pi­el­len Fähig­keit zur freien Ent­schei­dung mit dem Erken­nen-Kön­nen von Gut und Böse zusam­men­hängt, und ande­rer­seits die ein­zelne »sün­ dige« Tat, die der ein­zelne mit aller Kraft zu ver­mei­den ange­hal­ten ist (auch wenn es ihm, da er wie­derum ein schwa­cher Mensch ist, nicht oder nur sel­ten gelin­gen wird). Wie im Kon­zept der All-Schuld von Dostojew­ski, in der jeder für jedes schul­dig ist, (in einer über­stei­ ger­ten Nach­ah­mung der Über­nahme der Schuld aller Men­schen durch Jesus Chri­stus) und in Kafkas Frage, wie denn der Mensch über­haupt schul­dig wer­den könne, da doch alle – exi­sten­zi­ell? – schul­dig seien, könnte die eine Seite der Dia­lek­tik – alle Men­schen sind immer sün­dig – als Recht­fer­ti­gung die­nen, sich aus der Personalschuld, der kon­kre­ten Ver­ant­wor­tung eines jeden herauszustehlen. Ein Aus­weg liegt in der An­nahme, daß auch die unaus­weich­lich – unfrei – began­ge­nen Sün­den von vor­he­ri­gen Ent­schei­dun­gen des Indi­vi­du­ums bestimmt sind. Rahner (1959) ver­sucht damit, an der Bedin­gung der freien Ent­schei­dung für das Schuldigwerden fest­zu­hal­ten. Eine andere Mög­lich­keit, das Kon­zept der freien Ent­schei­dung zu ret­ten, ist die Vor­stel­lung des »Situ­iert-Seins inmit­ten von Schuld«



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(vgl. Imbach 1989b, S. 137), denn die Frei­heit der Ent­schei­dung ist immer mit­be­stimmt, mitbedingt durch die Schuld ande­rer. Baumann und Kuschel (1990, S. 134) kri­ti­sie­ren zu Recht, dass hier an der ka­tho­li­schen Auf­fas­sung der freien Ent­schei­dung zur Sünde zu sehr fest­ge­hal­ten wird, die pro­te­stan­ti­sche aber zu kurz kommt, in der »die Sünde … exi­sten­ti­elle Sündentat« ist. Mir schei­nen diese dia­me­tral ver­schie­de­nen christ­li­chen Auf­fas­sun­gen – unaus­weich­li­che Erb­sünde bzw. stets freie Ent­schei­dung – auf dif­fe­rente Inter­pre­ta­tio­nen der Schöp­fungs­ge­schichte zurück­zu­ge­hen. Ein­mal wird der Sün­den­fall Adams als Bei­spiel für eine freie Ent­schei­dung eines Men­schen zur Sünde ver­stan­den, zum ande­ren aber als Meta­pher für die Mensch­ wer­dung und die Beschaf­fen­heit der mensch­lichen Exi­stenz, unaus­ weich­lich sün­dig sein zu müs­sen. Im ersten Fall wäre der Sün­den­fall Ergeb­nis der Frei­heit, im zwei­ten Fall ent­steht die Frei­heit erst aus dem Sün­den­fall (durch die Erkennt­nis von Gut und Böse), wenn es sich auch um eine immer beschränkte Frei­heit han­delt. Jeden­falls las­sen sich die bei­den Auf­fas­sun­gen als Pole ver­ste­hen, zwi­schen denen sich die dia­lek­ti­sche Span­nung der mensch­lichen Schuld auf­baut. Mei­nes Erach­tens hat sich die christ­li­che Reli­gion mit dem Dogma der »freien Ent­schei­dung zur Sünde« keine Mög­lich­keit gelas­sen, dem Men­schen das Dop­pelte, die Dia­lek­tik von Sünd­haf­tig­keit des Men­ schen­ge­schlechts auf­zu­zei­gen als Zei­chen sei­ner prin­zi­pi­el­len Frei­heit, sei­ner Würde gar, und ande­rer­seits von »Sünde« der all­täg­li­chen Tat, für die er sich, aller­dings mehr oder weni­ger deter­mi­niert, also unfrei, ent­ schei­det oder auch nicht. Dar­aus ent­stünde die For­de­rung, alles zu tun, um so wenig Schuld auf sich zu laden wie mög­lich, ohne aber je ganz ohne Schuld sein zu kön­nen, da sie dem Mensch-Sein imma­nent ist. Dadurch könnte die Reli­gion eine unge­mein schuldbewältigende Wir­ kung haben und dem ein­zel­nen hel­fen, indi­vi­du­ell emp­fun­dene Schuld als prin­zi­pi­ell unaus­weich­lich zu begrei­fen, wobei sie ihn gleich­zei­tig aber kei­nes­wegs der Auf­gabe ent­he­ben müsste, sich mit aller Kraft zu bemü­hen, per­sön­li­che Schuld zu mini­mie­ren. Dadurch würde auch eine Wie­der­auf­nahme in die mensch­liche Gemein­schaft erreicht, von der der ein­zelne sich ent­fernt haben mag in dem Gefühl, sich durch seine Schuld für diese Gemein­schaft dis­qua­li­fi­ziert zu haben. Die Beichte, das Aner­ken­nen von Schuld, das in sei­ner emo­tio­na­len Dimen­sion Reue genannt wird, wor­ auf eine (sym­ bo­ li­ sche) Abso­ lu­ tion durch einen Ver­tre­ter der mensch­lichen Gemein­schaft erfolgt, könnte und sollte wohl eine psy­cho­hy­gie­ni­sche, gera­dezu the­ra­peu­ti­sche Funk­tion haben. Durch das Auf­zei­gen von prin­zi­pi­el­ler Schuldhaftigkeit und der gleich­zei­ti­gen For­de­rung, Schuld so gering wie mög­lich zu hal­ten,

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erfolgt Angstreduktion und, sozu­sa­gen unver­dient, Wie­der­auf­nahme in die Gemein­schaft. Die christ­li­che Kir­che, das heißt die mensch­lichen Ver­tre­ter die­ ser Reli­gion, scheint mir jedoch allzu sehr Schuldvor­wurf betrie­ben und aus dem uner­bitt­li­chen Durch­set­zen stren­ger Moral­vor­stel­lun­ gen Macht über die sün­di­gen und des­halb ohn­mäch­ti­gen Gläu­bi­gen gezo­gen zu haben. Nicht nur, dass der, der »inten­sive und anhal­tende Schuld­ge­fühle aus­zu­bil­den in der Lage ist, … der christ­li­chen Bot­ schaft näher« gilt (Hole 1989, S. 83), son­dern »die kol­lek­tive psy­ chi­sche Ent­wick­lung im abend­län­disch-christ­li­chen Kul­tur­kreis [ist] durch eine starke Beto­nung des Autoritätsprinzips und damit … des Schuldprinzips gekenn­zeich­net« (S. 97). Also fra­gen Baumann und Kuschel (1990, S. 91; Her­vor­he­bung ori­gi­nal): »Haben sich so viele Chri­sten nicht des­halb von jenem nun ver­miß­ten Sünden­ verständnis distan­ziert, weil es tat­säch­lich frag­wür­dig ist? … Frag­wür­dig, weil es nicht aus­rei­chend zwi­schen der kon­sti­tu­tio­nel­len Schwä­che  … und ver­ant­wort­li­ chem Ver­sa­gen, Schuld und Schuld­ge­füh­len unter­schei­det  …, weil es eine  … von der wirk­li­chen Schuldproblematik ablen­kende  … Sündenmystik begün­stigt, statt die Befrei­ung und Erlö­sung des Men­schen in sei­ner Gemein­schaft?«

In der Tat scheint die Kir­che weder die krea­ti­ven Mög­lich­kei­ten noch auch die dilemmaartigen Pro­bleme der mensch­lichen Sexua­li­tät als all­ge­mein­gül­tig auf­ge­zeigt und damit von Schuld bzw. Schuld­ge­fühl ent­la­stet zu haben. Viel­mehr scheint sie die rigide Unter­drückung der mensch­lichen Sexua­li­tät gefor­dert, scheint sie eher mit indi­vi­du­el­ler Schuld­zuwei­sung Aggres­sion bekämpft als gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Macht­missbrauch, Krieg und Aus­beu­tung ange­pran­gert zu haben.

Schulddialektik und Schulddilemma Schulddilemmata und damit das, was man »tra­gi­sche Schuld« nennt, erge­ben sich auf zwei Ebe­nen: Ein­mal ginge es darum, nur die Wahl eines klei­ne­ren Übels zu haben, die eine Auf­gabe schuld­haft ver­nach­ läs­si­gen zu müs­sen, indem man die andere wahr­nimmt. Wer je sei­ nem Kind weh getan hat, indem er das Haus sei­ner Pflich­ten wegen ver­ließ, kann sich in das Dilemma hin­ein­ver­set­zen. Die andere Mög­ lich­keit: Zwei ver­schie­dene Schulddimensionen gera­ten in Kon­flikt, näm­ lich Tatschuld und Existenzschuld. Indem ich meine Pflicht jeman­dem ge­gen­über wahr­nehme, kann es sein, dass ich ver­säume, was ich mir selbst schul­dig bin. Geht zum Bei­spiel der Fami­li­en­va­



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ter nicht aus dem Haus, weil das Kind zu sehr schreit, begibt er sich damit der Mög­lich­keit, seine Exi­stenz zu sichern und seine Iden­ ti­tät zu erwei­tern, macht er sich an sich selbst schul­dig; ver­lässt er das Kind, ent­steht Schuld die­sem gegen­über. In der Dis­kus­sion um die ver­schie­de­nen Gewissensqualitäten wer­den die Kon­flikte deut­ lich: Gehorcht man dem auto­ri­tä­ren Gewis­sen (»mora­li­sche Fremd­ herr­schaft« [Condrau 1962, S. 151]), macht man sich gegen­über der Ver­ant­wor­tung für sich selbst schul­dig. Spielt sich der Kon­flikt zwi­ schen mora­li­schen oder juri­sti­schen Geset­zen und den exi­sten­zi­el­len Bedürf­nis­sen eines ein­zel­nen ab, ist er meist leicht über­schau­bar und auch ent­scheid­bar. Schwie­ri­ger wird es, wenn einer­seits Schuld durch Ver­let­zung der Rechte oder des Lebens eines ande­ren droht, ande­ rer­seits aber ebenso die eige­nen Bedürf­nisse oder auch das eigene Leben selbst exi­ sten­ zi­ ell bedroht wären, würde man den ande­ ren scho­nen und das Schuldigwerden an ihm ver­mei­den. Ein Ver­hun­gern­ der, der sei­nem Lei­dens­ge­nos­sen ein Stück Brot stiehlt, macht sich an ihm natür­lich schul­dig; tut er es aber nicht, ver­nach­läs­sigt er schuld­ haft die Pflicht, sich um sein Leben opti­mal zu sor­gen. Ein all­täg­li­ cher Vor­gang ist der Kon­flikt zwi­schen der Ver­pflich­tung (viel­leicht auch dem Bedürf­nis), bei jeman­dem zu blei­ben, und ande­rer­seits dem Bedürf­nis, frei sei­ner Wege zu gehen, ein Basis-Kon­flikt der Men­ schen zwi­ schen Anklammerungstrieb, Geborgenheitswunsch einer­ seits und Autonomiestreben, Frei­heits­drang ande­rer­seits. Ver­letzte der Sohn die Mut­ter, der eine Part­ner den ande­ren durch sein Weg­ge­ hen-Wol­len, so ginge es zwar dabei um das hier gemeinte Schulddilemma; da es sich aber oft um unrea­li­sti­sche, irra­tio­nale For­de­run­gen oder Verpflichtungsgefühle han­delt, gehört ein sol­cher Kon­flikt zwi­ schen Anklammerungs- und Autonomiebestreben eher in den Bereich der Schuld­ge­fühle.

Schuldbewältigung Schuld ist nicht unge­sche­hen zu machen oder sonst auf­heb­bar – im Gegen­satz zum irra­tio­na­len, neu­ro­ti­schen Schuld­ge­fühl, des­sen Sinn ver­stan­den und des­sen unbe­wusste Motive ana­ly­siert und auf­ge­ge­ben wer­den kön­nen, sodass das Schuld­ge­fühl weg­fällt. Schuld ist aber zu bewäl­ti­gen durch Ver­söh­nung mit dem Geschä­dig­ten (der dazu bereit sein muss) als einer Neu­de­fi­ni­tion ihrer Bezie­hung sowie durch die Wie­der­auf­nahme in die Gemein­schaft, deren Ord­nung gestört wor­den ist. Die Vor­aus­set­zung ist Schuld­be­wusst­sein und Schuldanerkennung,

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ein Bekennt­nis, ver­bun­den mit einer gefühls­mä­ßi­gen Ein­sicht, eben der Reue. Eine Szene aus »Rodion Raskolnikoff« von Dostojewski (1908a, S. 563 f.) soll das illu­strie­ren. In die­ser Szene hört Raskolnikoff, der Mör­der, unwil­lig den Rat der lie­ben­den Frau, Ssonja, den er jedoch noch längst nicht anneh­men kann: »Was soll ich jetzt tun? Sprich!« fragte er … und blickte sie mit einem vor Ver­ zweif­lung förm­lich ent­stell­ten Gesicht an. »Was tun!« rief sie auf­sprin­gend aus, und ihre Augen … blitz­ten plötz­lich. »Steh auf! … Geh sofort, unver­züg­lich, stell dich auf einen Kreuz­weg, knie nie­der und küsse zuerst die Erde, die du ent­weiht hast, und dann ver­neige dich vor der gan­zen Welt, in allen vier Rich­tun­gen, und sage vor allen Men­schen laut: ›Ich habe getö­tet!‹ Dann wird Gott dir wie­der Leben geben. Wirst du gehen? Wirst du gehen?« fragte sie ihn, wie in einem Anfall am gan­zen Kör­per bebend … und ihr bren­nen­der Blick sah ihn unab­läs­sig an … »Du meinst die Zwangs­ar­beit, oder was, Ssonja? Daß ich mich selbst anzei­gen soll?« fragte er fin­ster. »Das Lei­den auf sich neh­men und sich dadurch erlö­sen, das ist es, was man tun muß.« »Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.« »Wie willst du denn leben, leben? Womit wirst du denn weiter­leben?« rief Ssonja. »Ist das denn sonst noch mög­lich? Wie wirst du denn mit dei­ner Mut­ter spre­chen? Ach, was rede ich! Du hast ja deine Mut­ter und Schwe­ster schon ver­ las­sen. Du hast sie doch schon ver­las­sen, ver­las­sen! Gott!« schrie sie auf. »Er weiß das alles schon selbst! Aber wie, wie kann man denn ohne einen Men­schen weiter­leben!«

Viel spä­ter, schon im Gefäng­nis, wird die Not­wen­dig­keit des Affekts der Reue dar­ge­stellt: »Wenn doch das Schick­sal ihm Reue gesandt hätte – bren­nende Reue, die das Herz zer­reißt, die den Schlaf ver­jagt, eine Reue, deren schreck­li­che Qua­len einen an Schlinge und Was­ser, wo es am tief­sten ist, den­ken las­sen! Oh, er hätte sich über sie gefreut! Qua­len und Trä­nen – das ist gleich­falls Leben. Aber er bereute sein Ver­bre­chen nicht« (Dostojewski 1908a, S. 731).

Schuldbewusstsein und Reue Wie bereits erwähnt, möchte ich den Begriff Schuldbewusstsein für die kogni­tive Aner­ken­nung einer rea­len Schuld wegen tatsächlich began­ge­ner Hand­lun­gen oder auch für die Ein­sicht in die schuld­ hafte Begrenzt­heit der eige­nen Exi­stenz ver­wen­den. Seine affek­tive Erwei­te­rung, der affek­tive Anteil also an der Schuldanerkennung, nennt man Reue. Beide Begriffe gehö­ren zur Schulderfahrung, zum Schuld­erleben. Wir haben in der Pole­mik gegen den Schuld­ge­fühls-



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und Über-Ich-Begriff der Psy­cho­ana­lyse ein bedau­er­li­ches Bei­spiel von unfrucht­­barer Aus­ein­an­der­set­zung ken­nen­ge­lernt, die vor allem aus der Ver­­wechs­lung der Begriffe (neu­ro­ti­sches) Schuld­ge­fühl und (reale) Schuld bzw. deren Aner­ken­nung (die jetzt Schuld­be­wusst­sein und Reue hei­ßen soll) her­rührt. Ich möchte zur Unter­stüt­zung mei­ nes Vor­schlags die Differenzierungsfähigkeit der deut­schen Spra­che her­an­zie­hen, die schließ­lich von »sich einer Schuld bewusst sein« spricht, und dabei kann es sich nur um reale Schuld han­deln. Ebenso heißt es zum Bei­spiel »schuld­be­wusst drein­blicken«; in die­sem Aus­ druck ist bereits ein affek­ti­ver Anteil ent­hal­ten, der der Reue ent­ spricht (ein Blick also vol­ler Reue), ein Begriff, des­sen affek­tive Qua­ li­tät im all­ge­mei­nen mit dem Adjek­tiv »zer­knirscht« bezeich­net wird. Schuldbewusstsein deckt sich auch mit dem umgangs­sprach­li­chen »schlech­ten Gewis­sen« (Condrau 1962, S. 130). Syn­onyme, die in der Lite­ra­tur ver­wen­det wer­den und eine reale Schuld im Gegen­satz zum neu­ro­ti­schen oder irra­tio­na­len Schuld­ge­fühl bezeich­nen, sind zum Bei­spiel: – »nor­ma­les Schuldgefühl« (Müller-Braunschweig 1947/48, S. 194), auch »normgemäßes Schuld­ge­fühl« (Boss 1962, S. 46); – »authen­ti­sches Schuld­ge­fühl« (Buber 1958, S. 20); – »Rei­fes-sich-schul­dig-füh­len-Kön­nen« (Boss 1962, S. 35); – »ange­mes­se­nes Schuld­ge­fühl wegen etwas, das ein Mensch getan hat« (Sandler u. Sandler 1987, S. 148). In allen die­sen Begrif­fen muss das »Schuld­ge­fühl« mit einem Adjek­tiv von einem Schuld­ge­fühl, wie wir es sonst als Bezeich­nung für irra­ tio­nale Schuld selbst­ver­ständ­lich gebrau­chen, aus­drück­lich abge­ho­ben wer­den. Mei­nes Erach­tens sollte des­halb »Schuld­ge­fühl« vor­be­hal­ten blei­ben für das sub­jek­tive Gefühl der Schuld, wie es der Sprach­ge­ brauch ja auch bezeich­net. Freud ver­wen­det Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein fast immer syn­onym. In einem Vor­trag vor Juri­sten (»Tat­be­stands­diag­nos­tik und Psy­cho­ana­lyse« [Freud 1906c, S. 13]) weist er auf das Irra­tio­nale des Schuld­be­wusst­seins des Neu­ro­ti­kers hin, »der so rea­giert, als ob er schul­dig wäre, obwohl er unschul­dig ist, weil ein ihm bereit­lie­gen­des und lau­ern­des Schuld­be­wußt­sein sich der Beschul­di­gung des beson­ de­ren Fal­les bemäch­tigt«. Ähn­lich einem Kind, »dem man eine Untat vor­wirft« (S. 13), das zwar die Tat ent­schie­den leug­net, »dabei aber weint wie ein über­führ­ter Sün­der« (S. 13). Das Kind ist unschul­dig an der Untat, die ihm zur Last gelegt wird, aber dafür schul­dig an einer ande­ren – es leug­net mit Recht seine Schuld an der einen Sache, ver­rät

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aber durch sein Wei­nen die Schuld wegen einer ande­ren, ähn­lichen. Natür­lich ist es beim Neu­ro­ti­ker keine reale Schuld, son­dern eine der Vor­stel­lungs- und Gefühls­welt, muss man hier ergän­zen. Ähn­lich wird von Freud in den »Bemer­kun­gen über einen Fall von Zwangs­neu­rose« (Freud 1909d, S. 399) das einem klei­nen Anlaß unan­ge­mes­sen große Schuld­be­wusst­sein des Pati­en­ten aner­kannt, weil es zu einem unbe­ wussten Vorstellungsinhalt gehört (»fal­sche Ver­knüp­fung«). In »Totem und Tabu« (Freud 1912–13, S. 85) wird das Auf­tre­ten von »Tabugewissen« und »Tabuschuldbewußtsein« nach Über­tre­tung des Tabus beschrie­ben. Beide sind ganz ähn­lichen Cha­rak­ters, das Gewis­sen »ver­wirft bestimmte Wunschregungen«, mahnt also vor der Tat; das Schuld­be­wusst­sein ist die »Wahr­neh­mung der Ver­ur­tei­lung sol­cher Akte, durch die wir bestimmte Wunschregungen voll­zo­gen haben«, regt sich also nach voll­zo­ge­ner Tat. Dass man hier den Ein­ druck bekommt, es handle sich um ein Schuld­be­wusst­sein wegen einer real began­ge­nen Tat, liegt wohl daran, dass Freud hier einen Mythos schil­dert, sozu­sa­gen sei­nen urei­ge­nen ödi­pa­len Schöp­fungs­ my­thos übri­gens, der sicher als Pro­jek­tion des unbe­wussten Gesche­ hens der zeit­ge­nös­si­schen Men­schen in die Phylogenese hin­ein ver­ stan­den wer­den muss (vgl. Grubrich-Simitis 1993, S. 164 f.). Das heißt, was im My­thos als Rea­li­tät geschil­dert wird und des­halb Schuld und Schuld­be­wusst­sein zur Folge hat, wird im Intrapsychischen als Schuld­ge­fühl erschei­nen wegen einer irrea­len Schuldqualität auf­grund von Vor­stel­lun­gen und Phan­ta­sien (vgl. Fuß­note 1). Mehr­mals noch wer­den Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein in die­ser Arbeit Freuds gleich­sin­nig gebraucht; ein­mal heißt es: ein »bren­nen­des Schuld­ge­ fühl« (S. 174) – hier muss Freud ver­ständ­li­cher­weise den Begriff »Schuld­ge­fühl« wäh­len, denn ein »Bewußt­sein« kann nicht mit einem sol­chen Attri­but des Affekts wie »bren­nend« belegt wer­den. Ein ande­ res Mal (S. 191) spricht Freud vom Schuld­be­wusst­sein der Neu­ro­ti­ker, und damit ist klar, dass er ein neu­ro­ti­sches Schuld­ge­fühl meint. In einem wei­te­ren Bei­spiel ver­wen­det Freud (1916d, S. 382 f.) die Begriffe offen­bar ganz unacht­sam in genau der ent­ge­gen­ge­setz­ten Weise, wie es der Sprach­ge­brauch eigent­lich nahe­legt. In »Einige Charaktertypen aus der psy­cho­ana­ly­ti­schen Arbeit« geht es um die Hel­din Rebekka aus Ibsens »Rosmersholm«, die heim­tückisch die Frau des gelieb­ten älte­ren Man­nes besei­tigt hat. Sie kann sich ihm aber nun nicht nähern, weil »›meine eigene Ver­gan­gen­heit mir den Weg zum Glück ver­sperrt.‹ Sie ist also eine andere gewor­den unterdes, ihr Gewis­sen ist erwacht, sie hat ein Schuld­be­wußt­sein bekom­men, wel­ches ihr den Genuß ver­sagt.« Das ist das Bewusst­sein einer rea­len Schuld. Im fol­ gen­den ver­sucht Freud, die­ses »Schuld­be­wußt­sein« auf die (nur unbe­



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wusst begrif­fene) inze­stuöse Bezie­hung zu einem ande­ren Mann, ihrem leib­li­chen Vater – sie wusste nicht, dass er ihr Vater war – zu bezie­hen. Mei­nes Erach­tens würde Schuld­ge­fühl dazu viel bes­ser pas­sen, weil es das Gefühl der Schuld wegen eines ver­dräng­ten Inzestkomplexes aus­ drücken würde. Als es aber darum geht, dass Rebekka mög­li­cher­weise unter der rea­len Hand­lung, näm­lich die Riva­lin Beate in den Tod getrie­ ben zu haben, lei­det, ver­wen­det Freud (1916d, S. 383) den ande­ren, auch hier unpas­sen­den Begriff: »Und nun ant­wor­tete sie nicht …, daß keine Ver­zei­hung ihr das Schuld­ge­fühl neh­men könne, das sie durch den tücki­schen Betrug an der armen Beate erwor­ben, son­dern …« Ver­ zei­hung und irra­tio­na­les Schuld­ge­fühl pas­sen aber nicht zusam­men; ver­zie­hen wer­den kann nur ein rea­les Tun, Ver­zei­hung kann also nur ein aus die­sem ent­stan­de­nes rea­li­sti­sches Schuld­be­wusst­sein lin­dern. Die andere große Arbeit Freuds, die sich mit dem Schuldthema beschäf­tigt, ist »Das Unbe­hagen in der Kul­tur« (Freud 1930a). Auch hier der syn­onyme Gebrauch, wenn auch ein­deu­tig zugun­sten des Begriffs Schuld­ge­fühl, den er in die­ser spä­ten Arbeit eher ver­wen­det, wenn es um irra­tio­na­les Schulderleben geht. Dann aber wird es für Freud mög­lich, ein irra­tio­na­les Schuld­ge­fühl von einem wegen einer rea­len Tat emp­fun­de­nen zu dif­fe­ren­zie­ren: »Wenn man ein Schuld­ge­fühl hat, nach­dem und weil man etwas ver­bro­chen hat, so sollte man dies Gefühl eher Reue nen­nen. Es bezieht sich nur auf eine Tat, setzt natür­lich vor­aus, daß ein Gewis­sen, die Bereit­schaft, sich schul­dig zu füh­len, bereits vor der Tat bestand« (Freud 1930a, S. 491; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Und gleich dar­auf erklärt er die Psy­cho­ana­lyse für einen sol­chen Fall als nicht zustän­dig: »Die Psy­cho­ana­lyse tut also recht daran, den Fall des Schuld­ge­fühls aus Reue von die­sen Erör­te­run­gen aus­zu­schlie­ßen, so häu­fig er auch vor­kommt und so groß seine prak­ti­sche Bedeu­tung auch ist« (S. 491). Das heißt nichts weni­ger, als dass Freud die Psy­ cho­ana­lyse für nicht geeig­net oder berech­tigt hält, sich um die Bedeu­ tung und die Wir­kung rea­ler Schuld zu küm­mern. Bei Freud ver­wir­ren sich manch­mal die Bezeich­nun­gen; er war sich wohl im kla­ren, dass das, was er hier »Reue« nennt, im Sprach­ge­brauch ganz anders heißt: »In den gemei­nen, uns als nor­mal gel­ten­den Fäl­len von Reue macht es sich dem Bewußt­sein deut­lich genug wahr­nehm­bar; wir sind doch gewöhnt, anstatt Schuld­ge­fühl ›Schuld­be­wußt­sein‹ zu sagen« (S. 494). Aus die­ ser Stelle ent­ steht mei­ nes Erach­ tens die Berech­ ti­ gung, Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein zu defi­nie­ren, wie ich es vor­ ge­schla­gen habe. Lei­der ver­wen­det Freud dann wie­der »Schuld­be­­ wußtsein« für »Schuld­ge­fühl«; hätte er es nicht getan, wäre ihm der Wider­ spruch, eine »contradictio in adjecto«, eines »unbe­ wuß­ ten

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Be­wußt­seins« erspart geblie­ben: »Und darum ist es sehr wohl denk­ bar, daß auch das durch die Kul­tur erzeugte Schuld­be­wußt­sein nicht als sol­ches erkannt wird, zum gro­ßen Teil unbe­wußt bleibt …«5 Die Ver­ wir­rung hängt auch damit zu­sam­men, dass Freud ein unbe­wusstes von einem bewussten Schuld­ge­fühl unter­schei­den will (beide neu­ro­tisch) und, statt »unbe­wuß­tes Schuld­ge­fühl« zu sagen, dazu neigt, »Schuld­ be­wußt­sein« zu ver­wen­den. Den Begriff der Reue für die Aner­ken­nung rea­ler Schuld zu ver­wen­ den, erscheint mir wegen sei­nes erwähn­ten affek­ti­ven Gehalts nicht gün­stig; Reue ist mei­ner Mei­nung nach viel­mehr der affek­tive Anteil der Schuld­an­er­ken­nung, des Schuld­be­wusst­seins. Wäh­rend das Schuld­be­wusst­sein die Über­nahme von Ver­ant­wor­ tung sich selbst und den ande­ren gegen­über ent­hält, ist die Reue die Vor­aus­set­zung für die Trauer, die not­wen­dig ist, um sich abzu­lö­sen von dem, der man als schuld­haft Han­deln­der war. Es ist die Trauer dar­über, dass man nicht anders hat han­deln und sein kön­nen; man kann viel­leicht auch sagen, dass man die Illu­sion, sei­nem Ideal-Selbst nahe zu sein, ver­lo­ren hat. Inter­es­sant ist in die­sem Zusam­men­hang, dass Freud (1917e, S. 432 f.) in »Trauer und Melan­cho­lie« die hef­ti­gen Selbst­vor­würfe des Melan­cho­li­kers nicht als echte Reue aner­ken­nen kann: »End­lich muß uns auf­fal­len, daß der Melan­cho­li­ker sich doch nicht ganz so benimmt wie ein nor­ma­ler­weise von Reue und Selbst­vor­ wurf Zer­knirsch­ter. Es fehlt das Schä­men vor ande­ren, wel­ches die­sen letz­te­ren Zustand vor allem cha­rak­te­ri­sie­ren würde.« Zur ech­ten Reue gehört also auch ein Schamempfinden, Scham über das So-Sein oder So-gewe­sen-Sein, das mit dem Ideal-Ich nicht über­ ein­stimmt. Die Schuldbewältigung fin­det ihren Abschluß in dem Ver­such der Wie­der­gut­ma­chung und der (mehr oder weni­ger ritu­alisier­ten) Sühne. Neben der Aner­ken­nung und dem Öffent­lich-Machen der Schuld scheint mir die Sühne (im reli­giö­sen Sinne auch Buße oder im juri­sti­schen Sinne Strafe) als not­wen­dige Vor­aus­set­zung der Wie­der­auf­nahme in die mensch­liche Gemein­schaft, denn, so Dostojewski (1908a, S. 564): »Wie kann man denn ohne einen Men­schen weiter­leben?« Ein letz­ter Schritt, den aber nicht der Schul­dige, son­dern das Opfer (unter der Vor­ aus­set­zung, dass der Täter sei­nen Teil bei­ge­tra­gen hat) lei­sten muss, ist der der Ver­zei­hung. »Mora­li­sche Schuld kann anders als durch Ver­-5 Freud hat den Begriff »unbe­wuß­tes Schuld­be­wußt­sein« selbst als »befremd­li­che Ver­ei­ ni­gung« der bei­den Wör­ter bezeich­net (1915e, S. 276). Auch in »Das Ich und das Es« (1923b) war sich Freud des Wider­spruchs bewusst und änderte noch in der Umbruch­ kor­rek­tur »Schuld­be­wußt­sein« in »Schuld­ge­fühl«, nach­dem ihn Ferenczi (Brief vom 18. 3. 1923) dar­auf hin­ge­wie­sen hatte (Grubrich-Simitis 1993, S. 187).



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zei­hung nicht aus­ge­gli­chen wer­den  …« (Vossenkuhl 1983, S. 122). Auch die Mit­tel der eher symbolischen Wie­der­gut­ma­chung müs­sen vom Geschä­dig­ten aner­kannt wer­den.

Schuld­an­er­ken­nung, Umkehr und Ver­ge­bung Spä­te­stens hier klingt die Not­wen­dig­keit der Wie­der­auf­nahme eines Dia­logs mit dem Schul­di­gen an, um ihn zu reinte­grie­ren und Schuld zu bewäl­ti­gen. Beson­ders Hubbertz (1992) hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Schuld im Sinne von Schuldigsein und Schuldigwerden in Bezie­hun­ gen geschieht und nur in der Aus­ein­an­der­set­zung der Betei­lig­ten, in der Klä­rung ihrer jewei­li­gen Stand­punkte und Motive bewäl­tigt wer­den kann. Es kann hier zwar keine erschöp­fende Unter­suchung gelei­stet wer­den, wie die Men­schen sich Ritu­ale oder prak­ti­sche Vor­gehens­ wei­sen geschaf­fen haben, um die erfor­der­li­chen Schritte der Schuldbewältigung zu lei­sten. Als zwei Bei­spiele möchte ich aber die Beschrei­ bung der Pra­xis der früh­christ­li­chen Gemeinde durch Baumann und Kuschel (1990, S. 142 f.) sowie die Zusam­men­fas­sung der Vor­stel­ lun­gen Hubbertz’ (1992, S. 54 u. 60) wie­der­ge­ben. Es erge­ben sich dabei erstaun­li­che Par­al­le­len, die sich sowohl in der psy­cho­the­ra­peu­ti­ schen Pra­xis als auch im juri­sti­schen Vor­ge­hen fin­den, wie es sich bis heute ent­wickelt hat. Baumann und Kuschel (1990, S. 142 f.; Hervorhebungen ori­gi­nal) geben einen Über­blick über die »urchristliche Bußordnung, … deren Ursprünge in die Gemein­de­ord­nung der jüdi­schen Syn­agoge zurück­ rei­chen  … 1. … Offenliegende Schuld … kann nicht ein­ fach hin­ ge­ nom­ men, sie muß besprechbar gemacht wer­den. Der Sünder soll seine Schuld selbst ein­se­hen. Schulderkenntnis ist die erste Vor­aus­set­zung für die Umkehr. 2. Die Umkehr, ›metánoia‹, ist das Ziel der Ermah­nung. (Dar­auf) hören, heißt: Schuld über­neh­men, Ver­ant­wor­tung aner­ken­nen  … Wir ver­wen­den für diese innere Umkehr heute meist das Wort Reue. Es ent­hält zusätz­lich ein affek­tivgefühlshaftes Ele­ment: das schmerz­li­che Bedau­ern über eingesehenes Ver­sa­ gen, … aber auch den Wunsch und dann die Absicht, … alles zu tun, um den ange­rich­te­ten Scha­den wie­der in Ord­nung zu brin­gen, und gleich­zei­tig zu wis­sen, daß ich mir meine Schuld selbst nicht nach­las­sen kann, son­dern auf Ver­ge­bung ange­wie­sen bin  … Ver­söh­nung ist nur mög­lich als gemein­sa­mer Neu­be­ginn. 3. Was aber, wenn der Ermahnte die­sen Neu­be­ginn nicht will? Dann … soll man ihm … noch ein­mal ins Gewis­sen reden. Wenn er auch jetzt nicht zur Ein­sicht kommt …, dann frei­lich muß man ihn ver­lo­ren geben. Er ist ›exkom­mu­ni­ziert‹, aus­ge­schlos­sen von der Gemein­schaft …, bleibt ›gebun­den‹ an seine Schuld … Das Ziel … ist bis zum Schluß die Ver­söh­nung.«

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Die Auto­ren wei­sen auch beson­ders dar­auf hin, dass »die alte Kir­che … unter ›Buße‹ etwas völ­lig ande­res [ver­stand]: Buße hatte der reu­mü­tige Sün­der in jedem Falle vor sei­ner Wie­der­auf­nahme zu tun … Die Bußauflagen waren oft dra­ko­nisch … Dennoch hatte diese Buße nicht in erster Linie den Sinn einer Strafe …, der Büßende sollte viel­mehr durch frei­wil­lige Über­nahme der ihm auf­er­leg­ten Ent­beh­run­gen den wirk­li­chen Ernst sei­ner inne­ren Umkehr unter Beweis stel­len und sich bewäh­ren, ehe ihn der Bischof der Gemeinde … fei­ er­lich wie­der auf­nahm« (Baumann u. Kuschel 1990, S. 145 f.).

Wie man sieht, wurde einige Mühe ver­wen­det und mussten einige Bedin­gun­gen erfüllt wer­den, bevor eine Aus­söh­nung und Reha­bi­li­ta­ tion statt­fin­den konnte. Um eine Ver­bin­dung von der Ver­ant­wort­lich­keit für sich selbst und die soziale Gemein­schaft als auch vor deren Insti­tu­tio­nen und die Ver­ bin­dung der Berei­che geht es Hubbertz (1992, S. 59 u. 60): »Eine Hal­tung der Ver­ant­wort­lich­keit beinhal­tet viel­mehr die Frei­heit und die Not­ wen­dig­keit, eine per­sön­li­che Gestal­tung des eige­nen Schuldumgangs zu suchen. Obwohl sie prin­zi­pi­ell in eine dia­lo­gi­sche Bezie­hungs­struk­tur ein­ge­bet­tet ist, bleibt Ver­ant­wor­tung des­halb selbstreflexiv, d.  h. Ver­ant­wor­tung vor sich selbst« (S. 59; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Hubbertz (1992, S. 60; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) for­dert, dass fol­gende Bedin­gun­gen der Selbst­ver­ant­wor­tung im Umgang mit Schuld erfüllt sein sol­len:

»– die Annahme des eige­nen Schat­tens (d. h. … die Inte­gra­tion von Persönlichkeitsanteilen, wel­che mit dem schuld­haf­ten Han­deln ver­knüpft sind); » – der Dia­log mit den Ande­ren (d. h. der kom­mu­ni­ka­tive Aus­tausch über schuld­ haf­tes Han­deln …) und » – Umkehr und Neuentscheidung (d. h. der Ver­such, nach Annahme und dia­lo­ gi­scher Ver­ar­bei­tung der eige­nen Schulderfahrung sein eige­nes Selbstkonzept und Han­deln neu aus­zu­rich­ten).«

Einen Ver­gleich und eine Anglei­chung der Ele­mente der tra­di­tio­nel­len christ­li­chen Beichte, näm­lich Gewis­sens­er­for­schung, Reue, Los­spre­ chung (Ver­ge­bung) und Buße, mit der psy­cho­ana­ly­ti­schen Begriffswelt lei­stet Brocher (Brocher u. Linz 1971). Für Gewis­sens­er­for­ schung ver­wen­det Brocher Selbst­wahr­neh­mung und Selbsterkennen auch unbe­wuss­ter Anteile, für die eben­falls Ver­ant­wor­tung über­nom­ men wer­den soll. Reue ver­bin­det Brocher mit Trauer, ver­steht sie im übri­gen als eine Form der Ein­sicht: »Zur Ver­ge­bung [gehört] Liebe …, und zwar Näch­sten­liebe wie Selbst­liebe … Wenn man das Gefühl hat: Da ist eine Schuld, die ich vor mir selbst ver­ant­wor­ten muß, – muß man auch in der Lage sein, sich selbst zu ver­ge­ben … Man muß von einem Ver­ge­bung zu erlan­gen suchen, … um Ver­ge­bung … bit­ten« (Brocher u. Linz 1971, S. 216).



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Juri­sti­sche Schuldbewältigung Das Recht beur­teilt Schuld und ihr Maß eher nach den Fol­gen einer Tat, nicht so sehr nach ihrer Inten­tion, auf die es der Moral schon eher ankommt; hier kann unter Umstän­den schon der Gedanke, die Absicht, der Wunsch (z. B. zu töten) oder das bloße Begeh­ren (»des Näch­sten Weib«) Sünde bedeu­ten. Auf die­sen Unter­schied hat Vossenkuhl (1983, S. 137) hin­ge­wie­sen. Vom mora­li­schen Stand­punkt kann das Maß der Ver­werf­lich­keit einer Tat wohl nicht von ihrem Erfolg abhän­ gen, bei der Recht­spre­chung macht es aber anschei­nend doch einen Unter­schied, ob etwa das Opfer eines beab­sich­tig­ten Mor­des über­ lebt oder nicht. Aber sonst fin­den sich ganz ähn­liche Ele­mente der Schuldverarbeitung in der Recht­spre­chung, wie wir sie schon ken­nen­ ge­lernt haben: Als »Sphäre des … Rech­tes« bezeich­net Buber (1958, S. 34) die »For­de­rung, die die Gesell­schaft ihren Geset­zen gemäß an den Schul­di­gen stellt; die Vor­gänge des Voll­zugs hei­ßen Geständ­nis, Straf­ver­bü­ßung und Schad­los­hal­tung.« In dem Geständ­nis müss­ten Ein­sicht, ein Unrechtbewusstsein und die Schuld­an­er­ken­nung gefor­ dert wer­den. Buber über­geht die mei­nes Erach­tens ganz zen­trale Funk­tion der Ver­hand­lung, die zum einen ein Öffent­lich-Machen ist, das für den Delin­quen­ten auch eine ent­la­stende Funk­tion haben mag, da er an sei­ ner Schuld nicht mehr ein­sam tra­gen muss, son­dern wie­der einen ersten Kon­takt zur Gemein­schaft bekommt, ähn­lich einem Kind, das ein elter­li­ches Don­ner­wet­ter alle­mal einem bedroh­li­chen, weil in sei­ner Qua­li­tät undurch­sich­ti­gen Schwei­gen vor­zieht. Die Ver­hand­lung bil­ det dar­über hin­aus den Ort des Dia­logs der Par­teien – Schä­di­ger und Geschä­digte –, in dem über den Tat­be­stand, das Maß der Schuld und die Sühne (Buber: »Straf­ver­bü­ßung und Schad­los­hal­tung«) gespro­chen wird. Eine Wie­der­gut­ma­chung wird eher im Zivil­recht als im Straf­ recht einen Platz haben; manch­mal han­delt es sich um eine eher sym­ bo­li­sche Wie­der­gut­ma­chung, wenn die Geld­buße des Verkehrs­row­dys dem Roten Kreuz oder die des Kinderschänders dem Kin­der­schutz­ bund zufließt. Dass die Recht­spre­chung kei­nes­wegs nur die Inter­es­sen der Staatsgemeinschaft und ihr even­tu­el­les Bedürf­nis nach Ver­gel­tung im Sinn hat, son­dern auch die Reha­bi­li­ta­tion des Delin­quen­ten, zeigt sich an der Berück­sich­ti­gung von Geständ­nis, Ein­sicht und sogar Reue bei der Bemes­sung des Straf­ma­ßes (das also nicht objek­tiv fest­ste­hen kann), der Berück­sich­ti­gung von Wiederholungstaten, der Mög­lich­ keit der Bewäh­rungs­strafe sowie ande­rer Ansätze der Reso­zia­li­sa­tion. Auch für den Täter kann die öffent­li­che Ver­hand­lung einen ent­la­sten­ den, reso­zia­li­sie­ren­den Effekt haben. Das Ver­fah­ren sollte zudem –

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zumin­dest unter ande­rem – seine Wie­der­auf­nahme in die Gemein­schaft als Resul­tat eines Dia­logs der Par­teien inten­die­ren.

Schuldabwehr Das Ein­ge­ständ­nis rea­ler Schuld wider­strebt den Men­schen; der mit der Aner­ken­nung ver­bun­dene Schameffekt weist auf den nar­ziss­ti­schen Cha­rak­ter des Gesche­hens hin: Nie­mand möchte sich so schwach, so unvoll­kom­men, oder aber unmo­ra­lisch oder anti­so­zial füh­len, dass er es nicht ver­hin­dern konnte, schuld­haft zu han­deln. Nie­mand möchte auch der­art bloß­ge­stellt wer­den, sich so gekränkt füh­len müs­sen. Eine erste Abwehrform gegen ein Schuld­be­wusst­sein kann man dem­ent­spre­chend nar­ziss­ti­sche Abwehr nen­nen, die sich in zwei For­ men äußert: 1. Mas­sive Aggres­sio­nen rich­ten sich gegen jeman­den, der auch nur einen vagen Ver­dacht vor­bringt: In Vor­weg­nahme einer erwar­te­ten Krän­kung wird eine unmä­ßige nar­ziss­ti­sche Wut nach außen gerich­ tet und jede Aus­ein­an­der­set­zung im Keim erstickt. 2. Eine viel zu schnelle Aner­ken­nung einer Schuld ent­hält Krän­kung und Trotz und soll auf den Beschul­di­gen­den zurück­fal­len; der soll Schuld­ge­fühle bekom­men, wie er es wagen konnte, über­haupt einen Vor­wurf zu machen. Eine Form der Ver­schie­bung haben wir schon ken­nen­ge­lernt, näm­lich Kafkas Frage: »Wie kann denn ein Mensch über­haupt schul­dig sein, wir sind doch alle Men­schen, einer wie der andere« (Kafka 1935, S. 180). Hier liegt eine Schuldabwehr durch Ver­schie­bung von einer per­sön­li­chen Schuld (auch der Ver­ant­wor­tung für die eigene Exi­stenz) auf die Ebene der Schuldhaftigkeit des Men­schen über­haupt vor. Und der Geist­li­che ant­wor­tet auch prompt: »Das ist rich­tig …, aber so pfle­ gen die Schul­di­gen zu reden« (S. 180). Das ent­spricht der bereits dis­ku­ tier­ten Befürch­tung, eine Tatschuld durch Beru­fung auf die Existenzschuld leug­nen zu kön­nen. Es gibt auch die umge­kehrte Rich­tung der Ver­schie­bung, mit der ver­sucht wer­den kann, die schuld­hafte Exi­stenz, das So-Sein, zu dem man bei­ge­tra­gen hat durch Tat oder Ver­säum­nis, zu ver­leug­nen, indem man nach sei­nen Taten fragt. Die Frage: »Was habe ich getan, dass du mich nicht mehr liebst?« ent­hält die Hoff­nung, dass wenig­stens etwas hätte bewirkt wer­den kön­nen oder viel­leicht auch noch in Zukunft



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getan wer­den könnte. Die Ant­wort: »Du hast gar nichts getan …« wirft den ande­ren auf sich selbst zurück, da sie bedeu­tet: »Du bist nicht so, dass ich dich lie­ben kann …« Viele Pati­en­ten kom­men in die psy­ cho­the­ra­peu­ti­sche Sprech­stunde und fra­gen: »Was soll ich tun …?« oder sagen: »Ich weiß nicht, was ich tun soll« oder: »Ich weiß nicht, wie ich die The­ra­pie machen soll.« Und hin­ter die­sen Fra­gen steckt die Angst vor dem Sein, auf das es doch in der ana­ly­ti­schen The­ra­pie ankommt. Winnicott (1971, S. 95 u. 147) hat beson­ders zwi­schen Sein und Tun (being and doing) unter­schie­den; Grotstein (1990, S. 16) for­mu­liert es in bezug auf die Mut­ter-Kind-Bezie­hung so: Es geht um die »Dyade des pas­si­ven, ›seienden‹ Säug­lings (des nor­ma­len Pro­ to­typs des ›wah­ren Selbst‹), der auf intui­ti­ves (und stil­les) ›Hal­ten‹ ange­wie­sen ist, und des ›akti­ven‹, ›täti­gen‹ Säug­lings (des nor­ma­len Pro­to­typs des ›fal­schen Selbst‹, der nach der Brust suchen und sie ver­ wen­den muß.« Winnicotts Tech­nik beruht eher auf dem Sein als auf dem Tun, wie es Rudnytsky (1988, S. 427) berichtet. Winnicott hatte eine ganze Analysestunde geschwiegen, sagte dann aber doch: »Ich habe nichts zu sagen, aber wenn ich nichts sage, könn­ten Sie den­ken, ich bin nicht anwe­send …« Für viele Pati­en­ten, die die Frage nach dem bloßen So-Sein schlecht aus­hal­ten, scheint des­halb eine ver­hal­ tens­the­ra­peu­ti­sche Methode ange­mes­se­ner zu sein, denn dort geht es eher um ein Han­deln. Meister Eckhart hat von die­ser Exi­stenz­angst und ihrer Abwehr durch Akti­vis­mus sicher gewusst: »Die Men­schen soll­ten nicht so sehr beden­ken, was sie tun sol­len, son­dern was sie sind« (zit. in Fromm, »Haben oder Sein«, 1976). Schuld(gefühl) habe ich dem Tun, Scham dem Sein zugeordnet (Hirsch 2008), man fühlt sich (oder ist auch) schuldig einer Tat und schämt sich, so zu sein, wie man idealerweise (gemäß seinem Ideal-Ich) nicht sein möchte. Spal­tungs­me­cha­nis­men fin­den sich allent­hal­ben, zum Bei­spiel Ver­ leug­nung, Unge­sche­hen-Machen, auch projektive Ratio­na­li­sie­run­gen in dem Stil: »Das ist doch nicht schlimm, schließ­lich machen es alle!« Je zahl­rei­cher und anony­mer die ande­ren sind, desto mehr ver­dünnt sich die Schuld, bis es sie schein­bar nicht mehr gibt. Eine häufige Verleugnungsstrategie der Täter kann man mit Buchholz, Lamott und Mörtl (2008, S. 159) »dritte Option« nennen. Die Autoren meinen damit eine »Art der Konversation, die gelingende Kunst, sich zwischen dem scheinbar einzig möglichen ‚Ja oder Nein‘ hindurchzubewegen und dritte Gesprächsoptionen elegant hervorzubringen.« Sie meinen damit »den Raum zwischen Ja- und Nein-Sagen, zwischen Befolgen oder Ablehnen einer Regel […], zwischen Mitteilung oder Nichts-Sagen.« Die mas­siv­ste Abwehr ist die Abspal­tung gan­zer Persönlichkeitsteile zu dem Zweck, dass der eine Teil vom Gewis­sen oder Über-Ich

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des ande­ren gar nicht mehr erreicht wird, sodass Ver­bre­chen ohne jedes Schuld­be­wusst­sein mög­lich wer­den. Lifton (1986, S. 491 ff.) nennt das für den Fall der KZ-Ärzte »Dopp­lung«, die es ermög­licht, das Gewis­sen, das gar nicht ein­mal aus­ge­schal­tet zu sein braucht, auf das »Ausch­witz-Ich« des KZ-Scher­gen zu über­tra­gen: »Die Ansprü­che des Gewis­sens wur­den auf das Ausch­witz-Selbst trans­fe­riert, das seine eige­nen Kri­te­rien für gutes Ver­hal­ten hatte … und durch deren Erfül­ lung das ursprüng­li­che Selbst von der Ver­ant­wor­tung für das Han­deln in Ausch­witz befreite« (S. 496). Diese extreme Spal­tung ermöglicht die Aus­schal­tung eines ur­sprünglichen Gewis­sens, sodass das autoritäre Gewis­sen über die Tat befin­det.

Schuld­zuwei­sung Der allerhäufigste Mecha­nis­mus der Abwehr von Schuldbewusstsein ist die Schuld­zuwei­sung (vgl. Fenichel 1945, Bd. I, S. 235). Schon die aller­er­ste Schuld wurde abzu­schie­ben ver­sucht; Adam: »Das Weib, das du mir zuge­sellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß« (1. Mose 3, 12), und Eva: »Die Schlange betrog mich also, daß ich aß« (13). Adam schiebt es auf Eva, diese auf die Schlange: Schuld ist immer der andere, letzt­lich Gott, da er die Schlange (so) geschaf­fen hat … (vgl. Thie­lecke 1976, S. 93: »Ver­su­che, Schuld in Schick­sal zu ver­wan­ deln«). Das ent­spricht dem Aus­wei­chen vor der Schuld durch den Hin­ weis auf das Mensch-Sein. Alle Kin­der wei­sen Schuld von sich: »Ich war es aber nicht!« Es war das Geschwi­ster. Die Deut­schen nach dem Nazi-Regime: »Ich bin’s nicht, Adolf Hit­ler ist es gewe­sen!« (so der Titel eines Stückes von Hermann van Harten, Freie Theateranstalt Ber­lin, 1994). Man könnte die­sen gän­gig­sten Schuldabwehrmechanismus projektive Ver­schie­bung nen­nen, man schiebt die Schuld jeman­ dem zu und pro­ji­ziert einen Teil von sich auf ihn, zum Bei­spiel Angst, Aggres­sion, Scham und Schuld­be­wusst­sein. Schuld­zuwei­sung in Grup­pen nennt man Sün­den­bock-Mecha­nis­ mus; das in der Gruppe enthaltene Böse, also auch die Schuld daran wird einem aus­ge­wähl­ten Grup­pen­mit­glied zuge­scho­ben – sicher wird der­je­nige aus­ge­sucht, der es noch am ehe­sten mit sich machen lässt, sich nicht wehrt, schon vor­her vol­ler Schuld­ge­fühle ist und sich selbst schon längst nicht beson­ders wertschätzt. In der moder­nen Arbeits­ welt nennt man das »Mob­bing«, und auch die Fami­lien­thera­pie kennt das Phä­no­men des »Index-Pati­en­ten«, der die Misere der Fami­lie verantworten soll. Natür­lich wird das Böse und mit ihm ver­bun­den die



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Schuld, die in der Gruppe ent­hal­ten sind, nicht dadurch besei­tigt, dass man den Sün­den­bock in die Wüste jagt, sie wach­sen wie­der nach und for­dern bald ein neues Opfer. Eine ebenso per­fide wie häu­fige Art der Schuld­zuwei­sung ist das »blaming the victim«, mit dem dem Opfer einer kri­mi­nel­len Tat auch noch die Schuld auf­ge­bür­det wird. Typisch­er­weise wird dem Ver­ge­wal­ ti­gungs­op­fer die Schuld gege­ben, es sei ver­füh­re­risch gewe­sen, habe es ja auch gewollt … Auch und gerade vor Kin­dern macht eine der­ar­tige Selbst­recht­fer­ti­gung nicht halt, und das Tra­gi­sche ist, dass ein pri­mär bedürf­ti­ges Kind auf der Suche nach Zuwen­dung, nach kindgerechter Liebe um so grö­ßere Chancen hat, durch die »Liebe« eines Erwach­ se­nen sexu­ell miss­braucht zu wer­den (vgl. Ferenczi 1933; Hirsch 1987). Die Internalisierungsmechanismen, mit denen die Schuld des Erwach­se­nen zum Schuld­ge­fühl des Opfers wer­den, durch die auch ein Wie­der­ho­lungs­zwang ent­steht, der gerade die Situa­tio­nen wiederherstellt, die der Ver­ge­wal­ti­gung ent­spre­chen, wer­de ich im zwei­ten Abschnitt des Buches aus­führ­lich dar­stel­len. Schuld­zuwei­sung kann auch als Abwehr nicht nur eige­ner Schuld, dern auch als Abwehr von zu gro­ ßem Schmerz oder zu gro­ son­ ßer Angst ver­wen­det wer­den. Eine Mut­ter, die ihrem an Schar­lach erkrank­ten, fie­bern­den Kind vor­wirft, es wisse doch, es habe nicht mit blo­ßen Füßen auf dem Stein­fuß­bo­den lau­fen sol­len, bekämpft nicht nur ein eige­nes Schuld­ge­fühl, viel­leicht nicht genug für ihr Kind gesorgt zu haben, son­dern ver­schafft sich eine Mög­lich­keit, sich nicht so hilf­los einer viel­leicht schwe­ren Krank­heit ihres Kin­des aus­ge­lie­fert zu füh­len, da das Kind doch durch Han­deln oder Unter­las­ sen wenig­stens etwas hätte bewir­ken kön­nen. In »Früchte des Zorns« von Steinbeck (1939, S. 519) gibt es eine Szene, in der nach einer­ Früh- und Tot­ge­burt, die durch extreme Ent­beh­run­gen und Anstren­ gun­gen ver­ur­sacht wurde, die Men­schen hilf­los fra­gen: »Haben wir denn was Fal­sches gemacht? … Hät­ten wir denn was andres tun kön­ nen?« Ein elf­jäh­ri­ger Junge trat mor­gens auf dem Weg zur Schule vor die Haus­tür, wandte sich jäh wie­der zurück und schrie: »Eine Katze, eine Katze auf der Fahr­bahn, viel­ leicht ist sie tot!« Er konnte es weder wahr­ha­ben, dass es sich um sei­nen gelieb­ten Kater, den »Tiger«, han­deln, noch dass er wirk­lich tot sein könnte. Als er dann nicht umhin konnte, die Rea­li­tät anzu­er­ken­nen, fragte er mehr­fach ver­zwei­felt: »Warum gerade er, der Tiger, warum? Warum nicht eine andere Katze?« (Das ist die Frage Hiobs: Warum trifft es den Gerech­ten, warum nicht die Unge­rech­ten?) Dann ver­sucht der Junge, die Bedro­hung durch diese unbe­ant­wort­bare Frage mit einer Schuld­zuwei­sung zu mil­dern, sie aus­halt­bar zu machen: Die Auto­fah­rer seien schuld, wie rück­sichts­los die fah­ren wür­den, über­haupt die städ­ti­sche Umwelt, so wie wir leben, die Men­schen also sind schuld. – Schließ­lich aber fin­det er selbst

60 Schuld den Weg zum Exi­sten­zi­el­len, als er sich trö­stend sagt: »Wenn der Kater nicht so aben­teuer­lu­stig gewe­sen wäre [das betrifft sein Wesen, sein So-Sein], dann wäre er so nicht umge­kom­men, dann wäre er aber auch nicht er selbst gewe­sen, nicht ›der Tiger‹ gewe­sen, und dann hätte ich ihn auch nicht so geliebt.«

In die­sem Bei­spiel wer­den also Angst und Schmerz über den Ver­lust (ebenso die »Schuld« des Tie­res, unvor­sich­tig gewe­sen zu sein, aber auch die mög­li­che eigene Schuld, nicht genü­gend für das Tier gesorgt zu haben) zuerst durch die Frage nach dem Warum, nach der Ursa­che abge­wehrt, denn eine Beant­wor­tung gäbe mehr Sicher­heit, auch für zukünf­tige ähn­liche Bedro­hun­gen. Da diese Frage unbe­ant­wor­tet blei­ ben muss, wird die Schuld dem anony­men Ande­ren vor­ge­wor­fen. Dann aber fin­det das Kind Trost, indem es sich offen­bar einen Schuldkonflikt des Tie­res vor­stellt, das zu wäh­len gehabt hat zwi­schen einer Schuld, zu ris­kant zu leben, und ande­rer­seits aber einer Ver­pflich­tung, so zu leben, wie es sei­nem Wesen ent­spricht. Der Trost liegt in dem Akzep­ tie­ren die­ses So-Seins, das auch eine erste Beant­wor­tung der Frage nach dem Warum dar­stellt. »Vie­les spricht dafür, daß diese Suche nach dem Schul­di­gen tief in der mensch­ lichen Psy­che ver­an­kert ist. Men­schen  … wol­len ver­ste­hen, erklä­ren, wis­sen  … Im Den­ken des klei­nen Kin­des ver­bin­det sich die Frage nach dem ›Warum?‹ regel­mä­ßig mit der Frage ›Wer?‹. Ursa­che und Urhe­ber sind hier eins … Es ist die Frage nach der Schuld, frem­der oder eige­ner, die im Den­ken des Men­schen nie völ­lig ver­stummt« (Rohde-Dachser 1989, S. 250 f.; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Die Frage nach dem Warum beant­wor­ten zu wol­len, indem jeman­dem die Schuld gege­ben wird, scheint die große exi­sten­zi­elle Unsi­cher­heit, die Erfah­rung von Ohn­macht des Men­schen etwas mil­dern zu sol­len.

»Schuld der Müt­ter« Das Wort von der »Schuld der Müt­ter« (Rohde-Dachser 1989) bedeu­ tet eine Zuwei­sung der Schuld an die Müt­ter (weni­ger an die Väter), für das per­sön­li­che, auch neu­ro­ti­sche Unglück und Leid des Kin­des, des spä­te­ren Erwach­se­nen, ver­ant­wort­lich zu sein. In dem Maße, in dem sich die Psy­cho­ana­lyse von einem Bild der tri­an­gu­lä­ren, ödi­pa­ len, vaterzentrierten Fami­ lie als Haupt­ ort der Neurosenentstehung abge­wandt und dem der frü­hen Mut­ter-Kind-Dyade zuge­wandt hat, ist die Nei­gung größer gewor­den, die Mut­ter in ihrer Fähig­keit oder Unfä­hig­keit, dem Klein­kind gerecht zu wer­den, für spä­tere psy­chi­sche Stö­run­gen ver­ant­wort­lich zu machen. Rohde-Dachser (1989) deckt



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die Phan­ta­sie von der omni­po­ten­ten, per­fek­ten Mut­ter-Figur auf, die hin­ter einem sol­chen »mother blaming« steckt, und ent­larvt diese als die Phan­ta­sie des klei­nen Kin­des von einer sol­chen Mut­ter mit ihren allspendenden, aber auch bedroh­li­chen Sei­ten. Sicher ist es nicht för­ der­lich (auch für den Pati­en­ten nicht), sich all­zu­sehr mit dem Kind, das ein­mal mehr oder weni­ger gelit­ten hat, zu iden­ti­fi­zie­ren. Trau­mata in Form von Defi­zi­ten oder Über­grif­fen kom­men in allen Lebensaltern vor und sind nicht nur der Mut­ter anzu­la­sten. Eine Hal­tung der Über­iden­ti­fi­zie­rung zum Bei­spiel mit dem Mäd­chen als Opfer einer männ­li­chen Macht, des Inzest-Vaters näm­lich, kann die The­ra­pie auch nicht über einen gewis­sen Punkt hin­aus­füh­ren, da sie die kom­ple­xen fami­­lien­dy­na­mi­schen Ver­hält­nisse und vor allem die kom­pli­zier­ten Inter­nalisierungsvorgänge, mit denen das Inzest-System in das Opfer ­hinein­ge­langt, nicht berück­sich­tigt (vgl. Hirsch 1987; wir wer­den aus­­führ­lich auf diese Psy­cho­dy­na­mik, näm­lich vor­nehm­lich eine des Schuld­ge­fühls, zurück­kom­men). Ande­rer­seits ist ein gewis­ses Maß an Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Kind (im Pati­en­ten) als einem der Ver­ant­wor­ tung und Schuld der Erwach­se­nen (und als anfäng­lich pas­si­vem Emp­ fän­ger je beson­de­rer fami­lien­dy­na­mi­scher Ein­flüsse) pri­mär aus­ge­lie­ fer­ten Opfer unum­gäng­lich. Es ist eben eine Syn­these erfor­der­lich, die sowohl berück­sich­tigt, was mit dem Kind gemacht wurde, als auch, was es selbst dar­aus gemacht hat. Es kann in der The­ra­pie gar nicht darum gehen, jeman­dem die Schuld zu geben, viel­mehr ist das Ziel, der Wirk­lich­keit der Bezie­hun­ gen der Ver­gan­gen­heit und der Gegen­wart mög­lichst nahe zu kom­men und sich einer Wahr­heit zu nähern und sie zu benen­nen, weil erst dann Angst, Wut und Trauer mög­lich sind, deren Ent­ste­hung für eine Ver­än­ de­rung, auch von Bezie­hun­gen, Vor­aus­set­zung ist. Ein Stecken­blei­ben in dem Schuld­vor­wurf an die Müt­ter, Väter oder die schlechte Kind­heit würde auch das Ziel einer jeden tief­er­ge­hen­den The­ra­pie ver­feh­len, dem Pati­en­ten zu eige­ner Ver­ant­wort­lich­keit sei­nem Leben gegen­über zu ver­hel­fen. Geht es doch um die Ablö­sung von dem ver­in­ner­lich­ten Fami­lien­system. Sowohl Schuld­ge­fühle des Opfers als auch ein andau­ ern­der Schuld­vor­wurf sind starke Bin­dungs­kräfte. Das Auf­recht­er­hal­ ten einer Opfer-Iden­ti­tät bedeu­tet eine per­ma­nente Schuld­zuwei­sung an den Täter oder das Tätersystem. Diese Zuord­nung der Schuld ist aus der Sicht des traumatisierten Kin­des zwar mehr als berech­tigt, dient spä­ter aber über kurz oder lang der Abwehr der Los­lö­sung und der Gestal­tung eines selbstverantworteten Lebens. Und somit ent­steht aus der per­ma­nen­ten Schuld­zuwei­sung eine Schuld durch die Ver­nach­läs­ si­gung der eige­nen Iden­ti­täts­ent­wick­lung. Ähn­lich in Part­ner­be­zie­hun­ gen: Der stän­dige Blick auf die Feh­ler und die »Schuld« des ande­ren

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wehrt die Ver­ant­wor­tung für den eige­nen Anteil und beson­ders auch die eigene Ver­än­de­rung ab. (Eine eiserne Regel für Paar­ge­sprä­che ist, aus­schließ­lich von sich selbst zu spre­chen und ein »Du hast …« strikt zu ver­mei­den [Moeller 1988].) Die sprich­wört­li­che Berliner Göre, die aus­ruft: »Geschieht mei­ner Mut­ter ganz recht, daß mir die Fin­ ger abfrie­ren, was kauft sie mir keine Hand­schuhe!«, mag zwar ein Gefühl maso­chi­sti­schen Tri­umphs über eine als mäch­tig erlebte, aber ver­sa­gende Mut­ter-Figur emp­fin­den, drückt sich aber vor der Ver­ant­ wor­tung, sich selbst um das Wohl­er­ge­hen ihres Kör­pers zu küm­mern. Wie man im maso­chi­sti­schen Triumph der Selbst­be­schä­di­gung ein Macht­ge­fühl durch das Erle­ben der Schlech­tig­keit (und Schuld!) des Ande­ren bekommt, kann man sich auch ein kläg­li­ches Gefühl der Macht ver­schaf­fen, indem man sich selbst die Schuld gibt. Wenn man selbst schul­dig ist, dann hat man es wenig­stens selbst bewirkt, hätte viel­leicht auch die Macht gehabt, es zu las­sen oder anders zu machen. Jeman­dem (auch sich selbst) die Schuld geben, kann also auch der Aus­druck eines Sicherungsbedürfnisses sein, eines Bedürf­nis­ses nach Bewir­ken-Kön­ nen und nicht ohn­mäch­tig Aus­ge­lie­fert-sein-Müs­sen. Schuld sein für etwas oder Sich-an-jeman­dem-schul­dig-Machen bedeu­tet auch, (viel­ leicht nur illu­sio­näre) Macht zu haben, über­haupt noch mit ihm in Ver­ bin­dung zu ste­hen, die Bezie­hung zu ihm noch zu beherr­schen oder noch ret­ten zu kön­nen.

Psy­cho­ana­lyse und Schuld Reale Schuld ist nicht der Gegen­stand der Psy­cho­ana­lyse, wie Freud es für das Schuld­be­wusst­sein, das er auch Reue nannte, also das Bewusst­sein rea­ler Schuld, deut­lich aus­ge­spro­chen hat. Schul­dig wird man am Ande­ren oder sich selbst gegen­über, wäh­rend die Psy­cho­ ana­lyse, jeden­falls ur­sprüng­lich, sich auf die Beschäf­ti­gung mit dem Intrapsychischen beschrän­ken wollte. Für die Psy­cho­ana­lyse in ihren Anfängen war die Kon­fron­ta­tion mit Schuld selbstverständlich, war doch die bahn­bre­chende Ent­deckung Freuds die eines Ver­bre­chens an Kin­dern, die »allzu oft« von nahen Ver­wand­ten sexu­ell missbraucht wor­den waren (Freud 1896c; vgl. Hirsch 1987). Freud (1985, S. 283 f.) for­mu­liert in einem Brief an Fliess: »Dann die Über­ra­schung, daß in sämt­li­chen Fäl­len der Vater [Her­vor­he­bung ori­gi­nal] als per­vers beschul­digt wer­den mußte« – aller­dings in dem Brief, in dem er den Wider­ruf der Verführungsthe-



Psychoanalyse und Schuld

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orie mit­teilte. Ging es vor­her um die schuld­hafte Tat an einem pri­mär unschul­di­gen Kind, das damit intrapsychisch fer­tig wer­den musste, trat nun die Bedeu­tung des Trau­mas zurück zugun­sten des Pri­mats der triebbedingten Kon­flikte und Phan­ta­sien des Kin­des (des Pati­en­ten), für die nie­mand anders als die­ses selbst ver­ant­wort­lich sein konnte. So ent­wickelte sich eine Hal­tung, die mit den Wor­ten Anna Freuds (1976, S. 236) cha­rak­te­ri­siert wer­den kann: »Das Ich kann nur ändern, was es selbst getan hat, nicht, was man ihm ange­tan hat.« Oliner (1995, S. 299) fin­det

»unter Psy­cho­ana­ly­ti­kern die Ten­denz, Ereig­nisse der äuße­ren Rea­li­tät aus­schließ­ lich als Pro­blem der Sozio­lo­gen zu betrach­ten. Dies hat sie gleich­wohl nie an dem Ver­such gehin­dert, in der Behand­lung Erin­ne­run­gen an bestimmte Ereig­nisse auf­zu­decken, die für die patho­lo­gi­schen Abwehr­re­ak­tio­nen im Ich ver­ant­wort­lich sind. Die Psy­cho­ana­lyse mißt der Reak­tion des Ichs auf das, was ihm zustößt, zen­ trale Bedeu­tung bei.«

Es scheint in gewis­ser Weise nach dem Auf­ge­ben der Verführungstheorie eine Abspal­tung der trau­ma­ti­schen Rea­li­tät gege­ben zu haben, die zwar als Ein­wir­kung auf das kind­li­che Ich wei­ter­hin Bedeu­tung hatte, aber nur inso­fern, als die Reak­tion des Ich der ein­zige Gegen­stand des ana­ly­ti­schen Inter­es­ses blieb. Hier passt der Aus­spruch Vischers, den Freud (1905a, S. 25) zitiert (vgl. Falzeder u. Haynal 1989): »Das Mora­li­sche ver­steht sich ja von selbst.« Das Ver­hal­ten der Eltern also, der Täter und schließ­lich des Ana­ly­ti­kers muss nicht auf seine Realanteile unter­sucht, nicht nach irgend­einer Schuld befragt wer­den. Auch nicht nach einer mög­li­chen Schuld – viel­leicht einer Iden­ti­fi­ka­tion mit dem dama­li­gen Aggres­sor ent­spre­chend – des Opfers, die mei­nes Erach­tens in der Ana­lyse gewis­sen­haft von den Schuld­ge­füh­len geson­ dert wer­den muss (vgl. Teil III, S. 292 f.). So bleibt in der Psy­cho­ana­lyse – soweit man ihre ver­schie­de­nen Rich­tun­gen pau­schal zusam­men­fas­sen kann – lange ein Para­dox unaufgelöst: Schuld ist zwar nicht ihr Gegen­stand, aber dadurch, dass das Indi­vi­duum (das Kind, der Pati­ent) an sei­nen urei­ge­nen, letzt­lich triebbedingten Kon­flik­ten mit einer durch­schnitt­li­chen und des­halb »unschul­di­gen« sozia­len Umwelt lei­det, wird es selbst zum »schul­di­ gen Men­schen«, wie es Kohut (1977) aus­drückt. Grotstein (1990, S.  20) wür­digt Winnicotts Berück­sich­ti­gung der Umwelt, wodurch er aus der Begrenzt­heit der Freudschen und Kleinianischen Psy­cho­ana­ lyse her­aus­ge­tre­ten sei, die ein »Postu­lat des inhä­ren­ten Schuld­ge­fühls, das der Mensch von Geburt an auf­grund jener unver­meid­li­chen und uner­bitt­li­chen Phan­ta­sien erwirbt«, ent­hält und vom Pati­en­ten ver­langt anzu­er­ken­nen, dass »in der Psy­cho­ana­lyse ein­zig die eige­nen Reak­tio­ nen auf Ver­nach­läs­si­gung oder Über­griffe von signi­fi­kan­ter Bedeu­tung

64 Schuld

sind, gleich­gül­tig, wie schlecht er als Säug­ling oder Kind tat­säch­lich behan­delt wor­den ist« (S. 21; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Die Modi­fi­ka­tio­nen der Psy­cho­ana­lyse, die Weiss und Mit­ar­bei­ter (Weiss u. Sampson 1986; vgl. Eagle 1984, S. 126) vor­nah­men, schei­ nen Kohuts Kon­zept des »schul­di­gen« und des »tra­gi­schen Men­schen« (der an sei­ner Selbst­ver­wirk­li­chung schei­tert) in gewis­ser Weise par­al­lel zu gehen. Sie stel­len näm­lich der For­de­rung der tra­di­tio­nel­len Psy­cho­ ana­lyse – der Pati­ent soll tun, was er nicht will, näm­lich auf die infan­tile Trieb­be­frie­di­gung im Sym­ptom ver­zich­ten – eine andere Therapieauffassung gegen­über: Der Pati­ent soll (zu tun) ler­nen, was er will – und bis­her nicht konnte, weil er von unbe­wuss­ter Angst und Schuld­ge­fühl daran gehin­dert war. Der Ana­ly­ti­ker ist Weiss zufolge zwar auch Übertragungsfigur, aber in dem Sinne, dass er – mit eben den Gefüh­len, die aus trau­ma­ti­schen Bezie­hun­gen damals stam­men – gete­stet wird, ob er eine bes­sere Beziehungsumwelt, die die Rea­li­sie­rung der Ich-Ziele des Pati­en­ten ermög­licht, zur Ver­fü­gung stel­len kann. Die Aner­ken­nung trau­ma­ti­scher Rea­li­tät und ihre Benen­nung sowie die Aner­ken­nung der Schuld oder Ver­ant­wort­lich­keit durch den Ana­ ly­ti­ker geht mei­nes Erach­tens ein­her mit einer Hal­tung der Berück­ sich­ti­gung auch der Rea­li­tät des Ana­ly­ti­kers in der the­ra­peu­ti­schen Bezie­hung. »Die Beto­nung des Gewichts der trau­ma­ti­schen Momente in der Ent­ste­hung psy­ chi­scher Stö­run­gen sowie der soge­nann­ten rea­len Bezie­hung zwi­schen Ana­ly­ti­ker und Ana­ly­sand wäh­rend der kli­ni­schen Arbeit – eine Fokus­sie­rung, die sei­ner­zeit gänz­lich unüb­lich war und die sich damals noch gegen den Vor­wurf des Unanalytischen ver­tei­di­gen zu müs­sen glaubte – ist unter­des­sen in der inter­na­tio­na­len psy­ cho­ana­ly­ti­schen Dis­kus­sion zu etwas eher Ver­trau­tem gewor­den« (Grubrich-Simitis 1995, S. 358).

Wäh­ rend die frühe Psy­ cho­ ana­ lyse noch glaubte, eine »objek­ tive Methode zu haben, die zur Klä­rung mensch­licher Bezie­hun­gen ein­ge­ setzt wer­den könnte« (Falzeder u. Haynal 1989, S. 117), wäh­rend Ferenczi anfangs meinte, jeder Ana­ly­ti­ker würde objek­tiv die­sel­ben Fest­stel­lun­gen und Maß­nah­men in einem bestimm­ten Fall und in einer bestimm­ten Situa­tion tref­fen, führte er spä­te­stens 1932 den sub­jek­ti­ven Fak­tor des Ana­ly­ti­kers ein, die posi­ti­ven Gefühle (»Ohne Sym­pa­thie keine Hei­lung«, Ferenczi 1985) und die aversiven bzw. ihre heuch­le­ ri­sche Beschö­ni­gung (Ferenczi 1933). Genau wie in den Bezie­hun­gen zwi­schen Erwach­se­nen und Kin­ dern wer­den unver­meid­lich Werte und Hal­tun­gen des Ana­ly­ti­kers dem Ana­­lysan­den ver­mit­telt (Lichtenberg et al. 1992), und zwar jen­seits von Über­tra­gung und Gegen­über­tra­gung (ver­stan­den als Reak­tion auf die Über­tra­gung), für die ebenso wie die Erwach­se­nen der Ana­ly­ti­ker



Psychoanalyse und Schuld

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die Ver­ant­wor­tung und – im Falle von klei­ne­ren oder grö­ße­ren Trau­ mata – die Schuld zu über­neh­men hat. Eine Bestä­ti­gung der Wahr­ neh­mung des Ana­ly­san­den, dass der Ana­ly­ti­ker eine bestimmte Hal­ tung ent­wickelt hat, wird den Fort­schritt der Ana­lyse nicht behin­dern, son­dern för­dern, da eine Iden­ti­fi­ka­tion mit jeman­dem mög­lich wird, der innen und außen unter­schei­den kann und Ver­ant­wor­tung für das eigene Tun und Sein über­nimmt. Eine sol­che Hal­tung wird nicht nur die Bestä­ti­gung der Rea­li­tät extre­mer Trau­mata und fami­liä­rer Gewalt ein­schlie­ßen, son­dern auch klei­nere, oft chro­ni­sche Beziehungstraumata in der Ent­wick­lung des Pati­en­ten (und dadurch eine »Schuld« der Täter aner­ken­nen). So wer­den die Beziehungsanteile des Ana­ly­ti­kers auch benannt wer­den kön­nen (»Schuld« des Ana­ly­ti­kers), aber auch schließ­lich die rea­len destruk­ti­ven Taten eines (ehe­ma­li­gen) Opfers, für die es selbst ver­ant­wort­lich ist (»Schuld« des Opfers). Wie die Not­ wen­dig­keit der Realitätsbenennung für die Opfer von Extremtraumatisierung nur in einer Anfangs­phase not­wen­dig ist (Grubrich-Simitis 1995, S. 375) und dann die Bear­bei­tung der Reak­tio­nen und die Ver­bin­dung des Trau­mas mit der Phan­ta­sie­welt des Pati­en­ten mög­lich wird, kann auch nach einer Anfangs­phase des schüt­zen­den Annehmens, der Ver­mei­dung von Kon­fron­ta­tion und von Über­tra­gungs­deu­ tun­gen eine zuneh­mende Bela­stung durch Hineinnehmen der eige­ nen Ver­ant­wor­tung des Pati­en­ten erfol­gen (vgl. Amati 1990; Hirsch 1993b). Die Psy­cho­ana­lyse ist durch­aus für Teil­be­rei­che der Schuld zustän­ dig: 1. Die Ent­deckung Freuds (1916d), dass reale Ver­bre­chen aus einem Schuld­ge­fühl her­aus moti­viert sein kön­nen, um die­ses zu mil­dern, ist All­ge­mein­gut gewor­den (vgl. Teil II, S. 86 f.). 2. Die ver­schie­de­nen For­men der Abwehr eines an sich ange­brach­ten Schuld­be­wusst­seins, also die spe­zi­fi­sche Abwehr der Aner­ken­nung rea­ler Schuld als psy­chi­sche Akti­vi­tät (des Ich) gehört durch­aus zum Gebiet der Psy­cho­ana­lyse und wurde bereits behan­delt (Teil I, S. 56 f.). 3. Die Wir­kung von schuld­haf­tem Han­deln auf die Psy­che eines ande­ ren im Sinne eines Trau­mas wird uns noch aus­führ­lich beschäf­ti­ gen; wir wer­den sehen, dass und wie aus der Schuld des Täters die Schuldgefühle des Opfers wer­den. 4. Schließ­lich wirkt in einem ähn­lichen Sinne die Schuld der Eltern­ ge­ne­ra­tion, ins­be­son­dere wenn sie ver­leug­net und ver­drängt ist (oft im Sinne eines Fami­li­en­ge­heim­nis­ses), auf das Sub­jekt, auch wenn es gar nicht selbst Opfer der schuld­haf­ten Tat gewe­sen ist. Auch das

66 Schuld

Geheim­nis der Schuld der Eltern macht Schuld­ge­fühle bei den Kin­ dern. 5. Jede Psy­cho­the­ra­pie wird an Berei­che kom­men, in denen es erfor­ der­lich ist, abzu­wä­gen und auch zu bewer­ten, ob die emp­fun­dene Schuld des Pati­en­ten eher im Bereich des irra­tio­na­len Schuld­ge­fühls liegt, ob es sich um ein tat­säch­li­ches Schul­dig-gewor­den-Sein han­ delt, ob es Kom­bi­na­tio­nen sind, bei denen ein Schuld­ge­fühl an eine reale Schuld anknüpft und diese ver­grö­ßert, oder ob sich eine schuld­ hafte Hand­lung auf ein gleichsinniges Schuld­ge­fühl auf­ge­pfropft hat. Dass eine sol­che Differenzierungsarbeit der Schuldempfindungen für den the­ra­peu­ti­schen Pro­zess große Bedeu­tung hat, liegt auf der Hand, denn es geht dabei darum, den Ursprung der Schuld, der Ver­ant­wor­tung oder aber des Schuld­ge­fühls zu loka­li­sie­ren – außen im Sinne eines erlit­te­nen Trau­mas, innen im Sinne einer selbst zu ver­ant­wor­ten­den Hand­lung, aus wel­chen inne­ren Moti­ven und Iden­ ti­fi­ka­tio­nen sie sich auch her­lei­ten mag, oder auf­grund ver­bor­ge­ner Phan­ta­sien und Kon­flikte.

II. Schuld­ge­fühl

Überblick Eine Defi­ni­tion des Schuldgefühls haben wir bereits bei der Dif­fe­ren­ zie­rung der ver­schie­de­nen Qua­li­tä­ten des Schulderlebens bereits unter­ nom­men. Guntrip (1970, S. 61) beschreibt Schuld­ge­fühl – für den Laien – fol­gen­der­ma­ßen: »Wir könn­ten sagen, daß es eine Mischung aus Furcht, Ängst­lich­keit, der Besorg­nis, die Aner­ken­nung der Mit­ men­schen zu ver­lie­ren, Liebe und gutem Wil­len ist, also ein kom­ple­ xes Gefühl, das uns immer dann über­kommt, wenn uns das Gewis­sen schlägt.« Das Schuld­ge­fühl zen­triert sich um die Sorge, etwas getan zu haben, was die Liebe eines gelieb­ten und benö­tig­ten Men­schen beein­träch­tigt haben könnte. Aber das kann man auch vom Schuld­be­wusst­sein sagen, wenn die­ses auch viel­leicht nicht ganz so unbe­stimmt, son­dern viel kon­kre­ter und auf bestimmte defi­nierte Hand­lun­gen bezo­gen ist. Das haupt­ säch­ li­ che Unterscheidungsmoment liegt viel­ mehr in der für den Betrach­ter nicht nach­voll­zieh­ba­ren Dis­kre­panz zwi­schen Anlass bzw. Begrün­dung und Aus­maß des Affekts:

»Wenn eine Mes­al­li­ance zwi­schen Vorstellungsinhalt und Affekt, also zwi­schen Größe des Vor­wurfs und Anlaß des Vor­wurfs vor­liegt, so würde der Laie sagen, der Affekt sei zu groß für den Anlaß, also über­trie­ben, die aus dem Vorwurfe gezo­gene Fol­ge­rung, ein Ver­bre­cher zu sein, sei also falsch. Der Arzt sagt im Gegenteile: Nein, der Affekt ist berech­tigt, das Schuld­be­wußt­sein ist nicht weiter zu kri­ti­sie­ren, aber es gehört zu einem andern Inhalte, der nicht bekannt (unbe­wußt) ist und der erst gesucht wer­den muß. Der bekannte Vorstellungsinhalt ist nur durch fal­sche Ver­knüp­fung an diese Stelle gera­ten. Wir sind aber nicht gewohnt, starke Affekte ohne Vorstellungsinhalt in uns zu ver­spü­ren, und neh­men daher bei feh­len­dem Inhalt einen irgend­wie pas­sen­den ande­ren als Sur­ro­gat auf, etwa wie unsere Poli­ zei, wenn sie den rich­ti­gen Mör­der nicht erwi­schen kann, einen unrech­ten an sei­ner Stelle ver­haf­tet« (Freud 1909d, S. 399 f.).

Wegen der Dis­kre­panz nen­nen wir ein sol­ches Schuld­ge­fühl auch neu­ ro­tisch, irra­tio­nal, irreal oder patho­lo­gisch, im Falle der Melan­cho­lie auch psy­cho­tisch. Schuld­ge­fühle sind ubi­qui­tär, denn jede psy­chi­sche Stö­rung ent­

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hält Aggres­sion und Destruk­tion, die sich nicht ent­fal­ten können, da sie sich gegen ein Lie­bes­ob­jekt rich­ten und die resul­tie­rende Ambi­ va­lenz nicht gelöst wer­den konnte. Außer­dem ist in jeder »schwe­re­ ren Neu­rose« (Freud 1923b, S. 280) ein Über-Ich-Fak­tor ent­hal­ten, »ein Schuld­ge­fühl, wel­ches im Krank­sein seine Befrie­di­gung fin­det und auf die Strafe des Lei­dens nicht ver­zich­ten will« (S. 279), das heißt, auch gegen eine Ver­än­de­rung durch die Ana­lyse ein­ge­stellt ist. Beson­ders bei der Zwangs­neu­rose und bei der Melan­cho­lie ent­ste­hen starke Schuld­ge­fühle; bei erste­rer wehrt sich das Ich mit viel­fäl­ti­gen Re­aktions­bil­dun­gen gegen das harte Über-Ich, bei der Melan­cho­lie hat sich das Ich ganz erge­ben und die Uner­bitt­lich­keit des Über-Ich über­ nom­men. Freud (1923b) hat das unbe­wusste Schuld­ge­fühl als den stärk­sten Wider­stand gegen eine Hei­lung bezeich­net, man könne nicht viel mehr tun, als das Ich zu stär­ken, und anhand der bewuss­ten Schuldgefühls­ anteile sich lang­sam vor­an­ta­sten, um unbe­wusste Anteile nach und nach zu bewäl­ti­gen. Das unbe­wusste Schuld­ge­fühl gibt sich am ehe­ sten durch Selbst­de­struk­tion und als Wider­stand gegen die Behand­ lung, wie erwähnt, zu erken­nen. Ich möchte beson­ders dar­auf hin­wei­ sen, dass nicht ganz klar ist, ob es sich hier um das Ergeb­nis einer Ver­drän­gung han­delt oder ob das Schuld­ge­fühl aus ande­ren Grün­den nicht ins Bewusst­sein kom­men kann. In sei­ner berühm­ten Fuß­note (s. S. 94) spricht Freud von der Mög­lich­keit, dass es auch ein »ent­lehn­ tes Schuld­ge­fühl« (S. 279) sein kann, und gibt damit einen Hin­weis auf die Über­nahme des Schuld­ge­fühls von einem Lie­bes­ob­jekt, sodass das Schuld­ge­fühl introjektartig von außen über­nom­men wor­den sein kann. Es gäbe also eine Introjektion eines Schuld­ge­fühls (vgl. auch Fenichel 1945, Bd. I, S. 237) oder einer Schuld einer ande­ren bedeu­ ten­den Per­son. Diese wich­tige Unter­schei­dung wird uns spä­ter noch beschäf­ti­gen. Wir haben im ersten Abschnitt des Buches ein Bewusst­sein rea­ler Schuld (Schuld­be­wusst­sein) abge­grenzt von einem Schuldgefühl, das von einer inne­ren Instanz erzeugt wird, dem Über-Ich, und sei­nem bewussten Anteil, dem Gewis­sen. Die Gründe, derer sich das Über-Ich bedient und die ein Schuld­ge­fühl recht­fer­ti­gen sol­len, sind einer­seits mehr oder weni­ger realitätsgerecht, ande­rer­seits auch irra­tio­nal, unrea­ li­stisch. Die Kon­tro­verse zwi­schen den daseinsanalytisch ori­en­tier­ten Auto­ren und der Psy­cho­ana­lyse ging um das Pro­blem, inwie­weit es ein auto­chtho­nes Gewis­sen gibt bzw. ob es sich immer um ein erwor­be­nes, aus den äuße­ren Gebo­ten und Wer­ten ver­in­ner­lich­tes han­deln muss. Unge­ach­tet die­ser Kon­tro­verse muss man davon aus­ge­hen, dass die Qua­li­tät des Über-Ich ganz ver­schie­den sein kann – streng, lebens­feind­



Überblick 69

lich bis hin zu ange­mes­sen, lebenserleichternd – und auch die Berei­che, die zur Begrün­dung des Über-Ich ver­wen­det wer­den, sich auf einem Spek­trum von gro­ßer Irrea­li­tät bis hin zu rea­li­sti­schen Grün­den bewe­ gen kön­nen, die ein freund­li­ches Gewis­sen war­nend Ein­spruch erhe­ ben las­sen. Schließ­lich ist das Gewis­sen, wie wir gese­hen haben, eine Instanz, die im all­ge­mei­nen wirk­li­che Schuld ver­hin­dern oder wenig­ stens nach­träg­lich realitätsgerecht bewer­ten soll. Ein wünschenswertes Über-Ich wird mehr prospektiv vor Fehlverhalten warnen und auf den Erhalt sozialer Beziehungen achten, während ein feindliches mit Vorwurf und Entwertung arbeitet. Es wird also einen glei­ten­den Über­gang geben zwi­schen völ­lig irra­tio­na­lem und mehr rea­li­sti­schem Schuld­ge­ fühl bis hin zum Schuld­be­wusst­sein, dar­über hin­aus viel­fäl­tige Über­ la­ge­run­gen, Über­schnei­dun­gen und Ent­spre­chun­gen von Schuld­ge­fühl und Schuld­be­wusst­sein. Dar­über wird im drit­ten Abschnitt des Buches mehr zu erfah­ren sein. In dem Kon­flikt zwi­schen der Triebnatur des Men­schen und den Erfor­der­nis­sen sozia­len Zusam­men­le­bens misst Freud (1930a) dem Schuld­ge­fühl eine zen­trale Bedeu­tung bei; es liegt ihm daran, »das Schuld­ge­fühl als das wich­tig­ste Pro­blem der Kul­tur­ent­wick­lung hin­ zu­stel­len und darzu­tun, daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhö­hung des Schuld­ge­fühls bezahlt wird« (S. 493 f.). Die Regu­la­tion sozia­len Ver­hal­tens (»Kul­tur«) liegt in den Hän­den des Über-Ich (des Gewis­sens); die­ses bedient sich des Mit­ tels des Schuld­ge­fühls. Die Not­wen­dig­keit, Trieb­ver­zicht zu lei­sten, erzeugt erst die Exi­stenz des Schuld­ge­fühls, das Gewis­sen stellt sich als »Folge des Triebverzichts« dar. Freud scheint hier Nietzsche zu fol­gen, der schlech­tes Gewis­sen und Schuld­ge­fühl für die Wir­kung der unter­drück­ten, ein­ge­sperr­ten Triebe des Men­schen hielt, denen der Mensch untreu wurde und Gesell­schaft, Frie­den und Behag­lich­keit vor­zog (vgl. Dorn 1976, S. 119 f.; Condrau 1962, S. 144, der Tramer zitiert). Die äußere Auto­ri­tät, die Ver­zicht for­dert, wird das Ziel mas­si­ver Aggres­sion, wel­che aber – aus Angst vor Lie­bes­ver­lust, letzt­ lich vor Verlassenwerden – nicht offen aus­ge­drückt wer­den kann. Die unter­las­sene Aggres­sion wird vom Über-Ich über­nom­men, denn das Kind hilft sich, »indem es diese unan­greif­bare Auto­ri­tät durch Iden­ti­ fi­ka­tion in sich auf­nimmt, die nun das Über-Ich wird« (Freud 1930a, S. 489), das Über-Ich ist nun im Besitz all der Aggres­sion, die man als Kind gegen die Auto­ri­tät aus­ge­übt hätte. Freud hat also die Ent­wick­lung des Über-Ich aus einem Sta­dium sozia­ler Angst ange­nom­men, in dem das Auf­tre­ten von Schuld­ge­fühl – eher eine Schuldangst – von der Anwe­sen­heit der lie­ben­den, aber gege­be­nen­falls auch (mit Lie­bes­ent­zug) stra­fen­den Per­son abhängt.

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Die volle Ein­set­zung des Über-Ich geschieht Freud zufolge durch das Auf­ge­ben der ödi­pa­len Stre­bun­gen und die Iden­ti­fi­ka­tion mit den elter­li­chen Vor­stel­lun­gen – Schuld­ge­fühl ist für Freud immer ein ödi­pa­les. Es ist anzunehmen, dass die Über-Ich-Bildung in drei Stufen verläuft: Zuerst muss die strafende Instanz (»Vater«) real anwesend sein, um durch Strafandrohung ein Fehlverhalten zu verhindern. Dann nimmt das Kind den Vater in sich auf (Introjektion), er ist in der Vorstellung präsent (Introjekt), und ihm zuliebe benimmt sich das Kind. Erst in einer dritten Stufe macht sich das Kind die Wertvorstellungen der Erwachsenen zu eigen, fügt sie durch Identifikation (Identifikation mit dem Introjekt) seinem Ich hinzu; das Ergebnis ist ein »frü­hes Über-Ich«, also ein präödipales, das zuerst von Melanie Klein (1927; 1933) als Aus­wir­kung der Macht des von ihr ange­ nom­me­nen Todestriebes beschrie­ben wurde und das von weit mehr feind­li­cher, ver­fol­gen­der Qua­li­tät ist als das ödi­pale, ist inzwi­schen all­ge­mein aner­kannt, viel weni­ger aber seine angeb­li­che Wur­zel, der Todes­trieb; auch ein »frü­hes« Über-Ich beruht durch­aus auf der Ein­ wir­kung der sozia­len Umge­bung oder bes­ser, ist das Ergeb­nis der Mil­de­rung eines Kon­flikts zwi­schen eige­nen Bestre­bun­gen und den es­ sen der Liebesobjekte durch Internalisierung die­ser Inter­es­Inter­ sen. Viel­leicht ist es zu wenig deut­lich gewor­den, dass Schuld­ge­fühl nicht nur patho­lo­gisch, ver­fol­gend, ein­schrän­kend sein muss, son­dern wich­tige, eigent­lich lebens­not­wen­dige Regulationsfunktionen hat. Denn die Aggres­sion gegen das geliebte Objekt muss im Zaum gehal­ ten wer­den. Das meinte Freud (1930a, S. 493), als er das Schuld­ ge­fühl als »das wich­tig­ste Pro­blem der Kul­tur­ent­wick­lung« bezeich­ nete. Inner­halb der Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie des ersten Lebens­jah­res, wie sie Melanie Klein (1933) ent­wor­fen hat, bedeu­tet die Fähig­keit, die Ambi­va­lenz von aggres­si­ven und lie­ben­den Gefüh­len aus­zu­hal­ ten (»depres­sive Posi­tion«) einen ent­schei­den­den Ent­wick­lungs­schritt. Der ältere Säug­ling ist Melanie Klein zufolge nun in der Lage, die Mut­ter und andere Bezie­hungs­per­so­nen als ganze Objekte wahr­zu­neh­ men, das heißt, auch zu erken­nen, dass sich der Hass nicht auf ein nur böses Teilobjekt rich­tet, son­dern auf das auch geliebte ungespaltene Objekt, sodass »depres­sive Angst, Schuld­ge­fühl und der Drang nach Wie­der­gut­ma­chung ent­ste­hen« (Klein 1948, S. 178). Das Wesent­li­che des Schuld­ge­fühls ist die Aner­ken­nung, »daß der dem gelieb­ten Objekt zuge­fügte Scha­den durch die aggres­si­ven Regun­gen des Indi­vi­du­ums ver­ur­sacht wor­den ist« (S. 179). Die Annahme, den Scha­den ver­ur­sacht zu haben, das heißt das Schuld­ge­fühl, denn es han­delt sich um eine Phan­ta­sie, las­sen den Drang ent­ste­hen, »die­sen Scha­den unge­sche­hen



Überblick 71

zu machen oder zu repa­rie­ren« (S. 179). Die Bedeu­tung des Schuld­ge­ fühls liegt darin, dass es eine

»wesent­li­che Bedin­gung für die Fähig­keit des Ichs, sich sel­ber und die ent­ge­gen­ ge­setz­ten Aspekte des Objekts zu inte­grie­ren« (S. 179), dar­stellt. Die Bedin­gung für die Ent­ste­hung von depres­si­ver Angst, Schuld­ge­fühl und Reparationstendenz ist, daß die »Lie­bes­ge­fühle für das Objekt die destruk­ti­ven Regun­gen über­wie­gen« (S. 179).

Wäh­rend es Melanie Klein um die Trieb­be­frie­di­gung des Kin­des geht, um die exi­sten­zi­el­len Kon­flikte auf­grund der Wider­sprüch­lich­ keit der aggres­si­ven und libi­di­nö­sen Triebkomponenten sowie die Not­ wen­dig­keit, dar­aus ent­ste­hende Angst zu bewäl­ti­gen, geht Winnicott (1958; 1963) einen Schritt weiter in Rich­tung auf die wech­sel­sei­tige Gestal­tung der frü­hen Mut­ter-Kind-Bezie­hung. Denn die Fähig­keit zur Wie­der­gut­ma­chung, zur »Besorg­nis« (1958, S. 27; 1963), ist der Anteil des Kin­des, aber es bedarf auch der »Fähig­keit der Mut­ter, das Triebmoment zu über­le­ben und also dazusein, um die wahre Wiedergutmachungsgeste ent­ge­gen­zu­neh­men und zu ver­ste­hen« (1958, S. 29). Denn es hängt auch von der Reak­tion der Mut­ter ab, ob das Kind Schuld­ge­ fühle ent­wickeln kann: »Wenn das Klein­kind her­aus­be­kommt, daß die Mut­ter wei­ter­lebt und die Wiedergutmachungsgeste annimmt, wird es all­mäh­lich fähig, die Ver­ant­wor­tung für die ganze Phan­ta­sie von dem vol­len Triebimpuls auf sich zu neh­men, die vor­her skru­ pel­los war. Bedenkenlosigkeit weicht der Reue, Sorg­lo­sig­keit der Sorge« (S. 29).

Schuld­ge­fühl wird von Winnicott auch mit der Fähig­keit, die »Ver­ ant­wor­tung für Es-Impulse zu über­neh­men« (S. 31) defi­niert. Das erin­ nert an die Fähig­keit, Ver­ant­wor­tung für eine reale schuld­hafte Hand­ lung zu über­neh­men; hier scheint jedoch ein Schuld­ge­fühl nur mög­lich zu sein, wenn das Indi­vi­duum in der Lage ist, die Es-Impulse, also vor­wie­gend sadi­stisch-aggres­sive Triebimpulse, als eigene anzu­er­ken­ nen und nicht etwa gezwun­gen zu sein, sie projektiv nach außen zu ver­la­gern. Denn Per­sön­lich­kei­ten mit anti­so­zia­len Ten­den­zen fal­len durch einen »Man­gel an der Fähig­keit zu Schuld­ge­füh­len« (S. 31) auf, und kon­se­quen­ter­weise wird das Feh­len von Schuld­ge­füh­len auf einen Man­gel der frü­hen Umge­bung zurück­ge­führt: »Jene, denen es an mora­ li­schem Emp­fin­den fehlt, haben in den Früh­sta­dien ihrer Ent­wick­lung das emo­tio­nale und phy­si­sche Milieu ent­behrt, das ihnen die Ent­wick­ lung einer Fähig­keit zu Schuld­ge­füh­len ermög­licht hätte« (S. 31). Ein Delin­quent müsste Winnicott zufolge also kon­se­quen­ter­weise eine Umge­bung wie für einen Säug­ling bekom­men, damit die Ent­wick­ lung zur Fähig­keit, Schuld­ge­fühle zu haben, nach­ge­holt wird. In einer spä­te­ren Arbeit defi­niert Winnicott (1963) »Besorg­nis« genauer und grenzt sie von Schuld­ge­füh­len ab: Die Mut­ter muss fort­ge­setzt leben­dig

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und prä­sent (»ver­füg­bar«, S. 105) blei­ben, die »Fülle der Es-Triebe des Babys« (S. 105) emp­fan­gen, damit das Kind Schuld­ge­fühle emp­fin­den kann; bis sich eine Gele­gen­heit zur Wie­der­gut­ma­chung ergibt, kann es die Schuld­ge­fühle »hal­ten«. »Die­sen Schuld­ge­füh­len, die gehal­ ten, aber nicht als sol­che emp­fun­den wer­den, geben wir den Namen ›Be­sorg­nis‹« (S. 105). Kann die Mut­ter die Wiedergutmachungsgeste nicht anneh­men, wird das Schuld­ge­fühl uner­träg­lich, pri­mi­tive For­men ent­ste­hen sowie über­mä­ßige Angst. Das Über-Ich ist zunächst ein Introjekt, also etwas von außen in das Ich oder bes­ser Selbst Hineingenommenes. Dort kann es etwas Frem­des, Abge­kap­sel­tes blei­ben, gleich­wohl große Wir­kung haben, oder kann durch Iden­ti­fi­ka­tion assi­mi­liert wer­den – hier ist wie­der ein Spek­trum anzu­neh­men; je nach­dem wie archa­isch, feind­se­lig, letzt­ lich gegen die Inter­es­sen des Indi­vi­du­ums gerich­tet oder sozu­sa­gen »auf sei­ner Seite« es ist, wird es kaum oder leich­ter zu assi­mi­lie­ren sein, und zwar durch Iden­ti­fi­ka­tion, die das Selbst des Kin­des mo­ difiziert, das die äuße­ren For­de­run­gen sich nun zu eigen gemacht hat. Die Qua­li­tä­ten und Inhalte der elter­li­chen Gebote und Werte, die in das Über-Ich des Kin­des ein­ge­hen, sind von Freud kaum je befragt wor­den. Daher bedeu­tete es mei­nes Erach­tens eine Revo­lu­tion in der Psy­cho­ana­lyse, dass Ferenczi (1933) nicht nur die von Freud 1897 (vgl. Hirsch 1987) auf­ge­ge­bene Verführungstheorie wie­derauf­nahm (sexu­elle Gewalt als extre­mes Bei­spiel der rea­len Ein­wir­kung des Erwach­se­nen auf das Kind), son­dern die Mecha­nis­men auf­zeigte, die in einem Ablauf von Implan­ta­tion der Gewalt, wie man heute ergän­zen muss, ihrer Introjektion und der anschlie­ßen­den (par­ti­el­len) Iden­ti­fi­ ka­tion. Das trau­ma­ti­sche Introjekt nun erzeugt (im Prin­zip genau wie ein durch­schnitt­lich »freund­li­ches« Über-Ich) Schuld­ge­fühl, ein aller­ dings trau­ma­ti­sches Schuld­ge­fühl destruk­ti­ver Qua­li­tät und immer in gewis­ser Weise der rea­len Schuld eines Ande­ren ent­stam­mend. Auch im Erwach­se­nen kön­nen extreme Trau­mata wie Fol­ter, KZ-Haft und schwere Ver­lu­ste, Introjekte und damit über­mä­ßige Schuld­ge­fühle her­ vor­ru­fen. Als wei­te­rer elter­li­cher oder fami­liä­rer Ein­fluss auf das Kind ist die Ableh­nung sei­ner Exi­stenz über­haupt bzw. bestimm­ter Eigen­schaf­ten, ins­be­son­dere sei­nes Geschlechts zu sehen. Eine sol­che Nichtakzeptanz erzeugt ein Basisschuldgefühl in bezug auf die eigene bloße Exi­stenz. Eine zweite »Revo­lu­tion« in der Dif­fe­ren­zie­rung der Schuldgefühls­ qualitäten wurde mei­nes Erach­tens mit der Arbeit »On having the right to a life – an aspect of the super-ego’s deve­lop­ment« von Modell



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(1965) ein­ge­lei­tet. Nicht nur elter­li­che Maß­re­geln, nicht nur der sa­ distische Trieb (nach M. Klein) oder die trau­ma­ti­sche Implan­ta­tion, son­dern auch die Behin­de­rung eines an sich selbst­ver­ständ­li­chen und wün­schens­wer­ten Autonomiestrebens erzeugt Schuld­ge­fühl, ein Trennungsschuldgefühl, eben wegen die­ ses Bedürf­ nis­ ses nach ­Selb­st­stän­dig­keit und Getrenntsein vom Objekt, das diese Bestre­bun­ gen bekämpft, des­sen Wohl­wol­len gleich­wohl jedoch nötig bleibt. Den skiz­zier­ten vier Mög­lich­kei­ten der Über-Ich- oder Introjekt­ entstehung ent­spre­chen vier große Grup­pen von Schuldgefühlsqualitäten, die ich folgendermaßen formulieren möchte: Basisschuldgefühl Es ist ein Schuld­ge­fühl wegen des blo­ßen Seins oder aber des So-Seins. spricht der »Unter­ ord­ nung unter nega­ tive Bot­ schaf­ ten der Das ent­ Eltern«, wie es Weiss und Sampson (1986) nen­nen, die wie der Fluch einer bösen Fee exi­sten­zi­elle Wir­kung haben kön­nen. Zugrunde liegt ein basales Nicht-gewollt-Sein vonseiten der Eltern, ver­bun­den mit einem Ver­ant­wort­lich-Machen für das Leid der Eltern und ihre Beziehungsschicksale, auch Gezeugt-Wer­den, um ein ver­lo­re­nes Kind zu erset­zen, aber auch um eine bestimmte ver­sor­gende Funk­tion für die Eltern im Sinne einer Rol­len­um­kehr zu erfül­len. Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät Die­ses Schuld­ge­fühl ent­steht aus dem Bestre­ben, stark zu sein, zu wach­ sen, zu expan­ die­ ren, und damit ver­ bun­ den aus dem HabenWol­len, Weg­neh­men-Wol­len. Die­ser Bereich ent­spricht am ehe­sten dem ödi­pa­len Über-Ich, ent­stammt der ödi­pa­len oder ande­rer Riva­ li­tät, reicht aber auch an exi­stenzti­elle Berei­che wie das Überlebendenschuldgefühl heran. Die Grund­lage die­ses Schuld­ge­fühls liegt in der Behin­de­rung der Lebens- und Überlebensbestrebungen des Kin­ des, zum Bei­spiel durch chro­ni­sche Krank­heit der Eltern, durch die im Sinne des »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens« (Ferenczi 1933) die Vita­li­tät des Kin­des unter­drückt und mit Schuld in Ver­bin­dung gebracht wird. Auch ödi­pa­les Schuld­ge­fühl und Überlebendenschuldgefühl gehö­ren in die­sen Bereich. Trennungsschuldgefühl Ein drit­tes Gebiet ist das des Schuld­ge­fühls aus dem Autonomiestreben her­aus, auch hier sind mas­sive Behin­de­run­gen anzu­tref­fen, die haupt­ säch­lich Ein­schrän­kun­gen der Identitätsentfaltung bewir­ken. Los­lö­ sung wird als Aggres­sion gegen die Eltern, also schuld­haft, erlebt. An die­ser Stelle ist min­de­stens eine Quelle des Schuld­ge­fühls wegen sexu­ el­ler Bedürf­nisse zu sehen, da Sexua­li­tät immer mit der Ent­fer­nung von

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den fami­liä­ren Objek­ten zu tun hat. Ein aus­ge­dehn­ter Schuldgefühlsbereich betrifft Arbeitsstörungen und Prü­fungs­angst, die im Zusam­men­ hang mit Autonomiebehinderung gese­hen wer­den – Erfolg bedeu­tet Tren­nung. Trau­ma­ti­sches Schuld­ge­fühl Der vierte abgrenzbare Schuldgefühlsbereich geht auf die trau­ma­ti­ schen Ein­wir­kun­gen von außen auf das Kind (auch spä­ter den Erwach­ se­nen) zurück, die ein trau­ma­ti­sches Schuld­ge­fühl erzeu­gen, das auf Implan­ta­tion von Gewalt beruht, der ihre Introjektion folgt, wei­ter­hin kön­nen ver­schie­dene Identifikationsvorgänge die zer­stö­re­ri­sche Wir­ kung des Introjekts zu mil­dern ver­su­chen. Der Internalisierungsvorgang der Gewalt ist von Ferenczi begrün­det wor­den. Weiss und Sampson (1986) spre­chen von einer »Unter­ord­nung unter die nega­tive Behand­ lung der Eltern«, auch hier wird man ver­nich­ten­der Gewalt begeg­nen, und auch über das Kin­des­al­ter hin­aus sind Men­schen im­stande, ande­ ren durch extreme Trau­ma­ti­sie­rung lebens­lang schwere Schuld­ge­fühle auf­zu­drücken. Ins­be­son­dere wer­den so die Mecha­nis­men der Wei­ter­ gabe der inter­na­li­sier­ten Gewalt auf die näch­sten Gene­ra­tio­nen begreifbar. Natür­lich sind Über­la­ge­run­gen und Über­schnei­dun­gen der auf­­ geführ­ten Berei­che immer zu erwar­ten, die an der häu­fi­gen Mehr­ fachdeterminiertheit des Schuld­ge­fühls lie­gen, zum Bei­spiel ist ein Überlebendenschuldgefühl oft sowohl von dem Bestre­ben des Über­le­ ben-Wol­lens als auch von extre­mer Gewalterfahrung bestimmt; ebenso las­sen sich Bedürf­nisse von Vita­li­tät und Auto­no­mie in der Regel kaum von­ein­ander tren­nen. Und auf ein Basisschuldgefühl wird sich oft genug sowohl eines auf­grund von Behin­de­run­gen des Autonomiestrebens als auch eines auf­grund trau­ma­ti­scher Gewalt auf­pfrop­fen. Aber häu­fig ent­fernt man sich von der kom­ple­xen Wirk­lich­keit mensch­licher Phä­no­mene, indem man um grö­ße­rer Klar­heit wil­len Abgren­zun­gen und Klas­si­fi­ka­tio­nen vor­nimmt, die man – hof­fent­lich – wie­der rela­ti­ vie­ren kann, wenn man sich ihrer Kom­ple­xi­tät – bei­spiels­weise in der the­ra­peu­ti­schen Arbeit – wie­der nähert. Dorothea L. litt an einem Basisschuldgefühl, das begründet war in der ungewollten Schwangerschaft der Mutter mit ihr, auch in der Jugend und Mittellosigkeit der Eltern. Die Mutter musste den Beruf aufgeben, der Vater an zwei Arbeitsstellen Geld verdienen. Alles wäre nicht nötig gewesen, wenn Frau L. nicht geboren wäre. Sie drückt das so aus: »Es gibt ein Gefühl in mir, wie eine innere Stimme, die sagt: ›Du hast Schuld.‹ Das Gefühl geht bis vor meine Geburt zurück. Ich werde es nicht los. Bevor ich auf die Welt kam, war ich schon schuldig.« Wenn schon ein Kind, wollte der Vater wenigstens einen Jungen, er behandelte sie anfangs wie einen solchen, sie versuchte in der Kleinkindzeit, sich an seine Wünsche anzupassen



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(wildes, »jungenhaftes« Verhalten, kurze Haare etc.). Das Basisschuldgefühl wegen der ungewollten Existenz wird durch das »Falschsein« also noch potenziert. In der Grundschulzeit bereits war das Verhalten des Vaters deutlich sexistisch im Sinne des latenten Inzests, der auch später durch anzügliche Bemerkungen, körperliche Übergriffe und Herabsetzungen agiert wurde. Hier kommt ein traumatisches Schuldgefühl hinzu. Die Mutter wird als depressiv, seltsam leer erlebt (die Introjektion einer solchen Mutter trägt zum Basisschuldgefühl bei, wie wir gesehen haben); in einer Rollenumkehr (»Sonnenschein sein für sie«) wollte Frau L. als Kind immer wieder die Mutter »retten«, musste aber stets scheitern, was wiederum Schuldgefühle machte. Die um ein Jahr jüngere Schwester war immer viel mehr von den Eltern akzeptiert, aber auch angepasster, mit den Eltern konform; die Rivalitätsdynamik mit der Schwester verursachte ein Schuldgefühl aus Vitalität; auch um die Schwester meinte sich Frau L. immer kümmern zu müssen. Ein trotz aller Identifikation mit den familiären Aggressoren frühentwickeltes Protestpotential, mit dem sie heftig – meist vergeblich – um Gerechtigkeit kämpfte, das mit drastischen körperlichen Strafmaßnahmen beantwortet wurde, weist auf ein starkes Trennungs- und Individuationsbedürfnis hin, das aber als schuldhaft definiert und geahndet wurde.

Über-Ich In »Totem und Tabu« sprach Freud (1912–13) vom Gewis­sen, vom »Tabu-Gewis­sen«, wie wir gese­hen haben; das Tabu (der Wil­den) ist ein »Gewissensgebot« (S. 85) und bereits aus der Ambi­va­lenz (dem Urva­ter gegen­über) ent­stan­den. Der Ein­spruch des Gewis­sens wegen der blo­ßen Aggres­sion gegen jeman­den wäre über­flüs­sig, wenn man die­sen nicht gleich­zei­tig auch liebte; das Gewis­sen mahnt sozu­sa­ gen, der Aggres­sion wegen der Liebe nicht freien Lauf zu las­sen. Das Tabu also wird von Freud wie eine Instanz beschrie­ben, die er erst viel spä­ter (1923b) Über-Ich nennt. In »Zur Ein­füh­rung des Nar­ziß­ mus« bringt Freud (1914c) Gewis­sen und Ich-Ideal zusam­men; ein Ideal wird auf­ge­rich­tet, an wel­chem das Ich gemes­sen wird, die Bil­ dung eines »Ich-Ide­als, als des­sen Wäch­ter das Gewis­sen bestellt ist«, ist »von dem … kri­ti­schen Ein­fluß der Eltern aus­ge­gan­gen« (Freud 1914c, S. 163). Tabu und Ich-Ideal sind Vor­läu­fer in der Kon­zep­ tion des Über-Ich; ein­mal noch erwei­terte Freud (1921c, S. 145) das Ich-Ideal, indem er bemerkt, »daß mög­li­cher­weise alle Wech­ sel­wir­kun­gen, die wir zwi­schen äuße­rem Objekt und Gesamt-Ich in der Neu­ro­sen­lehre ken­nengelernt haben, auf die­sem neuen Schau­ platz inner­halb des Ichs zur Wie­der­ho­lung kom­men«, dass es sich also um eine Ver­in­ner­li­chung äuße­rer Objekterfahrung han­delt. Hier hätte Freud auch trau­ma­ti­sche Ein­wir­kun­gen und ihre Internalisierung erfas­sen kön­nen, wie es dann Ferenczi 1933 getan hat. 1923 schließ­lich wird in »Das Ich und das Es« der Begriff des Ich-Ideal durch das »Über-Ich« ersetzt. Das Über-Ich ent­steht durch Iden­ti­fi­

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ka­tion mit Antei­len der Eltern; neben die das Ich berei­chern­den Iden­ ti­fi­ka­tio­nen tre­ten Über-Ich-Iden­ti­fi­ka­tio­nen auf­grund der Not­wen­ dig­keit, die ambi­va­len­ten Bestre­bun­gen des Ödi­pus-Kom­ple­xes zu bewäl­ti­gen. »Das Kind errich­tet im Über-Ich die­selbe Schranke gegen seine Trieb­impulse, wie sie in der Außen­welt in Gestalt der Eltern vor­han­den ist« (Sandler 1960, S. 725). Wie Freud (1930a) spä­ ter schreibt, ist vor der Ent­ste­hung des Über-Ich die Angst vor dem Lie­bes­ver­lust der Eltern der Motor von Schuld­ge­fühl und Gewis­sen, dann aber tritt »eine große Ände­rung … ein, wenn die Auto­ri­tät durch die Auf­rich­tung eines Über-Ichs ver­in­ner­licht wird. Damit wer­den die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe geho­ben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewis­sen und Schuld­ge­fühl spre­chen« (S. 484). Das Gewis­sen möchte Freud an die Exi­stenz des Über-Ich geknüpft wis­sen (S. 496), aber ein Schuld­ge­fühl bestehe bereits vor­her. Das Über-Ich wacht also über die Begren­zung der Trieb­kräfte, aber es besteht nicht nur aus den Nie­der­schlä­gen der Iden­ti­fi­ka­tio­nen mit den Eltern, son­dern erhält seine Kraft auch aus den aggres­si­ven Trieb­ kräf­ten des Es. Es wird dadurch sadi­stisch, dass es die Aggres­sio­nen in sich auf­nimmt, auf deren Agie­ren das Ich ver­zich­tet hat. Freud muss hier in einer für meine Begriffe aben­teu­er­li­chen Kon­struk­tion erklä­ren, wie die Strenge der äuße­ren Auto­ri­tät und Aggres­si­ons­trieb zu­sam­ men­wir­ken: Die ursprüng­lich gegen die Auto­ri­tät gerich­tete Aggres­ sion – weil diese näm­lich Trieb­ver­zicht for­derte – kann nicht befrie­digt wer­den. Das Kind hilft sich, »indem es diese unan­greif­bare Auto­ri­tät durch Iden­ti­fi­zie­rung in sich auf­nimmt, die nun das Über-Ich wird und in den Besitz all der Aggres­sion gerät, die man gern als Kind gegen sie aus­ge­übt hätte« (Freud 1930a, S. 489). Freud lässt zwar die nicht weiter dif­fe­ren­zierte und beschrie­bene Strenge der äuße­ren Auto­ri­tät gel­ten, das Aus­maß der Aggres­sion des Kin­des aber stammt aus ihm selbst, sei­nen ursprüng­li­chen trieb­haf­ten Aggres­sio­nen: »Die Bezie­hung zwi­schen Über-Ich und Ich ist die durch den Wunsch ent­stellte Wie­der­kehr rea­ler Bezie­hun­gen zwi­schen dem noch unge­teil­ten Ich und einem äuße­ren Objekt. Der wesent­li­che Unter­schied aber ist, daß die ursprüng­li­che

Strenge des Über-Ichs nicht – oder nicht zu sehr – die ist, die man von ihm erfah­ren hat oder die man ihm zumu­tet, son­dern die eigene Aggres­sion gegen ihn ver­tritt« (Freud 1930a, S. 489; Her­vor­he­bung von M. H.).

Dadurch kann es gesche­hen, dass das Über-Ich viel stren­ger und sadi­ sti­scher ist, als die Erzie­hung der rea­len Eltern ver­mu­ten lässt – Freud akzep­tiert eine Idee Melanie Kleins an die­ser Stelle (s. u.). Die »Strenge« der Eltern wird aber gar nicht weiter unter­sucht, und



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obwohl Freud hier von In-sich-Auf­neh­men der Auto­ri­tät durch Iden­ti­ fi­zie­rung spricht, »die nun das Über-Ich wird«, stammt das Aus­maß der Aggres­sion, das mit der auf­ge­nom­me­nen Auto­ri­tät ver­bun­den ist, vom Kind. Warum sollte es denn aber nicht vom Erwach­se­nen stam­men? Ein­leuch­tend wäre auch, wenn das Kind sich mit dem Aggres­sor, dem Erwach­se­nen, auf den es wütend ist, iden­ti­fi­zie­ren müsste, weil es des­ sen aggres­sive, ver­nich­tende Reak­tion auf seine Aggres­sion als Rache fürch­ten muss, viel­leicht aus längst gemach­ter ein­schlä­gi­ger trau­ma­ti­ scher Erfah­rung. Es sieht so aus, dass Ferenczi sozu­sa­gen genug hatte von der Nei­ gung der Psy­cho­ana­lyse, den Trieb­kräf­ten des Kin­des immer die Funk­ tion des Primum movens zu geben, und dass er zwei Jahre nach Ver­öf­ fent­li­chung von »Das Unbe­hagen in der Kul­tur« in sei­nem Wies­­ba­de­ner Vor­trag »Die Spra­che der Zärt­lich­keit und der Lei­den­schaft«, dem er zur Ver­öf­fent­li­chung den Titel »Sprach­ver­wir­rung zwi­schen den Er­wach­ se­nen und dem Kind« (Ferenczi 1933) gab, die Ver­hält­nisse zurecht­ rücken wollte, indem er als Urhe­ber von Sexua­li­tät und Aggres­sion in der Eltern-Kind-Bezie­hung aus­drück­lich den Erwach­se­nen benannte und deut­lich zeigte, dass das In-sich-Auf­neh­men der »äuße­ren Auto­ri­ tät« untrenn­bar mit der Introjektion von des­sen Aggres­sion ver­bun­den ist. Viel­leicht hat Ferenczi hier primärprozesshaft die Sprach­ver­wir­ rung zwi­schen Freud bzw. der Psy­cho­ana­lyse und ihm selbst aus­ge­ drückt, indem er die­sen Titel wählte. Im über­näch­sten Kapi­tel wird dar­über aus­führ­lich zu reden sein. Die Bemer­kung Melanie Kleins, das Über-Ich könne stren­ger sein als die Strenge der Eltern ver­mu­ten ließe, die Freud auf­griff, wirft ein Licht auf ihre Kon­zep­tion des Über-Ich: Es ist prak­tisch nur noch ein Aus­druck des Todestriebes; hier wird ver­all­ge­mei­nert, was Freud (1923b, S. 283) für die Melan­cho­lie annahm: »Wen­den wir uns zunächst zur Melan­cho­lie, so fin­den wir, daß das über­starke Über-Ich … gegen das Ich mit scho­nungs­lo­ser Hef­tig­keit wütet, als ob es sich des gan­zen im Indi­vi­duum ver­füg­ba­ren Sadis­mus bemäch­tigt hätte … Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Rein­kul­tur des Todestriebes, und wirk­lich gelingt es die­sem oft genug, das Ich in den Tod zu trei­ben, wenn das Ich sich nicht vor­her durch den Umschlag in Manie sei­nes Tyran­nen erwehrt.«

Melanie Klein nun ist in die­sem Punkt »päpst­li­cher als der Papst« in dem Sinne, dass sie die Triebe, beson­ders den Todes­trieb, stets an die erste Stelle setzt und die Ein­flüsse der sozia­len Umge­bung ver­nach­läs­ sigt. Da sie aber nicht nur frühe Schuld­ge­fühle annahm, son­dern auch eine Über-Ich-Bil­dung auf­grund eines »frü­hen Ödi­pus-Kom­ple­xes«, löste sie hef­tige Kon­tro­ver­sen aus. Mit Recht wurde ihr vor­ge­hal­ten,

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dass Schuld­ge­fühl noch keine innere Struk­tur dar­stellt (Modell 1965), wie es vom Über-Ich als Resul­tat eines auf­ge­ge­be­nen, »unter­ge­gan­ge­ nen« Ödi­pus-Kom­ple­xes defi­ni­tions­ge­mäß zu erwar­ten ist. Folgt man Melanie Klein, kommt das Böse pri­mär aus dem Kind, Über-Ich und Schuld­ge­fühl sind des­halb Abkömm­linge des Todestriebes. In sei­ ner letz­ten Arbeit kommt Ferenczi (1933) dage­gen immer mehr zu dem Schluss, dass das Böse von außen kommt – nicht umsonst spricht Ferenczi (1938, S. 294) von »Superego-Intropression (sei­tens der Erwach­se­nen)« – und die Psy­che des Kin­des damit fer­tig wer­den muss (indem es das auf­ge­zwun­gene Böse sei­ner­seits in sich auf­nimmt). Freud kann sich nicht ent­schei­den, inwie­weit die »Strenge des Über-Ich« der Aggres­sion der Eltern bzw. der Erwach­se­nen ent­spricht oder wie weit sie aus der trieb­haf­ten Kon­sti­tu­tion ent­springt. In »Das öko­no­mi­sche Pro­blem des Maso­chis­mus« (Freud 1924c, S. 380) ver­ tritt er wie­der eher einen Umweltstandpunkt: »Das Über-Ich behielt nun wesent­li­che Cha­rak­tere der introjizierten Per­so­nen bei, ihre Macht, Strenge, Nei­gung zur Beauf­sich­ti­gung und Bestra­fung.« Und in sei­nem letz­ten frag­men­ta­ri­schen Werk »Abriß der Psy­cho­ ana­lyse« (Freud 1940a, S. 137) schil­dert er deut­lich den Ein­fluss der sozia­len Umge­bung auf die Qua­li­tät des Über-Ich: »Es [das Über-Ich] ver­tritt für alle spä­te­ren Lebenszeiten den Ein­fluß der Kin­ der­zeit des Indi­vi­du­ums, Kindespflege, Erzie­hung und Abhän­gig­keit von den Eltern … Und damit kom­men nicht nur die per­sön­li­chen Eigen­schaf­ten die­ser Eltern zur Gel­tung, son­dern auch alles, was bestim­mend auf sie gewirkt hat, die Nei­gun­gen und Anfor­de­run­gen des sozia­len Zustan­des, in dem sie leben, die Anla­ gen und Tra­di­tio­nen der Rasse, aus der sie stam­men.«

Man kann aber wenig­stens sagen, dass das Über-Ich bei Freud eine Instanz dar­stellt, deren Auf­gabe es ist, Trieb­kräfte zu regu­lie­ren, auch eine Instanz, deren (aggres­sive, sadi­sti­sche) Kraft zum Teil von den Trie­ben selbst her­rührt, aber auch der Strenge der äuße­ren Objekte ent­ stammt. Sicher wer­den die Ein­flüsse der rea­len (elter­li­chen) Umge­ bung des Kin­des, die in die Über-Ich-Bil­dung ein­ge­hen, von den Äng­ sten, Bedürf­nis­sen und Phan­ta­sien des Kin­des beein­flusst, ver­zerrt und modi­fi­ziert. Das bedeu­tet mei­nes Erach­tens aber nicht, dass Freud die reale Umge­bung zu sehr berück­sich­tigt hat, wie Sandler und Sandler (1987, S. 146) anneh­men; eher im Gegen­teil. Freud beach­tet die rea­len Ein­flüsse nicht weiter, ver­steht sie offen­bar als durch­schnitt­lich gege­ben, wäh­rend Melanie Klein sie ganz ver­nach­läs­sigt und die inne­ren Phantasievorgänge bei der Bil­dung des Über-Ich in den Vor­ der­grund rückt. Woran Freud nicht denkt, sind sol­che Inhalte des Über-Ich, die nichts mit Triebwünschen, son­ dern mit Ich-Bestre­bun­gen zu tun



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haben. Denn es kann auch sein, kri­ti­sie­ren Weiss und Sampson (1986) Freud, dass andere als Triebäuße­run­gen des Kin­des von den Eltern kana­li­siert oder unter­bun­den wer­den, Bestre­bun­gen wie Auto­no­mie, Selbst­bewusst­sein, Für-sich-selbst-Sor­gen, also Ich-Bestre­bun­gen, die die Eltern nicht ertra­gen kön­nen und bekämp­fen müs­sen, wodurch sie Über-Ich-Inhalte set­zen. Auch die Liebe der Eltern erhal­ten zu wol­len, ist schließ­lich ein Ich-Wunsch, wie schon Freud (1940a) meinte (vgl. Weiss 1986a, S. 48). Diese Über­le­gun­gen füh­ren zur Auf­fas­sung von Trennungsschuldgefühl und Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät, die uns spä­ter beschäf­ti­gen wer­den.

»Frü­hes« Über-Ich »Nie­mand wird mehr abstrei­ten, daß die Über-Ich-Bil­dung lange vor dem Ende des Ödi­pus-Kom­ple­xes beginnt und kei­nes­wegs unbe­dingt mit die­sem zusam­men­hängt« (Sandler u. Sandler 1987, S. 145). Die Grund­la­gen für die Erkennt­nis der Ambi­va­lenz des frü­hen ora­ len Trie­bes hat Abraham (1924) gelegt, indem er auf das »sau­gende« orale Sta­dium das oral-sadi­sti­sche, kanni­balis­tische fol­gen ließ. Nicht der Ödi­pus-Kom­plex ist so der ein­zige und wohl nicht ein­mal der wich­ tig­ste Ort der Ambi­va­lenz und des aus ihr stam­men­den Schuld­ge­fühls, es ist die grund­le­gende Erfah­rung des not­wen­di­gen Has­ses gerade dem Objekt gegen­über, das lebens­not­wen­dig gebraucht und geliebt wird. »Auf der Stufe der bei­ßen­den Mundtätigkeit wird das Objekt ein­ver­leibt und erlei­ det dabei das Schick­sal der Ver­nich­tung … Damit beginnt die Ambi­va­lenz das Ver­hält­nis des Ich zum Objekt zu beherr­schen. Die sekun­däre, oral-sadi­sti­sche Stufe bedeu­tet also in der Libidoentwicklung des Kin­des den Anfang des Ambiva­ lenzkonfliktes, wäh­rend wir die pri­märe (Saug-)Stufe als vorambivalent bezeich­ nen müs­sen« (Abraham 1924, S. 141; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Auch hat Abraham den Grund­stein gelegt für den Gedan­ken, daß sich die Zuspit­zung hef­tig­ster Ambi­va­lenz im Laufe der Ent­wick­lung durch die Errei­chung grö­ße­rer Reife (»Nach-Ambi­va­lenz«) legt. Wie Abraham hat auch Melanie Klein den Ursprung der Ambi­va­lenz aus den wider­strei­ten­den Trie­ben gese­hen. Sie beruft sich auf den von Abraham (1924) ent­deck­ten frü­hen kanni­ba­listi­schen Trieb und die von die­sem bewirkte Angst, ein­her­ge­hend mit einem ersten Schuld­ ge­fühl (Klein 1948, S. 166). Man kann nicht über­se­hen, dass Melanie Klein die Keime ihrer fol­ge­rich­tig aus­ge­bau­ten früh­kind­lichen Phan­ta­sie­welt aus Abrahams, auch aus Freuds Werk ent­nom­men hat, dass sie in der Kon­se­quenz aber, sie als psy­chi­sche Rea­li­tä­ten zu

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neh­men und als feste Kon­stan­ten zu behan­deln, viel weiter gegan­gen ist als die Urhe­ber. Das Über-Ich-Kon­zept Melanie Kleins beruht auf einer Zwei­ tei­lung von einem »frü­hen«, archai­schen und einem rei­fen, spä­te­ren Über-Ich. Letz­te­res ent­spricht dem Kon­zept Freuds, erste­res baut auf der archai­schen Ambi­va­lenz auf, die Abraham zuerst beschrie­ben hat, und ist bei Melanie Klein gänz­lich vom Todes­trieb bestimmt.

»Beim Erwach­se­nen fin­den wir zwar ein Über-Ich vor, das sehr viel stren­ger ist, als es die Eltern in Wirk­lich­keit waren und das zum Teil gar nicht iden­tisch mit ihnen ist. [Das ist der Gedanke, den Freud (1930a) in »Das Unbe­hagen in der Kul­tur« auf­ge­nom­men hat.] Es kommt aber der Wirk­lich­keit doch mehr oder weni­ger nahe. Beim klei­nen Kind sto­ßen wir auf ein außer­or­dent­lich unglaub­li­ches und phan­ta­sti­ sches Über-Ich … Wir sehen als regel­mä­ßige Bestand­teile sei­nes Seelen­le­bens die Angst, ver­schlun­gen, geköpft oder in Stücke geschnit­ten zu wer­den; seine Furcht, von bedroh­li­chen Gestal­ten umge­ben zu sein oder ver­folgt zu wer­den« (Klein 1933, S. 90).

Hin­ter die­sen »ima­gi­nä­ren Figu­ren« ste­hen Melanie Klein zufolge »als reale Objekte die Eltern des Kin­des«, aber:

»1. Das Über-Ich des Kin­des stimmt nicht mit dem rea­len Bild der Eltern über­ein, son­dern wurde durch Phan­ta­sie­ge­bilde oder Imagines her­vor­ge­ru­fen, die es in sich auf­ge­nom­men hatte. »2. Seine Furcht vor rea­len Objek­ten – seine phobische Angst – basiert auf sei­ner Furcht sowohl vor sei­nem unrea­li­sti­schen Über-Ich als auch vor Objek­ten, die als sol­che real sind, die das Kind aber unter dem Ein­fluß sei­nes Über-Ich in einem phan­ta­sti­schen Licht sieht« (Klein 1933, S. 90).

Winnicott (1958, S. 22) nennt diese Über-Ich-Gebilde »subhuman und so primitiv, wie man es sich nur vorstellen kann«. Grunberger (1974, S. 512) findet für diese primitive Instanz den Begriff »Ober-Ich«: »Die Ober-Ich-Bildung erwächst also aus den eigenen archaischen aggressiv-destruktiven Triebimpulsen und Affektbewegungen« (Auchter 1996, S. 65). Im Grunde stehen sich zwei Konzepte gegenüber: Ist es die im Kinde entstandene triebhafte Aggression, die auf die (geliebten) Objekte projiziert werden muss, oder ist die Aggression zuerst außen, wird von den Objekten gegen das Kind gerichtet und von ihm introjiziert (Ferenczi 1933), später dann gegebenenfalls wieder nach außen projiziert. Das ganze Aus­maß des Todestriebes kann aber nicht externalisiert wer­den, ein Teil wird durch Spal­tung an das Über-Ich gehef­tet: »Mei­ner Mei­nung nach legt diese wohl frü­he­ste Abwehr­maß­nahme des Ich [die Spal­tung] den Grund­stein zur Ent­wick­lung des Über-Ich; die Tat­sa­che, daß das Über-Ich Abkömm­ ling sehr inten­ si­ ver Destruktionstriebe ist, wäre somit für seine über­mä­ßige Hef­tig­keit auf die­ser frü­hen Ent­wick­lungs­stufe ver­ant­wort­lich« (Klein 1933, S. 92).



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Das Über-Ich wird hier ganz wie ein äuße­res Objekt behan­delt; sicher sind es »Imagines«, für das Kind jedoch von ganz rea­li­sti­scher Qua­ li­tät. Aber hat nicht auch Freud von einer Instanz gespro­chen, die an die Stelle der äuße­ren Objekte tritt und sie wahr­lich eben­bür­tig ver­ tritt? Und ent­steht nicht auch die Feind­se­lig­keit des frü­hen Über-Ich, die durch die aggres­si­ven Triebe her­vor­ge­ru­fen wird, Freud zufolge aus einer Bei­mi­schung der Triebe des Kin­des, ist also nicht nur aus den Ein­wir­kun­gen der Eltern abzu­lei­ten? Viel­leicht hat Melanie Klein so hef­tige Ableh­nung Freuds (und Anna Freuds) erfah­ren (vgl. Grosskurth 1986), weil sie Freud zu konkretistisch, den Todes­ trieb zu wört­lich genom­men und seine das Kind und seine Bezie­hun­ gen bestim­mende Kraft als den Motor der psy­chi­schen Phä­no­mene und der Patho­lo­gie auf­ge­fasst hat. Man könnte sagen, sie musste zur Dissidentin wer­den, weil sie Freuds eigene Zwei­fel an sei­nem Todestriebkonzept, das er selbst spe­ku­la­tiv nannte, nicht mitvollzog. Das »über­mä­ßige« Aner­ken­nen des Todestriebkonzepts konnte aber schlecht her­hal­ten, sie zu kri­ti­sie­ren, und so blieb der Zeit­punkt als Grund für die Zurück­wei­sung: Das Über-Ich als Abkömm­ling des Ödi­pus-Kom­ple­xes könne nur nach des­sen Bewäl­ti­gung (»Unter­ gang«) etwa im fünf­ten Lebens­jahr ent­ste­hen, und Melanie Kleins Annahme, beide ent­stün­den sehr früh, konnte nicht akzep­tiert wer­den.

»Rei­fes« Über-Ich Der wei­tere Ver­lauf der Über-Ich-Ent­wick­lung erstreckt sich über die Kleinkindzeit und mün­det in das reife und »milde« Über-Ich bzw. nun Gewis­sen, das auch Freuds Vor­stel­lun­gen ent­spricht. Die Ver­än­de­ rung wird durch das Nach­las­sen des Sadis­mus und das Stär­ker-Wer­den der geni­ta­len Kräfte, also durch die spon­tane Trieb­ent­wick­lung des Kin­des, nicht durch Umwelt­ein­flüsse bewirkt. »Das Über-Ich – das bis­her eine bedro­hende, tyran­ni­sche Macht war … – übt jetzt einen mil­de­ren und über­zeu­gen­de­ren Ein­fluß auf das Ich aus und stellt nun For­de­ run­gen, die erfüll­bar sind. Mit ande­ren Wor­ten, das Über-Ich wird nun im wahr­sten Sinne des Wor­tes in das Gewis­sen umge­wan­delt« (Klein 1933, S. 93).

Die Vor­stel­lung zweier so unter­schied­li­cher Über-Ich-Qua­li­tä­ten klingt in den spä­ten Kon­zep­tio­nen der Exi­stenz meh­re­rer Über-Ich-Anteile wie­der an, gespal­te­ner Über-Ich-Teile (Loewald 1979; Wurmser 1987; 1990), die jedoch heute nicht der­art triebbestimmt, son­dern

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als introjektartige Nie­der­schläge ver­schie­de­ner, oft wider­sprüch­li­cher Objekterfahrungen bzw. -for­de­run­gen auf­ge­fasst wer­den (vgl. Hirsch 1995a; s. a. das über­näch­ste Kapi­tel: Introjektion). Ein Über-Ich-Anteil könnte zum Bei­spiel Höchst­lei­stun­gen for­dern, ein ande­rer dage­gen Erfolg ver­hin­dern, wie es bei allen Arbeitsstörungen der Fall ist. Ein freund­li­ches Über-Ich könnte die von einem feind­se­lig-archai­schen Über-Ich-Anteil her­vor­ge­ru­fe­nen schwe­ ren Schuld­ge­fühle mil­dern (Modell 1971, S. 344). Modell (1965, S.  327) per­so­ni­fi­ziert die ver­schie­de­nen Identifikationsqualitäten: Frühe Iden­ti­fi­ka­tio­nen mit der »Mut­ter« kön­nen durch spä­tere Bezie­ hun­gen (zum »Vater«) gemil­dert wer­den und zu einem mehr funk­tio­ na­len und struk­tu­rier­ten Über-Ich füh­ren. Ich denke, man sollte eine sol­che Sicht heute nur noch gel­ten las­sen, wenn man »Mut­ter« und »Vater« als Meta­phern für ver­schie­dene Beziehungsqualitäten, die ver­ schie­de­nen Ent­wick­lungs­pha­sen zuge­rech­net wer­den, ver­steht, nicht aber als Aus­druck der Bezie­hun­gen zur rea­len Mut­ter bzw. zum Vater. Die Auf­tei­lung in ein frü­hes archai­sches und ein spä­tes rei­fes Über-Ich wurde auch noch spä­ter ver­wen­det, zum Bei­spiel von Modell (1965, S. 328), der von pri­mä­rem und sekun­dä­rem Über-Ich spricht; Sandler und Sandler (1987) ord­nen das frühe, pri­mi­tive Über-Ich dem von ihnen vor­ge­schla­ge­nen »Vergangenheitsunbewußten« zu (S. 151), das spä­tere Über-Ich, ein »Erbe« des frü­he­ren, eine »zweite Zen­sur«, dem »Gegenwartsunbewußten« (S. 153). Heute kann man immer noch aner­ken­nen, dass die frü­hen Impulse des Säug­lings (»Sadis­mus«) zwar exi­stie­ren, aber nie ohne emo­tio­nale, oft ver­bor­gene oder unbe­wusste Reak­tio­nen der Eltern bzw. umge­ben­ den Fami­lien­gruppe denk­bar sind. »Es gibt keine para­noid-schi­zoide Posi­tion ohne reale Elternpersonen« (Beland 1996)6. Und auch die Ein­stel­lun­gen und resul­tie­ren­den Ver­hal­tens­wei­sen der Eltern wer­den immer das Erle­ben und Ver­hal­ten schon in der aller­frü­he­sten Kind­ heit beein­flus­sen (vgl. Lichtenberg et al. 1992). Aller­dings kann man sich gut vor­stel­len, dass die Qua­li­tät der Über-Ich-Introjekte ver­schie­ den archa­isch oder feind­se­lig ist, dass sie auch (aber kei­nes­wegs nur) von der Qua­li­tät und Quan­ti­tät der aus dem Kind stam­men­den Triebe beein­flusst wer­den und dass ihre Assi­mi­la­tion durch Iden­ti­fi­ka­tion um so eher mög­lich ist, je weni­ger destruk­tive Anteile sie ent­hal­ten und je mehr realitätsgerecht ihre Inhalte sind (siehe auch das fol­gende Kapi­ tel). 6 Diskussionsbemerkung auf der Tagung der Mit­tel­eu­ro­päi­schen Psy­cho­ana­ly­ti­schen Ver­ ei­ni­gun­gen, Wei­mar, 1996.



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Es gibt noch eine andere histo­ri­sche Linie der Auf­fas­sun­gen der Über-Ich-Bil­dung, in denen der Motor, die primäre Initia­tive nicht im Trieb des Kin­des, son­dern in einem Ein­wir­ken sei­ner Umge­bung gese­ hen wird. Rank beschreibt einen Vor­läu­fer des Über-Ich, eine »IchHem­mung«, die der Wie­der­her­stel­lung der Ein­heit mit der Mut­ter dient.

»Die­ses von der Mut­ter aus­ge­lö­ste Über-Ich ist keine ›Identifikationsleistung‹ des Kin­des, son­dern es ist im Gegen­teil ›Objektanerkennung‹: Die Mut­ter, die sich ver­sagt, benimmt sich eben wie die übrige (sich zunächst) ver­sa­gende Außen­welt. Zugleich dient diese Objekt-Aner­ken­nung und die in ihrem Gefolge ein­set­zende Ich-Hem­mung als eine Form der Wie­der­her­stel­lung der Ein­heit mit der Mut­ter – aller­dings inner­halb des eige­nen Ich, denn die­ses Ich (und nicht die Mut­ter) wird in die­sem Verschiebungsprozeß zum Objekt der Hem­mung … Ranks Ich-Psy­cho­lo­ gie zeigt also auf dem gene­ti­schen Weg, daß das Schuld­ge­fühl (als Angst vor dem eige­nen Ich) nicht aus der Ödipussituation stammt, son­dern sei­nen Ursprung in der müt­ter­li­chen Ver­sa­gung hat« (Zottl 1982, S. 85 f.).

Ein ande­rer Ver­tre­ter einer umweltbestimmten Über-Ich- bzw. Introjektbildung ist Ferenczi, der beson­ders gegen Ende sei­nes Lebens die Wir­kun­gen, das heißt die Internalisierungsvorgänge rea­ler Trau­mata und ihre Fol­gen erforscht hat. Dar­über wer­den wir im über­näch­sten Abschnitt aus­führ­lich berich­ten. Winnicott (1958) schließ­lich weist auf die not­wen­dige Vor­aus­set­zung einer aus­rei­chend guten frü­hen Umge­bung des Kin­des für die Fähig­keit hin, über­haupt Schuld­ge­fühl emp­fin­den und damit ein rei­fes Über-Ich bil­den zu kön­nen. Zusammenfassend möchte ich den Phasenablauf der Über-Ich-Bildung so formulieren: Arglos folgt das Kleinkind einem Impuls (der kleine Junge aus der Wiener Großbürgerschicht am Anfang des 20. Jahrhunderts möchte zum Beispiel aus dem Marmeladentopf naschen) und ist mit dem verbietenden Vater konfrontiert. Die Gewissensin­ stanz ist noch ganz außen (der kleine Junge wird wieder naschen, wenn der Vater abwesend ist). In einer zweiten Stufe introjiziert das Kind das Verbot des Vaters, es ist in seiner Psyche wie ein Fremdkörper (Über-Ich-Introjekt), dem das Kind gehorcht, um die Liebe des Vaters nicht zu verlieren, wenn er auch selbst das Verbot nicht akzeptieren kann. In einer dritten Stufe identifiziert sich das Kind mit dem Vater und seinem Verbot, macht es sich zu eigen, es hat ein »reifes« Über-Ich gebildet (vgl. auch Sandler 1960). Der destruktive, lebensfeindliche Charakter eines »archaischen« Über-Ich, das schwere Schuldgefühle verursacht, musste von Melanie Klein und ihren Nachfolgern (auch Freud) mit der Todestrieb-Aggression des Kindes begründet werden, weil eine Vorstellung von traumatisierenden Schädigungen des sich entwickelnden Kindes vonseiten der Erwachsenen nicht möglich war. Gravierende, pathologische Schuldgefühle unserer Patienten führen wir heute nicht auf eine Trieb-

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pathologie zurück, sondern nehmen eher massive destruktive Einflüsse (Traumatisierung) in lebensnotwendigen Beziehungen auf das Kind an. Wie unterscheidet sich nun ein Schuldgefühl, das die »Grundlage der Kultur« (Freud 1930a) dadurch ist, dass es in notwendiger Weise das soziale Zusammenleben reguliert und konstruktiv das Verhalten des Individuums bestimmt, von einem destruktiven Über-Ich, das lebensbehindernde Schuldgefühle verursacht, verbunden mit Symptomen wie Depression bis hin zur Suizidalität? Ich denke, das wünschenswert regulierende Über-Ich hat mehr einen warnenden, voraussehenden Charakter, etwa wie ein freundlicher Begleiter, der zu bedenken gibt, dass das eine oder andere Verhalten eher schädlich sein wird, man es also vermeiden sollte, während es in anderen Bereichen ermuntert und bestätigt. »Schuldempfindungen haben hier ähnlich wie die sogenannte ›Signalangst‹ eine Signalfunktion, wenn durch das Übertreten von Normen die Bindung an bedeutsame andere gefährdet ist« (Auchter 1996, S. 85). Das feindliche Über-Ich dagegen arbeitet mit Vorwürfen und entwertet pauschal das Ich (»Selbstwerterniedrigung«).

Abwehr von Schuldgefühl Schuld­ge­fühl als unan­ge­neh­mer, auch zer­stö­re­risch-läh­men­der Affekt beein­träch­tigt Selbst­ge­fühl und Ich-Funk­tio­nen, und so ist es unter Um­stän­den not­wen­dig, ihn abzu­weh­ren, wenn er über­hand­zu­neh­men droht. Die Metho­den der Abwehr sind ähn­lich denen, die ein zu gro­ ßes Schuld­be­wusst­sein (wel­ches reale Schuld betrifft) begren­zen (vgl. Teil I, S. 56 f.).

Regres­sion Schuld­ge­fühl emp­fin­den zu kön­nen bedarf der Errei­chung der depres­ si­ven Posi­tion; sind die Schuld­ge­fühle zu stark, kann ihr Ursprung (das Über-Ich) durch Regres­sion auf die para­noid-schi­zoide Stufe ent­spre­ chend der Kleinianischen Sicht­weise auf­ge­ho­ben wer­den. Dadurch wird man aber zum Ver­folg­ten, zum Opfer feind­li­cher Aggres­sion, deren Urhe­ber nach außen pro­ji­ziert ist, wäh­rend man selbst in einer Art Sus­pen­die­rung des Über-Ich »unschul­dig« davon­kommt. Auf die Mög­lich­keit der regres­si­ven Umwand­lung von zu star­ken Schuld­ge­ füh­len in Verfolgungsangst (Ver­fol­gung durch das nun zu böse erlebte



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Objekt) hat schon Melanie Klein (1948, S. 180) hin­ge­wie­sen, wenn auch Angst und Schuld­ge­fühl meist ver­mischt auf­tre­ten. Ähn­lich kommt es bei Opfern schwer­ster Trau­mata wie KZ-Haft und Fol­ter vor, wie Krystal (1968, S. 17) berich­tet, dass das schwere Schuld­ge­ fühl der Über­le­ben­den, das trotz aller Ver­drän­gungs- und Ratio­na­li­sie­ rungs­ver­su­che schwere Depres­sion, »inner misery« und Schmerz ver­ ur­sacht, umschla­gen kann (wenn es uner­träg­lich wird) in ein Gefühl, ver­folgt, ange­grif­fen und gehasst zu wer­den. Dabei kann durch­aus ein Selbstbehauptungsmoment erhal­ten blei­ben, da man sich gegen die äußere Ver­fol­gung, die man als Unrecht emp­fin­det, bes­ser weh­ren kann und so eine Mög­lich­keit hat, eine Ich-Über­wäl­ti­gung zu ver­hin­ dern, da ein äuße­rer Feind leich­ter als beherrsch­bar erlebt wird als ein über­mäch­ti­ger inne­rer, ein feind­li­ches Über-Ich.

Iden­ti­fi­ka­tion Ein sehr häu­fi­ges Mit­tel, Schuld­ge­fühle zu min­dern, ist die Iden­ti­fi­ ka­tion mit dem Vor­wurf des Über-Ich, das man durch ver­schie­den­ ste Metho­den, Bestra­fung zu erlan­gen, besänf­ti­gen möchte. Schon die Pro­jek­tion der »Schuld« ent­hält die Iden­ti­fi­ka­tion mit den Vor­stel­lun­ gen des Über-Ich (Sandler u. Sandler 1987, S. 160), nur dass man meint, noch ein­mal davonge­kom­men zu sein, indem man Schuld und Bestra­fung auf den ande­ren lenkt. Nun aber ist es das Sub­jekt selbst, das Strafe auf sich neh­men möchte, um die Last des Schuld­ge­fühls zu ver­min­dern. Krystal (1968, S. 17) beschreibt für schwere Trau­ma­ti­ sie­rung durch KZ-Haft eine Abwehr, die in einer abso­lu­ten identifikatorischen Unter­wer­fung unter die Ver­fol­gung besteht, als »request to be killed or bit­ten to death«, da innere Ver­fol­gung und das von die­ser ersetzte Schuld­ge­fühl anders nicht zu ertra­gen sind. Wir wer­den spä­ ter (Teil II, S. 106 und S. 107 f.) auf die Bedeu­tung der Iden­ti­fi­ka­tion zurück­kom­men.

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»Ver­bre­chen aus Schuld­ge­fühl« Es war Freuds (1916d, S. 390) Idee, dass Ver­bre­chen, also rea­les Schuldigwerden, von (unbe­wusstem) Schuld­ge­fühl her­vor­ge­ru­fen wer­ den könne. »So para­dox es klin­gen mag, ich muß behaup­ten, daß das Schuld­be­wußt­sein frü­her da war als das Ver­ge­hen, daß es nicht aus die­sem her­vor­ging, son­dern umge­kehrt, das Ver­ge­hen aus dem Schuld­be­wußt­sein. Diese Per­so­nen durfte man mit gutem Recht als Ver­bre­cher aus Schuld­be­wußt­sein bezeich­nen.«

(Wie bereits dis­ku­tiert, ver­wen­det Freud meist »Schuld­be­wußt­sein« in dem Sinne, wie in die­sem Buch stets »Schuld­ge­fühl« ver­wen­det wird.) Das Ver­bre­chen und seine Bestra­fung mil­dern das Schuld­ge­fühl, das aus ganz ande­ren Quel­len stammt (bei Freud als Quelle stets der Ödi­pus-Kom­plex, aber auch bei Alexander und Staub [1929] und sogar noch bei Winnicott [1958]). Wie sehr (irra­tio­nale) Affekte das Indi­vi­duum beein­träch­ti­gen kön­nen, sodass ihre Bekämp­fung durch eine reale Straf­tat vor­ge­zo­gen wird, sieht man an der Mög­lich­keit des Ver­bre­chens aus Scham; Hilgers (1995) merkt an, dass es unter Um­stän­den leich­ter ist, ein Täter zu sein, als weiter ein Opfer eige­ner Scham­ge­fühle. Ähn­lich kann auch eine kör­per­li­che Erkran­kung zur Schuldentlastung die­nen, sogar noch bes­ser, denn der Kranke fühlt sich nicht ein­mal als Täter, son­dern als Opfer, durch die Krank­heit genug be­straft. Beson­ders Simmel (1932) hat durch direk­tes Frei­spre­chen von Schuld(gefühl) Symptomverbesserungen erzielt. Ein Ver­bre­chen zu bege­hen bedeu­tet in einer sol­chen Kon­stel­la­tion auch eine Exter­nali­sierung des Über-Ich, wenn auch der unbe­wusste Grund des Strafbedürfnisses ver­scho­ben, das heißt, das eigent­li­che »Ver­bre­chen« ist ein ande­res als das bewusst unter­nom­mene. Die Bestra­fung muss auch oft gera­dezu pro­vo­ziert wer­den, da das Ver­ ge­hen wenig Auf­merk­sam­keit erhält (Fenichel 1945, Bd. I, S. 237; Sandler u. Sandler 1987, S. 160); ist das Ver­ge­hen zu gering­fü­ gig, muss ein zwei­tes, grö­ße­res gesche­hen, damit end­lich die ersehnte und ent­la­stende Bestra­fung ein­tritt wie in dem schö­nen Bei­spiel von Alexander und Staub (1929):

Die Auto­ren berich­ten über einen Delin­quen­ten, der wegen klei­ne­rer Dieb­stähle zu Gefäng­nis ver­ur­teilt wor­den war. Er hatte mit einem gefälsch­ten Diplom erfolg­ reich, aner­kannt und beliebt jah­re­lang als Chir­urg gear­bei­tet. Er fiel auf, als er medi­zi­ni­sche Bücher in einer Buch­hand­lung gestoh­len und sie sofort einer ande­ren Buch­hand­lung zum Kauf ange­bo­ten hatte, wobei er nichts tat, um seine Iden­ti­ tät zu ver­ber­gen. Da das Ver­ge­hen für eine Bestra­fung nicht aus­reichte, wie­der­ holte er es in einer ande­ren Stadt; als man ihn auch da nicht recht ernst nahm, gestand er meh­rere wei­tere kleine Dieb­stähle, sodass er, auch wegen des gefälsch­



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ten Diploms, ins Gefäng­nis gebracht wurde, wo er sich »wohl und erleich­tert« fühlte. – Erst­ma­lig straf­fäl­lig war er als Jugend­li­cher gewor­den, nach­dem ihn seine Mut­ter in schwan­ge­rem Zustand in sei­ner Kadet­ten­an­stalt besucht hatte, was ihm unge­heuer pein­lich war, denn er fühlte sich »schul­dig für die Schwan­ger­schaft sei­ner Mut­ter, da er sich ja in sei­ner unbe­wuß­ten Phan­ta­sie für deren Urhe­ber« (Alexander u. Staub 1929, S. 328) hielt. Er floh aus der Anstalt, indem er den Grund dafür selbst her­stellte: den Dieb­stahl einer Menge von Süßig­kei­ten (die ihm der strenge Vater immer vor­ent­hal­ten hatte). Die wei­tere Unter­suchung erhellte die pro­ble­ma­ti­sche Bezie­hung des Delin­quen­ten zum Medizinberuf: Ein Haus­arzt hatte wegen sei­ner angeb­lich schwa­chen Kon­sti­tu­tion von einem Medi­zin­stu­dium abge­ra­ten; der­selbe Arzt hatte aber stets »freien Zutritt in das Schlaf­zim­mer der dau­ernd kran­ken Mut­ter« (S. 329), sodass es zu einer »Gleich­set­zung des Arzt­be­ ru­fes mit der Befrie­di­gung der kind­li­chen Inzestwünsche« (S. 330) kam.

Man kann deut­lich sehen, dass der Pati­ent sein Schuld­ge­fühl »wenig­ stens irgend­wie unter­ge­bracht« (Freud 1916d, S. 390) haben wollte. Winnicott (1958, S. 33) sieht es als »unbe­wuß­ten Ver­such …, einem Schuld­ge­fühl Sinn zu geben … Der anti­so­ziale Mensch schafft sich Erleich­te­rung, indem er sich ein begrenz­tes Ver­ge­hen aus­denkt, das nur auf ver­bor­gene Weise dem Ver­ge­hen in der ver­dräng­ten Phan­ta­ sie gleicht, das zum ursprüng­li­chen Ödi­pus-Kom­plex gehört.« Heute wür­den wir auch den Kommunikationsaspekt sehen: Wenn ein Kind stiehlt, hat es sicher mehr­fa­che Gründe, die ihm völ­lig unbe­wusst blei­ ben kön­nen: Es beschafft sich sym­bo­lisch die Liebe, deren Feh­len seine orale Bedürf­tig­keit hat so anwach­sen las­sen (er kauft sich Süßig­kei­ten, die an sich bereits ein Sur­ro­gat der Mut­ter­liebe sind, und ver­schenkt sie oben­drein, um wenig­stens so eine Aner­ken­nung zu bekom­men), sicher wird er ein dump­fes Schuld­ge­fühl besänf­ti­gen wol­len, aber das braucht ja kei­nes­wegs ödi­pal, es kann ja gera­dezu kanni­ba­listi­schen Ursprungs sein, denn ein Man­gel macht stets Wut; aber nicht zuletzt wird es sich bei einem sol­chen Agie­ren doch auch um einen Hil­fe­ruf han­deln, der sich an die Erwach­se­nen rich­tet, damit end­lich an sei­ner emo­tio­na­len Not etwas geän­dert wird. Denn es ist die Frage, ob es nun wirk­lich Strafe ist, die so ersehnt wird, ob Maso­chis­mus nicht das Seh­nen nach und das Wie­der­her­stel­ len einer Liebe ist, die man ursprüng­lich nur in Ver­bin­dung mit Hass und Zurück­wei­sung durch das Objekt erfah­ren hat (Berliner 1947). Ein sol­ches Objekt wird durch Introjektion zu einem Über-Ich, das die ursprüng­lich reale sadi­sti­sche Situa­tion auf­recht­er­hält. In einer ver­ges­se­nen Arbeit mit dem Titel »Das Pro­blem der Melan­cho­lie« hat Radó (1927, S. 442) das ver­lo­rene Objekt (ent­spre­chend Freud 1917e, »Trauer und Melan­cho­lie«) mit dem Über-Ich in Zusam­men­ hang ge­bracht und die melan­cho­li­schen Selbst­an­kla­gen als Unter­wer­ fung unter seine For­de­run­gen ver­stan­den: »Es ist, als ob das melan­cho­

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li­sche Ich zu sei­nem Über-Ich sagen würde: Ich nehme alle Schuld auf mich, unter­werfe mich jeder Strafe, … wenn du dich nur wie­der mei­ner annimmst und lieb zu mir bist.« Radó, der »die Melan­cho­lie als einen gro­ßen Ver­zweif­lungs­schrei nach Liebe« (S. 442) bezeich­net, ver­bin­det fol­ge­rich­tig Schuld­über­ nahme und Selbst­be­stra­fung: »Es (das Kind) beginnt in sei­nem Innern unbe­wußt die elter­li­chen Stra­fen zu repro­du­zie­ren, in der unbe­wuß­ten Hoff­nung auf Liebe« (S. 443; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Bemer­kens­wert, daß Radó von rea­len elter­li­chen Stra­fen spricht und nicht dem Trieb oder dem Ödi­pus-Kom­plex des Kin­des die Initia­tive gibt; aller­dings sieht er dann doch wie­der die Ambi­va­lenz des Kin­des als Ursa­che eines der­art for­dern­den Über-Ich als Eltern-Introjekt, denn mit sei­ner Ag­gres­si­vi­tät habe das Kind den Objektverlust »selbst ver­schul­det« (S. 447). Die Zeit war 1927 eben noch nicht soweit, den Umwelt­ein­ fluss als pri­mär anzu­sehen, es sind auch eher die Nuan­cen, die den Unter­schied zwi­schen Trieb- und Umweltursache der Schuld­ge­fühlsund Neurosenfrage aus­ma­chen; die Schwie­rig­keit der dia­lek­ti­schen Zusam­men­schau bei­der Kom­po­nen­ten scheint – auch heute noch – doch recht groß zu sein. Der­selbe Mecha­nis­mus der Selbst­be­stra­fung aus Schuld­ge­fühl fin­ det sich häu­fig bei depres­si­ven Pati­en­ten, die irrationalerweise, das heißt zunächst nicht ein­seh­bar anneh­men, sie hät­ten Schuld auf sich gela­den, ohne dass sie in der Rea­li­tät wirk­lich gehan­delt hät­ten. Eine Pati­en­tin, Beate S., die immer nur als »zwei­ter Mann«, näm­lich als Assi­sten­ tin eines (männ­li­chen) Chefs Erfolg – und unter die­sen Umstän­den beträcht­lichen Erfolg – haben konnte, war bei einer Agen­tur beschäf­tigt, die den über­re­gio­na­len Wahl­kampf einer gro­ßen Par­tei orga­ni­sierte und gestal­tete. Ihre Ver­ant­wor­tung reichte immer­hin so weit, dass sie Mit­ar­bei­ter ein­stellte, Auf­träge ver­gab, Gel­der ver­wal­tete und in gewis­sen Gren­zen zeich­nungs­be­rech­tigt war. Am Wahl­sonn­tag wurde sie von Panik ergrif­fen, weil sie fest über­zeugt war, per­sön­lich und allein die Haupt­schuld an dem beträcht­lichen Stimmenverlust der betref­fen­den Par­tei zu tra­ gen! In der ana­ly­ti­schen Bear­bei­tung konnte hin­ter die­sem hef­ti­gen Schuld­ge­fühl die gran­diose Phan­ta­sie ent­deckt wer­den, eine der­ar­tige Macht zu haben, dass sie die poli­ti­schen Geschicke Euro­pas (es han­delte sich um eine Euro­pa­wahl) ent­schei­ dend len­ken konnte. – Bald dar­auf ent­wickelte sie ähn­liche Äng­ste, nach­dem ihr Freund sich für viel Geld in ihrer Gegen­wart ein gebrauch­tes Auto gekauft hatte. Nach kur­zer Zeit war an dem Wagen ein Defekt auf­ge­tre­ten, und die Pati­en­tin machte sich schwere Vor­würfe, dass sie dem Part­ner nicht vom Kauf abge­ra­ten hatte, denn sie hatte nicht dar­auf bestan­den, dass der Ver­käu­fer eine kleine Unre­ gel­mä­ßig­keit des Fahr­zeugs, die ihr auf­ge­fal­len war und die sie mit dem Scha­ den in Ver­bin­dung brachte, aus­rei­chend erklärt hatte; so gab sie sich die Schuld, daß der Freund ein defek­tes Auto gekauft hatte. Dabei hatte sie kein beson­de­res tech­ni­sches Ver­ständ­nis, nicht ein­mal einen Füh­rer­schein, wäh­rend der Part­ner in tech­ni­schen Din­gen recht ver­siert war. Das zugrun­de ­lie­gende unbe­wusste wahre Schuld­ge­fühl konnte als eines wegen ihrer Aggres­sion auf die mäch­ti­gen Män­



Abwehr von Schuldgefühl

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ner erkannt wer­den, denen sie ihre Fähig­kei­ten zur Ver­fü­gung stellte. Wegen des Schuld­ge­fühls meinte sie, stets zurück­tre­ten zu müs­sen. Einer­seits wurde durch die Schuld­über­nahme die Aggres­sion, die den Män­nern galt, gegen das eigene Selbst gelenkt, ande­rer­seits aber machte sie sich in maso­chi­sti­scher Grandiosität dadurch, dass sie sich ein Ver­sa­gen vor­warf, in der Phan­ta­sie zur Mäch­ti­gen, die die Män­ner, die an der Spitze der Macht stan­den, ver­nich­ten könnte. Die Pati­en­tin hat zwar in ähn­li­cher Unter­wer­fung wie beim »Ver­bre­

chen aus Schuld­ge­fühl« und bei der Melan­cho­lie eine »Schuld« auf sich genom­men, um ein unbe­stimm­tes Schuld­ge­fühl zu ver­mei­den, aber man hat den Ein­druck, als habe sie einen gro­ßen Gewinn, als sei eigent­lich sie die Mäch­tige ange­sichts ihres Gegen­übers, sei es nun die mäch­tige Par­tei­or­ga­ni­sa­tion oder der (männ­li­che) Part­ner. Es ist das, was man im Zusam­ men­ hang mit Selbstbeschädigungsagieren (und das ist immer auch ein Selbstbestrafungsagieren, eine Wen­dung von Ag­gres­sion gegen das eigene Selbst) »maso­chi­sti­schen Triumph« nennt (Kernberg 1975; vgl. Hirsch 1996). Die­ser Triumph soll das gehasste und benö­tigte Objekt tref­fen, ähn­lich wie die Haut-Pati­en­ten Schurs, die sich selbstdestruktiv die Haut krat­zen und damit nicht nur Aggres­sion gegen sich rich­ten, son­dern auch gegen den Arzt (in der Über­tra­gung) und gegen die Mut­ter(-reprä­sen­tanz):

»Auf der einen Ebene mag das Krat­zen Aus­druck von Selbstbestrafungstendenzen sein, aber gleich­zei­tig bedeu­tet es auf einer tie­fe­ren Ebene auch die Bestra­fung eines äuße­ren Objekts, gewöhn­lich der Mut­ter. Einer mei­ner Pati­en­ten ver­wandte den größ­ten Teil einer Sit­zung dar­auf, daß er sich über einen Arzt beschwerte, der ein paar Allergietests an ihm vor­ge­nom­men hatte; er schloß mit den Wor­ten: ›Und natür­lich habe ich mich wie­der die ganze Nacht gekratzt!‹ Auf die Frage, warum er das getan habe, kam die Ant­wort: ›Ich mußte ihm doch zei­gen, was er mir ange­tan hatte‹« (Schur 1955, S. 106).

Freuds Idee des »Ver­bre­chens aus Schuld­ge­fühl« ist ganz aus dem psy­cho­ana­ly­ti­schen Ver­ständ­nis des Ödi­pus-Kom­ple­xes als Kern der Neu­rose her­aus ent­stan­den, noch bevor eine erste Kon­zep­tion der Ver­ in­ner­li­chung von Objek­ten (Freud 1917e, »Trauer und Melan­cho­lie«) und anschlie­ßend eine des Über-Ich (Freud 1923b, »Das Ich und das Es«) vor­lag. Heute den­ken wir eher in Objektbeziehungsqualitäten, und das Über-Ich ist auch Freud zufolge ein Ergeb­nis der Internalisierung von Objektanteilen. Aber auch da schei­den sich wie­der die Gei­ster: Wie erhält eine Objekt­re­prä­sen­tanz seine Qua­li­tät, etwa durch die Triebe des Kin­des? Oder die tat­säch­li­chen Eigen­schaf­ten der rea­ len äuße­ren Objekte? Oder viel­mehr von bei­den Sei­ten? Radó kommt dem Doppelcharakter ziem­lich nahe, Ferenczi steht ganz auf der Seite des »unschul­di­gen« Kin­des (siehe den näch­sten Abschnitt), Winnicott wirkt erstaun­lich kon­ser­va­tiv, wenn er noch den Ödi­pus-Kom­

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plex ins Zen­trum der Schuldgefühlsbildung stellt. Inzwi­schen den­ken wir ange­sichts des rea­len Ausagierens von »Ver­bre­chen« und ande­ren autoaggressiven Akti­vi­tä­ten (wie Selbstbeschädigungsagieren, arti­fi­zi­ elle Krank­heit, Unfallpersönlichkeit, Essstö­run­gen, Sucht) an die Wir­ kung trau­ma­ti­scher Intro­jekte. Diese bewir­ken schwere Schuld­ge­fühle, wie wir im näch­sten Kapi­tel sehen wer­den. Im Wie­der­ho­lungs­zwang erzeu­gen sie mit mäch­ti­gem Externalisierungsdruck die vom Pati­en­ ten agie­rend her­ge­stell­ten »Ver­bre­chen«, die der ursprüng­lich erlit­te­ nen Traumatisierung ent­spre­chen, immer wie­der neu. Damit wird das Schuld­ge­fühl gemin­dert – nicht zuletzt durch den Selbstbestrafungscharakter –, aber auch gleich­zei­tig die ver­bor­gene Traumatisierung mit­ge­teilt.

Introjektion Die Über-Ich-Bil­dung ist ein Modell für den Vor­gang der Auf­nahme äuße­rer Vor­gänge durch Introjektion nach innen sowie der anschlie­ßen­ den Assi­mi­la­tion, der »Ver­dau­ung« des Auf­ge­nom­me­nen und dadurch auch der Ver­än­de­rung des Selbst, durch Iden­ti­fi­ka­tion. Dabei gilt, dass sich die Assi­mi­la­tion um so schlech­ter gestal­tet, je frem­der, feind­li­cher und archai­scher das Auf­ge­nom­mene, und um so bes­ser, je reali­täts- und Ich- bzw. kindgerechter es ist. Melanie Klein fol­gend wären Intro­ jekte unassimilierte innere Objekte, deren archa­isch feind­li­che Qua­ li­tät und die Unmög­lich­keit, sie zu inte­grie­ren, zu assi­mi­lie­ren, aus der über­mä­ßi­gen Stärke des Todestriebs her­rührt. Ferenczi dage­gen stellt sich die trau­ma­ti­sche Erfah­rung, in der das Ich über­wäl­tigt wird, mit den rea­len äuße­ren Objek­ten als Grund für die feh­lende Assi­mi­la­ tion vor, weder Assimilation durch Identifikation noch Trennung und Trauerarbeit sind möglich, wes­halb Spal­tung, Dis­so­zia­tion not­wen­dig wird. Jede trau­ma­ti­sche Erfah­rung kann zu intrapsychischen Objekt­ re­prä­sen­tan­zen, den Introjekten füh­ren, ent­stan­den aus äuße­rer Erfah­ rung und modi­fi­zie­ren­der Phan­ta­sie­tä­tig­keit (Winnicott 1958, S. 22; Sandler u. Sandler 1987, S. 146), die fremdkörperartig Erle­ben und Ver­hal­ten bestim­men und stets – genau wie auf­grund der Span­nung zwi­schen Über-Ich und Ich, wie Freud das sah – Schuld­ge­fühle ver­ ur­sa­chen. Den Begriff der Introjektion ver­wen­dete Ferenczi (1909, S. 19) erst­ma­lig, indem er dem Psy­cho­ti­ker mit sei­ner Nei­gung zur Pro­jek­tion den Neu­ro­ti­ker mit sei­nem Inter­esse an den Objek­ten der Außen­welt gegen­über­stellte, bei denen er seine frei flottierenden Affekte unter­zu­



Introjektion 91

brin­gen sucht: »Der Neu­ro­ti­sche ist stets auf der Suche nach Objek­ten, mit denen er sich iden­ti­fi­zie­ren kann, auf die er Gefühle über­tra­gen, die er also in den Interessenkreis ein­be­zie­hen, introjizieren kann.« Wie man sieht, wird Intro­jek­tion aber nicht von Iden­ti­fi­ka­tion unter­ schie­den – eine Unklar­heit, die sich in der psy­cho­ana­ly­ti­schen Lite­ra­ tur über Jahr­zehnte hin­weg hält, wor­auf wir zurück­kom­men wer­den –, sogar Über­tra­gung wird hier syn­onym ver­wandt. Ferenczi will offen­bar mit die­sen Begrif­fen ledig­lich die Bezie­hun­gen zu äuße­ren Objek­ten bezeich­nen, wie er sich auch Intro­jek­tion etwas spä­ter als »Mecha­nis­mus jeder Über­tra­gung auf ein Objekt, also jeder Objekt­ liebe als Intro­jek­tion, als Ich-Aus­wei­tung« (Ferenczi 1912, S. 100; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) vor­stellt. Den Cha­rak­ter der Grenz­ über­ schrei­ tung von außen nach innen der Intro­jek­tion hatte Freud (1915c, S. 228) bereits auf­ge­zeigt: Das Ich »nimmt die dar­ge­bo­te­nen Objekte, inso­fern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich die­sel­ben (nach dem Aus­drucke Feren­ czis) und stößt andererseits von sich aus, was ihm im eige­nen Innern Un­lust­anlass wird. (Siehe spä­ter den Mecha­nis­mus der Pro­jek­tion.)« Zehn Jahre spä­ter nimmt Freud (1925h, S. 13) in der Dis­kus­sion der sich ent­wickeln­den Urteilsfunktionen die­sen Gedan­ken wie­der auf: »Das ursprüng­li­che Lust-Ich will, wie ich an ande­rer Stelle aus­ge­führt habe, alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich wer­fen.« Weiter beschreibt er die bei den Vor­gän­gen des Aufnehmens und Ausstoßens not­wen­dig wer­dende Grenz­ erfahrung: »In der Spra­che der älte­sten, ora­len Trieb­re­gun­gen aus­ge­drückt: Das will ich essen oder will es aus­spucken, und in wei­ter ­ge­hen­der Über­tra­gung: Das will ich in mich ein­füh­ren und das aus mir aus­schlie­ßen … Es ist, wie man sieht, wie­der eine Frage des Außen und Innen« (Freud 1925h, S. 13; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Man kann aber eine Grenzverwischung nicht nur zwi­schen außen und innen, son­dern auch zwi­schen ver­schie­de­nen intrapsychischen Instan­ zen beob­ ach­ ten. Oft ist die Unter­ schei­ dung zwi­ schen archai­ schen omni­po­ten­ten Phan­ta­sien, die in den Kern des Selbst, und sol­chen, die ins Ich-Ideal bzw. Über-Ich ein­ge­hen, schwer zu tref­fen (Modell 1965). Bei Bor­der­line-Per­sön­lich­keits­stö­run­gen sind die Gren­zen von archai­schen Ele­men­ten des Ich und des Über-Ich ver­wa­schen (Modell 1965); Objekt- und Selbstrepräsentanzen blei­ben mehr oder weni­ger fremdkörperartig als Introjekt abge­spal­ten oder kön­nen durch Iden­ ti­fi­ka­tion im Selbst assi­mi­liert vor­lie­gen. Die Gren­zen zwi­schen den Reprä­sen­tan­zen sind unsi­cher, und es fin­det eine oszil­lie­rende Fluk­ tua­tion der Imagines über die unbe­stimm­ten Gren­zen hin­weg statt. Modell bezieht das Ver­hal­ten der Eltern nicht ein, obwohl in sei­nen bei­den beschrie­be­nen Fäl­len sexu­elle Überstimulierung der Kin­der

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durch die Eltern zu ent­spre­chen­den Fusionsgefühlen, also Emp­fin­dun­ gen der Gren­zen­lo­sig­keit zwi­schen »außen und innen«, geführt haben dürf­te. Und es muss gar nicht immer eine Fusion durch kör­per­li­che Überstimulierung ein­tre­ten; in einem Fall (Modell 1965, S. 328) rie­ fen die Fort­schritte in der Ana­lyse eines Pati­en­ten Selbst­mord­ab­sich­ ten der Mut­ter her­vor, das heißt Trennungsbestrebungen wer­den oft von rea­len ter­ro­ri­sti­schen Behin­de­run­gen beant­wor­tet, deren innere Motive (bei der Mut­ter bzw. dem Eltern­teil) dem Kind ver­bor­gen blei­ ben, sodass es nicht abgren­zen kann, ob es sich um die eige­nen Tren­ nungs­äng­ste han­delt oder um das Bedrohtsein des Eltern­teils durch die Tren­nung.

Unbe­wusstes, ent­lehn­tes Schuld­ge­fühl (Freud 1923) Die Ver­bin­dung von Intro­jek­tion und Schuld­ge­fühl stellt Freud (1923b, S. 279) wie neben­bei, halb unbe­ab­sich­tigt in einer Fuß­note zu sei­ner Arbeit »Das Ich und das Es«, in weni­gen Sät­zen her. Es geht hier darum, dass für den Wider­stand des Pati­en­ten gegen Fort­schritte der Gene­sung, für die nega­tive the­ra­peu­ti­sche Reak­tion also (man kann noch ergän­zen: für Selbst­be­schä­di­gung und Straf­be­dürf­nis), ein »mora­li­scher Fak­tor« ver­ant­wort­lich gemacht wird; es han­delt sich

»um ein Schuldgefühl, wel­ches im Krank­sein seine Befrie­di­gung fin­det und auf die Strafe des Lei­dens nicht ver­zich­ten will … Aber dies Schuldgefühl ist für den Kran­ken stumm. Es sagt ihm nicht, daß er schul­dig ist, er fühlt sich nicht schul­dig, son­dern krank. Dies Schuldgefühl äußert sich nur als schwer reduzierbarer Wider­ stand gegen die Her­stel­lung« (Freud 1923b, S. 279).

Das Schuld­ge­fühl ist also unbe­wusst, als sol­ches für den Kran­ken gar nicht erkenn­bar. Die Fuß­note beginnt mit der Schwie­rig­keit der Bear­ bei­tung und Auf­lö­sung des Schuld­ge­fühls:

»Der Kampf gegen das Hin­ der­ nis des unbe­ wuß­ ten Schuld­ ge­ fühls wird dem ­Analy­ti­ker nicht leicht gemacht. Man kann direkt nichts dage­gen tun, indi­rekt nichts ande­res, als daß man lang­sam seine unbe­wußt ver­dräng­ten Begrün­dun­ gen ­aufdeckt, wobei es sich all­mäh­lich in bewuß­tes Schuld­ge­fühl ver­wan­delt« (S. 279).

Wäh­rend bis hier­her noch nicht klar ist, woher sich das unbe­wusste Schuld­ge­fühl ablei­tet, wird von Freud nun die Ver­bin­dung zum Objekt her­ge­stellt. Dadurch, dass es von einem Objekt ent­lehnt wor­den sein kann, wird es als Aus­druck und Teil einer Objektbeziehung erkannt:



Introjektion 93

»Eine beson­dere Chance der Beein­flus­sung gewinnt man, wenn dies ubw Schuld­ ge­fühl ein ent­lehn­tes ist, das heißt das Ergeb­nis der Iden­ti­fi­zie­rung mit einer ande­ren Per­son, die ein­mal Objekt einer ero­ti­schen Beset­zung war. Eine sol­che Über­nahme des Schuld­ge­fühls ist oft der ein­zige, schwer kennt­li­che Rest der auf­ ge­ge­be­nen Lie­bes­be­zie­hung. Die Ähn­lich­keit mit dem Vor­gang bei Melan­cho­lie ist dabei unver­kenn­bar. Kann man diese ein­stige Objektbesetzung hin­ter dem ubw Schuld­ge­fühl auf­decken, so ist die the­ra­peu­ti­sche Auf­gabe oft glän­zend gelöst, sonst ist der Aus­gang der the­ra­peu­ti­schen Bemü­hung kei­nes­wegs gesi­chert. Er hängt in erster Linie von der Inten­si­tät des Schuld­ge­fühls ab, wel­cher die The­ra­pie oft keine Gegen­kraft von glei­cher Grö­ßen­ord­nung ent­ge­gen­stel­len kann« (S. 279).

Diese Vor­gänge erin­nern an die Internalisierungsvorgänge in »Trauer und Melan­cho­lie« (Freud 1917e, S. 435), wo es heißt: »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem auf­ge­ge­be­nen Objekt« und »der Schat­ten des Objekts fiel so auf das Ich …« Cournut (1988) ver­steht die Fuß­note als Kor­rek­tur des Kon­zepts des unbe­wuss­ten Schuld­ge­fühls auf­grund der intui­ti­ven Erfas­sung des Cha­rak­ters des Frem­den des Introjekts durch Freud wie auch den Zusam­men­hang mit einer unge­lö­sten Objektbeziehung. Un­be­wusstes Schuld­ge­fühl muss nun nicht mehr von ver­dräng­tem eige­nen Bestre­bun­gen stam­men, es kann auch als von einem äuße­ ren Objekt über­nom­men ver­stan­den wer­den. (Es scheint sich um ein Bei­spiel einer der Neben­be­mer­kun­gen Freuds zu han­deln, von denen Melanie Klein ein­mal sagte: »Hier und dort fin­den wir in sei­nen Schrif­ten bedeu­tungs­volle Andeu­tun­gen ein­ge­streut, voll von Mög­ lich­ kei­ ten, denen man nach­ ge­ hen könnte, Hin­ weise, die er selbst jedoch nicht wei­ter­ver­folgte« [Grosskurth 1986, S. 370]. Ähn­lich schreibt Simmel [1944, S. 230], »daß ich bei mei­ner Ent­deckung ledig­ lich eine Tür durch­schrit­ten habe, die Freud selbst geöff­net hat, ohne hin­durch­zu­ge­hen.«) Das bedeu­tet ein­mal, dass Schuld­ge­fühle unbe­wusst blei­ben kön­nen, dar­über hin­aus scheint es sich bei der Ent­leh­nung um die Über­nahme des Schuld­ge­fühls eines Liebesobjekts, also eines frem­den Schuld­ge­ fühls zu han­deln. Ganz klar drückt sich Freud mei­nes Erach­tens nicht aus; ist es die »Iden­ti­fi­ka­tion mit einer ande­ren Per­son« (Freud 1917e, S. 435), die das Schuld­ge­fühl macht (heute bes­ser nicht Iden­ti­fi­ka­tion, son­dern Intro­jek­tion), oder ist es die Iden­ti­fi­ka­tion (Intro­jek­tion) mit dem Schuld­ge­fühl einer ande­ren Per­son? Jeden­falls hat Freud deut­lich genug Schuld­ge­fühl als Ergeb­nis der Internalisierung von Aspek­ten äuße­rer Objekte im Sinn gehabt. Die Gedan­ken in Freuds Auf­satz wie auch beson­ders in der Fuß­ note hat­ten auch gleich die Aus­ar­bei­tung durch seine Mit­ar­bei­ter zur Folge. In einer Fallarbeit schil­dert Lampl (1925) ein Bei­spiel der Iden­ ti­fi­ka­tion mit den Schuld­ge­füh­len des Vaters durch den Sohn und die ent­spre­chen­den Symptombildungen, Schuld­ge­füh­len des Vaters, die

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die­ser aber gar nicht hatte, sodass die Schuld­ge­fühle des Soh­nes (des Pati­en­ten) eher der rea­len Schuld des Vaters ent­sprach: »Er emp­fand das unge­heure Maß an Schuld, das der Vater gegen­über der Mut­ter durch die Zer­stö­rung des Fami­lien­lebens auf sich gela­den hatte … In der Iden­ti­fi­ zie­rung mit dem sünd­haft ero­ti­schen Tun des Vaters scheint sich nun die Iden­ti­fi­ zie­rung mit dem Vater auf die Iden­ti­fi­zie­rung mit des­sen Schuld­ge­fühl zurück­ge­ zo­gen zu haben. So erwirbt er am Aus­gang der infan­ti­len Ödipussituation durch Iden­ti­fi­zie­rung das Schuld­ge­fühl des Vaters und über­la­gert mit die­sem ent­lehn­ten Schuld­ge­fühl das pri­märe aus dem Mut­ter-Inzest. Von da an ist sein Seelen­le­ben durch ein groß­ar­ti­ges Straf­be­dürf­nis beherrscht, und sein Leben erscheint dar­auf ange­legt, anstelle der Aus­füh­rung der Ödipustat für die Schuld des Vaters zu süh­ nen« (Lampl 1925, S. 466; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Deut­lich kann man sehen, dass hier eine Ver­men­gung der ödi­pa­len Schuld­ge­fühle mit der von außen über­nom­me­nen Schuld statt­fin­det, Schuld­ge­fühle also kei­nes­wegs nur ödi­pa­len Cha­rak­ter haben, son­dern durch die introjektive Über­nahme frem­der Kom­plexe gebil­det wer­den. Im sel­ben Jahr ver­öf­fent­lichte auch Fenichel (1925) eine Arbeit »Zur Kli­nik des Strafbedürfnisses«, in der er annahm, dass der reale Sadis­mus der Mut­ter »ins Über-Ich« auf­ge­nom­men, also introjiziert wor­den war: »Das Vor­bild für die sadi­sti­schen Phan­ta­sien des Pati­en­ten war seine Mut­ter, die so getobt hatte, wenn er oder die Geschwi­ster etwas ange­stellt hat­ten. Die Auf­ nahme der Mut­ter ins Über-Ich des Pati­en­ten ent­fal­tete so nach bei­den Rich­tun­gen ihre Wirk­sam­keit: In den Selbstbestrafungen setzte er die müt­ter­li­chen Züch­ti­gun­ gen am eige­nen Leibe fort, wäh­rend die sadi­sti­schen Phan­ta­sien seine Sehn­sucht bezeug­ten, auch in sei­nem Ver­hal­ten nach außen die Mut­ter zu kopie­ren« (Fenichel 1925, S. 474).

Und das Selbst (der »eigene Leib«) scheint in die­sem Falle mit der rea­ len Mut­ter als Ziel der Aggres­sion aus­tausch­bar zu sein, sodass Fenichel eine Exter­nali­sierung des Introjekts (»Über-Ich«) beschreibt: »Die gehaßte Mut­ter, von der er glaubte, daß sie seine Bestra­fung, seine Krank­heit, sei­nen Tod von ihm ver­lange, erwies sich als Pro­jek­tion sei­nes Über-Ichs. Wie er, auf sein Gewis­sen schimp­fend, sich erst recht schlug, so demon­strierte er am eige­ nen Leibe, wie er der Mut­ter mit Genuß ein Mes­ser in den Leib ren­nen möchte. Es war eine Art Rückprojektion des Über-Ichs an jene Stelle der Außen­welt, aus der es her­vor­ge­gan­gen war, eine regres­sive Pro­jek­tion« (S. 475).

An die­sem Bei­spiel wird deut­lich, dass es sich auch um introjizierte Eigen­schaf­ten des Objekts, nicht nur um des­sen Schuld oder Schuld­ ge­fühl, han­deln kann. Auch die Mög­lich­keit der Über­schrei­tung der Ich-Gren­zen von außen nach innen durch Intro­jek­tion und nach­fol­gend wie­der nach außen durch Pro­jek­tion auf das­selbe Objekt, von dem das Intro­jekt­ über­nom­men wor­den war, wird anschau­lich dar­ge­stellt.



Introjektion 95

Das Ent­lehnte ist aber kei­nes­wegs nur ein Schuldgefühl des ande­ ren (bzw. viel­mehr das, wel­ches er haben müsste), eher seine reale Schuld, wie es aus den Fall­bei­spie­len Lampls und Fenichels her­vor­ geht; deut­lich ist es dort die nicht aner­kannte Schuld der Eltern, die das Schuld­ge­fühl der Kin­der schafft. In neue­rer Zeit hat Eickhoff (1989) die Sym­pto­ma­tik einer Toch­ter eines Nazi-Ver­bre­chers als »Palimpsest«7, also als über­la­gerte Mit­tei­lung der unbe­wuss­ten Schuld­ge­fühle bzw. der rea­len Schuld des Vaters bezeich­net. Für Eickhoff ist die melan­cho­li­sche Iden­ti­fi­ka­tion gerade mit der nicht aner­kann­ten Schuld eines Lie­bes­ob­jekts der zen­trale Mecha­nis­mus der transgenerationalen Trans­mis­sion von Traumafolgen. Inzwi­schen kann man sagen, dass es sich um meh­rere Grup­pen von trau­ma­tisch wirk­sa­men Realeinflüssen han­delt, die Intro­jekte (die Schuldgefühle ver­ur­sa­chen) her­vor­brin­gen: körperlicher und sexu­el­ ler Missbrauch (auch Fol­ter und Ver­ge­wal­ti­gung im Erwach­se­nen­al­ ter), unbe­wäl­tigte Ver­lu­ste, nicht aner­kannte reale Schuld, emo­tio­nale Man­gel­ver­sor­gung sowie sub­tile lang­dau­ernde Beein­flus­sun­gen in der Eltern-Kind-Bezie­hung im Sinne der pro­jek­ti­ven Iden­ti­fi­ka­tion, die eben­falls die Gren­zen zwi­schen außen und innen über­schrei­ten. Wir wer­den auf diese Berei­che zurück­kom­men. Die Ver­bin­dung zwi­schen Freuds Fuß­note und der Introjektbildung hat Cournut (1988) in einer bemer­kens­wer­ten Arbeit her­ge­stellt, in­dem er das »ent­lehnte Schuld­ge­fühl« auf die Geheim­nisse, die unbe­ wäl­tig­ten Ver­lu­ste, die läh­mende Depres­sion (vgl. Green 1983, »Die tote Mut­ter«) der Liebesobjekte zurück­führt. Die »Pati­en­ten [schei­ nen] für jemand ande­ren an des­sen und von des­sen Stelle aus zu spre­ chen …, um die­sen ande­ren zu schüt­zen mit­samt sei­nen Geheim­nis­sen, von denen man nicht weiß, ob sie dem Gewis­sen oder der Lust oder bei­den ge­hor­chen« (Cournut 1988, S. 76). In einer Gruft ist nicht nur Schuld, son­dern sind haupt­säch­lich Affekte begra­ben (Cournut 1988, S. 91); diese sind es, die Schuld­ge­fühl (und ent­spre­chende Sym­pto­ma­ tik) erzeu­gen, auch wenn die Tat­sa­chen (z. B. der Tod von Eltern der Eltern, der Tod von Geschwi­stern, schuld­haf­tes Han­deln in Vorgenerationen, Gewalt, unter der die Liebespersonen gelit­ten hat­ten etc.) als Infor­ma­tion bekannt sind, wäh­rend die ent­spre­chen­den Affekte wegen ihrer über­wäl­ti­gen­den Stärke nicht erlebt, aus­ge­lebt wer­den konn­ten, son­dern durch Abspal­tung und Ver­wer­fung unter­drückt wer­den muss­ ten. 7 Palimpsest: grie­chisch für »wiederabgekratzt« – das heißt, beschrie­bene Per­ga­mente wur­ den, um das kost­bare Mate­rial wie­der­ver­wen­den zu kön­nen, abge­kratzt und neu beschrie-­ ben. Mit bestimm­ten Tech­ni­ken lässt sich der ursprüng­li­che Text rekon­stru­ie­ren – ein Analogiebild, das sich für die Psy­cho­ana­lyse gut ver­wen­den lässt.

96 Schuldgefühl

Das Intro­jekt Bis­her haben wir die Ent­wick­lungs­li­nie des Introjektionskonzepts von Ferenczi (1909) über Freud – bei die­sem ins­be­son­dere mit sei­ner halb­ver­bor­ge­nen, intui­ti­ven Erfas­sung des Objektbeziehungscharakters des Introjekts in besag­ter Fuß­note (s. o.) – auf­ge­zeigt. Ferenczi (1985, S. 91; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) wusste, um was es ging: Eine sei­ner Pati­en­tin­nen »fühlt gele­gent­lich, beson­ders wenn sie aggres­siv, hart, sar­ka­stisch etc. ist, daß etwas Frem­des aus ihr spricht, in dem sie sich nach­her nicht wie­der­er­kennt. Das bös­ar­tige Fremde ent­puppt sich … als die bös­ar­tige, unbe­ herrschte, aggres­sive, lei­den­schaft­li­che  … Mut­ter, deren bei­nahe mani­sche Gebär­ den und Mimik, auch ihr Schreien, von (der) Pati­en­tin mit einer Natur­treue imi­tiert wird, wie sie nur die Folge einer voll­kom­me­nen Iden­ti­fi­zie­rung sein kann … Ein Teil ihrer Per­son gerät ›außer sich‹, der so leer gewor­dene Platz wird vom Wil­len des Erschrecken­den ein­ge­nom­men.«

Intro­jekte erkennt man an ihrem selt­sam frem­den Cha­rak­ter, sie sind Ich-dyston. Eine Pati­en­tin aus mei­ner Pra­xis sagte: »Meine Mut­ter hat sich in mei­nen Ein­ge­wei­den breit­ge­macht, da sitzt sie!« Eine andere meinte: »Ich habe den Ein­druck, dass ich meine Eltern in jeder Zelle habe, dass sie sich da ein­ge­ni­stet haben.« Und eine dritte: »Viel­leicht steckt ein Mon­ster in mir, ich habe Angst, dass es durch die The­ra­pie raus­kommt.« Zwei Fallvignetten sol­len illu­strie­ren, dass häu­fig von den Pati­en­ten das Fremd­ar­tige als von ande­ren Objek­ten stam­mend geschil­dert wird: Eine Pati­en­tin, die als Kind unter dem Alko­ho­lis­mus des Vaters sehr gelit­ten hatte, besucht ihren alten Vater, der gerade aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen ist, auch andere Bekannte sind gekom­men. Der Vater bie­tet Schnaps an, die Besu­cher blicken betre­ten auf den Fuß­bo­den, kei­ner trinkt mit dem Vater. Nur die Pati­en­tin nimmt das Ange­bot an, obwohl sie sonst nie Alko­hol trinkt. Sie sagt, sie habe aus »Mit­leid« mit ihm getrun­ken. Danach habe sie Übel­keit ver­spürt, einen Druck im Oberbauch, wie bei einer Schwan­ger­schaft. Ich sage: Wie etwas Frem­des, das in den Kör­per hin­ein­ge­kom­men ist und nicht rich­tig zu Ihnen gehört. – Dar­auf erin­ nert sie einen Traum: Sie habe etwas Ekel­haf­tes erbro­chen, Fleisch­stücke, und war erleich­tert, als sie es los war. Dann aber fühlte sie eine leere Stelle im Bauch, wie ein Loch. – »Ich kann nicht zu mei­nem Vater nein sagen, weil er so in mir drin ist.« Eine andere Pati­en­tin, Ange­lika A., hat sich aus einer Bezie­hung, die von gegen­ sei­ti­ger ter­ro­ri­sti­scher Abhän­gig­keit bestimmt war, getrennt, eine eigene Woh­nung gefun­den und ist froh, allein zu sein. Da kom­men die Eltern unan­ge­mel­det (aus dem rund 250 Kilo­me­ter ent­fern­ten Hei­mat­ort der Pati­en­tin) vor­ge­fah­ren, sie seien beun­ru­higt, weil sie tele­fo­nisch nicht erreich­bar sei. Die Pati­en­tin ist kurz ange­bun­ den, sie habe durch den Umzug so viel zu tun, nach dem Tee müssten sie gleich wie­der fah­ren. Zum Abschied sagt die Mut­ter, auf deren Brille sich ein paar Flecken befin­den: »Du hast so Stel­len im Gesicht, mein Kind, das ist sicher Haut­krebs!«



Introjektion 97

Die Phan­ta­sie der Mut­ter ist klar: Hätte die Toch­ter Krebs, käme sie (nach der geschei­ter­ten Bezie­hung) zur Mut­ter zurück, die sie pfle­gen könnte. Wäre es der Pati­en­tin nach dem Umzug schlecht gegan­gen, hätte sie der Mut­ter etwas vor­ge­ jam­mert, viel­leicht sogar gebe­ten, sie solle noch blei­ben, um sie zu trö­sten, wäre die Mut­ter zufrie­den gewe­sen. Da die Toch­ter das aber nicht tat, musste die Mut­ter ein so schwe­res Geschütz auf­fah­ren und in einer Ver­dich­tung ihren Wunsch, bei der Toch­ter blei­ben zu kön­nen, und ihre Aggres­sion, weil das nicht mög­lich war, in der Phan­ta­sie vom Haut­krebs zusam­men­brin­gen. – Spä­ter, in der wei­te­ren Aus­ ein­an­der­set­zung in der Grup­pen­sit­zung sagt die Pati­en­tin: »Würde ich auf­hö­ren zu rau­chen, würde ich meine Mut­ter ver­lie­ren. Das Rau­chen ist meine Mut­ter. Die Mut­ter hat immer geraucht, der Vater war immer dage­gen.« Als Jugend­li­che hat sie heim­lich zusam­men mit der Mut­ter geraucht, im Bünd­nis gegen den Vater. Und sie raucht noch immer, obwohl sie an einer Krank­heit lei­det, die als Sarkoidose dia­gno­sti­ziert wor­den war (gar nicht so weit ent­fernt von dem Spruch der Mut­ ter vom Haut­krebs), und eigent­lich allen Grund hat, mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren.

Das Intro­jekt ist ein Gebilde, das als Fremd­kör­per wirkt und vom IchErle­ben, vom Den­ken, Phan­ta­sie­ren und Spre­chen weit­ge­hend abge­ trennt ist. Ein­zig seine Wie­der­be­le­bung in äuße­ren Objek­ten durch Exter­nali­sie­ren, immer wie­der­hol­tes Agie­ren (»Kon­kre­ti­sie­rung«, Bergmann 1995, S. 344 f.) und sein Aus­druck im Traum stellt eine bin­ dung zu ihm her. Das Fremdkörperartige des Introjekts ist Ver­ immer wie­der beschrie­ben wor­den – auch wenn nicht aus­drück­lich auf das Intro­jekt bezo­gen, aber worum sonst sollte es gehen, wenn Freud (1895d, S. 85) schreibt: »Wir müs­sen viel­mehr behaup­ten, daß das psy­ chi­sche Trauma, respek­tive die Erin­ne­rung an das­selbe, nach Art eines Fremd­kör­pers wirkt, wel­cher noch lange Zeit nach sei­nem Ein­drin­gen als gegen­wär­tig wir­ken­des Agens gel­ten muß.« Wurmser (1987, S. 3; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) fragt sich: »Was ist die Per­ver­sion des Gewis­sens, die zum Erschei­nen jenes ›Dämon‹ führt?«, eines Dämon der schwe­ren Neu­rose, mani­fe­stiert durch »Ge­ genwillen« und Wie­der­ho­lungs­zwang. Ein anschau­li­ches Bild für das Ein­drin­gen des Frem­den ins Ich wäre ein Virus, das in den Zell­kern frem­des Genmaterial ein­schleust und den Orga­nis­mus zwingt, frem­des Mate­rial zu pro­du­zie­ren. Parin (1990) teilt das dich­te­ri­sche Bild mit, das Heinrich Heine für den Vor­gang der Intro­jek­tion, geradezu Inkorporation, fand, wenn er im »Wintermärchen« über die Preußen spottet (vgl. Hirsch 1998): »Noch immer das hölzern pedantische Volk, Noch immer ein rechter Winkel In jeder Bewegung, und im Gesicht Der eingefrorene Dünkel.

98 Schuldgefühl

Sie stelzen noch immer so steif herum, So kerzengerade geschniegelt, Als hätten sie verschluckt den Stock, womit man sie einst geprügelt. Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie, Sie tragen sie jetzt im Innern …« (Heine 1976, S. 97 f., Hervorhebung M. H.). Und so ist das Intro­jekt als ein »Rest« (Freud 1923b, S. 279, Fuß­note) bezeich­net wor­den, als ein »iso­lier­ter Ich-Anteil« (Müller-Braunschweig 1970, S. 673), ein »obsku­rer hart­näcki­ger Gast des Ichs« (Cournut 1988, S. 470). Ein sol­ches Intro­jekt wird das Ich nicht berei­chern, son­dern es wird ihm hin­zu­ge­fügt, wodurch es unter­schie­ den wer­den kann (zur aus­blei­ben­den Assi­mi­la­tion vgl. auch Ehlert u. Lorke 1988; Müller-Braunschweig 1970). Ent­spre­chend den Kla­ gen und Sym­pto­men der Pati­en­ten sind einige Bezeich­nun­gen für das Intro­jekt for­mu­liert wor­den, die den Cha­rak­ter der fremdkörperartigen Abkap­se­lung ent­hal­ten: »Gefro­re­nes Intro­jekt« (Giovacchini 1967), »mali­gnes Intro­jekt« (Müller-Braunschweig 1970), »dämo­ni­sches Intro­jekt« (Moser 1996), »Krypta«, »kryp­tische Iden­ti­fi­ka­tion«, auch »Ein­schlie­ßung« bei Abraham und Torok (1975; 1976; Torok 1968; Abraham 1978); Abraham (1978) nennt es »Phan­tom«, genau wie Virginia Woolf (1991) in ihren Tage­bü­chern, die es ver­wen­dete, um die Unmög­lich­keit zu bezeich­nen, den Geist der Mut­ter los­zu­wer­den, die sie real im Alter von neun Jah­ren durch Tod ver­lo­ren hatte. In der Mytho­lo­gie fin­den sich Ent­spre­chun­gen für das Intro­jekt: ruhe­lose Gei­ster, Untote, Incubi und Succubi, deren Bedroh­lich­keit durch per­so­ni­fi­zie­rende Externalisation von außen wirkt; Gei­ster spie­ len zum Bei­spiel in den Seefahrernationen eine große Rolle (vgl. Haga 1988), da die auf See geblie­be­nen gelieb­ten Ange­hö­ri­gen sich nicht ver­ ab­schie­det haben, eine Tren­nung nicht durch Augen­schein erleich­tert wurde, sodass die »leben­dig Toten« nicht zur Ruhe kom­men. Ebenso ist der Mythos vom Nacht­mahr, dem über­wäl­ti­gend bedrücken­den Inkubus, auf das Erle­ben der Ver­ge­wal­ti­gung eines Kin­des durch einen Erwach­se­nen zurück­ge­führt wor­den (Haga 1989). Freud (1909b, S. 355) ver­wen­det das Bild des ruhe­lo­sen Gei­stes für die Sym­pto­ma­tik der Neu­rose, aller­dings ohne damals an ein Gebilde wie das Intro­jekt zu den­ken: »Aber was so unver­stan­den geblie­ben ist, das kommt wie­der; es ruht nicht, wie ein unerlöster Geist, bis es zur Lösung und Erlö­sung gekom­men ist.« Der Fremd­kör­per steu­ert das Erle­ben und Ver­hal­ten des Pati­en­ten



Introjektion 99

wie ein frem­des Pro­gramm einen Auto­ma­ten, lässt im Wie­der­ho­lungs­ zwang das Ver­bor­gene Wirk­lich­keit wer­den, lähmt ande­rer­seits Krea­ ti­vi­tät und Ich-Funk­tio­nen (Giovacchini 1967) und führt zu Gefüh­len der Leere, des man­geln­den Selbstwerts, der »grund­lo­sen« Depres­sion. Die Pati­en­ten spre­chen fol­ge­rich­tig von einer »Lei­che in sich selbst« (Kogan 1990a, S. 67), sie wir­ken »see­lisch tot« (Faimberg 1987, S. 115; Skogstad 1990, S. 22), »leben­dig tot« (Giovacchini 1967; Derrida 1976), »wie im Nebel, inner­lich gefro­ren« (Skogstad 1990, S. 27; Giovacchini 1967), machen den Ein­druck, abwe­send zu sein (Faim­berg 1987, S. 115). Green (1983, S. 213 f.) beschreibt einen zurück­blei­ben­den »kal­ten Kern«; ein erschüt­tern­der Bericht über die auf­grund der KZ-Erfah­rung persistierende Unfä­hig­keit zu lie­ben fin­det sich bei Wiesel (1960). Pati­en­ten einer ande­ren Gruppe, die Cournut (1988) »die Boden­ lo­sen« nennt, agie­ren selbstdestruktiv gegen den eige­nen Kör­per, sind sexu­ell promiskuös, lei­den unter Alb­träu­men, Angst­zu­stän­den oder kör­per­li­chen Sym­pto­men, das heißt, das Intro­jekt ent­äu­ßert sich im Agie­ren oder ver­wen­det den Kör­per als Aus­drucks­mit­tel bzw. De­ struktionsobjekt. Der Ein­druck des Frem­den ent­steht auch nicht zuletzt dadurch, dass die Ana­lyse über kurz oder lang sta­gniert und immer wie­der die­sel­ben Inhalte erschei­nen, die Spra­che ver­siegt und eine Kluft ent­steht, in der Gegen­über­tra­gung eine Läh­mung ein­setzt und die Unfä­hig­keit vor­herrscht, den toten Raum mit Gedan­ken, analysierbarem Inhalt zu fül­len. Ver­sucht man es, tau­chen Sym­ptome wie­der auf oder ver­stär­ken sich, der Ana­ly­ti­ker wird feind­lich intrusiv erlebt, Aggres­sion ent­steht und droht, zum Abbruch der The­ra­pie zu füh­ren. Der Intro­ jekt-Begriff ist auch kri­ ti­ siert wor­ den, beson­ ders von Schafer (1972, S. 797 f.): »Vor allem hat man sich ange­wöhnt, von Introjekten zu spre­chen, als seien sie Engel oder Dämo­nen mit eige­nen Gedan­ken und Kräf­ten. Man spricht von ihnen nicht, als han­dele es sich um die Beschrei­bung von Erfah­run­gen des Ana­ly­san­den, son­dern ein­fach um Tat­sa­chen … Wir ver­ges­sen in die­sen Fäl­len, daß ein Intro­jekt nur eine Phan­ta­sie sein kann, daß das Intro­jekt keine Macht oder Motive und keine Wahr­neh­mungs- und Urteilsfunktionen besitzt. Infol­ge­des­sen hat die Theo­rie der Intro­jekte immer den glei­chen spuk­haf­ten Cha­rak­ter wie die sub­jek­tive Erfah­rung, auf die sie sich bezieht.«

Der letzte Satz klingt fast wie der Aus­spruch Karl Kraus’: »Die Psy­ cho­ana­lyse ist die Krank­heit, für deren Hei­lung sie sich hält!«, aber der Wert der Kri­tik Schafers liegt wohl darin, dass er sich gegen den unre­flek­tier­ten Gebrauch eines Ter­mi­nus wen­det, der sich so ver­selbst­ stän­digt und eine Art Realitätscharakter erhält.

100 Schuldgefühl

Ferenczi: »Sprach­ver­wir­rung zwi­schen den Erwach­se­nen und dem Kind« (1933) Bis­her habe ich das Fremd­ar­tige, Schuld­ge­fühle Machende des Introjekts eher phä­no­me­no­lo­gisch beschrie­ben. Die Grund­lage eines theo­ re­ti­schen Ver­ständ­nis­ses legte Ferenczi (1933), der mit sei­nem skandalerregenden – inzwi­schen muss man auch sagen: bahn­bre­chen­den – Vor­trag »Sprach­ver­wir­rung zwi­schen den Erwach­se­nen und dem Kind« die Internalisierungsvorgänge trau­ma­ti­scher Gewalt beschrie­ ben hat, anknüp­fend an Freuds ursprüng­li­che Verführungstheorie (vgl. Hirsch 1987), auch Freuds Internalisierungskonzepte der ÜberIch-Bil­dung und der Melan­cho­lie (Freud 1917e) impli­zit berück­sich­ti­ gend. Trotz­dem erregte er einen Eklat, der fast zu einer Unter­drückung des Vor­trags (auf dem Wies­ba­de­ner Kon­gress 1932) und sei­ner Ver­ öf­fent­li­chung (die eng­li­sche Ver­sion erschien erst 1949) geführt hätte, denn Ferenczi berück­sich­tigt die Triebe des Kin­des gar nicht mehr, ver­legt viel­mehr den Anfang und das Wesen der Neurosenentstehung in das von außen durch eine geliebte und benö­tigte Elternperson dem Kind angetane Trauma. Sicher hatte in der Psy­cho­ana­lyse immer das Trauma eine Rolle gespielt, aber eher als akzi­den­telle Stö­rung der Trieb­ent­wick­lung; sicher war Freud immer an Objekt­be­zie­hun­gen inter­es­siert, aber es waren eben die Objekte der Triebe; das Eigen­le­ ben der Objekte und ihr Anteil an der Gestal­tung der Objektbeziehung wurde ver­nach­läs­sigt. Bei Ferenczi sind Bezie­hun­gen grund­sätz­lich das Ergeb­nis des Han­delns und Füh­lens aller Betei­lig­ten, und inso­fern hat der Be­griff des Trau­mas für Freud und Ferenczi jeweils völ­lig ver­schie­dene Bedeu­tun­gen. Das Trauma bei Ferenczi »wird fortan, anders bei Freud, wo das Trauma das Trieb­schick­sal bestimmt, die Bezie­hung zum Objekt ver­än­dern, zu äuße­ren Objek­ten wie zu den inne­ren Reprä­sen­tan­ten der­sel­ben« (Cremerius 1983, S. 998). In sei­ nem Vor­trag legt Ferenczi (1933) den gan­zen Schwer­punkt auf den trau­ma­ti­schen Ein­fluss des äuße­ren Objekts auf das kind­li­che Ich; durch die Beto­nung der Internalisierungsvorgänge wird er zu einem der haupt­säch­li­chen Väter der (nicht Kleinianischen) Objektbeziehungstheorien, wie Cremerius (1983) bemerkt. Ferenczi geht von der über­mä­ßi­gen Anpas­sung und Unter­wer­fung man­cher Pati­en­ten aus, mit der sie größte Heu­che­lei und Unver­ständ­ nis des Ana­ly­ti­kers hin­neh­men. Das seien Fol­gen einer über­mäch­ti­gen Trau­matisierung in der Kind­heit und der ihr fol­gen­den uner­träg­li­chen Angst; beson­ders im Falle des sexu­el­len Miss­brauchs dar­über hin­aus auch der nach­fol­gen­den Kon­fu­sion, weil das Kind die Qua­li­tät der Angriffe nicht ver­ste­hen kann, da sie dem Stand der eige­nen sexu­el­len



Introjektion 101

Ent­wick­lung nicht ent­spricht. Ferenczi spricht von »Sprach­ver­wir­ rung«, da Erwach­se­ner und Kind, meist Vater und Toch­ter, eine ganz andere Art von »Liebe« mei­nen. Patho­lo­gisch ver­an­lagte Erwach­sene

»ver­wech­seln die Spie­le­reien der Kin­der mit den Wün­schen einer sexu­ell rei­fen Per­son oder las­sen sich, ohne Rück­sicht auf die Fol­gen, zu Sexualakten hin­rei­ ßen … Schwer zu erra­ten ist das Beneh­men und das Füh­len von Kin­dern nach sol­cher Gewalt­tä­tig­keit. Ihr erster Impuls wäre: Ableh­nung, Haß, Ekel, kraft­volle Abwehr, … dies oder ähn­liches wäre die unmit­tel­bare Reak­tion, wäre sie nicht durch eine unge­heure Angst para­ly­siert   … Doch die­selbe Angst, wenn sie einen Höhe­punkt erreicht, zwingt sie auto­ma­tisch, sich dem Wil­len des Angrei­fers unter­ zu­ord­nen, jede sei­ner Wunschregungen zu erra­ten und zu befol­gen, sich selbst ganz ver­ges­send sich mit dem Angrei­fer voll­auf zu iden­ti­fi­zie­ren. Durch die Iden­ti­fi­zie­ rung, sagen wir Intro­jek­tion des Angrei­fers, ver­schwin­det die­ser als äußere Rea­li­ tät und wird intrapsychisch, statt extra … Doch die bedeut­sam­ste Wand­lung, die die ängst­li­che Iden­ti­fi­zie­rung mit dem erwach­se­nen Part­ner im Seelen­le­ben des Kin­des her­vor­ruft, ist die Intro­jek­tion des Schuld­ge­fühls des Erwach­se­nen, das ein bis­her harm­lo­ses Spiel als straf­wür­dige Hand­lung erschei­nen läßt« (Ferenczi 1933, S. 308 f.; Hervorhebungen ori­gi­nal).

Schuld­ge­fühl ist hier nicht mehr nur intra­psy­chi­sche »Span­nung zwi­ schen Über-Ich und Ich« als Folge ver­bo­te­ner ödi­pa­ler Wün­sche, son­ dern die Folge einer Implan­ta­tion oder Dele­ga­tion eines Ich-Anteils eben die­ser Eltern, die damit eigene Schuld negie­ren und Schuld­ge­fühl ver­mei­den, oben­drein das Opfer zum Täter machen kön­nen.8 Um sich die Eltern oder noch erträg­li­che Bil­der von ihnen zu erhal­ten, unter­ wirft sich das Kind not­ge­drun­gen und nimmt das Implan­tierte in sich auf (Intro­jek­tion). Aber wie­der ist es Ferenczi, der als Erster die implan­tie­rende Akti­ vi­tät der Mäch­ti­gen (der Erwach­se­nen) dem Schwa­chen (dem Kind) gegen­über deut­lich gemacht hat. Wenn er diese auch in sei­ner Arbeit »Sprach­ver­wir­rung  …« nicht aus­drück­lich als theo­re­ti­schen Ter­mi­nus for­mu­liert, tut er das doch in den Noti­zen, wenn er von »Superego-Intropression sei­tens der Erwach­se­nen« (Bau­steine IV, S. 294) spricht. Und auch in sei­nem Kli­ni­schen Tage­buch von 1932 (Ferenczi 1985) lässt er kei­nen Zwei­fel daran, dass trau­ma­ti­sche Ein­flüsse stets an der Bil­dung eines Über-Ich betei­ligt sein dürf­ten: Da ist von »Aufpfropfung einer ver­rück­ten Per­sön­lich­keits­kom­po­nente aufs Über-Ich« (S. 94) die Rede, von »Ich-fremde[r]-Ein­pflan­zung« (S. 102), »Im­ plantierung von unlustspendenden, Schmerz und Span­ nung erzeu­­ 8 Der Begriff Implan­ta­tion wird auch von Laplanche (1970, S. 74) ver­wen­det, der den Ursprung der Sexua­li­tät in der Ein­pflan­zung der Phantasmen der Erwach­se­nen in das Kind sieht, in dem so ein »inne­rer Fremd­kör­per« zur Quelle des Sexu­al­triebs wird. Eckstaedt (1989, S. 19) spricht vom »Implan­tat« psy­chi­scher Struk­tu­ren, das auch nach abge­schlos­se­ner Ent­wick­lung durch »Intru­sion auf­ok­troy­iert« wer­den kann.

102 Schuldgefühl

genden ­Seeleninhalten in die Seele des Opfers« (S. 124). Ferenczi spricht auch von »Mut­ter-Influ­enz«, von »müt­ter­li­chem Trans­plan­tat« (S. 104), nicht sel­ten sei »die inze­stuöse Fixie­rung … der Psy­che von außen ein­ge­pflanzt, also ein Über-Ich-Pro­dukt« (S. 236). Der Intro­jek­ tion der Gewalt als Ich-Akti­vi­tät des Kin­des (des Opfers) wäre also die gewalt­same Akti­vi­tät des Erwach­se­nen (des Täters) vor­an­zu­stel­len; die Implan­ta­tion geht der Intro­jek­tion vor­aus. Es ist aber nicht die Traumatisierung allein, wel­che die Intro­jek­tion bewirkt, es kommt hinzu, dass nie­mand da ist, der dem Opfer die Qua­ li­tät der traumatisierenden Einwirkung und die Rea­li­tät sei­ner Wahr­ neh­mung bestä­ti­gen könnte. Sabourin (1985, S. 287; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) schreibt im Nach­wort des Kli­ni­schen Tage­buchs Ferenczis: »Denn es ist Ferenczi, der das ›Leug­nen des Statt­ge­fun­de­nen sei­ tens der Mut­ter‹ als den Fak­tor betrach­tet, der ›das Trauma patho­gen macht‹, also nicht nur die Ver­ge­wal­ti­gung, son­dern auch die ihr fol­ gende Ver­leug­nung und Ver­leum­dung.« Trau­ma­ti­sche Gewalt von außen, über­wäl­ti­gende Verlustangst, das heißt Ver­lust der ein­zig denk­ba­ren Liebesobjekte, unge­heure Aggres­ sion (Shengold 1979), Schuld­ge­fühl, das Missbrauchssystem ver­las­ sen zu wol­len, das Geheim­nis, das heißt das Feh­len eines Zeu­gen (vgl. Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 239) und das ver­leug­nende Schwei­gen ver­ hin­dern zusam­men, dass das Intro­jekt auf­ge­ge­ben wer­den kann. Mei­nes Erach­tens ist der Kern­ge­danke Ferenczis, dass das Kind durch die mas­si­ven Abwehroperationen der Intro­jek­tion der Gewalt und der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor sich selbst dadurch zu ret­ten ver­sucht, dass es die für es lebens­not­wen­dige Bezie­hung zu erhal­ten sucht, indem es sich selbst die Ursa­che der Gewalt, des Bösen und die Schuld dafür zuschreibt. Das ent­spricht Ferenczis (1933) For­mu­ lie­rung, die Gewalt sei nicht mehr außen, sie sei intrapsychisch. Das Kind könnte den­ken: »Vater ist ein lie­ben­der Vater, aber wenn er mich schlägt oder miss­braucht, werde ich es wohl ver­dient haben, in mir wird wohl das Schlechte lie­gen. Des­halb bin ich schuld, nicht Vater, der ja auch alle Schuld von sich weist.« Die Tra­gik liegt darin, dass das Kind sich ein genü­gend gutes Bild von den Eltern erhal­ten muss, koste es, was es wolle, auch um den Preis der Selbst­auf­gabe. Eine Pati­en­tin, Bet­tina B., berich­tet, dass der Vater sich in der frü­hen Kind­heit kaum geküm­mert habe, emo­tio­nal und räum­lich eigent­lich immer abwe­send gewe­ sen sei. An ihrem ach­ten Geburts­tag hatte er ver­spro­chen, sie von der Schule abzu­ ho­len, um ihr etwas Schö­nes zu kau­fen. Natür­lich hatte er vor dem Geburts­tag nicht daran gedacht, recht­zei­tig ein Geschenk zu besor­gen. Sie war­tete und war­tete vor der Schule, eine Stunde, und er kam nicht. Sie weinte nicht, son­dern ging allein nach Hause und dachte, er sei doch der beste Vater und sie sei seine Lieb­lings­ toch­ter, denn er habe ihr doch was Schö­nes kau­fen wol­len, sicher sei ihm etwas



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dazwi­schen­gekom­men. Die Pati­en­tin sagt, sie habe ihn näm­lich als guten Vater gebraucht, »als Aus­gleich gegen meine uner­träg­li­che Mut­ter«, von der sie sich abge­lehnt und ver­folgt fühlte.

Wie wir aus der Traumaforschung wis­ sen, fin­ den bei Fol­ter und KZ-Haft, Ver­ge­wal­ti­gung und Ent­füh­rung als Bei­spie­len von Extrem­ traumatisierung regres­ sive Pro­ zesse auch bei erwach­ se­ nen Opfern statt, die frühe For­men der Objektbeziehung, ver­bun­den mit tota­ler Abhän­gig­keit, ent­ste­hen las­sen, sodass auch das erwach­sene Opfer tra­gischer­weise im Täter die allei­nige Quelle noch mög­li­cher nar­ziss­ ti­scher Zufuhr erlebt (vgl. Eissler 1968). Durch die Unter­wer­fung wird das Opfer »zu einem mecha­nisch-gehor­sa­men Wesen« (Ferenczi 1933, S. 309); hier ist der Grund­ge­danke gelegt für das »Abschal­ ten« der Affekte des Opfers wäh­rend des Miss­brauchs und spä­ter als Cha­rak­ter­zug (vgl. Hirsch 1987). Shengold (1989a) spricht von »ver­ti­ka­ler Spal­tung«, einem Neben­ein­an­der von Den­ken und Wahr­ neh­mung im Ich, um durch »Kompartmentierung das Uner­träg­li­che in Schach zu hal­ten«. Ferenczi nennt es »leben­dig-tot« (1933), bei Opfern extre­mer Trau­mata spricht man vom »Auto­ma­ti­sie­ren« (Krystal 1968, S. 31) bis hin zum Syn­drom der »Musel­män­ner« (S. 34). Intro­jek­tion und Iden­ti­fi­ka­tion wer­den weder von Freud noch von Ferenczi unter­schie­den: »Durch die Iden­ti­fi­zie­rung, sagen wir Intro­ jek­tion des Angrei­fers …« (Ferenczi 1933, S.308). Über­haupt ist in die­sem Bereich eine Ver­wir­rung der Nomen­kla­tur zu bekla­gen und zu bewäl­ti­gen. Torok (1968, S. 500) zufolge muss man ein »begriff­li­ches Gelände vol­ler Fal­len …«, das der »Intro­jek­tion« durch­que­ren. Müller-Pozzi (1988, S. 76) spricht im sel­ben Zusam­men­hang von einem »Urwald der Begriffe«. Um den Internalisierungsvorgang, der einen unassimilierten fremdkörperartigen Nie­der­schlag einer Objektbeziehung im Sub­jekt hin­ter­lässt, zu bezeich­nen, sind sowohl »Inkor­po­ra­ tion«, »Intro­jek­tion« als auch »unbe­wußte Iden­ti­fi­ka­tion« ver­wen­det wor­den. Searles (1958) gebraucht alle drei Begriffe in einem Atem­ zug, um sich dann doch für Intro­jek­tion zu ent­schei­den (Searles 1961, S. 206). Abraham und Torok (1975; 1976; Abraham 1978; Torok 1968) bezie­hen sich auf die ursprüng­li­che Defi­ni­tion Ferenczis (1909) der Intro­jek­tion, die die­ser als Auf­nahme von Objektaspekten ins Ich, als Objekt- und Über­tra­gungs­be­zie­hung, die der Ich-Berei­che­rung dient, ver­stand. Sie zie­hen es des­halb vor, die Auf­nahme des Frem­ den mit Inkor­po­ra­tion zu bezeich­nen (auch Schafer 1972, S. 792), wäh­rend für sie gerade – Ferenczi (1909) fol­gend – Intro­jek­tion ein assi­mi­lie­ren­der Pro­zess ist, der das von außen Auf­ge­nom­mene modi­fi­ ziert und das Ich berei­chert. Außer­dem bezeich­nen sie den Pro­zess der Auf­nahme des Frem­den als Iden­ti­fi­ka­tion, als »kryp­tische Iden­ti­fi­ka­

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tion«, da sein Ort eine Gruft, eine Krypta ist. Faimberg (1987, S. 125) spricht von »ent­frem­de­ter, abge­spal­te­ner Iden­ti­fi­ka­tion«. Kü­chenhoff (1991, S. 31) zufolge ist die Inkor­po­ra­tion die umfas­send­ste und kon­kre­te­ste Form der Internalisierung, das Objekt wird als Gan­zes ver­ ein­nahmt, es wird dann vom Sub­jekt »ver­kör­pert«. Torok (1968) weist dar­auf hin, dass die sich spä­ter zuneh­mend dif­fe­ren­zie­ren­den For­men der Internalisierung in der frü­hen ora­len Phase noch weit­ge­hend ungetrennt zusam­men­fal­len. Ich selbst lehne mich an die Begriffe Sandlers (1987b, S. 52) an, der Iden­ti­fi­ka­tion und Intro­jek­tion fol­gen­der­ma­ßen dif­fe­ren­ziert:

»Iden­ti­fi­ka­tion ist ein Pro­zeß, in dem auf der Basis eines Aspekts einer Objekt­re­ prä­sen­tanz eine Ver­än­de­rung in der Selbst-Reprä­sen­tanz statt­fin­det. Man könnte in gewis­ser Weise sagen, daß ein Objekt in das Selbst hin­ein­genom­men wor­den ist. Intro­jek­tion ist sozu­sa­gen das Auf­rich­ten eines inne­ren Beglei­ters, mit dem man im Dia­log ste­hen kann, der aber nicht ein Teil der Selbst-Reprä­sen­ta­tion ist. Das Intro­jekt ist so eher wie ein Bei­fah­rer, jemand, der einem ent­we­der freund­lich oder unfreund­lich erzählt, was man tun soll, und mit dem man einen unbe­wuß­ten Aus­tausch haben kann, genau wie er bewußt auch mit einem rea­len äuße­ren Objekt statt­fin­den kann.«

Wäh­rend also das Intro­jekt von innen auf das Selbst ein­wirkt, ist durch Iden­ti­fi­ka­tion bereits eine Ver­än­de­rung des Selbst von­stat­ten gegan­ gen. Der­ar­tige Selbst-Objekt-Vor­stel­lun­gen haben in der bri­ti­schen Psy­cho­ana­lyse eine lange Tra­di­tion, Heimann (1942; vgl. M. Klein 1946, S. 143, Fuß­note) hat schon früh von Zustän­den gespro­chen, in denen innere Objekte wie Fremd­kör­per wirk­sam wur­den, ein­ge­bet­tet in das Selbst. Hinshelwood (1996, S. 534) ergänzt, dass sie sozu­sa­ gen als »Nicht-Ich«, trotz­dem aber im Selbst loka­li­siert erlebt wer­den. Ähn­lich wie Sandler defi­niert Schafer (1968, S. 72) das Intro­jekt als »innere Reprä­sen­tanz, mit der man sich in einer kon­ti­nu­ier­li­chen oder inter­mit­tie­ren­den dyna­mi­schen Bezie­hung fühlt. Das Sub­jekt  … erfährt es als inner­halb der Gren­zen sei­nes Kör­pers oder sei­ner Psy­che oder bei­der exi­stie­rend, jedoch nicht als einen Aspekt oder einen Aus­ druck sei­nes sub­jek­ti­ven Selbst.« Auch Stolorow und Stolorow (1989) ver­wen­den den Begriff ent­spre­chend Sandlers Defi­ni­tion. Viel­leicht sollte man hier anmer­ken, dass Intro­jek­tion nicht not­wen­ dig zur Bil­dung eines Introjekts füh­ren muss. Wie Milrod (1988) aus­ führt, hatte Freud (1917e) als Vor­aus­set­zung der Intro­jektbil­dung den völ­li­gen Abzug der Objektbesetzung vor­aus­ge­setzt, wäh­rend Intro­jek­ tion ein ubi­qui­tä­rer Internalisierungsvorgang sei; »die nor­ma­len Iden­ ti­fi­ka­tio­nen, die ein auf­wach­sen­des Kind vor­nimmt, das den Mecha­nis­ mus der Intro­jek­tion ver­wen­det, sind keine Intro­jekte« (Milrod 1988, S. 92). Zwar spricht Freud auch bei der Melan­cho­lie von »Iden­ti­fi­ka­ tion«, aber es han­dele sich hier offen­bar um eine beson­dere Form im



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Gegen­satz zur Hyste­rie, bei der die Objektbesetzung erhal­ten bleibt: »Der melan­cho­li­sche Typ der ›Iden­ti­fi­ka­tion‹ ist über­haupt keine reife Iden­ti­fi­ka­tion. Viel­mehr bleibt das Intro­jekt abge­son­dert, nicht assi­mi­ liert oder zum Teil der Selbst­re­prä­sen­ta­tion gemacht« (Milrod 1988, S. 92). Ein Intro­jekt ist das Resul­tat einer Intro­jek­tion nur dann, wenn die Beset­zung des Objekts auf­ge­ho­ben ist, im Sinne von Freuds Arbeit bei unver­ar­bei­te­tem Ver­lust, aber auch, wie ich hin­zu­fü­gen möchte, bei trau­ma­ti­schen Ein­wir­kun­gen durch das Objekt, mit der Folge des Aufgebens der Bezie­hung, an der fest­zu­hal­ten uner­träg­lich wäre und die ja auch, wor­auf Sabourin (1985) hin­weist, vom Täter durch die Tat längst auf­ge­kün­digt wor­den ist. Das Ein­wir­ken der trau­ma­ti­schen Gewalt auf das Ich schwächt direkt seine Ich-Funk­tio­nen, zerstört gute Objektbilder auch retrograd, über­schwemmt es mit Angst, die mas­siv abge­wehrt wer­den muss durch Aus­stei­gen aus der Rea­li­tät, »Abschal­ten«, Dis­so­zia­tion. Ver­schie­dene For­men von nicht bewäl­tig­ba­ren Trau­mata sind denk­bar: 1. Kör­per­li­che und psy­chi­sche Gewalt, deren Pro­to­ty­pen Kin­des­miss­ hand­lung und Fol­ter sind. Die Unmög­lich­keit der Inte­gra­tion liegt mei­nes Erach­tens in dem abso­lu­ten Aus­ge­lie­fert­sein, ver­bun­den mit der syste­ma­ti­schen Zer­stö­rung der Ich-Iden­ti­tät (»Seelenmord«, Shengold 1989a), die das Opfer zwingt, sich den Täter als ein­zig denk­ba­res Lie­bes­ob­jekt zu erhal­ten, um einer psy­chi­schen Ver­nich­ tung ein letz­tes Mit­tel ent­ge­gen­zu­hal­ten. Die Fol­gen sind die Wir­ kun­gen der Intro­jekte, lebens­lange Somatisierungen, Alb­träume, end­lose Depres­sio­nen, Angstreaktion, nicht zuletzt Schuld­ge­fühl. 2. Sexu­elle Gewalt, ins­be­son­dere inner­halb von Fami­lien­bezie­hun­gen ist gerade um so weni­ger inte­grier­bar, je größer die Kon­fu­sion über den Begriff der Liebe ist, kind­li­che Liebe bzw. Erwachsenensexualität, und je weni­ger das Kind einen Drit­ten zur Ver­fü­gung hat, der es über die Qua­li­tä­ten des­sen, was geschieht, im Sinne der Rea­li­täts­ prü­fung auf­klä­ren kann (Hirsch 1987). 3. Aber auch Ver­lu­ste, die nicht genü­gend betrau­ert wer­den konn­ten, wie der Tod eines Eltern­teils, eines Geschwi­sters, auch der Ver­lust von Hei­mat durch Ver­trei­bung oder Migra­tion bewir­ken zer­stö­re­ ri­sche Intro­jekte. Die Trauer­arbeit ist aus­ge­blie­ben, die den Trau­ ern­den durch schritt­wei­ses Überbesetzen und Wiedererinnern der Anteile des Objekts und der Bezie­hung zu ihm, ver­bun­den mit dem affek­ti­ven Aus­druck der Trauer, von den Bin­dun­gen an das ver­lo­ rene Objekt befreit (Freud 1917e). 4. Der Man­gel an emo­tio­na­ler Prä­senz der Pfle­ge­per­son kann ein Intro­jekt her­vor­ru­fen, es ist im Bild der »toten Mut­ter« von Green

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(1983) be­schrie­ben wor­den; auch das »kumu­la­tive Trauma« (Khan 1963) ge­hört hier­her. 5. Unbe­wäl­tigte Schuld ist etwas, das das Indi­vi­duum ver­folgt, wie man eher aus der Mytho­lo­gie weiß als aus der Psy­cho­the­ra­pie, denn ein Täter wird sich nicht so schnell einer The­ra­pie unter­zie­hen. Aber das auf­grund der persistierenden Schuld ent­stan­dene Intro­jekt treibt den Täter zum Ort der Tat zurück, er fin­det keine Ruhe, zer­stört sein Leben. Unbe­wäl­tigte Schuld als Ursa­che von Introjektbildung lei­tet zu einer wei­te­ren Dimen­sion der Wir­kun­gen unbe­wäl­tig­ter Trau­ mata hin: Das Phä­no­men der transgenerationalen Wei­ter­gabe des Trau­mas auf die fol­gen­den Gene­ra­tio­nen, »bis ins dritte und vierte Glied« (vgl. »ent­lehn­tes Schuld­ge­fühl«, S. 92, und Teil II, S. 243). Das Intro­jekt kann nicht auf­ge­ge­ben wer­den, weil mit sei­ner Auf­gabe die Aner­ken­nung und die Wie­der­be­le­bung des unerträgli­chen Trau­ mas ver­bun­den wäre. Immer geht es auch darum, die Bezie­hung zu den lebens­not­wen­dig gebrauch­ten Bezugs­per­so­nen auf­recht­zu­er­hal­ ten, und sei deren Qua­li­tät auch noch so illu­sio­när: der Täter als lie­ ben­der Vater, der Fol­te­rer als ersehn­ter Ret­ter. Ande­rer­seits führt das Dis­so­zi­ie­ren des Trau­mas, das not­wen­dig ist, um nicht von ihm über­ schwemmt zu wer­den, um eine befürch­tete psy­chi­sche Des­in­te­gra­tion zu ver­mei­den, dazu, dass es psy­chisch nicht reprä­sen­tiert ist (Grubrich-Simitis 1979) und ein Fremd­kör­per blei­ben muss, weil seine Wie­der­er­weckung eben die uner­träg­li­chen Affekte her­vor­ru­fen würde, die wäh­rend der Trau­ma­ti­sie­rung bereits abge­spal­ten wer­den muss­ ten. Die Phantasiebildung ist geschwächt oder zer­stört (Bergmann 1995, S. 344 f.), Spra­che und Meta­pher (Grubrich-Simitis 1995) ste­ hen nicht zur Ver­fü­gung, des­halb wird das trau­ma­ti­sche Intro­jekt in die Rea­li­tät hin­ein agiert im Sinne der Kon­kre­ti­sie­rung (Bergmann 1995), außer­dem ver­schafft das Han­deln die Illu­sion eige­ner Macht (Bergmann 1995).

Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Intro­jekt Das unassimilierte Intro­jekt hält stän­dig eine Schuldgefühlsspannung auf­recht. Ein Auf­neh­men des Introjekts in das Selbst würde die Span­ nung ver­rin­gern, aber das abneh­mende Schuld­ge­fühl durch anwach­ sende Schuld erset­zen (vgl. Teil III, S. 277), denn die Identifikation mit einem Gewalt-Introjekt bedeutet die Nachahmung des Täters, das ursprüngliche Opfer macht nun – schuldhaft – wiederum Schwächere



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zu Opfern. Wie bei der Über-Ich-Bil­dung kann eine Assi­mi­la­tion des introjektiv Auf­ge­nom­me­nen erfol­gen. Heimann (1942) hat den Mecha­ nis­mus der Assi­mi­lie­rung von inne­ren Objek­ten ein­ge­führt, der für die Aus­bil­dung von Ich-Funk­tio­nen und für die Erlan­gung von Unab­hän­ gig­keit wich­tig sei. Die­ser Vor­gang sollte als Iden­ti­fi­ka­tion bezeich­net wer­den. Das Über-Ich wird so zu einem Teil des Ich oder Selbst, und das­selbe gilt für alle Aspekte eines Objekts, die in einer Objektbeziehung nach introjektiver Auf­nahme durch eine identifikatorische Assi­ mi­la­tion zu einer Berei­che­rung, einer Ich-Erwei­te­rung füh­ren. Erst die Iden­ti­fi­ka­tion also erwei­tert das Ich (s. o. Sandlers [1987b] Defi­ni­ tion), das Intro­jekt dage­gen bleibt als etwas Abge­spal­te­nes im Selbst zurück, wenn Assi­mi­la­tion bzw. Modi­fi­ka­tion oder Tren­nung von ihm nicht mög­lich sind. In der wei­te­ren Ent­wick­lung, ich denke beson­ders an die Ado­les­zenz, muss es auch mög­lich sein, Objektaspekte – wie bei­spiels­weise Wert­vor­stel­lun­gen der Eltern – nicht nur zu assi­mi­lie­ ren, son­dern sich auch von ihnen zu lösen oder sie zu modi­fi­zie­ren. Das Intro­jekt als fremdkörperartiges Gebilde, Abkömmling uner­ träg­li­cher Gewalt oder unbetrauerter Ver­lu­ste, erzeugt wie ein feind­li­ ches Über-Ich Selbstwerterniedrigung, Straf­be­dürf­nis, Aggres­sion und Schuld­ge­fühl. Man kann Freuds Bild der Span­nung zwi­schen Über-Ich und Ich durch­aus über­tra­gen. Intro­jekte ver­ur­sa­chen immer mas­si­ves Schuld­ge­fühl. Eine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Intro­jekt wird das Schuld­ ge­fühl, die Span­nung, ver­min­dern und das Ich zuneh­mend zur Ruhe kom­men las­sen. Aus­ge­hend von Freud (1917e), der eine Spal­tung zwi­schen Ich und kri­ti­schem Ich-Anteil wie zwi­schen zwei Objek­ten beschrieb, hatte auch Radó (1927) eine Unter­wer­fung des melan­cho­ li­schen Ich unter das Über-Ich wie unter eine andere Per­son kon­zi­piert (s. o. Teil II, S. 85 f). Die Unter­wer­fung beruht auf einer Iden­ti­fi­ka­ tion mit dem Über-Ich. Sandler (1960, S. 736; Her­vor­he­bung ori­gi­ nal) nennt sie Über-Ich-Iden­ti­fi­ka­tion, die er als »eine Ver­bin­dung von Intro­jek­tion einer­seits und einer ent­spre­chen­den ›Ich‹-Iden­ti­fi­zie­rung ande­rer­seits« ansieht.

Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor Da das Intro­jekt einem ursprüng­lich äuße­ren Angrei­fer ent­spricht, liegt es nahe, den Begriff der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor zu unter­ su­chen, der aber zwei ganz ver­schie­dene Kon­zepte benennt, die sich ein­mal auf Anna Freud, zum ande­ren auf Ferenczi zurück­füh­ren las­sen. Die Ein­füh­rung die­ses in Zei­ten wach­sen­den Inter­es­ses für eine

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psy­cho­ana­ly­ti­sche Traumatologie hoch­ak­tu­el­len Ter­mi­nus wird meist Anna Freud (1936) zuge­schrie­ben (z. B. Heigl-Evers 1965; Moeller 1977; Rohde-Dachser 1979; Grubrich-Simitis 1979; Sandler 1983; Blum 1987), die ihn in »Das Ich und die Abwehr­mecha­nis­men« als Form der Bewäl­ti­gung der Angst von Kin­dern vor Auto­ritäts­per­ sonen beschrie­ben hat. So ver­stan­den lässt er sich durch­aus bereits in Freuds Werk auf­spü­ren: In »Jen­seits des Lustprinzips« (1920g) führt Freud ein Bei­spiel für die Wen­dung von der Pas­si­vi­tät zur Akti­vi­ tät an: Nach einem unan­ge­neh­men, auch erschrecken­den Arzt­besuch würde ein Kind die­sen bestimmt zum Gegen­stand des näch­sten Spiels mit dem Spiel­ge­fähr­ten machen. »Indem das Kind aus der Pas­si­vi­ tät des Erle­bens in die Akti­vi­tät des Spie­lens über­geht, fügt es einem Spiel­ge­fähr­ten das Unan­ge­nehme zu, das ihm selbst wider­fah­ren war, und rächt sich so an der Per­son die­ses Stell­ver­tre­ters« (S. 15). Auch hier setzt sich das Opfer an die Stelle des Täters, und das Moment der Rache spielt auch eine Rolle. Auf die­ses kleine Bei­spiel nimmt auch Anna Freud (1936, S. 296) Bezug. In der Kon­zep­tion der Über-Ich-Bil­dung durch Freud (z. B. 1930a, S. 486) spielt die Iden­ti­fi­zie­rung eine große Rolle, nicht gerade mit einem »Angrei­fer« viel­leicht, aber doch mit dem durch die Erzie­hung als ein­schrän­kend und stra­fend erleb­ten Eltern­teil, Iden­ti­fi­zie­rung als wich­ti­ges Moment, seine Liebe, also die Bezie­hung zu ihm, zu erhal­ ten (vgl. S. 76). 1930 hat Landauer in einem Vor­trag die Eltern, die zu einem recht stren­gen Über-Ich eines Pati­en­ten bei­ge­tra­gen haben, doch ziem­lich dra­stisch als traumatisierend beschrie­ben und konnte des­halb – erst­mals, soweit ich weiß – den Begriff der »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Bedroher« (Landauer 1930b, S. 197) for­mu­lie­ren als Aus­ weg aus der Ambi­va­lenz des Kin­des dem stren­gen, aber doch gelieb­ten Vater gegen­über. Vor Anna Freud hat dann Ferenczi 1932 in sei­nem in die­sem Buch zen­tral gewür­dig­ten Vor­trag »Sprach­ver­wir­rung zwi­ schen den Erwach­se­nen und dem Kind« (Ferenczi 1933) die Abwehr­ vor­gänge der Internalisierung rea­ler trau­ma­ti­scher Gewalt ein­drück­lich beschrie­ben: »… sich selbst ganz ver­ges­send sich mit dem Angrei­fer voll­auf zu iden­ti­fi­zie­ren« (S. 308), die Opfer rea­gie­ren »mit ängst­li­cher Iden­ti­fi­zie­rung und Intro­jek­tion des Bedro­hen­den oder Angrei­fen­den›« (S. 309; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Anna Freud ver­öf­fent­lichte drei Jahre spä­ter ein ganz ande­res Ver­ ständ­nis der »Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Angrei­fer«, womit sie die­sen Mecha­nis­mus den bekann­ten Abwehr­for­men hin­zu­fügte (Sandler 1983, S. 587). Ferenczi wurde nicht zitiert, sodass man die umfang­ rei­che Liste der psy­cho­ana­ly­ti­schen Auto­ren, die Ferenczi »wie einen Stein­bruch« ver­wen­de­ten, aber nicht zitier­ten (Cremerius 1983), um



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den Namen Anna Freuds ver­län­gern muss. Dass sie ihn nicht berück­ sich­tigt hat, kann mei­nes Erach­tens nur daran lie­gen, dass gerade diese seine letzte Arbeit nicht mehr als »psy­cho­ana­ly­tisch« ange­se­hen wurde. Anna Freud (1936) beginnt mit dem Bei­spiel eines grimassierenden Jun­gen, der den Tadel des Leh­rers in den Griff bekom­men will, indem er des­sen ärger­li­chen Gesichts­aus­druck unbe­wusst nach­ahmt, ähn­lich wie ein Kind mit Gespensterangst sich vor­stellt, selbst ein Gespenst zu sein, um seine Angst zu ver­lie­ren (das zweite Bei­spiel A. Freuds). Hier liegt eine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Gegen­über, wel­ches angrei­fen könnte, vor; in einem wei­te­ren Bei­spiel ist es die Iden­ti­fi­ka­ tion nicht mit der Per­son, son­dern mit deren Aggres­sion: Ein Knabe rea­giert auf einen Zahn­arzt­besuch mit dem blin­den Zer­stö­ren von Bind­fä­den und Blei­stif­ten; der­selbe Junge legt nach einem Zusam­men­ prall mit dem Leh­rer im Sport­unter­richt Spiel­zeug­waf­fen und -rüstung an, um sich mit die­sen männ­li­chen Attri­bu­ten vor ähn­lichen Unfäl­len zu schüt­zen. Das Gemein­same die­ser Fälle liegt in der Wen­dung von der Pas­si­vi­tät zur Akti­vi­tät: »Mit der Dar­stel­lung des Angrei­fers, der Über­nahme sei­ner Attri­bute oder sei­ner Aggres­sion ver­wan­delt das Kind sich gleich­zei­tig aus dem Bedroh­ten in den Bedroher« (A. Freud 1936, S. 296). Die Aggres­sion, der die bis­her von Anna Freud erwähn­ten Kin­der aus­ge­setzt waren, ist ziem­lich gering­fü­gig: der Tadel des Leh­rers, ein phan­ta­sier­tes Gespenst, der Zahn­arzt und ein klei­ner Unfall mit einer Auto­ri­täts­per­son. Das Mit­tel der Bewäl­ti­gung der resul­tie­ren­den Angst oder Krän­kung ist die Wen­dung der erlit­te­nen und dann identifikatorisch aus­ge­leb­ten Aggres­sion nach außen gegen den Angrei­fer zurück. In zwei wei­te­ren Bei­spie­len ver­wan­deln die Kinderpatienten die Angst vor Strafe durch Erwach­sene in Aggres­sion: Der eine hat beim Spielen die Zeit vergessen, er kommt viel zu spät nach Hause und ver­ an­stal­tet eine wilde Klingelei an der Haus­tür; als das Haus­mäd­chen öff­net, über­häuft er sie mit Vor­wür­fen, sie habe ihn war­ten las­sen. Der andere denkt an masturbatorische Unter­neh­mun­gen, und aus Angst vor Bestra­fung beginnt er, Mut­ter und Groß­mut­ter zu schla­gen und »attackiert die Ana­ly­ti­ke­rin als brül­len­der Löwe« (A. Freud 1936, S. 298), schließ­lich fängt er an, mit Mes­sern zu han­tie­ren. Anna Freud lässt es nicht ganz klar wer­den, wie groß die reale Gefahr der Bestra­fung für die Ona­nie eigent­lich ist: »Sei­nen Erfah­run­gen nach wer­den die Erwach­se­nen böse, wenn sie sol­che Hand­ lun­gen bei einem Kind ent­decken. Man wird ange­brüllt, mit Ohr­fei­gen ein­ge­ schüch­tert, mit der Rute geschla­gen; viel­leicht wird einem auch etwas mit einem Mes­ser abge­schnit­ten. Die Akti­vi­tät mit­tels Gebrüll, Rute und Mes­ser dient also der Dar­stel­lung und Vor­weg­nahme sei­ner Befürch­tun­gen« (S. 298).

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Ange­brüllt-Wer­den und einen Klaps mag er viel­leicht real erfah­ren haben, aber das Abschnei­den … Es geht jeden­falls auch hier um den erwar­te­ten Tadel oder die Bestra­fung, die, wie Anna Freud aus­führt, introjiziert und dann »gegen die­sel­ben Per­so­nen sei­ner Außen­welt« (S. 298) zurückgewendet wer­den. Und zwar des­halb, weil in einer Art Zwi­schen­stufe der Über-Ich-Bil­dung zwar begrif­fen wird, dass etwas Tadelns­wer­tes geschah, die Fähig­keit zur Selbst­kri­tik bei den Kin­dern aber noch nicht vor­han­den ist, sodass »mit Hilfe eines neuen Abwehrvorgangs der aktive Angriff auf die Außen­welt« (S. 299) not­wen­dig wird. In den letz­ten drei Bei­spie­len sind die attackier­ten Erwach­se­nen nun gar nicht mehr in irgend­einer Weise Aggres­so­ren; die Jugend­li­chen rea­gie­ren auf eine phan­ta­sierte Kri­tik der Erwach­se­nen mit der aggres­ siv vor­ge­brach­ten pro­jek­ti­ven Zuschrei­bung eben der Eigen­schaf­ten, die eigent­lich die ihren sind, wer­fen der Mut­ter also Neu­gierde vor, haben dabei jedoch selbst voy­eu­ri­stische Gelü­ste, oder der Ana­ly­ti­ ke­rin Geheim­nis­tue­rei, wäh­rend sie tat­säch­lich selbst wich­tige Dinge her­aus­hal­ten. Nun stel­len sie sich die Kri­tik der Erwach­se­nen vor, mit der sie sich iden­ti­fi­zie­ren; da aber noch kein ent­wickel­tes Über-Ich vor­ han­den ist, ist das Ich »into­le­rant gegen die Außen­welt, ehe es streng gegen sich sel­ber wird«, es ist ein »Vor­läu­fer und Ersatz des Schuld­ge­ fühls« (A. Freud 1936, S. 301). »Die Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Angrei­ fer ergänzt sich durch ein ande­res Abwehr­mit­tel, durch die Pro­jek­tion der Schuld« (S. 301), der ganze Mecha­nis­mus setzt sich also aus zwei Kom­po­nen­ten zusam­men: Iden­ti­fi­ka­tion und Pro­jek­tion im Sinne der Schuld­zuwei­sung. Die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Angrei­fer dient Anna Freud zufolge eher der Regu­lie­rung der Kon­flikte mit den äuße­ren Objek­ten als der der Triebäußerungen. Sieht man sich das Ver­hal­ten der äuße­ren Objekte ein­mal an, so ist es so aggres­siv nicht, es han­delt sich eher um Befürch­tun­gen vor Strafe inner­halb eines unsi­che­ren Tastens, wie­weit aggres­sive und libi­di­nöse Regun­gen erlaubt sein wer­den. Denn wären die Erwach­se­nen wirk­li­che Aggres­so­ren, hätte das Kind wohl keine Chance, seine Aggres­sion der­art gegen diese zu rich­ten, es müsste eine ver­nich­tende Ant­wort fürch­ten. Anna Freud scheint mir eine Zwi­ schen­stufe, wie sie sagt, der Bil­dung eines durch­schnitt­li­chen ÜberIch zu beschrei­ben, es scheint sich um Kin­der zu han­deln, die »gute Bezie­hung[en]« (1936, S. 299) zu den Eltern haben und deren Stö­run­ gen besten­falls dem ent­spre­chen, was man Neu­rose nennt. Der Han­ delnde ist immer das Kind, das Ich tut etwas, die mäßige Aggres­sion der Erwach­se­nen ist reak­tiv, wenn nicht über­haupt nur befürch­tet. Bei Ferenczi geht es ganz anders um »tat­säch­li­che Ver­ge­wal­ti­



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gun­gen von Mäd­chen, die kaum dem Säug­lings­al­ter ent­wach­sen sind, ähn­liche Sexualakte erwach­se­ner Frauen mit Kna­ben, aber auch for­ cierte Sexualakte homo­se­xu­el­len Cha­rak­ters« (1933, S. 308). Dar­über hin­aus sind es »uner­träg­li­che Straf­maß­nah­men  …, die spie­le­ri­schen Vergehungen des Kin­des wer­den durch die lei­den­schaft­li­chen, oft wut­schnau­ben­den Strafsanktionen erst zur Rea­li­tät erho­ben« (S. 310), und der »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens«, das heißt die Einwirkungen chronischer, auch hypochondrischer Erkrankungen, von Depression und Suizidalität der Erwachsenen auf das Kind (vgl. Teil II, S. 187). Da die Kin­der not­ge­drun­gen, »um die ver­lo­rene Ruhe und die dazugehö­rige Zärt­lich­keit wie­der genie­ßen zu kön­nen« (Ferenczi 1933, S. 312), ver­su­chen, die Defi­zite und Kon­flikte der Fami­lie zu repa­rie­ren, »die Last aller ande­ren auf ihre zar­ten Schul­tern zu bür­den« (S. 312), kann »eine ihre Lei­den kla­gende Mut­ter … sich aus dem Kind eine lebens­ läng­li­che Pfle­ge­rin schaf­fen, die Eigen­inter­essen des Kin­des gar nicht berück­sich­ti­gend« (S. 312). Und Ferenczi nimmt das Rollenumkehrkonzept vor­weg, wenn er schreibt: »Die Angst vor den … gleich­sam ver­rück­ten Erwach­se­nen macht das Kind sozu­sa­gen zum Psych­ia­ ter« (S. 311). Es sind also in Ferenczis Kon­zep­tion der Iden­ti­fi­ka­ tion mit dem Aggres­sor unüber­seh­bar die Erwach­se­nen, die han­deln, und deren Aggres­sion im Ver­gleich zu den Ver­hält­nis­sen, die Anna Freud beschreibt, wahr­lich destruk­tiv sind. Ein Begriff, zwei völ­lig ver­schie­dene Wel­ten Beide Auto­ren spre­chen in ihren Auf­fas­sun­gen der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Angrei­fer von Kin­dern, die, mit Aggres­sion kon­fron­tiert, Mög­ lich­kei­ten der Bewäl­ti­gung ent­wickeln. Beide Auto­ren ver­wen­den die Begriffe Iden­ti­fi­ka­tion und Intro­jek­tion syn­onym, wie es der Ent­ wick­lungs­stand der psy­cho­ana­ly­ti­schen Theo­rie der 1930er Jahre, als Bezie­hungs- und Internalisierungsvorgänge noch nicht weiter dif­fe­ ren­ziert waren, nicht anders zuließ. Anna Freud (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290) sagt in den Semi­na­ren mit Sandler über ihr Buch 36 Jahre spä­ter: »Wir haben natür­lich die Ter­mini Iden­ti­fi­zie­rung und Intro­jek­tion völ­lig gleich­be­deu­tend ver­wen­det.« Damit hören die Gemein­sam­kei­ten aber schon auf. Der gravierendste Unter­schied scheint mir in der Qua­li­tät der Aggres­ sion bzw. der Art des Aggressors zu lie­gen. Bei Anna Freud ist es die von den Kin­dern befürch­tete Kri­tik, der Tadel (viel­leicht auch ein­mal wirk­lich Schläge) oder aber die phan­ta­sierte Kastra­tion auf­grund eige­ nen schuld­haf­ten Fehl­ver­hal­tens, das sich aus aggres­si­ven und sexu­ el­len Trieb­re­gun­gen (Mastur­ba­tion) her­lei­tet. Die von Anna Freud zuerst geschil­der­ten drei Bei­spiele lie­gen noch etwas anders, hier geht

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die Aggres­sion von den Erwach­se­nen aus, der Leh­rer oder der Zahn­ arzt (das Gespenst klam­mern wir hier ein­mal aus), aber das Maß der Aggres­sion kann hier als harm­los gel­ten. Die Aggres­sion dage­gen, die Ferenczi meint, ist die einer rea­len mas­si­ven Trau­ma­ti­sie­rung inner­ halb einer lebens­not­wen­di­gen Objektbeziehung, die diese zu zer­stö­ ren droht. Wegen der unter­schied­li­chen Qua­li­tät der Aggres­sion sind jeweils völ­lig ver­schie­dene Abwehr­maß­nah­men erfor­der­lich oder auch nur mög­lich. Weil die Aggres­sion, die ja zum Teil ledig­lich befürch­ tet ist, bei Anna Freuds Kon­zept ein der­art gerin­ges Aus­maß hat, kann die Iden­ti­fi­zie­rung darin beste­hen, dass das Kind sie als berech­tigt aner­kennt (»Iden­ti­fi­zie­rung mit der erwar­te­ten Kri­tik«, Sandler mit A. Freud 1985, S. 293), sie nun über­nimmt, sei es im Spiel oder im Agie­ren, und selbst so offen aggres­siv ist, wie es das vom »Angrei­fer« erwar­tet. Das kann es sich lei­sten, gefähr­det es doch nicht die offen­bar durch­schnitt­lich guten Bezie­hun­gen, die sogar dann erhal­ten blei­ben, wenn die Aggres­sion nun gegen die Bezugs­per­so­nen selbst gerich­tet wird. Im Gegen­teil, das Ich des Kin­des legt die Ursa­che, die Schuld für seine Impulse gerade in die Auto­ri­täts­per­son, deren Kri­tik es fürch­tet. Anna Freud (1936, S. 301 f.) spricht tat­säch­lich von »Selbst­wahr­neh­ mung der eige­nen Schuld« und »Wahr­neh­mung des eige­nen Ver­ge­ hens«. Die »Schuld«, auch Ver­ant­wor­tung, wird erst identifikatorisch aner­kannt, in einem zwei­ten Schritt aber projektiv nach außen gewen­ det. Sandler for­mu­liert im Semi­nar mit Anna Freud: »Aber Pro­jek­tion von Schuld ist nicht die Pro­jek­tion eines Gefühls …, son­dern viel­mehr eine Exter­nali­sierung von Ver­ant­wort­lich­keit. Was da geschieht, ist keine Pro­jek­tion von schlim­men Schuld­ge­füh­len, son­dern sie wer­den besei­tigt, indem die Ver­ant­wor­tung dafür externalisiert wird.«

Durch die Pro­jek­tion auf den ange­nom­me­nen Aggres­sor fin­det nun ein Rol­len­tausch statt: Das Kind ver­wan­delt sich »aus dem Bedroh­ten in den Bedroher« (A. Freud 1936, S. 296). Das traumatisierte Kind in Ferenczis Kon­zept dage­gen bleibt pas­ siv, es bleibt Opfer und hat eben keine Mög­lich­keit der offen aggres­ si­ven Abwehr: »Die Kin­der füh­len sich kör­per­lich und mora­lisch hilf­ los, ihre Per­sön­lich­keit ist noch zu wenig kon­so­li­diert, um auch nur in Gedan­ken pro­te­stie­ren zu kön­nen, die über­wäl­ti­gende Kraft und Auto­ ri­tät des Erwach­se­nen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne« (Ferenczi 1933, S. 308). Und das Aus­maß der Gewalt lässt keine offene Aggres­sion zu. For­men der Iden­ti­fi­ka­tion Die Qua­li­tä­ten des Begriffs Iden­ti­fi­ka­tion oder Iden­ti­fi­zie­rung sind bei den bei­den Auto­ren völ­lig ver­schie­den. Ferenczi beschreibt einen



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Vor­gang der gewalt­sa­men Ich-Gren­zen-Über­schrei­tung, zu dem heute der Begriff der Iden­ti­fi­ka­tion nicht mehr passt. Viel­mehr muss man von Intro­jek­tion der Gewalt, von In-sich-Auf­neh­men, und zwar nach ihrer gewalt­sa­men Implan­ta­tion von außen spre­chen. Nach dem Kon­zept Ferenczis gelangt also die Aggres­sion des Täters in das Selbst hin­ein, wäh­rend es Anna Freud zufolge gerade nicht die Aggres­sion der Bezie­hungs­per­so­nen ist: Sandler klärt im Semi­nar mit Anna Freud spä­ter: »Ich möchte gerne klar­ge­stellt haben, daß es nicht die elter­li­che Aggres­sion als sol­che ist, die introjiziert wird« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290). Und noch etwas wird Ferenczi zufolge introjiziert: Die Schuld des Täters wird über­nom­ men; Ferenczi spricht (1933, S. 309) von »Intro­jek­tion des Schuld­ge­ fühls des Erwach­se­nen«. Dadurch wird die­ser ent­la­stet, eine Bezie­hung zu ihm ist weiter mög­lich. Bei Anna Freud dage­gen ist es das Kind, wel­ches seine Schuld (sofern man über­haupt davon spre­chen kann; bes­ser wäre hier Schuld­ge­fühl) dem »Aggres­sor« zuschiebt, wie wir gese­hen haben. Bei Ferenczi ist es umge­kehrt; Shengold (1989a, S. 194), ein Autor, der im Geist Ferenczis denkt, for­mu­liert: »Der Seelenmörder schiebt dem Kind die Schuld zu.« Das Kind ist pri­mär unschul­dig, anders als bei Anna Freud, bei der die Triebimpulse des Kin­des allzu leicht mit Schuld, nicht ein­mal nur mit Schuld­ge­fühl, in Ver­bin­dung gebracht wer­den. Wäh­rend bei Anna Freud die Iden­ti­fi­ka­tion, noch dazu gefolgt von der Pro­jek­tion unbe­que­mer, stö­ren­der Inhalte nach außen, eine Ich-Sta­ bi­li­sie­rung bewirkt, kann man sagen, dass die Trau­ma­ti­sie­rung ent­spre­ chend Ferenczis Kon­zept eine Bedro­hung der Ich-Kohä­renz bedeu­tet, was ich aus Ferenczis Aus­druck »sich selbst ganz ver­ges­send« (1933, S. 308) ableite. Shengold (1979; 1989a) hat als Wesen des »Seelenmords«, um den es Ferenczi in der Tat gegan­gen ist, den Angriff auf das zen­trale Iden­ti­täts­ge­fühl, die pri­märe Iden­ti­tät, genannt. Wesent­ lich ist wei­ter­hin, dass das Opfer anneh­men muss, dass der Täter nicht regi­striert (Shengold 1979) – im Sinne von: nicht wahrhaben will oder kann –, was geschieht; das hat Ferenczi in dem Bild der »Sprach­ ver­wir­rung« über die bei­den Begriffe der Liebe aus­ge­drückt. Iden­ti­fi­zie­rung bezeich­net bei Anna Freud eher eine Aner­ken­ nung und nach­ah­mende Über­nahme der befürch­te­ten Aggres­sion des Erwach­se­nen, wie Sandler (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290) fest­stellt. Es ist eine sekun­däre Iden­ti­fi­zie­rung mit dem äuße­ren Objekt, ein Vor­läu­fer des Über-Ich (A. Freud 1936, S. 298; Sandler mit A. Freud 1985, S. 292) und damit eine Ich-Erwei­te­rung in einem sta­bi­li­ sie­ren­den Sinne. Bei Ferenczi dage­gen hat die Iden­ti­fi­ka­tion, die auf die trau­ma­ti­sche Implan­ta­tion und die Intro­jek­tion der Gewalt folgt,

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den Cha­rak­ter der Ich-Ver­än­de­rung, der Ich-Schwä­chung. In sei­nem »Kli­ni­schen Tage­buch«, das in den Mona­ten vor dem Wies­ba­de­ner Kon­gress nie­der­ge­schrie­ben wurde und offen­bar eine Mate­rial- und Gedankensammlung für den Vor­trag dar­stellt, ver­wen­det Ferenczi den Begriff der Unter­wer­fung, und ich denke, er bezeich­net damit die Art der archai­schen, umfas­sen­den, Ich-zer­stö­ren­den pri­mä­ren Iden­ti­ fi­ka­tion mit dem trau­ma­ti­schen Intro­jekt, um die es geht: »Unter­werfe ich mich sei­nem Wil­len so voll­kom­men, daß ich zu exi­stie­ren auf­höre, wider­setze ich mich ihm also nicht, so schenkt er mir viel­leicht das Leben« (Ferenczi 1985, S. 155). Bei Anna Freud macht sich »das Kind … zum Aggres­sor, um sich zu schüt­zen« (A. Freud in Sandler mit A. Freud 1985, S. 283), bei Ferenczi ist und bleibt das Kind das Opfer, um den Täter bzw. die Bezie­hung zu ihm zu schüt­zen. Die introjizierte Gewalt ver­ur­sacht von innen Selbstwerterniedrigung und mas­si­ves Schuld­ge­fühl, wäh­rend die Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Angrei­fer nach Anna Freud gerade Schuld­ ge­fühle ver­hin­dert. Inter­es­san­ter­weise findet man den Vorgang einer pri­mä­ren Iden­ti­ fi­ka­tion und Wen­dung der Aggres­sion gegen das Selbst in der Regel nicht, wenn es um die Aggres­sion männ­li­cher Jugend­li­cher geht. Männliche Jugendliche wenden die Aggression, die sie einmal zum Opfer gemacht hatte, in der Identifikation mit dem Aggressor gemäß Anna Freud nach außen, ziehen es vor, ein mächtiger Täter zu sein, sich ohne Schuldgefühl im Recht zu fühlen. Einer Anre­gung A. StreeckFischers fol­gend (per­sön­li­che Mit­tei­lung 1995) nehme ich darüber hinaus an, dass auch die Mög­lich­keit des direk­ten, impulshaften Aus­ bruchs der introjektartig inter­na­li­sier­ten Gewalt äuße­ren Objek­ten gegen­über besteht. Ich denke an das Bei­spiel einer Pati­en­tin, eines Opfers des jah­re­lan­gen sexu­el­len Missbrauchs durch den Vater, die in einem unkon­trol­lier­ten Impulsdurchbruch ihrem unge­fähr ein­jäh­ri­gen Sohn, der vor ihr nackt auf dem Wickel­tisch lag, mit einem Schlüs­sel­ bund ins Gesicht schlug, sodass er einen Zahn ver­lor (Hirsch 1987). Es kann sein, wie auch bei die­ser Pati­en­tin, dass die Aggres­sions­be­reit­ schaft (äuße­ren Objek­ten gegen­über) hin­ter einer Fas­sade der Anpas­ sung ver­bor­gen ist; das trifft auch auf Typ 2 der Jugend­li­chen zu, deren auf sekun­dä­rer Iden­ti­fi­ka­tion beru­hende fassadenartige »Mimi­kry«Ver­klei­dung (Streeck-Fischer 1995) auf­grund beson­de­rer Umstände von der ver­bor­ge­nen Aggres­si­vi­tät durch­bro­chen wer­den kann. Das ist aber zu unter­schei­den von der Täter-Opfer-Umkehr auf­grund einer sekun­dä­ren Iden­ti­fi­ka­tion, etwa ent­spre­chend dem Motto: »Mir haben die Prü­gel nicht gescha­det, also prü­gele ich auch meine Kin­der, damit mal was aus ihnen wird«, wäh­rend der Impulsdurchbruch zu einer Aus­



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sage pas­sen würde wie: »Ich hatte mir so vor­ge­nom­men, meine Kin­der nie zu schla­gen, so wie ich immer geschla­gen wor­den bin, aber es pas­ siert mir immer wie­der, ohne dass ich es kon­trol­lie­ren kann …« In die Gesprä­che von Anna Freud mit Sandler in den Semi­na­ ren von 1972/73 flie­ßen die Fort­schritte der Theo­rie­bil­dung der Psy­ cho­ana­lyse seit den 1930er Jah­ren ein. In den Semi­na­ren ver­sucht Sandler ent­spre­chend der inzwi­schen getrof­fe­nen Unter­schei­dung von Iden­ti­fi­ka­tion und Intro­jek­tion mehr­fach, von Anna Freud zu erfah­ren, wie weit sie die Über-Ich-Bil­dung im Zusam­men­hang mit der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Angrei­fer schon vor­an­ge­schrit­ten sieht, wie weit »das Gewis­sen von der Per­son als Teil ihrer selbst erfah­ren wird, oder als eine innere Stimme, die in bestimm­ter Weise von ihr unab­hän­ gig ist, ihr fremd ist« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 286). Das heißt, erste­res wäre identifikatorisch assi­mi­liert, letz­te­res noch introjektartig. Sandler meint: »Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Angrei­fer kann sich auch in der Form von Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Über-Ich-Intro­jekt zei­gen. Man kann mit ihm und mit sei­ner Angst vor ihm sehr wohl so umge­hen, indem man sich gegen andere wen­det und sie attackiert« (S. 285). Aber Anna Freud will ihm nicht so recht fol­gen und bleibt bei der Auf­fas­ sung, dass die Vor­stufe des Über-Ich pro­ji­ziert wird. In den Semi­na­ren kann jedoch auch Anna Freud nicht immer an dem klas­si­schen Kon­zept fest­hal­ten, son­dern muss die Mög­lich­keit des rea­len Trau­mas und einen Zusam­men­hang mit der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor aner­ken­nen. Sie erwähnt nun den Fall eines extrem aggres­si­ven Jun­gen, des­sen Vater bru­tal aggres­siv zur Mut­ter und zum Jun­gen selbst war, »wo wir mei­nen, es sei eine Reak­tion auf oder eine Iden­ti­fi­zie­rung mit der Aggres­ sion sei­nes Vaters … Was ist es nun? Ist es das Ver­hal­ten des Vaters, das die eigene Aggres­sion des Kin­des weckt, so daß es dann diese gewalt­tä­ti­gen Hand­ lun­gen begeht? Oder erweckt der Vater in dem Jun­gen ein sol­ches Aus­maß von Angst, daß es nur noch durch Mobi­li­sie­rung der eige­nen Aggres­sion bewäl­tigt wer­den kann? Das sind ganz schwie­rige Fra­gen« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 291).

Eine Möglichkeit für Anna Freud wäre schon 1936 gege­ben, schwere Selbst­de­struk­tion durch den von ihr beschrie­be­nen Abwehr­mecha­nis­ mus der »Wen­dung gegen das eigene Selbst«, den sie aber nicht mit der »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor« ver­bin­det, theo­re­tisch zu fas­ sen. Die Wendung der erfahrenen Gewalt gegen sich selbst wäre ja die Fortsetzung der Vergewaltigung durch den Täter aufgrund einer Identifikation mit dem Aggressor gemäß Ferenczi. 36 Jahre spä­ter aber denkt Anna Freud an eine Kinderpatientin und kann den äuße­ren Ein­fluss viel eher mit­den­ken:

116 Schuldgefühl »Die­ses Kind hatte auch ein gerin­ges Selbst­wert­gefühl, weil es unge­liebt war, weil es in den Augen der Eltern ein ent­wer­te­tes Objekt war. Die Mut­ter wollte einen Jun­gen, aber sie ist ein Mäd­chen, und so weiter. Zu die­sem Gefühls­ hintergrund …, der aus der Ver­gan­gen­heit stammt, kommt nun die Aggres­sion hinzu, die von Rechts wegen nach außen auf die Per­so­nen gerich­tet sein müßte, die sie her­ab­set­zen, ent­täu­schen und zu wenig lie­ben. Wenn wir dann das End­­ ergeb­nis vor uns haben, ist es schwer zu sagen, was davon aus dem Gefühl der Her­ab­set­zung stammt, das sich aus ihrer Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Bild her­lei­tet, das die Eltern von ihr haben, und was danach durch die auf das Selbst abge­lenkte Aggres­sion hin­zu­ge­kom­men ist« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 153 f.).

Die Wen­dung der Aggres­sionen gegen das eigene Selbst, die eigent­lich die Liebesobjekte ver­dient hät­ten, stellt also eine gewisse Nähe zum Kon­zept Ferenczis her. Und auch umge­kehrt gibt es im Falle schwe­ rer trau­ma­ti­scher Gewalt eine Annä­he­rung der Kon­zepte: Es kann eine sekun­däre Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor erfol­gen, die eher Anna Freuds Kon­zept ent­spricht, durch wel­che das Opfer spä­ter die ein­mal erlit­tene Gewalt gegen Schwä­chere rich­tet, wie­der nach dem Motto: »Mir haben die Prü­gel nicht gescha­det …« »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer« Eine andere Mög­lich­keit, an Anna Freuds Kon­zept fest­zu­hal­ten und gleich­wohl schwere äußere Trau­mata anzu­er­ken­nen, wäre die Annahme einer Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer. Die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­ sor, die Ferenczi meint, das Unter­wer­fen und die identifikatorische Über­nahme des Gewaltsystems, sodass ein Teil des Selbst fort­wäh­rend einen ande­ren schä­digt, nennt Blum (1987) Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer, die auch spä­ter immer wie­der Miss­hand­lun­gen durch andere her­aus­for­dere. Auch Wurmser (1987, S. 46) sieht die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer als Spie­gel­bild zur Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor, ver­bun­den mit der Wen­dung gegen die eigene Per­son. Blum (1987) dage­gen ver­steht Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor im Zusam­men­hang mit Misshand­lung als Wie­der­ho­lung der Gewalt in der näch­sten Gene­ ra­tion, als Wen­dung also der ein­mal erlit­te­nen Aggres­sion nach außen, aber auf den Schwä­che­ren, das eigene Kind. (Das hat­ten wir bereits als sekun­däre Iden­ti­fi­ka­tion bezeich­net.) Mei­nes Erach­tens ist der Begriff einer Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer unglück­lich und fast eine Verle­gen­ heits­lösung, um Ferenczi nicht her­an­zie­hen zu müs­sen, denn wo ist das Opfer, mit dem sich jemand, wenn er sich selbst beschä­digt, iden­ti­ fi­ziert? Er selbst ist doch Opfer gewe­sen, als er als Kind trau­ma­ti­scher Gewalt aus­ge­setzt war. Zwei Arten der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor Mei­ nes Erach­ tens bedarf es einer Kon­ struk­ tion der Iden­ti­fi­ka­tion



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mit dem Opfer auch nicht, wenn man zwei For­men der Iden­ti­fi­ka­tion annimmt: eine pri­märe ver­schmel­zende und eine sekun­däre, das Ich abgren­zende. Sandler (in: Geerts u. Rechardt 1978, S. 366), der im übri­gen mit Anna Freuds Kon­zept weit­ge­hend über­ein­stimmt, hatte selbst eine andere Form der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor abge­ grenzt, die in aku­ten Situa­tio­nen mas­si­ver Trau­ma­ti­sie­rung auf­tritt: In einer »auto­ma­ti­schen pri­mä­ren Iden­ti­fi­ka­tion im Moment des Trau­ mas« gehen die Selbst-Objekt-Gren­zen ver­lo­ren. Das heißt, in der aku­ ten Traumatisierung sind Täter und Opfer nicht mehr unter­schie­den. In der Dis­kus­sion des Vor­trags Ferenczis spricht Cremerius (1983, S. 993) von der »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Angrei­fer, vor allem in der frü­hen Form der Internalisierung«. Das ist zwar etwas unscharf aus­ge­ drückt, meint aber wohl die Selbstgrenzen auf­he­bende Über­wäl­ti­gung durch den Täter bzw. das regres­sive Sich-selbst-Auf­ge­ben ange­sichts des Trau­mas. Die pri­märe Iden­ti­fi­ka­tion ist eben gekenn­zeich­net durch das Feh­len oder wenig­stens die große Durch­läs­sig­keit der Ich- oder Selbst-Gren­zen. Müller-Pozzi (1988, S. 75) spricht von »glo­ba­ler Iden­ti­fi­ka­tion« in »Abhe­bung von den selek­ti­ven par­ti­el­len Iden­ti­fi­zie­ run­gen, die dem Ich Stärke und dem Selbst Cha­rak­ter geben«. Damit sind mei­nes Erach­tens Beschrei­bun­gen der ver­schie­de­nen Qua­li­tä­ten der Iden­ti­fi­ka­tion gege­ben, die sich voll­stän­dig auf die ver­schie­de­ nen Arten der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor nach Anna Freud respek­tive Ferenczi anwen­den las­sen. Die erstere ent­spricht dem Cha­rak­ter der sekun­dä­ren, Ich-stär­ken­den und -erwei­tern­den Iden­ti­ fi­ka­tion mit dem äuße­ren Objekt, das ist die Identifikation mit dem Aggressor, zu der männliche Jugendliche eher neigen, man kann sie »männlich«-sadistisch nennen. Letztere dage­gen ist eine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem mali­gnen trau­ma­ti­schen Intro­jekt und hat den Cha­rak­ter der pri­mä­ren, ver­schmel­zen­den Iden­ti­fi­ka­tion, das ist die Identifikation mit dem Aggressor nach Ferenczi, das Opfer bleibt Opfer; da eher Frauen zu dieser Form der Identifikation greifen, kann man auch von einem »weiblich«-masochistischen Modus sprechen. Ich möchte nun zwei kleine Fall­bei­spiele, jeweils ein­mal à la Ferenczi und ein­mal à la Anna Freud vor­stel­len: Eine Pati­en­tin über­weist der Mut­ter jeden Monat einen beträcht­lichen Geld­be­trag; sie hat starke Schuld­ge­fühle, sie allein g­ e­las­sen zu haben. Sie fühlt sich außer­dem ver­pflich­tet, sich um die Schwe­ster zu küm­mern, mate­ri­ell und mit Gesprä­chen, weil es ihr so schlecht geht. Als Kind hat ihr die Mut­ter immer vor­ge­wor­fen, dass sie schuld an ihrem Unglück sei, denn wegen der Schwan­ger­schaft mit ihr habe sie hei­ra­ten müs­sen und sich auch spä­ter nicht von dem alkoholkranken Ehe­mann tren­nen kön­nen. Beschimp­fun­gen und Prü­gel waren an der Tages­ord­nung, wäh­ rend die viel spä­ter gebo­rene Schwe­ster immer bevor­zugt wurde. Hätte sich die Pati­en­tin mit der Mut­ter ent­spre­chend Anna Freud iden­ti­fi­zie­ren kön­nen, würde sie

118 Schuldgefühl heute sagen: »Du hast mir damals nichts gege­ben, des­halb gebe ich dir heute auch nichts. Du hast mich damals geprü­gelt, nun bin ich auch aggres­siv zu dir!« Sie hat aber eher eine Hal­tung, als ob sie sagen würde: »Ich war damals so schlecht, dass ich die Prü­gel ver­dient hatte; eigent­lich hat­test du viel zu geben, aber es lag an mir, dass ich es nicht bekom­men habe. Um meine Schuld wie­der­gut­zu­ma­chen, gebe ich dir Geld und küm­mere mich …« Aller­dings war das nicht alles; die Pati­en­tin zog auch einen beträcht­lichen Gewinn aus dem Gefühl, eine bes­sere »Mut­ter« zu sein als die eigene damals. Ein wei­te­res Bei­spiel: Ein Junge wurde von sei­nem Vater immer schwer geprü­gelt, damit ein­mal ein »rich­ti­ger Mann« aus ihm würde. Zur Strafe für kleine Ver­ge­ hen musste er auf Holz­schei­ten knien, oft musste er hung­rig in sein unge­heiz­tes Zim­mer früh­zei­tig schla­fen gehen. In der Ado­les­zenz wuch­sen ihm die Hände, wur­den so groß, wie Vaters Hände waren. Er hasste seine Hände, hätte sie am lieb­sten abge­schnit­ten, ver­letzte sich dau­ernd an ihnen – das ist Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor à la Ferenczi. Hätte er die Ich-Stärke beses­sen, die den Kin­dern aus Anna Freuds Arbeit zur Ver­fü­gung stand, hätte er gesagt: »Warte, Alter, wenn du noch ein­mal zuschlägst, schlage ich zurück!« Oder hätte andere Kin­der geschla­gen. Und er hätte das Holz­scheit genom­men und es dem Vater an den Kopf gewor­fen! Das hat er aber nicht getan, son­dern er drückte im Gegen­teil, wenn er sich am Knie ver­letzt hatte, noch kleine Stein­chen hin­ein, damit es rich­tig weh tat. Und er deckte sich in sei­nem kal­ten Zim­mer mit Absicht nicht zu, son­dern dachte: »Vater soll mal sehen, dass ich ein rich­ti­ger Mann werde, ich bleibe die ganze Nacht auf­ge­deckt!« Wäre es nach Anna Freud gegan­gen, hätte er dem klei­nen Bru­der das Abend­brot weg­ge­nom­men und die Bett­decke dazu. Oder er hätte den Vater so lange be­schimpft, bis er sein Essen bekom­men hätte … Aber der Vater war mäch­ti­ger, der Junge hatte keine Chance.

Sub­tile Trau­mata Die Art der trau­ma­ti­schen Ein­wir­kung, die bis­her unter­sucht wurde, war eher eine grobe, sozu­sa­gen sicht­bare, wie kör­per­li­cher und sexu­ el­ler Missbrauch und »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens«, also der Ter­ror, den – Schuld­ge­fühle gene­rie­rend – die chro­ni­sche oder auch nur hypo­ chon­dri­sche Krank­heit eines Eltern­teils auf das Kind aus­übt; das waren Ferenczis (1933) Bei­spiele. Schwere Ver­lu­ste sind eben­falls geeig­net, Intro­jekte zu erzeu­gen, wie mehr­fach erwähnt, auch Trau­mata in vor­ an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen – wir wer­den noch dar­auf zurück­kom­men (Teil II, S. 260 f.). Ferenczi (1985, S. 124) hat aber auch an sub­ti­lere For­men des Trau­mas gedacht, die zum Teil mit der gro­ben Implan­ta­ tion ein­her­ge­hen und diese ergän­zen: »Das Resul­tat die­ses Pro­zes­ses ist einer­seits die Implantierung von unlustspendenden, Schmerz und Span­nung erzeu­gen­den Seeleninhalten in die Seele des Opfers, zugleich aber saugt sozu­sa­gen der Aggres­sor ein Stück, d. h. das ausgedrängte Stück des Opfers in sich ein. Daher der beru­hi­gende Effekt des Wutauslebens



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auf den Wüten­den, wenn es gelingt, dem andern einen Schmerz zu berei­ten: Ein Teil des Gif­tes wird einer ande­ren Per­son implan­tiert …, zugleich annek­tiert der Aggres­sor … die naive, angst­lose, ruhige Glückslage, in der bis dahin das Opfer lebte. Ein­fach aus­ge­drückt hieße das etwa: … man gibt sozu­sa­gen einem Hunde einen Fuß­tritt in einer Depres­sion. Dadurch erreicht man, daß auch der andere lei­det, was mei­nen Schmerz unbe­dingt lin­dern muß. Ande­rer­seits annek­ tiere ich bei die­sem Akt die frü­here Glückslage.«

Für meine Begriffe ist hier ähn­lich wie in der Fuß­note Freuds (1923b, S. 279) in »Das Ich und das Es« ein zwi­schen­mensch­li­ches Gesche­hen ange­deu­tet, das sich in der wei­te­ren Ent­wick­lung der Psy­cho­ana­lyse als über­aus bedeu­tungs­voll her­aus­stel­len sollte. Es geht hier um direkt kaum sicht­bare Grenz­über­schrei­tun­gen, die in einem Implan­tie­ren eige­ ner schlech­ter Inhalte in das Gegen­über bzw. einem Berau­ben »guter« Anteile und Auf­nahme in das eigene Selbst beste­hen. Die mytho­lo­gi­ sche Ent­spre­chung des Aussaugens ist unschwer im mythologischen Bild des Vam­pirs, einer übri­gens bedürf­ti­gen, lebens­un­fä­hi­gen Gestalt, die nicht zur Ruhe kom­men kann (das ist die mytho­lo­gi­sche Ent­spre­ chung des Introjekts) und die Unschul­di­gen, Leben­di­gen ihrer Lebens­ kraft beraubt, zu erken­nen (Hirsch 2005). Faimberg (1987) hat ebenso unter­schie­den zwi­schen Aneig­nung des Kin­des durch den nar­ziss­tisch bedürf­ti­gen Eltern­teil, das heißt einer Aus­übung direk­ter aus­beu­te­ri­ scher Gewalt, die ein Intro­jekt hin­ter­lässt, und Intru­sion, als Ein­drin­gen eines vom Erwach­se­nen nicht bewäl­tig­ten, ver­dräng­ten und ver­leug­ ne­ten trau­ma­ti­schen Kom­ple­xes, der, wie ich ergän­zen möchte, mit Gewalt, Ver­lust und Schuld zusam­men­hängt und vom Kind introjektiv über­nom­men wer­den muss. Extraktive Introjektion Ferenczis Gedanke vom »Berauben des Guten« durch vampirartiges Aussaugen hat inzwischen ebenfalls eine theoretische Ausarbeitung gefunden, wenn deren Ursprünge in Ferenczis Arbeiten auch mit keiner Silbe erwähnt werden. Bollas (1987, S. 157 f.) schlägt eine Bezeichnung für eine subtile Interaktionsform vor: extraktive Intro­ jektion. Damit ist in gewisser Weise die Umkehrung der projektiven Identifikation gemeint: »Extraktive Introjektion geschieht, wenn eine Person … ein Element des psychischen Lebens eines anderen Individuums stiehlt. Eine derartige intersubjektive Gewalt findet statt, wenn der Täter (A genannt) automatisch annimmt, dass das Opfer (B genannt) keine innere Erfahrung mit dem psychischen Element hat, das A verlangt. Im Moment dieser Annahme findet der Diebstahl statt, und B kann

120 Schuldgefühl vorübergehend betäubt sein und unfähig, den gestohlenen Teil seines Selbst zurückzubekommen. Wenn solch eine Extraktion von einem Elternteil einem Kind gegenüber ausgeübt wird, kann es viele Jahre der Analyse dauern, bevor B den gestohlenen Teil seines Selbst zurückerobern kann« (Übersetzung M. H.).

Es werden von Bollas Beispiele angeführt: Raub der selbstkritischen Fähigkeiten eines Kindes durch ständiges Schimpfen über kleine Ungeschicklichkeiten des Kleinkindes in der Annahme, es sei nicht in der Lage, selbst zu sehen, dass es einen Fehler gemacht hat. Beraubung des »Spielerisch-Seins« (playfulness); jeder kann sich den Vater eines fünfjährigen Kindes vorstellen, das ihm freudig eine Kinderzeichnung bringt, während der Vater unwirsch sagt: »Gib mal her, so malt man das nicht, ich mach’ das mal für dich!« und dem Kinde Kreativität und Spontaneität raubt. Denkvermögen, Affektivität, psychische Strukturen, Teile des Selbst können Bollas zufolge Gegenstand des Beraubens sein. In der Literatur habe ich ein Beispiel gefunden, das das Berauben illustriert, und zwar das Berauben des Identitätsgefühls eines Kindes. Stolorow und Stolorow (1989) haben ein Mädchen, Jessica, in Therapie genommen, deren Bruder starb, als sie ein Kleinkind war, deren Eltern aber den Tod nicht wahrhaben wollten, sondern das Mädchen als die weiterlebende Verkörperung des Toten ansahen. »Jessica sehnte sich danach, das Gefühl zu haben, den Verlust ihres Bruders betrauern zu dürfen, um ihr eigenes Sein zu behaupten, aber dieser Trauerprozess war verboten, denn er würde die Forderung der Eltern verletzen, dass sie ihn am Leben erhalten sollte« (Stolorow u. Stolorow 1989, S. 324; Hervorhebung original; vgl. Teil II, S. 187 f.).

Es kam zu einer Introjekt-Bildung: »Aus unserer Sicht kann ein Introjekt verstanden werden als ein Bezirk der Schwäche in der Erfahrung eines Menschen, der ausgefüllt worden ist von Wahrnehmungen, Urteilen, Gefühlen oder Bedürfnissen von einem emotional wichtigen Anderen … Wenn die Validität der eigenen Wahrnehmungswirklichkeit angegriffen wird, ohne dass eine Verteidigung möglich ist, dann kann diese Erfahrung der psychologischen Vereinnahmung zunehmend dramatisiert und konkretisiert werden, bis sie schließlich den Punkt des Wahns erreicht. Das war der Fall mit Jessica. Ihre Eltern unterzogen ihre Erfahrung der Krankheit und des Todes ihres Bruders einer unbarmherzigen Behandlung des Ungültigmachens, und zwar in einem Ausmaß, dass sie zweifelte, dass er überhaupt gestorben sei. Im selben Maß schwächte das ebenso unbarmherzige Bedürfnis der Eltern, ihn zu erhalten, indem sie ihn im Grunde in ihr weiterleben sahen, ihre Erfahrung ihrer selbst als einer getrennten Person. Die resultierende Leere in ihrem subjektiven Universum war angefüllt durch Introjektion. In Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Eltern brachte sie Justin (den Bruder) innerhalb ihrer selbst zum Leben, schließlich wurde



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sie zu ihm, indem sie praktisch ihre eigene Existenz ausradierte« (S. 324; Übersetzung M. H.).

Es wird hier deutlich, wie durch die Beraubung ein leerer Raum entsteht, in den das Fremde, nämlich das der Eltern und des Bruders, introjektartig einströmen kann. Die Reaktion auf die Beraubung kann Bollas zufolge ein tiefsitzendes Rachebedürfnis sein, das Gestohlene zurückzuholen – »durch gewaltsames Eindringen in den anderen« (Bollas 1987, S. 166). Und Bollas formuliert exakt Ferenczis Gedanken, dass auch das »projektiv identifikatorische« Eindringen immer ein Berauben, wenigstens des Seelenfriedens, ist: »Dadurch, dass er unerwünschte Teile seines Selbst in eine andere Person befördert, erfreut sich der Projizierende eines begrenzten Maßes an Seelenfrieden, ein psychischer Zustand, der von dem Empfänger extrahiert wurde, der verwirrt zurückbleibt« (S. 167).

Projektive Iden­ti­fi­ka­tion Heute ist inzwi­schen das Ein­la­gern der unbe­wäl­tig­ten Inhalte in die Psy­ che des Objekts beson­ders mit dem Mecha­nis­mus der pro­jek­ti­ven Iden­ ti­fi­ka­tion (Ogden 1979; Kernberg 1987; Sandler 1987a) ver­bun­den wor­den. Dabei geht es im wesent­li­chen um die Pro­jek­tion uner­träg­li­cher Selbst- und Objekt­re­prä­sen­tan­zen, gefolgt von sub­ti­ler interpersoneller Inter­ak­tion, die dazu führt, dass der Emp­fän­ger sich tat­säch­lich so fühlt und auch so han­delt oder han­deln möchte, wie es dem Pro­ji­zier­ten ent­spricht. Die dritte Dimen­sion der pro­jek­ti­ven Iden­ti­fi­ka­tion ist die Re-Intro­jek­tion; nach­dem das Gegen­über (»con­tai­ner«, Bion 1963) den emp­fan­gen­den Inhalt auf­be­wahrt und durch seine dif­fe­rente Ein­stel­lung ver­än­dert hat, ist er so wie­der für den ursprüng­li­chen Sen­der auf­nehm­bar gemacht wor­den. Man denkt da haupt­säch­lich an zwei Vor­gänge: Der Säug­ling ist über­schwemmt mit Angst erzeu­gen­den, mit psy­chi­scher Des­in­te­gra­tion dro­hen­den Erre­gun­gen, die von einer ruhi­gen, siche­ ren, lie­ben­den Mut­ter empa­thisch ange­nom­men und modi­fi­ziert, »ver­ daut« – näm­lich als nicht weiter beun­ru­hi­gend in ihrer Qua­li­tät – dem Säug­ling zurück­ge­ge­ben wer­den. Eine wün­schens­werte, sinn­volle, weil wachs­tums­för­dernde Ein­rich­tung. Die andere Ver­sion: Jemand wird mit sei­nen inne­ren Vor­gän­gen, mit Angst, Neid, Wut nicht fer­tig und legt sie in den Ande­ren hin­ein – auch hier gilt das Säuglingsmodell, wenn es sich um »schwa­che« Sen­der und »starke« Emp­fän­ger han­delt, zum Bei­spiel in einer the­ra­peu­ti­schen Situa­tion. Was aber, wenn in einer Part­ner­schaft so »Täter« und »Opfer« ent­ ste­hen, wie weit bleibt der Anspruch auf »containing« durch den ande­

122 Schuldgefühl

ren legi­tim? Eine Trau­ma­ti­sie­rung, auf die ich hin­aus will, geschieht ganz sicher, wenn der »Sen­der« der pro­jek­ti­ven Iden­ti­fi­ka­tion der real Mäch­tige, der »Emp­fän­ger« ent­spre­chend der Schwa­che ist, wie es in der Eltern-Kind-Bezie­hung gege­ben ist. Das heißt, meine Frage ist, ob nicht projektive Iden­ti­fi­ka­tion auch von Eltern in Rich­tung Kind statt­fin­den kann. Die Trau­ma­ti­sie­rung würde auch hier in einer aller­ dings sub­ti­len Grenz­über­schrei­tung beste­hen; das Kind müsste ver­ wirrt sein über außen und innen; die Ahnung über den Ursprung würde erstickt, wenn der Sen­der das im Emp­fän­ger Her­vor­ge­ru­fene ver­pönt und bekämpft, die eigene Urhe­ber­schaft ver­leug­nend. Ogden (1979, S. 5) schil­dert den Druck, der auf ein Kind aus­ge­übt wird, »sich über­ ein­stim­mend mit der Patho­lo­gie der Mut­ter zu ver­hal­ten, und die dau­ ernd vor­han­dene Bedro­hung, für die Mut­ter nichtexi­stent zu wer­den, sollte das Kind dem nicht ent­spre­chen … Unter dem Ein­fluß der the­ ra­peu­ti­schen Inter­ak­tion spürt der The­ra­peut den Druck der Angst, für den Pati­en­ten nicht mehr zu exi­stie­ren, wenn er sich nicht mehr in Über­ein­stim­mung mit des­sen projektiver Iden­ti­fi­ka­tion ver­hält.« Das heißt, in der the­ra­peu­ti­schen Bezie­hung ent­steht im The­ra­peu­ten unter Umstän­den ver­mit­tels projektiver Iden­ti­fi­ka­tion vonsei­ten des Pati­ en­ten ein ana­lo­ges Gefühl, das der Situation des Kindes damals entspricht. Es las­sen sich einige Berei­che vor­stel­len, in denen Erwach­sene die eige­nen Äng­ste und Kon­flikte durch projektive Iden­ti­fi­ka­tion mithilfe ihrer Kin­der zu bewäl­ti­gen ver­su­chen. Tren­nungs­äng­ste der Eltern wer­ den ent­spre­chende Hem­mun­gen und Äng­ste sowie mas­sive Schuld­ge­ fühle in bezug auf Autonomiewünsche ent­ste­hen las­sen, wie wir spä­ter sehen wer­den. Körperängste, Angst vor Erkran­kung der Eltern las­sen im Kind hypo­chon­dri­sche Äng­ste ent­ste­hen (Hirsch 1989a). Haas (1994, S. 166) berich­tet von hypo­chon­dri­schen (karzinophoben) Äng­ sten des The­ra­peu­ten, aus­ge­löst durch die Ferienunterbrechung der The­ra­pie einer Pati­en­tin, die den Ver­lust des durch Krebs ver­stor­be­nen Groß­va­ters nicht betrau­ert hatte. Eigene sexu­elle Äng­ste wer­den unter Umstän­den ent­spre­chende Hem­mun­gen im Kind erzeu­gen; umge­kehrt kann eine sexu­elle Fami­lien­at­mo­sphäre im Sinne eines laten­ten Inzests (Hirsch 1987; 1993c) Sexualisierungen erzeu­gen, die wie­derum von den nach außen »prüde« erscheinenden Eltern hef­tig bekämpft wer­ den. Ein wei­te­rer Bereich, in dem häu­fig transgenerationale projektive Implan­ta­tio­nen gesche­hen, ist der der Kon­flikte mit der (geschlecht­li­ chen) Iden­ti­tät; beson­ders Müt­ter wir­ken auf ihre Töch­ter ein, Gefühle von Wert­lo­sig­keit des eige­nen Geschlechts ver­mit­telnd, die dann jene im Spie­gel sehen, in den sie selbst hin­ein­schauen (vgl. Hirsch 1987; 2016).



Introjektion 123

Ein Bei­spiel sub­ti­ler sexu­el­ler Über­griffe eines Vaters und die Wir­ kun­gen auf die Toch­ter (Doro­thea L.) soll hier für viele ste­hen: Sie beste­ hen im wesent­ li­ chen in einer Ver­ un­ si­ che­ rung der Ich-Gren­ zen ent­ spre­chend den chro­ni­schen Grenz­über­schrei­tun­gen in der Kind­heit; die Pati­en­ tin ist extrem ver­un­si­chert, wo das Böse liegt, wo es ent­stan­den ist, ob es ihr eige­nes oder ein frem­des ist. Als Kind war sie jah­re­lang ver­ba­len sexua­li­sier­ ten Ver­fol­gun­gen durch den Vater und spä­ter kör­per­li­chen Über­grif­fen aus­ge­ setzt gewe­sen, obwohl – oder gerade weil – sie »eigent­lich ein Junge sein sollte«. Klein­ste Ver­ge­hen wur­den von dem jäh­zor­ni­gen Vater stets mit schwe­ren Prü­ geln geahn­det. Die Mut­ter ord­nete sich ihm ganz unter, »sie hatte keine eigene Mei­nung«. – Frau L. weiß nicht, ob das Böse in ihr ist oder außen. Ob sie die Fami­lie zer­stö­ren möchte oder die Fami­lie sie (beide könn­ten zur Poli­zei gehen: Die Pati­en­tin könnte den Inzest anzei­gen, und die Fami­lie könnte sie der fal­schen Anschul­di­gung bezich­ti­gen). Sie hat Angst, dass sie in der The­ra­pie mir gegen­ über durch ihre sexu­el­len Bedürf­nisse Täte­rin wer­den könnte. Gleich­zei­tig hat sie immer wie­der Angst­träume von sexu­el­len Über­grif­fen in den The­ra­pie­sit­zun­ gen. Sieht sie kleine Mäd­chen in der Stra­ßen­bahn, bekommt sie Panik, dass sie sie ver­füh­ren könnte, so stark, dass sie die Bahn ver­las­sen muss. Kürz­lich hatte sie einen Traum: Es wuch­sen ihr kleine schwarze Haare über­all, es ent­stand ein hef­ti­ges Ekel­gefühl. – Sie denkt daran, dass sie sich als Kind vor sich selbst ge­­ ekelt hat, weil sie sich vor dem Vater geekelt hat … Sie denkt an Scham­haare und bekommt Panik. Als Jugend­li­che hatte sie das Gefühl, sie würde regel­recht zuwach­sen, als ob alle sehen könn­ten, wie häss­lich sie gewor­den sei. Sie ist des­ halb nicht mehr aus­ge­gan­gen, hat kei­nen Bade­an­zug mehr ange­zo­gen. Es stellt sich her­aus, dass die Scham­haare einer­seits ihre eigene Sexua­li­tät bezeich­nen, aber auch ihre Scham, gleich­zei­tig bedeu­ten sie eine Ver­bin­dung, eine Brücke, ein Brückenobjekt zum inze­stuö­sen Vater.

Sexua­li­sie­rung Im Zusam­men­hang mit dem trau­ma­ti­schen Intro­jekt lässt sich immer wie­der eine Ver­bin­dung von Gewalt oder Ver­lust mit sexua­li­sier­ter Sehn­sucht, einem Begeh­ren gerade des ver­lo­re­nen, aber auch des für die gewalt­tä­tige Traumatisierung ver­ant­wort­li­chen Objekts fin­den. Im Falle des sexu­el­len Missbrauchs erscheint es klar, dass die Sexua­li­tät des Erwach­se­nen einen Haupt­teil des Introjekts aus­macht, und Sexua­li­ tät wird in sol­chen Fäl­len im spä­te­ren Leben immer wie­der, trotz einer gewis­sen bewuss­ten Abscheu und Ver­ur­tei­lung der eige­nen Bestre­bun­ gen durch einen Über-Ich-Anteil, sucht­ar­tig ein­ge­setzt wer­den, um nar­ ziss­ti­sche Bedürf­nisse, sol­che der Selbst­be­stä­ti­gung, erfüllt zu bekom­ men (vgl. Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 112 u. 226). Aber auch in Fäl­len nicht sexu­el­ler Gewalt und schwe­rer Ver­lu­ste kann es zu einer Sexua­li­sie­rung kom­men. Torok (1968) geht in ihrer

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Arbeit von einem Phä­no­men aus, das meist nur ver­schämt ein­ge­stan­ den wird, dem des Anstiegs der Libido nach dem Ver­lust eines gelieb­ ten Objekts, der damit abgewehrt wird, ver­bun­den mit einer Hoch­ stim­mung, die der gefor­der­ten Trauer ent­ge­gen­ge­setzt ist. Ehlert und Lorke (1988) haben ähn­lich introjektive Unterwerfungsmechanismen bei Extremtraumatisierten her­aus­ge­ar­bei­tet, auf­grund derer einer­seits sowohl der Fol­te­rer als auch das ihm ent­spre­chende Intro­jekt zum ein­ zi­gen Objekt der Liebe wer­den kann (vgl. auch Eissler 1968). Ande­ rer­seits ist der Mecha­nis­mus der Fol­ter dem des sexu­el­len Miss­brauchs ähn­lich. Der Täter macht das Opfer schlecht und wert­los, um seine Tat zu recht­fer­ti­gen (das ist die Implan­ta­tion von Min­der­wer­tig­keit und Schuld­ge­fühl, die vom Opfer introjiziert wer­den). »Dabei fin­det die­ser Fremd­kör­per schnell An­schluss an jene  … ›schul­di­gen Geheim­nisse‹, die die sexu­el­len Phan­ta­sien des Kin­des mit den unein­ge­stan­de­nen sei­ ner Eltern ver­bin­den, ohne dass ihm das je bewusst wer­den konnte« (Ehlert u. Lorke 1988, S. 524). Und dies offen­bar, ohne dass die Fol­ter unbe­dingt direkt sexu­el­len Cha­rak­ter ange­nom­men haben muss. Ich kann mir vor­stel­len, dass der Mecha­nis­mus, den Khan (1975) für die Hyste­rie ent­wickelte, auch hier eine Bedeu­tung hat. Khan ver­steht die Kom­mu­ni­ka­tion sexu­el­len Begeh­rens des Hyste­ri­kers als Wunsch nach einer ent­behr­ten frü­hen emo­tio­na­len, eben nicht sexu­el­len Für­ sorge, die ein­mal real so defi­zi­tär war, dass die trieb­hafte Sexua­li­tät sich früh­reif in die­ses Vakuum hineinentwickelt hat. (Vgl. Teil II, S. 252, die sexua­li­sierte Objektsuche bei Frauen, die früh den Vater ver­lo­ren hat­ten.) Adler (1997, S. 388) versteht Sexualisierung dagegen als »soziales Symptom«, als »verzweifelte Suche nach Intimität« in Mangelsituationen und in diesem Kontext sexualisierte Übertragung als »aufgeblähte Abart der Übertragungsliebe«.

Wie­der­ho­lungs­zwang Auch in ande­rer, nicht sexu­el­ler Hin­sicht ist dem Intro­jekt ein trieb­ haf­ter Cha­rak­ter zuge­schrie­ben wor­den, wie es beson­ders Ehlert und Lorke (1988) aus­ge­ar­bei­tet haben, was ins­be­son­dere für ein Ver­ständ­ nis des Wiederholungszwangs, zu des­sen Erklä­rung Freud (1920g) das Todestriebkonzept ent­warf, nütz­lich ist. »Das Wir­ken des Phan­ toms umfaßt alles das, was Freud unter der Über­schrift ›Todes­trieb‹ beschrie­ben hat« (Abraham 1978, S. 696). Das Intro­jekt bewirkt letzt­ lich die von innen, wie trieb­haft wie­der­hol­ten Selbstbeschädigungen, die von einem ande­ren Teil des Ich bzw. Über-Ich abge­lehnt wer­den.



Introjektion 125

»Ten­den­zen zur Selbst­de­struk­tion las­sen sich also zunächst als ein Wüten des gesun­den Teils der Per­sön­lich­keit gegen den ›kran­ken‹, vom trau­ma­ti­schen Intro­jekt besetz­ten Teil ver­ste­hen« (Ehlert u. Lorke 1988, S. 528). Man kann das stän­dige Wie­der­ho­len als Restitutionsversuch ver­ste­hen, als Ver­such der Trauer­arbeit, die ja in klei­nen Schrit­ten über die Zeit das ver­lo­rene – hier das trau­ma­ti­sche – Objekt über­be­setzt, um die Beset­zung dann abzu­zie­hen, wie Freud es (1917e) beschrie­ben hat, was hier nicht gelin­gen würde. Über­zeu­gen­der klingt für mich aber die Vor­stel­lung, dass das Wie­der­ho­len der Selbst­de­ struk­tion eine Ver­ge­wis­se­rung der Anwe­sen­heit des wenn auch trau­ ma­ti­schen, so doch ein­zig anwe­sen­den Objekts bedeu­tet. »Der vom Über-Ich [d. h. vom Intro­jekt] aus­ge­hende Schmerz ist es letzt­lich, der das Opfer vor der tota­len Ein­sam­keit des end­gül­ti­gen Objektverlustes bewahrt«, wie Ehlert und Lorke (1988, S. 529) es for­mu­lie­ren. Es ist so, als ob das Intro­jekt auch die Hoff­nung ent­hält, dass das trau­ma­ ti­sche Objekt in der Zukunft doch noch ein­mal ein lie­ben­des wer­den könnte (vgl. Torok 1968, S. 508). Damit aber diese wundersame Verwandlung eines Gewalttäters in ein liebevolles Objekt geschehen kann, muss das gewählte Objekt wiederum und immer wieder ein böses sein. Natürlich tritt diese Wandlung nie ein; das Opfer sollte sich von seiner Sehnsucht trennen. Würde man ver­su­chen, das Gute, das man als Kind nicht bekom­ men hat, gelin­gend von ande­ren, alter­na­ti­ven Objek­ten zu bekom­men, ver­su­chen, Bezie­hun­gen zu haben, in denen kein Miss­brauch, keine Misshand­lung, keine Ver­nach­läs­si­gung statt­fin­det, hätte man sich von den alten Objek­ten gelöst. So aber wird darum gekämpft, das Gute von jeman­dem zu bekom­men, der so sein muss wie der, von dem man es damals nicht bekom­men hat! Bet­tina B., die als Kind an ihrem Geburts­tag ver­geb­lich auf den Vater hatte war­ten müs­sen (s. o. Teil II, S. 102), lernte mit 18 Jah­ren ihren spä­te­ren Mann ken­nen. Sie fand ihn von Anfang an aggres­siv, zynisch, andere ver­let­zend, abso­lut egoi­stisch. Damals dachte sie ins­ge­heim, woran sie sich jetzt erin­nert, dass er aber so sein sollte, wie er war. Denn ein Mann konnte nur mit die­sen Eigen­schaf­ten so »stark« sein, dass er ihr, dann aber nur ihr, wenn sie die Aus­er­wählte war, mit sei­ner ver­ bor­ge­nen »guten« Seite das Ent­behrte geben könnte. Hin­ter dem Bild des Ver­ge­ wal­ti­gers (der Vater) oder des »Arschs von Ehe­mann« war immer die Phan­ta­sie von deren »guter Seite« ver­bor­gen, die ein­mal zum Vor­schein kom­men würde; dann end­lich würde die Pati­en­tin glück­lich sein kön­nen.

Diese Erwar­tung beruht offen­bar auf einer Art »Dopp­lung« des Objekts, die genau kom­ple­men­tär zu der Spal­tung des Selbstbildes ist: Sich einer­seits befreien wol­len aus sadi­sti­schen Bezie­hun­gen, sich ande­rer­ seits maso­chi­stisch unter­wer­fen: Nichts ande­res ver­dient ha­ben. Die

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Phan­ta­sie, mit dem bru­ta­len, egoi­sti­schen, zyni­schen männ­li­chen Part­ ner sym­bio­tisch zu ver­schmel­zen und mani­sche Erfül­lung zu bekom­ men und aus­zu­le­ben, ist auch in meh­re­ren Fil­men aus­ge­drückt: »Bonnie and Clyde« (Penn 1967; vgl. M. Hirsch u. J. Hirsch 2014), »Wild at Heart« (Lynch 1989) und »Natural Born Kil­lers« (Stone 1993). Im Film-Mythos gelingt, was in der Wirk­lich­keit stets schei­tert: durch sym­bio­ti­sche Ver­schmel­zung mit dem Täter über alle Gren­zen und Regeln mensch­lichen Zusam­men­le­bens hin­weg mithilfe des manisch omni­po­ten­ten Ver­bre­chens das zu neh­men, was seit jeher ent­behrt wer­ den musste. Die stän­dige Wie­der­ho­lung ist Aus­druck der Not­wen­dig­keit, das Objekt als Intro­jekt in der Arre­tie­rung zu hal­ten, es weder zu assi­mi­ lie­ren noch sich von ihm zu tren­nen, weil bei­des uner­träg­lich wäre, wie bereits mehr­fach aus­ge­führt wurde. Zepf, Weidenhammer und Baur-Morlok (1986, S. 140) for­mu­lie­ren es so: »Die Selbstdestruktivität, die Freud Anlaß war, einen Wie­der­ho­lungs­zwang jen­seits des Lustprinzips zu postu­lie­ren, und die sich in den quä­len­den Wie­der­ho­ lun­gen des Trau­mas dar­stellt, ist als Resul­tat der zur Re-eta­blie­rung des Ichs unum­gäng­li­chen Iden­ti­fi­ka­tion mit dem zer­stö­re­ri­schen Objekt anzu­sehen.« Nichts ist schlim­mer, als es zu ver­lie­ren (vgl. Torok 1968, S. 508; Abraham u. Torok 1976, S. 167). Durch das Zurück­füh­ren des Wiederholungszwangs auf eine rea­le Traumatisierung der Ver­gan­gen­ heit wird aber »die k­ onzep­tio­nelle Not­wen­dig­keit eines Todestriebes zurück­ge­wie­sen« (Cournut 1988, S. 97).



Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

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Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl »Ich fragte: ›Wo ist meine Sünde?‹ Da gab mir eine Stimme Ant­wort: Sünde ist, daß du da bist – eine schwe­rere gibt es nicht.‹« Gunaid: Kasf 297 (in: Tor An­drae: Isla­mi­sche Mysti­ker, 146; zit. bei Drewermann 1977a, V) »Ent­schul­dige, daß ich gebo­ren bin!« Aus­ruf einer 17jährigen Jugend­li­ chen während eines Streits mit der Mut­ter

Für eine häu­fig anzu­tref­fende Form des Schuld­ge­fühls, das die bloße fen­ den Men­ schen als schuld­ haft erle­ ben lässt, Exi­stenz der betref­ möchte ich den Begriff Basisschuldgefühl vor­schla­gen. Ein­mal dar­ auf auf­merk­sam gewor­den, wird man Sym­pto­ma­tik wie Mut­lo­sig­keit, Depres­sion, Sich-nichts-Zutrauen, feh­len­des Selbst­wert­gefühl bis hin zur laten­ten oder offe­nen Sui­zi­da­li­tät oft auf ein sol­ches glo­ba­les Schuld­ge­fühl zurück­füh­ren kön­nen, für das keine eigent­li­che Begrün­ dung zu erfah­ ren ist. Marcinowski (1924, S. 19; Her­ vor­ he­ bung ori­gi­nal) macht eine Bemer­kung, die auf ein Basisschuldgefühl hin­weist: »Ist es nicht auf­fal­lend, daß wir uns schuld­haft, ver­ant­wort­lich füh­len oft auch für etwas, für das wir gar nichts kön­nen, und was gänz­lich unse­rer Ein­fluß­sphäre ent­ rückt ist, z. B. für Eigen­schaf­ten, für kör­per­li­che Män­gel und Unschönheiten und der­glei­chen mehr, kurz dafür, daß man so ist?«

In einer umfangreichen Arbeit stellt Lotterman (2003, S. 548 f.) basale Fragen, sozusagen Menschheitsfragen: »Wir schulden jemandem unser Leben. Was bleiben wir dafür schuldig? Was ist ein angemessener Ausdruck von Wertschätzung und Dankbarkeit? […] Haben wir unsere Eltern genügend geehrt? Haben wir mit genügender Ernsthaftigkeit die biblische Forderung, das zu tun, befolgt? Haben wir eine Art Schuldigkeit angenommen? Wenn ja, was sollten wir zurückzahlen? Was sollen wir unseren Erzeugern opfern? Bis zu welchem Ausmaß? Sind wir loyale Diener unserer Eltern oder haben wir ein davon getrenntes ›Recht‹ zu leben?« Als Phantasie sei ein solches Schuldgefühl ubiqui-

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tär, meint Lotterman, es würde aber durch frühe Erfahrungen sowohl gemildert als auch verstärkt werden können. In vielen Fallberichten fin­den sich Hin­weise und Beschrei­bun­gen dieser Schuldgefühlform. Kogan (1990a, S. 76) zum Bei­spiel schreibt: »Seit Be­ginn ihres Lebens fühlte sich Josepha der Mut­ter gegen­über schul­dig. Sie war schul­dig durch ihre bloße Exi­stenz, da ihre Geburt die Ver­schlech­te­rung des labi­len Gesund­heits­zu­stan­des der Mut­ter ver­ ur­sacht hatte.« Kramer berich­tet über zwei Fälle sexu­el­len Miss­brauchs durch die Mut­ter. Über das erste Mäd­chen schreibt sie: »Abby war die jüng­ste von drei Töch­tern … die S.s [die Eltern] erzähl­ten ganz offen von ihrer Ent­täu­schung, eine dritte Toch­ter zu haben, beson­ders eine, die schwäch­lich war und nicht hübsch. Abbys Schwe­stern waren schön und begabt und erfreu­ten ihre Eltern durch Vor­füh­run­gen, wenn Gäste da waren. Abby ver­lor wäh­rend der postnatalen Peri­ode an Gewicht. Im Alter von drei Wochen trat eine schwere Diar­rhöe auf, wes­halb sie für sechs Wochen ins Kran­ken­haus mußte. Ihre Eltern besuch­ten sie nur ein­mal, denn sie ›konn­ten den Anblick der intra­ve­nö­sen Kanü­len in die­sem zer­brech­li­chen Kör­per nicht ertra­gen‹. Nach­dem Abby nach Hause gekom­men war, klagte ihre zwei Jahre ältere Schwe­ster über Bauch­schmer­ zen. Der Kin­der­arzt wies die S.s an, dem mitt­le­ren Kind mehr Auf­merk­sam­keit zu schen­ken, … was zur Folge hatte, daß Abby voll­stän­dig igno­riert wurde« (1983, S. 339; Über­set­zung M. H.).

Im zwei­ten Fall »war es Casey [der Pati­en­tin] bekannt, daß ihre Mut­ter die Schwan­ger­schaft mit ihr nicht wollte und einen erfolg­lo­sen Abtrei­bungs­ver­such unter­nom­men hatte. Als die Mut­ter rea­li­sierte, daß sie das Kind aus­tra­gen mußte, wünschte sie sich einen Jun­ gen. Statt des­sen wurde eine Toch­ter mit einem leich­ten Geburtsschaden gebo­ren.«

Einer Doku­ men­ ta­ tion von Berich­ ten von Inzest­ opfern (Gardiner-Sirtl 1983, S. 143) ist fol­gen­des Zitat ent­nom­men: »Ich war ihr sowieso ein Dorn im Auge, weil ich auf die Welt kam.« Die Mut­ter die­ser Pati­en­tin sagte zu ihr: »Du soll­test tot sein!« Eine Pati­en­tin aus mei­ner Pra­xis sprach von der »Grund­schuld, über­haupt gebo­ren wor­ den zu sein, und von der Pflicht der Wie­der­gut­ma­chung: pfle­ge­leicht sein, sich anpas­sen« (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 102). Ich habe über eine Pati­en­tin, Vero­nika A., berich­tet (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 109), die lange vor dem Miss­brauch durch den Vater, zu dem sie von der Mut­ter gege­ben wor­den war, als die Mut­ter einen neuen Freund hatte, ein uner­ wünsch­tes Kind war, gezeugt wäh­rend einer flüch­ti­gen Begeg­nung der Eltern, die dann gar nicht zusam­men­blie­ben: »›Wahr­schein­lich bin ich schuld, weil ich über­haupt gebo­ren wurde!‹ Von der Schwe­ster des Vaters wurde sie immer abge­lehnt. Die Tante jam­merte über den



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›armen klei­nen Bru­der‹ (den Vater der Pati­en­tin), der von der ›städ­ti­schen Hure‹ (der Mut­ter der Pati­en­tin) ver­führt wor­den sei. Und das ›kleine Biest‹ (die Pati­en­ tin) sei auch nicht bes­ser. Ein­mal kam die Schwe­ster ins Zim­mer, als der Vater die Hand unter dem Rock des Kin­des hatte  … Die Pati­en­tin berich­tete von der Mut­ter, die immer sagte: ›Ich hab’ mich mein gan­zes Leben für dich geplagt!‹ und stän­dig wollte, daß das Kind sich um sie küm­mere!«

In die­ sen Bei­ spie­ len ist die Uner­ wünscht­ heit des Kin­ des deut­ lich er­kenn­bar; die Mütter machen kei­nen Hehl dar­aus, wer­fen den Kin­ dern direkt die bloße Exi­stenz vor, machen Vor­würfe, dass sie selbst ihr Leben den Kin­dern opfern muss­ten, bei die­sem Mann blei­ben muss­ ten, die Kar­riere auf­ge­ben und auf die Freuden des Lebens ver­zich­ten muss­ten und so weiter. Bes­ser als die Schrift­stel­le­rin Helga Schubert (1990, S. 103) kann man das nicht aus­drücken:

»So sprichst Du zu Dei­ner Mut­ter, Du soll­test Dich schä­men, so zu Dei­ner Mut­ter zu spre­chen, nach allem, was ich für Dich getan habe, für Dich ent­behrt, gelit­ten, Du kamst uner­wünscht, die beruf­li­che Kar­riere hast Du mir unter­bro­chen, ja abge­ bro­chen, die beschwer­li­che Schwan­ger­schaft, die schwere Geburt, ohne Dich wäre ich nicht bei Dei­nem Vater geblie­ben, ohne Dich hätte ich wie­der hei­ra­ten kön­nen, aber eine Witwe mit Kind bei der Kon­kur­renz nach dem Krieg? Dei­net­we­gen habe ich auf alles ver­zich­ten müs­sen, auf eine neue Fami­lie, Rei­sen, unbe­schwer­ten Reich­tum, meine Bega­bun­gen konnte ich nicht ent­decken, meine Inter­es­sen nicht befrie­di­gen, viel Geld mußte ich für Dich aus­ge­ben, weißt Du über­haupt, wie­viel mate­ri­elle Opfer ein Kind for­dert? Undank­bar bist Du, so sprichst Du mit Dei­ner Mut­ter, es wird Dir noch ein­mal leid tun.«

In einer ande­ren Gruppe von Berich­ten, die von einem Basisschuldgefühl han­deln, wird die Uner­wünscht­heit nicht so offen sicht­bar, son­dern mani­fe­stiert sich darin, dass das Kind nicht im eige­nen Recht leben darf, son­dern die Bedürf­nisse der Eltern erfül­len muss. Versagt es darin, entwickelt es Schuldgefühle, weil es zwar da sein soll, es aber nicht so ist, wie es von den Eltern gewünscht wird. Des­halb sieht es auf den ersten Blick so aus, als wären die Kin­der sogar beson­ders geliebt und bevor­zugt. Bei nähe­rem Hin­se­hen fällt aber auf, dass die Kin­der instru­men­tali­siert werden, für die Eltern dasein müs­sen und dem­ent­spre­chend gera­dezu zwangs­läu­fig Schuld­ge­fühle haben wegen des Bedürf­nis­ses, ein eige­nes Existenzgefühl zu ent­wickeln: »Der Pati­ent war der aus­ge­zeich­nete, exklu­sive Besitz sei­ner Mut­ter … Sie klei­ dete ihn in aus­ge­suchte Kostüme, schrieb ihn in Schauspielklassen und Tanz­schu­ len ein, ermög­lichte ihm Gesangs- und Kla­vier­stun­den … Häu­fig beschrieb sie, wie sie ihn bewun­dert und ver­wöhnt hätte als Kind, bei den klein­sten Anzei­chen mit ihm zum Arzt geeilt sei … Für ihn habe sie alles geop­fert: Sie gab ihre Büh­ nen­kar­riere auf und blieb sei­net­we­gen mit sei­nem Vater ver­hei­ra­tet, den sie als ›unzi­vi­li­sier­ten Bastard‹ und Alko­ho­li­ker ansah. Oft hat sie ihm [dem Jun­gen] erzählt, dass sie nie andere Kin­der wollte, weil sie ihn so geliebt habe. Als Kind war der Pati­ent voll­kom­men abhän­gig von der Mut­ter. Wenn er sei­nen Wil­len nicht

130 Schuldgefühl bekam, ent­wickelte er Tob­suchts­an­fälle, und sie strafte ihn durch Schläge mit einer Hun­de­peit­sche, ließ ihn allein oder sperrte ihn aus dem Haus aus. Bei sol­chen Gele­ gen­hei­ten erzählte sie ihm, er sei adop­tiert wor­den, und wenn er schrie, sagte sie, es sei nur ein Scherz gewe­sen. Der Kin­der­gar­ten war ein Hor­ror für ihn, und seine Mut­ter musste ihn für die ersten zwei Jahre zur Schule fah­ren … Seit frü­her Kind­ heit wurde der Pati­ent von stän­di­gen Schuld­ge­füh­len gepei­nigt« (Berman 1978, S. 571 f.; Über­set­zung M. H.).

Ein ähn­liches Dop­pel­tes von Ableh­nung und Schuld­vor­wurf auf­grund der blo­ßen Exi­stenz, aber auch von Besitz­er­grei­fung fin­det sich in Aschs (1976, S. 392) Bei­spiel:

Eine Mut­ter sagt: »›Deine Geburt war so schwie­rig, ich bin fast gestor­ben, innen war alles zer­stört.‹« Dem Pati­en­ten »wurde das Gefühl sug­ge­riert, daß er für die Unfä­hig­keit der Mut­ter, wei­tere Kin­der zu haben, ver­ant­wort­lich war  … Müt­ter, die eine inten­sive nar­ziß­ti­sche Ver­bin­dung zu ihren Kin­dern auf­recht­er­hal­ten, nei­ gen dazu zu ver­spre­chen, expli­zit oder impli­zit durch ihr ver­füh­re­ri­sches Ver­hal­ ten, daß das Kind ihr aus­er­wähl­tes ist.«

Es fin­det eine »Ver­leug­nung der Indi­vi­dua­li­tät des Kin­des durch die Eltern – sei­ner per­sön­li­chen Bedürf­nisse, Wün­sche, Befürch­tun­gen, sei­ner Auto­no­mie – zugun­sten unper­sön­li­cher Kate­go­rien« (Wurmser 1987, S. 272; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) statt. In sol­chen Fäl­len ist auch die Nähe zum Trennungsschuldgefühl deut­lich, und sicher gibt es hier glei­tende Über­gänge, die eine strenge Unter­schei­dung künst­ lich er­schei­nen las­sen. Aber im Prin­zip liegt die Unter­schei­dung darin, dass ein Trennungsschuldgefühl durch die Behinderung der Los­lö­sung her­vor­ge­ru­fen wird, ein Basisschuldgefühl dage­gen ist in der pri­mä­ren Uner­wünscht­heit begrün­det, die aller­dings oft auch eine Instru­men­ta­ li­sie­rung des Kin­des und, wie wir sehen wer­den, die Ent­ste­hung der Rol­len­um­kehr zur Folge hat. Einige Bear­bei­tung hat das Thema des pri­mär uner­wünsch­ten Kin­ des in der Lite­ra­tur aber doch erfah­ren. Zuerst ist Ferenczi (1929) zu nen­nen, der eine kurze Arbeit mit dem Titel »Das uner­wünschte Kind und sein Todes­trieb« ver­öf­fent­licht hat. Die Arbeit ist für meine Begriffe eine bril­lante Aus­ein­an­der­set­zung mit der Frage Trieb ver­sus Umwelt; Ferenczi scheint zuerst ganz mit Freuds Todestriebkonzept als Gegen­stück zu einer Auf­fas­sung der Lebens­kräfte über­ein­zu­stim­ men: Er habe Aus­wir­kun­gen des Todestriebs gese­hen, mit star­ken selbst­zer­stö­re­ri­schen Ten­den­zen, aller­dings auf­grund von »unlustvolle[n] Erleb­nisse[n] …, die dem Pati­en­ten das Leben kaum mehr lebens­ wert erschei­nen lie­ßen« (Ferenczi 1929, S. 251). Man spürt förm­lich das Rin­gen Ferenczis mit dem Todestriebkonzept; er möchte Freuds Den­ken nicht auf­ge­ben und scheint doch das Trauma bereits an die erste Stelle set­zen zu wol­len. Er bringt nun zwei Fälle von Glottiskrampf, die er als »Selbst­mord­ver­such durch Selbsterdrosselung« (S. 252) deu­tet.



Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

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Den zugrun­de ­lie­gen­den Ein­fluss der Umge­bung for­mu­liert Ferenczi so: »Beide Pati­en­ten kamen sozu­sa­gen als unwill­kom­mene Gäste der Fami­lie zur Welt … Alle Anzei­chen spre­chen dafür, daß diese Kin­der die bewuß­ten und unbe­ wuß­ten Merk­male der Abnei­gung oder Unge­duld der Mut­ter wohl bemerkt und durch sie in ihrem Lebenwollen geknickt wur­den« (S. 252 f.; Her­vor­he­bung ori­ gi­nal).

In einem wei­te­ren Fall von Sui­zi­da­li­tät wurde die Pati­en­tin

»als drit­tes Mäd­chen einer knabenlosen Fami­lie höchst unlieb­sam emp­fan­gen … Ihre Grü­be­leien über die Her­kunft alles Leben­di­gen waren gleich­sam nur die Fort­ set­zung der unbe­ant­wor­tet geblie­be­nen Frage, warum man sie denn über­haupt zur Welt gebracht hat« (S. 253).

In einem für mich zen­tra­len Satz nun stellt Ferenczi unser jüdischchrist­li­ches Den­ken (»Du sollst Vater und Mut­ter ehren!«) und auch die Grund­an­nahme der Psy­cho­ana­lyse, dass das Kind auf­grund sei­ner ödi­ pa­len Trieb­kräfte pri­mär schul­dig auf die Welt kommt (vgl. Grotstein 1990 u. Teil I, S. 21) auf den Kopf: »Das Kind muß durch unge­heu­ren Auf­wand, Liebe, Zärt­lich­keit und Für­sorge dazu gebracht wer­den, es den Eltern zu ver­zei­hen, daß sie es ohne seine Absicht zur Welt brach­ ten, sonst regen sich als­bald die Zerstörungstriebe« (Ferenczi 1929, S. 254). Das bedeu­ tet eine Umkeh­ rung von Pflicht, Ver­ant­wor­tung und Schuld­ge­fühl: Nicht das Kind hat dafür zu sor­gen, dass es mit sei­ner Umge­bung leben kann, indem es die Trieb­kräfte über­win­det, son­dern die Umge­bung hat die pri­märe Pflicht, das Kind adäquat anzu­neh­men und zu hal­ten; nicht die Eltern haben dem Kind zu ver­zei­hen, son­ dern umge­kehrt: das Kind den Eltern für den schuld­haf­ten Akt der unge­frag­ten Erzeu­gung sei­nes Lebens! Und erst wenn die Eltern die­ ser Pflicht der größt­mög­li­chen Wie­der­gut­ma­chung unge­nü­gend nach­ kom­men, »regen sich als­bald die Zerstörungstriebe«. Die »Lebens­ kraft« (S. 254) sei gar nicht so groß, sagt Ferenczi ent­spre­chend, sie ent­wickelt sich nur, wenn »takt­volle Behand­lung und Erzie­hung eine fort­schrei­tende Immu­ni­sie­rung gegen phy­si­sche und psy­chi­sche Schä­den all­mäh­lich her­bei­füh­ren« (S. 254). Das bedeu­tet nichts weni­ ger als eine ele­gante Ver­söh­nung der Trieb- und Umweltkonzepte in Form einer Ergänzungsreihe: Der Lebens­trieb muss durch die lie­ be­volle Umge­bung gestärkt wer­den, und der Todes­trieb nimmt erst über­hand, wenn die Umge­bung ver­sagt und ihrer Pflicht nicht nach­ kommt. Den vor­weg­ge­nom­me­nen Vor­wurf, er ver­nach­läs­sige durch die Beto­nung der Zärt­lich­keit die »Bedeu­tung der Sexua­li­tät in der Ver­ur­sa­chung der Neu­ro­sen« (S. 255) unter­läuft Ferenczi ele­gant,

132 Schuldgefühl

indem er meint, alle Lebens­äu­ße­run­gen des klei­nen Kin­des seien libi­ di­nös. Fol­gen­des Bei­spiel aus mei­ner Pra­xis scheint mir die Gedan­ken Ferenczis der Ver­pflich­tung dem neuen Leben gegen­über pas­send zu illu­strie­ren: Ein Pati­ent, Vol­ker V., Anfang 40, dem es bis­her nicht gelun­gen ist, Bezie­hun­gen zu Frauen län­gere Zeit durch­zu­hal­ten, und der sein Ideal, eine Fami­lie zu grün­den, des­halb nicht errei­chen kann, berich­tet, dass sein Vater im Krieg alle Fami­lien­ ange­höri­gen ver­lo­ren habe und die Mut­ter aus ihrer Hei­mat ver­trie­ben wurde. Die Eltern begeg­ne­ten sich; sie lieb­ten sich zwar nicht, aber es ent­stand die Schwan­ ger­schaft mit dem Pati­en­ten, da wurde eben gehei­ra­tet … Spä­ter sag­ten die Eltern oft sinn­ge­mäß: »Wir haben Dir das Leben geschenkt, Du musst uns dank­bar sein.« Noch heute ertappt sich der Pati­ent in der Iden­ti­fi­ka­tion mit die­sem Gedan­ken, wenn er sich sagt: »Immer­hin haben sie mir …« – In einer Grup­pen­sit­zung regt er sich auf: »Was heißt denn geschenkt? Es gab mich als Kind doch noch gar nicht, besten­falls als Phan­ta­sie im Kopf der Eltern, die konn­ten mir doch nichts schen­ken, die haben es sich höch­stens selbst geschenkt, wenn schon. Es soll so aus­se­hen, als ob ich den Eltern was geschul­det hätte!« In der wei­te­ren Bear­bei­tung durch die Grup­pen­mit­glie­der wird for­mu­liert, dass die Eltern schließ­lich die Ver­ant­wor­tung für die Zeu­gung hät­ten, wenn schon Schuld, dann hät­ten die sie. Außer­dem hät­ten sie gehei­ra­tet, ohne sich »rich­tig« zu mögen, und hät­ten Kin­der gezeugt, die, wie man sehe, nicht beson­ders glück­lich gewor­den seien (der Bru­der des Pati­en­ten ist Alko­ho­li­ker), weil sie ihnen wohl nicht genü­gend gerecht wer­den konn­ten. Statt diese ihre Schuld anzu­er­ken­nen, dele­gie­ren sie sie an das Kind, das prompt Schuld­ ge­fühle ent­wickelt.

Ein erschüt­tern­des Bei­spiel für man­geln­den Lebens­wil­len und ent­spre­ chen­den Selbstzerstörungsdrang soll fol­gen: Eine junge Mut­ter, völ­lig auf­ge­löst in ent­setz­li­chem Schmerz, berich­tete in der Bera­tung, dass ihr zweieinhalbjähriges Kind von zu Hause weg­ge­lau­fen, wie blind gegen eine Stra­ßen­bahn gerannt und kurz danach ver­stor­ben sei. Sie wisse nicht ein noch aus, mache sich große Vor­würfe, nichts könne sie beru­hi­gen, aber sie wolle das, was da gesche­hen sei, ver­ste­hen. Es sei ihr zwei­ter Junge, der älte­ste sei zwei Jahre älter. Das Kind, das sie jetzt ver­lo­ren habe, sei immer unru­hig gewe­ sen, habe viel geschrien, sei schlaf­los gewe­sen, habe nicht rich­tig geges­sen, habe aber früh lau­fen gelernt und war seit­dem immer »unter­wegs«, habe sich, sobald es konnte, stets los­ge­ris­sen, sei weg­ge­lau­fen, auch spät­abends, unbe­klei­det, bar­ fuß, sei mehr­fach von frem­den Leu­ten zurück­ge­bracht wor­den. Man habe den Jun­gen schließ­lich an den Kin­der­wa­gen bin­den und die Haus­tür stets abschlie­ßen müs­sen. Jetzt sei er davongestürmt, als sie, mit dem älte­ren Sohn vom Kin­der­ arzt kom­mend, durch die Haus­tür getre­ten und einen Moment abge­lenkt gewe­sen sei. Sie sei sofort hin­ter­her­ge­lau­fen, er muss direkt den Weg aus dem ruhi­gen Wohn­vier­tel zur beleb­ten Haupt­straße genom­men haben. Als sie kam, war schon gro­ßer Auf­ruhr, sie habe nichts tun kön­nen, der Junge war bewusst­los. In ihrer gro­ßen Regres­sion und Ich-Auf­lö­sung brach es schließ­lich aus der Mut­ter unkon­ trol­liert her­aus: »Er hat sich geop­fert, er hat sich geop­fert, er hat gewusst, dass er uns zuviel war, er hat uns hel­fen wol­len!« – Man kann sich vor­stel­len, dass die Schuld­ge­fühle der Mut­ter nicht nur die man­gelnde Auf­sicht betra­fen, son­dern sich



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auch auf die Zeu­gung des als zu bela­stend emp­fun­de­nen Kin­des erstreck­ten. Und den Schuld­ge­füh­len der Mut­ter ent­spre­chen die des Kin­des, das sich ihrer durch sein Opfer ent­le­digt.

Familiendynamisch (Stierlin, Rücker-Embden, Wetzel u Wirsching 1977) dürfte es sich bei die­sem Umgang mit dem uner­wünsch­ ten Kind um ein Bei­spiel des Ausstoßungsmodus han­deln. Wurmser (1987, S. 294) bezieht ein sol­ches Gefühl mit Recht auf die Scham, denn diese betrifft in der Tat das Sein, wie wir gese­hen haben, wäh­rend die Schuld bzw. das Schuld­ge­fühl eher aus dem Tun erfol­gen. Aber Wurmser rela­ti­viert den Bezug zur Scham und lässt einen Pati­en­ten von Schuld­ge­fühl spre­chen:

»›Wenn ich mei­ner Mut­ter nur nein sage, fühle ich mich schon schul­dig. Oder wenn ich ich selbst bin …, heißt das: Ich will nicht wie Du sein.‹ Die eigene Per­son zu sein, einen eige­nen Wil­len zu haben, eigene Gefühle zu bekun­den, heißt bei der Mut­ter, einer äußerst zudring­li­chen Frau, die ihren Sohn immer als Ver­bün­de­ten in ihrer fort­wäh­ren­den Fehde mit ihrem Gat­ten ein­setzte, daß er sie abso­lut ver­rate … ›Oft denke ich, es sei mir nicht erlaubt, das Gefühl zu haben, daß es mir gut geht, son­dern daß ich mich des­we­gen schul­dig füh­len müsse‹« (Wurmser 1987, S. 294).

Und tat­säch­lich haben die Pati­en­ten oft das Gefühl, die eigene Exi­stenz selbst zu ver­ant­wor­ten, als hät­ten sie ihr So-Sein aktiv her­ge­stellt und dabei ver­sagt. Inso­fern gerät das Gefühl der – min­der­wer­ti­gen – Iden­ti­ tät nicht nur mit dem Ideal-Ich, son­dern beson­ders auch mit dem ÜberIch in Kol­li­sion. Für den Ursprung des Basisschuldgefühls nehme ich zwei For­ men des Nicht-gewollt-Seins an: 1. Die Exi­stenz des Kin­des ist nicht ge­wollt; 2. die Eltern woll­ten zwar ein Kind, aber es ist nicht das »rich­ tige« – so wie es ist, wird es abge­lehnt.

Die Exi­stenz des Kin­des ist nicht gewollt »Der Ehe-Stif­ter« »Hei­ra­ten-Müs­sen« der Eltern wegen der Schwan­ger­schaft eines ersten Kin­des ist wohl die häu­fig­ste Mög­lich­keit, einem Kind die Hypo­thek einer »Schuld« sei­ner blo­ßen Exi­stenz wegen schon vor der Geburt auf­zu­bür­den. Viele Bei­spiele fin­den sich in der the­ra­peu­ti­schen Pra­xis, aller­dings muss man auch sehen, dass das Nicht-gewollt-Sein ja nichts Abso­lu­tes, das Kind auch immer mehr oder aller­dings weni­ger gewollt ist, auch wenn es nicht »geplant« oder »gewünscht« ist.

134 Schuldgefühl Eine Pati­en­tin, Olivia L., lei­det unter schwe­ren Arbeitsstörungen. Sie fühlt sich ver­folgt von den erfolg­rei­che­ren Bekann­ten, fühlt sich aber auch von sich selbst ver­folgt, wenn sie Alko­hol trinkt, im Bett bleibt und nicht arbei­tet, stun­den­lang Com­pu­ter­spiele spielt, statt zu schrei­ben. – Sie weint uner­war­tet hef­tig, als ich ihr sage, dass das Fremde, das sie jetzt ver­folgt, in sie hin­ein­ge­tan wor­den ist, als sie ein Kind war. Unver­mit­telt sagt sie: »Wenn man sich vor­stellt, dass meine Eltern damals hei­ra­ten muss­ten …! Beide waren doch gerade erst 20! Mut­ter musste ihre Aus­bil­dung auf­ge­ben, und sie wurde von den Eltern mei­nes Vaters abge­lehnt. Ich war gerade vier Monate alt, da war meine Mut­ter schon wie­der schwan­ger …« Eine andere Pati­en­tin, Doro­thea L., hat einen Traum: Sie zieht mit einer Kara­wane, die nur aus Pati­en­ten mei­ner Pra­xis besteht. Sie ver­sucht, zur Rast in der Oase einen Platz zu bekom­men. Es gibt drei Sänf­ten; es ist nicht ganz klar, ob darin drei Pati­en­ten sind, die nicht gese­hen wer­den wol­len, oder drei The­ra­peu­ten, die sich tra­gen las­sen. Sie hat kei­nen Platz bekom­men und hat auch den Anschluss ver­lo­ren, ihr Fahr­zeug bleibt lie­gen … Ein ande­rer Traum kurz danach: Ein Auto fährt füh­ rer­los auf eine Mauer zu. Sie steigt in das Auto und will brem­sen und len­ken, aber irgend­welche Stim­men sagen, sie könne das nicht, da lässt sie es. Sie hat Angst vor dem Auf­prall, hört einen Knall, spürt aber nichts. – Sie will etwas unbe­dingt in den Griff bekom­men, um irgend etwas Schlim­mes zu ver­hin­dern. Sie konnte wegen eines Staus nicht zur letz­ten Sit­zung kom­men. Sie hat Angst vor mei­nen Vor­wür­ fen, gibt sich die Schuld, dass sie kein Ver­trauen zu mir habe. Sie könne sich nicht fal­len­las­sen, das Steuer aus der Hand geben. Sie habe das Gefühl, dass nie­mand für sie da ist, dass sie kei­nen Platz habe, das ist wie im Traum mit der Kara­wane. Die drei Figu­ren in den drei Sänf­ten bedeu­ten sicher Vater, Mut­ter und die Schwe­ster (zwei Jahre jün­ger), von der sie schon immer ange­nom­men hat, dass sie glück­li­cher ist. Wenn das so sei, dann habe sie eben den Anschluss an die Fami­lie ver­passt. Sie hat das Gefühl, dass nie­mand für sie da ist, selt­sa­mer­weise schon seit der Zeit vor ihrer Geburt. Sie könne auf Men­schen nicht zuge­hen, weil sie alles allein machen müsse. Und es ist ihre Schuld, dass diese Men­schen nicht da sind. Die Schwe­ ster ist viel unkom­pli­zier­ter. Als Kind hat sie sich oft gefragt, warum die Eltern sie woll­ten, warum sie über­haupt auf der Welt sei. Sie hat sich als klei­nes Kind so viele Gedan­ken gemacht: Sie wollte »zurück­ge­ge­ben« wer­den, sie wollte als Kind in einer ande­ren Fami­lie noch ein­mal neu anfan­gen. Wie oft hat sie (in der Vorschulzeit!) das Köf­fer­chen gepackt, ist in die Stra­ßen­bahn gestie­gen und wurde an der Endhaltestelle auf­ge­grif­fen. Wie oft ist sie ein­fach zur Tante gefah­ren. Sie hatte noch einen ande­ren Traum, für den sie aber kein visu­el­les Bild erin­nern kann, son­dern nur ein Gefühl, dass ihre Mut­ter in der Schwan­ger­schaft mit ihr (!) zu wenig geben konnte. Sie kann sich erin­nern, dass sie als Kleinst­kind ein »Bäuer­ chen« machen sollte, dazu wurde sie über die Schul­ter gelegt von jeman­dem, sah das karierte Küchen­hand­tuch. Dabei hatte sie ein Gefühl, erwach­sen zu sein und für sich sor­gen zu müs­sen. Sie fragt sich, ob es das gebe, eine Erin­ne­rung bis in den Mut­ter­leib, aber sie ist sich sicher, dass die Mut­ter genug Sor­gen hatte damals, denn die Eltern waren jung, der Vater hatte die Aus­bil­dung nicht abge­schlos­sen, war prak­tisch nie da, trotz­dem hät­ten die Eltern wegen der Schwan­ger­schaft mit ihr gehei­ra­tet. Die Mut­ter hat erzählt, dass es eine schlimme Geburt war. Die Pati­ en­tin hat die Phan­ta­sie, dass die Mut­ter nicht genug dazu getan hat, dass sie auf die Welt kom­men konnte, »sie hat ein­fach nicht genug geben kön­nen«. Manch­mal hat die Mut­ter etwas durch­blicken las­sen, dass sie selbst nie genug bekom­men habe, selbst abge­scho­ben wor­den sei. »In dem Moment konnte ich ihre Seele sehen.« Aber trotz­dem: »Allein dass ich da war, war mei­ner Mut­ter schon zuviel. Sie hat



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mir immer das Gefühl gege­ben, ich bin lästig. Wenn sie mir das lange Haar gebür­ stet hat, hat sie mit der Bür­ste auf mei­nen Kopf geschla­gen. Das war auch die Zeit, in der sie mich immer in die dunkle Kam­mer ein­ge­sperrt hat.« Die Pati­en­tin sagt noch: »Als ob mir jemand bei mei­ner Geburt einen Stem­pel auf­ge­drückt hätte: Du bist schuld! Ein­fach weil ich da war.« Die Eltern einer ande­ren Pati­en­tin, Lydia S., hat­ten sich wäh­rend des Stu­di­ums ken­nen­ge­lernt; der Vater kam aus einem süd­ame­ri­ka­ni­schen Land, um hier zu stu­ die­ren, und wollte eigent­lich zurück­keh­ren. Die Schwan­ger­schaft mit der Pati­en­tin kam dazwi­schen, man hei­ra­tete; inzwi­schen über­nahm in sei­nem Hei­mat­land das Mili­tär die Macht, es war ihm nicht mög­lich, zurück­zu­keh­ren, auch seine Fami­lie sah er nicht wie­der. Die Mut­ter warf der Pati­en­tin spä­ter vor, dass ihre Exi­stenz Schuld daran sei, dass der Vater den Kon­takt zu sei­ner Fami­lie ver­lo­ren habe, dabei bedeute doch in sei­ner Hei­mat der Fami­lien­zu­sam­men­halt soviel! Des­halb müsse sie, die Jugend­li­che, bei ihm blei­ben, dürfe das Eltern­haus nicht ver­las­sen, denn sie habe eine Schuld abzu­tra­gen, zumal bei dem Vater jetzt der Ver­dacht auf eine Krebs­erkran­kung auf­ge­taucht sei. Die­selbe Mut­ter hatte die Pati­en­tin, ihre ein­zige Toch­ter, zeit­le­bens wie eine enge Freun­din behan­delt und miss­braucht, wie man sagen muss. Es gab end­lose »the­ra­peu­ti­sche« Gesprä­che sowie ein Ein­drin­gen in das Leben der dann adoleszenten Toch­ter durch Öff­nen ihrer Briefe und Lesen ihres Tage­buchs. Die Toch­ter hatte schließ­lich das Eltern­haus ver­las­sen, um ein neues Stu­dium zu begin­nen; einen ersten Studienversuch hatte sie abge­bro­chen. Die Mut­ ter schrieb ihr zu die­sem Zeit­punkt einen sechs Sei­ten lan­gen Brief, in dem sie ihr impli­zit vor­warf, dro­gen­ab­hän­gig und für den Beruf, der aus dem neuen Stu­dium her­vor­ge­hen sollte, abso­lut nicht geeig­net zu sein, obwohl sie, die Mut­ter, nichts lie­ber wünschte, als dass sie es wäre. Aber so, wie sie sich benehme, wie sie ihre Eltern behandle, sei sie nicht in der Lage, Ver­ant­wor­tung zu tra­gen, sie sei ein­fach unreif. Sie müsse an sich arbei­ten, aber sie könne ja keine Hilfe anneh­men (als die Pati­en­tin schließ­lich eine The­ra­pie begann, war es in den Augen der Mut­ter nicht die rich­tige). Die Mut­ter wehrt sich offen­bar mit Hän­den und Füßen, ihre Freun­ din und Bera­te­rin zu ver­lie­ren, und schreibt der Toch­ter: »Ich hatte neu­lich einen Traum: Hin­ter einer dicken Glas­wand sehe ich eine ver­hüllte Gestalt. Plötz­lich fällt das Gewand, und ich sehe Dich. Ich rufe Dich an. Du schweigst. Ich schreie, ich schlage mit Fäu­sten gegen das Glas, bis sie blu­tig sind. Mein gan­zer Kör­per wirft sich dage­gen. Umsonst! – Wirst Du das Glas zer­schla­gen?« Es wird deut­lich, dass die Mut­ter die Tren­nung von ihrer Toch­ter erlebt, als würde sie selbst wie ein Klein­kind die Mut­ter ver­lie­ren im Sinne der Rol­len­um­kehr; tat­säch­lich war ihre Mut­ter gestor­ben, als sie neun Jahre alt war.

Ein der­ar­tig gran­dio­ser Wider­spruch zwi­schen Ableh­nung des Kin­des und sei­ner Iden­ti­tät und dem Benut­zen des Kin­des für die Bedürf­nisse der Eltern wird uns im fol­gen­den noch öfter begeg­nen.

For­cierte Schwan­ger­schaft: »Das Hormonkind« Eine Pati­en­tin, Rose­ma­rie J., sagte: »Meine Mut­ter konnte keine Kin­der bekom­ men und wollte immer eins; dann kam ich als erstes ›Hormonkind‹ und habe sie bei der Geburt da unten fürch­ter­lich zuge­rich­tet, weil ich so breite Schul­tern hatte schon damals.«

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Sicher ist Kin­der­lo­sig­keit bei beste­hen­dem Kin­der­wunsch mei­stens ein gro­ßes Unglück für Paare; ich möchte aber mit Berger (1993) zu beden­ken geben, dass ein sol­ches Pro­blem nicht nur rein medi­zi­nisch betrach­tet wer­den sollte. Berger weist dar­auf­hin, dass über das Tech­ ni­sche hin­aus kin­der­lose Paare oft mit dem Stress, der kör­per­li­chen und psy­chi­schen Intru­sion einer sol­chen Behand­lung allein fertig werden müss­ten, sogar im Falle des Erfolgs oft kei­ner­lei Hilfe bekä­men, sich in einem psy­chi­schen Pro­zess auf die nun Rea­li­tät gewor­dene Exi­stenz des gemein­sa­men Kin­des ein­zu­stel­len. Dar­über hin­aus ist zu beden­ken, dass ein even­tu­el­ler psy­cho­so­ma­ti­scher Fak­tor, der zur Kin­der­lo­sig­keit bei­trägt, durch eine rein soma­ti­sche Behand­lung über­rannt und nicht berück­sich­tigt wer­den könnte. Für den Fall, dass es starke unbe­wusste Wider­stände gegen eigene Kin­der gibt, die sich in der Kin­der­lo­sig­ keit mani­fe­stie­ren, wür­den sich diese feind­se­li­gen Fak­to­ren gegen das nun exi­stie­rende Kind rich­ten. Am Anfang des Ödipusdramas befragt Laios »beküm­mert über seine Kin­der­lo­sig­keit  … das Del­phi­sche Ora­ kel. Die­ses ver­kün­dete ihm, sein schein­ba­res Unglück sei ein Segen, denn das Kind, das Iokaste ihm gebä­ren würde, würde sein Mör­der wer­den« (v. Ranke-Graves 1955). Viel­leicht kann man in man­chen Fäl­len von einer Art Weis­heit des Kör­pers spre­chen, mit der durch die Kin­der­lo­sig­keit ein grö­ße­res Unglück ver­mie­den wer­den soll. Ein ungeborenes Kind kann natürlich auch als feindlich verfolgendes, Identität zerstörendes Objekt erlebt werden. Wenn zu große Gefühle der Aggression, der Wut und Enttäuschung sowie Schuldgefühle aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung der Schwangeren zurückgeblieben sind, werden sie in der »unumgänglichen Regression einer Schwangerschaft« (Pines 1990, S. 312) auf den Fötus projiziert (Hirsch 2010, S. 319 ff.). »Der Fötus ist ein Aspekt des schlechten Selbst oder des schlechten inneren Objekts, das ausgestoßen werden muss. In den Analysen solcher Patientinnen zeigt sich, dass die frühe Mutterbeziehung durchdrungen ist von Frustration, Zorn, Enttäuschung und Schuld. Der Verlust des Fötus, sei es durch Fehlgeburt oder Abtreibung, wird eher als Erleichterung denn als Verlust erlebt. Als ob die weiter vorhandene innere böse Mutter es der Tochter nicht erlaubt hätte, ihrerseits Mutter zu werden« (Pines 1990, S. 312).

Andere Körperreaktionen wie extremes Schwangerschaftserbrechen sind mildere Abwehrformen. Auch kann die Schwangere negative Aspekte ihres eigenen Selbstbildes auf das Ungeborene projizieren. Befürchtungen, das Kind sei missgebildet, sind dann häufig, auch entsprechende Träume kommen vor.



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Die Geburt macht die Mut­ter krank Eine Pati­en­tin, Tina M., schreibt: »Was mich eben auch sehr bela­stet hat, ist, dass ich wusste, dass mein Vater seit mei­ner Geburt trinkt und meine Mut­ter seit mei­ ner Geburt stän­dig krank ist. Ich hatte sehr, sehr lange ein schlech­tes Gewis­sen des­we­gen, obwohl ich mir nicht erklä­ren konnte, warum ich daran Schuld haben sollte … Ich habe auch sehr lange Zeit gedacht, ich sei gar nicht das eigene Kind, son­dern sei adop­tiert wor­den.«

Die Pati­en­tin bezieht ihr Gefühl, keine Exi­stenz­be­rech­ti­gung zu haben, auf die Geburt, die die Eltern krank bzw. alko­hol­ab­hän­gig gemacht hat; und mit der Phan­ta­sie der Adop­tion befreit sie sozu­sa­gen die Eltern von ihrem Kind, wie sie selbst auch im Sinne des Familienromans die Eltern los wird. Übri­gens muss ein mas­si­ves Schuld­ge­fühl der eige­ nen Exi­stenz ent­ste­hen, wenn die Mut­ter bei der Geburt tat­säch­lich in Lebens­ge­fahr gerät oder gar stirbt. Asch (1976, S. 392) bemerkt, Vor­ würfe wie: »Deine Geburt war so schwie­rig, ich bin fast gestor­ben; in mir war alles zer­ris­sen« füge den Phan­ta­sien des Kin­des »fixie­rende Ele­mente histo­ri­scher ›Rea­li­tät‹« bei. Ein 25jäh­ri­ger Pati­ent, Mar­tin Z., berich­tet: »Meine Mut­ter lei­det seit mei­ner Geburt an Bron­chi­al­asthma, zur dama­li­gen Zeit oft in lebens­be­droh­li­chen Zustän­den. Mein Vater gab mir dafür die Schuld, weil die Krank­heit zuvor seit Jah­ren nicht mehr aus­ge­bro­chen war. Auf­grund die­ser Krank­heit musste meine Mut­ter in mei­nem Säug­lings­al­ter meh­rere Wochen ins Kran­ken­haus, ich, wegen der Arbeits­zei­ten mei­nes Vaters, ins Säug­lings­heim. Wäh­rend mei­ner Grundschulzeit waren die lebens­­bedroh­li­chen Asth­ma­an­fälle mei­ner Mut­ter oft sehr akut  … [Der Vater hatte sich inzwi­schen durch Erhän­gen suizidiert, als der Pati­ent fünf Jahre alt war.] Ich saß oft neben ihr am Bett und ver­sorgte sie mit Tablet­ten und Sprays, weil sie zu ersticken drohte. Sie gab mir oft dafür die Schuld, weil die Anfälle bei Auf­re­­gungen zu­nahmen, und sie eigent­lich stän­dig wegen mir in Auf­re­gung ver­setzt wurde. Die größte Sünde mei­nes … Daseins war sicher­lich meine Geburt, da dadurch das Asthma bei ihr [der Mut­ter] aus­brach. Meine Mut­ter pflegte gele­gent­lich die Bemer­kung zu machen, dass ich im Kran­ken­haus nach der Geburt wahr­schein­lich ver­tauscht wor­den wäre und gar nicht ihr Sohn sei. Es gab Situa­tio­nen im Bade­ zim­mer, wo sie mir die Haare wusch und mich dabei pau­sen­los anbrüllte. Ich hatte manch­mal Angst, sie würde mich in der Bade­wanne erträn­ken. Als Jugend­li­cher hatte ich immer Angst, meine Mut­ter zu ver­lie­ren, denn in extre­men Kon­flikt­si­tua­ tio­nen drohte sie auch schon ein­mal, sich die Puls­adern auf­zu­schnei­den.«

Wie bei Frau M., die eine Adoptionsphantasie ent­wickelt hatte, hat hier die Mut­ter die Phan­ta­sie, der Sohn sei gar nicht der eigene. Die Aggres­sio­nen der Eltern, die in ihrer Hef­tig­keit ein Mordpotenzial bil­ de­ten (Selbst­mord des Vaters), wer­den gegen das Kind gerich­tet, als wäre die­ses die Ursa­che allen Unglücks, zudem der Vor­wurf, die Mut­ ter habe durch die Geburt des Kin­des Scha­den erlit­ten, an dem das

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Kind schuld sei. Auch Rose­ma­rie J. hatte ihrer Mut­ter »da unten« alles kaputt­ge­macht: »Also ich bin schuld, dass sie da unten so eine Mus­kel­ schwä­che hatte und Pro­bleme mit dem Was­ser­las­sen seit­dem.« Die Mut­ter von Henrike S. war stän­dig krank. Die Pati­en­tin habe schon intra­ute­ rin der Mut­ter die Niere zer­drückt, und die jün­gere Schwe­ster habe ihr (der Niere) dann den Rest gege­ben! Die Pati­en­tin musste mit vier Jah­ren vor­über­ge­hend in ein Heim, weil die Mut­ter im Kran­ken­haus war: Die Niere war gesund, aber es waren Nie­ren­steine ent­fernt wor­den. Schon damals wurde dem Kind gesagt, dass es schuld an der Krank­heit sei. Die Kin­der wur­den stän­dig durch die ent­fern­ten Nie­ren­steine, die im Küchen­schrank lagen, an ihre Schuld erin­nert! (Ein Bei­spiel für »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens«.) Die Pati­en­tin fühlte sich auch sonst schul­dig am schlim­men Leben der Mut­ter. Jeder Wider­spruch (»Wider­rede«) ver­ur­sachte Prü­ gel und hef­tige Vor­würfe. Noch heute hyper­ven­ti­liert die Mut­ter am Tele­fon, bis sie umfällt, der Ehe­mann der Pati­en­tin eilt hin, um Erste Hilfe zu lei­sten. Die Pati­en­tin war seit drei Wochen nicht »zu Hause« (bei den Eltern), sie ent­wickelt des­halb pani­sche Schuld­ge­fühle ver­bun­den mit Körperzittern (Iden­ti­fi­ka­tion mit den Hyperventilationsanfällen).

Die Aus­sa­gen der Müt­ter: Die Geburt habe sie fast getö­tet, sollte man nicht kon­kret ver­ste­hen. Im Grunde dürfte es sich um Meta­phern han­ deln für den erlebten sozialen Tod, für die Identitätseinschränkung, die die Geburt für die Mut­ter be­deu­tet hat, die durch das Kind ans Haus gefes­selt ist, wofür ihm »die Schuld« gege­ben wird, wor­aus ein Basisschuldgefühl resul­tiert.

Unehe­lich gebo­ren wer­den Unehe­lich gebo­ren wor­den zu sein, bedeu­tet heute wohl immer weni­ ger ein Makel, obwohl man noch immer wünschen würde, dass ein Kind mit zwei Eltern, seien sie nun ver­hei­ra­tet oder nicht, auf­wach­sen kann. Trotz­dem kann beson­ders in den vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen die Tat­sa­che, dass ein Kind unehe­lich gebo­ren wurde, einen beträcht­ lichen sozia­len Ein­fluss und natür­lich einen psy­chi­schen und inter­per­ so­nel­len Stel­len­wert haben. Lisa M., das »Herzkind« (s. Teil II, S. 189) berich­tet: Ihr Vater war unehe­lich gebo­ ren wor­den; unehe­lich sei wie unwert. In der Fami­lie wurde dar­über nie gespro­ chen. Der Vater hatte dann selbst ein unehe­li­ches Kind (mit der Mut­ter der Pati­ en­tin) gezeugt, einen Sohn; der Vater war im Krieg, als die­ser gebo­ren wurde. Er starb als Säug­ling, im Alter von drei Wochen, an Schar­lach oder Diph­the­rie. Als Kind hatte Frau M. die Phan­ta­sie: »Die haben ihn umge­bracht, meine Tante hatte Schar­lach oder Diph­the­rie, die hat ihn ange­steckt!« Als die Eltern nach dem Krieg hei­ra­ten woll­ten, habe eine Nach­ba­rin erzählt, dass die Mut­ter ein Ver­hält­nis zu einem ver­hei­ra­te­ten Mann gehabt habe, als der Vater im Krieg war. War sie etwa schwan­ger gewe­sen von die­sem Mann? Der Vater habe zwar zur Mut­ter gehal­ten,



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aber der Tod des Säug­lings, war der eine Strafe? Wer sollte bestraft wer­den? Die Mut­ter war als Kind zu einer Tante nach Ber­lin gege­ben wor­den, die hatte einen »locke­ren Lebens­wan­del«, es gab das Gerücht, sie ginge der Pro­sti­tu­tion nach … In der Fami­lie wurde nie über die Ver­gan­gen­heit der Mut­ter gespro­chen. Die Pati­ en­tin habe immer Schuld­ge­fühle gehabt, weil sie die Moral­vor­stel­lun­gen der Eltern nicht tei­len konnte, weil sie viele Män­ner hatte, mei­stens viel jün­gere, weil sie nie feste Bezie­hun­gen ein­ging, auch wegen ihrer bei­den Abtrei­bun­gen. Sie fühlte sich immer schul­dig, dass sie anders sei als die Eltern. Jetzt fragt sie sich, ob sie viel­ leicht nur Teile der Eltern aus­ge­lebt hat? Oder auch der Groß­el­tern? Jetzt habe sie selbst eine unehe­li­che Toch­ter, habe es den Groß­el­tern und Eltern nach­ge­macht, viel­leicht wolle sie ihnen aber auch zei­gen, dass sie es bes­ser macht.

Kin­der der Gewalt Wie kann eine Schwan­ger­schaft, die durch Ver­ge­wal­ti­gung zustan­de ­kommt, will­kom­men, ein Kind, das dann gebo­ren wird, erwünscht sein? Engel und Ferguson (1990, S. 111) stel­len eine ganze Liste von nega­ti­ven Bot­schaf­ten von Eltern an ihre Kin­der auf, ein Punkt dar­auf ist: »Eine Schande, daß du gebo­ren wur­dest.« Eine Pati­en­tin, Diana J., die in der frü­hen Ado­les­zenz vom Vater mehr­fach sexu­ell missbraucht wor­den ist und deren man­geln­des Selbst­wert­gefühl sich auf den Kör­per, der stän­dig krank ist, erstreckt, sagt, dass sie sich schäme, dass sie stän­dig krank sei und hypo­chon­dri­sche Ideen habe. Täg­lich denke sie, dass sie bald ster­ben müsse. Das Böse sitze in ihr, das habe sie begrif­fen. Es sei ja auch kein Wun­der, habe sie sich inzwi­schen über­legt, denn sie wurde durch eine Ver­ge­wal­ti­gung der Mut­ter durch den Vater gezeugt. Wieso schämt sie sich eigent­lich, der Vater sollte sich schä­men! In der wei­te­ren therapeutischen Arbeit in der Gruppe wird for­mu­ liert, dass der Vater das Böse doch durch den Missbrauch in sie hin­ein­ge­steckt hat, »im wahr­sten Sinne des Wor­tes«, wie die Pati­en­tin bit­ter sagt (das ist die Implan­ ta­tion der Gewalt). Aber sie habe es sich auch »rein­gezo­gen« (das ist die Intro­jek­ tion), und auch irgend­wie gewollt (in der Iden­ti­fi­ka­tion): Jetzt schäme sie sich, zum Teil auch mit­ge­macht zu haben. Es wird die Frage auf­ge­wor­fen, ob nicht auch die Mut­ter »zum Teil« mit­ge­macht hat, auch die Mut­ter Grund zur Scham hätte, ob sie nicht für beide Eltern etwas aus­trägt, was ihr Scham und Schuld­ge­fühle macht, ob nicht damit zusam­men­hängt, dass sie sich so schwer von ihnen tren­nen konnte und immer noch Schwie­rig­kei­ten hat, ohne Schuld­ge­fühle nein zu sagen, wenn der Vater bet­telt, sie solle ihn besu­chen, und wenn die Mut­ter wie­der ver­sucht, sie mit Geld und Geschen­ken zu beste­chen. Eine andere Pati­en­tin, Julia C., im Februar 1946 gebo­ren, begann die The­ra­pie wegen zuneh­men­dem Alko­ho­lis­mus und schwe­rer Kon­takt­lo­sig­keit nach zwei geschei­ter­ten Ehen. Sie berich­tet ihre Geschichte: Sie sei das »Pro­dukt einer Ver­ ge­wal­ti­gung« der Mut­ter durch meh­rere Soldaten der Roten Armee in den Wir­ren des Kriegs­en­des in Pom­mern. Als sie ein Jahr alt war, sei die Mut­ter im Vieh­wa­ gen Rich­tung Westen gezo­gen, nicht zur Ruhe gekom­men, bis sie bei Ver­wand­ten unter­kam. Als Säug­ling hatte sie schlim­men Milch­schorf über das ganze Gesicht, der war ent­zün­det. Sie war sehr früh sau­ber, denn die Mut­ter sei bei die­sem Thema

140 Schuldgefühl rigo­ros gewe­sen. Die Mut­ter habe gear­bei­tet, das Klein­kind habe sich in der weit­ läu­fi­gen Ver­wandt­schaft ganz gut auf­ge­ho­ben gefühlt. Die Schule war furcht­bar: Die Kin­der rie­fen ihr »Pappchinese« nach und: »Hast ja kei­nen Vater!«; als sie auf die höhere Schule ging, war sie der »Bau­ern­tram­pel«. Im Bio­lo­gie­un­ter­richt hat eine Leh­re­rin sie zwin­gen wol­len, ihren Fami­lien­stamm­baum auf­zu­ma­len, und hat sie fer­tig­ge­macht, weil sie es nicht konnte. Dabei wusste die Leh­re­rin alles. Im Reli­gi­ons­un­ter­richt wurde gesagt, jede Frau sollte ver­hei­ra­tet sein und drei Kin­der haben; dabei war die Leh­re­rin selbst ledig … In der Ado­les­zenz war sie völ­lig ein­ sam, hat sich mit 16 in den Geschäfts­füh­rer eines Kinos ver­liebt, wurde schwan­ger und gebar mit 17 Jah­ren einen Sohn. Die Schwan­ger­schaft hatte sie vor der Mut­ter geheim­ge­hal­ten; als sie es erfuhr, hat sie getobt und die Pati­en­tin links und rechts geohr­feigt. Die Mut­ter wollte mit allen Mit­teln die Schwan­ger­schaft unter­bre­chen las­sen, aber als der Sohn da war, war er ihr ein und alles! Das Kind kam ins Heim, weil auch die Mut­ter arbei­ten musste, die erste Ehe hielt nicht lange, die viel zu schnell geschlos­sene zweite Ehe schei­terte nach eini­gen Jah­ren, weil die Pati­en­ tin nie ihre Bedürf­nisse hatte anmel­den kön­nen und ihre Kontaktprobleme nicht gerin­ger wur­den; sie hat sich getrennt, weil sie sich nichts mehr zu sagen hat­ten, und wurde danach sehr depres­siv. Nach weni­gen Wochen brach sie die ana­ly­ti­sche Grup­pen­psy­cho­the­ra­pie ab mit der brief­li­chen Mit­tei­lung: »Ich habe fest­ge­stellt, dass die all­mäh­li­che Ver­traut­heit zu allen ande­ren Gruppenteilnehmern mich blockiert hat, über mich selbst zu reden.« Es ist, als konnte sie die Ver­traut­heit, die sie doch errei­chen wollte und über deren Man­gel in ande­ren Bezie­hun­gen sie sich beklagt hatte, nicht aus­hal­ten.

Exi­stenz trotz ver­such­ter Abtrei­bung Eine Pati­en­tin, Helene L., berich­tet, sie sei unehe­lich gebo­ren. Ihre schwere Rück­ grat­ver­krüm­mung habe man immer als »Miss­bil­dungs-Sko­liose« bezeich­net. Sonst wurde nie dar­über gespro­chen. Sie durfte nichts als Kind, weder Fahr­rad fah­ren noch Roll­schuh lau­fen, sie sei eben krank gewe­sen. Ein­mal hat die Groß­mut­ter dann erzählt, die Mut­ter habe am Anfang der Schwan­ger­schaft mas­siv Tablet­ ten genom­men, um eine Abtrei­bung her­bei­zu­füh­ren  … Die Mut­ter habe immer so getan, als würde sie selbst am mei­sten unter der Behin­de­rung ihrer Toch­ter lei­den, sie sei mit einem kran­ken Kind geschla­gen … »Eigent­lich war Mut­ter das Opfer, nicht ich, so hat sie es jeden­falls immer hin­ge­stellt.« In der Ado­les­zenz war es ganz schlimm, weil die Mut­ter sie über­wachte und warnte: Männer wür­den sie nur aus­nut­zen, sie hat alle Kon­takte ver­bo­ten, kein Mann würde sie wegen ihrer Behin­de­rung mögen … Erst mit 16 Jah­ren konnte sie mit gewis­sem Druck durch­ set­zen, dass die Mut­ter die Iden­ti­tät des Vaters preis­gab, sodass sie ihn suchen konnte. Auch der Vater habe bestä­tigt, dass die Mut­ter Tablet­ten genom­men habe. Mit der Mut­ter könne man nicht spre­chen, noch heute schreit sie oder kriegt Wein­ krämpfe, als wolle sie jeder angrei­fen. Sie habe das Gefühl, dass ihr Mann sie mit ihrer Behin­de­rung akzep­tiert. Aber wenn er betrun­ken sei, und er sei täg­lich betrun­ken, nach­dem er einen Rück­fall in sei­nen Alko­ho­lis­mus erlit­ten habe, werde er aggres­siv und werfe mit Gegen­stän­den nach ihr: Da holt sie alles wie­der ein, und sie denkt: Ich habe kei­nen bes­se­ren ver­dient.

Die Ent­deckung, dass jemand abge­trie­ben wer­den sollte, bedeu­tet oft einen schwe­ren Ein­bruch in die Kon­ti­nui­tät des Lebens­ge­fühls



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eines Men­schen, manch­mal jedoch auch die Erklä­rung für etwas vor­ her kaum Defi­nier­ba­res, Unwäg­ba­res, für ein Fremdheitsgefühl der Pati­en­ten, die sich »anders als die andern« füh­len, für dif­fuse sub­tile Kon­takt­schwie­rig­kei­ten und ähn­liches mehr. Nun aber haben sie eine Erklä­rung; sie sind nicht »anders«, son­dern sie waren ursprüng­lich von den Eltern nicht genü­gend gewollt.

»Es wurde Casey bekannt, daß ihre Mut­ter mit ihr nicht schwan­ger wer­den wollte und daß sie einen erfolg­lo­sen Abtrei­bungs­ver­such unter­nom­men hatte. Als die Mut­ter dann rea­li­sierte, daß sie die Schwan­ger­schaft aus­tra­gen mußte, wünschte sie sich einen Sohn. Statt des­sen aber wurde eine Toch­ter mit einem leich­ten Geburtsschaden gebo­ren« (Kramer 1983, S. 339; Über­set­zung M. H.).

Marcinowski (1924, S. 32; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) weist ähn­lich auf die Fol­gen eines Abtrei­bungs­ver­suchs hin:

»Wenn es rich­tig ist, daß unter den ner­vös Ver­an­lag­ten sich eine über­große Zahl von Men­schen fin­det, deren Leben wört­lich genom­men im Keime geschä­digt wurde, dadurch, daß man sie eigent­lich gar nicht wollte, daß sie einer uner­wünsch­ ten Schwän­ge­rung ent­spran­gen und nicht der über­schäu­men­den Gewalt des Zeugungswillens ihr Dasein ver­dan­ken, dann tritt es doch wie eine offen­sicht­li­che For­ de­rung logi­schen Den­kens vor uns hin, daß sol­chen Men­schen es am Lebens­wil­len selbst doch feh­len müsse.« Bar­bara K. hat einen Traum: Sie liegt im Kran­ken­haus, zwei Ärzte sagen ihr, sie müss­ten ihr die Man­deln her­aus­neh­men, das sei ein nutz­lo­ses Organ. Sie wehrt sich, sie habe doch nichts, sei doch nicht krank. Es hilft aber nichts, sie soll ope­riert wer­den, es wer­den Scha­len und Instru­mente gebracht. – Sie denkt in Anleh­nung an das paa­rige Organ der Ton­sil­len an Hoden; ich denke wegen der Scha­len und Instru­mente an Abtrei­bung. Sie kommt irgend­wie auf das Feh­len einer voll­stän­ di­gen Fami­lie, an der sie sich hätte ori­en­tie­ren kön­nen, kommt von da auf »ihre Kin­der«, die sie hätte haben kön­nen: Als sie 18 Jahre alt war, ist sie schwan­ger gewor­den, die Mut­ter war dage­gen, dass sie das Kind behielte, sie gab ihr Instru­ mente, die die Mut­ter schon selbst benutzt hatte! Auch ähn­liche Scha­len wie die im Traum waren dabei. Damals hatte die Pati­en­tin hef­tige Blu­tun­gen, sie habe wohl nur über­lebt, weil sie zu einer Ärz­tin gebracht wor­den ist. Vor zehn Jah­ren hatte sie eine extra­uterine Gra­vi­di­tät; sie wollte unbe­dingt ein Kind. Aber das war viel­leicht unehr­lich, jetzt denkt sie, es war bes­ser so; inzwi­schen kann sie längst keine Kin­der mehr bekom­men.

Rol­len­um­kehr Die Umkehr der Eltern-Kind-Rolle ist ein Ver­such der Bewäl­ti­gung eines Man­gels in dem Erle­ben eines gegen­sei­ti­gen Defi­zits an Liebe und adäqua­ter Ver­sor­gung bzw. Akzep­tanz zwi­schen Eltern und Kin­ dern.

142 Schuldgefühl Eine jugend­li­che, wenn auch bereits 28jäh­rige Pati­en­tin, Bianca H., sagte deut­lich genug: »Wenn ich bei mei­ner Mut­ter bin, die ver­hält sich so, als ob ich die Mut­ter wäre, und sie das Kind, sie ist nur über sich am labern … Sie will immer was von mir, dabei müsste ich doch was von ihr wol­len …«

Da die Rol­len aber natur­ge­mäß ungleich ver­teilt sind, es ein­fach die Rea­li­tät ist (die es ja über die innere, psy­chi­sche Ebene des Erle­bens und der Phan­ta­sie hin­aus schließ­lich gibt), dass Eltern ihre Kin­der ver­ sor­gen sol­len, wird man es wie­der schwer haben, die bei­den Part­ner des Gesche­hens gleich­be­rech­tigt zu sehen, son­dern der Rea­li­tät von stark und schwach, allein lebens­fä­hig und allein nicht lebens­fä­hig, wis­send und unwis­send fol­gen, dem Erwach­se­nen die Ver­ant­wor­tung für eine adäquate Ver­sor­gung geben und dem Kind die »Unschuld«, die sei­ner Hilf­lo­sig­keit ent­spricht, las­sen. Und wie­der wird es sich auto­ma­tisch erge­ben, dass »Mut­ter« der Begriff für den sor­gen­den Erwach­se­nen bleibt, da die reale Mut­ter die wich­tig­ste Bezugs­per­son für das kleine Kind ist, auch wenn wir wis­sen, dass auch andere Per­so­ nen, der Vater zum Bei­spiel, sie erset­zen kön­nen und dass die umge­ bende Fami­lien­gruppe für Mut­ter und Kind abso­lut wich­tig ist. Rol­len­um­kehr bezeich­net die Ver­keh­rung die­ser Ver­hält­nisse von stark und schwach, ver­sor­gen und ver­sorgt wer­den, Ver­ant­wor­tung und »Un­schuld«. Die fami­li­en­dy­na­mi­sche Ter­mi­no­lo­gie spricht auch von Parentifizierung des Kin­des und von einer Form der Dele­ga­tion. Ferenczi (1933) hat in sei­nem Plä­doyer für die »Unschuld« des Kin­ des und die Ver­ant­wor­tung des Erwach­se­nen – ich denke als Erster – Rol­len­um­kehr beschrie­ben. Man erin­nert sich an den eindrücklichen Begriff der »lebens­läng­li­chen Pfle­ge­rin«, das Kind, das die chro­nisch kran­ken, ter­ro­ri­sie­ren­den Eltern ver­sor­gen muss, und den des »klei­nen Psych­ia­ters«, der gezwun­gen ist, die Ver­rückt­hei­ten der Erwach­se­nen aus Überlebensgründen zu ver­ste­hen, die diese nicht durch­schauen, und womög­lich ihre The­ra­pie zu über­neh­men. Im »Kli­ni­schen Tage­buch« (Ferenczi 1985, S. 130) spricht er vom »wise baby«, dem gelehr­ten Säug­ling, der 1923 noch als Traum erschie­nen war (Ferenczi 1923: »Der Traum vom ›gelehr­ten Säug­ling‹«), keine zehn Jahre spä­ter aber von Ferenczi als Bild für die reale Aus­bil­dung früh­rei­fer Fähig­keit aus Überlebensnotwendigkeit gezeich­net wurde. Später haben Novick und Novick (1991, S. 315; Über­set­zung M. H.) eine Abwehrphantasie des Opfers beschrie­ben, die intrapsychisch die Rol­len zwi­schen stark und schwach ver­tauscht, ent­spre­chend der omni­po­tent gran­dio­sen For­ mel: »Wie muss ich wich­tig, bedeu­tend und mäch­tig sein, dass er, der Täter, mich so lebens­not­wen­dig braucht und ohne mich, das Opfer, zusam­men­brä­che!« Ähn­lich sieht Bergmann (1985, S. 21) in der Rol­



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len­um­kehr einen Abwehraspekt; es wird durch sie ver­mie­den, dass die »Bezo­gen­heit zwi­schen Mut­ter und Kind« ver­lo­ren geht, und es bleibt eine gewisse Selbstkohärenz des Kin­des erhal­ten. Beide Befunde schei­nen mir dar­auf hin­zu­wei­sen, dass das Rollen­umkehrkind aus der Not eine Tugend macht. Es gibt ein mehrgenerationales Prin­zip der Rol­len­um­kehr: Weil sich die (junge) Mut­ter aus der eige­nen Mutterbindung nicht genü­gend hatte lösen kön­nen, fühlt sie sich erstens den Anfor­de­run­gen als Mut­ter dem Kind gegen­über aus dem Gefühl her­aus nicht gewach­sen, selbst zuwe­nig oder inadäquate müt­ter­li­che Zufuhr bekom­men zu haben, und erwar­tet zwei­tens in ihrem eige­nen Kind eine müt­ter­li­che Figur, die – im Sinne der Rol­len­um­kehr – ihr das geben kön­nen wird, was ihr die eigene Mut­ter zu geben nicht in der Lage war. Oft genug hatte bereits die (junge) Mut­ter ihrer Mut­ter gegen­über Mut­ter-Funk­tio­nen über­neh­ men müs­sen, das heißt nicht nur das Defi­zit, son­dern auch die Methode der erhoff­ten Über­win­dung wird über die Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben. Der Zusam­men­hang mit dem Schuldgefühlsthema ist ein zwei­fa­ cher. Ein­mal ent­steht aus dem Gefühl, nicht genü­gend will­kom­men zu sein, das heißt, keine aus­rei­chende müt­ter­li­che Akzep­tanz zu erhal­ten, das Bild von sich selbst, unge­nü­gend, nicht rich­tig zu sein, obendrein daran Schuld zu sein, und ein auf die­ses sich auf­bau­en­des Schuld­ge­ fühl, ein Basisschuldgefühl, wie wir gese­hen haben. Aus die­sem Grund habe ich das Kapi­tel »Rol­len­um­kehr« auch in den Abschnitt »Basisschuldgefühl« hin­ein­genom­men. (Es hätte auch gut zu »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens« gepasst; dort wird am offen­sten vom Kind die Über­nahme der müt­ter­li­chen Rolle ver­langt. Aber »Ter­ro­ris­mus des Lei­dens« ist nur eine Form der Dyna­mik, die zur Rol­len­um­kehr führt.) Die Akzep­ tanz der Zuschrei­bung der müt­ter­li­chen Rolle durch das Kind bedeu­tet dar­über hin­aus eine Hoff­nung auf Bewäl­ti­gung der Tren­nungs­angst, denn durch die Bemut­te­rung erhöht sich die Aus­sicht, dass eine durch die Für­sorge erstarkte Mut­ter wie­derum für das Kind mehr prä­sent sein kann. Außer­dem besteht die Hoff­nung, das Basisschuldgefühl zu ver­ rin­gern oder los­zu­wer­den, durch die »Bemut­te­rung der Mut­ter« gewis­ ser­ma­ßen eine Schuld der eige­nen blo­ßen Exi­stenz wegen abzu­tra­gen. Ande­rer­seits beob­ach­ten wir ein Schuld­ge­fühl, das aus der Rol­len­ um­kehr ent­steht! Denn die über­nom­mene Mut­ter­rolle wird vom Kind nie aus­rei­chend, die Mut­ter zufrie­den­stel­lend, aus­ge­füllt wer­den kön­ nen; das Kind for­dert in der Iden­ti­fi­zie­rung mit der Zuschrei­bung aber genau das von sich, kann es nicht errei­chen und gibt sich die Schuld daran.

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Das Kind als Part­ner­er­satz In einem spä­te­ren Alter des Kin­des wird es eher zu einem Part­ner­er­satz in bezug auf Stüt­zung und Ver­ständ­nis gemacht; König Ödi­pus rich­tete den Wunsch nach Erfül­lung all sei­ner Bedürf­nisse im Alter auf seine Toch­ter Anti­gone. Sie war das ein­zige Kind, das er behal­ten wollte, denn seine Söhne ver­fluchte er beide und gab sie dem Tod anheim, wie es seine Eltern mit ihm am Anfang sei­nes Lebens getan hat­ten. Auf einer ero­ti­schen, latent inze­stuö­sen oder »allzuoft« einer mani­ fest sexu­el­len Ebene wer­den Jun­gen die klei­nen aus­er­wähl­ten Prin­zen der Müt­ter, Mäd­chen die Objekte des sexu­el­len Begeh­rens der Väter. Bereits Freud (1895, S. 238) beob­ach­tete Anzei­chen der Rol­len­um­ kehr bei einem Inzest-Opfer: »Als die Tante9 starb, wurde Rosa­lia die Schützerin der ver­wai­sten und vom Vater bedräng­ten Kin­der­schar. Sie nahm ihre Pflich­ten ernst, focht alle Kon­flikte durch, zu denen sie diese Stel­lung führte.« Der Kern der Dyna­mik ist schließ­lich, dass beide Eltern sich im Sinne einer Part­ner­wahl als emo­tio­nal Bedürf­tige fin­den, von­ein­ander die Erfül­lung ihrer Bedürf­nisse erwar­ten, aber sich darin ent­täu­schen müs­sen, wobei vonsei­ten des Vaters die nar­ziss­ti­schen Bedürf­nisse sexua­li­siert sind (sicher durch eine ent­spre­chende frühe sub­til ver­ füh­re­ri­sche Objekterfahrung bedingt), und beide Eltern sich meist der älte­sten Toch­ter bemäch­ti­gen, indem sie sie zur ambi­va­lent gelieb­ten, gehass­ten und auch schließ­lich sogar gefürch­te­ten Mut­ter­fi­gur machen. Rol­len­um­kehr hat mit unge­nü­gend ent­wickel­ten (Generations-) Gren­zen zwi­schen Eltern und Kind, Ver­sor­gen­den und Ver­sorg­ten, zu tun. In jeder Alters­stufe des Kin­des, die einer Schwelle zu einem neuen Identitätsabschnitt ent­spricht, wer­den die Gren­zen wie­der regres­siv in Frage gestellt. Viola R. hat eine 13jäh­rige Toch­ter, die jetzt öfter bei einer Freun­din über­nach­tet, auf Par­tys geht und anfängt, sich zu schmin­ken; diese klei­nen Trennungsschritte wer­den von der Pati­en­tin als bedroh­lich erlebt: »Ich glaube, ich wär’ nicht mehr am Leben, wenn meine Toch­ter nicht wäre. Weil sie da war, habe ich eben immer gekocht und auch für mich mitgekocht. Für mich allein hätt’ ich das nicht getan. Allein war ich mir nichts wert.« Jetzt fängt die Toch­ter an, sie zu bemut­tern, sie kocht und putzt. Frau R. hat sich also selbst bemut­tert, wäh­rend sie damals die Toch­ter bemut­tern musste, das bedeu­tet: Die Toch­ter hat sie damals schon »bemut­ tert«, durch ihre Exi­stenz, jetzt ver­sorgt sie sie tat­säch­lich.

9 Es war kei­nes­wegs die Tante, son­dern die Mut­ter, ent­spre­chend der Fuß­note von 1924: »Auch hier war es in Wirk­lich­keit der Vater, nicht der Onkel.« Freud hatte ursprüng­lich den Vater schüt­zen wol­len und für ihn »Onkel« ein­ge­setzt.



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Rol­len­um­kehr-For­de­run­gen gibt es das ganze Leben hin­durch; eine Mut­ter, die in der Tra­di­tion das Erfah­rene an die eigene Toch­ter wei­ter­ gibt, ist kei­nes­wegs auto­ma­tisch von der Auf­gabe ent­bun­den, sich weiter um die eigene Mut­ter zu küm­mern (Halberstadt-Freud 1993). Und es sind eben in der Regel die am wenig­sten gelieb­ten Kin­der, die in die Pflicht genom­men wer­den und sich ihr unter­wer­fen, die auf­grund eines Basisschuldgefühls die Mut­ter-Rolle so eif­rig anneh­men, weil sie sich eine Auf­wer­tung ihrer selbst und eine Ver­rin­ge­rung ihres Schuld­ ge­fühls erhof­fen. Wäh­rend typisch­er­weise die geliebteren Kin­der sich viel bes­ser tren­nen konn­ten, längst ver­hei­ra­tet und auch weit weg gezo­ gen sind, ist die unge­liebte Toch­ter – auch auf­grund eines ver­stärk­ten Trennungsschuldgefühls – in der Hei­mat­stadt (wenn nicht in der elter­ li­chen Woh­nung) geblie­ben und muss die Eltern ver­sor­gen, regel­mä­ßig anru­fen, Gesell­schaft lei­sten, nicht ohne, wie eh und je, stän­dig von der unzu­frie­de­nen Mut­ter unwil­lig ange­trie­ben und kri­ti­siert zu wer­den.

»Der Wie­de­hopf« – Von der Sehn­sucht, gestillt zu wer­den Im »Physiologus« (Seel 1960, S. 16), der alten frühchristlich-mytho­ lo­gi­schen Naturbetrachtung, fin­det sich fol­gen­der Abschnitt: »Vom Wie­de­hopf

Geschrie­ben steht: Wer Vater und Mut­ter flucht, der soll des Todes ster­ben. Wie also mag es sol­che geben, die gegen Vater und Mut­ter die Hand heben? Ist ein Vogel, genannt Wie­de­hopf. Wenn des­sen Kin­der ihre Eltern alt wer­den sehen, zup­fen sie ihnen die alten Federn aus und lecken ihnen die Augen, und sie hegen die Eltern unter ihren Fit­ti­chen und machen, daß sie wie­der frisch und jung wer­den. Und dabei sagen sie zu ihren Eltern: So wie ihr euch geplagt habt, als ihr mit Plage uns aufzoget, so tun auch wir Desselbigengleichen an euch. Wie also mag es so unver­stän­dige Men­schen geben, die nicht ihre eige­nen Eltern lie­ben?«

Das Bedürf­nis, von sei­nen Kin­dern – beson­ders im Alter – etwas zu be­kom­men, genährt zu wer­den, scheint ein all­ge­mei­nes Menschengut zu sein, wie sein Aus­druck in Mytho­lo­gie, Dich­tung und bil­den­der Kunst es belegt. Wäre der Wie­de­hopf, der die alten Eltern unter seine Fit­ti­che nimmt, dazu imstande, gäbe er den dar­ben­den Alten auch noch die Brust! Rol­len­um­kehr dage­gen ist ein patho­lo­gi­sches Muster, so lange es sich um die Über­for­de­rung eines Kin­des und die Umkehr der selbst­ver­ständ­li­chen Rich­tung der emo­tio­na­len Zufuhr zwi­schen Erwach­se­nen und Kind han­delt. Der Wunsch aber, von sei­nen Nach­ kom­men etwas zu bekom­men, ist so legi­tim wie er auch über­all anzu­ tref­fen ist. Und man kann ja auch von sei­nen Kin­dern genug bekom­men an Aner­ken­nung und Liebe, man kann sich freuen an ihrer Ent­wick­lung

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und ihren Fort­schrit­ten und einen legi­ti­men nar­ziss­ti­schen Gewinn dar­ aus zie­hen. Rol­len­um­kehr bedeu­tet dage­gen die Umkehr des Versorgungsstroms auf­grund eines Drucks, dem das Kind sich not­ge­drun­gen fügt, etwas zu geben, was es eigent­lich nicht geben kann, sodass es sich schuldig fühlt. Kein Bild ist wohl so geeig­net, emo­tio­nale Zuwen­dung und Ver­ sor­gung zu bezeich­nen wie das Stil­len, die Brustfütterung des Säug­ lings, eine »Situa­tion, in wel­cher wir uns einst alle behag­lich fühl­ten, als wir im Säug­lings­al­ter … die Brust­warze der Mut­ter oder Amme in den Mund nah­men, um an ihr zu sau­gen« (Freud 1910c, S. 155), eine Situa­tion, die Freud (an glei­cher Stelle) als »mensch­lich schöne Szene« bezeich­net. Im Traum wird das Bild aber auch oft ver­wen­det, um Rol­len­um­kehr und Miss­brauch zu sym­bo­li­sie­ren, das heißt das Kind soll den Eltern die Brust geben, oft ver­dich­ten sich die Bil­der von Mut­ter und Kind: Doro­thea L. träumt, sie sollte ihrem Säugling (sie hat real keine Kin­der) die Brust geben, sie hat sich gefreut, dass das Kind lebte, aber sie hatte eine zu kleine Brust, die gab keine Milch, um das Kind zu nähren. Im Traum hatte sie ein zwei­fa­ches Gefühl, als ob sie es selbst gewe­sen wäre, die da nichts bekommt, und gleich­zei­tig eine Mut­ter, die nichts geben kann. Eine andere Pati­en­tin, Annette J., träumt: Eine Frau beklagt sich, dass sie (die Pati­en­tin) sie nicht mehr besucht. Dann erscheint eine Gruppe von Kin­dern, die sie betreuen muss, aber sie schei­tert kläg­lich, sie ist unge­eig­net, mit Kin­dern umzu­ ge­hen. Dann liegt sie mit einem jun­gen Mann im Bett, der ihre Brü­ste befühlt und sagt: »Da ist ja noch Milch drin!« – Dazu wird erar­bei­tet: Der Traum erschien gegen Ende der Weih­nachts­fe­rien. Sie hatte die Mut­ter wie­der besucht, nach­ dem sie zwei Jahre Weih­nach­ten nicht zu ihr gegan­gen war. Die Mut­ter hatte sich beklagt, dass sie kei­ner mehr besucht. Der Traum stellt mani­fest dar, dass sie unfä­hig ist, für Kin­der zu sor­gen. Sie liegt zwar im Traum mit einem Mann im Bett, aber es ist, als könnte keine sexu­elle Bezie­hung ent­ste­hen, solange die Brü­ste noch Milch ent­hal­ten. Die Weih­nachts­ fe­rien bedeu­ten: Keine The­ra­pie, also bekommt sie keine the­ra­peu­ti­sche Nah­rung. Sie konnte auch nicht in den Ferien das für das Stu­dium arbei­ten, was sie sich vor­ge­nom­men hatte, konnte also keine Fort­schritte machen, unab­hän­gig sein, sich selbst »ernäh­ren«. Stattdes­sen musste sie auf die Sym­pto­ma­tik zurück­grei­fen: Hef­ tige Fressanfälle und Erbre­chen als dra­sti­sche Kari­ka­tur nicht gelin­gen­der Selbst­ ver­sor­gung. Das Fazit also: Solange sie Milch für die Mut­ter haben muss, die sich beklagt, dass sich kei­ner um sie küm­mert, kann sie keine eige­nen Kin­der haben, kann sie nicht Sexua­li­tät haben, kann keine Fort­schritte in der beruf­li­chen Iden­ti­tät machen.

Der folgende Traum handelt von Missbrauch und von Umkehr der Ver­ sor­gung in der Über­tra­gung:

Lea G. träumt: Sie hat ein ärm­li­ches Unter­hemd an, das sie zu ver­ber­gen sucht, es ist ihr pein­lich, so gese­hen zu wer­den. Dann trifft sie ein völ­lig ver­arm­tes Zigeu­



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ner­kind, das end­los weint, sie hat gro­ßes Mit­leid. In ihrem Unter­hemd ist plötz­lich eine Tasche, aus der sie 100 Mark holt, die sie dem Kind geben will. Dann denkt sie aber, das Kind müsste alles dem Vater abge­ben, und zögert des­halb, ihm das Geld zu geben. Das Mäd­chen hat auf der Brust blaue Nar­ben, es sieht so aus, als seien es Tumore, als habe sie der bru­tale Vater miss­han­delt. – Sie denkt daran, dass sie ihre Sexua­li­tät »früh­zei­tig ver­stecken« musste – wie das Unter­hemd. Ich denke wegen des Geld­be­trags im Traum an das Gruppentherapiehonorar (sie hatte gefehlt, sodass sie für zwei Sit­zun­gen 100 Mark würde zah­len müs­sen). Sie will dem Vater nichts geben (der The­ra­peut würde es krie­gen, wenn sie es der Gruppe gibt). Die Gruppe ist bedürf­tig, da will immer jemand wei­nen, die Brü­ste (die Gruppe als Mut­ter) sind ver­stüm­melt, blau ver­färbt und nar­big. Aus die­sen Brü­sten kann nichts kom­men, sie sind missbraucht wor­den. Im Traum schämt sie sich der eige­nen Ärm­lich­keit, Bedürf­tig­keit. Dann denkt sie daran, dass sie völ­lig erschrocken war, als ihre puber­tie­rende Toch­ter in einem Geschäft ein Klei­dungs­stück anpro­biert, reflex­ar­tig wollte sie die sich ent­wickelnde Brust der Toch­ter bedecken. Sie denkt: Das arme Kind muss eine Frau wer­den. Sie denkt auch: Was denkt eigent­lich der Sport­leh­rer, wenn er sie so sieht?

Wie­der han­delt es sich um eine Ver­dich­tung von ora­ler und sexu­el­ler Bedürf­tig­keit (des Vaters) und die Aus­ein­an­der­set­zung mit der Anfor­ de­rung an das Kind, mehr zu geben, als es bekom­men kann. Auch in der Lite­ra­tur fand ich ein Bei­spiel von der »Brustfütterung Erwach­se­ner«: »Ich hatte einen von die­sen Alb­träu­men … genau wie frü­her, als ich noch das Asthma hatte. Ich war in einem zer­brech­li­chen klei­nen Boot, und das Meer wurde wil­der und wil­der, und ich ertrank fast. Aber ich fand eine kleine Kajüte, in die ich hin­ein­schlüpfte. Die Wel­len … don­ner­ten gegen die Fen­ster. Plötz­lich sah ich eine Frau in mei­nem klei­nen Gehäuse, die zeigte auf zwei hüb­sche rund­lich geformte Töpfe, die offen­sicht­lich meine waren, und sagte: ›Ich möchte, daß du mir die gibst.‹ Ich zögerte keine Sekunde und sagte: ›Nimm sie, sie sind deine!‹« (McDougall 1989a, S. 159; Über­set­zung M. H.).

Die Pati­en­tin McDougalls machte wäh­rend des Erzäh­lens eine Bewe­ gung: Sie umfasste mit bei­den Hän­den ihre Brü­ste und streckte dann die Arme, als wollte sie sie jeman­dem geben. Das bedroh­li­che Meer wurde mit der Mut­ter gleich­ge­setzt (fran­zö­sisch »mer« und »mère« klin­gen gleich): Die Pati­en­tin hatte das Gefühl, ihrer Mut­ter alles gege­ ben zu haben, ihre Weib­lich­keit, ihre Vita­li­tät, ihre Müt­ter­lich­keit. Die The­ra­peu­tin (McDougall 1989a, S. 160) ergänzte: Es scheine, sie habe der Mut­ter »die Brust gege­ben«. »Das stimmt genau! Ich habe sie stän­dig gefüt­tert – mit klei­nen Geschen­ken und Auf­merk­sam­kei­ten. Sie brauchte die ganze Zeit Auf­merk­sam­keit, um nicht aus­ein­an­der­zu­fal­len. Ich fühlte mich immer schul­dig, wenn es ihr schlecht ging oder sie unglück­lich war, als wäre es meine Schuld. Ich war ewig unter­ge­be­ner Die­ner. Sie war der Grund mei­ner Exi­stenz. Sie war das ver­las­sene Kind, nicht ich!«

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Also ein typi­scher Fall von Rol­len­um­kehr, die im Traum durch ein (ver­schlüs­sel­tes) Bild von der Brustfütterung, dem »Brust geben« (auch eng­lisch: »to give the breast«; fran­zö­sisch: »don­ner le sein«), dar­ge­stellt wird. Manch­mal holen sich die Eltern auch noch von ihren erwach­se­nen Kin­dern, was sie krie­gen kön­nen, auch mate­ri­ell, wohl ihrer­seits aus dem Gefühl her­aus, immer zu kurz gekom­men zu sein: Lydia S., deren Vater aus Südamerika stammt, berich­tet: Die Eltern woh­nen in einer Sozial­woh­nung, für die sie weni­ger Miete zah­len, weil sie eine Toch­ter (die Pati­en­tin) haben, die aber gar nicht mehr bei ihnen wohnt. Sie ist des­halb nicht frei, sich poli­zei­lich umzu­mel­den. Sie hat Schuld­ge­fühle, das zu tun, weil dann ihre Eltern mehr Miete zah­len müss­ten. Das Kin­der­geld, das die Eltern für sie bekom­men, behal­ten sie ganz für sich. Ande­rer­seits ver­die­nen sie aber so viel, dass die Pati­en­tin nur 60 Pro­zent des Höchst­sat­zes des staat­li­chen Sti­pen­di­ums bekommt, sie zah­len der Toch­ter jedoch kei­nen Pfen­nig. In einem Brief der Mut­ ter, in dem sie immer wie­der extreme Sor­gen aus­drückt, dass die Toch­ter, wenn sie sich nicht ändere, völ­lig lebens­un­fä­hig sei, schreibt sie: »Dass Du Dich an der finan­zi­el­len Unter­stüt­zung der Fami­lie Dei­nes Vaters betei­li­gen willst, ist lobens­ wert.« Frau S. ver­dient sich einen Teil ihres Lebens­un­ter­hal­tes mit Jobs neben dem Stu­dium. bara K., über die ich ausführlich berichtet habe (Hirsch 2001), war auf Bar­ einem Bau­ern­hof mit der Mut­ter allein auf­ge­wach­sen – der Vater war im Krieg geblie­ben. Wie in der Ana­lyse ans Licht kam, war das Kind ein Opfer regel­ rech­ter Kin­der­pro­sti­tu­tion auf dem Bau­ern­hof gewe­sen, indem die Mut­ter es an die Ange­stell­ten und Logisgäste aus­lieh – es blieb offen, ob das gegen Bezah­lung geschah … Wenn die Pati­en­tin, die inzwi­schen stu­dierte und den Miss­ brauch völ­lig ver­drängt hatte, zum Wochen­ende die Mut­ter besuchte, nahm die Mut­ter von ihr 30 Mark als Kost­geld, als sie spä­ter mit ihrem Mann kam, den dop­pel­ten Betrag. Eine per­verse, weil erzwun­gene »cari­tas humana« (s. im Folgenden).

Ein Bei­spiel der Dar­stel­lung der gro­ßen nar­ziss­ti­schen Bedürf­nisse im Alter, die an die Toch­ter gerich­tet wer­den, fin­det sich bei Shake­ speare: King Lear erwar­tet alles von sei­ner Toch­ter Cor­de­lia, und die Zurück­wei­sung löst ein Unmaß an nar­ziss­ti­scher Wut aus. Shengold (1989b) hat die früh­kind­li­che Qua­li­tät der Bedürf­tig­keit des Königs her­aus­ge­ar­bei­tet, wenn diese auch mit inze­stuö­sen Antei­len ver­mischt sein mögen: »Lear will seine Toch­ter als per­fekte Mut­ter haben, als seine Amme, voll von Milch« (S. 229; Über­set­zung M. H.). Das viel­ fach wie­der­holte »nichts« der Toch­ter als Ant­wort auf die Frage, was sie sagen könne, um ihre Liebe zum Vater in Worte zu fas­sen, ver­ steht Shengold als die »zurückweisende Brust«; die Toch­ter »hat eine orale Gabe ver­wei­gert, die für Lear einen ›Busen‹ bedeu­tete, der ›alles‹



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[everything] ent­hielt« (S. 230). Die eigene Gier legt Lear projektiv in die Toch­ter, als er sich auf der Heide in einem gro­ßen Unwet­ter befin­ det. Shengold (1989b) ver­steht die­ses Unwet­ter als Pro­jek­tion der kanni­ba­listi­schen Wut auf die Umge­bung; ähn­lich wie im Traum der Pati­en­tin McDougalls auf das auf­ge­wühlte Meer, wie ich denke. Er wirft dem her­un­ter­ge­kom­me­nen Edgar vor: »Hast du alles Dei­nen Töch­tern weg­ge­ge­ben? … Behieltst dir nichts zurück? Gabst ihnen alles?« Dann sagt Lear zu ihm: »Stirb, du Ver­rä­ter! Nichts sonst könnt’ Natur So tief verwirrn, wie undank­bare Töch­ter. Ist das die Mode, daß ver­sto­ßene Väter mit ihrem Fleisch so wenig Mit­leid haben? Kluge Bestra­fung! Denn es war dies Fleisch ja, das sol­che Peli­kane von Töch­tern zeugte« (Shake­speare [1968–1987]: König Lear, 3. Auf­zug, 4. Szene).

Das heißt, die Toch­ter habe ihn ins Elend gebracht, wie er meint, denn der (ver­dreh­ten) Peli­kan-Fabel (s. u. Teil II, S. 191) nach ernähr­ten sich die gie­ri­gen Jun­gen des Peli­kans von dem Blut der auf­ge­hack­ten Brust der Mut­ter. Anstatt dass er die Brust der Toch­ter kriegt, meint Lear, ihr sein Blut, wie die Peli­kane, geben zu müs­sen, wie er denkt, dass Edgar es getan hätte. Cari­tas humana Über die Patho­lo­gie hin­aus reprä­sen­tiert das Motiv der Brustfütterung durch die eigene Toch­ter wohl ein all­ge­mein mensch­liches Bedürf­nis nach Versorgtwerden (mate­ri­ell und emo­tio­nal) im Alter durch die dann lebens­tüch­ti­gen Kin­der der näch­sten Gene­ra­tion. Ein Bei­spiel ist die Dar­stel­lung des Stil­lens einer gebrech­li­chen, bett­lä­ge­ri­gen Alten durch eine junge Frau auf einer Mar­mor­platte am Ein­gang des Fried­hofs zu Macao10, zusam­men mit dem Ver­tre­ter der näch­sten Gene­ra­tion, einem klei­nen Kind, das offen­bar zor­nig sei­nen Anspruch auf die lebens­spen­ dende müt­ter­li­che Flüs­sig­keit gel­tend macht (vgl. Abbildung 2 ). Das­selbe Mo­tiv ist in einer römi­schen Legende ent­hal­ten, die Valerius Maximus (Facta et Dicta Memorabilia, 5. Buch 7, S. 149) fol­gen­ der­ma­ßen erzählt:

10 Ich danke Mar­grit Marenbach und Dr. Jür­gen Marenbach für das Foto und den Hin­weis auf die chi­ne­si­sche Fas­sung die­ses Motivs.

Darstellung des Stillens einer gebrechlichen, bettlägerigen Alten durch eine junge Frau auf einer Marmorplatte am Eingang des Friedhofs zu Macao13, zusammen mit dem Vertreter der nächsten Generation, einem kleinen Kind, das offenbar zornig seinen Anspruch auf die lebensspendende mütterliche Flüssigkeit geltend macht (s. Abb. 2). 150 Schuldgefühl

Abbildung 2: Marmorplatte am Eingang des Friedhofs in Macao »… der Prä­ tor über­ eine frei gebo­rene Legende Frau, die … zum Todedie ver­ ur­teilt wor­ Dasselbe Motiv istgab in einer römischen enthalten, Valerius den war, dem Tri­um­virn, um sie im Gefäng­nis hin­rich­ten zu las­sen. Als sie dort­hin Maximus (Facta et emp­ Dicta Memorabilia, 7,leid S. 149) den war, fand der Gefäng­nis­a5. uf­sBuch e­her Mit­ mit ihrfolgenderund erdros­ ge­bracht wor­ maßen selte sieerzählt: nicht sofort. Er gestat­tete auch ihrer Toch­ter, sie zu besu­chen, nach­dem er

sie ge­nau unter­sucht hatte, damit sie keine Spei­sen mit hineinnehme; er glaubte näm­lich, die Frau werde Hun­gers ster­ben. Als aber schon meh­rere Tage ver­gan­gen

13 Ich danke Margrit Marenbach und Dr. Jürgen Marenbach für den Hinweis auf die waren, fragte er sich, womit sich die Frau so lange am Leben erhalte, und nach­dem chinesische Fassung dieses Motivs.

er die Toch­ter auf­merk­sa­mer beob­ach­tet hatte, stellte er fest, daß sie ihre Brust ent­blößte und den Hun­ger der Mut­ter mit ihrer Milch stillte. Er mel­dete die­sen so uner­hör­ten, bewunderswerten Vor­fall dem Tri­um­virn, der Tri­um­vir dem Prä­tor, der Prä­tor dem Richterkollegium; dar­auf­hin wurde der Frau ihre Strafe erlas­sen. Wohin führt nicht oder was ersinnt nicht die Liebe zwi­schen Kin­dern und Eltern? Sie fand einen neuen Weg, die Mut­ter im Gefäng­nis am Leben zu erhal­ten. Was näm­lich ist so un­üb­lich, was so uner­hört, wie die Tat­sa­che, daß eine Mut­ter an den Brü­sten der Toch­ter genährt wurde? Nun könnte jemand mei­nen, es sei dies ein Ver­stoß gegen die Natur – wenn nicht das erste Gesetz der Natur vorschriebe, seine Eltern zu lie­ben.«

Hier ist es die Mut­ter, die schmach­tet, ein Enkelkind, zu des­sen Nach­ teil die Alte ver­sorgt wird, ist nicht dar­ge­stellt. In einer ande­ren Ver­ sion ist es der Vater, der im Gefäng­nis darbt; die Legende von Cimon und sei­ner Toch­ter Pera wurde als Bild einer »cari­tas humana« oder



Erste Gruppe Gruppe der der Schuldgefühle: Schuldgefühle: Basisschuldgefühl Basisschuldgefühl Erste

Abbildung 3: 3: Antonio Antonio Belucci Belucci (1654–1726), (1654–1726), Caritas Cimon and Pero Abbildung Romana (Mit freundlicher Genehmigung der1685 Kunsthalle Bremen) (Roman Charity), um (mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bremen)

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»cari­tas romana« bekannt, auch von der christ­li­chen Kir­che als Sinn­ bild wah­rer Näch­sten­liebe ver­wen­det. »Das Bild­mo­tiv beruht auf einer anti­ken Legende, nach der ein Athe­ner Bür­ger im Gefäng­nis vor dem Hungertode bewahrt bleibt, weil seine Toch­ter ihn aus ihrer Brust nährt« (Sachs, Badstübner u. Neumann 1973, S. 74). Es gibt meh­rere künst­le­ri­sche Dar­stel­lun­gen die­ses Motivs: bei­spiels­weise im Chor­ge­stühl des Mag­de­bur­ger Doms (um 1360) und auf einem Bild von Carlo Cignani (1628–1719); ein Bild stammt von Jaques-Antoine Beau­fort (1721–1784), Musée des Beaux Arts, Bor­deaux; drei Gemälde sind im Besitz der Bre­mer Kunst­halle (Joa­chim von Sandrart [1606–1688], »Cimon und Pera«, 1645; Anto­nio Belucci [1654–1726], »Cari­tas Romana«, 1688 [s. Abbildung 3]; Noel-Nico­ las Coypel: »Cimon und Pera«). In die­sen Dar­stel­lun­gen fehlt meist auch die Kin­der-Gene­ra­tion nicht, sodass sie eine beson­dere Form des »Anna-selbdritt-Motivs« abbil­den, eine Drei­ei­nig­keit der Gene­ra­tio­ nen. Hier ist es aber nicht, wie es Berger (1989, S. 266) so über­zeu­ gend am Bei­spiel des Leonardo-Bil­des abge­han­delt hat, die »Mut­ ter-Figur … [als] zu hal­tende und tra­gende Gestalt, aus deren siche­ren Schoß her­aus sich eine angst­freie weib­li­che Geste zum Kind hin bil­ det«, das heißt die gute müt­ter­li­che Erfah­rung der eige­nen Kind­heit, auf deren Grundlage eine aus­rei­chende müt­ter­li­che Hin­wen­dung zum eige­nen Kind mög­lich ist. Viel­mehr ist in der Dar­stel­lung der »cari­tas humana« eine Umkehr der Rich­tung der müt­ter­li­chen Zuwen­dung zur Eltern­ge­ne­ra­tion hin gemeint, wäh­rend die berech­tig­ten Ansprü­che des klei­nen Kin­des erst ein­mal zurück­ste­hen müs­sen. (Das Kind auf der chi­ne­si­schen Dar­stel­lung pro­te­stiert recht hef­tig.) Aber immer­hin, die bild­li­chen Dar­stel­lun­gen geben meist so viel Har­mo­nie in der Kom­po­ si­tion der drei Gene­ra­tio­nen wie­der, dass man auch hier davon aus­ge­ hen kann, dass es die alle­go­ri­sche Dar­stel­lung wün­schens­wer­ter, nicht aus­beu­te­ri­scher An­sprü­che der altern­den Eltern und ihrer Erfül­lung ist.

Die Exi­stenz ist gewollt, aber das Kind ist nicht »rich­tig« Im Ver­gleich mit dem über­wie­gen­den, und zwar ein­deu­ti­gen Nicht-willkommen-Sein ist ein Kind, des­sen Exi­stenz zwar erwünscht ist, das aber nicht den Erwar­tun­gen der Eltern genügt, weit mehr mit Ambi­ va­lenz kon­fron­tiert. Es las­sen sich einige For­men die­ser Dis­kre­panz vor­stel­len, etwa wenn es sich um ein miss­ge­bil­de­tes Kind han­delt oder eines, das von einem unge­lieb­ten Part­ner stammt. Am häu­fig­sten rührt die Dis­kre­panz zwi­schen Erwar­tung und Rea­li­tät wohl vom »fal­schen«



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Geschlecht des Kin­des her; immer noch häu­fi­ger berei­tet davon das weib­li­che Geschlecht die Ent­täu­schung, manch­mal ist aber auch ein Mäd­chen gewünscht, abhän­gig unter Umstän­den auch von der Zahl der Geschwi­ster und deren Geschlecht; nach drei oder vier Jun­gen soll es end­lich ein Mäd­chen sein, und umge­kehrt! Wie auch beim »ein­ deu­tig« abge­lehn­ten Kind wird es immer auch einen Teil in den Eltern gege­ben haben, mit dem es ange­nom­men wor­den ist, schließ­lich haben die Kin­der über­lebt. Eine Ein­tei­lung einer­seits in ganz abge­lehnte und ande­rer­seits zwar will­kom­mene, aber ihrer Eigen­schaf­ten wegen abge­ lehnte Kin­der ist des­halb etwas künstlich. Es ist mein Ein­druck, dass die Ambi­va­lenz sich im Selbst­ge­fühl und im Ver­hal­ten der spä­te­ren Pati­en­ten aus­drückt. Zum Bei­spiel könnte es sein, dass ein Kind einen Teil von sich ent­wickelt, der depres­siv, schuld­be­la­den die Ableh­nung, ein ande­rer, rebel­lie­ren­der, akti­ver das prin­zi­pi­elle Gewolltsein reprä­ sen­tiert. Oder ein Kind, das »eigent­lich« gewollt war, kann sich eher an die Erwar­tun­gen anpas­sen, etwa an bestimmte Geschlechtsrollenerwartungen, jeden­falls bis zu einem gewis­sen Alter (oft der Puber­tät), sodass es erst dann wie­der zu offe­ner Ableh­nung kommt. Die bei­den Berei­che, die von den denk­ba­ren Mög­lich­kei­ten der Zurück­wei­sung eines ursprüng­lich gewünsch­ten Kin­des hier bespro­chen wer­den sol­ len, sind die des »fal­schen Geschlechts« und des »Ersatzkindes«.

Das »fal­sche« Geschlecht Lillian Rotter (1934, S. 368; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) wollte im Ver­ gleich zum Penis­neid

»das Inter­esse auf eine viel weni­ger gewür­digte Erschei­nung len­ken: Auf den Unter­schied im Betra­gen der Mut­ter gegen ihre Toch­ter und ihren Sohn. Auf Schritt und Tritt bekom­men wir den fle­hent­li­chen Wunsch gravider Frauen zu hören: Ihr Kind möge doch ein Junge wer­den! Die­sel­ben Frauen pfle­gen zumeist ihre Ent­täu­schung – ja oft sogar Krän­kung –, wenn es doch nur ein Mäd­chen gewor­den ist, gar nicht zu ver­heim­li­chen.«

Natür­lich bezieht die Ferenczi-Schü­le­rin Ein­stel­lung und Ver­hal­ten der Umwelt und ins­be­son­dere der immer noch wich­tig­sten Bezugs­per­ son des klei­nen Kin­des, der Mut­ter, auf die Bil­dung der Ein­stel­lung des Indi­vi­du­ums zu sich selbst und sei­nem Geschlecht, sei­nem Kör­per, sei­nen Eigen­schaf­ten mit ein. »Die Selbst­an­kla­gen, der gegen die eigene Per­son gerich­tete Tadel der weib­li­chen Kran­ken – die Kranke fin­det sich häß­lich, klein, schwach – hän­gen meist mit dem Penismangel zusam­men, doch stellt es sich oft her­aus, daß die Kleine diese Kla­gen zuerst von der Mut­ter gehört hatte, wie das bei einer Kran­ken der Fall war, deren

154 Schuldgefühl Mut­ter beim Baden der klei­nen Toch­ter immer lamen­tierte, wie klein, schwarz und häß­lich ihr klei­nes Mäd­chen doch sei! Ihren Sohn aber bewun­derte sie stets« (Rotter 1934, S. 368).

Auch bei Kramer (1983, S. 333) fan­den wir ein Bei­spiel sol­cher Hal­ tung: Wenn schon die Schwan­ger­schaft aus­ge­tra­gen wer­den muss, dann soll es wenig­stens ein Junge sein! Ich habe berich­ten hören, dass die Mut­ter einer Pati­en­tin direkt nach der Nie­der­kunft, als man ihr das neu­ge­bo­rene Mäd­chen reichte, aus­rief: »Da ist ja gar kein Schnie­pel dran!« In einem ande­ren Fall war der Vater, der mit einem Blumen­ strauß in die Kli­nik geeilt war, der­art ent­täuscht über das weib­li­che Geschlecht sei­nes neu­ge­bo­re­nen Kin­des, dass er die Blumen in die Ecke warf und drei Tage nicht mit sei­ner Frau sprach. Eine Pati­en­tin, Herta H., suchte die The­ra­pie auf, weil sie mit ihrem 18jäh­ri­gen Sohn nicht mehr zurechtkam, hin und her­ge­ris­sen zwi­schen dem Schuld­ge­fühl, ihm Gren­zen set­zen zu wol­len und einem ande­ren, dazu nicht in der Lage zu sein und des­halb als Mut­ter zu ver­sa­gen. Ihr Ehe­mann hielt sich aus den Fra­gen der Erzie­hung des ein­zi­gen Kin­des völ­lig her­aus. Ganz anders in der Her­kunfts­fa­mi­lie der Patientin, in der der Vater abso­lut domi­nierte und die Mut­ter sich völ­lig unter­ ge­ord­net hatte, kei­nen Beruf aus­übte, jedoch oft ins­ge­heim mit »viel Diplo­ma­ tie« ihren Wil­len durchzusetzen ver­stand. Die um ein Jahr jün­gere Schwe­ster war immer sehr weib­lich, sie sieht auch die ganze Fami­lien­dy­na­mik viel wohl­wol­len­ der als die Pati­en­tin, die immer mehr jun­gen­haft und wild war, gegen Familienunternehmungen rebel­lierte und die mei­ste Prü­gel des auto­ri­tä­ren Vaters ein­steckte; immer hatte sie das Gefühl, wegen ihrer Wild­heit in der Fami­lie nicht aner­kannt zu wer­den. Die Schwe­ster dage­gen meint heute, sie (die Pati­en­tin) sei doch das Lieb­lings­kind des Vaters gewe­sen, auch wenn er lieber einen Jun­gen gehabt hätte. In der Ado­les­zenz hielt sie es in der Fami­lie kaum mehr aus, hei­ra­tete gegen den extre­men Pro­test des Vaters sehr früh einen viel älte­ren Mann, von dem sie sich aner­kannt fühlte. Sie hatte keine Berufs­aus­bil­dung, zwei Fehl­ge­bur­ten ver­setz­ten sie in völ­lige Ver­zweif­lung, und als sie schließ­lich einen Sohn gebo­ren hatte, war sie »unheim­lich stolz«. Spä­ter eroberte sie sich auch eine beruf­li­che Kar­riere, wäh­ rend die Schwe­ster ganz in ihrer Ehe und in ihrer Rolle als Mut­ter von drei Kin­dern auf­gehe. Sie könnte eigent­lich zufrie­den sein, käme aber mit dem negativistischen, rebel­li­schen Ver­hal­ten des Soh­nes nicht zurecht, sei hin und her­ge­ris­sen zwi­schen Wut, Schuld­ge­fühl und Ver­zweif­lung. Es konnte erar­bei­tet wer­den, dass die Pati­en­tin sowohl mit ihrer aggres­si­ven, rebel­li­schen Seite, die sie in ihrem Sohn wie­der­er­lebte, als auch mit ihrer pas­si­ven, gewäh­ren­den, zurück­hal­ten­den Seite nicht ein­ver­stan­den war, bei­des hielt sie nicht für rich­tig und erlebte es als schuld­haft. Hier aktua­li­siert sich wie­der die Ambi­va­ lenz der Eltern bzw. der Fami­lien­dy­na­mik: Sie war ein Wunsch­kind, aber hätte ein Junge sein sol­len. Die Schwe­ster war gar nicht erwünscht, schon ein Jahr nach der Geburt des ersten Kin­des, aber in der wei­te­ren Ent­wick­lung hat sie anschei­nend doch eine aus­ge­gli­chene weib­li­che Iden­ti­tät ent­wickeln kön­nen. Mit der frü­hen Hei­rat hat die Pati­en­tin einer­seits gegen die Fami­lie rebel­liert, ande­rer­seits sich in eine ähn­liche Rolle bege­ben wie die Mut­ter, offen­bar unbe­wusst, in der Erwar­tung, end­lich einen Sohn zu gebä­ren. In der Rebel­lion des adoleszenten Soh­nes aktua­li­ sierte sich ihr eige­ner Identitätskonflikt wie­der.



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Aber auch das männ­li­che Geschlecht ist manch­mal unwill­kom­men: Nach wie­der­hol­ten, äußerst demon­stra­ti­ven Sui­zid­ver­su­chen in Zustän­den aggres­si­ ven Kon­troll­ver­lu­stes suchte ein 40jäh­ri­ger Pati­ent, Gerd O., die The­ra­pie auf. Er hatte einen »ziem­lich bru­ta­len Vater, der oft betrun­ken vom Dienst kam und viel geprü­gelt hat«. Der Vater war erst bei der SS, spä­ter bei der Poli­zei gewe­sen. Die Eltern waren bereits meh­rere Jahre ver­hei­ra­tet, bis der nun sehr erwünschte älte­ste Sohn, der spätere Patient, gebo­ren wurde. Seine Exi­stenz war aber von zwei Hypo­the­ken bela­stet: Die Mut­ter, wie sie spä­ter erzählte, fühlte sich gar nicht wohl, ein Kind männ­li­chen Geschlechts zu haben, dem gegen­über sie eine gewisse Ehr­furcht, Scheu, dadurch aber auch große Distanz emp­fun­den hatte; eigent­lich war sie wäh­rend der Schwan­ ger­schaft fest über­zeugt gewe­sen, ein Mäd­chen zu bekom­men. Der Vater dage­gen war mit dem Geschlecht des Soh­nes ein­ver­stan­den, hatte jedoch nichts ande­res mit ihm im Sinn, als dass er ein­mal »was Bes­se­res« wer­den sollte. Anschei­nend hatte Herr O. die Auf­gabe, diese ver­schie­de­nen sich wider­spre­chen­den Zuschrei­bun­gen zu ver­ein­ba­ren bzw. sich von ihnen zu befreien, nicht anders lösen kön­nen, als sich imi­ta­to­risch mit der bru­tal-männ­li­chen Seite des Vaters zu iden­ti­fi­zie­ren: Er war ein Waffennarr gewor­den, es kam über die Jahre immer wie­der zu Alko­hol­ex­zes­ sen, die Kontrollverluste führ­ten immer wie­der zu Tät­lich­kei­ten, auch gegen die jewei­li­gen Part­ne­rin­nen. Wenn er Hand an sich selbst legte, geschah das immer in Anwe­sen­heit der Frau, mit der er gerade zusam­men war, offen­bar als extrem aggres­si­ver Appell gemeint, end­lich als er selbst aner­kannt zu wer­den. Auch in die­sem Falle gab es einen Bru­der, der wahr­lich nicht gewünscht war: Der Vater hatte in einer hef­tig para­noi­den Reak­tion auf die erneute Schwan­ger­schaft rea­giert, indem er dachte, das Kind sei nicht von ihm; immer war der Bru­der der Abge­ lehnte, Unglück­li­che, Unschein­bare von den Geschwi­stern. Der Bru­der habe aber ohne jedes Auf­se­hen sei­nen Weg gefun­den und sich jetzt eine erfolg­rei­che Posi­tion erkämpft, wäh­rend Herr O. es nie wirk­lich zu etwas gebracht hatte. »Jetzt bekommt er Aner­ken­nung von mei­nem Vater, und Mut­ter hört auf ihn wie ein Hünd­chen, dabei ist er doch jün­ger als ich!«

In sol­chen Fäl­len ver­su­chen die Kin­der, sich den elter­li­chen Erwar­ tun­gen anzu­pas­sen, Mädchen ent­wickeln bei­spiels­weise jun­gen­hafte Ver­hal­tens­wei­sen wie Frau H., klet­tern auf Bäume, tra­gen Hosen und kurze Haare. Schlimm nur, wenn sie nun wegen ihrer »Wild­heit« in die Schran­ken ver­wie­sen wer­den. Es ist eben im all­ge­mei­nen so, dass die Anpassungsvorgänge nicht aus­rei­chen, die ursprüng­li­che Ableh­nung zu besei­ti­gen. Weder die dem Mäd­chen mög­li­che Rebel­lion führt zur Aner­ken­nung, noch reicht die Anpas­sung an die Erwar­tun­gen aus, wie wir in den Bei­spie­len bemer­ken konn­ten. Und beide Rich­tun­gen des Ver­hal­tens als Aus­druck von Identitätsanteilen ver­ur­sa­chen Schuld­ge­ fühle, was beson­ders im Bei­spiel von Frau H. zu sehen war. Dage­gen sind die Geschwi­ster, die nicht der­art zwi­schen Wunsch­ kind-Pro­jek­tion und Ent­täu­schung zer­ris­sen sind, oft unauf­fäl­li­ger und ziel­stre­bi­ger, sodass sie die Pro­blem­kin­der »über­ho­len«. Ähn­lich haben Engel und Ferguson (1990, S. 142) fest­ge­stellt, dass der­ar­tige Rebel­lio­nen und auch bestimmte ent­wickelte Fähig­kei­ten oder Erfolge

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nicht hal­ten kön­nen, son­dern durch unbe­wusste Sabo­tage die ursprüng­ li­chen nega­ti­ven Bot­schaf­ten der Eltern erfül­len.

Totes Geschwi­ster I – Das Ersatzkind Der Tod eines Geschwi­sters kann ganz ver­schie­dene Bedeu­tun­gen und Wir­kun­gen haben, je nach­dem ob bereits eine Bezie­hung zu ihm bestan­den hat oder nicht. Im ersten Fall ist es die Auf­gabe auch des klei­nen Kin­des, durch Trauer­arbeit die Bezie­hung zu lösen, um zu sich selbst zu kom­men, und das aus Aggres­sion und Neid zusam­men mit den kind­li­chen Todeswünschen ent­stan­dene Schuld­ge­fühl zu ver­rin­ gern oder zu ver­lie­ren. Je mehr die Umge­bung, allen voran Vater und Mut­ter, ihrer­seits zu trau­ern in der Lage sind, um so eher kann es auch das Kind. Ganz anders ver­hält es sich mit dem Tod eines Geschwi­s­ters zu einer Zeit, als das über­le­bende Geschwi­ster noch gar nicht gebo­ren oder so jung war, viel­leicht ein Säug­ling noch, dass es keine wirk­li­ che Bezie­hung zum ver­stor­be­nen Geschwi­ster hatte ent­wickeln kön­ nen. Die dann ent­ste­hen­den Fol­gen müs­sen ihm ver­mit­telt wor­den sein durch die Men­schen, die eine Bezie­hung zu dem ver­stor­be­nen Kind hat­ten und den Ver­lust nicht aus­rei­chend bewäl­ti­gen konn­ten, sodass sie das lebende Kind ver­wen­den, um ihn nicht wirk­lich (affek­tiv) wahr­ ha­ben zu müs­sen. In gewis­ser Weise muss das lebende das gestor­bene Kind erset­zen, es bekommt die Iden­ti­tät eines ande­ren ver­schrie­ben, um nicht zu sagen implan­tiert, ohne zu wis­sen, was ihm ge­schieht. Das Phä­no­men »Ersatzkind« übt eine eigen­ar­tige Fas­zi­na­tion aus, und das liegt wohl daran, dass das Intro­jekt, wel­ches im Kind ent­steht, den Cha­rak­ter des Unheim­li­chen trägt. Es ist nicht zu grei­fen, ent­zieht sich der Ana­lyse, es nimmt einen Raum im Selbst ein, der fremd­ar­tig wirkt. Das Phä­no­men des Ersatzkindes ist der über­zeu­gende Beweis, dass im Kind psy­chi­sche Gebilde zu ent­ste­hen ver­mö­gen, an denen es selbst und seine Triebe nicht mit­ge­wirkt haben kön­nen, da ein Ereig­nis vor der Exi­stenz des Kin­des wirk­sam wurde. Das Kind ist »unschul­ dig«; und doch fühlt es sich schul­dig – jedes Intro­jekt macht Schuld­ ge­fühle. Das Ein­zel­kind kann die omni­po­tente Phan­ta­sie ent­wickeln, selbst ver­ur­sacht zu haben, dass die Eltern keine wei­te­ren Kin­der haben (Ar­low 1972), auch ohne dass zuvor ein Geschwi­ster gestor­ben ist. Eine sol­che Phan­ta­sie macht bereits Schuld­ge­fühle, zumal sie sich auf die eigene intra­ute­rine Zeit erstrecken kann, in der alle denk­ba­ren Ge­schwi­ster in einem sieg­rei­chen Kampf im Keime erstickt wor­den sind, wie Ar­­low berich­tet. Die Fol­gen sind Angst vor Rache, Schuld­ ge­fühl und Straf­be­dürf­nis, auch Pro­jek­tion des phan­ta­sier­ten Angriffs



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oder der Strafe auf den Kör­per, sodass hypo­chon­dri­sche Äng­ste auf­ tre­ten. Aber nicht allein die Phan­ta­sie bewirkt der­ar­tige Äng­ste, auch die sub­ti­len oder offe­nen Bot­schaf­ten der Eltern wir­ken in dem Kind, sicht­bar an Mit­tei­lun­gen, wie sie Arlow (1972, S. 515; Über­set­zung M. H.) wie­der­gibt: »Wir dach­ten, wir könnten kein ande­res Kind lie­ben, oder: Du hast alle Liebe bekom­men, und da blieb für ein ande­res Kind nichts übrig; manch­mal hat die Antwort (auf die Frage des Kin­des) einen ent­schie­den nega­ti­ven Klang: Es hat so viel Opfer geko­stet, für dich zu sor­gen, wir dach­ten, wir könn­ten das mit einem ande­ren Kind nicht wie­der durch­ste­hen.«

Wenn schon Schuld­ge­fühle ent­ste­hen wegen der Phan­ta­sie, die bloß mög­li­chen Geschwi­ster besei­tigt zu haben, um wie­viel mehr dürfte ein tat­säch­li­cher Tod Schuld­ge­fühle machen, auch wenn er vor der eige­nen Geburt ein­ge­tre­ten ist. Nur: Offene Mit­tei­lun­gen der Eltern gab es nicht. Oder es gab sie, aber sie hat­ten keine affek­tive Ent­spre­ chung, als ob es sie auch wie­derum nicht wirk­lich gege­ben hätte. Sie wer­den – bloße Infor­ma­tio­nen – oft wie­der ver­ges­sen. In ihrer klas­­sischen Arbeit haben Cain und Cain (1964) die Grund­züge der Dyna­mik des Ersatzkindes auf­ge­zeigt: Die Bin­dung der Eltern an das verlorene Kind und die Sehn­sucht nach ihm blei­ben inten­siv, das Ersatzkind wird in eine Welt von Depres­sion und Sorge hin­ein­ge­ bo­ren. Seine »Exi­stenz ist fast aus­schließ­lich als Teil des Ver­suchs, das ver­lo­rene Objekt zurück­zu­erhal­ten oder wie­der­zuge­win­nen« (S. 453), zu sehen, und die Bezie­hung zu ihm wird über­schat­tet vom Bild des ver­lo­re­nen Kin­des. Die Auto­ren über­set­zen das Unbe­wusste der Eltern in eine sekundärprozesshafte Spra­che, und dabei erscheint eine Schuld­ zuwei­ sung, die genau dem spä­ te­ ren Schuld­ ge­ fühl des Kin­ des ent­spricht: »Das neue Kind ist anstelle unse­res toten Kin­des am Leben. Es hat sei­nen Platz ein­ge­nom­men. Die­ses Kind ist nicht unser totes Kind, aber es sollte es sein, es ist seine Schuld, dass es es nicht ist …. Es ist ver­ant­wort­lich für all das, es ist ganz seine Schuld« (S. 448; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Ein jun­ger Mann, Beatus C., befand sich seit lan­gem in ana­ly­ti­scher The­ra­pie; er litt unter einer schwe­ren chro­ni­schen ent­zünd­li­chen Darm­er­kran­kung. (Auch eine Pati­en­tin Küchenhoffs [1991] war an Mor­bus Crohn erkrankt und trug das Intro­jekt eines toten Geschwi­sters in sich.) Er machte einen wei­chen, »femi­ni­nen« Ein­druck, und sein Vor­name, Beatus, war für einen männ­li­chen Namen in der Gegend, aus der er stammte, recht unge­wöhn­lich; man dachte gleich, ob er wohl eine »Beate« hätte sein sol­len. Die Darm­er­kran­kung machte ihn fast lebens­un­fä­hig, mit aller Kraft und der Hilfe der The­ra­pie konnte er sich in sei­nem Stu­dium müh­ sam von Prü­fung zu Prü­fung arbei­ten, konnte nicht ver­rei­sen, keine Jobs anneh­ men, musste immer wie­der Ärzte auf­su­chen, die er aller­dings allzu häu­fig gegen­

158 Schuldgefühl ein­an­der aus­spielte. Die andere große Schwie­rig­keit lag in sei­nen Bezie­hun­gen zu Mäd­chen, die ent­we­der, sel­ten genug, kame­rad­schaft­li­chen Cha­rak­ter hat­ten oder Sehnsuchtsbeziehungen zu uner­reich­ba­ren Liebesobjekten waren, die er aus der Ferne begehrte, ohne je mit ihnen zu spre­chen. Der ele­men­tare Cha­rak­ter der lebenseinschränkenden Kraft machte Herrn C. und den The­ra­peu­ten immer wie­der mut- und rat­los; es war, als ob alle durch­aus berech­tig­ten psy­cho­dy­na­mi­schen und fami­li­en­dy­na­mi­schen Zusam­men­hänge keine ver­än­dernde Kraft ent­fal­ten konn­ten. Als bloße Infor­ma­tion hatte Herr C. in den Vor­ge­sprä­chen ange­ge­ben, dass die Eltern ein erstes Kind gehabt hat­ten, das vor sei­ner Geburt gestor­ben war – sel­ ten erin­nerte er sich in den Jah­ren der The­ra­pie daran, und auch der The­ra­peut fand keine rechte Ver­bin­dung zwi­schen Lebenseinschränkung und die­sem unbe­ kannt-bekann­ten Tod. Der Gedanke lag nahe, dass Herr C. ein Mäd­chen hätte erset­zen sol­len, aber die Eltern berich­te­ten, nach­dem er sie gefragt hatte, es sei ein Junge gewe­sen. Herr C. fragte sich, ob die Eltern unfä­hig gewe­sen seien, über­ haupt einen Jun­gen zu haben oder ob sie wegen des Todes des ersten Jun­gen unbe­ wusst gemeint haben könn­ten, dass auch er wegen sei­nes Geschlechts gefähr­det sei, sodass sie ihn eher als Mäd­chen behan­del­ten. »Warum hat es mich so (mit der Krank­heit) getrof­fen, warum nicht meine Schwe­stern? Die haben alle ihren Füh­ rer­schein gemacht, sau­sen in der Gegend herum und haben Bezie­hun­gen!« Wann seine Krank­heit ange­fan­gen habe, fragt jemand aus der Gruppe. Direkt nach­dem er gegen den Wil­len der Eltern nicht an einer kirch­li­chen, son­dern an einer staat­li­chen Hoch­schule zu stu­die­ren ange­fan­gen habe, um näm­lich in der Nähe des Mäd­chens zu sein, das die Eltern ablehn­ten. Aber nie habe er eine »rich­tige« Freun­din gehabt, nie mit einer Frau geschla­fen. Er habe zwar auch den Füh­rer­schein gemacht, habe aber große Schwie­rig­kei­ten zu fah­ren … Als ob die männ­li­che Iden­ti­tät erst die Ablö­sung so gefähr­lich machte; der Ein­tritt eines wirk­li­chen Fort­schritts in der The­ra­pie wird wohl davon abhän­gen, ob die schwe­ren Schuld­ge­fühle, als Mann leben und sich ablö­sen zu wol­len, als Affekt her­ge­stellt und Angst, Wut (auf die behin­dern­den Eltern) und Trauer­arbeit (über das gestor­bene Geschwi­ster), die eigent­lich die Eltern hät­ten lei­sten sol­len, erlebt wer­den kön­nen.

Ähn­lich berich­tet auch Cournut über

»Ana­ly­sen, die so lange sta­gnie­ren, bis sich ein unbe­kann­ter oder ver­kann­ter Todes­fall offen­barte, …, der sich vor der Latenz­pe­ri­ode des Pati­en­ten ereig­nete, in zeit­li­cher Nähe sei­ner Geburt oder sogar vor­her, nicht den Vater oder die Mut­ ter betref­fend, son­dern einen Großelternteil oder ein älte­res Geschwi­ster, das früh ver­starb« (Cournut 1988, S. 76).

Aus neben­bei gemach­ten Bemer­kun­gen wie: »Ich glaube, meine Mut­ ter hatte einen Sohn vor mir, aber er starb vor mei­ner Geburt, ich habe ihn nicht gekannt« (S. 77) schließt Cournut, »daß ein Toter umher­ irrte, von dem nie­mand etwas wis­sen wollte« (S. 76).

Die Mut­ter von Ange­lika A. hatte ihr schon, als sie ein Kind war, erzählt, dass sie sie­ben Jahre vor ihrer Geburt eine Tot­ge­burt gehabt hatte, es hätte ein Junge sein sol­len … In Zei­ten der Regres­sion bekommt die­ser tote Bru­der eine selt­same Qua­li­tät von Wirk­lich­keit im Erle­ben der Pati­en­tin: »Mein Bru­der ist in mei­nem Kopf, da sind wir drei …« Sie stellt ihn sich vor, spricht mit ihm. (Der Sinn scheint



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dann zu sein, dass sie mit der Mut­ter in illu­sio­nä­rer Vor­stel­lung sei­ner Exi­stenz ver­bun­den ist.) Dann wie­der hat sie die Phan­ta­sie, es hät­ten nur zwei auf einer Bank Platz und sie hätte sich als jüng­stes Geschwi­ster auf die eine Seite gesetzt, sodass auf der ande­ren das tote Geschwi­ster hin­unter­ge­fal­len sei. Die Eltern hat­ ten gesagt, sie hät­ten nicht getrau­ert, es sei sowieso Krieg gewe­sen (1949!). Die Pati­en­tin ver­setzt sich in die Mut­ter, die etwas Totes in ihrem Kör­per trägt, etwas Kal­tes, wie ent­setz­lich.

Die Geburt eines Kin­des ist immer ein Ver­lust, näm­lich der der Schwan­ ger­schaft, als ob ein Kör­per­teil ver­lo­rengeht, aber dafür bekommt die Mut­ter ein Kind. Bei einer Tot­ge­burt bekommt die Mut­ter nichts. Wenn die Eltern nicht trau­ern kön­nen, muss das tote Kind irgendwo blei­ben, es scheint wie ein Geist in der Phan­ta­sie von Mut­ter und Toch­ter weiter zu exi­stie­ren. Bei nähe­rer Beschäf­ti­gung mit dem Phä­no­men des Ersatzkindes ent­steht das Unheim­li­che durch unbegreifbare Zusam­men­hänge und Ko­in­zidenzen völ­lig von­ein­ander unab­hän­gi­ger Schick­sale ver­schie­ de­ner Men­schen, deren Gemein­sa­mes aber ein totes Kind, ein vor ihrer Geburt oder in den ersten Lebens­mo­na­ten ver­stor­be­nes Geschwi­ster ist. Fran­çoise, eine Pati­en­tin Lebovicis (1988, S. 55), ent­hüllt dem Ana­ ly­ti­ker,

»daß sie auf den Tag genau ein Jahr nach der Tot­ge­burt einer Schwe­ster namens Fran­çoise zur Welt kam; da sie schick­sal­haft als Ersatz für ihre tote Schwe­ster ge­bo­ ren wurde, gab man ihr den­sel­ben Vor­na­men. Sie hatte getan, was sich gehörte: Sie hatte genau den Platz ihrer toten Schwe­ster ein­ge­nom­men und war nichts weiter als deren Ersatz gewe­sen; sie hatte also kein Recht auf eine eigene Iden­ti­tät.«

Nagera (1967, S. 10) berich­tet über van Gogh:

»Am 30. März 1852 wurde das erste Kind ihrer Ehe gebo­ren. Es erhielt den Namen Vin­cent Wil­lem van Gogh, kam jedoch unglücklicherweise tot zur Welt. Das Schick­sal wollte es, daß genau am glei­chen Tag des glei­chen Monats, nur ein Jahr spä­ter, ihr zwei­tes Kind gebo­ren wurde. Auch es bekam den Namen Vin­cent Wil­ lem van Gogh, nach dem tot­ge­bo­re­nen Kind … Es war Vin­cents Schick­sal, ohne eigene Iden­ti­tät auf die Welt zu kom­men. Er war ein Ersatz für sei­nen toten Bru­der; ein Beweis dafür ist, daß seine Eltern ihm den glei­chen Namen gaben.«

Küchenhoff (1991, S. 42) berich­tet über Sal­va­dor Dalí:

»Dalís Eltern hat­ten einen ersten Sohn, Sal­va­dor Dalí di Domenech. Die­ser Sohn starb im Alter von 21 Mona­ten am 1. August 1903. Am 11. Mai 1904 wurde im glei­chen Haus und im glei­chen Bett der zweite Sal­va­dor gebo­ren; nur neun Monate und 10 Tage tren­nen den Tod des ersten von der Geburt des zwei­ten Soh­nes. Für die Eltern spielt das ver­stor­bene erste Kind unent­wegt eine Rolle, sein Bild hängt über dem Ehe­bett, die Eltern ver­glei­chen beide Söhne stän­dig. Dies wird von Dalí selbst so geschil­dert, aber auch seine Umge­bung, z.B. sein Cou­sin und der Bür­ger­mei­ster von Figueras, bezeu­gen, daß der ver­stor­bene Bru­der stän­dig eine Rolle spielt. ›Sie ver­gli­chen die Kin­der jeden Tag neu. Sie benutz­ten die­sel­ben Klei­der und gaben

160 Schuldgefühl ihnen die­sel­ben Spiele. Sie behan­del­ten ihn, als wäre er der andere, und Dalí hatte den Ein­druck, daß er gar nicht exi­stierte‹ (zit. Secrest 1988, S. 27; eigene Über­set­ zung [von Küchenhoff]). Dalí be­rich­tet von die­sen unent­weg­ten Anspie­lun­gen auf den Bru­der im All­tag: ›Er erzählte einem fran­zö­si­schen Psych­ia­ter, daß jedes Mal, wenn er fort­ging, seine Mut­ter ihm sagte, setz eine Mütze auf, wenn du nicht ster­ben willst wie dein Bru­der an einer Hirn­haut­ent­zün­dung‹ (a. a. o.).«

Wolffheim (1989, S. 8) berich­tet über Hans Henny Jahnn:

»Doch ent­schei­den­der für seine psy­chi­sche Ent­wick­lung ist, daß er sich mit einer Figur iden­ti­fi­zierte, die weder histo­risch ver­bürgte Bedeu­tung besaß noch auch über den eige­nen Fami­li­en­kreis hin­aus bekannt war. Er iden­ti­fi­zierte sich näm­ lich mit sei­nem eige­nen Bru­der, dem 1891 gebo­re­nen Gustav Robert Jahn, der im August 1893 gestor­ben ist, also ein gutes Jahr vor Jahnns Geburt.«

Niederland (1967, S. 70; Her­ vor­ he­ bung ori­ gi­ nal) berich­ tet über Hein­rich Schliemann: »Das eine Geheim­nis – auf dem Kirch­hof von Neu-Buckow – bezog sich dar­auf, daß dort ein gewis­ser Hein­rich Schliemann begra­ben lag, der gestor­ben war, als der uns bekannte Hein­rich drei Monate alt war. Dies war so: Im März 1822 starb in Neu-Buckow ein acht Jahre älte­rer Bru­der, Hein­rich genannt, und wurde auf dem dor­ti­gen Fried­hof begra­ben, wo auf dem Grab­stein eine ein­ge­mei­ßelte Inschrift den Schmerz der Eltern über den Tod ihres gelieb­ten Soh­nes Hein­rich Schliemann sprach­lich klar zum Aus­druck brachte. Unser Hein­rich Schliemann, d. i. der zweite die­ses Namens, wurde im Januar 1822 gebo­ren. Trotz mei­ner fort­ge­setz­ten Kor­re­spon­denz  … und wei­te­rer Ver­su­che in die­ser Rich­tung hat sich bis­her nicht fest­stel­len las­sen, wie es im Jahre 1822 zur glei­chen Benen­nung der bei­den Brü­der sei­tens der Eltern kam.« (Ich denke, die Eltern haben nach dem Tod des Älte­ren das Neu­ge­bo­rene im Alter von drei Mona­ten ein­fach nach jenem benannt, da es vor­her nicht getauft war. Oder der Vater, Pfarrer der Gemeinde, hat den schon existierenden Namen des uns bekannten Heinrich im Taufregister verändert.)

Fast immer wei­sen bereits die zeit­li­chen Verhältnisse des Todes des Ge­schwi­sters und der Zeu­gung des Ersatzkindes auf die Inten­tion der Eltern hin. Inso­fern ist es sicher nicht ein­fach ein »Schick­sal«, das Nagera und Lebovici beschwö­ren. Die Namens­gebung jeden­falls bei vier von den fünf Fäl­len belegt dra­stisch die Ersatzidentität. Und auch im fünf­ten Fall, dem Hans Henny Jahnns, kommt es zu einer Na­ mensangleichung zwi­schen totem und leben­dem Geschwi­ster:

»Auf­schluß­reich ist nun, daß Jahnn diese erträumte Wesens­gleich­heit mit dem toten Bru­der soweit trieb, daß er die­sem – ent­ge­gen allen nach­prüf­ba­ren Familiendaten – sei­nen eige­nen Namen gab, von ihm immer als Hans Jahn sprach, wie sich aus Tage­buch­ein­tra­gun­gen seit dem Jahre 1913 erken­nen läßt. Ich weiß – dort werde ich nie ruhen, dort ruht schon ein Hans Jahn! Ich könnte es sein, denn auf dem Grab­stein steht nur: ›Hier ruhet Hans Jahn.‹ – Ich könnte es sein, aber es ist mein Bru­der  … Es ist bezeich­nend, daß er noch im Man­nes­al­ter an der Fik­tion fest­ hält, sein Bru­der habe den glei­chen Namen getra­gen wie er sel­ber« (Wolffheim 1989, S. 8 f.; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).



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Schliemann ist zu ähn­lich eigen­mäch­ti­ger Identitätsveränderung in der Lage: »Die inten­si­ven Wiederherstellungsstrebungen äußern sich u.a. auch darin, daß er sei­nen Vater Adolph in vie­len Brie­fen ein­fach zu sei­nem ›Bru­der‹ macht und ihn so bezeich­net« (Niederland 1967, S. 68).

Jahnn gab nicht nur sei­nem ver­stor­be­nen Bru­der eigen­mäch­tig den eige­nen Namen, er ver­än­derte auch eigen­mäch­tig sei­nen eige­nen zwei­ten Vor­na­men: Aus Henry machte er Henny, nach Anga­ben sei­ ner Bio­gra­phin durch­aus ein weib­li­cher Vor­name, sei­ner »bise­xu­el­len Anlage« ent­spre­chend:

»Aus­drück­lich ver­merkt Jahnn, die Mut­ter habe sich statt sei­ner eine Toch­ter gewünscht, was durch­aus denk­bar ist, da sie ja bereits drei Söhne gebo­ren hatte …. Die Ver­mu­tung liegt nahe, daß er damit eine Erklä­rung für seine früh erfah­rene bise­xu­elle Anlage zu gewin­nen suchte« (Wolffheim 1989, S. 12).

Und Jahnn tut ein übri­ges: Er ver­än­dert sei­nen Fami­li­en­na­men, macht aus Jahn: Jahnn. Und er fin­det einen Vor­fah­ren, einen Bau­mei­ster »Jann«, der trotz aller Recher­chen aber nicht auf­find­bar ist (Wolffheim 1989). Wir wis­sen bereits, wie bedeu­tungs­voll die Namens­gebung für die Iden­ti­tät ist; auch an der Namens­gebung kann man die Mensch­wer­ dung in der Gene­sis able­sen (s. Teil I, S. 26). Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass Jahnn sich auf diese Weise sym­bo­lisch seine Iden­ti­tät selbst geben wollte, da sie ihm viel zu sehr vor­ge­ge­ben war. Und wenn er schon mit dem Bru­der gleich­ge­setzt wer­den soll, dann will er es wenig­stens selbst tun, indem er ihn mit sei­nem Vor­na­men benennt. Das Grab des ver­stor­be­nen Geschwi­sters ver­folgt in drei Berich­ten die Über­le­ben­den. »Das Grab die­ses toten Bru­ders lag nahe dem Ein­gang zur Kir­che sei­nes Vaters in Zundert. Wahr­schein­lich sah Vin­cent die­ses Grab min­de­stens jeden Sonn­tag. Es muß wohl einen eigen­tüm­li­chen Ein­druck auf ihn gemacht haben, sei­nen Namen auf dem Grab­stein des Bru­ders zu sehen« (Nagera 1967, S. 10).

Hans Henny Jahnn steht am Grab des Bru­ders: »Und ich kann den­ ken, daß ich schon längst begra­ben liege. Ich stehe an mei­nem Grab und sehe die Schrift: ›Hier ruhet Hans Jahn‹ und denke, daß seine Kraft nicht ruht, son­dern Gro­ßes schafft‹« (Wolffheim 1989, S. 8; Her­vor­he­bung ori­gi­nal). Und Schliemann steht vor dem Grab sei­nes Bru­ders wie vor einem Rät­sel:

162 Schuldgefühl »Was somit für uns Heu­tige noch unge­klärt ist, muß für den über­le­ben­den Kna­ben Hein­rich, nach­dem er lesen gelernt hatte und bei Friedhofsbesuchen der Grab­stätte des ver­stor­be­nen Bru­ders sei­nen eige­nen Namen als Todesinschrift in den Grab­stein gemei­ßelt fand, eines der gro­ßen und beäng­sti­gen­den Geheim­nisse sei­ner Jugend gewe­sen und dar­über hin­aus zeit sei­nes gan­zen Lebens geblie­ben sein. Er war sich offen­bar nie­mals ganz sicher, ob er der tote Hein­rich im Grab oder der lebende Hein­ rich außer­halb des Gra­bes war« (Niederland 1967, S. 70; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Nichts liegt näher als anzu­neh­men, wie es Niederland tut, dass die­ses Rät­sel ein erstes war in sei­nem Leben, das dem Lösen der Menschheitsrätsel schließ­lich geweiht war, der Motor für

»des­sen rast­lose Tätig­keit, Arbeits­wut, Schaf­fen, Rei­sen, Geldver­die­nen, Spra­chen ler­nen, Schrei­ben, Aus­gra­ben, Ver­bor­ge­nes und Ent­schwun­de­nes ans Tages­licht för­dern, Inschrif­ten lesen und ent­zif­fern« (S. 71). – »Ihm kam es vor allem auf die Enterdung – falls es erlaubt ist, die­ses Wort in die deut­sche Spra­che ein­zu­füh­ren; auf eng­lisch: unearthing – des Begra­be­nen und Verlorengeglaubten an, es wie­der ans Tages­licht zu brin­gen und so das Ver­gan­gene, das Tote wie­der­her­zu­stel­len, es der Erde zu ent­neh­men und ›neu‹ oder ›leben­dig‹ zu machen« (S. 68). – »Alles weist dar­auf hin, daß die mit einem früh­kind­lichen Auf­wach­sen sol­cher Art ver­ bun­de­nen Wahr­neh­mun­gen und Erfah­run­gen über Tod, Ster­ben, Tote, Särge, Grä­ ber, Grab­steine für ihn nie­mals ihren erre­gen­den, erlebnisdynamisch fort­wir­ken­ den Cha­rak­ter ver­lo­ren« (S. 70).

Und das Aus­gra­ben-Wol­len passt zu dem Cha­rak­ter des Ver­bor­ge­nen, des Introjekts, dem »Leben im Grab« (Skogstad 1990), der »Krypta« (Abraham u. Torok 1976), der Gruft. Niederland (1967) und Pollock (1978) wei­sen dar­auf hin, dass bei die­sen Fäl­len von sicht­ba­ren trau­ma­ti­schen Ver­lu­sten eine Wur­zel der Krea­ti­vi­tät in dem Moment der Wie­der­gut­ma­chung, der Repa­ra­tion liegt. Das ist schon ein weiter Schritt über eine psy­cho­ana­ly­ti­sche Kreativitätstheorie hin­aus, deren Basis die Sub­li­mie­rung von Trieb­kräf­ten ist. Aber mei­nes Erach­tens kommt ein wei­te­res Moment hinzu: Das der Rebel­lion gegen die Implan­ta­tion oder Zuschrei­bung der frem­den Iden­ ti­tät, ein Befrei­ungs­ver­such und Selbstfindungsversuch ähn­lich wie die »eigen­mäch­ti­gen« Namens­ver­än­de­run­gen Jahnns. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel (1998, S. 57) drückt es in seinem Roman »Der Verlorene« so aus: »Ich wollte niemandem ähnlich sein, und schon gar nicht meinem Bruder Arnold.« »Sehr früh ent­steht in Dalí die Vor­stel­lung, er wolle ein Genie sein oder sei bereits ein Genie. ›Nichts als die Unsterb­lich­keit hätte einem Jun­gen genü­gen kön­nen, der Tag für Tag, Stunde für Stunde eine heroi­sche Anstren­gung unter­neh­men mußte, um sich seine ein­zig­ar­tige Per­sön­lich­keit unter Beweis zu stel­len‹ (Secrest 1988, S. 36)« (Küchenhoff 1991, S. 42). Auch bereits als Kind »besaß er eine des­po­ti­ sche Macht über die Eltern. Die Eltern von Dalí leb­ten in einer Art Ent­set­zen, daß ein unre­flek­tier­tes Wort eine Zorneskrise bei ihrem Sohn aus­lö­sen könnte, die in ihrer Phan­ta­sie ihm Krank­heit oder Tod brin­gen mußte. Daher muß­ten seine ver­ rück­te­sten Wün­sche befrie­digt wer­den« (S. 43).



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Dalís Wut auf die Eltern zeigt sich auch in folgender Anekdote: Von seinem ersten großen Geld soll er sich einen nagelneuen Rolls-Royce gekauft haben, den er auf einem Felsen festbetonierte, den seine Eltern, wenn sie vor ihrem Haus saßen, täglich anzusehen gezwungen waren … Auch von van Gogh wird berich­tet,

»er habe ein merk­wür­di­ges, unge­wöhn­li­ches, exzen­tri­sches Beneh­men gehabt und sei des­we­gen gele­gent­lich bestraft wor­den« (Nagera 1967, S. 15). Und über seine Kunst­werke schreibt Nagera (S. 41), »daß er einen stän­di­gen Kampf füh­ ren mußte, um in sei­nem Leben für sich eine Iden­ti­tät zu fin­den, eine Iden­ti­tät in sei­ner Kunst, einen ein­ma­li­gen Stil, der ihn, wie er spä­ter sagt, von allen ande­ren unter­schei­den könnte und seine Werke, auch wenn sie unsig­niert wären, kennt­lich machte.«

Diese ein­ma­lige Identität fand er durch seine Kunst am Ende sei­nes Le­bens, konnte sie aber nicht leben, musste sei­nem Leben ein Ende set­ zen, als ob er den Bruder nicht überleben dürfte (vgl. Teil II, S. 182 f. und 199 f.). Auch Schliemanns uner­müd­li­cher krea­ti­ver Schaf­fens­ drang ver­lieh ihm eine ein­ma­lige unver­wech­sel­bare Iden­ti­tät, und zwar durch »eine schöp­fe­ri­sche Lei­stung, die ihm den ebenso ersehn­ten wie berech­tig­ten Welt­ruhm ein­brachte« (Niederland 1967, S. 72). Die Rebel­lion ist die eine Kraft, die sozu­sa­gen übermenschlich groß sein muss, um das lebensbehindernde Intro­jekt zu besie­gen, wie wir es in der Krea­ti­vi­tät gro­ßer Künst­ler ver­mu­ten. Aber selbst da wird der Sieg nie ein voll­stän­di­ger sein, immer ein Rin­gen bedeu­ten, ein Hoch und Nie­der, denn immer wie­der wird sich die andere Kraft, die des Introjekts, der Zuschrei­bung, die keine eigene Iden­ti­tät erlaubt, erhe­ ben. Und des­halb wird es ein Schwan­ken, ein Oszil­lie­ren zwi­schen Rebel­lion gegen und Anpas­sung an diese Kraft sein. In der The­ra­pie eines »Ersatzkindes«, über das Abend (1986) berich­tet, konn­ten zwei gegen­sätz­li­che Phan­ta­sien her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den: Das Kind musste per­fekt sein, um die ange­nom­me­nen Stan­dards der Eltern, die ihn an dem idea­li­sier­ten Geschwi­ster maßen, zu hal­ten, damit er nicht ver­­ lassen würde. Gleich­zei­tig dachte er, er müsse anders sein als das Geschwi­ster, als Vater und Bru­der, damit er das Schick­sal des toten Bru­ders ver­mei­den könne. In den erwähn­ten Berich­ten über die her­aus­ ra­gen­den Künstlerpersönlichkeiten gibt es natür­lich auch Ein­brü­che von Identitätszweifeln, von Ver­zweif­lung: Hans Henny Jahnn »hat sich, aus wel­chen Grün­den auch immer, in die Rolle des Ersatzkinds hin­ein­ ge­stei­gert und daran die ausschweifendsten Phan­ta­sien geknüpft. In sei­nen Tag­ träu­men hat er sich immer Kon­stel­la­tio­nen aus­ge­malt, in denen er ein ande­rer war als in der Rea­li­tät« (Wolffheim 1989, S. 13).

164 Schuldgefühl

Über Dalí wird berich­tet:

»Er merkt, daß er nur zum Scheine lebt, da ein Teil von ihm der ver­stor­bene Bru­der ist, der zwar in ihm noch vor­han­den ist, aber der sich ihm doch immer wie­der ent­zieht und eine Leer­stelle in ihm selbst bedeu­tet« (Küchenhoff 1991, S. 43).

Von van Gogh sind durch den umfang­rei­chen Brief­wech­sel mit sei­ nem Bru­der Theo die größ­ten Selbst­zwei­fel und Lebens­schwie­rig­ kei­ten be­kannt gewor­den, bis er sei­nem Leben durch Sui­zid ein Ende setzte, und zwar kurz bevor eine erste große Ausstellung seiner Bilder stattfinden sollte, bevor er also als der, der er war, öffentlich bekannt werden sollte. Den Kern der Psy­cho­dy­na­mik des »Ersatzkindes« bil­den zwei Ele­ mente: Ein­mal kön­nen die Eltern den Ver­lust nicht betrau­ern und idea­ li­sie­ren das ver­lo­rene Kind, zum andern schrei­ben sie dem neuen Kind eine Ersatz­funk­tion zu und mes­sen es stän­dig am idea­li­sier­ten Bild des toten Kin­des. Diesem Bild nie nahe kommen zu können, rechnet sich das Ersatzkind als eigene Schuld an. Volkan (1976, S. 118) bezieht sich auf einen andern Autor:

»Poznanski (1972) ver­tritt die Ansicht, daß diese Situa­tion bereits ein Syn­drom in sich trägt; das neue Kind hat in sol­chen Fäl­len auto­ma­tisch eine ›Geschichte‹ und erbt eine Reihe von (gewöhn­lich idea­li­sier­ten) Erwar­tun­gen, die durch das ver­ stor­bene Kind her­vor­ge­ru­fen wor­den sind. Poznanski stellt fest: ›Der Ersatz eines Kin­des durch ein ande­res erlaubt den Eltern, den Tod des ersten Kin­des par­ti­ell zu [ver]leug­nen. Das Ersatzkind fun­giert dann für die Eltern als Bar­riere gegen die Aner­ken­nung des Todes, da ein wirk­li­ches Kind exi­stiert, das ein Ersatz ist. So wer­den die ersten Sta­dien der Trauer vor­zei­tig blockiert, und der Pro­zeß des Trauerns setzt sich unend­lich fort, wobei das Ersatzkind bestän­dig als Vehi­kel des elter­li­chen Schmer­zes fun­giert‹.«

Hans Henny Jahnn schreibt ähn­lich in sei­nen Auf­zeich­nun­gen: »Mein toter Bru­der starb zwei oder drei Jahre vor mei­ner Geburt. Die Mut­ter erzählte mir viel von die­sem ihrem Meistgeliebten … Die Mut­ter war untröst­lich, ihre Ver­zweif­lung löste sich erst, als der Ent­schluß fest­stand, daß ein wei­te­res Kind kom­men sollte. Sie hatte bis­her nur Kna­ben gehabt und erwar­tete nun mit abso­ lu­ter Bestimmt­heit ein Mäd­chen. Sie war des­halb schwer ent­täuscht, als ich zur Welt kam. Ich erhielt den glei­chen Namen wie der Tote, Hans Henny (Henny ist ein Frau­en­name), aber ich wider­sprach in jeder Hin­sicht den geheg­ten Erwar­tun­gen, wes­halb die Trauer der Mut­ter durch mich nicht über­wun­den war« (Wolffheim 1989, S. 9 f.; Her­vor­he­bung ori­gi­nal; die Bio­gra­phin ver­merkt, daß der Umgang Jahnns mit Daten und Namen durch­aus will­kür­lich war).

Auch das introjekthafte der Hypo­thek, unter der er lei­det, beschreibt Jahnn:



Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

165

»Mein Blut ging in mir um, und ich wußte, daß es nicht mein Blut war, daß nichts mir gehörte, son­dern alles dem, der da begra­ben lag … Ich war über­zeugt, daß ich seine Seele trug, eine fremde Seele, die sich nun ihrem wah­ren Leib näherte und hin­aus wollte in das Grab hin­ein … Damals wußte ich schon das Geheim­ nis mei­ner Zeu­gung, daß ich sein sollte, was er war, und ich erkannte, daß seine lachende Seele an einen häß­li­chen, einen wider­li­chen, ent­stell­ten Leib gera­ten war« (Wolffheim 1989, S. 8; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Hier fin­det man ein Bei­spiel von Spal­tung zwi­schen dem in der Iden­ ti­fi­ka­tion idea­li­sier­ten Objekt in der »lachen­den Seele« und der nega­ ti­ven Seite, inklu­sive der Wut, die eigent­lich dem toten Geschwi­ster gel­ten müsste, auf den eige­nen »häß­li­chen … Leib« pro­ji­ziert. Ich denke, es ist deut­lich, dass das Intro­jekt durch Iden­ti­fi­ka­tion gemil­ dert wer­den soll. Jahnn nennt sich selbst »Henny« und über­nimmt die Idea­li­sie­rung durch die Eltern. Aber die Feind­lich­keit gegen das eigene Selbst, beson­ders gegen den eige­nen Kör­per, und die Unsi­cher­heit der Ge­schlechts­iden­ti­tät wei­sen auf die Über­macht des Introjekts hin. Die Eltern trau­ern nicht, weil sie den Tod nicht wahr­ha­ben kön­ nen. Ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel der Unfä­hig­keit der Eltern, den Tod zu rea­li­sie­ren, gibt Chiland (1988, S. 147). In einem Fall von nes, der ein Ersatzkind Mann-zu-Frau-Transsexualismus eines Man­ war, war das tote Kind ein Mäd­chen gewe­sen. Den Wunsch nach Geschlechts­um­wand­lung ver­stehe ich in die­sem Fall wie­der als Rebel­ lion: Ich will meine Iden­ti­tät selbst bestim­men! – sowie gleich­zei­tig aber auch als Unter­wer­fung: den Eltern das Mäd­chen wie­der­ge­ben. »In Frank­reich wurde eine viel beach­tete Fern­seh­sen­dung über Per­so­nen aus­­ gestrahlt, die an Geschlechtsdysphorie lit­ ten: ›Etre transsexuel‹ (transsexuell sein). Darin wurde unter ande­rem aus­führ­lich über einen zur Frau ten­die­ren­den trans­sexuel­len Mann berich­tet, Jacques, genannt Jackie, der zu Marie-Ange gewor­ den war, sowie über seine Frau und seine Eltern. Bei der Erwäh­nung des Todes einer klei­nen Toch­ter, Clau­dine, wein­ten die Eltern noch immer, 40 Jahre nach dem Gesche­hen. Sie hat­ten das kleine Mäd­chen vor der Geburt von Marie-Ange bekom­men und ver­lo­ren. Als sie gefragt wur­den, was sie gedacht hät­ten, als sie vom Pro­blem ihres Soh­nes, von sei­ner chir­ur­gi­schen Umwand­lung in eine Toch­ter erfuh­ren, ant­wor­te­ten beide. Der Vater sagte: ›Ich habe gedacht, die Haupt­sa­che ist, daß Marie-Ange da ist.‹ Und die Mut­ter sagte: ›Daß sie lebt.‹ Etwas spä­ter fügte die Mut­ter hinzu: ›Es war wie ein Keu­len­schlag, weil ich nicht dar­auf gefaßt war; ich habe nicht geweint, ich weine nicht so leicht. Aber ich habe sofort gedacht: Das ist schreck­lich für Marie-Ange, aber sie ist noch da … Weil näm­lich Clau­dine tot ist, aber Marie-Ange ist da.‹ Und sie begann zu wei­nen.«

Pollock (1978) listet die Reak­tio­nen der Eltern nach dem Ver­lust auf (aller­dings geht es um den Ver­lust eines Kin­des, wäh­rend das Geschwi­ ster schon gebo­ren und beziehungsfähig ist): Rück­zug, Schuld­ge­fühl, Über­be­hü­tung und Kon­trol­lie­ren des über­le­ben­den Kin­des. Aber die Über­be­hü­tung, auch Ver­wöh­nung, gilt ja nicht dem leben­den, son­dern

166 Schuldgefühl

dem toten Kind, wie Dalí es wohl bemerkt hat (s. o. Küchenhoff 1991, S. 43). Das Wich­tig­ste ist das Nicht-trau­ern-Kön­nen der Eltern. In etwas ande­rem Zusam­men­hang sagt Cournut (1988, S. 79) über sei­nen Pati­en­ten: »Alban beweinte nicht seine Mut­ter, son­dern weinte an ihrer statt, für sie und in ihrem Auf­trag.« Green (1983, S. 213; Her­ vor­he­bung ori­gi­nal) hat das Bild von der »toten Mut­ter« entworfen, einer Intro­jek­tion einer Mut­ter, die nicht wirk­lich trau­ern konnte und deren leere Depres­sion von ihrem Kind über­nom­men wird (vgl. den näch­sten Abschnitt): »Der wesent­li­che Zug die­ser Depres­sion ist, daß sie in Anwe­sen­heit des Objekts statt­fin­det, das sei­ner­seits durch eine Trauer völ­lig in Anspruch genom­men ist.« (Mit Trauer ist hier aber offen­bar nicht wirk­li­che Trauer, eher die leere Depres­sion gemeint.) Die Ursa­chen der Depres­sion sind ver­schie­dene, aber »nach­drück­ lich sei betont …, daß der frühe Tod eines Kin­des am schwer­sten wiegt« (S. 213). Das Feh­len der Trauer der Eltern bewirkt die Bil­dung des Introjekts – folg­lich wer­den die Fol­gen des Ver­lusts bei Kin­dern durch die nach­ge­holte Trauer der Eltern über­wun­den (Pollock 1978, S. 480). In einem Bei­spiel von Volkan (1976) bekommt ein »Ersatzkind« von der Mut­ter eine Puppe mit einem Porzellankopf, mit der sie nicht spie­len soll, weil der Kopf zer­bre­chen könnte. Die Pati­en­tin lernt ver­ste­hen, dass das tote Kind und auch sie selbst es sind, die so zer­brech­lich sein sol­len, sie erlebt in der The­ra­pie ihre frü­here Bezie­ hung zu ihrer depres­si­ven Mut­ter wie­der »und zeigt eine inten­sive und ange­mes­sene Gefühls­re­ak­tion« (Volkan 1976, S. 118). Ein sol­ches Intro­jekt bewirkt Schuld­ge­fühle, die man als Überlebendenschuldgefühl bezeich­nen kann (s. Teil II, S. 199 f.). Schuld­ge­fühle ent­ste­hen dar­über hin­aus, weil das idea­li­sierte Bild des toten Geschwi­ sters nie erreicht wer­den kann. Schuld­ge­fühle ent­ste­hen be­son­ders auch, wenn ein Drang ent­steht, das introjizierte System des Ersatzkindes zu ver­las­sen. Das Dilemma ist: Nicht nur durch die Unter­wer­fung lebt das Kind schuld­be­la­den, denn es akzep­tiert den Auf­trag, den es nicht erfül­len kann, auch die Rebel­lion gegen ihn macht Schuld­ge­fühle. Denn die identifikatorische Unter­wer­fung unter das Intro­jekt des toten Geschwi­sters bedeu­tet, einen Tod zu leben, leben­dig tot zu sein, wie es auch Küchenhoff (1991, S. 40 u. 41) for­mu­liert:

»Auf der einen Seite ist sie [die Pati­en­tin] mit der toten Schwe­ster iden­ti­fi­ziert; wenn sie hun­gert, ver­stummt oder depres­siv ist, stirbt sie einen lei­sen Tod … ›Wenn ich mich nicht von den Eltern ablöse, dann sterbe ich einen psy­chi­schen Tod, da ich mich als eigen­stän­di­ger Mensch nicht ent­wickeln kann.‹«

Aber die Auf­leh­nung, die Befrei­ung und Tren­nung vom Intro­jekt, von der auf­ge­zwun­ge­nen Iden­ti­tät, würde wie­derum einen Tod brin­gen, und zwar den des toten Geschwi­sters, der dann erst rea­li­siert, wahr­ge­habt



Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

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wer­den müsste, weil die Funk­tion des Über­le­ben­den, bei der Ver­leug­ nung zu hel­fen, weg­fiele. Inso­fern hat mei­nes Erach­tens Küchenhoff (an glei­cher Stelle) nicht recht, wenn er die Lösung als (psy­chi­schen) Tod des über­le­ben­den Geschwi­sters ver­steht: »›Wenn ich mich von den Eltern ablöse, dann sterbe ich wie die Schwe­ster, also darf ich nicht weg­ge­hen.‹« Ich denke im Gegen­teil, dass das »Ster­ben wie die Schwe­ster« durch das Nichtgehen, durch die Unter­wer­fung unter die Identitätsverschreibung geschieht. Das Weg­ge­hen wäre mei­nes Erach­ tens nicht nur sozu­sa­gen ein Mord am toten Geschwi­ster, son­dern auch ein Angriff auf die Eltern, von denen das über­le­bende Kind anneh­men muss, dass sie die Rea­li­sie­rung des Todes nicht aus­hal­ten kön­nen, da sie das Ersatzkind so not­wen­dig brau­chen. Des­halb sind die Schuld­ ge­fühle, ein eige­nes, selbst­be­stimm­tes Leben zu füh­ren, so groß. Hier gibt es auch wie­der eine Ver­bin­dung zu Modells (1965) Kon­zept des Trennungsschuldgefühls und des »Rechts auf ein eige­nes Leben«. In bezug auf die Eltern, die das Kind in einer bestimm­ten Funk­tion brau­ chen, han­delt es sich auch beim Ersatzkind um ein Trennungsschuldgefühl. Bergmann (1995) hat ähn­lich bei Kin­dern von Über­le­ben­den von KZ-Haft ein Trennungsschuldgefühl als Teil des von den Eltern introjizierten Überlebendenschuldgefühls gefun­den. Manch­mal fin­det sich die Phan­ta­sie, das tote Geschwi­ster sei umge­ bracht wor­den, und ich denke, dass darin die eigene mör­de­ri­sche Wut auf den Ver­ur­sa­cher der Identitätsbehinderung ihren pro­jek­ti­ven Aus­ druck fin­det. Ein Pati­ent, Ben­ja­min F., berich­tet im Zusam­men­hang mit Geschwi­ster­ri­va­li­tät, dass er einen älte­ren Bru­der gehabt habe, der bei der Geburt gestor­ben sei. Die Mut­ter habe wäh­rend der Schwan­ger­schaft mit die­sem ersten Kind geträumt, dass es nur drei Tage leben sollte. Sie habe bis vor weni­gen Jah­ren jeden Geburts­tag die­ses Kin­ des wie ein Fest began­gen und Kuchen gebacken, sie sei trau­rig gewe­sen und habe die Kin­der ange­hal­ten, auch trau­rig zu sein. Jetzt habe er die Phan­ta­sie, die Mut­ter habe den ersten Sohn umge­bracht, weil sie sich damals mit dem Vater nicht ver­tra­ gen habe. Er selbst dage­gen sei von allen geliebt wor­den, er sei ja auch am Leben.

Hier fließt also die ödi­pale Angst vor Strafe in das Überlebendenschuldgefühl mit ein. Eine andere Pati­en­tin, Lisa M., das »Herzkind« (vgl. Teil II, S. 189) berich­tet, dass sie in den Ferien im Hei­mat­land ihrer Eltern gewe­sen ist. Sie hat den Hei­mat­ort gefun­den, nicht aber das Grundstück und des­halb auch nicht das Grab des toten Bru­ders, der damals dort begra­ben wor­den sein soll. Sie hat aber gedacht, sie habe sich wohl so gewünscht, dass das Kind umge­bracht wor­den wäre, weil dann bewie­ sen wäre, dass sie von der Mut­ter mehr geliebt würde, da sie ja noch am Leben sei.

Auch bei Cournut (1988, S. 87) kommt die Phan­ta­sie von der Tötung in Form einer Verneinung unver­hofft her­aus:

168 Schuldgefühl »Nora [die Pati­en­tin] klagt über ihren trocke­nen Ver­stand und ihren kal­ten Körper. Die Leere, die ihr inne­wohnt, erkennt sie wie eine, die sie … ›selbst aktiv herbeiführt‹. ›Ich ver­ur­teile mich dafür, daß ich nur Ersatzobjekte …, keine wirk­li­chen Bezie­hun­gen besitze.‹ Deu­tung: ›Das hat sich Ihre Mut­ter zwei­fels­ohne nach dem Tod ihres Bru­ders auch gesagt.‹ Unmit­tel­bar Ant­wort von Nora: ›Aber sie hat ihn doch nicht getö­tet! …‹ Ent­geg­nung: ›Wer sprach von töten?‹«

Nicht immer beste­hen die Fol­gen des Introjekts des toten Geschwi­ sters in Rebel­lion und Krea­ti­vi­tät als Zei­chen gro­ßer Anstren­gung, das Leben selbst zu bestim­men, viel öfter dürfte das lebensbehindernde Ele­ment auf­grund der Unter­wer­fung stär­ker sein. Oft sind die bei­den wich­ti­gen Berei­che, die beruf­li­che Iden­ti­tät und Part­ner­be­zie­hun­gen (»Lie­ben und arbei­ten«, wie es Freud bereits auf den Punkt brachte), mehr oder weni­ger stark betrof­fen. Lisa M. fiel irgend­wann ein­mal auf, dass sie mit vie­len Jun­gen zusam­men war, die Wolf­gang hie­ßen, wie ihr ver­stor­be­ner Bru­der. Immer hat sie jün­gere Part­ ner gehabt und musste diese Bezie­hun­gen ver­heim­li­chen. Ein­mal hatte sie einen Freund, der war 17, als sie 26 war, sie war sogar seine Vor­ge­setzte, die Bezie­hung musste abso­lut ver­heim­licht blei­ben. »Die jün­ge­ren Män­ner sind wie mein klei­ner Bru­der«, sagt sie; zwar war ihr Bru­der acht Jahre älter, da er aber als Klein­kind gestor­ben war, trägt sie das Bild des »klei­nen Bru­ders« in sich. Damit hänge es wohl auch zusam­men, dass sie es nie geschafft habe, aus einer Bezie­hung eine lang­dau­ernde Bin­dung zu machen und eine Fami­lie zu grün­den. Eine andere Pati­en­tin, Ange­lika A., geriet in extreme Panik­zu­stände, als sie ihre erste Stelle als Leh­re­rin antre­ten sollte. Es bedeu­tete für sie, end­gül­tig aus der Familienbindung her­aus­zu­tre­ten. Es bedeu­tete auch, den vor ihrer Geburt ver­stor­ be­nen Bru­der hin­ter sich zu las­sen, die Ver­bin­dung auch zu ihm abzu­schnei­den, und zwar dadurch, dass sie (beruf­lich) völ­lig selb­ststän­dig zu wer­den drohte. Viola R. war im Alter von sechs Wochen an Pneu­mo­nie erkrankt, ein paar Tage lang konnte sie kei­nen Laut von sich geben, hatte bereits die Ster­be­sa­kra­mente bekom­men. Dann blieb sie aber doch am Leben. Der erst­ge­bo­rene Sohn der Eltern sei an Pneu­mo­nie im sel­ben Alter gestor­ben. Sie habe damit auch in Zusam­men­ hang gebracht, dass sie seit der Puber­tät bis heute an hef­ti­gen Asth­ma­an­fäl­len litt, das sei wie eine Fort­set­zung der Lun­gen­ent­zün­dung, wie eine Ver­bin­dung mit dem toten Bru­der. Sie habe ein »Hel­fer­syn­drom«, sagt sie selbst, warum müsse sie immer einen Mann ret­ten? Viel­leicht, weil sie sonst nichts wert sei: »Was habe ich denn sonst für einen Wert?« Sie hatte früh das Gefühl, dass die Eltern nicht woll­ten, dass sie da sei. Sie sollte wohl nicht da sein, son­dern der Bru­der. Beson­ ders den Vater habe es sehr getrof­fen, dass sein heiß­ge­lieb­ter Sohn gestor­ben sei, sogar Hanna, ihre Toch­ter, sollte noch die­sen ver­stor­be­nen Sohn für den Vater erset­zen, er hatte fest damit gerech­net, dass es ein Junge würde. Ein­mal hat er rich­ tig mit Hanna gespielt, was er mit ihr, der Pati­en­tin, nie getan hatte, und plötz­lich rutschte es ihm her­aus: »Ach, wenn du doch ein Junge wärst!« – Sie trifft immer auf Män­ner, die große Schwie­rig­kei­ten haben, Alko­ho­li­ker, Sucht­kranke  … Ihr Vater war auf­ge­lockert, ange­nehm, gesprä­chig, wenn er etwas getrun­ken hatte. Sie weiß nicht, ob sie den Vater ret­ten will oder den toten Bru­der, um sich selbst dadurch zu ret­ten.



Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl

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Die »tote Mut­ter« – als eige­nes basales Falsch-Sein erlebt Das »tote Geschwi­ster« bedeu­tet zual­ler­erst einen Ver­lust für die Eltern; inso­fern schließt sich das Kapi­tel der »toten Mut­ter« naht­los an, da es auch die Wege auf­zeigt, auf denen ein unbe­wäl­tig­ter Ver­ lust an die näch­ste Gene­ra­tion wei­ter­ge­ge­ben wird. Wenn die eng­ sten Pfle­ge­per­so­nen Ver­lu­ste erlit­ten haben, die sie nicht genü­gend betrau­ert haben, und des­halb eine schwere Depres­sion ent­wickeln, sind sie »psy­chisch tot, nicht exi­stent … für das Erle­ben … [des] Kin­des« (Kittler 1991, S. 138). Kittler (1991) hat Greens Kon­zept prä­ gnant refe­riert. Das Gefühl der Pati­en­ten ist nicht ein­mal so sehr das der Depres­sion, viel­mehr eines der Sinn­lo­sig­keit, des basalen Unbe­frie­ digt-Seins. Dadurch dass der Ana­ly­ti­ker sich in der Gegen­über­tra­gung aus­ge­schlos­sen, nicht exi­stent fühlt, schließt Green auf die psy­chi­sche Nicht-Exi­stenz der Mut­ter. »Die Mut­ter ist nicht da, weil sie selbst in einer Depres­sion gefan­gen und von die­ ser voll­kom­men absor­biert ist. Sei es, daß sie einen Toten betrau­ert, sei es, daß sie ver­las­sen wurde oder, und das ist nicht zu sel­ten, daß sie mit einem Abort oder einer Abtrei­bung fertig werden muß. Jeden­falls ist sie für ihr Kind zwar da, sorgt auch für die­ses, ›aber das Herz ist nicht mehr dabei‹« (Kittler 1991, S. 138).

Die­sen Besetzungsabzug vonsei­ten der Mut­ter erlebe das Kind nun als nar­ziss­ti­sche Kata­stro­phe, es resi­gniert. »Nach anfäng­ li­ chen Reparationsversuchen zieht es schließ­ lich sei­ ner­ seits die Beset­zung von der Mut­ter ab und iden­ti­fi­ziert sich (per pri­mä­rer Iden­ti­fi­ka­tion) mit der ›toten Mut­ter‹, weil diese Iden­ti­fi­ka­tion die ein­zige Mög­lich­keit der Wie­ der­ver­ei­ni­gung mit der Mut­ter dar­stellt. Es wird hin­fort damit beschäf­tigt sein, das Grab der ›toten Mut­ter‹ zu hüten, die ›tote Mut­ter‹ zu näh­ren und am Leben zu erhal­ten … Denn hat das Kind die leben­dige Mut­ter zwar ver­lo­ren, so hat es immer­hin die ›tote Mut­ter‹ sicher bei sich« (Kittler 1991, S. 139).

Den Zusam­men­hang eines unge­leb­ten Lebens mit der psy­chi­schen Leere der Mut­ter am Anfang des Lebens einer Pati­en­tin soll fol­gen­des Bei­spiel aus mei­ner Pra­xis illu­strie­ren:

Karola R. ist umge­zo­gen. Nach eini­gen Wochen ist ihre neue Woh­nung noch völ­ lig chao­tisch, unauf­geräumt, nicht ein­ge­rich­tet, sodass sie nie­man­den zu Besuch bit­ten kann; es wird deut­lich, dass sie nicht akzep­tie­ren will, dass sie end­lich eine eigene Exi­stenz hat (die Hälfte ihrer Sachen ist noch bei den Eltern gela­gert), sich ihr Leben nicht ein­rich­ten will. Es kommt ihre Men­schen­scheu her­aus, sie will sich und ihr Leben nicht zei­gen. Nun denkt sie an die affek­tive Leere, die sie schon als Kind immer wie­der erlebte, seit sie bereits mit vier Mona­ten und dann immer wie­ der wegen einer Hüftgelenksdysplasie ins Kran­ken­haus musste, derent­we­gen meh­ rere Ope­ra­tio­nen not­wen­dig waren. Sie gebe sich die Schuld, dass sie nicht kon­takt­ freu­dig sei, es nicht bes­ser mit den Men­schen hin­kriege. Ich frage sie, in wel­cher

»Nach anfänglichen Reparationsversuchen zieht es schließlich seinerseits die Besetzung von der Mutter ab und identifiziert sich (per primärer Identifikation) mit der ›toten Mutter‹, weil diese Identifikation die einzige Möglichkeit der Wiedervereinigung mit der Mutter darstellt. Es wird hinfort damit beschäftigt sein, das Grab der ›toten Mutter‹ zu hüten, die ›tote Mutter‹ zu nähren und am Leben zu erhalten … Denn hat das Kind die lebendige Mutter zwar verloren, so hat es immer170 Schuldgefühl hin die ›tote Mutter‹ sicher bei sich« (Kittler 1991, S. 139).

Abbildung Mutter (I)«, Abbildung 4: 4: Egon Egon Schiele Schiele (1890–1918), (1890–1918), »Tote Die tote Mutter, 1910, Leopold-Museum, 1910, akg-images Wien Situa­tion sie über­haupt auf die Welt gekom­men sei: Ihre Eltern hät­ten erst zwei Jahre nach ihrer Geburt gehei­ra­tet, ihre Mut­ter musste immer arbei­ten und hat das Den ungelebten mit der»weil psychischen Baby Zusammenhang zwei Wochen nacheines der Geburt zu einer Lebens Kusine gebracht, sie kei­nen Leere dermich Mutter am Jetzt Anfang einer folgendes Platz für hatte«. kanndes sie Lebens sehen, dass diePatientin chao­ti­schesoll Wohn­ si­tua­tion »kei­nmeiner en PlatzPraxis für sich haben« zu kön­nen. Sie wolle der Mut­ter keine bedeu­tet, aus Beispiel illustrieren: Schuld geben, sie habe es nicht anders gekonnt, sie war selbst ein depres­si­ver, Karola umgezogen. Nach einigen Wochen ist ihre neue Wohnung noch völfreud­lo­R. ser,istein­ sa­mer Mensch. lig chaotisch, unaufgeräumt, nicht eingerichtet, so daß sie niemanden zu Besuch Ein­drucks­ ist auch diedaß Unter­ uchung Rudnytskys übereine die bitten kann; vesoll wird deutlich, sie snicht akzeptieren will, daß(1988) sie endlich eigene ihrerBru­ Sachen noch bei Elternund gelagert), sich Unter­Existenz schiede hat der(die Ver­Hälfte lu­ste des dersist jeweils beiden Freud bei Gun-

trip: Letz­te­rer ver­lor einen Bru­der, als er drei­ein­halb Jahre alt war, und die Bear­bei­tung die­ses Ver­lusts blieb unbe­frie­di­gend. Erst die The­ra­pie bei Winnicott, die er in einem Alter von 61 Jah­ren begann, konnte die affek­tive Leere der Mut­ter ans Licht brin­gen, derent­we­gen sie bei­den Kin­dern schon vor dem Tod des Bru­ders nicht hatte gerecht wer­den kön­nen. Mög­lich wurde diese »Wie­der­be­le­bung« der Ver­gan­gen­heit und der »toten Mut­ter« mei­nes Erach­tens dadurch, dass es Winnicott



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zulas­sen konnte, selbst die »leere Mut­ter« zu sein und dadurch eine gute Mut­ter war. Erst nach dem Tod Winnicotts machte eine Serie rele­van­ter Träume die Zusam­men­hänge deut­lich. Sicher ist die Unter­schei­dung berech­tigt, die Rudnytsky (1988) trifft: Die Pro­jek­tion der Leere der Mut­ter ver­ur­sacht kein Schuld­ge­ fühl; ver­stan­den in bezug auf die Kleinianischen Ent­wick­lungs­pha­sen hieße das, die schi­zoid-para­noide Posi­tion wurde nicht ver­las­sen. Erst die depres­sive Phase ermög­licht Schuld­ge­fühl – der Ver­lust des Bru­ ders, den Freud erlitt (obwohl er mehr als 18 Monate jün­ger war als Guntrip – bezo­gen auf das Alter zum Zeit­punkt des Ver­lusts) trug zu Freuds lebens­lan­ger Ambi­va­lenz und der damit ver­bun­de­nen Fähig­ keit, Schuld­ge­fühle zu haben, bei – wäh­rend Guntrip an »absence of grief« litt, um den Begriff von Helene Deutsch zu ver­wen­den. Mei­nes Erach­tens aber sind die Ver­hält­nisse in der Rea­li­tät nie der­art klar abge­grenzt. Schuld­ge­fühle ent­ste­hen immer aus einer Span­nung zwi­schen Tei­len des Selbst, und ein völ­li­ges Feh­len würde tat­säch­lich eine voll­stän­dige Ver­schmel­zung im Sinne der pri­mä­ren Iden­ti­fi­ka­tion mit der lee­ren Depres­sion des Mut­ter-Objekts bedeu­ten. Die Phan­ta­sien einer Pati­en­tin, Beate S., kom­men die­ser Ein­heit mit der Mut­ter nahe. Aber bereits der Wunsch, etwas zu ändern im Sinne der Rol­len­um­kehr (»Ver­ ant­wor­tung für andere«, Ehe der Eltern zu ret­ten), ist eine Abgren­zung von dem ver­in­ner­lich­ten Kom­plex und kann Schuld­ge­fühle ver­ur­sa­chen: Beate S. fühlte sich immer ver­ant­wort­lich für andere. Ihr Stu­dium hatte sie auf­ ge­ge­ben und arbei­tete als »rechte Hand« eines Pro­fes­sors. Sie lebte sehr zurück­ge­ zo­gen, hatte keine Part­ner­be­zie­hung, fühlte sich »allein mit mei­nem Kör­per«. Pha­ sen erheb­li­chen Über­ge­wichts wech­sel­ten mit Nor­mal- oder sogar Unter­ge­wicht, die Schwan­kun­gen betru­gen bis zu 15 Kilo­gramm. Als fünf­tes Geschwi­ster in eine extrem von Aggres­si­vi­tät bestimmte Ehe gebo­ren, dachte sie als Kind: »Es ist egal, ob ich da bin«, wenn sie wie­der ein­mal ver­geb­lich ver­sucht hatte, die Mut­ter auf­ zu­hei­tern, und Anstren­gun­gen machte, die Eltern zu beru­hi­gen oder sie zum Reden zu brin­gen. »Ebenso könnte ich auch tot sein.« Jetzt denkt sie: »Dem Leben ein Ende set­zen oder schwan­ger wer­den wie meine Mut­ter, deren fünf Kin­der ihrem Leben einen Sinn geben soll­ten. Schwan­ger wer­den und dann lau­ter leere Kin­der pro­du­zie­ren.« Es wird erar­bei­tet, dass die Pati­en­tin als Kind ver­sucht hatte, mit der Über­nahme der Ver­ant­wor­tung für die Mut­ter und die Fami­lie »sich selbst auf­zu­fül­ len«, wie sie es mit dem Kör­per tut, wenn sie »fres­sen» muss. Wenn sie das Gefühl hat, dass das alles sinn­los ist, denkt sie an Selbst­mord. Bewusst emp­fin­det sie ein Schuld­ge­fühl auf­grund die­ser Abgren­zung, die selbst über­nom­me­nen Auf­ga­ben im Sinne der Rol­len­um­kehr nicht erfüllt zu haben. Aber das Bedürf­nis, »Mut­ter für die Mut­ter« zu sein, ent­steht bereits aus einem Schuld­ge­fühl, ver­ant­wort­lich zu sein für den Zustand der Mut­ter; aber das bedeu­tet, dass das Kind nicht völ­lig eins ist mit der Mut­ter, son­dern so weit getrennt, dass es die Mut­ter ändern will. Selbst das macht obendrein Schuldgefühl.

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Adop­tion Neh­men wir an, ein adop­tier­tes Kind erfährt nichts von sei­ner Adop­ tion – eine Situa­tion wie im ersten Teil des Ödi­pus-Dra­mas: Aus­set­ zung und Adop­tion, das heißt eine Doppelidentität von einer­seits ver­sto­­ ßenem, ande­rer­seits ange­nom­me­nem Kind. Und diese Spal­tung würde ein gehei­mes Wis­sen bedeu­ten, ein unbe­wuss­ter Nie­der­schlag einer Be­ziehungs­er­fah­rung, die sich in geheim­nis­vol­len Schicksalswegen oder Sym­pto­men äußert. Aber diese Spal­tung bleibt immer beste­hen, sie kann mei­nes Erach­tens nur gemil­dert wer­den, wenn kei­ner­lei Geheim­ nis der Adop­tion auf­recht­er­hal­ten bleibt. Eliacheff (1993) hat in der Arbeit mit weg­ge­ge­be­nen, teil­weise sogar aus­ge­setz­ten Säug­lin­gen ein­ drucks­voll deut­lich gemacht, dass die Aner­ken­nung der Wahr­heit des Gesche­he­nen und der Iden­ti­tät der Eltern bzw. auch der in Aus­sicht genom­me­nen Adop­tiv­el­tern das Wich­tig­ste für die Ent­wick­lung auch schon des Säug­lings ist. Auch wenn ein Kind gleich nach der Geburt adop­tiert wird, hat die leib­li­che Mut­ter es doch abge­ge­ben, und die anneh­men­den Eltern haben bis dahin keine Iden­ti­täts­ent­wick­lung als Eltern durch­le­ben kön­nen. Eher noch sind sie durch all die ver­geb­li­chen Anstren­gun­gen einer Repro­duktions­medi­zin immer tief in ein Bewusst­ sein der Unfä­hig­keit, Eltern zu sein, hin­ein­ge­trie­ben wor­den. Wich­tig für das »Gelin­gen« einer Adop­tion ist die Aner­ken­nung der Adop­tiv­el­tern, dass es eine ist (Hoksbergen, Juffer u. Textor 1994), als wich­tig­ster Fak­tor, die Gefahr der Identitätsspaltung gering zu hal­ ten. Denn mei­nes Erach­tens ist mit der Adop­tion (und den vor­an­ge­ gan­ge­nen Erfah­run­gen wie Tren­nung von den leib­li­chen Eltern, Heim­ aufenthalte, Emi­gra­tion) ein Intro­jekt implan­tiert wor­den, wel­ches als abge­spal­te­ner Selbstanteil auf jeden Fall wirkt, durch posi­tive Erziehungserfahrungen aller­dings im Sinne der Inte­gra­tion und dadurch Bil­ dung eines zuneh­mend ein­heit­li­chen Selbstbildes abge­schwächt wer­den kann. Des­halb wird der Iden­ti­täts­bil­dung des Adop­tiv­kin­des soviel Auf­ merk­sam­keit gewid­met (Nienstedt u. Westermann 1989; Baethge 1993; Hoksbergen et al. 1994). Dettmering (1994) hat anhand der Bear­bei­tung des Adoptionsmotivs in Dich­tun­gen Depersonalisation und Ent­frem­dung als Aus­druck der unsi­che­ren Her­kunft und der man­ geln­den Kon­ti­nui­tät der Beziehungs­er­fah­rung her­aus­ge­ar­bei­tet. Resul­ tate sind Doppelidentität, fal­sches Selbst, »Fas­sade von Künst­lich­keit und Leb­lo­sig­keit« (Dettmering 1994, S. 68). Die »Familienroman«Bil­dung wird durch die Adop­tion begün­stigt (Baethge 1993), sie ist ja schon nor­ma­ler­weise eine auf die Her­kunft ver­scho­bene Identitätsfrage. Meh­rere Kon­stel­la­tio­nen der gespal­te­nen Selbst- und Objekt­ bil­der sind denk­bar: 1. Die bio­lo­gi­schen Eltern sind »schlecht«, die



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sozia­len Eltern »gut«; 2. die sozia­len Eltern – mit denen in der Über­ tra­gung und Gegen­über­tra­gung der Hass natür­lich erlebt wer­den kann und wird – sind »schlecht«, die (phan­ta­sier­ten) bio­lo­gi­schen »gut«; 3. das Kind selbst ist »schlecht», »schuld« an sei­ner Adop­tion, das heißt, war schon von Anfang an so »schlecht«, dass es sozu­sa­gen weg­ge­ge­ ben wer­den musste, und nun zeigt es sich wie­der an den Pro­ble­men, die es den Adop­tiv­el­tern macht (vgl. Hoksbergen et al. 1994, S. 343). Baethge (1993, S. 52) kommt dem nahe, wenn sie ein vages Schuld­ge­ fühl des Adop­tiv­kin­des beschreibt, das sich als »fal­sches Kind« fühlt. Hier liegt der Grund für ein Basisschuldgefühl, das das Adop­tionskind ent­wickelt auf­grund der Annahme, sein So-Sein wäre der eigent­li­che Grund für das Weg­ge­ben, aber auch für die Schwie­rig­kei­ten in den aktu­el­len Bezie­hun­gen. Das Kind wird auf­grund des Introjekts für diese Annahme auch durch sein Agie­ren immer wie­der eine Bestä­ ti­gung pro­vo­zie­ren – auch in der Hoff­nung, durch über­große Liebe umge­kehrt ein­mal zu erfah­ren, dass es doch nicht so schlecht ist, weil es näm­lich geliebt wird, obwohl es sich so schlecht benom­men hat. Dazu müsste es in einer Umge­bung leben, die prak­tisch nach einem the­ra­peu­ti­schen Prin­zip die Gegen­über­tra­gung zwar erlebt, nicht aber ent­spre­chend han­delt. Aber das ist ja nicht ein­mal in der The­ra­pie schwer gestör­ter Pati­en­ten immer mög­lich. Und die Adop­tiv­el­tern selbst sind von eige­nen Äng­sten und Kom­ple­xen nicht ver­schont; einen Über­blick gibt Baethge (1993): Durch die Kin­der­lo­sig­keit haben sie »eine Ver­ un­si­che­rung des Gefühls eige­ner sexu­el­ler Kom­pe­tenz erfah­ren« (S. 50), nei­gen zu Überbesorgtheit, »zudem erle­ben sie den ›Besitz‹ eines Kin­des, das von ande­ren gezeugt wurde, unbe­wußt als Dieb­stahl. Sie fürch­ten, als Strafe werde ihnen die­ses Kind wie­der ge­nom­men oder sie wer­den von dem Kind des­we­gen gehaßt wer­den, wel­ches dann zu sei­ ner bio­lo­gi­schen Mut­ter zurück­keh­ren wolle« (S. 51). Wenn die Eltern Strafe erwar­ten, müs­sen sie ein Schuld­ge­fühl in sich tra­gen, sozu­sa­gen das »Basisschuldgefühl«, ein Kind adop­tiert zu haben. Ich würde auch den­ken, dass die Ahnung, das (schwie­rige) Kind doch nicht so gewollt zu haben, Schuld­ge­fühle macht, die durch zwang­haf­tes Durch­set­zen von Erziehungsinhalten (z. B. Sau­ber­keit, »gesun­des« Essen, Schul­lei­ stun­gen) kom­pen­siert wer­den soll. Die Schuld­ge­fühle des Kin­des wer­ den ver­stärkt durch den elter­li­chen Vor­wurf, das Kind sei »undank­bar« (Baethge 1993, S. 52), ein hilf­lo­ser Ver­such, die eige­nen Gefühle des Ver­sa­gens zu mil­dern, erin­nert doch gerade das her­an­wach­sende Kind daran, dass des­sen bio­lo­gi­sche Eltern (wenig­stens) zeu­gungs­fä­ hig waren. Die für die Adop­tions-Eltern nied­rige Inzestschranke führt zu deren gestei­ger­ten Inzestängsten, sodass sie dem Her­an­wach­sen­den Schuld­ge­fühle wegen des­sen kei­men­den sexu­el­len Inter­es­ses machen.

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Es bedarf kei­ner »typi­schen Adoptionsmutter« (Dettmering 1994, S. 68), die die Her­kunft des Kin­des ver­schweigt und ihm die eige­ nen Kon­flikte und Idealbildungen (etwa: »Aus ihm soll ein­mal etwas Beson­de­res wer­den …«) ein­pflanzt, um dem Kind ein Gefühl unein­ heit­li­cher Iden­ti­tät erst zu ver­mit­teln; es trägt es – als Intro­jekt – in sich. Übri­gens ist das bei allen Men­schen poten­zi­ell so, auch wenn die Kon­ti­nui­tät der Eltern-Kind-Bezie­hung in der Zeit gewahrt blieb, sind die Mög­lich­kei­ten für Brü­che durch Traumatisierungen man­nig­fach. Des­halb bie­tet sich das Adoptionsthema für den Dich­ter an, die all­ge­ meine mensch­liche Erfah­rung des Fremdseins in das Adoptionsthema, in dem man sich nicht direkt erken­nen muss, zu pro­ji­zie­ren.

Fami­li­en­ge­heim­nisse Das Prin­zip Basisschuldgefühl erzeu­gen­der Fami­li­en­ge­heim­nisse lau­ tet: Etwas in der Ver­gan­gen­heit der Eltern oder in den Vorgenerationen ist so schlecht, dass es ver­heim­licht wer­den muss. Die Fami­lie oder die Eltern blei­ben damit der Öffent­lich­keit gegen­über, ober­fläch­lich gese­hen, »gut«, aber da etwas Schlech­tes pas­siert ist, das sich sub­til in Heim­lich­kei­ten, Andeu­tun­gen, Anspie­lun­gen und Gerüch­ten Aus­druck ver­schafft, wirkt es auf ein Kind, das man­gels ande­rer Erklä­rungs­mög­ lich­kei­ten sich selbst dafür ver­ant­wort­lich macht, zer­stö­re­risch. Das Kind kommt sich anders vor als die ande­ren, schlecht, weil etwas mit ihm nicht stimmt, es schämt sich (auf das Moment der Scham, auch der »Familienscham«, hat Wurmser immer wie­der hin­ge­wie­sen, z. B. 1987) einer Sache, die es nicht kennt und die womög­lich sei­ner Exi­stenz wegen statt­ge­fun­den hat. Fami­li­en­ge­heim­nisse sind starke »Introjektbildner«, das Prin­zip wurde schon im Kapi­tel über Intro­jekte abge­han­delt. Hier sol­len des­halb nur noch einige illu­strie­rende Bei­ spiele auf­ge­führt wer­den. Ein gan­zes Arse­nal von ver­schie­de­nen Familiengeheimnissen, die einen Pati­en­ten beein­träch­tig­ten, schil­dert Wurmser (1987, S. 266): Der Bru­der hat die Schwe­ster nicht nur belä­stigt, son­dern mit ihr Geschlechts­ver­kehr gehabt, was die Eltern nicht wis­sen; vom Vor­le­ben des Vaters ist wenig bekannt, es sickerte durch, dass er im Krieg bei der Durch­füh­rung eines Sabotagekommandos eine Wache getö­tet hatte, die eine Frau war; eine Groß­mut­ter ist ermor­det wor­den; im väter­li­chen und im müt­ter­li­chen Teil der Fami­lie gab es schwe­ren Alko­ho­lis­mus  … In der Tat gibt es oft meh­rere Geheim­nisse gleich­zei­tig, wie bei mei­ner Pati­en­tin, Ber­na­dette L., bei der nicht nur die Nazi-Ver­bre­chen des Vaters von der Fami­lie geheim­ge­hal­ten wor­den waren, son­dern auch ein Inzest-Ver­bre­chen an der Toch­



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ter, der spä­te­ren Pati­en­tin. Die Part­ner­wahl führte sie in ein »Ehegefängnis«, als ob sie die Schuld des Vaters süh­nen müsse, in das der jäh­zor­nig-bru­tale Ehe­mann sie ein­sperrte, der ihr die Kin­der nahm, sodass sie aus Schwä­che an ihnen schul­ dig wurde. Zwei ver­schie­dene Therapiesituationen ent­hüll­ten nach­ein­an­der je ein Fami­li­en­ge­heim­nis; die sta­tio­näre The­ra­pie die Nazi-Ver­bre­chen des Vaters, die anschlie­ßende Grup­pen­psy­cho­the­ra­pie den Inzest (s. Teil II, S. 264).

Inze­stuö­ses Agie­ren, das die Geschwi­ster trifft, kann bei einem nicht direkt betei­lig­ten Kind Intro­jekte her­vor­ru­fen, die denen durch direk­ ten Inzest kaum nach­ste­hen (vgl. Teil II, S. 271). Pro­sti­tu­tion in der Familien­geschichte, Adoptionsfälle, unehe­li­che Kin­der, Ver­ge­wal­ti­ gun­gen, Selbstmorde und kriminelles Verhalten sind typi­sche Fami­ li­en­ge­heim­nisse: Verena Q.-S. berich­tet: »Der ein­zige Dorn im Auge scheint mir die Geheim­nis­tue­ rei um meine Groß­mut­ter väter­li­cher­seits zu sein … Was meine mir völ­lig unbe­ kannte Groß­mut­ter angeht, schei­nen meine Eltern mehr zu wis­sen, als sie zuge­ben, und sie haben große Angst, ich könnte etwas über ihr Leben zum Bei­spiel als Pro­ sti­tu­ierte oder ›Kupp­le­rin‹, wie es in den vor­han­de­nen Gerichts­unter­lagen heißt, in Erfah­rung brin­gen. Immer­hin ist mein Vater ledig­lich Pfle­ge­kind und nicht Adop­ tiv­kind gewe­sen, sodass seine leib­li­che Mut­ter schon auf­grund die­ser Situa­tion recht­lich mehr Zugriff auf ihr Kind gehabt haben könnte, als es mein Vater zugibt. Ande­rer­seits haben die Pfle­ge­el­tern wohl Geld bekom­men für die Über­nahme des ›Wai­sen­kin­des‹, also mei­nes Vaters, sodass eine Adop­tion viel­leicht gar nicht erwünscht war, jeden­falls hat mein Vater in die­ser Kind­heit ler­nen müs­sen, wie unend­lich dank­bar er doch zu sein hat, von die­sem Schick­sal des Huren­sohns erret­tet wor­den zu sein und die Gnade zu erfah­ren, von anstän­di­gen Leu­ten auf­ge­zo­gen wer­den zu dür­fen.«

Von Ahlheim (1985) gibt es einen Bericht über eine Kin­der­the­ra­pie eines Mäd­chens, das als Über­le­bende des KZ-Ter­rors der Nazis in der drit­ten Gene­ra­tion bezeich­net wer­den kann. Der Kern der Dyna­mik war, dass die Eltern auf­grund ihrer Äng­ste das Kind vor Schä­den bewah­ren woll­ten, durch ihre Über­für­sorg­lich­keit aber, etwa durch über­mä­ßige Ein­griffe in die Kör­per­funk­tio­nen schon des Säug­lings, den Scha­den, den sie ver­mei­den woll­ten, gerade her­vor­rie­fen. Das scheint mir auch das Prin­zip der Fami­li­en­ge­heim­nisse zu sein (wenn die Moti­va­tion, das Geheim­nis auf­recht­zu­er­hal­ten, nicht ein­fach egoi­stisch die ist, die Eltern vor Scham- und Schuld­ge­fühl zu bewah­ren): Das Kind soll nicht mit etwas als schä­di­gend Ange­se­he­nem kon­fron­tiert wer­den, aber dadurch, dass es geheim­ge­hal­ten wird, ent­steht – über die Introjektbildung – gerade der Scha­den.

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Zweite Gruppe der Schuld­ge­fühle: Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät »Das Phantasma, eine eigene Haut zu besit­zen …, bleibt grund­sätz­lich schuldbesetzt. Dies ist eine Folge der vor­her ent­stan­de­nen Phan­ta­sie, daß man, um die eigene Haut zu be­sit­zen, sie dem ande­ren vor­her rau­ben muß.« Anzieu 1985, S. 148

Wie soll man sich ein Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät allein vor­stel­len; wie immer müs­sen eine Instanz oder ihre Ver­tre­ter die Fol­gen der vita­len Bestre­bun­gen und damit diese auch selbst beur­tei­len und eben auch ver­ur­tei­len. Nicht die Vita­li­tät selbst, denke ich, son­dern der Gedanke oder die Erfah­rung, dass jemand Scha­den neh­men könnte, wenn man sie aus­lebt, dass die mit ihr not­wen­di­ger­weise ver­bun­dene, an sich kon­ struk­tive Ag­gres­sion zer­stö­ren könnte, ist das Ver­bo­tene, ist hier das, was Schuld­ge­fühle macht. Vita­li­tät bedeu­tet Haben-Wol­len; frühe orale Gier kann sehr zer­stö­ re­risch erlebt wer­den, wie wir gese­hen haben; die Brust zu zer­stö­ren, indem man sie haben will, ist das Urbild der Ambi­va­lenz. Neid ist eben­ falls mit Aggres­sion ver­knüpft und gibt daher Grund für Schuld­ge­fühl. Haben-Wol­len, also Leben-Wol­len gerät in Kon­flikt mit den­sel­ben Bestre­bun­gen mög­li­cher Riva­len, in der Fami­lie den Bestre­bun­gen der Geschwi­ster, denen man von dem, was da ist, etwas weg­nähme; dann auch im ödi­pa­len Drei­eck: Wie­der ist das Haben-Wol­len der Liebe mit der Aggres­sion gegen den ande­ren ver­bun­den. Bei einer Pati­en­ tin Modells (1965, S. 326; Über­set­zung M. H.) wurde die Phan­ta­sie gefun­den, »daß Mut­ter­liebe eine Art Sub­stanz sei, von der sie sich das Beste genom­men hatte, dadurch die Mut­ter aus­ge­saugt und die Geschwi­ster ihrer Geburtsrechte beraubt habe. Sie war über­zeugt, daß der Besitz irgend­einer Sache bedeu­tete, daß jemand anders beraubt wor­ den sei.« Das ent­sprä­che einem Bild von kom­mu­ni­zie­ren­den Röh­ren, als wären die Fami­li­en­mit­glie­der durch ein sol­ches System ver­bun­den, und wenn der eine etwas von der »Liebesflüssigkeit« ent­nähme, würde es gerade wegen der Ver­bin­dung unwei­ger­lich ein ande­rer ver­lie­ren. Aus­ge­hend vom Schuldgefühl der Überlebenden bei Unfällen, Kata­ stro­phen, beson­ders aber von mas­sen­haf­ter Ver­nich­tung durch poli­ ti­schen Ter­ror, wie sie die KZ-Maschi­ne­rie bedeu­tete, hat Modell



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(1971) den Begriff des Überlebendenschuldgefühls auf die vita­len Bestre­bun­gen be­zo­gen, die ein Lie­bes­ob­jekt zu sehr berau­ben oder in der Riva­li­tät ein ande­res über­tref­fen könnten. Er spricht hier eben­falls von Überlebendenschuldgefühl (»survivor guilt«). So wurde der Be­ griff auch von Weiss und Sampson (1986; vgl. Engel u. Ferguson 1990) über­nom­men. Ich möchte die­ser Auf­fas­sung nicht fol­gen, son­ dern viel­mehr vor­schla­gen, den Begriff des Über­lebens nicht zu weit zu fas­sen, son­dern auf ein tat­säch­li­ches Über­le­ben zu beschrän­ken; ein Schuld­ge­fühl, über­lebt zu haben, wäh­rend ein ande­rer ster­ben musste, sollte Überlebendenschuldgefühl (nicht Über­lebens-Schuld­ge­fühl) genannt wer­den. Denn ein Schuld­ge­fühl, das dar­aus ent­stammt, dass man bes­ser leben möchte (Modell 1971; hier geht es um ein bes­se­res Leben im Ver­gleich zu ande­ren; 1965 hat Modell erst ein­mal vom »eige­nen« Leben, dem Leben im eige­nen Recht gespro­chen) als ein ande­rer oder auf seine Kosten, müsste »Lebens-Schuld« hei­ßen; ich halte »Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät« für den bes­se­ren Ober­be­griff. Wohl als Erster hat Modell (1971) Schuld­ge­fühle auf­grund vita­ler Bestre­bun­gen unab­hän­gig vom Ödi­pus-Kom­plex beschrie­ben, Schuld­ ge­fühle auf­grund des Bewusst­seins, dass man mehr hat als der andere, auf­grund des Neids auf andere, Schuld­ge­fühl, zuviel zu haben im Ver­ gleich zum ande­ren. Zwar wür­den diese Bestre­bun­gen mit den ödi­ pa­len zusam­men­flie­ßen kön­nen (Modell 1971, S. 339 f.), aber man könne doch eine Form präödipaler Schuld­ge­fühle abgren­zen. Diese Arbeit Modells steht sozu­sa­gen im Zen­trum die­ses Abschnitts, in dem es um die Durch­set­zung vita­ler Bedürf­nisse im Ver­gleich zum Lie­bes­ ob­jekt geht, wäh­rend seine Arbeit über »das Recht, ein eige­nes Leben zu haben« (Modell 1965) das Trennungsschuldgefühl ein­führte, die des­halb im Zen­trum des Abschnitts über Arbeitsstörung und Prü­fungs­ angst im Zusam­men­hang mit Trennungsschuldgefühl ste­hen wird.

Ödi­pa­les Schuld­ge­fühl Im theo­re­ti­schen Teil ist so viel vom ödi­pa­len Schuld­ge­fühl die Rede gewe­sen, weil die »Main­stream-Psy­cho­ana­lyse« bis 1965 (Modell) die­ses prak­tisch als ein­zi­ges gel­ten ließ, wäh­rend aller­dings die Kleinianische Schule bereits Schuld­ge­fühl als eines der depres­si­ven Phase zugehörendes kon­zi­pierte. Erikson (1950, S. 84 f.) hat eine schöne For­mu­lie­rung gefun­den für den Zusam­men­hang zwi­schen ödi­pa­len Bestre­bun­gen und Schuld­ ge­fühl:

178 Schuldgefühl »Die ödi­pa­len Wün­sche … füh­ren zu vagen Phan­ta­sien, die an Mord und Ver­ge­ wal­ti­gung rüh­ren. Die Kon­se­quenz ist ein tie­fes Schuld­ge­fühl, ein merk­wür­di­ges Gefühl, inso­fern es für immer anzu­deu­ten scheint, daß das Indi­vi­duum ein Ver­ bre­chen began­gen habe – was ja schließ­lich tat­säch­lich nie gesche­hen ist und auch bio­lo­gisch ganz aus­ge­schlos­sen war. Diese geheim­nis­volle Schuld trägt aber dazu bei, das ganze Gewicht der Initia­tive auf sozial wün­schens­werte Ideale und unmit­ tel­bare, prak­ti­sche Ziele hin­zu­len­ken.«

Aber heute würde man mei­nes Erach­tens gleich nach den tat­säch­li­chen Bezie­hun­gen fra­gen, inner­halb derer das Kind seine ödi­pa­len Wün­sche erlebt und aus­drückt; wie ist die (sexu­elle!) Bezie­hung der Eltern, wie wohl­wol­lend oder feind­lich ste­hen sie nicht nur den sexu­el­len, son­dern allen Bestre­bun­gen des Kin­des, sei­ner Vita­li­tät eben, gegen­über, wie wer­den ihre laten­ten oder gar offe­nen inze­stuö­sen Wün­sche an das Kind her­an­ge­tra­gen? Bereits 1959 hat Searles die ero­ti­sche Bezie­ hung zwi­schen The­ra­peut und Ana­ly­sand(in) als gegen­sei­tige beschrie­ ben, in der durch­aus die Initia­tive vom The­ra­peu­ten aus­ge­hen kann, und auf die Eltern-Kind-Bezie­hung über­tra­gen. Das heißt, auch dort kön­nen die inze­stuö­sen Wün­sche erst ein­mal von den Eltern kom­men; sind die Eltern aber nicht in der Lage, genü­gend angst­frei, also freund­ lich-spie­le­risch damit umzu­ge­hen, wird das ver­hee­rende Wir­kun­gen haben. Im Zusam­men­hang mit Schuld­ge­fühl würde dies bedeu­ten, dass die Abwehr der eige­nen inze­stuö­sen Wün­sche der Eltern im Kind über­ haupt erst ein »ödi­pa­les« Schuld­ge­fühl erzeugt. Ebenso der Umgang mit dem Aus­druck der kind­li­chen inze­stuö­sen Ten­den­zen: man muss doch fra­gen, was Eltern eigent­lich bewegt, harm­lose kind­li­che Sexua­ li­tät und ödi­pa­les Spiel (denn das Ver­bre­chen wird nie began­gen, wie Erikson sagt) der­art streng zu ahn­den, Schuld­ge­fühle machend. Fol­gen­des Bei­spiel mag den schil­lern­den Zwi­schen­be­reich zwi­ schen ödi­pa­len Wün­schen einer Toch­ter und den inze­stuö­sen Ten­den­ zen des Vaters (und ihrer Abwehr!) sowie der Riva­li­tät der Mut­ter (und der mit der Mut­ter) illu­strie­ren: Lisa M., das »Herzkind«, denkt in einer Phase der Ana­lyse, die von einer posi­ti­ven, »ödi­pa­len« Beziehungsqualität bestimmt ist, an den Tod der Mut­ter. »Meine Mut­ ter kam ja auch von mir nicht los; ich wollte sie ja auch pfle­gen …« Die getrock­ ne­ten Hei­del­bee­ren, die die Mut­ter kurz vor ihrem Tod wegen ihres Durch­falls haben wollte, hat sie aller­dings nicht besorgt. Sie macht sich Vor­würfe, weil das eine eigen­mäch­tige Ent­schei­dung war, sie hat also eine Macht aus­ge­übt über die Schwa­che, Ster­bende, also hat sie sich schul­dig gemacht. – Nach eini­gem Schwei­ gen denkt sie an ihre Men­ar­che; die Mut­ter war damals für­sorg­lich, als ob sie nun eine Lei­dens­ge­nos­sin hätte. Der Vater aber rea­gierte abschät­zig: »Fängst du jetzt auch schon damit an …« Seit­dem habe die Bezie­hung zum Vater einen Knacks bekom­men. – Sie hat die Phan­ta­sie, dass sie, wenn ihre Freun­din stirbt (sie hat einen Kno­ten in der Brust), ihre Stelle ein­neh­men könnte (die Freun­din würde Mann und Kin­der hin­ter­las­sen). – Als die Mut­ter ein­mal im Kran­ken­haus war



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(die Pati­en­tin war rund 13 Jahre alt), hatte sie ähn­liche Gedan­ken, schreck­lich, die Klei­der der Mut­ter auf­tra­gen zu müs­sen … Sie denkt, es hätte ein »neues Paar« gege­ben, näm­lich Vater und Toch­ter. Es hätte ihr gefal­len, wenn der Vater gesagt hätte: »Du wirst mal eine hüb­sche Frau.« Vater hat aber stän­dig an ihr etwas aus­zu­ set­zen gehabt, zum Bei­spiel wenn sie sich geschminkt hat. Ande­rer­seits hat sie mit dem Vater ihr Konfirmationskleid gekauft, weil die Mut­ter im Kran­ken­haus war, ein sehr schö­nes Kleid mit durch­sich­ti­gen Ärmeln, das hätte die Mut­ter nie gekauft. Die Mut­ter bringt sie eher mit dem Kauf einer Kit­tel­schürze für sich in Ver­bin­dung. Die hat sie mit der Mut­ter in einem Kauf­haus gekauft; sie ent­deckte dort auf der Toi­lette, dass sie erst­ma­lig ihre Blu­tun­gen hatte. Das Konfirmationskleid war das teu­er­ste über­haupt, es hatte einen ganz kur­zen Rock … Gleich dar­auf hat der Vater zwei schicke Nacht­hem­den für die Mut­ter gekauft. Die Mut­ter war zwar wie­der zu Hause, ist aber nicht zur Kon­fir­ma­tion in die Kir­che gegan­gen, als ob sie gekränkt gewe­sen sei, etwa: »Ihr habt das Kleid zusam­men gekauft, jetzt könnt Ihr auch allein zur Kon­fir­ma­tion gehen!«

Ein kur­zer Kom­men­tar: Alles ließe sich auf die ödi­pa­len Bestre­bun­gen und die damit ver­bun­dene Ambi­va­lenz hin inter­pre­tie­ren. Schuld­ge­ fühl wegen der Todes­wün­sche der Mut­ter gegen­über, die Phan­ta­sie, die Stelle der Freun­din, auch die der Mut­ter ein­zu­neh­men. Aber es fällt auch auf, dass der Vater offen­bar Angst bekam vor der Weib­lich­keit sei­ner Toch­ter: Er rea­gierte abschät­zig auf die Men­ar­che, auf ein erstes Schmin­ken. Gleich­wohl kaufte er ihr ein Konfirmationskleid, wie es die Mut­ter (die Riva­lin) nie gekauft hätte, zur Feier des Erwach­sen­wer­ dens (Kon­fir­ma­tion). Das Bild von der Kit­tel­schürze, in die die Mut­ter sie wie ein Aschen­put­tel gern gesteckt hätte, mag ja noch eine Quelle in der Hal­tung der Mut­ter haben, aber dass sie gekränkt (nicht krank) die Konfirmationsfeier ver­säumte, ist wohl eher der Phan­ta­sie der Pati­ en­tin zuge­hö­rig. Und ein »ödi­pa­ler Traum« wie der fol­gende ist sicher aus den Wün­schen und Äng­sten der Pati­en­tin ent­stan­den: Sie träumt, die The­ra­pie sei durch mich, den The­ra­peu­ten, been­det wor­den, weil ich mich in sie ver­liebt hätte. Frau Mit­scher­lich, das war meine Frau, hätte mit ihr gespro­chen: So gehe das nicht! Dann sei sie von der Mafia ver­folgt wor­den, die ihr nach dem Leben trach­tete, sie war schutz­los; mit Angst wachte sie auf. Sie hat nach dem Traum gedacht, die Mafia ist alles das, was sie schon lange ver­folgt (die Erinnyen, die Ver­tre­ter des Schuld­ge­fühls). Das könne sie nicht aus­ hal­ten, dann gebe sie lie­ber die The­ra­pie auf, das heißt die Bezie­hung zu mir. Dabei tut ihr die Bezie­hung doch gut; sie hätte eine sol­che Bezie­hung zum Vater so gewünscht.

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Sexualität und Schuldgefühl I Die­ser Abschnitt wird mehr Fra­gen auf­wer­fen, als er Ant­wor­ten geben kann. Ich denke, die Frage, warum sexu­el­les Begeh­ren und sexu­elle Befrie­di­gung Schuldgefühle erzeu­gen können, wenn sie nicht in ihrem Wesen sogar mit Schuldgefühl ver­bun­den sind, führt an den Kern des Mensch-Seins. Denn der Mythos vom »Sündenfall« ist mit dem Wis­ sen von Sein und Tod, ist mit Arbeit und Sexua­li­tät und mit Scham und Schuld ver­bun­den, dar­über hin­aus mit Tren­nung, vom Para­dies näm­ lich. Sexua­li­tät wird hier als vita­ler Trieb, der Schuld­ge­fühle macht, behan­delt. Sexua­li­tät ist aber immer auch mit Tren­nung ver­bun­den, da sie sich wegen des Inzestverbots an außerfamiliäre Objekte rich­ ten muss. Der damit ver­knüpfte Schuldgefühlsanteil, ein Trennungsschuldgefühl, wird an ent­spre­chen­der Stelle bear­bei­tet wer­den (Teil II, S. 219). Wie­der kön­nen wir die Schuld, die der Mythos dar­stellt, mit dem Schuld­ge­fühl des indi­vi­du­el­len Men­schen (des Kin­des) gleich­set­ zen. Ödi­pus lädt Schuld auf sich; das Kind hat wegen sei­ner ödi­pa­len Wün­sche Schuld­ge­fühle. In »Das Unbe­hagen in der Kul­tur« hat Freud (1930a) bril­lant den Gegen­satz von »Kul­tur« und »Liebe«, die ursprüng­lich immer eine »vollsinnliche« (S. 462) ist, dar­ge­stellt. Kul­tur ist in die­sem Zusam­ men­hang wohl die Gesamt­heit des­sen, was den Men­schen vom Tier unter­schei­det. Kurz gesagt, die libi­di­nö­sen Triebe aus­zu­le­ben, wider­ strebt den Inter­es­sen der »Kul­tur«, die dar­auf aus ist, immer grö­ßere Ansamm­lun­gen von Men­schen zu schaf­fen, um das Über­le­ben immer gesi­cher­ter zu machen. Das erin­nert an die Begrün­dun­gen für das Inzest-Ver­bot und das damit ein­her­ge­hende Exogamie-Gebot. Wirt­ schaft­li­che Expan­sion würde ver­min­dert, wenn Sexua­li­tät und Fort­ pflan­zung allein in der Fami­lie stattfänden. Ähn­lich ist mensch­liche Kul­tur viel­leicht mit einem ein­tre­ten­den Chaos, lie­ßen die Men­schen ihren Trie­ben freien Lauf, nicht zu ver­ein­ba­ren. Und in der Tat gibt es einen sol­chen Gegen­satz; in Zei­ten der Part­ner­su­che oder der hef­ti­gen Ver­liebt­heit muss man­ches andere lie­gen­blei­ben, und von irgend­einem Punkt an wird die Angst zu groß, dass die mate­ri­el­len und gesell­schaft­ li­chen Bedin­gun­gen, die dem Indi­vi­duum Sicher­heit geben, zusam­ men­bre­chen könn­ten, gäbe man dem weiter nach, wozu man Lust hat. Auch das Fami­lien­leben, die Ehe, die sich mit mäßi­gem Erfolg alle Mühe gibt, Sexua­li­tät und mate­ri­elle sowie gesell­schaft­li­che Sicher­heit zu ver­ein­ba­ren, stellt sich in Gegen­satz zu einer sexu­el­len Frei­heit, die allzu leicht eine doch auch gewünschte fami­liäre Sicher­heit in Frage stellt. Resi­gniert kon­sta­tiert der alte Freud (1930a, S. 465):



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»Das Sexual­leben des Kul­tur­men­schen ist doch schwer geschä­digt, es macht mit­ un­ter den Ein­druck einer in Rück­bil­dung befind­li­chen Funk­tion, wie unser Gebiß und unsere Kopf­haare als Organe zu sein schei­nen. Man hat wahr­schein­lich ein Recht anzu­neh­men, daß seine Bedeu­tung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfül­lung unse­res Lebens­zweckes, emp­find­lich nach­ge­las­sen hat.«

Und das regu­lie­rende Gefühl ist neben der Angst, in sol­ches Chaos zu gera­ten, das Schuld­ge­fühl. Da aber die Ermah­nun­gen der »Kul­tur« beim Erwach­se­nen kaum Aus­sicht auf Erfolg hät­ten, muss die Unter­ drückung bei den »Äuße­run­gen des kind­li­chen Sexual­lebens« (S. 464) anfan­gen. Die »Kul­tur«, möchte ich ergän­zen, schränkt ja auch andere vitale Regun­gen des Kin­des ein, erzieht es zur »Sau­ber­keit«, dämpft sei­nen Bewe­gungs­drang, zwingt es, bestimmte Dinge zu bestimm­ten Zei­ten zu essen, stellt früh auch einen Gegen­satz von Pflicht (Arbeit) und Spiel (Lust) her (siehe auch Fromm 1976, S. 123). Aber ist es nur der Ein­fluss der »Kul­tur«, der sozia­len Umwelt, der restrik­tiv mit den Triebäußerungen umgeht? Selbst Freud (1930a, S. 465) hat leise Zwei­fel daran: »Manch­mal glaubt man zu erken­nen, es sei nicht allein der Druck der Kul­tur, son­dern etwas am Wesen der Funk­tion selbst ver­sage uns die volle Befrie­di­gung und dränge uns auf andere Wege. Es mag ein Irr­tum sein, es ist schwer zu ent­schei­den.« Róheim (1950, S. 271) fragt sich, warum eigent­lich das harm­lose Spiel kind­li­cher Sexua­li­tät unter­drückt wer­den soll: »Wes­halb aber soll­ten die Väter sich den sexu­el­len Spie­len der Klein­kin­der wider­set­ zen? Gibt es dazu irgend­einen prak­ti­schen Grund? Oder ›Clan-Inter­ esse‹? Das ist schon in der For­mu­lie­rung wider­sin­nig.« Róheim weist auf Fenichel (1945, Bd. I, S. 79 f.) hin, der in die Fak­to­ren, die Triebeinschränkung bewir­ken, ein System brachte, in das innere und äußere Ein­flüsse ein­ge­hen: »Die bio­lo­gi­sche Tat­sa­che, daß der Säug­ling nicht in der Lage ist, sei­nen moto­ri­ schen Appa­rat zu kon­trol­lie­ren, und daß er daher äußere Hilfe benö­tigt, um seine Triebansprüche zu befrie­di­gen, hat zur Folge, daß er in trau­ma­ti­sche Situa­tio­nen gerät, da Per­so­nen der Außen­welt nicht stets unmit­tel­bar zuge­gen sein kön­nen … Die Erin­ne­rung an schmerz­hafte Erfah­run­gen die­ser Art füh­ren zu dem ersten Ein­ druck, daß Trieberregungen eine Quelle von Gefahr sein kön­nen.«

Dann tre­ten die Ver­bote und Einschränkungen der Erzie­hung hinzu – diese können rea­li­stisch oder auch irra­tio­nal sein; schließlich könnten reale Gefah­ren vom Kind völlig ver­zerrt ver­stan­den wer­den auf­grund »projektiver Miß­ ver­ ständ­ nisse«; man sieht den Ein­ fluss Melanie Kleins. Spä­ter über­nimmt das Über-Ich die Funk­tio­nen der regu­lie­ ren­den Außen­welt, Angst ver­wan­dele sich in Schuld­ge­fühl.

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Schei­tern am Erfolg I – Erfolg bedeu­tet Über­tref­fen Erfolg­reich zu sein macht inner­halb beste­hen­der Bezie­hun­gen ge­ fühle, wenn man glaubt, dass das vitale Bedürf­ nis nach Schuld­ Erfolg einen ande­ren zurück­setzt oder behin­dert. In die­sem Bereich ent­steht ein Teil der Arbeitsstörungen und Prü­fungs­äng­ste aus dem Schuld­ge­fühl, den ande­ren zu über­tref­fen, wäh­rend ein ande­rer, wie ich meine bedeu­ten­de­rer und auch, was die Häu­fig­keit betrifft, mehr rele­van­ter Bereich der des Trennungsschuldgefühls ist. Aus Grün­ den der Syste­ma­tik möchte ich aber wie bei der Sexua­li­tät ver­su­chen, beide Berei­che zu tren­nen, aller­dings in dem Bewusst­sein, dass sie sich über­schnei­den wer­den und eine sol­che Tren­nung künst­lich ist. In die­sem Abschnitt wird die Auf­merk­sam­keit mehr auf die Arbeitsstörung gerich­tet, die eher mit dem Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät zu tun zu haben scheint als die Prü­fungs­angst, bei der die befürch­tete Tren­nung und das mit ihr ver­bun­dene Schuld­ge­fühl im Vor­der­grund steht. Aber Arbeit gehört stets zum Vor­feld einer Prü­fung, wenn diese auch eher eine Schwel­len­si­tua­tion zu einem neuen Lebens­ab­schnitt und damit die Tren­nung von einem zurück­lie­gen­den bezeich­net. (»Schei­tern am Erfolg« aus Trennungsschuldgefühl wird in Teil II, S. 223, behan­delt.) Beim Schuldgefühl aus Vitalität, wel­ches Arbeitsstörung ver­ur­ sacht, tref­fen ver­schie­dene ursäch­li­che Kom­po­nen­ten zusam­men, um eine Be­hin­de­rung an sich legi­ti­mer expan­si­ver Kräfte zu bewir­ken: Ein­flüsse des riva­li­sie­ren­den Objekts wie Gekränktsein, Lie­bes­ent­zug, Andro­hung von Sank­tio­nen, dann der irra­tio­nale Glaube, der eigene Erfolg gehe mit der Schä­di­gung des ande­ren ein­her, als ob nur ein bestimm­ter Betrag an Erfolg zur Ver­fü­gung stehe. Das Irra­tio­nale lei­tet sich her aus der Ver­knüp­fung der Bedeu­tung des Erfolgs mit ande­ren – ver­bo­te­nen – Berei­chen, zum Bei­spiel ora­ler Gier, Aggres­sion oder sexu­el­len Bedürf­nis­sen. Des­halb tre­ten Arbeitsstörungen in man­chen Fäl­len nicht auf, solange der betref­fende für jeman­den arbei­tet, hier kann er bril­lie­ren, wäh­rend die Lei­stung auf eigene Rech­nung unmög­ lich ist. Es las­sen sich grob auch zwei Arten der Arbeit unter­schei­den: Ein­mal hat sie den Cha­rak­ter der Rou­tine, sie wird nicht in eige­ner Ver­ant­wor­tung, son­dern in der des Arbeit­ge­bers oder einer Insti­tu­tion erle­digt, ihr Ablauf ist vor­ge­ge­ben und der Arbei­tende hat nichts zu tun, als sei­ner Pflicht nach­zu­kom­men. Hier wer­den Arbeitsstörungen sel­te­ner sein. Anders bei schöp­fe­ri­scher Arbeit, bei der etwas Neues ent­ste­hen soll, Riva­li­tät und Kon­kur­renz gefähr­li­cher sein kön­nen; der Arbei­tende über­nimmt die Ver­ant­wor­tung selbst, kann sich nicht auf einen Mäch­ti­ge­ren beru­fen. Hier sind Arbeitsstörungen in stär­ke­rem



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Maße zu erwar­ten, eine sol­che krea­tive Arbeit hat aber auch schon viel mehr mit Tren­nung, Los­lö­sung vom Übli­chen, zu tun; ich erin­nere an das mytho­lo­gi­sche Vor­bild Pro­me­theus, der Schuld auf sich lud, weil er den Men­schen das Neue, Fortschrittbringende ver­schafft hatte. Die Bezie­hun­gen, in denen sich der­ar­tige Behin­de­run­gen bzw. ent­ spre­chende Phan­ta­sien ereig­nen, las­sen sich auf ein ödi­pa­les Muster oder auf Geschwi­ster­ri­va­li­tät zurück­füh­ren. »Die psy­cho­ana­ly­ti­sche Arbeit lehrt, daß die Gewissenskräfte, wel­che am Erfolg erkran­ken las­sen, anstatt wie sonst an der Ver­sa­gung, in inti­mer Weise mit dem Ödi­pus-Kom­plex zusam­men­hän­gen, mit dem Ver­hält­nis zu Vater und Mut­ter, wie viel­leicht unser Schuld­be­wußt­sein über­haupt« (Freud 1916d, S. 389).

Der sexu­elle »Erfolg« bei dem begehr­ten ödi­pa­len Eltern­teil macht schul­dig am ande­ren, den man besei­ti­gen müsste, was offen­bar in der Phan­ta­sie bereits durch das Über­tref­fen oder Über­run­den auf ande­ren Gebie­ten erreicht wäre, sodass ein Erfolg schei­tern muss. Es geht hier also um den Aspekt von Arbeitsstörung und Prü­fungs­ angst, der von Modell (1971) zuerst – für meine Begriffe unglück­lich – als Über­le­ben­den-Schuld (»survivor guilt«) bezeich­net wurde – bes­ ser (er­folg­rei­cher) leben auf Kosten ande­rer, von denen man abhän­gig ist und deren Liebe man sich erhal­ten möchte. Gemeint ist das Über­ tref­fen oder Über­run­den des Liebesobjekts (Engel u. Ferguson 1990, S. 53). Die frühe Psy­cho­ana­lyse hat Arbeitsstörung und Prü­fungs­angst stets auf die ödi­pale Riva­li­tät und ihre Hem­mung bezo­gen – wie bei­ spiels­weise Sadger (1920, S. 150): »Die Prü­fungs­angst ist Kastra­ tions­angst.« Melanie Klein (1940, S. 105) wei­tet die Dyna­mik über den Ödi­pus-Kom­plex hin­aus auf den von Kin­dern ersehn­ten Triumph aus, eines Tages stär­ker und mäch­ti­ger als die Eltern zu sein: »Der Triumph über die Eltern in sol­chen Phan­ta­sien lähmt wegen der Schuld­ge­ fühle, die sich dar­aus erge­ben, oft Anstren­gun­gen aller Art. Man­che Men­schen sind gezwun­gen, erfolg­los zu blei­ben, weil Erfolg für sie immer die Ernied­ri­gung oder gar den Scha­den an einer ande­ren Per­son, beson­ders den Triumph über die Eltern und Geschwi­ster, bedeu­tet.«

Aber ein solch ein­fa­cher Mecha­nis­mus der Hem­mung des Erfolgs wird dem Umstand nicht gerecht, dass die Eltern immer (bewusst jeden­ falls) auch wol­len, dass das Kind etwas lei­stet und Erfolg hat. Die­ses Dop­pelte von For­de­rung und Hem­mung wurde schon früh gese­hen; Sadger (1920, S. 143) schil­dert das Dilemma eines fast psy­cho­ti­schen Schü­lers, der Angst hat, eine Prü­fungs­frage des Leh­rers bedeute eigent­ lich die, ob er mit der Mut­ter geschla­fen habe: »Gebe ich dem Leh­rer die Ant­wort, so springt er auf mich los, packt mich und mir geschieht etwas, natür­lich die Kastra­tion. Ant­worte ich aber nicht, so komme ich ewig nicht vom Fleck. Es gibt also kei­nen Aus­weg.« »Nicht vom

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Fleck« bedeu­tet, er macht keine Fort­schritte, und das ent­täuscht den Vater wie­derum: »Nun fällt mir ein, dass gerade mein Vater auf die Noten der Zeug­nisse, über­haupt auf das Ler­nen und die Fort­schritte in der Schule sehr gro­ßen Wert legte« (S. 145). Die wider­sprüch­li­chen For­de­run­gen kön­nen auch auf beide Eltern­ teile ver­teilt sein bzw. je einem Eltern­teil zuge­schrie­ben wer­den: Ein Pati­ent Fenichels (1945, Bd. III, S. 77), den er einen »Don Juan des Erfolgs« nennt, war gezwun­gen, geschäft­li­chen und sexu­el­len Erfol­gen nach­zu­ja­gen, wobei er trotz aller ober­fläch­li­chen Erfolge nie auch nur eine gewisse Zufrie­den­heit errei­chen konnte: »Einige Per­so­nen zol­len ihrem Über-Ich nicht durch Lei­den, son­dern durch Erfolg Tri­but … Da nun aber kein Erfolg eine unbe­wußte Schuld wirk­lich unge­sche­hen machen kann, sind diese Per­so­nen gezwun­gen, von einem Erfolg zum näch­sten zu het­zen, ohne je mit sich zufrie­den zu sein.«

In Fenichels Fall nun ist es leicht mög­lich, das Über-Ich auf real han­delnde Per­so­nen zu bezie­hen: Die sehr viel ältere Ehe­frau, die ihn behan­delt wie eine Mut­ter ihr Kind, sta­chelt ihn zu Höchst­lei­stun­ gen an, genau wie schon damals die leib­li­che Mut­ter: »Die Ana­lyse deckte auf, daß die Mut­ter den Vater … von Grund auf ver­ach­tete. Sie hatte dem Jun­gen ein­ge­schärft, daß er tüch­ti­ger wer­den müsse als sein Vater« (S. 78). Es stellte sich auch her­aus, dass der Junge bereits mit sechs Jah­ren – noch auf der Höhe des Ödi­pus-Kom­ple­xes wohl – im Laden des Vaters aus­half und über den Vater tri­um­phierte, da die Kun­den gerne bei dem klei­nen Jun­gen kauf­ten. Über einen ähn­lichen Fall pseudo-ödi­pa­len Agierens sei­tens der Eltern habe ich berich­tet (Hirsch 1988 ; vgl. auch 2016); auch hier hatte der Junge (in der Ado­ les­zenz) zusam­men mit der Mut­ter gro­ßen geschäft­li­chen Erfolg, der Vater spielte nun keine Rolle, wenn er auch zeit­weise als über­mäch­ ti­ger Kastrator gefürch­tet gewe­sen war. Kein Wun­der, dass jeder tat­ säch­li­che Erfolg im eigenen Recht – ohne die mäch­tige Mut­ter, die die Penisse der Män­ner ver­wal­tete, an der Seite – wegen schwe­rer ödi­pal erschei­nen­der Schuld­ge­fühle ­un­mög­lich war. Eine Hem­mung, Erfolg zu haben, kann auch mit konfliktuöser Ge­schwi­ster­ri­va­li­tät zusam­men­hän­gen. Wir haben gese­hen, wie sehr die Iden­ti­tät Vin­cent van Goghs als »Ersatzkind« sei­nen Lebens­ lauf beein­träch­tigte; er musste schei­tern in jeder beruf­li­chen Lauf­bahn, ein­zig beim Malen hatte er wahr­lich keine Arbeitsstörungen, einem Erfolg in den Augen der Men­schen jedoch musste er sich entziehen: Nagera (1967) führt van Goghs Selbst­mord auf sei­nen begin­nen­ den Erfolg zurück. In die­sem Fall herrscht nicht die ödi­pale Kom­po­ nente, son­dern die Hem­mung, dem durch die Eltern idea­li­sier­ten Bild



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des toten Bru­ders nahe­zu­kom­men, als Ursa­che für die Erfolg­lo­sig­keit vor. »Unbe­wußt muß er gefühlt haben, daß sein Erfolg ein Angriff auf den toten Vin­cent war, ein Ver­such, sei­nen Platz in der Zunei­gung der Eltern zu gewin­nen« (Nagera 1967, S. 157). Ande­rer­seits hät­ ten die Eltern, Nagera zu­folge, auch das Ide­al­bild des toten Bru­ders auf van Gogh selbst über­tra­gen, was zu sei­nem extrem über­stei­ger­ten Ideal-Ich geführt habe, dem nahezukom­men er sich gezwun­gen fühlte. Nagera sieht das Malen für van Gogh als Aus­weg aus die­sem Kon­ flikt an, »denn Vin­cent wußte und äußerte sehr oft selbst, daß Malen ein Beruf sei, in dem man bei Leb­zei­ten als Ver­sa­ger ange­se­hen wird und erst nach dem Tode berühmt wird« (S. 158). Man kann aber auch umgekehrt denken, dass ein Erfolg für van Gogh bedeutete, sich dem Auftrag, den toten Bruder zu ersetzen, zu entziehen und den Erfolg für sich selbst zu verbuchen, was er sich nicht gestatten konnte. Ein ande­rer Aspekt bei Lern­stö­run­gen beson­ders im Kin­des­al­ter hat weni­ger mit ödi­pa­len Kon­flik­ten zu tun als mit nar­ziss­ti­scher Ver­sor­ gung durch eine Elternfigur bzw. mit ihrem Ver­sa­gen in die­ser Hin­ sicht. Ler­nen bedeu­tet dann ein In-sich-Auf­neh­men, Lern­stö­rung kann die Dyna­mik der Anorexie anneh­men. Nora A. berich­tet, dass sie am Wochen­ende Lust hatte zu malen, sie malte ein Bild von Matisse ab und fühlte sich gut dabei. Sie dachte aber: Darf ich das denn? Ein­fach etwas kopie­ren? – Die Arbeitsstörungen auf dem Abend­gym­na­sium neh­men zu, sie kann nicht fol­gen; einer­seits ist sie froh, dass die Ferien bevor­ste­hen, ande­ rer­seits hat sie aber Angst vor dem Allein­sein. Das Ler­nen bedeu­tet für sie, etwas von ande­ren in sich auf­neh­men. Dazu muss sie aber die Erlaub­nis von den Eltern bekom­men, denn sonst bedeu­tet Ler­nen, die Liebe der Eltern zu ver­lie­ren. Als Kind hatte sie große Freude am Flö­ten­un­ter­richt, den sie aber eines Tages abrupt auf­gab: Sie hatte zu Hause nie­man­den, dem sie hätte vor­spie­len kön­nen (das erin­nert an den Gedan­ken Garbers [1988, S. 122], dass das Kind den »Glanz im Auge der Mut­ter« braucht, Freude und Stolz über sein Wachs­tum, und dass des­sen Feh­len eine Quelle von Lernbehinderung sein kann.) Für Frau A. bedeu­tet Ler­nen also, allein zu sein, nichts zu bekom­men. Also bleibt sie zu Hause und war­tet, ob sie da etwas bekom­men könne. Sie denkt daran, dass der Stoff für die Prü­fung etwas Gutes sei, er komme aus der Welt, ver­helfe zu Frei­heit und Auto­no­mie, wenn man ihn sich ein­ver­leibe, erwei­tere er das Selbst. Wie bei der Nah­rung soll er etwas Gutes sein, aber manch­mal ent­puppt er sich als etwas Böses – Frau A. hatte jah­ re­lang an extre­mer Buli­mie gelit­ten –, des­halb muss es wie­der hin­aus­be­för­dert wer­den. Wenn man sich den Stoff für die Prü­fung nicht aneig­nen kann, bleibt man auch zu Hause. Frau A. fällt ein, dass ihre Mut­ter nach der Geburt zu schwach war, »sie hatte ja auch schon sechs Kin­der«, sie wollte nachts nicht auf­ste­hen, um den Säug­ling zu stil­len. Die Mut­ter habe stolz erzählt, wie selbst­stän­dig sie, Frau A., gewe­sen sei, dass sie sich nachts selbst die Brust gesucht habe, die Mut­ter nicht ein­mal auf­wa­chen musste. »Dablei­ben« bedeu­tet erzwin­gen, viel­leicht doch noch etwas zu bekom­men, anstatt es sich selbst von ande­ren zu neh­men, denn dafür gibt es keine Aner­ken­nung; Ler­nen würde bedeu­ten, auf die elter­li­che Zuwen­dung zu

186 Schuldgefühl ver­zich­ten. Wenn Frau A. ein Bild kopiert, bedeu­tet das, von Matisse etwas zu bekom­men. Aber sie bleibt allein damit: Der Freund kommt vor­bei und sagt nicht etwa: »Das hast du aber schön gemalt«, son­dern: »Darfst du denn dei­nen Namen dar­un­ter set­zen, es ist doch gar nicht von dir …« – Nach den Ferien kommt Frau A. in guter Stim­mung zur The­ra­pie. Sie kann kaum glau­ben, dass sie in den Ferien so gut gelebt hat. Sie kann nicht fas­sen, dass sie auf dem Zeug­nis keine Fünf hatte: Als ob ihr etwas Ver­trau­tes fehle, als ob sie etwas ver­lo­ren habe. Sie denkt daran, dass sie von den Eltern zwar einer­seits nie Aner­ken­nung für etwas bekom­men hat, wenn sie aber schlechte Lei­stun­gen hatte, wurde sie hart bestraft, die Eltern mein­ten, sie arbeite absicht­lich nicht, und ver­such­ten, ihr den Stoff ein­zu­trich­tern.

Der Ambivalenzkonflikt, der oft genug von den Eltern aus­geht, die einer­seits wol­len, dass die Kin­der den Erfolg haben, den sie ande­ rer­seits zu ver­hin­dern suchen, führt bei der Arbeitsstörung zu einem furcht­ba­ren Kampf ver­schie­de­ner gegen­sätz­li­cher Über-Ich-Anteile, der nicht so krea­tiv ent­schie­den oder viel­mehr umgan­gen wer­ den kann, wie es für van Gogh mög­lich war. Es ent­steht ein star­ker Druck, etwas zu tun, aber die Gegen­kraft nutzt alle Tricks, es hin­aus­ zu­schie­ben: Bevor man mit der Arbeit begin­nen kann, muss erst noch der Arbeits­platz auf­ge­räumt, müs­sen die Blei­stifte gespitzt, schnell noch etwas nach­ge­le­sen wer­den, aber das Buch ist natür­lich ver­legt, man muss es nun unbe­dingt erst ein­mal fin­den. Dann ruft viel­leicht jemand an, den man nicht gut abwim­meln kann, die Blumen müs­sen nun wirk­lich gegos­sen und der Hund schnell aus­ge­führt wer­den. Auch geht es kei­nes­falls ohne den Tee, der eben schnell gebrüht wer­den muss, inzwi­schen ist der Hun­ger da, und die Tages­schau kann man auch nicht ver­säu­men, man muss doch auf dem Lau­fen­den blei­ben. Und dass gleich dar­auf ein hoch­in­ter­es­san­ter Film kommt, konnte man doch nicht ahnen, und man wollte doch nur eben mal rein­schauen … Bis zum Ein­tritt einer blei­er­nen Müdig­keit, gegen die kein Mit­tel hilft, bleibt nicht mehr viel Zeit zu arbei­ten. Loewald (1979) berich­tet über den Fall eines Stu­den­ten, der ein Jahr nach dem Tod des Vaters mit sei­ner Dis­ser­ta­tion nicht wei­ter­kam. Es waren deut­lich zwei Über-Ich-Anteile fest­zu­stel­len, einer trieb mit hef­ti­gen Vor­wür­fen zur Arbeit an, der andere sabo­tierte den Fort­schritt mit boh­ren­den Selbst­zwei­feln. In der ana­ly­ti­schen Bear­bei­tung tauchte der Begriff der Ver­ant­wor­tung auf: »Wenn er von Ver­ant­wor­tung sprach, meinte er viel­leicht unter­schwel­lig nicht nur die Ver­ant­wor­tung sich selbst gegen­über, seine Selb­stän­dig­keit, son­dern auch die Ver­ant­wor­tung für ein Ver­bre­chen. Es wäre ein Ver­bre­chen, das er auf­schie­ben, ver­mei­den oder unge­sche­hen machen wollte« (Loewald 1979, S. 382).

Ein Wei­ter­ver­fol­gen die­ses Gedan­kens führte zu Mordimpulsen und -phan­ta­sien sei­nem Vater gegen­über, »sei­nen Ambi­tio­nen und Befürch­ tun­gen, ihn zu über­tref­fen, zu sei­nen Schuld­ge­füh­len wegen die­ser



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Ambi­tio­nen … und wegen des Todes sei­nes Vaters« (S. 382). Aber nicht nur diese ödi­pa­len, vita­len Bestre­bun­gen, die natür­lich Schuld­ ge­fühle mach­ten, lagen in dem Begriff »Ver­ant­wor­tung«, son­dern auch die Autonomiebestrebungen, durch die »wich­tige emo­tio­nale Bin­dun­ gen an die Eltern gelöst« (S. 382) wer­den. Mei­nes Erach­tens ver­bin­det Loewald hier die ödi­pale Dyna­mik mit der von Los­lö­sung und Indi­vi­dua­tion, die bereits vor der ödi­ pa­len Aus­ein­an­der­set­zung beginnt und sich durch die ver­schie­de­ nen Ent­wick­lungs­al­ter zieht (Loewalds Beschrei­bung scheint eher zur Ado­les­zenz als zum ödi­pa­len Alter zu gehö­ren). Und wegen der kaum trenn­ba­ren Ver­bin­dung die­ser bei­den Berei­che denke ich auch, dass ein Schuld­ge­fühl aus vita­len ödi­pa­len und ande­ren Rivalitätsbestrebungen immer mehr oder weni­ger mit Autonomiewünschen ver­ mischt ist.

»Ter­ro­ris­mus des Lei­dens« Als neben körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch drit­ ten Bereich der trau­ma­tisierenden Ein­wir­kung auf das Kind in der Fami­lie hat Ferenczi (1933) den Ter­ror beschrie­ben, den ein chro­ nisch kran­ker Eltern­teil auf ein Kind aus­üben kann, auch in Form von hypo­chon­dri­schen Äng­sten oder stän­di­gen Suiziddrohungen (vgl. z.  B. Sachsse 1987). Diese Dyna­mik ist so häu­fig, dass es erstaunt, wie sel­ ten sie in der Lite­ra­tur geschil­dert wird. Viel­leicht neigt man in einer kom­ple­men­tä­ren Iden­ti­fi­ka­tion in der Gegen­über­tra­gung dazu, es zu über­se­hen: Denn wer krank ist, genießt in unse­rer Gesell­schaft einen beson­de­ren Schutz, quasi auto­ma­ti­sche Für­sorge und eine Abso­lu­tion von jeder Ver­ant­wor­tung (vgl. Simmel 1932, S. 65). Das ist auch die Situa­tion eines Kin­des: Auf ein »Sei still, Vater geht es wie­der nicht gut!« kann es nicht anders rea­gie­ren, als sich zu unter­wer­fen und seine Vita­li­tät so zu unter­drücken, dass »Vater« sich nicht auf­re­gen muss, wodurch er noch kränker wer­den, womög­lich ster­ben könnte. Die Wut, die als Reak­tion auf eine sol­che Ein­schrän­kung nur zu ver­ständ­lich wäre, auch in Form von Todeswünschen, kann sich aber gerade nicht äußern, weil durch sie eine Ver­schlim­me­rung des Leidens ein­tre­ten könnte. Das Kind schafft sich zwei Metho­den der Bewäl­ti­gung sei­nes Dilem­mas: 1.  Iden­ti­fi­ka­tion – es wird eben­falls krank oder hypo­chon­ drisch, und 2. Anpas­sung – es ent­wickelt sich nicht nur zur »lebens­ läng­li­chen Pfle­ge­rin« (Ferenczi 1933, S. 312), son­dern tut alles, um sei­ner­seits »pfle­ge­leicht« zu sein.

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In sei­nem »Kli­ni­schen Tage­buch« (Ferenczi 1985, S. 276; Her­vor­ he­bung ori­gi­nal) heißt es stich­wort­ar­tig über die Reak­tion auf die Krank­ heit: »Schreck: Ein Teil gerät außer sich, Spal­tung. Der leer gewor­dene Platz wird vom Aggres­sor ein­ge­nom­men. Iden­tifica­tion.« Und in der Tat, es schei­nen beson­ders anfallsartige Krank­heits­sym­ptome zu sein, die den »Ter­ror« auf das Kind aus­üben. Weidenhammer (1986, S. 64) berich­tet: »Pati­en­ten  … schil­dern außer­or­dent­lich häu­fig, daß Vater oder Mut­ter oder eine andere nahe­ste­hende Bezugs­per­son kör­per­lich lei­dend war, und zwar auf eine erschreckende, besorg­nis­er­re­gende Art (Anfallsleiden).« Diese Pati­en­ten müs­sen Weidenhammer zufolge Bezie­hun­gen ver­ sach­li­chen, denn ihre Objekte sind »ganz und gar brü­chig« (S. 64), ver­letz­bar und unvor­her­seh­bar zer­stör­bar. Stellt man sich die Vita­li­tät des Kin­des als Lebens­ener­gie vor, die zu äußern es gehin­dert wird, liegt der Schluss nicht fern, dass sie, die Ener­gie, mithilfe der Iden­ti­ fi­zie­rung gegen das eigene Selbst in Form eben der Krank­heit gewen­ det wird, unter deren stän­di­ger Demon­stra­tion es gelit­ten hatte. Für Müt­ter hypo­chon­dri­scher Pati­en­ten habe ich zwei Typen beschrie­ben (Hirsch 1989a), von denen die Müt­ter des Typs I selbst stän­dig mit hypo­chon­dri­schen Äng­sten und chro­ni­schen Krank­hei­ten labo­rier­ten (Typ II: Die Müt­ter waren stän­dig besorgt um die Gesund­heit des Kin­ des), wie Richter (1970, S. 76) eine Anpas­sung einer gan­zen Fami­lie an die »frisch erkrankte Herzneurotikerin« beschreibt, die nach einer Zeit des Wehrens gegen die Anklammerungstendenzen der erkrank­ten Mut­ter ein­tritt, und zwar aus Schuld­ge­fühl. Die Fami­lie gestalte sich »zu einer Art Kur­an­stalt« (S. 77) um, und es nimmt nicht wun­der, dass »die Kin­der sol­cher Fami­lien zwangs­weise eben­falls meist zu höchst risikoscheuen, hyponchrondrischen und für Herzneurosen anfäl­li­gen Wesen her­an­wach­sen« (S. 78). Die Iden­ti­fi­ka­tion wird zum Teil auch ins Karikaturhafte gestei­gert, was Ferenczi (1985, S. 276; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) andeu­tet: »Dar­ stel­lung des Kin­des: ›Ihr seid ver­rückt‹ durch Imitierung (Unsin­nig­ keit).« Eine Pati­en­tin, Zilly C., hatte als Kind stän­dig Unfälle. Ein­mal, mit viel­leicht acht Jah­ren, brach es sich den Arm, und die Mut­ter sagte: »Du weißt ja, wo Dr. X. seine Pra­xis hat.« Das Mäd­chen ging brav zum Arzt (»Na, was haben wir denn heute wie­der?«), der hatte gerade keine Gipsbinden zur Hand und schickte das Kind in die Apo­theke, wel­che zu holen. Auf dem Rück­weg zur Pra­xis fiel es wie­der hin und ver­stauchte sich die andere Hand …



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Das »Herzkind« Ein Bei­spiel von weit­ge­hen­der Iden­ti­fi­ka­tion mit der stän­dig kran­ken Mut­ter gibt Lisa M., die ich schon als »Herzkind« vor­ge­stellt habe; sie ist Er­satzkind für den acht Jahre älte­ren, vor ihrer Geburt ver­stor­be­nen Bru­der und noch dazu von einem Fami­li­en­ge­heim­nis umge­ben: Pro­sti­ tu­tion in der Fami­lie, die frag­li­che Vater­schaft des Vaters für den Bru­ der, kom­pli­ziert durch das Inzest-Agie­ren des Vaters mit der Pati­en­tin. Die Sorge um das eigene Herz ver­band die Pati­en­tin mit der Mut­ter; das Herz als eine »Art von Part­ner« (Fürstenau et al. 1964, S. 184). Die Mut­ter habe immer an Herz­be­schwer­den gelit­ten, war stän­dig krank; die Pati­ en­tin kam in die The­ra­pie genau ein Jahr nach dem Tod der Mut­ter. Sie habe Angst und Herz­an­fälle, Todes­angst. Vor einem Jahr habe sie gedacht, sie sei wirk­ lich herz­krank, habe auch einen Arzt gefun­den, der eine Herz­schwä­che dia­gno­ sti­ziert und ihr Herzmedikamente gege­ben habe, die sie noch heute nehme. Eine Kur wurde jedoch abge­lehnt. Sie habe auch die »depres­sive Lebensunlust« der Mut­ter an sich fest­ge­stellt. Sie habe Alb­träume, meist von Gestor­be­nen, wache nass­ge­schwitzt auf, habe das Gefühl, inner­lich tot, nur noch eine äußere Schale zu sein. Sie träume, dass sie die Mut­ter in Kran­ken­häu­sern suche, um sich küm­ mern zu kön­nen. Dabei habe sie im Traum Schuld­ge­fühle. Sie war immer sehr abhän­gig von der Mut­ter, das war ihr größ­tes Pro­blem. Frü­her hatte sie Todes­wün­ sche gegen die Mut­ter, wenn sie wie­der krank war, und schlimme Schuld­ge­fühle danach. Die ganze Kind­heit sei über­schat­tet gewe­sen von Krank­heit und Hass. Der Vater habe heim­lich Alko­hol getrun­ken, sei abhän­gig gewe­sen, habe sich aber mög­lichst nichts anmer­ken las­sen. »Meine Mut­ter ist ihr gan­zes Leben gestor­ben, sie war immer auf meine Hilfe ange­wie­sen.« Sie habe das Gefühl, kein Recht mehr zu haben, nach dem Tod der Mut­ter zu leben. Gleich­zei­tig habe sie das Gefühl, als ob sie ein Teil der Mut­ter wäre, nach ihrem Tod immer mehr wie sie zu wer­den und sich zurück­zu­zie­hen, sie habe Angst, ihre Wut immer mehr gegen die acht­ jäh­rige Toch­ter zu rich­ten, mit der sie allein lebe. Die Wut gegen die Toch­ter sei ande­rer­seits wie die Wut auf ihre Mut­ter, denn die Toch­ter hin­dere sie auch wie­der am Leben. Ihre Groß­mut­ter habe ihr damals eine Geschichte aus der Zei­tung vor­ ge­le­sen, wie eine Oma von einem Hund zu Tode gebis­sen wurde, als sie ver­suchte, ihre Enkel­kin­der zu ret­ten. Sie wollte die Geschichte nicht hören, sie emp­fand sie als einen Vor­wurf, den sie auf sich und die Mut­ter bezog: Ihre Mut­ter, die sich auf­op­fere, würde ster­ben müs­sen, und sie, das Kind, hätte Schuld. Vor dem Tod der Mut­ter habe sie alles mit ihr bespre­chen kön­nen, sie war wie eine Freun­din, »wir waren ein Herz und eine Seele«, sie war die ideale Mut­ter. »Ich habe meine Mut­ter, mich und meine Toch­ter immer als Ein­heit gese­hen.« Eine voll­kom­mene Ein­heit, in der kein Mann erfor­der­lich war. Spä­ter berich­tete sie von einem schlim­men Unfall, den sie nach dem Tod (Herz­tod?) der Mut­ter hatte: Ein Küchen­ge­rät war defekt, ein Kabel durch­ge­ scheu­ ert, sie wollte jeman­ dem den Defekt zei­ gen, machte das Gehäuse auf, obwohl der Stecker in der Steck­dose war, und erlitt einen elek­tri­schen Schlag; der Elek­tri­ker, der zur Repa­ra­tur des Geräts geholt wurde, meinte: Wenn sie nicht ein so star­kes Herz gehabt hätte, wäre sie gestor­ben. Sie hat immer gedacht, sie habe ein schwa­ches Herz. Wenn es so klopfte, hatte sie Angst, dass sie ster­ben

190 Schuldgefühl könnte, es war aber auch irgend­wie ein Zei­chen, dass sie lebte. Sie trägt stän­dig ein klei­nes gol­de­nes Herz als Schmuck, ein Geschenk von der Mut­ter ihres ersten Freun­des. In der Zeit der Bear­bei­tung der Tren­nung aus der Bezie­hung zur Mut­ter hat Frau M. einen Traum: In der Küche zer­schnei­det sie mit einem schar­fen Mes­ser ein gro­ßes Herz. Sie ekelt sich einer­seits, ist ande­rer­seits trau­rig. – Sie hat frü­her für ihre Katze fri­sches Herz gekauft, hat es zer­schnit­ten, sich gar nicht geekelt. Weiter denkt sie daran, dass das Herz im Traum tot ist, sie muss die Ver­bin­dung zur Mut­ ter zer­schnei­den. Das Zer­schnei­den bedeu­tet etwas Posi­ti­ves: Sie zer­schnei­det die zu enge Bin­dung an die Mut­ter. Das Herz für die Katze damals bedeu­tete ja auch ein Lebensmit­tel. Am Anfang der ersten grö­ße­ren Therapiepause hat sie einen »Herz­an­fall«, einen Angst­anfall. Sie hat große Angst und Schuld­ge­fühle, dass sie etwas falsch gemacht hat: Sie hat sich vor­ge­nom­men, eine Fasten­kur (also eine alter­na­tive The­ra­pie) zu machen, hat dazu ein Buch »eines ande­ren Arz­tes« gele­sen, hat jetzt große Angst, ich sei gekränkt und würde ihr Vor­würfe machen. Anstatt wütend zu sein, dass ich sie allein lasse in den Ferien, stellt sie es in ihrer Phan­ta­sie so her, dass sie mich ver­lässt und sich einem ande­ren Objekt zuwen­det, hat dann wegen die­ser Eigen­mäch­tig­keit aber große Schuld­ge­fühle, ich wäre so aggres­siv auf sie, wie sie eigent­lich auf mich sein müsste. – Ein­mal sagt sie, sie habe etwas auf dem Her­zen: Sie denke, ich hätte etwas dage­gen, wenn sie sich mit dem Freund wie­der trifft und sexu­elle Bedürf­nisse ihm gegen­über äußert, von dem sie sich eigent­lich schon getrennt hatte. Als würde sie mich auch dadurch ver­las­sen. Ein ande­rer Traum zeigt die andere, aggres­sive Seite der Ambi­va­lenz in der Mutterbeziehung: Sie kämpft mit einem jun­gen Mann, schlägt mit einem Spa­ten zu, da ver­wan­delt der sich in eine Milch­tüte, die das Gesicht der Schau­spie­le­rin Inge Meysel hat, die »als Mut­ter der Nation« gefei­ert wor­den ist. Sie wollte sie tot­schla­gen, konnte sie aber nicht mehr sehen, sie habe auf­ge­hört, auf sie ein­zu­ schla­gen, kurz bevor sie starb, weil sie nicht schuld sein wollte am Tod. Sie wurde aber ihre Wut los, das Gesicht auf der Milch­tüte war schmerz­ver­zo­gen, aber sie lebte noch. – Sie hasse Milch­tü­ten, es seien unzer­stör­bare Tüten, in denen die Milch nicht arbei­ten könne, die Milch sei tot, kon­ser­viert. Die Tüte sei nicht kaputt zu krie­gen wie das Bild von einer Mut­ter, das die Deut­schen von der Mut­ter haben! In der wei­te­ren Bear­bei­tung stellt sich die Ver­dich­tung von »jun­gem Mann« und »Mut­ter der Nation« als Ergeb­nis der ent­spre­chen­den Über­tra­gung auf mich he­raus. Zum Tod der Mut­ter: Sie hat zum Schluss so darum gekämpft, dass die Mut­ter über­lebt. Die Mut­ter hat die ärzt­li­chen Anord­nun­gen gar nicht mehr befolgt. Die Pati­en­tin war fast immer bei ihr, als der Tod sich näherte, die Mut­ter konnte aber nicht ster­ben. Sie hatte das Gefühl, die Mut­ter könne nicht los­las­sen, wenn sie bei ihr war. Das hat sie ihr gesagt und ist gegan­gen, und dann erst ist die Mut­ter gestor­ ben. Dadurch hat die Mut­ter selbst sabo­tiert, was sie immer haben wollte: Dass die Pati­en­tin im Ster­ben bei ihr sein sollte. Selbst da noch war Hass und Kampf, die Mut­ter hat sich so ver­hal­ten, dass sie, Frau M., auf jeden Fall schul­dig wurde. Wäre sie geblie­ben, hätte sie eine Erlö­sung ver­hin­dert, da sie gegan­gen ist, habe sie zum Tod bei­ge­tra­gen. Es wäre ein Akt der Gnade gewe­sen, wenn die Mut­ter in ihrer Gegen­wart hätte ster­ben kön­nen. Das Ende der The­ra­pie naht, der Ter­min ist in vier Wochen. Sie könnte nur wei­nen: »Auf dem Weg hier­hin habe ich gedacht, am lieb­sten würde ich mir das Herz her­aus­rei­ßen, um den Schmerz nicht zu spü­ren!« Stän­dig ver­wen­det sie das Wort »Herz«. »Als ich letzte Woche Ihnen mein Herz vor die Füße gewor­fen habe,



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tat es mir nicht mehr weh!« Oder: »Ich habe Herzschmerzen, wenn ich zu Ihnen komme!« Als Jugend­li­che hat sie Jun­gen, die sich für sie inter­es­sier­ten, gesagt, sie habe einen Herz­feh­ler, um sich inter­es­sant zu machen. Herz­be­klem­mun­gen hatte sie schon als Vor­schul­kind, wenn die Mut­ter an ihre eigene Mut­ter geschrie­ben hat, aber auch die Mut­ter die Hand des Kin­des damals geführt hat. Sie schrieb, dass es ihnen »leid­lich« gehe, trau­rige, lange Briefe. Das Kind war dann ein­ge­klemmt zwi­ schen Mut­ter und Küchen­tisch, konnte sich nicht rüh­ren, die Mut­ter hielt die Hand mit eiser­nem Griff. (Das ist eine andere Ver­sion des »Anna-selbdritt-Motivs«.) Die Herz­be­schwer­den ver­steht sie jetzt auch wie ein Anden­ken, eine Ver­bin­dung zu mir ange­sichts der nahe bevor­ste­hen­den Tren­nung. Als Jugend­li­che habe ein Arzt fest­ge­stellt, dass sie keine Stirn­höh­len habe. Sie ging damals wütend zu ihrer Mut­ ter und warf ihr vor, dass sie ihr keine Stirn­höh­len mit­ge­ge­ben habe! Jetzt sagt sie: Die Mut­ter habe ihr auch den Herz­feh­ler ver­erbt! Und äußert noch zu der Phan­ta­sie, sie habe mir das Herz vor die Füße gewor­fen: »Ich habe es mir rich­tig vor­ge­stellt, wie es da blau und zuckend vor mir lag!«

Kein Wun­der, dass trotz der Selbst­auf­gabe in der Ver­pflich­tung, den kran­ken Eltern­teil zu pfle­gen und zu ret­ten, ein star­kes Trennungsschuldgefühl auf­tritt, das das Schuld­ge­fühl, in der Pflegeaufgabe zu ver­sa­gen, poten­ziert. Aber die Aggres­sion ist, auch wenn sie so unter­ drückt und ver­drängt ist, dass man nichts von ihr spürt, eine mäch­ tige Quelle des Schuld­ge­fühls – wie über­haupt alle Lebens­äu­ße­run­gen (»Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät«). Dazu gehö­rt offen­bar auch das eigene Kin­d, das eine weit­ge­hende Los­lö­sung von der Mut­ter bedeu­ten könnte, das aber im Falle von Frau M. wie­derum Wut auslöst, weil sie sich um das Kind kümmern muss und so an die Bedürf­tig­keit der Mut­ter erin­ nert wird.

Der Peli­kan Wäh­rend Lisa M. im Traum das Herz zer­schnei­det, um die Tren­nung von der Mut­ter dar­zu­stel­len, ver­wen­det Strindberg das Bild vom zer­ hack­ten Her­zen, um die Ambi­va­lenz einer Mut­ter aus­zu­drücken, die sich für ihre Kin­der auf­op­fert und sie nicht gehen las­sen kann, weil sie die Ver­sor­gung der Kin­der als ihren ein­zi­gen Lebens­in­halt emp­fin­det. In der Erzäh­lung »Das ist nicht genug!« wird eine Witwe, die eine kleine Pen­sion betreibt, von ihrem jüng­sten Sohn ver­las­sen.

»Alle Jun­gen sind aus­ge­flo­gen, und das Nest ist ver­las­sen. Wofür soll sie jetzt leben, wer soll jetzt ihre Brust zer­hacken …? ›Das ist die Ord­nung der Natur, beste Frau St. Brie‹, sagt der Gast. ›Wir dür­fen unsere Kin­der nicht für uns sel­ber auf­zie­hen. So wie wir von unse­ren Eltern weg­ge­flo­gen sind, so flie­gen auch die unse­ren von uns weg. Wir begeh­ren zu viel vom Leben, das uns so wenig gibt.‹ ›Aber was soll man denn tun, wenn einen alle ver­las­sen?« wen­det die ver­las­sene Mut­ter ein. [Sie fin­det wie­der zu sich, indem sie nun ihre Für­sorge an die Gäste ihrer Pen­sion rich­tet.] Aber ihr Herz ist wie die Leber des Pro­me­theus: Nach­dem

192 Schuldgefühl der Adler zuge­hackt hat, wächst sie nach. Und spä­ter kommt ein ande­rer Gast … Und er trifft auf das zer­hackte Mut­ter­herz. Auch er bekommt sein Stück ab, das er nun sei­ner­seits zer­hackt, und dann nimmt er eine Droschke und fährt zu gege­be­ner Zeit sei­nes Weges, gibt jedem Dienst­mäd­chen einen Louis d’or für das Herz, das er benagt hat. Der Witwe aber gibt er nichts, denn das schickt sich nicht. Ja, es ist wahr, er hat ihr sein Herz aus­ge­schüt­tet und ihr als Sou­ve­nir ein Stück sei­nes Lei­des geschenkt, und sie hat es ent­ge­gen­ge­nom­men und zu ihren Erspar­nis­sen gelegt« (Strindberg 1987, S. 226 f.).

Die von Strindberg etwas iro­nisch ent­wor­fene Mut­ter erlebt ihr Herz von den undank­ba­ren Kin­dern zer­hackt. Der »Physiologus« über­lie­fert uns die Fabel vom Peli­kan, der sich die Brust selbst auf­hackt, um die Kin­der zu näh­ren. Die­ses Bild wurde vom frü­hen Chri­sten­tum auf­ ge­nom­men, um die Ret­tung der Men­schen durch das Blut Chri­sti zu illu­strie­ren. Schuld­ge­fühl ver­ur­sacht bei­des: Es kommt aufs glei­che hin­aus, ob die Mut­ter den Vor­wurf macht, die Kin­der hackten ihr das Herz, oder ob sie sich selbst hackt; wie beim »Ter­ro­ris­mus« sind die Kin­der schuld am auf­op­fern­den Lei­den der Mut­ter. Vom Peli­kan »Der selige Pro­phet David sagte in sei­nem Psal­ter: Ich bin gleich einem Peli­kan in der Wüste. Der Physiologus hat von dem Peli­kan gesagt, er gehe völ­lig auf in der Liebe zu sei­nen Kin­dern. Wenn er die Jun­gen her­vor­ge­bracht hat, dann picken diese, sobald sie nur ein wenig zuneh­men, ihren Eltern ins Gesicht. Die Eltern aber hacken zurück und töten sie. Nach­her jedoch tut es ihnen leid. Drei Tage trau­ern sie dann um die Kin­der, die sie getö­tet haben. Nach dem drit­ten Tag aber geht ihre Mut­ter hin und reißt sich sel­ber die Flanke auf, und ihr Blut troff auf die toten Lei­ ber der Jun­gen und erweckt sie. So auch spricht unser Herr im Buche des Pro­phe­ten Jesaja: Ich habe Kin­der auf­ge­zo­gen und erhöht, und sie sind von mir abge­fal­len. Der Mei­ster hat uns her­vor­ge­bracht, und wir haben ihn geschla­gen. Wir haben gedient der Schöp­fung wider den Schöp­fer. Er aber kam zur Erhö­hung des Kreu­ zes, und aus sei­ner geöff­ne­ten Seite troff Blut und Was­ser, zu Heil und eige­nem Leben: Das Blut darum, daß gesagt ist: Er nahm den Kelch und dankte; das Was­ser aber um der Taufe wil­len zur Buße« (Seel 1960, S. 10).

Die armen Peli­kan-Kin­der müs­sen den­ken: »Die Mut­ter opfert sich für uns, sie lei­det, hat Schmer­zen, weil sie uns mit ihrem eige­nen Blut ernährt, sie schenkt uns das Leben und gibt uns ihres …« Und sie müs­ sen Schuld­ge­fühle haben, weil sie die Ursa­che sind, dass die Mut­ter so lei­den muss. Der tat­säch­li­che Ablauf aber war ein ande­rer: Die Peli­ kan-Eltern waren nicht in der Lage, das »Picken« der Kin­der, kaum dass sie etwas zuge­nom­men hat­ten, zu ertra­gen. Offen­bar fühl­ten sie sich über­for­dert, der sich regen­den vita­len Aggres­sion der Spröss­ linge adäquat zu begeg­nen, son­dern waren gekränkt – hat­ten sie ihnen doch das Leben gege­ben – und fühl­ten sich zurück­ge­wie­sen, sodass sie die Kon­trolle ver­lo­ren und zurück­schlu­gen. Wir erin­nern uns, dass



Zweite ZweiteGruppe Gruppeder derSchuldgefühle: Schuldgefühle:Schuldgefühl Schuldgefühlaus ausVitalität Vitalität

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die Phase hat vonuns Abraham (1924) eine rezep­ ive und eine len.orale Der Meister hervorgebracht, undinwir haben ihntgeschlagen. Wiroralhaben gedient der Schöpfung Er wurde, aber kamgenau zur Erhöhung deserste Kreusti­sche, kanni­balis­wider tischeden dif­Schöpfer. fe­ren­ziert um diese sadi­ zes, und ausdes seiner geöffneten Seite Blutdie unddie Wasser, Heil und Aggres­ sion Säug­ lings han­ delttroff es sich, Elternzunicht ver­keigenem raf­tet Leben: Das Blut darum, daß gesagt ist: Er nahm den Kelch und dankte; das Waskan-Eltern offen­ bar S. ein10). Schuld­be­wusst­sein, haben. haben Peli­zur ser aberZwar um der Taufedie willen Buße« (Seel 1960, das zu einer Wie­der­gut­ma­chung führt, aber die Kin­der sehen nur: Die opfertPelikan-Kinder sich auf, sie lei­ det unse­ ret­we­g»Die en – Mutter weil sieopfert die Vor­ Mut­ Dieter armen müssen denken: sichge­ für schichte, ersten des Mythos, li­eeigenen n­ge­heim­nBlut is uns, sie den leidet, hat Teil Schmerzen, weil der sie wie uns ein mit Fami­ ihrem wirkt, nicht nen. uns das Leben und gibt uns ihres …« Und sie müsernährt, sieken­ schenkt es­san­ter­weisehaben, gibt es Ent­Ursache spre­chung in daß dendie Frucht­ bar­so Inter­ sen Schuldgefühle weileine sie die sind, Mutter keits­ ri­ten der Der Dakota, die Erikson mit­ teiltanderer: und imDie Sinne der leiden muß. tatsächliche Ablauf(1950) aber war ein PelikanBewäl­ ung eines ge­fühls der der ora­lKinder, en Aggres­ siondaß ver­ Elternti­gwaren nichtSchuld­ in der Lage, daswegen »Picken« kaum sie steht. nimmthatten, auch an, dass der Offenbar Über­gangfühlten von einem »para­ etwasErikson zugenommen zu ertragen. sie sich überdie­ si­schen« dium der Ent­w ick­lung in ein nachpara­ die­si­sches »in der fordert, derSta­ sich regenden vitalen Aggression des Sprößlings adäquat Wut der Beißperiode« (1950, S. 144; wie bei Abraham, s. o.) anzu­ s zu begegnen, sondern waren gekränkt – hatten sie ihnen doch ie­ das deln ist und dass hier der »Ur­sprung des tie­fen Schlechtigkeitsgefühls« Leben gegeben – und fühlten sich zurückgewiesen, so daß sie die Konliegt, derund Grund der »Ursünde«,Wir die die Reli­gio­ nendaß postu­ lie­rorale en. (S. 144) trolle verloren zurückschlugen. erinnern uns, die Des­ halbvon ist es not­wen­d(1924) ig, von in Zeit zurezeptive Zeit durch Gebet Sühne »der Phase Abraham eine und eineund oral-sadistische, allzu hef­ti­gen Begierde nach ›der Welt‹« abzu­um schwören und Aggression Klein­heit, kannibalistische differenziert wurde, genau diese erste sig­keit und frei­wil­li­geresein Lei­ den zu demon­strie­rhat) en. handelt es sich, Hilf­ deslo­Säuglings (nachdem wenig zugenommen die die Eltern nicht verkraftet haben. Zwar haben die Pelikan-Eltern

Abbildung 5: Ewald Mataré (1887–1965), Pelikan, Mosaik, 1949; Südportal Kölner Dom

194 Schuldgefühl

Bei den Dakota wurde nach einer Zeit der ritu­el­len Aus­schwei­fung »der Höhe­punkt des Festes … mit der Bege­hung von Selbstfolterungen erreicht …, am letz­ten Tage unter­war­fen sich die ›Kan­di­da­ten des vier­ten Tan­zes‹ der höch­sten Form der Selbsttortur, indem sie sich durch Brust- und Rücken­mus­keln Holz­stäbe trie­ben, die durch lange Rie­men am Sonnenpfahl befe­stigt waren. Direkt in die Sonne blickend und lang­sam rück­wärts tan­zend, konn­ten sie sich los­rei­ßen, indem sie das Mus­kel­fleisch ihrer Brust auf­ris­sen. So wur­den sie zur gei­sti­gen Elite des Jah­res, die durch ihre Lei­den das fort­dau­ernde Wohl­wol­len der Sonne und des Büffelgeistes, des Spen­ders von Zeu­gung und Frucht­bar­keit sicher­stell­ten« (Erikson 1950, S. 144 f.).

Erikson nimmt an, »daß die Zere­mo­nie den Höhe­punkt all der ver­schie­den­ar­ti­gen Äuße­run­gen ab­sichts­voll pro­vo­zier­ter Wut an der Mut­ter­brust wäh­rend der Beißperiode dar­ stellt, die mit der lan­gen Sauglizenz in Wider­streit liegt. Die Gläu­bi­gen wen­den die dar­aus erwach­sen­den sadi­sti­schen Wün­sche, der Mut­ter­brust zu scha­den, gegen sich selbst und neh­men ihre eigene Brust zum beson­de­ren Ziel der Selbsttortur« (S. 145).

Das heißt, die Schuldgefühlsdynamik wegen der kanni­ba­listi­schen Ag­gres­sion des Säug­lings ist im kol­lek­ti­ven Menschheitserleben so nie­der­ge­legt, dass es sich von Zeit zu Zeit als Sühne und Selbst­kastei­ ung ent­äu­ßern muss.

»Es fällt unse­rem ratio­nel­len Den­ken schwer, ein­zu­se­hen, … daß ver­sagte Wün­ sche, und beson­ders frühe, präverbale und völ­lig vage Wün­sche einen Boden­satz an Sünde zurück­las­sen kön­nen, der tie­fer reicht als alle Schuld­ge­fühle über tat­säch­ lich began­gene und erin­nerte Taten« (Erikson 1950, S. 145).

Man kann aber auch die andere Seite an die erste Stelle set­zen: Die Über­for­de­rung, Krän­kung, auch Angst und Wut der Eltern ange­sichts der ihnen unmä­ßig erschei­nen­den Ansprü­che des Kin­des, wie es im ersten Teil des Peli­kan-Mythos aus­ge­drückt ist. Es gibt eine Arbeit von Göppel (1990), die eine ver­blüf­fende These ver­tritt: Melanie Klein habe die Phan­ta­sien des Säug­lings von den archai­schen Angrif­fen auf die Brust und das Aus­höh­len, Aus­lee­ren des müt­ter­li­chen Kör­pers so detail­liert schil­dern kön­nen, weil es in Wirk­lich­keit die Gefühle und Äng­ste der stil­len­den Mut­ter sind, die in den Säug­ling pro­ji­ziert wer­ den! Die Peli­kan-Mut­ter fühlt sich vom Kind at­tackiert, sie schlägt zurück, »opfert« sich dann und macht dem Kind Schuld­ge­fühle, wenn sie nicht die ganze Geschichte erzählt. Dem würde ent­spre­chen, dass die stän­dig kranke Mut­ter ihrem Kind – statt »ter­ro­ri­stisch« Schuld­ge­ fühle zu machen – sagen müsste: »Du bist nicht schuld, dass ich dau­ ernd kränkele und den Ein­druck mache, ich opferte mich auf, damit du leben kannst. Nein, ich habe die Schwie­rig­keit, mich über­for­dert und unge­sichert in mei­ner Iden­ti­tät als Mut­ter zu füh­len – und ich



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habe ja auch von Vater keine Unter­stüt­zung, wie du sicher merkst –, sodass ich lei­der nicht anders kann, als ­dau­ernd krank zu wer­den.« Aber diese Schuld­an­er­ken­nung oder Über­nahme der Ver­ant­wor­tung zu lei­sten ist den mei­sten Men­schen nicht so leicht mög­lich. King Lear, der seine große nar­ziss­ti­sche Bedürf­tig­keit – resul­tie­rend aus der im Alter nach­las­sen­den Macht (Shengold 1989b) – auf seine Lieb­lings­toch­ter, die er dann aber am mei­sten hasste, pro­ji­ziert, spricht vor­wurfs­voll von »Peli­kan-Töch­tern«, die ihn zer­stört, die ihn aus­ge­ saugt hät­ten (s. o. Teil II, S. 148). Strindberg (1919) hat in sei­nem Stück »Der Peli­kan« (auch »Der Schei­ter­hau­fen«) mit einer gewis­sen bos­haf­ten Iro­nie die ganze Heu­che­lei einer – ihrer­seits abso­lut oral bedürf­ti­gen – Mut­ter gezeich­net, die über Jahre das Geld der Fami­lie für Nah­rung und Feue­rung gestoh­len hatte, wäh­rend die Kin­der hun­ ger­ten und fro­ren, die die Sahne heim­lich abschöpfte, wäh­rend die Kin­ der die blaue Mager­milch beka­men. Auf der Hoch­zeit der Toch­ter (mit einem Mann, mit dem die Mut­ter zuvor eine Bezie­hung ange­fan­gen hatte) wird ihr noch gehul­digt (Strindberg 1919, S. 171): Die Mut­ter: »Die Verse an mich, meinst du? Ja, sol­che Verse hat wohl noch nie eine Schwie­ger­mut­ter auf der Hoch­zeit ihrer Toch­ter bekom­men … Erin­nerst du dich des Peli­kans, der sein Blut den Jun­gen gibt, weißt du, ich habe geweint …«

Hier wird also der zweite Teil des Mythos her­auf­be­schwo­ren, das vor­ geb­li­che Opfer der Mut­ter. Aber die­ses Bild bröckelt das ganze Stück hin­durch ab:

Die Mut­ter: »… und [ich] habe doch immer ein arbeit­sa­mes Leben geführt, habe mich für meine Kin­der und mein Haus geplagt und abge­müht, hab’ ich das nicht getan? Der Sohn: Ach was! – Der Peli­kan hat ja nie sein Herz­blut hin­ge­ge­ben; in dem zoo­lo­gi­schen Lehr­buch steht, daß es Lüge ist« (S. 196).

Die Gier der Mut­ter wird immer deut­li­cher, der Sohn klagt sie an:

»Sieh mich an, Peli­kan, sieh Gerda an, die kei­nen Brust­ka­sten hat! – Wie du mei­nen Vater gemor­det hast, das weißt du selbst; du hast ihn zur Ver­zweif­lung getrie­ben …« (S. 198).

Noch ein­mal ver­sucht es die Mut­ter der Toch­ter gegen­über: »Du bist ja noch nicht erwach­sen, aber ich bin deine Mut­ter und habe dich mit mei­nem Blute genährt … Gerda: Nein, du hast mir eine Glas­fla­sche mit einem Gummisauger in den Mund gesteckt, und spä­ter mußte ich ans Büfett und steh­len, aber da war nur har­tes Rog­ gen­brot, das ich mit Senf geges­sen habe …« (S. 204 f.).

Mit einem gewis­sen Recht beschwört die Mut­ter dann die Ent­beh­run­ gen ihrer eige­nen Kind­heit:

196 Schuldgefühl »Kennst du meine Kind­heit? Ahnst du, was für ein schlim­mes Eltern­haus ich gehabt, wie­viel Böses ich dort gelernt habe? Das scheint sich zu ver­er­ben, aber von wem?« (S. 206).

Aber es gibt kein Ent­rin­nen, alle Betei­lig­ten tra­gen das Leid in sich, ohne Mög­lich­keit, es los­zu­wer­den, alle gehen durch ein Feuer zu­ grunde. In einem Fall in mei­ner Pra­xis (Mela­nie B.) ergab sich eine »Peli­ kan«-Dy­na­mik dadurch, dass die Pati­en­tin ihr acht Monate altes Kind weiter stillen wollte. Aber es war ein Myom nach der Schwan­ger­schaft gewach­sen, das zu stän­di­gen Blu­tun­gen führte. Um es ope­rie­ren zu kön­ nen, hätte sie eine Hor­mon­be­hand­lung machen müs­sen, die Hor­mone hät­ten dem Kind aber gescha­det, also hätte sie abstil­len müs­sen. Sie wollte es aber unbe­dingt min­de­stens ein Jahr lang stil­len, sodass sie weiter blu­tete und sehr viel Blut ver­lor, als ob sie das Kind mit ihrem Blut ernährte. Die Anämie erreichte trotz der Bear­bei­tung ihres Kon­ flikts be­droh­li­che Werte, sodass tat­säch­lich die Alter­na­tive sehr kon­ kret wurde: Ent­we­der kann das Kind leben oder die Mut­ter. Der weiter ­rei­chende Hin­ter­grund ihrer Opferhaltung als Identitätsersatz ergibt sich aus der fol­gen­den Sequenz einer Grup­pen­sit­zung, nicht aber ihre tief­ sit­zende Iden­ti­fi­ka­tion mit ihrer Mut­ter, die eine »Berufsmutter« mit ihren fünf Kin­dern gewor­den war, von der sie sich längst nicht befreit hatte:

Es fällt in der Gruppe auf, dass Frau B. schlecht aus­sieht, blass und aus­ge­zehrt. Sie sagt, die Ursa­che sei Eisen­man­gel, einer­seits bedingt durch das Stil­len, ande­rer­seits durch das Myom, das auch immer wie­der blu­tet. Einem ande­ren Grup­pen­mit­glied fällt dazu sofort eine Spinnenart ein, bei der die Jun­gen ihre Müt­ter von innen auf­ fres­sen. Die Hal­tung von Frau B. wird als Opferhaltung ver­stan­den. Sie selbst sieht ihr Ausgezehrtsein als Sym­bol dafür an, dass sie zu Hause bei sich noch zu kurz kommt, noch nicht so ganz sieht, wo ihre eigent­li­chen Bedürf­nisse sind. Sie ärgert sich, dass ihr Mann viel bes­ser weiß, was er will. Im Ver­gleich zu frü­her fin­det er sei­nen Beruf jetzt immer inter­es­san­ter, macht jetzt Über­stun­den, er arbei­tet durch­aus nicht nur fürs Geld. Oben­drein hat sie ihn dazu ermun­tert, diese Stelle anzu­neh­ men, sodass sie nun das Gefühl hat, er pro­fi­tiere von ihr und ihren Ideen, dass sie also Opfer für zwei Men­schen bringe. Und obwohl sie dar­auf ach­tet, dass er auch im Haus­halt Pflich­ten über­nimmt, fühlt sie sich gedrängt, doch immer mehr zu machen als er. Die Gruppe arbei­tet dazu aus, dass ihr das Abge­ben ihrer häus­li­chen Pflich­ten schwerfal­len müsste, wenn sie keine andere Mög­lich­keit gefun­den hat, sie noch gar nicht weiß, wie sie den dann lee­ren Raum fül­len sollte. Eine andere Pati­en­tin erzählt, dass sie ihre Frei­räume auch nicht nut­zen kann; wenn sie ein­mal zu Hause ist, putze sie »die ganze Bude wie eine Ver­rückte, genau wie meine Mut­ ter«, und kann auch nicht das machen, was sie eigent­lich gern machen möchte. Was also wie ein altrui­sti­sches Opfer aus­sieht, ent­puppt sich als Identitätsersatz mit selbstdestruktivem Cha­rak­ter, für das die Mut­ter die Ver­ant­wor­tung hat, nicht aber das Kind »schuld« ist.



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Eine ähnliche Alter­na­tive: Ein Leben für die Mut­ter oder das Kind ist auch in dem Bei­spiel deut­lich, das Anzieu (1985, S. 157) schil­dert: Eine Pati­en­tin, die ein schwe­res Asthma hatte, wird schwan­ger und erlei­det einen Rück­fall wäh­rend einer Reise. »Zu der Angst, keine Luft zu bekom­men, kam die Angst hinzu, eine Ent­schei­dung zu tref­fen: Ihr wurde von den Medi­ka­men­ten, die sie übli­cher­weise in die­sem Fall ein­nahm, abge­ra­ten, da sie für die Gesund­heit, ja sogar für das Leben des Babys ein Risiko dar­stell­ten; nahm sie sie jedoch nicht, war ihr eige­nes Leben bedroht: Sie würde ersticken.« Die Pati­en­tin ruft den Ana­ly­ti­ker an. »Dann deu­tete ich die Situa­tion des Dilem­mas: ›Ent­we­der die Mut­ter oder das Kind, ent­we­der sie über­lebt und der andere stirbt, oder der andere lebt und sie ist die­je­nige, die stirbt‹ und stellte die Ver­bin­dung zu der Bezie­hung her, die sie als Kind zu ihrer Mut­ter gehabt hatte: ›Wenn ich lebe, bewirke ich den Tod mei­ner Mut­ter.‹ Pan­dora (die Pati­en­tin) berich­tigt: ›Es war umge­kehrt. Jah­re­lang habe ich den Wunsch gehabt, an der Stelle mei­ner Mut­ter zu ste­hen, die stän­dig davon sprach, zu ster­ben. Ich dachte, wenn jemand ster­ben muß, dann will ich es sein, und daß ich zu ster­ben hatte, damit sie leben konnte.‹ Nicht zu atmen [das Asthma] bedeu­tete also, ihrer Mut­ter die Luft zu las­sen.«

Man sieht, worum es geht: Zwei bedürf­tige Men­schen, Mut­ter und Kind, ver­su­chen sich gegen­sei­tig zu näh­ren oder sich das wenige, was da ist, zu neh­men, sie opfern sich oder berau­ben den ande­ren: Beide jeden­falls haben Schuld­ge­fühle wegen ihrer vita­len Bedürf­nisse.

Geschwi­ster­ri­va­li­tät Mit der Geschwi­ster­ri­va­li­tät scheint es wie mit dem Geschwi­ster-Inzest zu sein: Sie ist zwar am häu­fig­sten, wird aber am wenig­sten beach­tet. Denn es muss schon eine Kom­pli­ka­tion vor­lie­gen, damit sie schwe­rere Beein­träch­ti­gung oder patho­lo­gi­sche Ver­än­de­rung her­vor­ruft. Sol­che Kom­pli­ka­tio­nen sind beson­ders Krank­heit oder Behin­de­run­gen eines Geschwi­sters, die zu einem Schuld­ge­fühl füh­ren, einen Schwä­che­ren über­vor­tei­len zu wol­len (und ihn damit krank oder kränker gemacht zu haben, wenn Wunsch und Ursa­che unbe­wusst gleich­ge­setzt wer­den). Zwil­linge wer­den wohl immer in Gefahr sein, eine beson­ders starke Ambi­va­lenz aus­zu­bil­den, denn einer­seits müs­sen sie sich die zur Ver­ fü­gung ste­hende elter­li­che Liebe von Anfang an tei­len (um Modells [1971] Bild der Vor­stel­lung eines bestimm­ten Betra­ges an Liebe zu ver­wen­den, um den riva­li­siert wird), ande­rer­seits sind sie oft emo­tio­nal beson­ders anein­an­der gebun­den, »ein Herz und eine Seele«. Eine Pati­en­tin aus mei­ner Pra­xis, Henrike S., die ihrer Mut­ter bei der Geburt die Niere »zer­drückt« hatte, litt unter einer schwe­ren bulimischen Sym­pto­ma­tik, die aus einer ein Jahr dau­ern­den Anorexie mit star­ker Gewichts­ab­nahme her­vor­ge­gan­

198 Schuldgefühl gen war. Sie habe ange­fan­gen zu erbre­chen, als ihr spä­te­rer Mann und ihre Fami­lie Druck auf sie aus­üb­ten, sie solle essen, »um die Fami­lie glück­lich zu machen«. Sie habe eine genau um ein Jahr ältere Schwe­ster, die uner­wünscht gewe­sen war, weil die Eltern auf­grund der Schwan­ger­schaft »hei­ra­ten mussten«, obwohl eigent­lich zuwe­nig Geld zur Ver­fü­gung stand. Die Pati­en­tin dage­gen war erwünscht, so hieß es, obwohl sie so kurz nach der Schwe­ster gebo­ren wurde. Die ältere Schwe­ster erkrankte im Alter von drei Jah­ren an Kin­der­läh­mung und musste ein hal­bes Jahr in einer Kli­nik behan­delt wer­den. Sie galt fortan als zurück­ge­blie­ben; sie wurde nicht recht­zei­tig, son­dern mit der Pati­en­tin zusam­men ein­ge­schult, schon die Eig­nungs­ tests hatte die Pati­en­tin bes­ser bestan­den. Von der ersten bis zur zehn­ten Klasse war sie immer mit der Schwe­ster in einer Klasse, die Schwe­ster hatte wenig Kon­takt, die Pati­en­tin war auf­ge­schlos­sen, die Schwe­ster erbrachte mei­stens schlechte Lei­ stun­gen, die Pati­en­tin immer gute. Die Mut­ter ging wie­der arbei­ten, als die Pati­en­ tin sie­ben Jahre alt war, diese hat dann für das Mit­tag­es­sen gesorgt, die »eigent­li­che Haus­ar­beit ging immer schnell, aber ich habe lange mit der Schwe­ster geses­sen, weil sie bei den Haus­auf­ga­ben so schwer von Begriff war«. Damit die Schwe­stern zusam­men­blei­ben konn­ten, gin­gen beide auf die Haupt­schule, obwohl die Pati­en­tin hier nicht aus­rei­chend gefor­dert wurde. Spä­ter hat die Schwe­ster durch sadi­sti­sches Ver­hal­ten eine Art Rache dafür aus­ge­übt, dass die Pati­en­tin immer die Über­le­gene war. Sie hat bei­spiels­weise das Schutz­git­ter des Hochbettes heim­lich weg­ge­nom­men, sodass die Pati­en­tin nachts her­un­ter­fiel, wofür sie oben­drein von der Mut­ter geschla­gen wurde; hat sie zur gegen­sei­ti­gen Mastur­ba­tion gezwun­gen, hat die Pati­en­tin zur Ver­zweif­ lung getrie­ben durch die Behaup­tung, sie (die Pati­en­tin) wäre im Kran­ken­haus ver­tauscht wor­den … – Die Träume der Pati­en­tin, die anfangs nicht in der Lage war, irgend­eine aggres­sive Regung zu äußern, han­del­ten sehr häu­fig von Kran­ken­ haus­auf­ent­hal­ten der Mut­ter und der Che­fin und auch der Pati­en­tin selbst wegen hoff­nungs­lo­ser tod­brin­gen­der Krank­hei­ten oder schwer­stem psy­chi­schen Ver­fall. Auch wegen ihrer Träume hatte die Pati­en­tin Schuld­ge­fühle, und es war, als ob diese furcht­bare Rea­li­tät wür­den, als die Schwe­ster in einem Streit mit dem Ehe­ mann der­ar­tig ver­letzt wurde, dass sie wegen eines Schä­del-Hirn-Trau­mas starb. Die Pati­en­tin machte sich hef­tige Vor­würfe, da sie damals die Schwe­ster und ihren Mann mit­ein­an­der bekannt gemacht hatte …

Die Dyna­mik ist bestimmt von einem Schuld­ge­fühl, die Schwe­ster über­ trof­fen zu haben. Die Riva­li­tät der Pati­en­tin hat durch die frühe Krank­ heit der Schwe­ster eine so über­mäch­tige Dimen­sion bekom­men, dass die mas­si­ven Schuld­ge­fühle nur durch eine Art Auf­op­fe­rung, die die Eltern in die Wege lei­te­ten, zu kom­pen­sie­ren waren. Die Iden­ti­fi­ka­tion mit der Mut­ter­rolle für die älte­ste Schwe­ster sollte das Schuld­ge­fühl be­ru­hi­gen, denn sie konnte den­ken, dass es legi­tim sei, die Schwe­ster über­holt zu haben und ihr über­le­gen zu sein, da sie ihre Kennt­nisse und ihr Wis­sen mit ihr teilte. Die Schwe­ster teilte diese Auf­fas­sung aber nicht, son­dern agierte die Riva­li­tät mit ihren Waf­fen, den sadi­sti­schen Quä­le­reien. Das über­mä­ßige Schuld­ge­fühl hin­derte die Pati­en­tin, sich zu weh­ren, dar­über hin­aus sich in der Ado­les­zenz von der Fami­lie abzu­ gren­zen. Sie passte sich viel­mehr an den Wunsch der Fami­lie an, nicht all­zu­viel mit ihren Schwie­rig­kei­ten kon­fron­tiert zu wer­den, und wählte das bulimische Sym­ptom, um heim­lich zu rebel­lie­ren.



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Überlebendenschuldgefühl »Wünscht mir nicht Glück zu die­sem Glück daß ich lebe Was ist Leben nach so viel Tod? Warum trägt es die Schuld der Unschuld? die Gegenschuld die wiegt so schwer wie die Schuld der Töter wie ihre Blut­schuld die ent­schul­digte abgewälzte Wie oft muß ich ster­ben dafür daß ich dort nicht gestor­ben bin?« Erich Fried 1981; zit. bei Baumann u. Kuschel 1990, S. 31

Der Begriff sollte mei­nes Erach­tens für die Schuldgefühlentwicklung tat­säch­lich Über­le­ben­der, nicht aber für die, die im Ver­gleich zu ande­ ren leben wol­len und sie viel­leicht über­run­den und mei­nen, ihnen etwas genom­men zu haben. Der Name Niederland (1961; 1966; 1981) ist mit dem Begriff des Überlebendenschuldgefühls (»survivor guilt«) un­trenn­bar ver­bun­den, das er als Grund­lage für das Über­le­ ben­den-Syn­drom ansieht, eine Krankheitseinheit, die geprägt ist von Apa­thie, Depres­sion, Selbst­zwei­feln und Selbst­vor­wür­fen sowie viel­ fa­cher Somatisierung. Depersonalisationsgefühle (»eine andere Per­ son …; keine Per­son mehr …« [Niederland 1981, S. 417]), para­ noid gefärbte Äng­ste und geringe psy­chi­sche Belast­bar­keit gehö­ren zum Über­le­ben­den-Syn­drom. Es ist die Folge eines Zusam­men­tref­fens einer­seits des Über­lebens des unaus­sprech­li­chen Ter­rors selbst und ande­rer­seits des Weiterlebens ange­sichts des Todes so vie­ler gelieb­ ter Ange­hö­ri­ger. Niederland (1981) wehrt sich vehe­ment gegen eine Vor­stel­lung, die eine Präexistenz von Aggres­sion und Todeswünschen gegen die ver­lo­re­nen Ange­hö­ri­gen, die über­lebt wur­den, vor­aus­set­zen, damit eine patho­lo­gi­sche Ent­wick­lung ein­set­zen könne, denn der Ver­ lust unter die­sen die Iden­ti­tät zer­stö­ren­den Umstän­den allein bewirke das Schuld­ge­fühl. Niederland (1966, S. 468; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) schreibt,

200 Schuldgefühl »daß die Gedan­ken- und die Gefühls­welt zahl­rei­cher Ver­folg­ter seit der Befrei­ ung schuldbesetzt geblie­ben ist, da die Tat­sa­che des Über­lebens bei gleich­zei­tig tota­lem oder nahezu tota­lem Familienverlust viel­fach genügt, den Schat­ten unaus­ lösch­li­cher per­sön­li­cher Schuld auf alle wei­tere Exi­stenz des Über­le­ben­den zu wer­fen – worin viel­leicht die bit­ter­ste Iro­nie des ver­folg­ten Schick­sals und des­sen ganze Tra­gik ent­hal­ten ist, daß näm­lich nicht die Täter, son­dern die O p f e r der unmensch­li­chen Ver­bre­chen sich fortan schul­dig und gebrand­markt füh­len.«

Mei­nes Erach­tens ist diese For­mu­lie­rung ein Bei­spiel für die trau­ma­ ti­sche Internalisierung (Implan­ta­tion, Intro­jek­tion, Iden­ti­fi­ka­tion), wie sie von Ferenczi (1933) zuerst kon­zi­piert wurde. Das trau­ma­ti­sche Intro­jekt lässt das über­le­bende Opfer sich oft bewusst schul­dig füh­ len, obwohl die Begrün­dung ratio­na­ler Über­prü­fung nicht stand­hal­ten kann. Ein Bei­spiel: »Die damals 24jäh­rige Frau wurde dann zusam­men mit ihrem jün­ge­ren Bru­der, 15 Jahre alt, an dem sie nach dem Verfolgungstod der Eltern im Ghetto die Mut­ter­ stelle zu ver­tre­ten über­nom­men hatte, in das genannte Lager ein­ge­lie­fert, wo sie in der Schnei­der­werk­statt arbei­tete und sich dadurch am Leben erhal­ten konnte. Der halb­wüch­sige Bru­der wurde bald zuse­hends elen­der und erkrankte mit mäßi­gem Fie­ber. Sie fühlte sich für ihn ver­ant­wort­lich und bestand dar­auf, daß er am Mor­ gen das Kran­ken­re­vier des KZ auf­su­chen sollte. Dort wurde er schein­bar prompt als arbeitsuntauglich befun­den und … noch am glei­chen Tage getö­tet. Jeden­falls sah sie seine Lei­che zusam­men mit vie­len ande­ren Toten auf dem Haupt­platz des Lagers auf­ge­sta­pelt und mußte zuse­hen, wie die zusam­men­ge­schrumpfte Masse des toten Bru­ders vor ihren Augen im Schutt ver­kohlte. In dem genann­ten KZ gab es damals noch keine Gas­kam­mern, die auf­ge­schich­te­ten Lei­chen wur­den in Anwe­ sen­heit der leben­den Mit­häft­linge ver­brannt, und es war ihnen keine Schmerz­ äu­ße­rung, keine Träne im Ange­sicht des grau­si­gen Gesche­hens erlaubt. So hat die Pati­en­tin stumm und trä­nen­los das Ende des jun­gen Bru­ders über sich erge­hen las­sen müs­sen. Heute klagt sie sich an, daß sie des­sen Tod ver­schul­det habe; sie habe ihn ins Kran­ken­re­vier geschickt, sie hätte wis­sen sol­len, daß er von dort nicht wie­der lebend zurück­kom­men würde. So schreit sie wäh­rend der psych­ia­ tri­schen Explo­ra­tion: ›Es ist meine Schuld, ich tötete ihn, er war so jung, erst 15 Jahre alt …‹ Gewöhn­lich aber brü­tet sie nur stumm vor sich hin, sitzt stun­den­lang regungs­los am Fen­ster oder am Küchen­herd und ver­brennt sich unbe­merkt an der Hei­zung bzw. am Herd die Hände, Arme und Füße« (Niederland 1966, S. 469; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Die Über­le­ben­den kla­gen sich an für ihr »Ver­sa­gen«, die Fami­lie nicht geret­tet zu haben, obwohl abso­lut keine Mög­lich­keit auch nur der gering­sten Beein­flus­sung gege­ben war. Oder sie beschul­di­gen sich, die Mut­ter ver­las­sen zu haben, obwohl beide, Mut­ter und Toch­ter, glei­cher­ ma­ßen ohn­mäch­tige Opfer der Selek­tion gewe­sen waren (Bei­spiel bei Niederland 1981, S. 420). Auf die Spitze getrie­ben hat den Kon­flikt, über­le­ben zu müs­sen und ande­rer­seits den Schick­sals­ge­nos­sen scho­ nen zu wol­len, die Per­fi­die der­je­ni­gen SS-Scher­gen, die sich maka­bre Wett­kämpfe zwi­schen dem gefan­ge­nen jüdi­schen Boxsportler Salamo Arouch und ande­ren Gefan­ge­nen aus­dach­ten: Wer gewann, bekam



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ein Brot, wer ver­lor, kam in die Gas­kam­mer! (»Triumph des Gei­stes«, Film von R. M. Young, 1989). Obwohl es in völ­li­ger Ohn­macht kei­ner­lei Ent­schei­dungs­mög­lich­ keit gab, wurde das, was getan wurde (der Boxer musste kämp­fen, die Schwe­ster des Ermor­de­ten schickte den Bru­der ins Kran­ken­re­vier) als Begrün­dung für das Schuld­ge­fühl ver­wen­det. Das Schuld­ge­fühl ver­ stärkt sich, wenn etwas gewünscht oder tat­säch­lich getan wurde, was dem Über­le­ben­den real einen Vor­teil ver­schafft hätte oder ver­schafft hat. Der 15jäh­rige Elie Wiesel (1960, S. 142) hat im KZ wegen eines Flie­ger­alarms sei­nen Vater ste­hen­ge­las­sen; als er wie­der zu sich kommt, denkt er an sei­nen Vor­ teil: »›Wenn ich ihn nicht finde! Wenn ich die­ses tote Gewicht los würde, damit ich mit allen Kräf­ten für mein eige­nes Über­le­ben kämp­fen könnte und mich nur noch um mich zu küm­mern brauchte!‹ Und schon emp­fand ich Scham, Scham für das Leben, Scham um mei­net­wil­len.« Der Vater ist schwer krank und wird ster­ben: »›Zu spät, dei­nen alten Vater zu ret­ten‹, sagte ich mir. ›Statt des­sen könn­test du zwei Ratio­nen Brot, zwei Tel­ler Suppe haben …‹ Ich dachte es nur den Bruch­teil einer Sekunde, und doch fühlte ich mich schul­dig« (S. 148).

Modell (1971, S. 341) schil­dert das Bei­spiel eines Man­nes, der als Ju­gend­li­cher das KZ über­lebt und eine schwere Depres­sion sowie schwere hypo­chon­dri­sche Sym­ptome ent­wickelt hatte.

Er war im KZ nicht an der Seite des Vaters geblie­ben, dar­auf führte er zurück, daß der Lebens­wille des Vaters abnahm, was wie­derum dazu bei­trug, daß er starb. Diese Vor­stel­lun­gen waren, wie der Pati­ent selbst wußte, irreal, abge­se­hen davon, daß er kei­ner­lei Ent­schei­dungs­frei­heit gehabt hatte. Aber Rea­li­tät war, daß er es mehr­fach schaffte, sich beim »Appell«, bei dem täg­lich eine bestimmte Anzahl Ge­fan­ge­ner selek­tiert wurde, zu ver­ber­gen: Da immer eine bestimmte Zahl von Gefan­ge­nen aus­ge­wählt wurde, mußte jemand anders in den Tod gehen, wenn er nicht aus­ge­wählt wurde. Die hypo­chon­dri­schen Beschwer­den tra­ten auf, als er die »Früchte sei­nes Fleißes«, sei­nes beruf­li­chen Erfolgs, hätte ern­ten kön­nen, die für ihn das Über­le­ben-Wol­len sym­bo­li­sier­ten.

Auch hier wie­der ist es nicht tat­säch­li­che Schuld, viel­mehr sucht sich das Opfer einen Grund für das von innen andrän­gende Schuld­ge­fühl. Ein Motiv dafür ist sicher, eine Ein­heit des Selbstgefühls zu bewah­ ren, eine Inte­gra­tion zu ver­su­chen, wenn das Erle­ben der Spal­tung von Selbstanteilen zu stark wer­den könnte. Ruth Klüger (1992, S. 183) gibt ein Bei­spiel für die unverbundene Spal­tung zwi­schen Schul­digund Nicht-schul­dig-Füh­len:

»Die Schuld­ge­fühle der Über­le­ben­den sind ja nicht etwa so, daß wir uns ein­bil­den, wir hät­ten kein Recht aufs Leben …. Ich hatte ja nichts ange­stellt, wofür sollte ich büßen? Ein ›Schul­den‹gefühl sollte man sagen kön­nen. Man bleibt ver­pflich­tet auf eigen­tüm­li­che Weise, man weiß nicht wem und weiß nicht wie. Man ist gleich­zei­ tig Schuld­ner und Gläu­bi­ger und begeht Ersatz­hand­lun­gen im Geben und For­dern, die sinn­los sind im Lichte der Ver­nunft.«

202 Schuldgefühl

Die Ent­wick­lung des Schuld­ge­fühls könnte also auch kon­struk­tive Anteile haben, so zer­stö­re­risch es auch ist. Winnicott (1958) wurde be­reits ange­führt, der die Fähig­keit zur Ent­wick­lung von Schuld­ge­fühl im­mer auch als Zei­chen einer gewis­sen Reife sah (depres­sive ver­sus pa­ra­­noid-schi­zoide Posi­tion). Györi (1969, S. 529) sagt im sel­ben Sinne: »Unrea­li­sti­sche Schuld­ge­fühle, die fast allen Über­le­ben­den der Ver­fol­gung ge­mein­sam sind, haben nicht nur einen regres­si­ven patho­lo­gi­schen Cha­rak­ter, son­ dern kön­nen auch etwas Posi­ti­ves beinhal­ten. Gegen die ver­nich­tende Erkennt­nis des völ­li­gen Feh­lens von Gerech­tig­keit und mora­li­scher Ord­nung sowie gegen das Gefühl äußer­ster Hilf­lo­sig­keit kön­nen Schuld­ge­fühle eine Beja­hung der Fähig­keit des Men­schen bedeu­ten, Ein­fluß auf sein eige­nes Leben und auf den Lauf der Ereig­nisse aus­zu­üben. Wer an seine eigene Schuld und Ver­ant­wort­lich­keit glaubt, bejaht seine aktive Teil­nahme am Leben, erfüllt es mit einem Zweck und weist so die gei­stige Ver­nich­tung ab.«

Eine weitere positive Sicht des Überlebendenschuldgefühls vertritt Hillel Klein (1973), wie ihn Judith und Milton Kestenberg (1982, S. 53 f.) würdigen: »Klein lenkte die Aufmerksamkeit auf die fatale Tendenz, ›Überlebensschuld‹ im pathologischen Sinn zu benutzen und ihm somit eine deutlich pejorative Bedeutung beizumessen, die auf etwas Ungesundes verweist. Demgegenüber vertrat Klein die Ansicht, dass es auch eine gesunde Überlebensschud gebe, die den Überlebenden und seine Nachkommen mit der Vergangenheit, mit jenen, die gestorben sind, verbindet […]. Die Überzeugung, den Toten etwas schuldig zu sein, ist nicht zwangsläufig pathologisch und lebenshinderlich.« Man kann für den Fall der Extremtraumatisierung auch sagen, dass die Schuldgefühlsentwicklung ein Ver­such ist, das Unbe­greif­li­che, ebenso Unvorhersagbare, Unbegründbare (das Kausalitätsprinzip wurde von den KZ-Scher­gen außer Kraft gesetzt; Niederland 1961) in einen begreif­ba­ren Zusam­men­hang zu stel­len, denn wenn jemand schuld ist, hätte es viel­leicht auch in sei­ner Macht gestan­den, Schuld zu ver­­mei­den und sich anders zu ver­hal­ten, etwas zu bewir­ken oder zu ver­hin­­ dern durch eine Schuldzuweisung an sich selbst (vgl. Teil I, S. 58 ff.). Darüber hinaus kann man im Überlebenden-Schuldgefühl den Versuch sehen, sich als wenigstens Handelnder eine Würde zu erhalten, die ihm als ohnmächtiges, entmenschlichtes Opfer genommen wäre. Das Überlebendenschuldgefühl ist mehr­fach deter­mi­niert. Ein­mal lässt es sich auf ein mensch­liches Grund­recht, leben zu wol­len (Vita­li­ tät), auf einen Selbst­er­hal­tungs­trieb also, zurück­füh­ren, der in Kon­flikt gerät mit dem not­wen­di­gen Wunsch, sich das Lie­bes­ob­jekt zu erhal­ ten. Eine andere Wur­zel könnte auf einer noch ele­men­ta­re­ren Ebene nach dem Prin­zip der Internalisierung von schwe­rer Gewalt (Ferenczi 1933) vor sich gehen. Die Implan­ta­tion der extre­men Gewalt



Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität

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bewirkt eine pri­märe ver­schmel­zende Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Intro­jekt, der Ag­gres­sor ist »intrapsychisch statt extra«(-psy­chisch) (Ferenczi 1933, S. 308), die­ses Intro­jekt ist für die Aus­bil­dung mas­si­ver Schuld­ ge­fühle ver­ant­wort­lich, die das Selbst sozu­sa­gen von innen ver­fol­gen und nach­träg­lich zer­stö­ren. Das Intro­jekt wirkt wie der Mör­der damals, macht das Selbst »lebens­unwert« und schul­dig. Eine Pati­en­tin Niederlands (1961, S. 17), von Schuld­ge­fühl und Verfolgungsideen ge­jagt, ver­langte gera­dezu, getö­tet und zu Tode gebis­sen zu wer­den (vgl. Teil II, S. 85). In die­ser ele­men­ta­ren Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor kann mei­nes Erach­tens auch ein kaum denk­ba­rer Anteil ver­bor­gen sein, dass der Über­le­bende sich bes­ser wähnt als das zu Tode gebrachte Opfer, da der Aggres­sor ihn ver­schonte. Die­ser Fak­tor könnte das sonst kaum nach­voll­zieh­bare Aus­maß der Schuld­ge­fühle erklä­ren. Wie­weit die Identifikationsvorgänge gehen kön­nen, hat Bettelheim (1943) schon früh mit­ge­teilt; die Imi­ta­tion der Grau­sam­kei­ten durch die Kapos, ihrer Kör­per­hal­tun­gen, das Sam­meln ihrer Attri­bute wie zum Bei­spiel Uniformteile, war sehr häu­fig. Eine wei­tere Dis­kus­sion des Überlebendenschuldgefühls wird in Teil III (S. 287) geführt, da wegen der tra­gi­schen Iden­ti­fi­ka­tion eine Über­schnei­dung von Schuld­ge­fühl und Schuld ent­ ste­hen kann. Mei­nes Erach­tens ist die glo­bale oder pri­märe Iden­ti­fi­ka­tion auch für die tiefe Scham ver­ant­wort­lich, eine Über­lebens-Scham, von der Niederland (1981, S. 420) spricht. Wenn Ornstein (1986, S. 185; Über­set­zung M. H.) das Schuld­ge­fühl der Über­le­ben­den eher auf »die Schwie­rig­keit der Über­le­ben­den, wäh­rend des Holo­caust ihr Ver­hal­ ten und mora­li­sche Füh­rung mit ihrem Ver­hal­ten unter zivi­li­sier­ten Umstän­den zu ver­ein­ba­ren«, als auf die Tat­sa­che, die Toten über­lebt zu haben, bezieht, meine ich, dass der Begriff der Scham hier ange­mes­se­ ner wäre, da er sich auf das Sein, wie es ein Ideal-Ich for­dert, bezieht und nicht auf ein Tun. Auch Amati (1990, S. 737) ver­mu­tet auf­grund der in der Gegen­über­tra­gung bei der The­ra­pie von Extremtraumatisierten auf­tre­ten­den Scham, »daß sich zu sei­nem guten Teil der Scham zurech­nen läßt, was man gemein­hin das Schuldgefühl der Überlebenden nennt … Wenn sich das vom Ana­ly­ti­ker emp­fun­ dene Schamgefühl als ein Gegenübertragungsphänomen deu­ten läßt, so weist es auf das inten­sive Spaltungs- und Scham­ge­fühl hin, das der Pati­ent in bezug auf die ihn ›in Besitz neh­mende‹ trau­ma­ti­sche Erfah­rung einer­seits und die aktu­elle Rea­li­ tät ande­rer­seits erlebt, wobei er sich hin und her­ge­ris­sen fühlt zwi­schen dem, was er von sich selbst im Augen­blick des Erle­bens noch wahr­neh­men konnte, und dem, was er vor­her als Vor­stel­lung von sich selbst besaß.«

Elie Wiesel (1960, S. 303) sagt: »So ist die Welt: Die Scham plagt nicht die Hen­ker, son­dern die Opfer.«

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Die Abwehr der uner­träg­li­chen Rea­li­sie­rung der glo­ba­len Iden­ti­fi­ ka­tion mit der unaus­sprech­li­chen Aggres­sion ver­stärkt das Schuld­ge­ fühl durch die Erhö­hung der Span­nung zwi­schen den Selbstanteilen. Auch eine Iden­ti­fi­ka­tion mit den Ermor­de­ten mil­dert das Schuld­ge­fühl: Nicht leben kön­nen wie diese, tote Lebende zu sein. Des­halb auch der Wunsch, bei ihnen zu sein: »Der Holo­caust-Über­le­bende iden­ti­fi­ziert sich selbst mit dem gelieb­ten Toten, indem er fühlt, daß er mit ihm im Tod ver­bun­den sein sollte« (Niederland 1981, S. 421). Der Über­le­ bende emp­fin­det eine Soli­da­ri­tät mit den Toten, er hat das Gefühl, sie durch sein Über­le­ben ver­ra­ten zu haben.

Totes Geschwi­ster II – Ver­lust eines Geschwi­sters Hier soll es um den Ver­lust eines Geschwi­sters gehen, das über­lebt wurde und zu dem schon eine Bezie­hung bestan­den hatte. Vie­les ist schon in Teil II (S. 156 f.) über den Tod eines Geschwi­sters, das das über­le­bende gar nicht ken­nen­ler­nen konnte, gesagt wor­den. Ein Ge­schwi­ster aber, wel­ches man über Jahre real erlebt hat und zu dem man eine Bezie­hung gestal­ten konnte, kann man im all­ge­mei­nen bes­ser betrau­ern, als eines, des­sen »Geist« man kaum merk­lich implan­tiert bekom­men hat. Ent­schei­dend wich­tig für die Mög­lich­keit zu trau­ern und damit für die Ver­mei­dung von per­ma­nen­ten Schuld­ge­füh­len ist wie­der die Reak­tion der Umge­bung – denn wie soll ein Kind trau­ern, wenn die Erwach­se­nen es nicht kön­nen? Es würde in gewis­ser Weise oben­drein auch diese ver­lie­ren, also passt es sich an die Reak­tion der Eltern an. Stolorow und Stolorow (1989) haben ein extre­mes Bei­spiel der Ver­leug­nung des Todes eines Geschwi­sters geschil­dert; weil das über­ le­bende Kind ein direk­ter Ersatz für das ver­stor­bene sein sollte, durfte es den Tod in kei­ner Weise rea­li­sie­ren. Die Idea­li­sie­rung des toten Geschwi­sters durch die Eltern ver­hin­dert sowohl ihre Trauer­arbeit (bzw. ist eine Abwehr ihres Schmer­zes) als auch die des Kin­des (vgl. Pollock 1978). Die Qua­li­tät der vor­her beste­hen­den Bezie­hung ist hier von grö­ße­ rer Rele­vanz als bei Ver­lu­sten durch extreme ter­ro­ri­sti­sche Gewalt, ange­sichts derer die vor­her beste­hende Bezie­hung, ver­bun­den mit Aggres­sion oder Ambi­va­lenz dem ver­lo­re­nen Lie­bes­ob­jekt gegen­ über, weni­ger ins Gewicht fällt (s. o.). Ich denke, dass das Aus­maß des Schuld­ge­fühls im Falle des Ver­lusts eines Geschwi­sters nicht zuletzt auch davon abhän­gig ist, wie groß vor­her Aggres­sion, Neid, Eifer­sucht und Todes­wün­sche Teil der Bezie­hung waren.



Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität

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Hier wird auch ein Mecha­nis­mus rele­vant, der sich auf Melanie Klein (1940) zurück­füh­ren lässt. Es han­delt sich um ein Triumph­ gefühl, das Melanie Klein inner­halb der Trauer um ein ver­lo­re­nes Lie­bes­ob­jekt postu­liert, ein Sym­ptom der mani­schen Posi­tion. Das Gefühl, über das ver­lo­rene Objekt tri­um­phiert zu haben, macht Schuld­ ge­fühle, und diese ver­hin­dern, dass es in einer Wie­der­gut­ma­chung als gutes inne­res Objekt auf­ge­rich­tet wird, wodurch die Schuld­ge­fühle abneh­men wür­den. »Die größte Gefahr für den Trau­ern­den besteht darin, daß sich sein Haß gegen die ver­lo­rene geliebte Per­son wen­det. Eine der For­men, in der sich der Haß in der Trauersituation dar­stellt, ist das Gefühl des Tri­um­phes über die ver­stor­bene Per­son … Infan­tile Todes­wün­sche gegen Eltern, Brü­der und Schwe­stern wer­den als tat­säch­lich erfüllt emp­fun­den … So wird der Tod, wie sehr er auch aus ande­ ren Grün­den erschüt­ternd sein mag, zu einem gewis­sen Grad ein Sieg und bringt des­halb Triumph- und gleich­zei­tig Schuld­ge­fühle mit sich« (Klein 1940, S. 109).

Triumph­gefühl bewirkt star­kes Schuld­ge­fühl, das wie­derum die Trauer­ arbeit, die die Schuld­ge­fühle ver­rin­gern würde, behin­dert (Grin­berg 1992, S. 272). Die Bezie­hun­gen der Eltern jeweils zum ver­lo­re­nen und zum über­le­ ben­den Kind wer­den für das Trauer- und damit Schuldgefühlsschicksal eine große Rolle spie­len. War das tote Kind das bevor­zugte, wer­den frü­here Aggres­sio­nen und Neid, Eifer­sucht und ent­spre­chende Todes­ wün­sche das Schuld­ge­fühl ver­stär­ken. War schon immer das über­ le­bende Kind das »aus­er­wählte«, wird der Tod des benach­tei­lig­ten Geschwi­sters Anlass für Schuld­ge­fühle eben wegen der Bevor­zu­gung sein. Die über die mit einem nor­ma­len Trau­er­pro­zess ver­bun­de­nen Schuld­ge­fühle hin­aus­ge­hen­den müs­sen durch Ver­drän­gung, Ver­leug­ nung, Iden­ti­fi­ka­tion und durch Sym­ptome wie Depres­sion und Somatisierung abge­wehrt wer­den. Engel (1975) hat ein ein­drucks­vol­les Bei­ spiel sei­ner eige­nen Reak­tio­nen auf den Tod sei­nes Zwil­lings­bru­ders im Erwach­se­nen­al­ter gege­ben. Der plötz­li­che Herz­tod des Zwil­lings führte zu einer Jahrestagsreaktion: Fast genau ein Jahr spä­ter kam es zu einem Herz­in­farkt des Über­le­ben­den (des Autors), der mit gro­ßer Erleich­te­rung erlebt wurde, ver­min­derte er doch Schuld­ge­fühl und ver­ band in gewis­ser Weise die bei­den Zwil­linge wie­der. Zwei Bei­spiele aus mei­ner Pra­xis sol­len das Unge­sche­hen-Machen des Todes eines Geschwi­sters in der Psy­chose bzw. im Traum illu­ strie­ren: Bir­git L. hat nach lan­gem Auf­ent­halt in einer psych­ia­tri­schen Kli­nik wie­der zu arbei­ten begon­nen. Die von ihr betreu­ten Kin­der sind etwa in dem Alter, in dem

206 Schuldgefühl ihre vor Jah­ren ver­stor­bene Schwe­ster jetzt wäre. Die Kin­der mögen sie, sie haben sich sehr gefreut, dass sie wie­der da ist. Dabei ist sie so trau­rig gewor­den, sie hat sich »vor die Ent­schei­dung gestellt, zu leben oder zu ster­ben«. Ich sage etwas über das Überlebendenschuldgefühl. Frau L.: »Ja, in der Psy­chose habe ich gedacht, meine Schwe­ster lebte und sei mit den ande­ren Kin­dern in der Schule ein­ge­schlos­ sen. Ich wollte sie befreien, wollte sie da raus­holen und ret­ten, ich bin wirk­lich spät­abends zur Schule gegan­gen, habe aber die Tür nicht auf­schlie­ßen kön­nen. Dann kam ich nicht vom Schul­hof runter auf die Straße, weil ich dachte, jemand hätte die Tür hin­ter mir abge­schlos­sen, dabei war sie nur ange­lehnt …« Frau L. möchte also ent­we­der die Schwe­ster wie­der zum Leben erwecken, »da raus­holen«; wenn sie damit schei­tert, ver­ei­nigt sie sich mit der Schwe­ster, indem sie sich durch die Fehl­lei­stung (mit ihr) ein­schließt. Henrike S., die wir schon ken­nen­ge­lernt haben (Teil II, S. 197 f.), träumt nach dem gewalt­sa­men Tod ihrer Schwe­ster: Sie hat Leuk­ämie, liegt mit der Schwe­ster zusam­men in der Kli­nik. Zwi­schen den Che­mo­the­ra­pien gehen sie gemein­sam aus, gehen in die Stadt, ins Kino, fah­ren mit dem Auf­zug in den zwölf­ten Stock und wie­der hin­un­ter. Wie frü­her, als alles gemein­sam gemacht wurde, wie die Schwe­ster es bestimmt hatte, ob die Pati­en­tin wollte oder nicht. Real ist ihre Che­fin seit zwei Wochen mit Brust­krebs in der Kli­nik und hat vor­ ge­stern mit einer Che­mo­the­ra­pie ange­fan­gen. Mit die­ser Che­fin hatte sie zuletzt hef­tige Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Sie war so wütend auf sie, aber das, die töd­li­che Krank­heit, wollte sie nun doch nicht. – Ich sage: Im Traum hat sie die Schwe­ster wie­der leben­dig gemacht, sich selbst aber tod­krank, die Schwe­ster und sie selbst sind auch in der genau glei­chen Krank­heit wie­der ver­ei­nigt. Als ob sie durch ihre Krank­heit der Schwe­ster ein Opfer gebracht und ihre Aggres­sion (dar­ge­stellt in der Ver­dich­tung der Schwe­ster mit der Che­fin) gegen sie gesühnt hätte.



Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl

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Dritte Gruppe der Schuld­ge­fühle: Trennungsschuldgefühl »Aber Mut­ter weinet sehr, hat ja nun kein Häns­chen mehr …« Kin­der­lied »Und wenn dir einst von Soh­nes­ pflicht, mein Sohn, dein alter Vater spricht, gehorch’ ihm nicht, gehorch’ ihm nicht!« Dehmel »Aljoscha muß nicht nur ler­nen, seine Mut­ter zu ver­las­sen, son­ dern, mehr als das, sie ohne einen Boden­satz von Schuld­ge­fühl zu ver­las­sen, das eine wan­dernde Seele reue­voll an Muttersymbolen haf­ten läßt: Als habe der Schei­ dende, als er sich los­riß, die Mut­ter zer­stört.« Erikson 1950, S. 361

In der Ent­wick­lung der Psy­cho­ana­lyse trat die Bedeu­tung des Ödipuskomplexes zurück, die Ich-Psy­cho­lo­gie und die psy­cho­ana­ly­ti­schen Entwicklungstheorien mit ihrem Zen­trum der Sepa­ra­tion und Indi­vi­ dua­tion gewan­nen an Bedeu­tung. Jetzt konnte gedacht wer­den, dass Schuld­ge­fühl nicht mehr nur auf aggres­si­ven oder sexu­el­len Trieb­ äußerungen beruhte, son­dern auch durch Ich-Bestre­bun­gen ver­ur­sacht wer­den konnte. Eine erste For­mu­lie­rung eines Schuld­ge­fühls auf­grund von Autonomiebestrebung gelang Modell (1965), der es als Aus­druck eines Ver­sa­gens der Selbst-Objekt-Dif­fe­ren­zie­rung ver­stand. Dem Trennungsschuldgefühl liegt die Annahme zugrunde, kein Recht auf ein eige­nes, selbst­be­stimm­tes (getrenn­tes) Leben zu haben, da Tren­ nung die Schä­di­gung oder Zer­stö­rung der »Mut­ter« bedeute. Heute wird man auch die Objekterfahrungen berück­sich­ti­gen, die zu Auto­no­ mie verbietenden Über-Ich-Introjekten füh­ren.

208 Schuldgefühl

Trennungsschuldgefühl Der Kern des Trennungsschuldgefühls liegt in der (unbewussten) Überzeugung (Weiss 1986a, 1986b: »pathologic belief«), dass die Los­lö­sung von den Liebesobjekten zer­stö­re­risch und des­halb mit Schuld ver­knüpft ist. Man kann sagen, dass das mit der Lösung ver­bun­dene Schuld­ge­fühl das zen­trale Thema der Schöp­fungs­ge­schichte anklin­gen lässt – wir erin­nern uns, die Schuld in den Mythen ent­spricht dem Schuld­ge­fühl des Indi­vi­du­ums –, denn dort liegt ein Trennungsbestreben vonsei­ten der ersten Men­schen bereits in dem Wis­sen-Wol­len. Da das aber ver­bo­ten ist, folgt wie eine befürch­tete und nun ein­tre­tende Strafe die tat­säch­li­che Tren­nung durch Ver­trei­bung dann auch auf dem Fuße. Trans­po­niert man den Mythos auf die ontogenetische Ent­wick­lung des Kin­des, könnte man anneh­men, dass Neu­gier, also Wis­sen-Wol­len, und Autonomiebestrebung Schuld­ge­fühle her­vor­ru­fen, wenn die elter­li­che Auto­ri­tät sie nicht genü­gend för­dert, viel­mehr dage­gen arbei­tet – denn jemand muss die Maß­stäbe set­zen, was erlaubt und was ver­bo­ten ist. Ein eineinhalbjähriger Junge, den zu beob­ach­ten ich Gele­gen­heit hatte, ging in der Woh­nung auf Ent­deckungs­reise, während die Mut­ter anwe­send, aber beschäf­tigt war. Er inter­es­sierte sich für die nach oben füh­rende Treppe, und offen­bar mit Emp­fin­dun­gen von Neu­gier und Entdeckertrieb, Ängst­lich­keit und wohl einem rudi­men­tä­ren Gefühl von Schuld (im Sinne von Frage, ob es wohl erlaubt oder ver­bo­ten sei) setzte er einen Fuß auf die erste Stufe. Dann aber hielt er inne, drehte den Kopf zurück zur Mut­ter und nahm Kon­takt auf, offen­bar um sich die Erlaub­nis zu holen, weiter vor­an­zu­schrei­ten.

Es ist klar, dass an die­sem Punkt die tat­säch­li­che Reak­tion der Mut­ter – freund­lich gewäh­rend oder Gren­zen set­zend, erklä­rend, Ersatz für zu gefähr­li­che Akti­vi­tä­ten anbie­tend oder ängst­lich, aggres­siv ein­schrän­ kend, auf Ord­nung und Sau­ber­keit bedacht, viel­leicht nei­disch – einen Ein­fluss auf die Schuldgefühlsentwicklung haben wird. Rank, der von Zottl (1982, S. 208; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) refe­riert wird, beschrieb den Zwie­spalt als all­ge­mein mensch­liches »ethi­sche[s] Pro­blem von Geben und Neh­men, von Schaf­fen und Geschaffenwerden, von Tren­nung und Schuld. Das ethi­sche Pro­blem faßt den Weg zur Selb­ stän­dig­keit und Indi­vi­dua­li­tät als einen Weg der fort­ge­setz­ten Tren­nung auf, bei wel­chem das Indi­vi­duum – bis hin zur letz­ten Tren­nung im Tode – immer wie­der bestimmte Ent­wick­lungs­pha­sen des eige­nen Ich ver­las­sen und auf­ge­ben muß  … Selbst­ver­ständ­lich will das Indi­vi­duum ja eigent­lich bei­des: Behal­ten und tren­ nen zugleich. Es will auf der einen Seite durch­aus die Tren­nung und Abset­zung (Wider­spruch) von allem Ver­gleich­ba­ren, um sich darin eine unver­gleich­li­che Ein­ zig­ar­tig­keit zu erkämp­fen. And­rer­seits gerät es durch diese Bemü­hung in einen Wil­lens- und Bewußtseinskonflikt, der sich als Schuld­ge­fühl aus­drückt.«



Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl

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Hier ist also von Rank ein Basiskonflikt auf­ge­zeigt, ein Auto­no­mieAbhän­gig­keits-Kon­flikt, der eine all­ge­mein mensch­liche Dimen­sion wie­der­gibt. Inter­es­san­ter­weise fin­det man das­selbe Kon­flikt­po­ten­ zial, wenn man sich die fünf »motivational-funk­tio­na­len Systeme«, die Lichtenberg (1988, S. 88) auf­grund neue­rer Säug­lings­for­schung auf­ge­stellt hat, ansieht:

»1. 2. 3. 4. 5.

Not­wen­dig­keit, die phy­sio­lo­gi­schen Bedürfnisse zu befrie­di­gen; Bedürf­nis nach Bin­dung und (in spä­te­rem Alter) Ver­bun­den­heit; Bedürf­nis nach Selbst­be­haup­tung (asser­tion) und Explo­ra­tion; Bedürf­nis, aver­siv zu rea­gie­ren durch Wider­spruch und/oder Rück­zug; Bedürf­nis nach sinn­li­chem Ver­gnü­gen und sexu­el­ler Erre­gung.«

Es fällt auf, dass alle Qualitäten auf Selbst­er­hal­tung, Wachs­tum und Auto­no­mie abzie­len bis auf die zweite, die das Bedürf­nis nach Bin­dung aus­drückt. Eine Auf­gabe wird es also beson­ders in der Separations-Individuationsphase, beson­ders auch wie­der in der Ado­les­zenz, aber eigent­lich über­haupt in allen Lebens­pha­sen sein, die bei­den Bestre­bun­ gen in Ein­klang zu brin­gen, und ein (mäßi­ges) Schuld­ge­fühl wird dabei Regulationsdienste lei­sten kön­nen. Auch Erikson (1950) hatte für die Schwel­len­si­tua­tio­nen der ver­schie­de­nen Lebens­al­ter ein Gegen­satz­ paar auf­ge­stellt: »Initia­tive gegen Schuld­ge­fühl«, sodass auch er als einer der Väter des Trennungsschuldgefühls zu sehen ist. Wir wer­den auch sehen, dass alle vier Moti­va­tio­nen, die ent­spre­chend der Lichtenbergschen Liste nicht den Bindungswunsch bezeich­nen, Anlass zu Trennungsschuldgefühl geben kön­nen. Als Kern des Kon­zepts des Trennungsschuldgefühls kann man die Ent­deckung ansehen, die zuerst Modell (1965) for­mu­liert hat, dass auch Ich-Bestre­bun­gen Schuld­ge­fühle machen kön­nen, näm­lich sol­ che, die doch in der Regel posi­tiv bewer­tet wer­den wie Selb­ststän­ dig­keit und Erfolg. Modell (1965, S. 324) bemerkt, dass einige Pati­ en­ten auf­grund eines unbe­wuss­ten Schuld­ge­fühls eine grund­le­gende Annahme (»basic belief«) in sich tra­gen, »dass sie kein Recht zu einem bes­se­ren Leben haben«. Sharpe (1931, S. 81) hat bereits psy­chi­sche Gesund­heit mit dem Recht zu leben in Ver­bin­dung gebracht: »Die Men­schen, die den größ­ten Seelen­frie­den genie­ßen und die durch Arbeit und die Bedin­gun­gen des Lebens die größte innere Befrie­di­gung bekom­men, sind sol­ che, die ihre Exi­stenz sich selbst gegen­über gut­hei­ßen. Sie haben sich ein Recht zu leben erwor­ben, und ein Recht zu leben bedeu­tet ein Leben, in dem kör­per­li­che und gei­stige Kräfte ver­wen­det wer­den kön­nen für den Fort­schritt des eige­nen Ichs und das Gedei­hen der Gemein­schaft …« (Über­set­zung M. H., zit. bei Modell 1965, S. 324).

Auch Freud hat in sei­nen letz­ten Arbei­ten Schuld­ge­fühl kei­nes­wegs nur in Ver­bin­dung mit ver­bo­te­nen Wün­schen nach Trieb­be­frie­di­gung

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gese­hen, viel­mehr konnte er zei­gen, dass die Abhän­gig­keit von den Eltern es not­wen­dig macht, die Bezie­hung zu ihnen und ihr Wohl­wol­ len zu erhal­ten. Das aber ist, wie Weiss (1986a, S. 48) betont, ein IchWunsch; das Ich hat die Auf­gabe, für Sicher­heit und Selbst­er­hal­tung zu sor­gen (Freud 1940a). Wenn Guntrip (1970, S. 62) schreibt: »Neu­ ro­tisch bedingte Schuld­ge­fühle wur­zeln in einem Gefühls­zu­stand, den der Psy­cho­loge als ›Tren­nungs­angst‹ bezeich­net«, meint er sicher den Zusam­men­hang von Schuld­ge­fühl und Ver­lust der Liebe der Eltern, also Tren­nung von ihnen. In einer ersten Fall­dar­stel­lung berich­tet Modell (1965) von einem Mann, der keine sexu­elle Bezie­hung haben konnte, seine Aus­bil­dung weit unter sei­nem Niveau erhal­ten hatte und einen gerin­gen Aus­bil­ dungs­ab­schluss mit einer Panik­re­ak­tion und einer hypo­chon­dri­schen Herz­attacke quit­tierte, die ihn ins Kran­ken­haus brachte. Als Klein­kind war er jede Nacht von sei­ner Mut­ter zur Toi­lette gebracht wor­den, wo zuerst er, dann die Mut­ter uri­nierte, wobei er sexu­ell erregt war. Der Junge erlebte eine Art Ver­schmel­zung mit der Mut­ter (die mit der inze­ stuö­sen Erfah­rung zusam­men­hän­gen dürfte, wie ich ergän­zen möchte), »›als ob sie und ich eins wären‹« (Modell 1965, S. 325). In einem zwei­ten Fall geht es um eine Pati­en­tin, die sich nicht gestat­ten konnte, etwas zu besit­zen, die das Gefühl hatte, kein Recht auf ein bes­se­res Leben als das der Mut­ter zu haben, wel­ches sie als ein Leben wahr­ nahm, das von Lei­den und Ernied­ri­gung bestimmt wurde. »Die Pati­en­tin hatte die Vor­stel­lung, daß Mut­ter­liebe eine Art Sub­stanz sei, von der sie sich das Beste genom­men hatte, dadurch die Mut­ter aus­ge­saugt und die Geschwi­ster ihrer Geburtsrechte beraubt habe. Sie war über­zeugt, daß der Besitz irgend­einer Sache bedeu­tete, daß jemand anders beraubt wor­den sei« (Modell 1965, S. 326; Über­set­zung M. H.).

Eine sol­che Dyna­mik ent­spricht eher einem Schuld­ge­fühl aus Vita­li­ tät, aber auch die Pati­en­tin Modells hatte nicht das Gefühl, von der Mut­ter getrennt zu sein; in bei­den Fäl­len bewegte sich der Vater am Rande der Fami­lie. Modell (1965, S. 342) führt die Unfä­hig­keit, ein eige­nes Leben zu füh­ren, auf »frühe Iden­ti­fi­ka­tio­nen als archai­sche Ele­mente des Über-Ich« gemäß A. Reich (1954) zurück. Nicht sadi­sti­sche Impulse, son­dern ein Aus­blei­ben der Selbst-Objekt-Dif­fe­ren­zie­rung führe zu der Annahme, dass man kein Recht auf eine sepa­rate Exi­stenz habe und dass auf­grund des Trennungsschuldgefühls »Tren­nung unbe­wußt wahr­ge­nom­men [perceived] wird als im Tod des Objekts endend« (Modell 1965, S. 328; Über­set­zung M. H.). Den Zusam­men­hang des Trennungsschuldgefühls mit einer miss­ lun­ge­nen oder arre­tier­ten Bil­dung einer Selbst-Objekt-Dif­fe­ren­zie­rung



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hat Modell (1965; 1971) auf­ge­zeigt, aber er gibt uns kei­nen Hin­weis, wie es denn zu einer der­ar­ti­gen Phantasiebildung, dass die Tren­nung von der Elternperson diese ver­let­zen oder gar töten könnte, kommt. Es kann in den geschil­der­ten Fäl­len kei­nes­wegs ein irgend­wie über­stei­ger­ tes egoi­sti­sches Bemächtigungs- oder Beraubungsbestreben vonsei­ten des Kin­des gese­hen wer­den, die Wün­sche, sich ein eige­nes Leben ein­ zu­rich­ten, erschei­nen für den Betrach­ter durch­schnitt­lich und legi­tim. Ähn­lich übri­gens geht Loewald (1979) vor, der das Loslösungsdrama auf der ödi­pa­len Ebene abhan­delt und den Unter­gang des Ödi­pus-Kom­ ple­xes, also das Auf­ge­ben der ödi­pa­len Wün­sche zugun­sten grö­ße­rer Indi­vi­dua­li­tät, als »Elternmord« bezeich­net, der Schuld erzeuge, die zu ver­ant­wor­ten ist. Das Aus­wei­chen vor die­ser Tat und ihrer Sühne (die im Über-Ich ent­hal­ten sei) ent­sprä­che dem zuneh­men­den Dahin­ schwin­den des Ödi­pus-Kom­ple­xes heut­zu­tage; seine Ver­drän­gung sei die Ver­mei­dung des Elternmords. Loewald ver­mei­det aller­dings eine Dif­fe­ren­zie­rung von durch­schnitt­li­cher »Schuld« bei die­sem ödi­pa­len Loslösungsunternehmen und patho­lo­gisch über­trie­be­nem Schuld­ge­ fühl. Das aber tut Modell, der sich auf der Separations-Individuations-Ebene des zwei­ten und drit­ten Lebens­jah­res bewegt, aller­dings sieht er nur die Seite der Lösungsbestrebungen des Kin­des, nicht die der (re-)agie­ren­den Erwach­se­nen und die ihrer Ein­stel­lung zu sei­ner zuneh­men­den Auto­no­mie. Das Zustan­de­kom­men der patho­lo­gisch über­trie­be­nen Schuld­ge­ fühle legen nun Weiss (1986a) und seine Mit­ar­bei­ter (Weiss u. Sampson 1986; auch Engel u. Ferguson 1990) in die Inter­ak­tion zwi­ schen rea­len Eltern und Kin­dern. Die Auf­gabe der Eltern wäre, die Ent­wick­lung der Kin­der zu för­dern und sie ihren jewei­li­gen Bedürf­ nis­sen ent­spre­chend los­zu­las­sen, außer­dem sich selbst jeweils neu zu defnieren, um nicht ihrer­seits abhän­gig zu sein, was eine Lösung behin­dern würde (»Indi­vi­dua­tion« auch der Eltern, wie hin­zuzu­fü­gen wäre; vgl. die »Ent­wöh­nung der Mut­ter vom Kind«, Khan 1969, S. 108). Es wird von Weiss (1986a) sehr deut­lich gemacht, dass das Trennungsschuldgefühl auf einer Annahme beruht, die das Kind »auf­grund von Erfah­run­gen bil­det, dass es den Eltern­teil ver­let­zen wird, wenn es von ihm unab­hän­gi­ger wird« (S. 50; Her­vor­he­bung u. Über­set­zung M. H.). Denn Weiss fragt sich, warum Kin­der, deren Müt­ter sicht­bar mehr Druck auf sie aus­üben und selbst an Depres­sio­nen lei­den, weit häu­fi­ger Trennungsschuldgefühle ent­wickeln als die Kin­der zufrie­de­ne­rer Müt­ ter. Gerade im Hin­blick auf die Separations-Individuations-Phase muss es eine große Bedeu­tung haben, wie sehr das Kind durch die Eltern geför­dert oder behin­dert wird. Ich möchte ein Bild dafür ent­wer­fen: Man stelle sich eine junge Mut­

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ter und ein viel­leicht zwei­jäh­ri­ges Kind auf einer Som­mer­wiese vor. Das Kind hat sich ent­fernt und rennt wie­der freudig auf die Mut­ter zu, die erwar­tungs­voll die Arme aus­brei­tet. Kurz vor Errei­chen der Mut­ter aber biegt das Kind plötz­lich ab und ent­fernt sich erneut, vol­ler Freude und gera­dezu kör­per­li­cher Lust, zu einer sol­chen Ent­schei­dung, einem eigen­mäch­ti­gen Nein, zu der­ar­ti­ger Selb­ststän­dig­keit in der Lage zu sein. Nun wer­den sich Cha­rak­ter und wohl der ganze Lebens­lauf des Kin­des völ­lig ver­schie­den ent­wickeln, je nach­dem, ob die Eltern Men­ schen sind, die die Autonomiebedürfnisse des Kin­des aner­ken­nen, oder sogar selbst mit Stolz quit­tie­ren, oder ob sie gekränkt sind, sich betro­ gen und beraubt füh­len. Auf der som­mer­li­chen Wiese wird sich das am Ver­hal­ten der Mut­ter zei­gen; ent­we­der lacht sie und freut sich mit dem Kind über die neu gewon­ne­nen Fähig­kei­ten, und die Situa­tion ent­behrt ja auch nicht einer gewis­sen Komik, oder ihr Gesicht ver­fällt vor Krän­kung, vor Ver­let­zung und Schmerz, sie lässt die Arme sin­ken und wen­det den Blick. Im wei­te­ren wird sie dann Wiederannäherung nur zögernd oder über­haupt nicht zulas­sen, um das Kind die Krän­kung spü­ren zu las­sen, gerade wenn es jetzt den Kon­takt wie­der braucht. Infor­ma­tio­nen über das reale Ver­hal­ten der Bezugs­per­so­nen fin­ den sich bei Asch (1976). In einem sei­ner Fälle wurde das ein­zige Kind, ein Junge, allein­ver­ant­wort­lich für das Wohl­er­ge­hen der Mut­ ter gemacht, »ihr emo­tio­na­les Wohl­be­fin­den war weit­ge­hend abhän­ gig von den Selbstaufopferungen (self-sacrifices), die er für sie (die Mut­ter) machte. Der Vater war für die Fami­lie neben­säch­lich (indif­fe­ rent)« (Asch 1976, S. 389). Die Mut­ter warf dem Jun­gen vor, er würde nicht an sie glau­ben. Dar­über hin­aus sei er schuld, dass sie keine wei­ te­ren Kin­der bekom­men habe, »weil seine Geburt sie fast umge­bracht« (S. 389) habe. Hier kann man deut­lich sehen, dass ein ursprüng­li­ches Basisschuldgefühl, auch mit einer Rollenumkehrdynamik ver­bun­den, eine Tren­nung erschwert; wer grund­le­gend schlecht ist, hat kein Recht auf ein eige­nes, getrenn­tes Leben, müsste vor­her seine »Schul­d« abtragen, was zu errei­chen aber unmög­lich ist. Die Mut­ter eines ande­ren Pati­en­ten, über den Asch berich­tet, hatte sich tat­säch­lich umge­bracht, und der Pati­ent beschul­digte sich, für die Mut­ter kei­nen bes­se­ren Psych­ia­ter gefun­den zu haben. (Natür­lich konnte er selbst keine Fort­schritte machen, denn das wäre der Beweis gewe­sen, dass er einen bes­se­ren Arzt hatte als die Mut­ter.) Phan­ta­sien, unge­borene Geschwi­ster getö­tet, die Mut­ter bei der Geburt beschä­ digt zu haben, für ihre Penislosigkeit ver­ant­wort­lich zu sein und die­ sen Scha­den nicht repa­riert zu haben, sind Asch (1976, S. 391 f.) zufolge durch­aus häu­fig; aber Müt­ter, die selbst die Sepa­ra­tion von ihren Müt­tern nicht bewäl­tigt hät­ten, wür­den Schwie­rig­kei­ten haben,



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die Lösungsbestrebungen ihrer »neuen Symbiosepartner«, ihrer eige­ nen Kin­der also, zu tole­rie­ren. Ver­füh­re­ri­sches Ver­hal­ten sug­ge­riere, die Kin­der seien aus­er­wählte (pseudo-ödi­pal, d. h. die Mut­ter zieht den Jun­gen vor und schal­tet den Vater aus; vgl. Hirsch 1988; 2016), dadurch ent­stün­den ent­täuschte Erwar­tun­gen, die große Wut erzeug­ ten, die aber nicht aus­ge­lebt wer­den kön­nen, son­dern durch Iden­ti­fi­ka­ tion mit dem Opfer abge­wehrt wer­den müs­sen. Hier von »Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Opfer« zu lesen und zu begrei­fen, dass die Mut­ter das Opfer (der Wut des Kin­des, sei­ner Loslösungsbestrebungen) sein soll, mag befrem­den, wenn man, Ferenczi fol­gend, gewohnt ist, das Kind als Opfer des erwach­se­nen Aggressors anzu­ sehen (vgl. Teil II, S. 116). Aber es ist wohl eine pri­märe Iden­ti­fi­ka­ tion gemeint, die eben zu der Selbst-Gren­zen-Schwä­che führt, die dem Kind die Unter­schei­dung zwi­schen den Bedürf­nis­sen der Erwach­se­nen und den eige­nen, auch zwi­schen Täter und Opfer sowie die Loka­li­sa­ tion der Aggres­sion und der Bedürf­tig­keit so schwer macht. Rose­ma­rie J., das »Hormonkind« (vgl. Teil II, S. 135), das die Mut­ter »fürch­ter­ lich bei der Geburt zuge­rich­tet« und ihr »da unten alles kaputtgemacht« hatte, ent­wickelte wegen die­ser bei­den Momente nicht nur ein Basisschuldgefühl, son­ dern hatte auch große Schwie­rig­kei­ten, sich »schuld­los« von der Mut­ter zu lösen. »Und als ich vier Jahre alt war, kam mein Bru­der, und sie war nach sei­ner Geburt schwer depres­siv, hat nur noch im Bett gele­gen und gar nicht mehr rich­tig gelebt. Sie erzählt jetzt gern, dass ich ihr damals immer die Medi­ka­mente gebracht habe, um ihr zu hel­fen …« In der Ado­les­zenz war die Mut­ter völ­lig fixiert an das »da unten« der Pati­en­tin: Weil die Menstruationsblutungen nicht ein­setz­ten (bis sie 16 Jahre alt war), ging die Mut­ter mit dem Mäd­chen sehr häu­fig von einem Gynä­ko­ lo­gen zum andern. – Kürz­lich rief die Mut­ter an und fragte: »Wie geht’s dir?« – »Gut.« – »Wenn du gut sagst, stimmt doch sicher was nicht, also sag schon, was du auf dem Her­zen hast!« Ein Basisschuldgefühl (ver­bun­den mit Rol­len­um­kehr) geht also ein­her mit dem Gefühl sym­bio­ti­scher Ver­bun­den­heit von Mut­ter und Toch­ter, aus der eine Ablö­sung sehr schwer zu errei­chen ist. Inzwi­schen kann sich die Pati­en­tin abgren­zen, sie sagt sinn­ge­mäß, die Mut­ter müsse jetzt ein­fach akzep­tie­ren, dass da eine Grenze sei, die sie nicht mehr übergriffartig über­schrei­ten könne! Dar­auf sagt die Mut­ter: »Aber du bist doch mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut!« Die Pati­en­tin dar­auf: »Ich bin nicht dein Fleisch! Ich bin deine Toch­ter!« Die Abgren­zung ist jetzt zwar mög­lich, aber es stellt sich keine Wut, auch keine Trauer ein, dafür ein Leeregefühl. Gegen Ende der Sit­zung sagt sie unver­mit­telt: Das gehöre sicher auch hier­her, ihre Blu­tun­gen seien immer unre­gel­mä­ßig gewe­sen, seit sie ihren ersten Freund gehabt hatte. Jetzt nach der Tren­nung vom Ehe­mann habe sie sie regel­mä­ßig, aber alle 14 Tage. Der Gynä­ ko­loge nannte als Ursa­che eine psychohormonelle Stö­rung. Mir fällt ein, dass sie ein »Hormonkind« ist, die Mut­ter dem­nach schon ähn­liche Pro­bleme gehabt haben dürfte, die Ver­bun­den­heit zur Mut­ter also durch Iden­ti­fi­zie­rung her­ge­stellt wird. Anlässlich der »Leere«, die sie anstelle von Wut und Trauer emp­fin­det, kommt sie wie­der auf die Zeit, als die Mut­ter so schwer depres­siv gewe­sen war. Das Leben der Fami­lie erstarb, es gibt keine Erin­ne­run­gen, keine Fotos aus die­ser Zeit. Es

214 Schuldgefühl erstarb in dem Moment, als neues Leben, der Bru­der, in die Fami­lie kam. Unver­ mit­telt erzählt nun die Pati­en­tin ohne jeden Affekt, dass sie Anäs­the­sien bei­der Beine hätte. Die Grup­pen­mit­glie­der rea­gie­ren mit mehr Affekten von Schreck und Angst als sie selbst, denn das bedeu­tet, kein Leben in den Bei­nen, kein Fort­schritt, gerade jetzt, wo sie mit einer neuen Stelle beruf­li­chen Erfolg hat. Die Pati­en­tin dage­gen geht völ­lig nach­läs­sig mit ihrer Krank­heit um, deren Ursa­che noch unbe­ kannt ist.

Wenn es auch über­wie­gend um Müt­ter geht, von denen sich abzu­lö­sen so schwer ist, gibt es auch bestimmte Väter, die es den Kin­dern nicht leichtmachen. An dem Tag, als eine andere Pati­en­tin, Benigna U., ihre erste Menstruationsblutung hatte, kam der Vater auf die Idee, mit ihr fei­er­lich essen zu gehen. Die Pati­en­tin hat das schon damals als unpas­send und pein­lich emp­fun­den, sie hat gedacht, das sei eigent­lich etwas, was nur ihr gehöre. Als sie mit 15 Jah­ren zum ersten Mal einen Jun­gen küsste, wurde sie von Vater und Mut­ter schwer bestraft, die Mut­ter sprach wochen­lang nicht mit ihr, der Vater machte ihr hef­tige Vor­hal­tun­gen. Voll­ends an das Agie­ren eines an »ambu­la­to­ri­scher Psy­chose« (Fliess 1973) Erkrank­ten lässt fol­gen­des Ver­hal­ten die­ses Vaters den­ken: Er gab jedem sei­ner Kin­der an ihrem 18. Geburts­tag eine hef­tige Ohr­feige mit den Wor­ten: »Du bist jetzt zwar voll­jäh­rig, aber ich bleibe immer dein Vater!«

Die Phan­ta­sien und Äng­ste des Kin­des im Zusam­men­hang mit sei­nen Loslösungsbestrebungen wer­den sich mit den rea­len Ein­wir­kun­gen der Eltern mischen und sich gegen­sei­tig ver­stär­ken, wenn sie gleich­sin­ nig sind. Kon­flikte mit der­ar­tig über­trie­be­nen Loyalitätsforderungen in Fami­lien betref­fen Kon­takte des Kin­des mit Men­schen außer­halb der Fami­lie (»Das ist kein guter Umgang für dich!«), Erfolg und beruf­li­che Fort­schritte (»Was brauchst du ein Stu­dium …«), natür­lich Sexua­li­tät, deren eine cha­rak­te­ri­sti­sche Eigen­schaft ist, dass ihre Objekte außer­ halb der Fami­lie lie­gen müs­sen (vgl. Hirsch 1993c: »Laten­ter Inzest«), räum­li­che Tren­nung (»Du hast doch hier alles!«), natür­lich Hei­rat (»Ich wün­sche dir alles Gute, aber so eine gute Ehe wie Vater und ich haben, wirst du nicht füh­ren!«) und Schwan­ger­schaft (»Du hast es zwar nicht leicht jetzt, mein Kind, aber das ist gar nichts gegen die Beschwer­den, die ich hatte, als ich mit dir schwan­ger war!«). In The­ra­pien gelangt man logi­scher­weise oft an eine Art Wei­chen­ stel­ lung: Kann der Pati­ ent, das (erwach­ sene) Kind, das zwi­ schen Abhängigkeitswunsch, eige­ner Tren­nungs­angst und über­mä­ßi­ger Loyalitätsforderung mit ent­spre­chen­den Schuld­ge­füh­len einer­seits und Autonomiewünschen ande­rer­seits hin und her­ge­ris­sen ist, sich weiter mit den Zie­len der The­ra­pie ver­bün­den, die immer Eman­zi­pa­tion und Auto­no­mie bedeu­ten, oder ist er gezwun­gen, zurück­zu­keh­ren zum alten Objekt (das kön­nen Part­ner sein oder die rea­len Eltern, auf die frühe



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Abhän­gig­kei­ten noch immer pro­ji­ziert wer­den oder die noch immer im sel­ben Sinne agie­ren), weil Angst und Schuld­ge­fühle zu stark wer­den. Ein sol­cher Kon­flikt steht im Zen­trum der »nega­ti­ven the­ra­peu­ti­schen Reak­tion«, die einen Therapiefortschritt mit einem Rück­schritt durch Ver­stär­kung der Sym­pto­ma­tik bezeich­net (Hirsch 2013). Die Bei­spiele von über­mä­ßi­ger Abhän­gig­keit und Trennungsschuldgefühl, die Weiss (1986a) mit­teilt, bele­gen die gegen­sei­ti­gen Ein­flüsse von Mut­ter und Kind; der Vater, wie auch in Modells Fäl­len, ist abwe­ send, indif­fe­rent oder in je einem Fall von Modell und von Weiss sexu­ell miss­brau­chend, das heißt, er nimmt sich eher von der Toch­ter für sich, als dass er für sie da wäre. Natür­lich wäre in der­ar­ti­gen Abhängigkeitsbeziehungen ein triangulierender Vater, der die Autonomiebestrebungen unter­stützt und sich zur Iden­ti­fi­ka­tion mit einer unab­hän­ gi­gen und doch beziehungsfähigen Figur anbie­tet (vgl. Hirsch 1988; 2016), hoch­ will­kom­men. In zwei Bei­spie­len (Weiss 1986a, S. 57 u. 59) wer­den dem Kind dop­pelte Bot­schaf­ten ver­mit­telt, die sich wider­spre­chen, weil mit ihnen gleich­zei­tig Abhän­gig­keit und Unab­hän­gig­keit gefor­dert wird. Waren die Pati­en­ten erfolg­reich, befürch­te­ten sie, es würde als Tren­ nung erlebt, die Müt­ter wur­den depres­siv; ver­sag­ten sie, waren sie in Sorge, die Mut­ter zu ent­täu­schen. Eine sol­che Doppelbotschaft ist für die Ent­ste­hung von Arbeitsstörungen und Prü­fungs­angst typisch, wie wir gese­hen haben (vgl. Teil II, S. 182 ff.) und sehen werden (S. 223 f.). Die durch­ge­hende For­mel der Müt­ter lau­tete, aus­ge­drückt in den teils unbe­wuss­ten Befürch­tun­gen und Erwar­tun­gen, teils aber auch in ihren ent­spre­chen­den Inter­ven­tio­nen der Müt­ter: »Ich lebe nur für dich, und du sollst auch nur für mich leben« (Weiss 1986a, S. 60). An sich könnte man diese For­mel auch wohl­wol­lend ver­ste­hen im Sinne der Mutualität in der Bezie­hung von Mut­ter (und Vater bzw. ande­ren Auto­ritäts­per­ sonen) und Kind, die not­wen­dig ist, ein Geben und Neh­men, wie es A. Balint (1939) und spä­ter Stierlin (1971) aus­drücken, in der auch ein gewis­ses Maß an Ego­is­mus nicht nur des Kin­des, son­dern durch­aus auch der Eltern ent­hal­ten sein kann. Aber es geht hier um ein patho­lo­gi­sches Maß an Schuld­ge­fühl auf­grund der Unfä­hig­keit des Erwach­se­nen, die berech­tig­ten Autonomiewünsche des Kin­des anzu­er­ken­nen und zu tole­ rie­ren. Dadurch dass sich das Kind an die Wün­sche der Mut­ter anpas­sen muss, um sie sich »als Objekt zu erhal­ten«, ent­steht eine »aus der Bahn gewor­fene Dia­lek­tik von Sub­jekt und Objekt … [als] eine fol­gen­rei­che Form der nega­ti­ven Gegen­sei­tig­keit« (Stierlin 1971, S. 99). »Nur wenn die Eltern durch die zuneh­mende Reife und Auto­no­mie ver­letzt und ver­ra­ten wir­ken, stel­len sich Schuld­ge­fühle ein. Wenn die Eltern ihr eige­nes Selbst­ wert­gefühl vom Kind abhän­gig machen und ohne es zutiefst unglück­lich wären,

216 Schuld fühlt es sich unbe­wußt des ein­ge­bil­de­ten Ver­bre­chens des Ver­las­sens schul­dig. Wenn die Eltern die Tat­sa­che nicht akzep­tie­ren kön­nen, daß das Kind andere Mei­ nun­gen, Vor­lie­ben, reli­giöse Anschau­un­gen oder poli­ti­sche Ein­stel­lun­gen hat, fühlt es sich des ein­ge­bil­de­ten Ver­bre­chens der Illoya­li­tät schul­dig« (Engel u. Ferguson 1990, S. 78).

Familiendynamisch kann eine sol­che Kon­stel­la­tion als über­zo­ge­ner »Bindungsmodus« (Stierlin et al. 1977) begrif­fen wer­den. Die Geburt eines eige­nen Kin­des kann schuld­haft wie ein Ver­rat an der Mut­ter erlebt und auch von die­ser vol­ler Vor­wurf quit­tiert wer­ den. Eine tref­fende Dar­stel­lung einer sich über meh­rere Gene­ra­tio­ nen erstrecken­den Abhän­gig­keits­dy­na­mik gibt Halberstadt-Freud (1993, S. 1046): »Meine Pati­en­tin fühlt sich sehr schul­dig und sieht sich dem Zwang von Phan­ta­sien aus­ge­setzt, daß ihre Mut­ter ster­ben werde, weil sie nun selbst ein Baby hat.« Ich habe über eine Patientin, Martha, berichtet (Hirsch 2010, S. 279 f.), die als werdende Mutter hin- und hergerissen war zwischen der Identifikation mit den Forderungen ihrer Mutter und entsprechenden Schuldgefühlen, sie nicht zu erfüllen, und andererseits der Solidarität mit dem eigenen Kind. Marthas Mutter war dagegen, dass Martha, unverheiratet, ein Kind bekam, und agierte offen eifersüchtig und feindselig ihrem ungeborenen Enkelkind gegenüber. Martha hatte das geahnt und es nicht geschafft, der Mutter zu sagen, dass sie schwanger war. Der Vater war sehr krank, er starb, als Martha im sechsten Monat war. Bei der Beerdigung würdigte der Pfarrer das Leben des Verstorbenen und wandte sich dann den Hinterbliebenen zu: Wie müsse der Verlust für die Tochter doch schwer zu ertragen sein, gerade wo jetzt unter ihrem Herzen neues Leben wachse … Der Pfarrer hatte die Schwangerschaft wohl bemerkt, nicht aber die Mutter, die kreidebleich wurde, sich gerade noch zusammenreißen konnte, bis es dann beim Leichenschmaus aus ihr herausbrach: »Wie kannst du es wagen, mir (!) gerade jetzt mit einem Bastard zu kommen! Gerade jetzt, wo Vater tot ist und ich dich bitter nötig brauche, hängst du dir ein Kind an den Hals!« In einem Fall, den Weiss (1986a) beschreibt, und auch in zwei Fäl­len aus mei­ner Pra­xis (Mela­nie B. und Fanny G.-L.; vgl. Teil III, S. 276), wurde das Kind der Pati­en­tin, die sich von den Ansprü­chen der eige­nen Mut­ter nicht abgren­zen konnte, der Mut­ter zur Pflege über­ge­ben, wie ein Opfer, damit die bedürf­tige Mut­ter Ersatz bekäme für ein ver­lo­re­ nes Kind (die Pati­en­tin), und in dem neuen Kind im Sinne der Rol­len­ um­kehr aber auch ein neues Mut­ter-Objekt, das sie nicht allein lässt. Mela­nie B. kämpft um die Abgren­zung von der eige­nen Mut­ter. Trotz aller bes­ se­rer Ein­sicht hat sie immer noch Bedürf­nisse ihr gegen­über wie ein Kind. Sie ist



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gar nicht damit ein­ver­stan­den, wie die Mut­ter mit ihrem Kind umgeht, an die­sem Punkt riva­li­siert sie ganz bewusst, wer die bes­sere Mut­ter ist. Aber gleich­zei­tig ver­spürt sie auch eine Art Ver­pflich­tung, ihr Kind auch mal zur »Omi« zu brin­gen, um diese eine gute Mut­ter sein zu las­sen, also ihre (»Omis«) Mut­ter-Iden­ti­tät anzu­ er­ken­nen bzw. zu erhal­ten. Das lässt sich zurück­füh­ren auf ein Basisschuldgefühl von Frau B., die Mut­ter als älte­stes Kind schließ­lich zur Mut­ter gemacht zu haben, denn die Mut­ter konnte damals ihre Aus­bil­dung nicht abschlie­ßen und auch spä­ ter nicht wie­der in den Beruf, was aller­dings auch an den vier fol­gen­den wei­te­ren Geschwi­stern lag.

Wenn das Kind die Mut­ter zur Mut­ter gemacht hat, lädt sie dar­über hin­ aus Schuld auf sich, wenn sie sich trennt, denn was ist eine Mut­ter ohne Kind? Sie ist keine Mut­ter mehr, es wäre eine Art Mord an der Mut­ ter, der Schuld­ge­fühle macht (Trennungsschuldgefühl), und das eigene Kind der Mut­ter zu geben, würde die­ses Schuld­ge­fühl ver­min­dern. Zwar ist von den mei­sten Auto­ren (Modell 1965; 1971; Asch 1976; Weiss 1986a; Halberstadt-Freud 1993) die Separations-Individuationsphase als cha­rak­te­ri­sti­sche Zeit der Zuspit­zung die­ses Kon­flikts ange­se­hen wor­den, aber eine Aktua­li­sie­rung fin­det sich in allen Lebens­ab­schnit­ten. Und auch in jedem Lebens­al­ter wer­den von den Eltern Bot­schaf­ten bzw. Akti­vi­tä­ten aus­ge­hen, die eine Los­ lö­sung des Kin­des behin­dern und Schuld­ge­fühle machen sol­len. Die Grund­lage eines sol­chen Fest­hal­tens for­mu­liert Halberstadt-Freud (1993, S. 1048) prä­gnant, indem sie das Kind, das nicht gehen darf, als Selbstergänzung der Mut­ter bezeich­net. Feh­len­des Selbst­wert­gefühl, feh­lende Identitätsbereiche, am besten ables­bar in beruf­li­chen Fähig­ kei­ten, die den Eltern nicht zur Ver­fü­gung ste­hen, sol­len vom Kind abge­deckt wer­den, aber nicht im eige­nen Recht, son­dern als Ergän­zung der Eltern-Iden­ti­tät.

Räum­li­che Tren­nung Ein Bei­spiel für ein hartnäckiges Bindungsagieren vonsei­ten der Eltern ihrer erwach­se­nen Toch­ter gegenüber berich­tet Henrike S. am Anfang ihrer The­ra­pie, die sie wegen ihrer star­ken bulimischen Sym­pto­ma­tik begon­nen hatte. Die Eltern pla­nen mit ihr einen gemein­sa­men Urlaub, sie stimmt aber nicht zu, weil sie gerade mit der The­ra­pie begon­nen hat (ana­ly­ti­sche Psy­cho­the­ra­pie hat einen eman­zi­pa­to­ri­schen Anspruch und kann des­halb leicht von Eltern oder Part­nern als Trennungsbedrohung auf­ge­fasst wer­den), schließ­lich sei sie auch ver­hei­ra­tet. Sie denkt mit Schrecken daran, wie es die Eltern geschafft hat­ten, sie auf der Hoch­ zeits­reise zu beglei­ten, und welch furcht­bare Aus­ein­an­der­set­zung es mit dem Mann gege­ben hat, obwohl die­ser zuge­stimmt hatte. Trotz­dem schen­ken ihr die Eltern

218 Schuldgefühl jetzt einen vier­tä­gi­gen Urlaub mit ihnen, in einem Zim­mer, gebucht unter ihrem Mäd­chen­na­men. Jetzt kann sie sich nicht mehr weh­ren; würde sie etwas dage­gen sagen, ver­stummte der Vater und wäre trau­rig, die Mut­ter weinte und bekäme ihren Herz­an­fall oder wie­der Luftnot. Die Mut­ter ruft sie oft nachts an, wird wäh­rend des Tele­fon­ge­sprächs ohn­mäch­tig, sodass die Pati­en­tin hin­fah­ren muss. Der Vater sagt: »Komm doch mit uns in den Urlaub, du tust Mut­ter sonst so weh …« Oder der Vater ruft an, sie solle doch zum Essen vor­bei­kom­men. Sie lehnt ab, aber der Vater ruft wie­der an: Er habe Kar­tof­feln auf­ge­setzt, sie solle den Herd aus­stel­len, wenn sie fer­tig seien, denn er müsse eben weg. Die Pati­en­tin muss also doch hin­ ge­hen, isst dann doch bei den Eltern; als sie wie­der zu Hause ist, muss sie alles erbre­chen. Die Mut­ter ist nie­ren­krank, hat auch Läh­mun­gen und Herz­be­schwer­den ohne ein­deu­ti­gen orga­ni­schen Befund. Jeden Abend ruft sie an, jedes­mal fragt sie, warum die Toch­ter nicht vor­bei­komme, sie wohne doch so nahe, die Mut­ter macht Vor­würfe, dass sie am Wochen­ende allein­ge­las­sen wird.

Das Auf­rech­nen von Geben und Neh­men, von Berau­ben und Schuldigsein eines Betra­ges an Liebe meint wohl die Mut­ter einer 32jäh­ri­gen Pati­en­tin, Doro­thea L., die erst ein­mal jeden Kon­takt zu den Eltern ver­ wei­gerte, nach­dem sie mit der The­ra­pie begon­nen hatte, weil der Vater sein sexua­li­sier­tes intrusives Ver­hal­ten ihr gegen­über nicht auf­ge­ben konnte. Die Mut­ter schreibt kurz vor Weih­nach­ten (Her­vor­he­bung ori­ gi­nal): »Liebe Doro­thea! Nicht nur in die­ser Zeit muss ich viel an Dich den­ken. In Gedan­ken bist Du immer bei mir. Es ist sehr schmerz­lich für mich, nichts von Dir zu hören und zu sehen, obwohl Du räum­lich sehr nah bist. Nun habe ich vor eini­ger Zeit etwas gele­sen, was mir aus dem Her­zen spricht, weil ich es bes­ser nicht sagen könnte. Von Karin [der Schwe­ster der Pati­en­tin] weiß ich, dass es Dir gutgeht, das wün­sche ich Dir auch wei­ter­hin. In die­sem Sinne in Liebe Deine Mut­ter! Für Doro­thea! Ich tat nichts als aus Sorge, nur für Dich, meine Toch­ter, die unbe­kannt ist mit sich selbst, nicht wis­send: Woher ich bin! Gedan­ken! Man hat lei­der kein klu­ges Buch in der Hand, in dem man nach­ schla­gen kann, dass ein Kind sich selbst scha­det. Kin­der steh­len einem mehr als das Herz, sie steh­len einem das Leben. Sie holen das Beste, aber auch Schlech­te­ste aus einem her­aus, und schen­ken uns dafür ihr Ver­trauen! Der Preis ist hoch, der Lohn gering, und es dau­ert lange, bis man es ern­ten kann. – Am Ende, wenn man sich dar­auf vor­be­rei­tet hat, das Kind ins Erwach­sen­sein zu ent­las­sen, tut man es in der Hoff­nung, dass das, was zurück­bleibt, größer und mehr sein kann oder wird, als die lee­ren Hände einer Mut­ter! Alles Liebe – Mama.«

Auch die Mut­ter einer ande­ren Pati­en­tin, Bar­bara K., die auf ihrem Bau­ern­hof mit der Toch­ter, als sie acht bis elf Jahre alt war, eine regel­ rechte Kin­der­pro­sti­tu­tion betrie­ben hatte (Hirsch 2001), konnte es nicht ertra­gen, dass die Pati­en­tin erst ein­mal jeden Kon­takt­ver­such der Mut­ter zurück­wies. Die Toch­ter hatte aber trotz­dem zu Weih­nach­ten geschrie­ben, die Mut­ter ant­wor­tet:



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»Danke für die Zei­len! Aber wir sind sehr trau­rig gewor­den. Wir hat­ten doch ver­ ein­bart, auf ein kur­zes Wie­der­se­hen, ein lie­bes Wort nach Weih­nach­ten. [»Das stimmt nicht!«, sagt die Pati­en­tin dazu.] Du hat­test uns doch ver­spro­chen, mal ein­zu­la­den. Aber wie ich lese, ist Dir das schon wie­der zuviel. Kannst Du denn nicht begrei­fen, dass Du eine alte Mut­ter vor Dir hast, die mit einem Fuß schon im Grabe steht. Jeder Abschied ist ein klei­ner Tod … Du bist alles, was ich habe, und ich liebe Dich von Her­zen, egal was auch pas­siert ist [!]. Viel­leicht denkst Du mal an mich. Ich hoffe auf ein Wie­der­se­hen. Deine Mama.«

Ein ande­res Mal schrieb die Mut­ter (Her­vor­he­bung ori­gi­nal): »Liebe Bar­bara! Wie stellst Du Dir das vor, soll es noch län­ger so still um uns blei­ben, oder möch­test Du mich ins Grab zwin­gen. Es ist doch sehr hart, und dass Du Dich nicht schämst, so lange kein Wort von Dir hören zu las­sen. Nach die­sem allen bin ich sehr krank gewor­den, stand vor 14 Tagen vor einem leich­ten Herz­ in­farkt. Ich meine, das braucht doch alles nicht zu sein, man kann doch mal in Ruhe über alles spre­chen, wenn es auch noch so hart ist, und man muss auch mal ver­ges­sen kön­nen. Wir haben doch auch so vie­les getan, und gerne getan. Wird das alles in den Wind geschla­gen, und wir sind auf die Straße gesetzt wor­den. Oder habt Ihr jetzt alles, und braucht uns nicht mehr. Es grüßt Euch beide – die Mama.«

Ich habe den Ein­druck, dass die The­ra­pien heute im Ver­gleich zu einer Zeit der »Stu­den­ten­bewe­gung«, das heißt des Bewusst­seins der Rebel­ lion und der Beto­nung der Auto­no­mie in der jun­gen Gene­ra­tion, immer mehr von den Ablösungsproblemen von den rea­len Eltern und damit von ent­spre­chen­den Trennungsschuldgefühlen, aber auch Trennungsängsten, bestimmt wer­den.

Sexua­li­tät und Schuld­ge­fühl II – Sexua­li­tät bedeu­tet Tren­nung Sexua­li­tät ist ein vita­les, gera­dezu bio­lo­gi­sches Bedürf­nis, und des­ halb lässt sich ein mit ihr zusam­men­hän­gen­des Schuld­ge­fühl durch­aus als Schuld­ge­fühl aus Vita­li­tät ver­ste­hen, wie ich es bereits beschrie­ben habe. Es wurde auch schon erwähnt, dass Sexua­li­tät aber auch immer Tren­nung bedeu­tet, Tren­nung von den ersten Objek­ten, sei es bereits im masturbatorischen Akt, in dem sich schon das Klein­kind mit sich allein voll­stän­dig fühlt und auf die Eltern ver­zich­tet, oder noch deut­li­ cher durch die Wahl eines Part­ners. Denn Sexua­li­tät fin­det mit einem Part­ner außer­halb der Fami­lie statt – es herrscht das Inzestverbot und damit das Exogamiegebot – und ist des­halb immer mit Tren­nung ver­bun­den. Schließ­lich flie­ßen die Trä­nen auf Hoch­zei­ten, weil die Eltern ihr Kind ver­lie­ren, und ein erstes zag­haf­tes Inter­esse an mög­

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li­chen Part­nern in der Ado­les­zenz führt oft zu hef­tig­ster, irra­tio­nal aggres­si­ver Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Eltern und Jugend­li­chen (vgl. Hirsch 1993c). Für das Mäd­chen scheint inner­halb des tra­di­tio­nel­len Geschlechtsrollenverhaltens ein häu­fig gewähl­ter Aus­weg zur Ver­mei­dung eines Trennungsschuldgefühls eine Unter­ord­nung unter die For­de­rung der sexu­el­len Pas­si­vi­tät zu sein, das Auf­ge­ben eige­ner sexu­el­ler Initia­tive, die dem Mann über­las­sen bleibt. Das kann so weit gehen, dass sozu­sa­ gen »den Eltern zuliebe« eine inze­stuöse Part­ner­wahl leich­ter mög­lich ist als eine, die eine grö­ßere Tren­nung von den Eltern, ins­be­son­dere von ihrem Lebens­stil bedeu­ten würde. Die Eltern einer Jugend­li­chen, Verena Q.-S., hat­ten an allen ihren Freun­den immer etwas aus­zu­set­zen, bis sie sich mit 19 Jah­ren in einen 13 Jahre älte­ren Nach­barn ver­liebte – der Vater war hoch e­ r­freut, denn er ver­stand sich sehr gut mit ihm, auch die Mut­ter emp­fand die neue Bezie­hung der Toch­ter als Berei­che­rung ihres eige­nen gesell­schaft­li­chen Lebens.

In einem ande­ren Fall hatte sich die Jugend­li­che bereits einer Art Exogamie-Ver­bot unter­wor­fen und es inter­na­li­siert: Sie geriet in Panik, als ein wenig älte­rer Schul­freund, der gerade den Füh­rer­schein gemacht hatte, sie laut hupend mit dem Auto abho­len wollte. Eher konnte sie sich die sexu­elle Bezie­hung zu einem ihrer Leh­rer gestat­ten, die sie wäh­rend des Ab­iturs begann. Die spä­tere Pati­en­tin spal­tete ihre Bezie­hun­gen fortan in auf­re­gende, stür­mi­sche, aber »unmög­li­che«, nicht zu rea­li­sie­rende mit altersentsprechenden Part­nern und sol­che mit älte­ren Män­nern, die lang­wei­lig und sexu­ell bald wenig befrie­di­gend waren. Es stellte sich in der Ana­lyse her­aus, dass eine der­ar­tige Kon­ stel­la­tion einem Gebot der Eltern ent­sprach, sich in ihrem Lebens­stil nicht von dem der Eltern zu ent­fer­nen. Die Pati­en­tin fühlte sich in der Ehe auch bald, als wäre sie nach Hause zurück­ge­kehrt.

Während sich bei Mädchen eher »maso­chi­sti­sche« Cha­rak­tere ent­ wickeln (»lebenslängliche Pfle­ge­rin«) und Eigen­in­itia­tive zurück­tritt, ist bei Jun­gen »die beschrie­bene Fami­lien­kon­stel­la­tion  … typisch für die Homo­se­xua­li­tät und die Per­ver­sio­nen« (Halberstadt-Freud 1993, S. 1049). Der männ­li­che Jugend­li­che ist in dem Dilemma gefan­ gen, einer­seits den Inzest mit der Mut­ter ver­mei­den zu müs­sen, sich ande­rer­seits aber wegen eines Trennungsverbots nicht ande­ren Frauen zuwen­den zu kön­nen. Ein Aus­weg wäre die sexu­elle Per­ver­sion, mit der sowohl ein archai­sches Mut­terbild in Schach gehal­ten, als auch eine Tren­nung ver­mie­den würde. Wurmser (1990) beschreibt aus­führ­lich den Fall eines männ­li­chen Pati­en­ten, der eine mani­fe­ste maso­chi­sti­sche Per­ver­sion ent­wickelt hatte, in dem es um die Phan­ta­sie ging, für die Penislosigkeit der Mut­ter ver­ant­wort­lich zu sein. Den eige­nen der Mut­



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ter zu geben oder selbst für sie als sol­cher zu fun­gie­ren, bedeu­tete eine Ret­tung für die Mut­ter. Eine Tren­nung wurde auch hier wie ein Mord erlebt; ein Aus­weg lag in der Selbsterschaffung eines leb­lo­sen Liebesobjekts, eines Fetischs, mit dem einer­seits die instrumentalisierte Mut­ter-Kind-Bezie­hung wie­der­her­ge­stellt wurde, nun aber unter der Regie, der Beherr­schung durch den Pati­en­ten, der dadurch nicht mehr Opfer war. Inso­fern war es aber auch eine Kompromissbildung durch das Sym­ptom, wie ich ergän­zen möchte, weil eine wirk­li­che Lösung von der Mut­ter und eine Hinbewegung zu ande­ren Frauen ver­mie­den wer­den konnte. Auch ohne mani­fe­ste sexu­elle Per­ver­sion scheint es eine Schein­lö­ sung des Dilem­mas zu geben, in dem die eigene Sexua­li­tät sym­bo­lisch in den Dienst der Mut­ter, spä­ter der Part­ne­rin gestellt wird (Hirsch 1988; 1989d; 2016). Sol­che Män­ner haben das Gefühl, Sexua­li­tät sei los­ge­löst von zärt­li­chen Affek­ten und iso­liert von Bezie­hun­gen, die Part­ne­rin wird in ihren Bedürf­nis­sen stets befrie­digt, wenn sie es wünscht, ohne dass ein gegen­sei­ti­ger Aus­tausch bestünde. Ich habe dazu das Muster einer ent­spre­chen­den Phan­ta­sie beschrie­ben: »Die Mut­ter ver­wal­tet den Penis ihres Soh­nes« (Hirsch 1988; 2016). Für der­ar­tige enge Mut­ter-Sohn-Bezie­hun­gen, die gekenn­zeich­net sind von einem Gefühl man­gel­haf­ter Iden­ti­tät bei der Mut­ter, nimmt Racamier (1980, S. 98 f.) eine Dyna­mik an, »das das Kind sie (die Mut­ter) wei­ter­ hin ver­voll­stän­digt«, dass das Kind »mit der Mut­ter zusam­men ein all­ mäch­ti­ges Eins« bil­det, ver­bun­den mit der »Phan­ta­sie der gegen­sei­ti­ gen Erschaf­fung«. Auch Olivier (1980, S. 72) zog ähn­liche Schlüsse: »In ihrem Sohn hat die Mut­ter näm­lich die ein­zig­ar­tige Gele­gen­heit, sich in männ­li­cher Gestalt zu sehen«. Und: »Die Frau hat unbe­wußt Schwie­rig­kei­ten, auf das ein­zige männ­li­che Wesen zu ver­zich­ten, das sie je bei sich gehabt hat; denn der Vater war nicht für sie da, und ihr Mann ist mei­stens abwe­send« (S. 74). Auch im Falle der­ar­ti­ger Mut­ ter-Sohn-Bin­dun­gen steht also der Vater für eine triangulierende Rela­ tivierung nicht zur Ver­fü­gung. Loslösungsbestrebungen wer­den hier des­halb Schuld­ge­fühle machen, da sie das Gefühl der Voll­stän­dig­keit der Mut­ter gefähr­den. Eine sol­che Dyna­mik fin­det sich auch bei Män­ nern, die zwar über kei­ner­lei Stö­rung ihres Sexual­lebens kla­gen, denen es aber nicht gelingt, Bezie­hun­gen so zu gestal­ten bzw. durch­zu­hal­ten, dass sie eine eigene Fami­lie grün­den können. In dem Fall eines beam­te­ten Psych­ia­ters, der seit vie­len Jah­ren einer Tätig­keit in einer gro­ßen psych­ia­tri­schen Lan­des­kli­nik nach­ging, wurde deut­lich, dass die Unfä­hig­keit, sich von einer engen Mut­terbin­dung zu befreien, par­al­lel ging mit der Unfä­hig­keit, sich von der »Mut­ter-Kli­nik« zu tren­nen, um einer mehr eigen­ ver­ant­wort­li­chen, krea­ti­ven Tätig­keit nach­zu­ge­hen. Er emp­fand die Kli­nik wie ein

222 Schuldgefühl Klo­ster, in dem er sich ein­ge­rich­tet hatte und das er nicht mehr ver­las­sen konnte (musste). Die Bezie­hung zur Mut­ter beschrieb er als innig und lie­be­voll, er war immer ihr »ein­zi­ger Junge«, für den sie alles tat. Die latent inze­stuöse Qua­li­tät der Mutterbeziehung gestat­tete es in die­sem Falle zwar, dass er immer befrie­di­ gende Sexua­li­tät mit Part­ne­rin­nen haben konnte, dass aber die End­gül­tig­keit einer Bezie­hung gefürch­tet wurde. Als ein­mal eine Freun­din schwan­ger wurde, geriet er in Panik und bestand auf einer Abtrei­bung; eine Ehe wurde nach weni­gen Mona­ ten wie­der been­det. Es konnte ein Schuld­ge­fühl her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, die vor­ han­de­nen beruf­li­chen Fähig­kei­ten wie die sexu­el­len Mög­lich­kei­ten für die eigene Iden­ti­täts­ent­wick­lung zu ver­wen­den, wäh­rend sie für die jewei­lige Mut­terreprä­ sen­tanz, Kli­nik oder Part­ne­rin, durch­aus zur Ver­fü­gung stan­den.

Sicher kann ähn­lich auch die Wahl des Priesterberufs, wenn er mit einem Ver­zicht auf Sexua­li­tät ver­bun­den ist, auf unbe­wuss­ten Schuld­ ge­füh­len beru­hen: Eine äußere Ablö­sung ist zwar mög­lich, aber im Grunde bleibt der Sohn der Mut­ter treu, da er sich kei­ner ande­ren Frau zuwen­det. Und in man­chen Fäl­len scheint der Mut­ter die Homo­se­xua­ li­tät ihres Soh­nes selt­sam will­kom­men zu sein, als Aus­druck sei­ner Treue ver­stan­den zu wer­den, gerade wenn Homo­se­xua­li­tät wenig­stens teil­weise als eine Abwehr eines gefürch­te­ten müt­ter­li­chen Inzests ver­ stan­den wer­den kann.

Onanieverbot Wie gesagt, Sexualität hat immer mit Tren­nung zu tun. Und zwar auch die auto­ero­ti­sche Sexua­li­tät, denn sie macht für den Augen­blick völ­ lig unab­hän­gig von den ver­sor­gen­den Elternper­so­nen, so abhän­gig das Kind von ihnen auch sonst sein mag. Man stelle sich nur ein selig lächeln­des, ange­strengt mit einem Kis­sen zwi­schen den Bei­nen mastur­ bie­ren­des Klein­kind vor – es braucht in die­sem Zustand keine Mut­ter. Und spä­ter, in der Ado­les­zenz, ist Sexua­li­tät wegen des Inzestverbots zwin­gend mit der Hin­wen­dung zu außerfamiliären Objek­ten, das heißt mit der Ent­fer­nung von den fami­liä­ren ver­bun­den. Wel­che psychosenahen Reak­tio­nen extre­mer nar­ziss­ti­scher Wut kann man bei den Eltern sehen, die mit allen Mit­teln und Dro­hun­gen die­sen Schritt ihres »Kin­des« ver­hin­dern wol­len (vgl. Hirsch 1993c). Ähn­lich wird auch die Mastur­ba­tion, so könnte ich mir den­ken, von Eltern unter ande­rem des­halb emp­find­lich sank­tio­niert, weil sie eine Ahnung haben, dass mit ihr eine Unab­hän­gig­keit ver­bun­den ist, die sie als Zurück­wei­sung und damit krän­kend erle­ben. In zwei Fäl­len von Bor­der­line-Per­ver­sion habe ich Schuld­ge­fühle bei der Mastur­ba­tion sehen kön­nen (Hirsch 1988; 1989e), die auf ein Verpflichtungsgefühl zurück­gin­gen, Sexua­li­ tät nur für die (pseudo-ödi­pale) Mut­ter zu haben; lust­vol­les Mastur­bie­ ren wurde als eigen­mäch­tige Lösung aus die­ser Ver­pflich­tung erlebt.



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Eine sol­che Dyna­mik würde auch den Wider­spruch auf­lö­sen, der darin zu lie­gen scheint, dass Eltern die harm­lose kind­li­che Mastur­ba­tion emp­ find­lich bestra­fen, wäh­rend sie sich ohne wei­te­res (d. h. ohne Schuld­ge­ fühl) ein inze­stuö­ses Agie­ren mit eben dem­sel­ben Kind her­aus­neh­men (vgl. Hirsch 1987; schon Simmel 1990, S. 96). Es wäre dann nicht eigent­lich die Sexua­li­tät, die ver­folgt würde, son­dern das eigen­mäch­tige Sich-Ent­fer­nen durch die Mastur­ba­tion (von spä­te­ren Part­ner­be­zie­hun­ gen ganz zu schwei­gen!), wäh­rend der Inzest eben keine Tren­nung, son­dern gera­dezu ein Extrem­fall des In-Besitz-Neh­mens eines Kin­des ist. Die Feind­se­lig­keit sexu­el­len Bedürf­nis­sen der jugend­li­chen Kin­der gegen­über und ihre Behin­de­rung wer­den dem­ent­spre­chend ein starkes Trennungsschuldgefühl erzeu­gen.

Schei­tern am Erfolg II – Erfolg bedeu­tet Tren­nung Arbeitsstörung und Prü­fungs­angst haben einen selt­samen Doppelcharakter. Jeder wird auf den ersten Blick mei­nen, man habe Angst, die Prü­fung nicht zu schaf­fen, was Zeit­ver­lust zumin­dest, viel­leicht sogar das Auf­ge­ben aller Karrierepläne bedeu­ten würde, aber auch Scham, da man als Ver­sa­ger in den Augen der ande­ren und vor sich selbst daste­ hen würde. Soweit ist eine Kom­po­nente kor­rekt beschrie­ben. Aber was soll man davon den­ken, wenn die Angst am größ­ten ist vor der Prü­fung, die als die leich­te­ste gilt? Zumin­dest vor Jah­ren noch war im Medi­zin­ stu­dium das Phy­si­kum die schwer­ste Prü­fung mit einer Durch­fall­quote von rund 40 Pro­zent, wäh­rend das Staats­ex­amen zwar lang­wie­rig und anstren­gend, aber kaum real gefähr­lich war: Nur etwa drei Pro­zent fie­len durch. Trotz­dem war bei man­chen Kom­mi­li­to­nen die Angst hier ungleich größer, erreichte Dimen­sio­nen der Panik und führte unter Umstän­den zu medi­ka­men­tö­sen oder gar psychiatrischen Klinikbehandlungen. Sollte das Aus­maß der Angst, da es nicht mit der rea­len Schwie­rig­keit erklär­bar war, mit dem Zeit­punkt und der Bedeu­tung zu tun haben, näm­lich damit, dass es die letzte Prü­fung war und des­halb die, die den Medi­zin­stu­den­ten zum Arzt und über­haupt den Stu­den­ten als – gesell­schaft­lich gese­hen – älte­sten Ver­tre­ter der Ado­les­zenz end­ gül­tig zum Er­wach­se­nen machen würde? Das würde auch erklä­ren, warum gerade man­che Stu­den­ten, die vor der Prü­fung extreme Angst hat­ten, nach gut be­stan­de­ner Prü­fung in ein tie­fes Loch von Depres­sion fal­len, obwohl sie doch allen Grund zur Erleich­te­rung hät­ten. Oder der para­dox erschei­nende Wider­spruch würde ver­ständ­li­cher: dass jemand, der vor der Prü­fung Angst hatte, ein Nichtbeste­hen würde seine Exi­

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stenz rui­nie­ren, sich nach dem sehr gut bestan­de­nen Examen suizidiert! Ein Pati­ent, Felix R., der Stu­di­en­rat, der selbst unter schwe­rer Prüfungs- und Ver­sa­gens-(Erfolgs-!)Angst litt, berich­tete über seine Erschüt­te­rung, als sich ein Kom­mi­li­tone nach einem mit Aus­zeich­nung bestan­de­nen Examen wäh­rend der Examensfeier erhängte. Ein­fühl­sam bemerkte er, der Kom­mi­li­tone wäre viel­leicht noch am Leben, wenn er ein nur mit­tel­mä­ßi­ges Ergeb­nis erzielt hätte.

Erfolg durch befrie­di­gende Arbeit und noch sinn­fäl­li­ger durch bestan­ dene Prü­fung bedeu­tet Tren­nung vom vor­he­ri­gen Zustand – ein Werk­ stück, auch ein Schrift­stück, gab es vor sei­ner Voll­en­dung noch nicht, der Arbei­ter und Autor ist nicht mehr der­selbe, er ist viel­mehr ver­än­ dert durch die Auf­nahme neuer Infor­ma­tio­nen und die Erschaf­fung neuer Gedan­ken wäh­rend der Arbeit. Jedes Voll­en­den eines bestimm­ ten Werk­stücks bedeu­tet aber auch, alle ande­ren mög­li­chen For­men aus­zu­schlie­ßen, von ihnen end­gül­tig Abschied zu neh­men, sozu­sa­gen deren Tod. Jedes end­gül­tig nie­der­ge­schrie­bene Wort schließt die Exi­s­ tenz aller ande­ren mög­li­chen Wör­ter aus, tötet sie sozu­sa­gen. Und eine Prü­fung beför­dert jeman­den augen­fäl­lig von einem Identitätszustand in einen ande­ren, das Abitur (ab-ire bedeu­tet weg­ge­hen!) macht in unse­ rer Gesell­schaft den Jugend­li­chen zum jun­gen Erwach­se­nen (auch für Abitur: »Matura«, Rei­fe­prü­fung), trennt ihn für immer von der Kind­ heit wie die Geburt eine Tren­nung vom Fetalzustand bedeu­tet, ebenso wie sie (jeden­falls eine erste) eine Nicht­mut­ter zur Mut­ter macht. Jede Prü­fung bedeu­tet aber auch, zum Bei­spiel jeder Stu­dien­ab­schluss, dass die durch sie erreichte Iden­ti­tät jede andere Iden­ti­tät aus­schließt und unmög­lich macht. Der Gedanke an die Geburt, die Kind und Mut­ter betrifft, weist auf ein wei­te­res Moment hin: Der Krea­tive oder der Prüf­ling trennt sich nicht nur von sei­ner vor­he­ri­gen Iden­ti­tät, viel­mehr trennt er sich in gewis­ser Weise von den Men­schen, zu denen er eine Bezie­hung hat. »Der Wunsch, etwas Ori­gi­nel­les bei­zu­tra­gen, wird zur Hybris und zur schuld­ haf­ten Tat. Denn wider­spre­che ich damit nicht und wende ich mich nicht ab von ver­ehr­ten Leh­rern und Freun­den, denen ich zu tie­fem Dank ver­pflich­tet bin – mir in den Rät­seln die­ser Welt … Weg und Orien­tie­rung gewie­sen zu haben?« (Stork 1988a, S. 26).

Jede krea­tive Arbeit und jede Prü­fung aktua­li­siert offen­bar den mei­ nes Erach­tens all­ge­mein­sten Kon­flikt des Men­schen, den Ambivalenzkonflikt zwi­schen Autonomiebestreben und Abhängigkeitsbedürfnis, kurz gesagt: zwi­schen Frei­heit und Gebor­gen­heit. Fort­schritte machen, vor­an­kom­men wol­len macht des­halb immer Angst, das Beste­hende zu



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ver­lie­ren oder es zu ver­las­sen bzw. ver­las­sen zu wer­den, und es macht Schuld­ge­fühl, den ande­ren zu ver­las­sen, hin­ter sich zu las­sen oder wenig­stens die Bezie­hung zu ihm zu ver­än­dern, indem man sich selbst ver­än­dert. Natürlich geht es mit einer Therapie, die Entwicklung und Unabhängigkeit zum Ziel hat, ähnlich: Die Veränderung der Patientin wird ihre Beziehung auf eine Zerreißprobe stellen; um sie zu erhalten, müsste der Partner sich mitentwickeln. Ein Trennungsschuldgefühl ist zuerst von Modell (1965) aus­drück­ lich beschrie­ben wor­den, das Schuld­ge­fühl, die Mut­ter zu töten (in der Phan­ta­sie), wenn das Kind sich von ihr tren­nen würde. Loewald (1979) hat die­selbe Phan­ta­sie auf der ödi­pa­len Ebene beschrie­ben (auch Erikson [1950, S. 361] und Wurmser [1990, S. 191]). Im Zusam­men­hang mit der Rol­len­um­kehr – hier kann das Kind sich nicht tren­nen, weil es Mut­ter für die Mut­ter sein muss – habe ich eine Pati­en­tin McDougalls (1989a, S. 160) zitiert, die im Traum der Mut­ter die Brust gab – eine Tren­nung wäre der (Hun­ger-)Tod der Mut­ter. Es han­delt sich um eine Stö­rung der Selbst-Objekt-Dif­fe­ren­zie­rung (Modell 1965), die Grenze zwi­schen Mut­ter und Kind und ihren Interessen ist unbe­stimmt oder auf­ge­ho­ben; eine Tren­nung aus einer sol­chen wört­lich genom­me­nen Sym­biose bedeu­tet den Tod sowohl des einen wie des ande­ren Symbiosepartners. »Jeder Erfolg würde, neben dem oberflächlicheren Triumph im Eifersuchtskonflikt und der Besei­ti­gung des Riva­len, die Tren­nung von der Mut­ter und damit nicht nur ihre zür­nende Zurück­zie­hung von ihm bedeu­ten, son­dern auch die mör­de­ri­sche Gleich­set­zung von Tren­nung und Tod« (Wurmser 1987, S. 145; Her­vor­he­bung ori­gi­nal).

Damit erwei­tert auch Wurmser den Bereich des Schuld­ge­fühls wegen ödi­pa­ler Riva­li­tät auf den des Trennungsschuldgefühls. Moeller (1969a, S. 200) hat auf einen Doppelaspekt bei der Prü­ fungs­angst hin­ge­wie­sen: Der Stu­dent möchte die Abhängigkeitssituation auf­recht­er­hal­ten (von der »Alma mater«), eine phan­ta­sierte Mut­ ter wolle ihn weg­schicken, was Aggres­sio­nen erzeuge, die gegen das eigene Selbst gerich­tet wer­den müss­ten und »Schuldangst« erzeug­ten, »zugleich wird die Tren­nung als unbe­wuss­tes Ver­las­sen der Eltern und damit als ein aggres­si­ver Akt gegen diese erlebt«. Die eigene Ambi­va­ lenz, das Lie­bes­ob­jekt zu ver­lie­ren (Tren­nungs­angst) oder es zu ver­las­ sen (Trennungsschuldgefühl) kor­re­spon­diert mit der Ambi­va­lenz des Objekts, also ursprüng­lich der rea­len Bezie­hungs­per­son. In einem Fall­ bei­spiel Modells (1965) unter­nimmt die Mut­ter einen Sui­zid­ver­such, als der Pati­ent Fort­schritte in der Ana­lyse macht. Es ist klar, dass die Schwie­rig­keit oder Unmög­lich­keit, Erfolg zu haben, sich auch auf die

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The­ra­pie erstreckt, denn ein Erfolg dort würde eben­falls eine Tren­nung von den (inne­ren) Objek­ten bedeu­ten. Eine Pati­en­tin in mei­ner Pra­xis, Sig­rid V., hatte unter gro­ßen Mühen und extre­ mer Prü­fungs­angst end­lich das juri­sti­sche Staats­ex­amen bestan­den und begann mit dem Referendariat. Die Mut­ter hatte ihr wäh­rend des Stu­di­ums regel­mä­ßig einen gewis­sen Geld­be­trag über­wie­sen, die Pati­en­tin wollte sich nun aber so unab­hän­ gig von der Mut­ter füh­len, wie es inzwi­schen ihrer beruf­li­chen Rea­li­tät ent­sprach. Sie hatte große Schuld­ge­fühle, die Mut­ter auf das Geld anzu­spre­chen; schließ­lich fasste sie sich ein Herz und rief die Mut­ter an, die aber wie selbst­ver­ständ­lich dar­auf bestand, das Geld weiter zu über­wei­sen. Die Pati­en­tin schickte es zurück, prompt kam es wie­der auf ihr Konto. Wie­der schickte sie es zurück – ein wah­rer Ablösungskampf –, da rief die Mut­ter an, ganz außer Fas­sung, weinte, und es brach aus ihr her­aus: »Wenn ich dir das Geld nicht mehr schicken kann, hat mein Leben kei­nen Sinn mehr, dann bringe ich mich um!«

Aber selbst eine sol­che Mut­ter will ande­rer­seits auch den Fort­schritt ihrer Kin­der. Das Dop­pelte, das kaum noch mit dem Begriff Ambi­ va­lenz zu bezeich­nen ist, fin­det sich in der Hal­tung eines Vaters, der, als das Kind freudig mit einer »Zwei plus« in der Mathe­ma­tik­arbeit nach Hause kommt, muf­fig aus­ruft: »Das hätte ja auch eine Eins wer­ den kön­nen!« Indem der Vater einer­seits eine noch bes­sere Lei­stung wünscht, ent­wer­tet und negiert er ande­rer­seits die Lei­stung, die das Kind nun gerade erzie­len konnte, sein So-Sein, das heißt auch sein So-getrennt-Sein. Wenn ein sol­ches Kind eine Lern- und Arbeitsstörung ent­wickelt, kann man darin nur eine kom­ple­men­täre Anpas­sung an das Dop­pelte des Vaters erken­nen: Das Kind gibt dem Vater recht, jetzt hat er Grund zu schimp­fen, das Kind bleibt, was es ist, ein abhän­ gi­ges, dem Vater unter­le­ge­nes Kind, und gleich­zei­tig pro­te­stiert es durch die Ver­wei­ge­rung gegen die Nichtaner­ken­nung sei­ner Selbst, lebt eine Aggres­sion im Sym­ptom aus, die aller­dings wie­der auf es selbst zurück­fällt. Oben­drein kann dadurch, dass es nun tat­säch­lich »schlecht« ist, das Schuld­ge­fühl besänf­tigt wer­den, das dar­aus ent­ springt, dass das Kind anders sein will, als die Eltern es wol­len, und über­dies noch bean­sprucht, genau so von ihnen akzep­tiert zu wer­den. Schon der prüfungsängstliche Pati­ent in Sadgers (1920) Bei­spiel war in sol­chen Schwie­rig­kei­ten: Beant­wor­tete er die Frage, drohte die Kastra­tion, beant­wor­tete er sie nicht, arbeitsgestört und neu­ro­tisch dumm, wie er war, kam er »nicht vom Fleck«, und das war dem Vater auch wie­der nicht recht. Es ist klar, dass die Ambi­va­lenz der Eltern sich in einem ebenso dop­pel­sin­ni­gen Über-Ich nie­der­schlägt.



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Arbeitsstörung Manch­mal fin­det sich auch eine ein­deu­tige Ableh­nung des Fort­schritts des Kin­des durch die Eltern: Eine Pati­en­tin mit schwer­sten Arbeitsstörungen, Olivia L., saß wie­der ein­mal über ihrer Diplom­ar­beit, die Arbeit ging nicht voran, sie war ver­zwei­felt. Da rief die Mut­ter an, dem Vater ginge es so schlecht, er sei ganz ver­wirrt, er habe einen Scheck über einen hohen Betrag aus­ge­stellt und wisse nicht, für wen, er lasse sich gehen, sitze nur noch vor dem Fern­se­her … Vor nicht allzu lan­ger Zeit noch wäre die Pati­en­tin gleich hin­ge­fah­ren, um der Mut­ter zu hel­fen, jetzt ist sie durch die The­ra­pie immer­hin so weit, sich am Tele­fon abgren­zen zu kön­nen. Aber arbei­ten kann sie jetzt über­haupt nicht mehr: »Das Muttergift lähmt mich!«

Inter­es­san­ter­weise aber, und das ist auch die Regel, sind die Eltern und kor­re­spon­die­rend die Über-Ich-Anteile wider­sprüch­lich, sie wol­len sowohl den Erfolg als sie ihn auch sabo­tie­ren. Wurmser (1987; 1990, S. 191) spricht vom Kon­flikt zweier Über-Ich-Anteile, von de­nen der eine Unab­hän­gig­keit for­dert und im Falle des Ver­sa­gens, wie bei der Arbeitsstörung, Scham, das heißt Abhängigkeitsscham her­vor­ruft, und der andere Loya­li­tät und Ver­bun­den­heit mit dem Mut­ter-Objekt ver­ langt und Trennungswünsche mit Schuld­ge­fühl quit­tiert. Die Mut­ter einer Pati­en­tin, die auf das Gym­na­sium wollte, be­schimpfte sie: »Du hältst dich wohl für was Bes­se­res!« Das ist ein Ver­bot, anders oder »bes­ser« zu sein als die Mut­ter, ein Trennungsverbot. Gleich­zei­tig wollte die Mut­ter aber, das das Kind gute Zen­su­ren brachte; aus einem sol­chen double-bind-arti­gen Wider­spruch ent­steht Arbeitsstörung. Der Freund (als externalisiertes Über-Ich) der Pati­en­tin (Olivia L.), deren Mut­ter eine Stö­rung ihrer Arbeit (»Arbeitsstörung«) durch die Klage über den seni­len Vater ver­ur­sacht hatte, beklagt sich, dass sie sich zurück­zieht und wegen ihrer Arbeit dau­ernd vor dem Com­pu­ter sitzt. Gleich­zei­tig wirft er ihr aber vor, nicht genug für die Arbeit zu tun … Die Über-Ich-Anteile gelan­gen auch in die Über­ tra­gung: Der The­ra­peut gebe vor, wie sie meint, dass er sie unter­stütze und wolle, dass sie die Arbeit schaffe, gleich­zei­tig aber nehme er Zeit und Geld von ihr; bei­ des aber brau­che sie für ihre Unab­hän­gig­keit – und um die Arbeit fer­tigzukrie­gen! Die bei­den Über-Ich-Anteile, die ein­mal Fort­schritt, zum ande­ren Rück­schritt und Abhän­gig­keit reprä­sen­tie­ren, wer­den durch einen Traum dar­ge­stellt, in dem die bei­den Bewe­gun­gen auf zwei Per­so­nen ver­teilt wer­den: Sie steht mit einer Freun­ din in der Flug­ha­fen­halle, sie wol­len eine Zeit­reise machen. Die Freun­din will in die Zukunft, die Pati­en­tin dage­gen in die Ver­gan­gen­heit. Eine andere Pati­en­tin (Lydia S.) dachte anfangs, sie müsse für die The­ra­pie »arbei­ ten«, das heißt, die ganze Woche zwi­schen den Sit­zun­gen über psych­olo­gische Pro­bleme nach­den­ken, gleich­zei­tig muss sie sich aber für ihre Prü­fung vor­be­rei­ ten, und auch das würde ich von ihr for­dern! Ihr Über-Ich funk­tio­niert genauso: Es

228 Schuldgefühl for­dert, aus fünf Lehr­bü­chern gleich­zei­tig zu ler­nen. Weil sie dann aber den Wald vor lau­ter Bäu­men nicht sieht, kann sie ein­fa­che Fra­gen nicht beant­wor­ten und gefähr­det dadurch die Prü­fung.

Eine Möglichkeit der Erklärung für die dop­pelte und wider­sprüch­li­che Hal­tung der Eltern den Fort­schrit­ten der Kin­der gegen­über ist darin gege­ben, dass ein Erfolg zwar erwünscht ist, aber unter der Bedin­ gung, dass das Kind ihn nicht für sich, die eigene Iden­ti­tät und damit zur fort­schrei­ten­den Tren­nung ver­wen­det, son­dern dass der Erfolg auf das Konto der Eltern gebucht wird. Dem Kind gegen­über wird die Lei­stung ent­wer­tet, wäh­rend sie Außen­ste­hen­den mit Stolz vor­ge­führt wird: »Mein Sohn …, meine Toch­ter …!« Die Mut­ter einer Pati­en­tin, eine Bäue­rin, sagte immer zu ihrer Toch­ter: »Du brauchst nicht zu stu­die­ren, du hei­ra­test ja doch …« Als die Toch­ter das Stu­dium fer­tig hatte und der Mut­ter die Diplom­ar­beit brachte, wür­digte die Mut­ter die Arbeit mit kei­nem Blick, son­dern fragte: »Hat sich denn nun all die Mühe gelohnt, und all das Geld wäh­rend des Stu­di­ums?« Die Pati­en­tin war ent­täuscht, denn sie hatte erwar­tet, dass wenig­stens jetzt die Mut­ter die große Mühe aner­ken­nen würde, da das Ergeb­nis vor­lag. Spä­ter erfuhr sie, dass die Mut­ter die Diplom­ar­beit auf­recht in die Glas­vi­trine (mit dem guten Geschirr) gestellt hatte und immer, wenn Besuch kam, die Arbeit her­aus­nahm und stolz vom Erfolg ihrer Toch­ter erzählte.

Die Dyna­mik erin­nert an Hänsel und Gretel: Die Hexe gibt zwar dem ein­ge­sperr­ten Hänsel, der gemä­stet wer­den soll, zu essen, ist am »Erfolg« inter­es­siert, erkun­digt sich auch immer wie­der nach den Fort­ schrit­ten (prüft den Umfang des Fin­gers), ob ein Erfolg ein­ge­tre­ten ist, will ihn aber nicht für das Kind, son­dern für sich selbst, will das Kind ver­schlin­gen. Das Kind sol­cher Eltern steckt in einem Dilemma: Was es auch tut, es ist der Ver­lie­rer. Hat es kei­nen Erfolg, bleibt es bei der Mut­ter, hat es aber Erfolg, kann es ihn nicht genie­ßen, da ihn die Eltern für sich bean­spru­chen. In einem Fall, über den Bohleber (1987) berich­tet, konnte ein Jugend­li­cher nur ent­we­der der Beste sein oder ganz auf­ge­ben: In jedem Fall aber blieb er der Lieb­ling der Mut­ter! Ich würde ergän­zen, dass es ihm nicht erlaubt und mög­lich war, wirk­lich er selbst zu sein, mit sei­nen Lei­stun­gen also irgend­wo in der Mitte zu lie­gen, denn das bedeu­tete Tren­nung. »Diese Müt­ter haben ihre Kin­ der nar­ziss­tisch hoch besetzt, kön­nen aber deren Autonomiebestrebungen nicht zulas­sen« (Bohleber 1987, S. 75). Die­ses »aber« ist mei­nes Erach­tens nicht logisch, ein »und« passte für diese die Tren­nung behin­ dern­den Müt­ter bes­ser, es sei denn, man ergänzt fol­gen­der­ma­ßen: Die Müt­ter wol­len ihre Kin­der groß­ar­tig, aber das soll für sie selbst sein, das Kind soll es nicht für sich ver­wen­den kön­nen. Philip Roth (1967; Her­vor­he­bung ori­gi­nal) lässt sei­nen Hel­den Portnoy zu sei­nem Ana­ly­ti­ker sagen:



Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl

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»Dok­tor Spielvogel, nichts wird dadurch leich­ter, daß man jeman­dem die Schuld in die Schuhe schiebt – andere anschul­di­gen ist ein Krank­heits­sym­ptom, ich weiß, ich weiß, – aber trotz­dem: Was ist es denn bloß, was, das diese jüdi­schen Eltern dazu befä­higt, uns kleine jüdi­sche Jun­gen einer­seits glau­ben zu machen, wir seien Prin­ zen, ein­ma­lig wie Ein­hör­ner, Genies, die Ret­ter und Erlö­ser der Welt, die per­so­ni­ fi­zierte Per­fek­tion, und so schön und klug wie nie Kin­der zuvor, und ande­rer­seits unzu­läng­li­che, rück­sichts­lose, böse, hirn­lose, über­heb­li­che kleine Hosenscheißer, die kei­nen Dank ken­nen.«

Lösungs­ver­su­che Es sind manch­mal Tricks zu beob­ach­ten, die ent­wickelt wer­den, um dem Wider­sprüch­li­chen der Über-Ich-Anteile: »Du sollst Best­lei­stun­ gen brin­gen!«, und: »Du sollst bei Vater und Mut­ter blei­ben!« (natür­ lich nicht nur räum­lich, son­dern sie auch nicht durch grö­ßere Bil­dung etc. hin­ter sich las­sen!) aus­zu­wei­chen. Lea G., eine erfolg­rei­che Wirt­schafts­prü­fe­rin, arbei­tete zwar sehr effek­tiv, sie hatte aber immer zwei Akten unbe­ar­bei­tet auf dem Schreib­tisch, schob deren Bear­bei­ tung irrationalerweise vor sich her. Nachts wachte sie mit der Angst auf, jemand könnte ihr vor­wer­fen, unfä­hig zu sein, schlechte Arbeit zu lei­sten. Ich sage ihr, sie dürfe nicht zu gut sein im Ver­gleich zu den männ­li­chen Kol­le­gen. Sie über­trägt das auf die Psy­cho­the­ra­pie: Sie macht sich Vor­würfe, dass sie pri­vi­le­giert ist, weil sie neben der Gruppe noch Ein­zel­the­ra­pie hat. Gemes­sen daran arbeite sie nicht effek­ tiv genug. In der The­ra­pie also die­selbe Dyna­mik: Sie befürch­tet einen Vor­wurf, es zu gut zu haben, schöpft einen Vor­teil (im Beruf: erfolg­reich sein) nicht aus, um einem Vor­wurf des einen Über-Ich-Anteils zuvor­zu­kom­men. Dass sie dann aber nicht opti­mal arbei­tet, macht sie sich wie­derum zum Vor­wurf, sie sei zu faul (das ist der andere Über-Ich-Anteil). – Frü­her hatte ihr die Mut­ter nie etwas zuge­traut, auch nichts erwar­tet, auch etwa in dem Sinne: »Du hei­ra­test ja doch.« Und das, obwohl sie stets gute Schul­lei­stun­gen vor­zu­wei­sen hatte. Der Bru­der dage­gen war immer schlecht in der Schule, in den Augen der Eltern würde aber selbst­ver­ständ­ lich ein­mal etwas aus ihm wer­den. Heute sagt die Mut­ter über ihn stolz: »Mein Sohn, der Landesrat!«, wäh­rend sie gar nicht begrei­fen kann, dass die Toch­ter viel erfolg­rei­cher und die Toch­ter die­je­nige ist, die ihre Fami­lie ernährt.

Die zwei unbe­ar­bei­te­ten Akten die­ser Pati­en­tin schei­nen etwas Magi­ sches zu haben, sie schei­nen die­selbe Funk­tion zu besit­zen wie die Feh­ler, die man­che Mos­lems absicht­lich in das Muster ihrer Tep­pi­che knüp­fen, denn nur Allah stehe es zu, etwas voll­stän­dig Per­fek­tes zu schaf­fen. Frau G. könnte ihrem ent­spre­chen­den Über-Ich sagen: »Ich bin doch gar nicht per­fekt, ich habe da noch unbe­wäl­tigte Akten!« Ande­rer­seits ver­folgt sie ein ande­res Über-Ich im Traum, das uner­ bitt­lich Höchst­lei­stun­gen for­dert. Ähn­lich emp­fin­det Olivia L., deren Mut­ter sie mit der Seni­li­tät des Vaters gestört hatte, alle Lebens­be­rei­ che wie Bezie­hung, ihren Job, die Diplom­ar­beit und auch die The­ra­ pie als nur vor­läu­fig, sie könnte jeder­zeit der ter­ro­ri­stisch Hilfe for­ dern­den Mut­ter sagen: »Beru­hige dich, alle diese Berei­che sind doch

230 Schuldgefühl

nur vor­läu­fig, nichts ist das Eigent­li­che, ich bleib’ doch bei dir und Papa.« So kann man auch eine Schreibhemmung aus Arbeitsstörung über­win­den, indem man sich sagt: »Ich schreib’ es erst mal hin, es muss ja doch noch ver­än­dert wer­den.« In die­sem Sinne hatte sich ein Dok­to­rand ein Schild über den Schreib­tisch gehängt mit dem Satz: »Schreib! Egal was!« Da ist der Computer hilfreich, nie konnte man sich so leicht sagen: »Fang einfach an, man kann es ja leicht löschen oder verändern.« Einmal hingeschrieben, sieht es am nächsten Tag vielleicht gar nicht so schlecht aus. Ähn­lich gibt es Men­schen, die am besten in der Bahn lesen kön­nen, als sei es gar kein rich­ti­ges Lesen, als sei das Eigent­li­che die Bahn­fahrt. Vor eini­ger Zeit erzählte man sich in Ber­lin von einem Psy­cho­lo­gie­pro­ fes­sor gerüch­te­weise, er habe eine beträcht­liche Biblio­thek in der Toi­ lette sei­ner Woh­nung ein­ge­rich­tet, weil er dort am besten lesen könne, zwei Dinge gleich­zei­tig erle­di­gend. Und man­che Psy­cho­the­ra­peu­ten über­win­den ihren Wider­stand gegen das Anfer­ti­gen von Krankenkassenanträgen am besten, indem sie sie in unver­hofft aus­ge­fal­le­nen Sit­ zun­gen schrei­ben.

Prü­fungs­angst Um zur Prü­fungs­angst über­zu­lei­ten, möchte ich zwei Typen von Gym­ na­sia­sten vor­schla­gen, den des arbeitsgestörten und den des prüfungsängstlichen. Der Arbeitsgestörte lei­det wäh­rend der gan­zen Schul­zeit, denn er kann keine Haus­auf­ga­ben machen. Wenn er Glück hat, kann er sie schnell vor dem Unter­richt von jeman­dem abschrei­ben, vol­ler Angst, erwischt zu wer­den. Über­haupt hat er stän­dig Angst, vor den Leh­rern, vor den Klas­sen­ar­bei­ten, viel­leicht am mei­sten vor umfang­rei­chen Hausaufsätzen, die er hasst. Die Angst hängt nur zum Teil mit der stän­ dig bewusst erwar­te­ten Bloß­stel­lung und Bestra­fung zusam­men, viel­ mehr auch beson­ders mit der unbewussten Wut, der­art fremd­bestimmt, wie er es erlebt, das tun zu müssen, was die Erwach­se­nen von ihm for­ dern. Mit Ach und Krach über­steht der Arme die Jahre, vor dem Abitur wie­gen die Leh­rer bedenk­lich den Kopf, ob er es denn schaffe, wun­ dern sich aber sehr, dass er in den Abiturklausuren um durch­schnitt­ lich eine Note bes­ser abschnei­det, als man auf­grund sei­ner bis­he­ri­gen Lei­stun­gen erwar­ten konnte. Es ist, als ob sein Unbe­wuss­tes ihn zu Höchst­lei­stun­gen anspornt, etwa in dem Tenor: »Bloß nicht noch ein Jahr in die­ser Straf­an­stalt, tu alles, um hier her­aus­zu­kom­men!« Ganz anders der prüfungsängstliche Gym­na­si­ast. Er erfreut sich



Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl

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bester Beliebt­heit wäh­rend der gan­zen Schul­zeit, hat immer Zen­su­ren weit ober­halb des Durch­schnitts, jeder kennt ihn, er ist stets bereit, Ämter und zusätz­li­che Auf­ga­ben zu über­neh­men, zumal ihm die Haus­ auf­ga­ben leicht von der Hand gehen. Ohne Angst kann er auch stets freund­lich und hei­ter sein – bis das Abitur naht; die Stim­mung ver­ fällt, unge­wohnte Furcht ent­steht, die Lei­stun­gen fal­len leicht ab, die Leh­rer wun­dern sich, denn die Abiturklausuren lie­gen im Durch­schnitt im Ergeb­nis eine Note schlech­ter, als man erwar­tet hatte. Wenn unser bis­he­ri­ger Muster­schü­ler nicht schon vor­her unter einem Vor­wand die Schule ver­las­sen hat, besteht er das Abitur mit für seine Ver­hält­nisse mäßi­gen Ergeb­nis­sen. Man ver­steht leicht, dass bei die­sem Typ die guten Lei­stun­gen vor­ her eine Ver­bin­dung mit den Erwach­se­nen her­stell­ten, wäh­rend gute Lei­stun­gen im Abitur gerade eine Tren­nung von ihnen bewir­ken wür­ den. Umge­ kehrt waren für den arbeitsgestörten Gym­ na­ sia­ sten die schlech­ten Noten ein Pro­test, eine Oppo­si­tion gegen die Erwach­se­nen (aller­dings auch eine Ver­bin­dung!), wäh­rend die guten im Abitur eine Befrei­ung von ihnen bedeu­te­ten. Sieht man sich das wei­tere Schick­sal unse­rer bei­den Gym­na­sia­ sten an, so keh­ren sich die Ver­hält­nisse gera­dezu um. Der vor­dem Arbeitsgestörte stürzt sich in sein selbst­ge­wähl­tes Stu­dium – falls der Nume­rus clausus ihn nicht zu län­ge­rer War­te­zeit ver­ur­teilt – mit dem Gefühl, end­lich frei und selbst­be­stimmt zu sein. Ohne Mühe ist es nun an ihm, Best­lei­stun­gen zu brin­gen; wo andere sich mithilfe eines schma­len Kom­pen­di­ums zur Prü­fung vor­be­rei­ten, stu­diert er meh­rere dicke Wäl­zer, nicht um für die Prü­fung und die Prü­fer, son­dern endlich für sich selbst zu arbei­ten. Das Stu­dium schließt er ab, sobald das mög­lich ist. Der dama­lige Muster­schü­ler dage­gen ist nun weni­ger glück­lich, zwar bekommt er gleich einen Stu­di­en­platz, ist aber unsi­cher, ob es das rich­tige Fach ist, wech­selt es viel­leicht nach zwei Seme­stern, kann sein Stu­dium nicht orga­ni­sie­ren und schiebt die Prü­fun­gen end­los auf, er ent­wickelt sich zu einem »ewi­gen Stu­den­ten«, der sich scheut, selbst­ stän­dig und erwach­sen zu wer­den. Moeller (1969b, S. 727) spricht in die­sem Zusam­men­hang vom »Sozialadoleszenten«, der aus Angst vor Ver­ant­wor­tung kei­nen Abschluss machen kann. Es geht also um den Unter­schied zwi­schen »Schule« als Aus­druck der Iden­ti­tät als Kind, das mit den Erwach­se­nen kon­form geht, und »Leben«, das Auto­no­mie for­dert. (»Non scholae sed vitae discimus.«) Auch Stengel (1938, S. 104) spricht über die Bezie­hung zwi­schen Prü­fung und Leben:

232 Schuldgefühl »Der Durch­ge­fal­lene sagt von sich: ›Es kommt nicht auf die Prü­fung an, son­ dern auf das, was man im Leben lei­stet.‹ Von man­chem Musterstudenten sagt man gering­schät­zig: ›Na ja, bei der Prü­fung geht es tadel­los, aber ob es im Leben drau­ ßen gehen wird, wird sich erst zei­gen.‹ … Wenn ein oft­mals Durch­ge­fal­le­ner im Leben drau­ßen erfolg­reich ist, dann redet er gern und oft davon, wie sehr er sich in der Prü­fung bla­miert hat. Und man zeigt mit Fin­gern auf den ehe­ma­li­gen Stu­den­ ten, der jede Prü­fung bestan­den, aber im Leben ver­sagt hat.«

Eine gewisse Par­al­lele zu mei­nen bei­den Typen fand ich auch bei Erikson (1958, S. 43), der »Men­schen, die sich ziem­lich schmerz­los in das Ide­en­gut ihrer Zeit fügen und kei­nen Wider­spruch sehen zwi­schen des­sen For­mu­lie­rung von Ver­gan­gen­heit und Zukunft und der täg­li­ chen Gegen­wart ihrer Umwelt«, ande­ren gegen­über­stellt, »kran­ke[n] Seelen und zwie­späl­tige[n] Per­sön­lich­kei­ten  …, die nach einer zwei­ten Geburt ver­lan­gen, nach einer Wachs­tums­krise, die sie im bis­he­ri­gen Zen­trum ihrer per­sön­li­chen Kraft ver­wan­delt«. Die so sta­bil erschei­ nen­den Men­schen dürf­ten eine Art Rück­halt im sozia­len und gesell­ schaft­li­chen System haben, mit dem sie sich iden­ti­fi­zie­ren und in das sie sich ein­ge­bet­tet füh­len, wäh­rend die ande­ren sich auf­leh­nen und noch auf der Suche sind, bis sie ihr System, ihren Ort gefun­den haben. Für den Fall des Jugend­li­chen, also auch des Gym­na­sia­sten, halte ich den ruhi­gen, glück­lich erschei­nen­den Typ eher für frag­wür­dig als den um seine Iden­ti­tät und sei­nen sozia­len Ort rin­gen­den, denn wie sich bereits im Stu­dium zeigt, ist die­ser eher in der Lage, sein Schick­sal selbst in die Hand zu neh­men, wäh­rend jener die Sicher­heit und den Halt, die ihm die Erwach­senen­welt gegeben hatte, in die er sich rei­ bungs­los hatte ein­fü­gen kön­nen, ver­lo­ren hat. Kom­men wir nun zur Prü­fung selbst, der wie­derum Eltern, Part­ner und der Prüf­ling selbst bzw. seine Über-Ich-Anteile zwie­späl­tig gegen­ über­ste­hen. Eine Musikstudentin, Lucia F., kaum fähig zu üben (Arbeitsstörung) oder Prü­fun­ gen zu absol­vie­ren, hat fol­gen­den Traum: Sie ist zu Hause bei den Eltern und macht sich auf den Weg zu einem Kon­zert, das sie geben soll. Sie ist schon spät dran, die Eltern wol­len mit­kom­men, sie zie­hen sich noch um und wer­den und wer­den damit nicht fer­tig. Sie ist in höch­sten Nöten, weil sie die Eltern mit­neh­men soll und nicht los­kommt. Dann geht sie trotz­dem allein, die Fami­lie schimpft hef­tig. Sie fährt mit dem Auto auf einer brei­ten, vier­spu­ri­gen Straße ziemlich schnell zum Kon­zert. Plötz­lich ist ein Poli­zei­wa­gen hin­ter ihr, und sie denkt: »Um Got­tes wil­ len, die kön­nen mich fest­neh­men!« – Ein Kon­zert ist für eine Musikstudentin wie eine Prü­fung; die Eltern im Traum schei­nen zwar ein­ver­stan­den mit dem Erfolg der Toch­ter, zie­hen dann aber doch nicht mit, sodass sie allein gehen muss. Das aber ist ver­bo­ten und steht unter Strafe, die Über-Ich-Poli­zei will ver­hin­dern, dass sie ihr Kon­zert gibt, also als selb­ststän­dige, erwach­sene Musi­ke­rin an die Öffent­ lich­keit tritt.



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Andere Elternfiguren sind wie­derum, wie bei den Arbeitsstörungen, zwie­späl­tig. Als Lydia S. vor dem Abitur stand, machte ihr die Mut­ter stän­dig hef­tige Vor­würfe, tobte und schrie, sie arbeite zuwe­nig, sie habe doch eine Ver­ant­wor­tung, die Fami­ lie könne nicht noch ein wei­te­res Jahr für sie auf­kom­men. Kurz vor den Prü­fun­gen aber kam die Mut­ter stän­dig in ihr Zim­mer und erzählte end­los, was sie gerade Inter­es­san­tes im Radio gehört habe. Die Pati­en­tin hat es auch nicht aus­ge­hal­ten, etwas Neues zu ler­nen, ohne die Mut­ter daran teil­ha­ben zu las­sen. Sie hat ihr das gerade Gelernte berich­tet, damit sie etwas Gemein­sa­mes haben wür­den und nicht zu sehr getrennt wären.

Es war also deut­lich eine beid­sei­tige Schwä­chung der Selbst-ObjektGren­zen erkenn­bar; ange­sichts der bevor­ste­hen­den Prü­fung konn­ten weder Mut­ter noch Toch­ter ihre Berei­che von­ein­ander abge­grenzt hal­ ten.

Ähn­lich schimpfte die Mut­ter einer jugend­li­chen essge­stör­ten Pati­en­tin, die Toch­ ter täte nicht genug für das Abitur, um aber bei jeder Gele­gen­heit die Toch­ter bei den Vor­be­rei­tun­gen zu stö­ren, indem sie sie zu Haus­ar­bei­ten anhielt: »Ich denk’ doch nicht daran, dei­nen Dreck weg­zu­räu­men …!« – Ein sehr schi­zoi­der Medi­zin­ stu­dent erin­nerte sich in der The­ra­pie, dass er eines Abends über der Vor­be­rei­tung für die münd­li­che Abiturprüfung saß, als plötz­lich das Licht erlosch. Irri­tiert ver­ ließ er sein Zim­mer, um auf die heim­ge­kehr­ten, toben­den Eltern zu tref­fen, die die Siche­run­gen her­aus­ge­dreht hat­ten und ihn anschrien, wie er das Licht im Wohn­ zim­mer habe bren­nen las­sen kön­nen, er müsse es ja nicht be­zah­len …

Einer­seits for­dern die Eltern Lei­stun­gen, ande­rer­seits sabo­tie­ren sie sie. Manch­mal mit ver­teil­ten Rol­len, wie eine Pati­en­tin (Regine G.) es im Traum dar­stellt: Die Fami­lie muss eine hohe Mauer über­win­den, die ande­ren trauen sich nicht hin­ über, die Pati­en­tin geht voran. Die Mauer ist sehr hoch, es ist schwie­rig hin­über­ zu­kom­men. Die Pati­en­tin muss Rück­sicht auf die Mut­ter neh­men. Der Vater steht dabei und stoppt ihre Zeit; mäkelt herum, sie wür­den angeb­lich zu lange brau­chen. Der Bru­der sitzt auf der Mauer.

Eine Szene aus einer ande­ren The­ra­pie (Lara C.): Die Mut­ter erkun­digt sich nach dem Stu­dium der Toch­ter: »Hast du den Anatomieschein?« – »Ja.« – »Auch den Chemieschein etwa?« – »Ja, ich hab’ mich zum Phy­si­kum ange­mel­det.« – »Ach, wirk­lich?« – Vor­her hat die Mut­ter zu Bekann­ten gesagt: »Nein, meine Toch­ter mel­det sich nicht an, nein, das schafft sie nicht.« Sie hat auch etwas gegen den Freund der Toch­ter, sie meint, sie könne nichts ler­nen, wenn sie mit ihm zusam­men sei. Tat­säch­lich erlebt die Mut­ter die Bezie­hung der Toch­ter und den Fort­schritt im Stu­dium als einen feind­li­chen Akt, sie will, dass die Toch­ter bei ihr bleibt, denn die Kin­der sind doch ihr Lebens­werk! Des­halb ist die Prü­fungs­angst hier auch eine Angst, gegen die Mut­ter der­art aggres­siv zu sein,

234 Schuldgefühl wie es die Mut­ter ja tat­säch­lich erlebt. Die Mut­ter hat immer Streit ange­fan­gen, wenn die Pati­en­tin vor einer Prü­fung stand, aus­ge­rech­net in dem Moment hat sie gedroht, ihr das Geld für die Miete nicht weiter zu zah­len.

Die Ambi­va­lenz einer Mut­ter zeigt sich auch im fol­gen­den Bei­spiel: Lisbetta V., eine Kunst­stu­den­tin, weint und weint am Anfang einer Sit­zung – die Eröff­nung einer Aus­stel­lung, auf der ihre Bil­der gezeigt wur­den, ist sehr gut ver­lau­fen. Sie hatte der Mut­ter eine Ein­la­dung geschickt; und die Mut­ter rief an und fragte, ob die Toch­ter da über­haupt mit­ma­che – obwohl deren Name auf der Ein­la­dung groß abge­druckt ist. Dann sagt die Mut­ter, es wäre so auf­wen­dig, da hin­zu­kom­men; ein Bekann­ter könne sie zwar mit dem Auto hin­brin­gen, aber die »jun­gen Leute« wür­den so ris­kant fah­ren, das sei zu gefähr­lich, sie käme dann lie­ ber ein ander­mal zu der Aus­stel­lung … Die Mut­ter hat also Schwie­rig­kei­ten, den Erfolg der Toch­ter wahr­zu­ha­ben, obwohl sie gerade in den letz­ten Mona­ten stän­ dig gesagt hat: »Wann erreichst du denn mal was, du arbei­test soviel, und nie sieht man einen Erfolg …« Jetzt ruft sie nach der Aus­stel­lungs­eröff­nung wie­der an: »War’s denn ein Erfolg, hat es sich denn nun gelohnt? Viel­leicht wär’ ich doch bes­ser gekom­men, aber ich wollte die jun­gen Leute nicht stö­ren …« Dabei waren rund 300 Besu­cher ver­schie­den­sten Alters zur Eröff­nung gekom­men, das Fern­se­ hen war dabei, Kunst­hi­sto­ri­ker kamen ange­reist … Die Mut­ter ist offen­bar aggres­ siv und nei­disch auf den Erfolg der »jun­gen Leute«, die ihr die Toch­ter weg­neh­ men.

Da die Prü­fung soviel offene Angst – und weni­ger sicht­bare Schuld­ge­ fühle – her­vor­ruft, sind auch hier wie bei der Arbeitsstörung Aus­weich­ manö­ver zu beob­ach­ten. Die Musikstudentin, Lucia F., von der bereits die Rede war, kam ein­mal (nach lan­ger Zeit) in ihre Hoch­schule, um etwas im Sekre­ta­riat zu erle­di­gen, und sah zufäl­lig einen Aus­hang, dass gleich eine Prü­fung abge­hal­ten würde. Sie nahm kurz ent­ schlos­ sen daran teil, ohne sich im gering­ sten vor­ be­ rei­ tet zu haben, und bestand sie. Sie tri­um­phierte, als ob sie ein verbietendes Über-Ich über­li­stet hätte. Einem Pati­en­ten, Felix R., wurde wäh­rend des Stu­di­ums bei jedem Examen und spä­ter jedem Vor­trag extrem schwind­lig, oft wurde er auch ohn­mäch­tig. Der Beste zu sein, ehr­gei­zig zu sein war einer­seits sehr wich­tig; es zu errei­chen, war ihm ande­rer­seits ver­bo­ten. Als Aus­weg legte er sich zurecht: Nicht sein Ehr­geiz, seine Fähig­kei­ten und Anstren­gun­gen, son­dern die Göt­ter sind ver­ant­wort­lich für sei­ nen Erfolg. »Unver­schul­det bin ich Lieb­ling der Göt­ter.« Oder er stellte sich vor, er sei eine Art Hof­narr, der alles sagen kann, weil er keine Ver­ant­wor­tung hat. Er weicht aus in eine lie­bens­werte Verantwortungslosigkeit, ist auch manch­mal etwas rebel­lisch; er begreift gar nicht rich­tig, dass er schon Anfang vier­zig ist und bereits Stu­di­en­rat  …

Die Prü­fung selbst macht Angst, durch­zu­fal­len natür­lich; aber auch, sie zu beste­hen, das heißt, sich von der vori­gen Iden­ti­tät zu tren­nen und



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die Zeit danach, die Ver­än­de­rung zu einer unbe­kann­ten Iden­ti­tät, ist das Äng­sti­gende. Aus einer the­ra­peu­ti­schen Gruppe, deren Teil­neh­mer über­wie­gend Stu­den­ten waren: Diana J. weint, sie wisse nicht, wie sie nach dem 6. Januar leben solle, dem Tag der Abgabe ihrer Diplom­ar­beit. Sie bekomme totale Panik, wenn sie daran denke, ein Gefühl von Leere, dann nichts mit sich anfan­gen zu kön­nen. Sie quäle sich jetzt jeden Tag, schaffe aber doch immer etwas, sodass es durch­aus noch mög­lich sei, die Arbeit zu been­den. Könnte sie jetzt alles hin­schmei­ßen, wäre sie ganz ruhig. Natür­lich habe sie auch etwas Angst, durch­zu­fal­len, aber eigent­lich sei sie sicher, dass sie min­de­stens eine Vier bekommt. Dar­auf sagt Renate A.: Sie habe auch gerade eine Prü­fung gemacht, wann war es doch gleich, ach ja, gerade gestern, es käme ihr wie eine Ewig­keit vor. Sie hatte sich inten­siv vor­be­rei­tet, damit sie recht­ zei­tig fer­tig würde, nur die Über­ar­bei­tung und den Schluss hatte sie fast zu lange auf­ge­scho­ben, sie musste dann vol­ler Panik in der Nacht vor der Prü­fung alles fer­tig machen. In der Prü­fung selbst konnte sie gut und frei reden, der Prü­fer fragte nicht viel; sie konnte es gar nicht fas­sen, dass sie bestan­den hatte. Sie irrte danach durch die lee­ren Flure der Hoch­schule. Wenn sie an die aller­letzte Prü­fung des Stu­di­ums denke, werde ihr ganz schlecht, sie könne sich das Leben danach, »das Leben nach dem Tode«(!), wie sie sagt, nicht vor­stel­len. In der Nacht nach der Prü­fung sei sie aus einem Traum auf­ge­schreckt und habe hem­mungs­los geweint. Im Traum sollte sie einen neuen Per­so­nal­aus­weis bekom­men (wie man ihn jetzt hat, fälschungssicher, in dem das Licht­bild real so mit Ein­schnit­ten ver­se­hen wird, dass man es zur Fäl­schung nicht ver­wen­den kann), sie wehrte sich mit allen Kräf­ten dage­gen. Denn ihr Pass­bild wurde ver­än­dert, in ein­zelne Seg­mente zer­schnit­ten, das fände sie furcht­bar, als ob man sie zer­stö­ren, sie auf­lö­sen würde. – Die Prü­fung, die eine neue Iden­ti­tät ver­leiht, wird als Bedro­hung, Tod und Auf­lö­sung erlebt; nach der Prü­fung bleibe nichts als die Leere.

Manch­mal taucht die Idee auf, nach dem Abschluss ein­fach noch ein Stu­dium dran­zu­hän­gen, so wird aus einem Sozi­al­ar­bei­ter ein Phi­lo­ so­phie- oder Kunst­stu­dent. Oder jemand denkt daran, den Abschluss gar nicht zu machen, er habe dann zwar kei­nen Schein, aber doch die Fähig­kei­ten  …

Prüfung als Tod und Geburt Die Prü­fung lässt die Iden­ti­tät, die vor­her bestand, unter­ge­hen. Eine Ab­schluss­prü­fung lässt das Kind, den Stu­den­ten ster­ben. Gleich­zei­tig ent­steht aber eine neue Iden­ti­tät bzw. wird der Weg frei­ge­ge­ben zu ihrer Ent­wick­lung. (Das gilt übri­gens auch für die Eltern, die ihr Leben und ihr Iden­ti­täts­ge­fühl neu ent­wickeln müs­sen, wenn die erwach­se­ nen Kin­der das Haus ver­las­sen.) Dadurch erhält eine sol­che Prü­fung den Cha­rak­ter der Initia­tion – in unse­rer ent-ritu­alisier­ten Gesell­schaft schei­nen mir die Prü­fun­gen auf dem Wege der beruf­li­chen Ent­wick­

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lung inzwi­schen die wich­tig­sten Initia­tions­ri­ten zu sein. In die­sem Zusam­men­hang kommt dem Prü­fer als Vater­fi­gur, der einer­seits mit Kastra­tion droht, ande­rer­seits ein Beglei­ter, ein Beschüt­zer auf dem Weg, dem Über­gang der Initia­tion sein soll, eine beson­dere Bedeu­tung zu. (Die Figur Sarastros in Mozarts Zau­ber­flöte ist eine sol­che dop­ pelt cha­rak­te­ri­sierte Vater­fi­gur.) Der Psy­cho­lo­gie des Prü­fers ist übri­ gens Stengel (1938) nach­ge­gan­gen, der sowohl die Prü­fung mit den »Puber­täts­ri­ten« der Natur­völ­ker als auch die Prü­fer mit den Vätern eines sol­chen Stam­mes ver­gli­chen hat. Letz­tere zeich­nen sich aus durch eine »Mischung von Feindseligkeits- und Freund­schafts­be­wei­ sen« (Stengel 1938, S. 92). Eine Ambi­va­lenz der her­an­wach­sen­den kon­kur­rie­ren­den Gene­ra­tion gegen­über jeden­falls atte­stiert Stengel so­wohl den Vätern bei den Natur­völ­kern als auch den Prü­fern in unse­ ren Brei­ten. Reste der­ar­ti­ger durch­aus schmerz­haf­ter Initia­tions­ri­ten, die oft genug auch sym­bo­lisch für eine Kastra­tion ste­hen, fin­den sich im Rit­ter­schlag und in der Ohr­feige, die den Lehr­ling zum Gesel­len macht (zu ent­spre­chen­den noch weitver­brei­te­ten aka­de­mi­schen Riten vgl. Prahl 1974). Übrigens fordert die Trennung der Jugendlichen auch von den Eltern eine (oft gefürchtete) Veränderung. »Denn jeder Trennungsschritt des Kindes bringt auch die Eltern einen Schritt voran auf dem Weg zum Ende ihres Lebens. In diesem Zusammenhang fand ich es sehr interessant, dass der Schritt zum Erwachsenwerden unter Umständen die ritualisierte Einwilligung der Eltern voraussetzt, wie van Gennep (1909/1999, S. 87) berichtet: ›Bei den Massai in Kenia aber kann ein Junge bzw. ein Mädchen erst dann beschnitten werden, wenn sein Vater die Zeremonie »Überschreiten des Zaunes« vollzogen hat, durch die er zum Ausdruck bringt, dass er den neuen Status eines alten Mannes akzeptiert, der von nun an »Vater von … (Name des Kindes)« genannt wird,‹ d. h. einen neuen Namen als Ausdruck einer neuen Identität bekommen hat« (Hirsch 2004, S. 374). Man­che Jugend­li­che sind selt­sam begie­rig, Klei­dungs­stücke ihrer Eltern oder ande­ rer Erwach­ se­ ner anzu­ zie­ hen, offen­ bar soll magisch-identifikatorisch ein Erwach­se­nen-Stoff auf sie über­ge­hen. Eine Pati­en­tin erin­nerte sich, wäh­rend sämt­li­cher schrift­li­cher und münd­li­cher Abiturprüfungen die Pudel­mütze ihres Vaters auf dem Kopf getra­gen zu haben; die ver­stän­di­gen Leh­rer lie­ßen sie gewäh­ren. Ande­rer­seits kann der Prü­fer als eine rächende Vater­fi­gur erlebt wer­den, wie auch die Prü­fung als feind­li­cher Unterwerfungsritus. Für Zilly C. bedeu­tet die Prü­fung etwas Dop­pel­tes, sie scheint eine For­ de­rung zu sein, sich noch ein­mal zu unter­wer­fen unter die Uni­ver­si­tät als Auto­ri­tät, wie ein Initiationsritus, eine sym­bo­li­sche Kastra­tion, um



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sich dann sowohl vom Kind­sein lösen zu kön­nen als auch als Erwach­ sene in eben die­selbe Gemein­schaft auf­ge­nom­men zu wer­den. Frau C. will die Unter­wer­fung nicht, aber gerade dadurch bleibt sie weiter abhän­gig. (Übri­gens erfor­dert der Ödi­pus-Kom­plex ebenso eine identifikatorische Unter­wer­fung unter das väter­li­che Gebot, damit danach erst eine rela­tiv grö­ßere indi­vi­du­elle Unab­hän­gig­keit erreicht wer­ den kann. Unter­wirft man sich nicht, als »Anti-Ödi­pus«, bleibt man [gegen-] abhän­gig.) Die Angst vor der Prü­fung kann schließ­lich auch als Angst vor dem Prü­fer erlebt wer­den. Wenn jemand seine Prü­fung oder die Abschluss­ arbeit lange hin­aus­ge­scho­ben hat, ent­wickelt er eine Angst vor dem Prü­fer. Es ist die Angst, dass er sagen könnte: »Was fällt Ihnen ein, nach so vie­len Seme­stern wagen Sie es noch her­zu­kom­men?« Das heißt aber, dass die Angst dazu führt, dass es noch mehr Seme­ster wer­den. Schein­bar will der phan­ta­sierte Pro­fes­sor, dass der Kan­di­dat die Prü­ fung schnell macht, schon längst gemacht haben sollte; in Wirk­lich­ keit ver­hin­dert die­ses Phan­ta­sie­bild aber durch die mit ihm ver­bun­ dene Feind­se­lig­keit, dass die Prü­fung über­haupt gemacht wird bzw. die Arbeit vor­an­geht, sodass es an die Stelle ent­spre­chend ambi­va­len­ter Eltern tritt.

Das hypo­chon­dri­sche Prin­zip »Ich hab’ schon gedacht mit dem Krebs, daß, wenn ich ihn hätte, ich wenig­stens wüßte, woran ich bin!« Bianca H., 21.12.95, vor der Weihnachtspause

Die Hypo­chon­drie tritt stets in Schwel­len­si­tua­tio­nen auf (Hirsch 1989a), die immer auch Tren­nungs­situa­tio­nen sind. Man kann das hypo­chon­dri­sche Sym­ptom als Aus­weg ver­ste­hen aus einem Kon­ flikt gegen­sätz­li­cher Bestre­bun­gen, die unver­ein­bar sind: die Schwelle über­schrei­ten und gleich­zei­tig zurück­blei­ben wol­len. Da die­ser Auto­ no­mie-Abhängigkeitskonflikt bewusstseinsunfähig ist, kann er nicht gelöst wer­den; der Hypo­chon­der braucht das Bewusst­sein von sich, dass er Fort­schritte will, die neue Iden­ti­tät begrü­ßen würde, gesund sein will. Dass er sie nicht errei­chen kann, hat in sei­nem Bewusst­sein nichts mit Tren­nungs­angst und -schuld­ge­fühl zu tun, son­dern liegt ein­zig und allein an der für ernst­haft, oft lebens­be­droh­lich gehal­te­nen Krank­heit. Er braucht die Krank­heit, um sei­nem Ideal-Ich, das Fort­schritte for­dert, treu zu blei­ben, des­halb sagt er: »Ich könnte ja (z. B. die neue Stelle

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anneh­men, das Haus bauen), aber die Krank­heit …« Oder typisch­er­ weise: »Gerade jetzt, wo alles so gut lau­fen könnte, habe ich Krebs …« Wegen der Krank­heit muss der Hypo­chon­der »dablei­ben«, wäre diese nicht, könnte er selbst­ver­ständ­lich »gehen«. Schuld­ge­fühle wegen des Gehen-Wol­lens wer­den im glei­chen Atem­zug durch die Krank­heit bestraft. Hypo­chon­dri­sche Äng­ste stel­len sich dem­ent­spre­chend häu­ fig in Prü­fungs­si­tua­tio­nen ein. Olivia L. hat sexu­el­len Kon­takt mit einem Mann, den sie gerade ken­nen­ge­lernt hat. Es ent­steht die Angst, HIV-infi­ziert sein zu kön­nen, diese Angst macht sie jetzt natür­lich völ­lig arbeits­un­fä­hig. Sicher­heit durch einen Test zu erlan­gen ist erst in zwei Mona­ten mög­lich, die Abschluss­arbeit muss sie aber in drei Wochen abge­ben. Fast bewusst setzt Frau L. die hypo­chon­dri­sche Angst ein, um ihre Arbeitsstörung zu begrün­den. Im Bei­spiel von Lisbetta V., der Kunst­stu­den­tin, stel­len die »jun­gen Leute«, die mit dem Erfolg der Toch­ter ver­bun­den sind, eine »Lebens­ge­fahr« für die Mut­ter dar. Als ob die Toch­ter ihren Erfolg unbe­wusst als Mord an der Mut­ter bzw. an sich selbst als Kind der Mut­ter ver­stand, ent­wickelte sie hypo­chon­dri­sche Phan­ta­sien, die sich gegen ihren Kör­per und ihr Leben rich­te­ten: Sie ent­wickelte eine Panik, dass sich durch einen Mücken­stich »Killerbakterien« Zugang in ihr Körper­inneres ver­schafft hät­ten, sie würde in zehn Tagen ster­ben. Ein Krib­beln im Zeh inter­pre­ tierte sie als Sym­pto­ma­tik von mul­ti­pler Skle­rose … »Ich habe gedacht, ich hätte so viel für die Aus­stel­lung geackert, dass die Bak­te­rien ein leich­tes Spiel mit mir hät­ten  …« Eine Pati­en­tin, Thekla J., besucht das Abend­gym­na­sium und hat lei­der dort die glei­chen gro­ßen Schwie­rig­kei­ten wie auf dem Gym­na­sium damals, das sie abge­ bro­chen hatte. Es geht ihr schlecht wie lange nicht mehr. Sie hat Adern auf der Brust, wor­aus sie die Über­zeu­gung ablei­tet, sie habe Brust­krebs. Sie hat jetzt das erste Schul­jahr mit Erfolg hin­ter sich gebracht und ist trotz aller Schwie­rig­kei­ten ver­setzt wor­den. Ich warte auf den typi­schen Satz, und er kommt prompt: »Jetzt, wo ich den gan­zen Schul­stress hin­ter mir habe, muss es mir so schlecht gehen!« Sie weint; da ent­steht ein Satz in ihrem Kopf: »Die brin­gen mich um!« Sie weiß nicht, woher der Satz kommt, sie hat ihn schon als Kind zwang­haft den­ken müs­ sen.

Wie­der geht es um den Tod – Brust­krebs und Mord, als ob ein feind­ li­ches Intro­jekt den schu­li­schen Erfolg rächen und bestra­fen wollte. Nicht nur Krank­heit wird im Sinne der Hypo­chon­drie als Boll­werk gegen Identitätsveränderung ver­wen­det, nach dem­sel­ben Prin­zip fun­ gie­ren bei­spiels­weise auch Schwangerschaftsängste: Zilly C. wun­dert sich über ihre Arbeitsstörung bei der Diplom­ar­beit: »Wer hätte gedacht, dass mir der Abschluss so schwer fällt, wo ich doch das Stu­dium so gewollt habe!« Dann sagt sie unver­mit­telt: »Mein Bauch wird immer dicker …« Sie denkt, sie könnte schwan­ger sein. Ich sage etwas über die Schwan­ger­schaft,



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die erst ein­mal die Iden­ti­tät einer Frau weit­ge­hend bestimmt, da sagt Frau C.: »Aber meine Mut­ter wollte doch, dass ich was werde!« Genau wie sie einer­seits ja selbst auch das Stu­dium wollte. Die Mut­ter war beruf­lich erfolg­reich gewe­sen, auch noch nach der Hei­rat, erst mit der Schwan­ger­schaft mit der Pati­en­tin hat sie ihren Beruf auf­ge­ge­ben.

Die Patientin iden­ti­fi­ziert sich mit dem Schick­sal der Mut­ter, anstatt ihr eige­nes in die Hand zu neh­men. Eine Schwan­ger­schaft würde erst ein­mal den Abschluss des Stu­di­ums ver­hin­dern. Eine andere Pati­en­tin hatte ein gan­zes Arse­nal von Phantasiebereichen zur Ver­fü­gung, die sie wie ein hypo­chon­dri­sches Sym­ptom ein­ set­zen konnte: Babette K. war ihre Arbeits­stelle gekün­digt wor­den, und sie ver­brachte ein hal­bes Jahr der Ana­lyse mit einem stän­di­gen zwang­haf­ten Grü­beln über die Arbeits­lo­ sig­keit, die sie ver­un­si­cherte; sie küm­merte sich aber kei­nes­wegs um eine neue Stelle. Dann war es wie­der die Kin­der­lo­sig­keit, die all ihr Den­ken aus­füllte (als dann eine Schwan­ger­schaft ein­trat, kam sie zur unpas­sen­den Zeit und wurde abge­ bro­chen …), dann war es das Kör­per­ge­wicht, um das alle Gedan­ken krei­sten. Als sie end­lich eine pas­sende, noch dazu hoch­do­tierte Stelle bekam, ent­wickelte sie die Befürch­tung, dass sie nicht qua­li­fi­ziert genug sei, die Stelle wie­der ver­lie­ren würde und end­gül­tig ver­ar­men müsste – auch ein Thema, an dem sie sich fest­biss. In einer Sit­zung jam­merte sie: »Mein Kater ist krank, auch die Oma ist im Kran­ken­ haus, wie kön­nen die ster­ben wol­len! Gerade jetzt, wo sich alles so gut ent­wickeln könnte mit der neuen Arbeit!« Es stellt sich her­aus, dass sie pani­sche Angst hat, durch den Tod von allen ver­las­sen zu wer­den, vom Kater, der Groß­mut­ter, vom Part­ner, und sie nichts dage­gen tun könne. »Nur wenn ich mich selbst umbringe, kann ich was machen!«

Im Grunde beant­wor­tet die Pati­en­tin die Über­nahme der neuen, einer­ seits ersehn­ten, opti­ma­len Arbeits­stelle mit der Angst, zu ver­ar­men und von den Liebesobjekten (zur Strafe für das eigene Fort­be­we­gen ent­spre­chend eines Trennungsschuldgefühls) ver­las­sen zu wer­den, und gelangt schließ­lich zu der Idee, sich selbst umzu­brin­gen: genau wie der Suizidant, der schein­bar para­dox gerade nach der sehr gut bestan­de­nen Prü­fung sei­nem Leben ein Ende macht. Ebenso para­dox erscheint es auch, dass der Hypo­chon­der auf die Bot­schaft des Arz­tes: »Sie kön­nen ganz beru­higt sein, Sie sind kern­ge­sund!« nicht mit Erleich­te­rung, son­ dern mit ärger­li­chem Unglau­ben rea­giert, sicher sei etwas falsch unter­ sucht wor­den, da müsse doch was sein. Frau K. hat ihre Hypo­chon­drie auf den Kater aus­ge­dehnt. Als sich kein patho­lo­gi­scher Befund ergab, sagte sie: »Eigent­lich müsste ich froh sein, aber viel­leicht ist es ein Irr­ tum, der Test könnte irgend­wie schiefgelau­fen sein!« Auch die Zwei­fel an der geschlecht­li­chen Identität können im Sinne der Hypo­chon­drie ein­ge­setzt wer­den, um Identitätsschritte zu ver­hin­ dern.

240 Schuldgefühl Die Musikstudentin, Lucie F., hatte große Pro­bleme, längere Bezie­hun­gen ein­ zu­ge­hen. Sie ver­brachte viel Zeit mit Überlegungen, ob sie homo- oder hete­ro­ sexuell sei. Nach jeweils lan­gem Grü­beln ging sie in ent­spre­chende Szenelokale oder setzte Kon­takt­an­zei­gen in die Zei­tung, ging zu den nach­fol­gen­den Ver­ab­ re­dun­gen oder auch nicht – anstatt sich um ihre Prü­fun­gen zu küm­mern und um Kon­takte zu Men­schen wel­chen Geschlechts auch immer. Wäh­rend all der Jahre der The­ra­pie hatte sie sich drei­mal ver­liebt, in einen älte­ren ver­hei­ra­te­ten Mann, den sie auf einer Reise ken­nen­ge­lernt hatte, dann hef­tig und unglück­lich in ihren idea­li­sier­ten Leh­rer und schließ­lich in einen Kom­mi­li­to­nen, der an ihr nicht inter­ es­siert war.

Hypo­chon­drie und Prü­fungs­angst fol­gen dem­sel­ben Gesetz: Sie ver­ hin­dern einen Fort­schritt und las­sen den Betrof­fe­nen doch den Glau­ ben, dass er lie­bend gern wei­ter­kom­men möchte. Der Hypo­chon­der denkt: »Es könnte alles so schön sein, wenn ich gesund wäre!« Der Prüfungsängstliche: »Wenn ich doch nur erst die Prü­fung bestan­den hätte!« Beide über­se­hen, da sie die Sym­ptome brau­chen, dass sie die Frei­heit gerade fürch­ten, die Gesund­heit und bestan­dene Prü­fung bie­ ten. Man kann übri­gens leicht ent­spre­chend wider­sprüch­li­che Ein­stel­ lun­gen der dazu­ge­hö­ren­den Eltern kon­stru­ie­ren. Die Mut­ter des Hypo­ chon­ders sagt: »Ich will doch nur, dass du gesund bist!« Und regu­liert stän­dig intrusiv mit dem Kli­stier die Verdauungsfunktionen des Kin­ des. Der Vater des arbeitsgestörten Kin­des sagt: »Ich will nur dein Bestes, dass aus dir was wird!«, und ver­sucht, ihm den Stoff mit dem Rohr­stock ein­zu­trich­tern.

Auto­fah­ren und Füh­rer­schein Für viele Jugend­li­che ist wohl noch immer das Auto­fah­ren das Sym­bol schlecht­hin für selbst­be­stimm­tes Fort­be­we­gen, für Frei­heit und Unge­ bun­den­heit. Und des­halb wird es auch zuwei­len mit Angst und Schuld­ ge­fühl ver­bun­den sein; das Fort­be­we­gen wird als Gefahr gese­hen wie bei den Verkehrsmittelphobien im all­ge­mei­nen; die Angst, Auto zu fah­ren, ent­hält die Angst, dann gren­zen­los so weit fah­ren zu kön­nen, dass man alle Men­schen hin­ter sich las­sen würde. Im Rhein­land unter­ schei­det man streng zwi­schen links- und rechts­rhei­nisch, und beson­ders für den, der links­rhei­nisch auf­ge­wach­sen ist, hat die Rheinüberquerung einen hohen Symbolwert, der sich gege­be­nen­falls auch auf die The­ra­pie erstreckt, wenn die Pra­xis des The­ra­peu­ten auf der ande­ren Rhein­seite liegt. Eine Pati­en­tin träumte ein­mal, sie sei auf dem Weg zur The­ra­pie, habe aber vor der Rhein­brücke end­los war­ten müs­sen, da eine Ampel auf Rot geschal­tet war. – Eine andere Pati­en­tin träumte, sie sei im Auto über



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den Rhein gefah­ren, mit­ten auf der Brücke sei das Auto explo­diert … Felix R., der Stu­di­en­rat, nannte ein­mal die Angst vor dem Leben, Prü­fungs­angst und die Angst vor dem Auto­fah­ren in einem Atem­zug. Ich ver­dich­tete diese For­ men der Angst: Als ob man mit dem Auto zur Prü­fung fah­ren würde und einen töd­li­chen Unfall erlitte. Da ent­geg­net er: »Im Grunde ist es die Angst, erwach­sen zu wer­den. Frü­her habe ich oft zu mir gesagt, du bleibst bes­ser ein Kind. Eigent­lich geht es um die Angst, allein zu sein und ster­ben zu müs­sen.«

Aber es geht nicht nur um das Weg­fah­ren-Kön­nen, es geht wie­der um etwas Dop­pel­tes. Nicht aus rei­ner Uneigen­nüt­zig­keit bezah­len Eltern ihren gerade erwach­se­nen Kin­dern den Füh­rer­schein oder schen­ken ihnen ein Auto, son­dern weil sie damit rech­nen, dass die Kin­der um so eher ein­mal wie­der zu Besuch kom­men wer­den. Eine Jugend­li­che, Ker­stin, hat gerade ihr Abitur gemacht, sie berich­tet, sie wolle even­tu­ell stu­die­ren und dann ein klei­nes Auto haben. Die Eltern woll­ten die Hälfte dazugeben. Ich sage: »Du bezahlst die Hälfte, mit der du von ihnen weg­fährst, die Eltern bezah­len die Hälfte, mit der du zu ihnen hin­fährst!«

Ein ande­res klei­nes Bei­spiel zeigt, dass der Füh­rer­schein allein kei­nes­ wegs Frei­heit bedeu­tet: Britta G.-S. hatte in drei Jah­ren Grup­pen­psy­cho­the­ra­pie einige Sym­ptome in den Griff bekom­men und vor allem die Ehe sozu­sa­gen ret­ten kön­nen. Nur den Füh­ rer­schein habe sie nicht geschafft, wie sie in der letz­ten Sit­zung sagte. Auch das gelang ihr noch, wie die Gruppe nach eini­gen Mona­ten durch eine Post­karte – ver­ bun­den mit Dank – erfuhr. Nach ein paar wei­te­ren Mona­ten kam die Pati­en­tin wie­der, recht ver­zwei­felt, denn ihre Pläne, aufs Land zu zie­hen, droh­ten daran zu schei­tern, dass sie trotz des Füh­rer­scheins nicht Auto fah­ren könne, denn ab und zu gerate sie in Panik­zu­stände, lasse dann das Auto mit­ten auf der Kreu­zung ste­hen und ergreife die Flucht. Noch schlim­mer sei, dass sie prak­tisch keine Ver­kehrs­zei­ chen sehen könne, sie über­sehe sie ein­fach. In einer Kurz­the­ra­pie von 25 Stun­den, die sich jetzt anschloss, stellte sich fol­gen­der Kon­flikt her­aus: Frau G.-S. hatte nicht nur Angst, weg­zu­ge­hen, die Eltern zu ver­las­sen, was sie in der Phan­ta­sie am Auto­fah­ren fest­machte, sie hatte im Gegen­teil gleich­zei­tig beträcht­liche Aver­sio­ nen, mithilfe des Autos zu ihnen hin­fah­ren zu kön­nen und zu müs­sen.

Die Durch­ar­bei­tung die­ses Kon­flikts zwi­schen ihrer Bedürf­tig­keit, die immer noch an die Eltern gerich­tet war, und ihrer wüten­den Auf­leh­ nung gegen die von den Eltern (noch immer) gefor­derte Ver­sor­gung im Sinne der Rol­len­um­kehr befreite die Pati­en­tin von ihrer dra­ma­ti­schen Hem­mung, Auto zu fah­ren. Das Auto ist eben nicht nur, wie schon Alexander (1931) ent­deckt hatte, ein exzel­len­tes Mit­tel zur Flucht vor der Mut­ter, son­dern auch ein Brückenobjekt, eine Ver­bin­dung zwi­ schen Mut­ter und Kind, und beför­dert einen unter Umstän­den genauso­ schnell zu die­ser wie­der zurück.

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Vierte Gruppe der Schuld­ge­fühle: Trau­ma­ti­sches Schuld­ge­fühl Das Para­dox, dass das pri­mär unschul­dige Opfer – ein Kind oder ein bloß wegen sei­ner poli­ti­schen oder reli­giö­sen Ein­stel­lung oder eth­ni­ schen Her­kunft Gefan­ge­ner – unter schwe­ren Schuld­ge­füh­len lei­det, wäh­rend der Täter weder Schuld­ge­fühle hat noch irgend­eine Schuld aner­kennt, kann eigent­lich nur mit der Tat­sa­che auf­ge­löst wer­den, dass das Opfer den Täter lebens­not­wen­dig braucht: das Kind seine Eltern, auch wenn sie es misshan­deln und miss­brau­chen, und sogar – in einer archai­schen Regres­sion (Eissler 1968, S. 457) – das poli­ti­sche Opfer den Fol­te­rer, die erwach­sene Frau den Ver­gewal­tiger, denn die Peiniger sind die einzig Mächtigen, von denen (ausgerechnet!) eine Rettung zu erhoffen ist (s. auch S. 277). Das Opfer nimmt die Schuld auf sich – das ist sein Schuld­ge­fühl –, um sich den Täter als Lie­besobjekt zu erhal­ten (vgl. Teil II, S. 100 f.). Für die Extremtraumatisierung durch KZ-Haft hat Grubrich-Simitis (1979, S. 997 f.) einen regres­si­ven Mecha­nis­mus beschrie­ben, der durch Rück­zug auf eine orale Stufe der blo­ßen Selbst­er­hal­tung und die Wen­dung der Libido von den äuße­ren Objek­ten auf die Selbst- und beson­ders Körperrepräsentanzen einen Reiz­schutz errich­tet, sodass die unge­heure, über­wäl­ti­gende Gewalt das Ich nicht wirk­lich erreicht. Ähn­lich spricht Ferenczi (1933) als Erster von einem Abschal­ten, einem Para­ly­sie­ren des Opfers wäh­rend des Akts der Gewalt. Die Gewalt kann gerade wegen ihres extre­men Aus­ma­ßes nicht rea­li­siert und psy­chisch reprä­sen­tiert wer­den, und doch wird sie eine abge­spal­ tene psy­chi­sche Rea­li­tät – sie ist leben­dig tot, wird zum Intro­jekt. Es zu assi­mi­lie­ren, hieße das ganze Aus­maß zum Bei­spiel des KZ-Ter­ rors, der Fol­ter, die Unge­heu­er­lich­keit des inze­stuö­sen Miss­brauchs im nach­hin­ein zu rea­li­sie­ren, es an sich her­an­zu­las­sen, mit Affek­ten von Angst und extre­mer Wut (Grubrich-Simitis 1979; Shengold 1979) zu ver­bin­den, die spä­ter eben­so­we­nig zu ertra­gen wären wie im Augen­blick des Gewalt-Erleidens selbst. Die befürch­tete Hef­tig­keit würde auch wie­derum jede Objektbeziehung zer­stö­ren. Das Introjekt und damit die Verbindung zum Täter auf­zu­ge­ben aber würde bedeu­ ten, das ein­zige (wenn auch illu­sio­när) ver­füg­bare Objekt zu ver­lie­ren.



Vierte Gruppe der Schuldgefühle: Traumatisches Schuldgefühl

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Fami­liäre Trau­mata Bei fami­liä­rer Gewalt wird beson­ders deut­lich, dass das Rea­li­sie­ren der phy­si­schen oder sexu­el­len Ver­ge­wal­ti­gung zwangs­läu­fig den Ver­lust des not­wen­dig benö­tig­ten posi­ti­ven Elternbildes zur Folge hätte, denn die Täter sind mit den Familienobjekten iden­tisch. Ferenczi (1933) hat aus der Not­wen­dig­keit des Fest­hal­tens an einem Bild der »guten« Eltern, der Täter näm­lich, die cha­rak­te­ri­sti­sche Abwehrform der Iden­ti­ fi­ka­tion mit dem Aggres­sor ent­wickelt (vgl. Teil II, S. 107 f.). Dar­über hin­aus introjiziert schein­bar para­do­xer­weise das Opfer die Schuld­ge­ fühle, die der Täter doch haben müsste, wie es Ferenczi (1933) ent­ deckt hat, oder besser, es introjiziert die Schuld des Täters, die zum Schuldgefühl des Opfers wird. Dabei ist regel­mä­ßig eine mehr­fa­che Trau­ma­ti­sie­rung eines in einer ent­spre­chen­den Fami­lie auf­wach­sen­ den Kin­des anzu­neh­men, ein zumin­dest zweizeitiges Trau­ma liegt bei einem unwill­kom­me­nen oder abge­lehn­ten Kind (eher Ver­nach­läs­si­ gung) vor, das in einem spä­te­ren Kin­des­al­ter miss­braucht oder miss­ han­delt wird (vgl. Hirsch 1989b). All­ge­mein ent­spre­chen oft frü­here (nega­tive und auch posi­tive) Erfah­run­gen ähn­lichen in spä­te­ren Ent­ wick­lungs­stu­fen, sodass Trau­mata oder auch kon­struk­tive Bezie­hungs­ er­fah­run­gen sich ver­stär­kend auf­ein­an­der auf­bauen; man spricht vom »telescoping« der Erfah­run­gen (A. Freud 1951; Kris 1956; Kohut 1971; Faimberg 1987). Eben die­sen Über­la­ge­run­gen ent­spre­chen die Schich­tun­gen ver­schie­de­ner Schuldgefühlsqualitäten, einem Basisschuldgefühl (ent­spre­chend basaler Ableh­nung) wird ein trau­ma­ti­sches auf­ge­pfropft (einem spä­te­ren Missbrauchs­trau­ma ent­spre­chend). Das fol­gende Fall­bei­spiel soll die star­ken Kräfte auf­zei­gen, die das Opfer an den Täter und seine Nach­fol­ger in den später gewähl­ten Part­ ner­be­zie­hun­gen bin­det, sowie die gerin­gen Chancen einer The­ra­pie, eine Beziehungsalternative dar­zu­stel­len, wie es schon Freud (1923b) skiz­ziert hat. Eine drei­ßig­jäh­rige Pati­en­tin, Fran­ziska I., begann eine psy­cho­ana­ly­ti­sche The­ra­ pie, weil sie es in der Ehe nicht aus­hielt, ihr Mann sei nie da, spre­che kaum, sorge zwar mate­ri­ell für die Fami­lie, nehme aber kei­nen Kon­takt mehr auf, außer dass er stän­dig sexu­el­len Ver­kehr for­dere, zu dem sie sich ver­pflich­tet fühle, obwohl sie es nicht wolle. Sie wisse nicht, was sie mit ihrem Leben anfan­gen solle; die Aus­ bil­dung als Alten­pfle­ge­rin habe sie abge­bro­chen, da sie sich für unfä­hig gehal­ten habe. Mit den bei­den Kin­dern komme sie nicht zurecht, sie könne nicht rich­tig für sie da sein (wie der Ehe­mann für sie), sei häu­fig in Gedan­ken wie abwe­send. Wenn sie dann die Kin­der for­der­ten, schlage sie auch schon ein­mal zu. Die Kin­der seien schon in psy­cho­the­ra­peu­ti­scher Behand­lung gewe­sen, aber es habe sich nichts an ihrem undis­zi­pli­nier­ten, aggres­si­ven Ver­hal­ten geän­dert. (Die Mut­ter schlägt; die Kin­der sind aggres­siv.) Das ein­zige, was sie wisse, sei, dass sie sich von ihrem

244 Schuldgefühl Mann tren­nen werde. – Die Pati­en­tin war seit der Grundschulzeit vom Vater sexuell missbraucht wor­den, über Jahre hin­weg kam es regel­mä­ßig zum Bei­schlaf, den der Vater stumm for­derte; das Kind wehrte sich nicht, denn der Vater schlug bei ande­ren Gele­gen­hei­ten schnell ein­mal zu. (Der Vater schlug, die Pati­en­tin schlägt, die Kin­der sind aggres­siv.) Als die Pati­en­tin 16 Jahre alt war, konnte sie sich dem Vater ent­zie­hen, der sexu­elle Miss­brauch hörte auf. Ein Jahr spä­ter kam die Mut­ter bei einem Elek­trounfall, der auf einer nicht fach­ge­recht aus­ge­führ­ten In­stal­la­tion einer Hei­zung im Bad durch den Vater beruhte, ums Leben. In der Nacht nach dem Tod der Mut­ter hat­ten Vater und Toch­ter wie­der sexu­el­len Ver­ kehr. – Die The­ra­pie dau­erte zwei Jahre. Die Pati­en­tin erwar­tete anfangs Hilfe bei der Tren­nung vom Ehe­mann und hoffte, dass die Sym­ptome der Kin­der – ihr Bett­ näs­sen und ihre Unan­ge­passt­heit – bes­ser wür­den. In den zwei Jah­ren wur­den alle Tat­sa­chen bekannt, die zur Inzest-Fami­lie und zur deso­la­ten Ehe gehör­ten. Jedoch weinte die Pati­en­tin nicht ein ein­zi­ges Mal. Sie sprach mono­ton, affektleer, sah keine Per­spek­tive. Nach einer anfäng­li­chen Zeit des Gefühls der Soli­da­ri­tät mit dem Opfer mei­ner­seits fühlte ich mich immer wie­der ver­ra­ten, weil die Pati­en­tin un­er­war­tete Aktio­nen insze­nierte, die mich brüs­kier­ten und einen Rück­schritt in die alten Ver­hält­nisse bedeu­te­ten. Sie schlief wie­der mit ihrem Mann, obwohl sie sich ver­ge­wal­tigt fühlte, sie brachte die Kin­der – an ihrer Stelle sozu­sa­gen – zu einem wei­te­ren Kin­der­the­ra­peu­ten, ohne es mir mit­zu­tei­len, kaufte schließ­lich mit ihrem Mann und den Schwie­ger­el­tern – der Vater des Ehe­man­nes hatte übri­gens seine eigene Toch­ter sexu­ell miss­braucht – zusam­men ein Haus. Ich selbst wurde zu­neh­mend zu einem feind­li­chen Objekt, als ob ich von der Pati­en­tin for­dern würde, etwas auf­zu­ge­ben, was sie not­wen­dig brauchte. Sie been­dete die The­ra­pie mit der Mit­tei­lung, dass sie nun allein zurecht­kom­men wolle und mich dazu nicht brau­che.

Ich denke, die Pati­en­tin hat nichts mehr gefürch­tet, als das introjizierte Inzestfamilien-Objekt zu ver­lie­ren, das sie sich in ihrer Ehe externalisiert wiedergeschaffen hatte. Der Teil ihres Selbst, der sich befreien wollte, der der Wei­ge­rung der Jugend­li­chen ent­sprach, weiter mit dem Vater zu schla­fen, war zu schwach. Das Auf­ge­ben ihrer Ehe war für sie, als ob ein Kind seine Fami­lie ver­lie­ren müsste, für die ein Ersatz nicht denk­bar wäre. Stell­ver­tre­tend für sich selbst brachte sie die Kin­ der immer wie­der zum The­ra­peu­ten, als wären die Chancen, das Böse los­zu­wer­den, in der zwei­ten Gene­ra­tion größer. Es war, als ob das Ge­heim­nis des Inzests nicht wirk­lich – näm­lich emo­tio­nal und nicht nur als Fak­tum – gelüf­tet wer­den dürfte. Die Schuld­ge­fühle der Pati­en­ tin konn­ten nicht bear­bei­tet wer­den, ge­schweige denn ihre reale Schuld wegen der mit zuneh­men­dem Alter größer wer­den­den kollusiven Mit­ be­tei­li­gung am Inzest damals – bzw. spä­ter wegen ihres Anteils an der Ehedynamik und ihres Verhaltens den Kindern gegenüber. Da die Pati­en­tin frü­her in ihrer Fami­lie nie jeman­den gehabt hatte, der Zeuge des inze­stuö­sen Trau­mas war, dem sie sich hätte anver­trauen kön­nen, war die Chance gering, dass die The­ra­pie diese Funk­tion über­neh­men würde.



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Schuldgefühlskomponenten des Inzest-Opfers Wie kom­plex die Schuldgefühlsdynamik des Opfers familiären sexu­ el­len Miss­brauchs zusam­men­ge­setzt sein kann, habe ich aus­führ­lich beschrie­ben (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 92–105). Ich möchte hier einen kur­zen Über­blick geben: 1. Die umfang­reich­ste Schuldgefühlskomponente beruht auf der Intro­ jek­tion der Schuld des Täters, wie wir mehr­fach aus­führ­lich gesehen haben. Hier ist die Para­do­xie begrün­det, dass das primärunschuldige Opfer sich schul­dig fühlt, wert­los, oft lebens­lang die Opfer­rolle perpetuiert. 2. Dar­über hin­aus fin­den sich regel­rechte, einer Gehirn­wä­sche ähn­liche Vor­gehens­wei­sen des Täters, der dem Opfer oben­drein Schuld­ge­ fühle macht, seine Per­sön­lich­keit und Kör­per­lich­keit ent­wer­tet und sein Selbst­wert­gefühl aktiv ernied­rigt. Man kann hier gera­dezu von Implan­ta­tion des Schuld­ge­fühls (nicht Implan­ta­tion der Gewalt) spre­chen. 3. Die eigene Sexua­li­tät wird schuld­haft erlebt, beson­ders wenn sie schon längst mit Stra­fen belegt war; die Ver­wir­rung ist beträcht­lich, wenn die Ver­fol­gung der kind­li­chen Sexua­li­tät vom spä­te­ren Inzesttäter aus­ging. 4. Schwere Schuld­ ge­ fühle machen die eige­nen Lust­emp­fin­dun­gen bereits des Kin­des bei den Missbrauchshandlungen. Da sich das Kind den eige­nen Kör­per­emp­fin­dun­gen ohn­mäch­tig aus­ge­lie­fert fühlt, etwas will, das sei­nem Ideal-Ich zuwi­der­läuft, ent­ste­hen auch starke Scham­ge­fühle. Wird der eige­nen Lust nach­ge­ge­ben, muss man auch von einem Anteil rea­ler Mit­schuld, einer Kol­la­bo­ra­tion spre­chen, wenn auch in tra­gi­scher Ver­strickung; ebenso, wenn nun in sekun­dä­rer Iden­ti­fi­ka­tion sexu­elle missbräuch­li­che Hand­lun­gen Schwä­che­ren gegen­über aus­ge­übt wer­den (vgl. Teil III, S. 277 f.). 5. Schuld­ge­fühle ent­ste­hen durch die ödi­pale Kom­po­nente: Trotz des Missbrauchscharakters wird sich inner­halb der typi­schen InzestFami­lie immer ein Bünd­nis von Vater und Toch­ter gegen die Mut­ter her­stel­len. 6. Die Rollenumkehranforderung, die für die Inzest-Fami­lie typisch ist, macht immer Schuld­ge­fühle, da die vom Kind über­nom­mene Eltern­rolle nie aus­ge­füllt wird. Das erlebte Ver­sa­gen (poten­ziert durch ent­spre­chende Vor­würfe) macht Schuld­ge­fühl (vgl. Teil II, S. 141 f.). 7. Das Bestre­ ben des Opfers, das Inzestgeschehen öffent­ lich zu ma­chen, es auf­zu­decken, macht schwere Schuld­ge­fühle, die teils einem Trennungsschuldgefühl ent­spre­chen, teils aber auch – ziem­ lich rea­li­stisch in der Regel – auf einer vor­weg­ge­nom­me­nen Schuld

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beru­hen, die Fami­lie zu zer­stö­ren, den Vater ins Gefäng­nis zu brin­ gen. 8. Mit zuneh­men­dem Alter kann ein Bewusst­sein der adoleszenten Toch­ter ent­ste­hen, nun ihrer­seits Macht über den (schwa­chen) Vater zu haben. Aggres­sio­nen, Todes­wün­sche kön­nen mit einem Triumph über ihn ver­bun­den sein, gleich­wohl ent­ste­hen schwere Schuld­ge­ fühle.

Ver­lu­ste Ver­lu­ste von Liebesobjekten kön­nen Intro­jekte ver­ur­sa­chen, die Schuld­ ge­fühl erzeu­gen; damit wird sozu­sa­gen das ver­lo­rene Objekt, wenn auch mit nega­ti­ver, vor­wurfs­vol­ler Kon­no­ta­tion, psy­chisch erhal­ten, das Intro­jekt ist ein Objektersatz. Über die­sen Anteil des trau­ma­ti­schen Schuld­ge­fühls hinaus lässt sich immer ein Überlebendenschuldgefühl fin­den. Das Überlebendenschuldgefühl haben wir eher bei Ver­lust von Geschwi­stern behan­delt, da sich Geschwi­ster sozu­sa­gen auf einer Ebene, gleich­be­rech­tigt befin­den; ähn­lich auch, wenn es sich um Mit­ ge­fan­gene han­delt, die in der­sel­ben Situa­tion sind. Zwar gibt es auch einen Überlebendenschuldgefühlsanteil beim Ver­lust von Eltern, zum Bei­spiel ödi­pa­ler Qua­li­tät, aber da es sich bei Eltern um der­art emi­nent wich­tige Bezie­hungs­per­so­nen han­delt, schei­nen mir Tren­nung und Ver­lust in ihrer trau­ma­ti­schen Wir­kung weit zu über­wie­gen, sodass das resul­tie­rende Schuld­ge­fühl über­wie­gend ein trau­ma­ti­sches ist. Aber die Tren­nung zwi­schen einer Geschwi­ster- und der Eltern­ ebene bleibt künst­lich. Auch Geschwi­ster sind ja Lie­bes-, nicht nur Rivalitätsobjekte. Auch ver­lo­rene Geschwi­ster müs­sen betrau­ert wer­den, aber noch viel­mehr gilt das für die Eltern, damit sie nicht als »untote« Intro­jekte tot-leben­dig blei­ben müs­sen. In einer Unter­ suchung haben Schepker, Scherbaum und Bergmann (1995) einen Über­blick gege­ben über die Ansich­ten der Kinderanalytiker in bezug auf die Fähig­keit des Kin­des in ver­schie­de­nen Entwicklungsaltern, Ver­lu­ste eines Eltern­teils zu betrau­ern. Sie zitie­ren die klas­si­sche Arbeit von Furman (1964), der Kri­ te­ rien der opti­ ma­ len Umweltreaktionen auf­stellte, die es dem Kind ermög­li­chen, sich sei­ner­seits genü­gend zu lösen. Dazu gehören beson­ders das »Mit­ er­ le­ ben von Schmerzreaktionen der Erwach­ se­ nen im Sinne einer Identifikationsmöglichkeit …, Tole­ ranz der Umwelt für Aggressionsäußerungen und das Ernst­ neh­ men aller affek­ti­ven Äuße­run­ gen« (Schepker et al. 1995, S. 264) sowie eine Begren­zung der



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durch den Ver­lust her­vor­ge­ru­fe­nen Angst des Kin­ des. Sind diese Bedin­gun­gen gege­ben, nimmt Furmann an, dass ein drei­ein­halbbis vier­jäh­ri­ges Kind in der Lage ist, adäquat und aus­rei­chend zu trau­ ern. Der bemer­kens­wer­te­ste Befund aus der Unter­suchung von Schepker und Mit­ar­bei­tern (1995) scheint mir zu sein, dass es die Kin­der, die vor dem Ver­lust miss­han­delt oder miss­braucht wor­den waren – sei es von dem ver­lo­re­nen Eltern­teil oder von einer ande­ren Bezugs­per­son –, um ein Viel­fa­ches schwe­rer hat­ten zu trau­ern: »Die Pati­en­ten, die … Todes­wün­sche gegen­über dem ver­stor­be­nen Eltern­teil erin­nern konn­ ten, waren alle als Kin­der miss­han­delt wor­den« (S. 276). Die Auto­ren sehen auch den Intro­jekt-Aspekt durch unbetrauerten Ver­lust und for­ mu­lie­ren ihn auf ihre Weise: »Mas­siv traumatisierte und miß­han­delte Kin­der haben es per se schwer, hef­tige Lie­bes- und Haßaffekte in ihre Objekt­re­prä­sen­tanz eines ver­stor­be­nen Eltern­teils zu inte­grie­ren … Die Über-Ich-Ent­wick­lung war bei allen unse­ren Pati­en­ten mit patho­lo­gi­scher Trauer dadurch erschwert, daß eine Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Bild eines lie­be­vol­len Eltern­teils kaum gelang« (S. 277).

Ein Ver­lust, der nicht betrau­ert wer­den kann, bewirkt also die For­ mie­rung eines Introjekts, das sei­ner­seits nicht ver­las­sen wer­den kann. Derrida (1976, S. 20) beschreibt das Para­dox, dass das Tote dadurch bewahrt wird, dass es nicht assi­mi­liert wird, und dass es leben­dig bleibt, indem es tot ist. Die Trauerarbeit müsste es, um im Bild zu bleiben, wieder lebendig machen, damit es endgültig sterben kann. Die Trauer­ arbeit befreit Freud (1917e) zufolge den Trau­ern­den durch schritt­wei­ ses Überbesetzen und Wiedererinnern der Anteile des Objekts und der Bezie­hung zu ihm, ver­bun­den mit dem affek­ti­ven Aus­druck der Trauer, von den Bin­dun­gen an das ver­lo­rene Objekt und macht das Ich frei für neue Objekt­be­zie­hun­gen. Der Melancholiker schafft das nicht, er trägt das Introjekt in sich und meint eigentlich dieses, wenn er sich voller Schuldgefühl an die Brust schlägt. Freud hat aber noch zwi­schen der nor­ma­len Trauer und der Melan­cho­lie eine Form der patho­lo­gi­schen Trauer beschrie­ ben, die durch den zu star­ ken Ambivalenzkonflikt her­vor­ge­ru­fen wird und die Trauer­arbeit behin­dert. Laplanche und Pontalis (1967, S. 513) refe­rie­ren für die patho­lo­gi­sche Trauer: »Das Objekt hält sich für schul­dig an dem ein­ge­tre­te­nen Tod, ver­neint die­ sen, glaubt sich beein­flusst oder beses­sen von dem Ver­stor­be­nen, von einer Krank­heit befal­len, die des­sen Tod nach sich gezo­gen hat etc.« Die­ses »beses­sen von dem Ver­stor­be­nen« ist in Freuds Text nicht zu fin­den, passt aber voll­stän­dig zum Kon­zept des zurück­blei­ben­den Introjekts als Rest des nicht auf­ge­ge­be­nen Objekts. Neben der Ambi­ va­lenz – die zu starke Aggres­sion ent­hält – kann Torok (1968) zufolge

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auch ein uner­füll­tes libi­di­nö­ses Ver­lan­gen ver­ant­wort­lich sein für das »Auf­rich­ten des Objekts« und die Unmög­lich­keit, es auf­zu­ge­ben – als müsste noch etwas an Liebe erhal­ten wer­den, bevor eine Tren­nung mög­lich ist, wie ich ergän­zen möchte. Die andere Seite der Ambi­va­lenz – über­mä­ßige Wut – war der Grund für zwei von Giovacchini (1967) be­schrie­bene Pati­en­ten, adäquate Trauer­arbeit nicht lei­sten zu kön­nen, denn die frei­wer­dende Wut wäre über­wäl­ti­gend gewe­sen. So kam es zu einem »Ein­frie­ren« des Introjekts, die Ent­wick­lung sta­gnierte, die Pati­en­ten konn­ten nicht vor (das bedeu­tete Tren­nung) und nicht zurück (das hieße Aus­lie­fe­rung an eine feind­li­che Mut­ter-Imago).

Ver­lust eines Eltern­teils Es wer­ den ähn­ liche Zusam­ men­ hänge wie bei dem Ver­ lust eines Geschwi­sters (oder eines ande­ren nahen Ange­hö­ri­gen, zu dem eine Bezie­ hung bereits bestan­ den hatte) anzu­ tref­ fen sein, wie bereits erwähnt, aber der Unter­schied liegt doch in der viel grö­ße­ren Bedeu­ tung von Mut­ter oder Vater für ein Kind. Und auf den Tod von Groß­ el­tern ist man wohl in der Regel viel bes­ser vor­be­rei­tet, weil sie zu der Gene­ra­tion gehö­ren, die dem Tod natür­li­cher­weise näher ist. Noch einen wei­te­ren Aspekt möchte ich vor­schla­gen: Das Schuld­ ge­fühl, das von dem durch unge­nü­gende Trauer ent­stan­de­nen Intro­ jekt her­vor­ge­ru­fen wird, muss irgend­wie begrün­det wer­den. Die Ent­ wick­lung des Schuld­ge­fühls hat hier beson­ders eine Kom­po­nente, das Unfass­bare als von jeman­dem (auch von dem­je­ni­gen selbst) schuld­haft ver­ur­sacht zu ver­ste­hen, als ob es so in sei­ner oder der Macht von irgend jeman­dem gele­gen hätte, es zu ver­mei­den (vgl. Überlebendenschuldgefühl, Teil II, S. 201). Dazu ent­ste­hen manch­mal bizarre phantasmatische Kon­struk­tio­nen: Eine Pati­en­tin, Zita V., lei­tete ihre Schuld­ge­fühle von fol­gen­dem Ge­sche­hen ab: Zwei Tage, bevor die schwere Krank­heit begann, an der der Vater viel spä­ter dann schließ­lich starb, sei ihr, als sie sechs Jahre alt war, ein Feu­er­sa­la­man­der ent­lau­fen. Der Vater suchte ihn lange drau­ßen und holte sich eine »Erkäl­tung«, wie die Mut­ter so oft erzählt hatte. Als Kind dachte sich die Pati­en­tin, hätte sie bes­ser auf ihren Sala­man­der acht­ge­ge­ben, wäre der Vater noch am Leben.

Auch in einem ähn­lichen Bei­spiel Winnicotts (1958, S. 25) schiebt sich das Kind die Schuld am Tod des Vaters zu: »Ein klei­nes Mäd­chen von fünf Jah­ren rea­gierte mit einer tie­fen Depres­sion auf den Tod sei­nes Vaters, der unter unge­wöhn­li­chen Umstän­den ein­trat. Der Vater hatte



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zu einer Zeit ein Auto gekauft, als das kleine Mäd­chen eine Phase durch­machte, in der es sei­nen Vater sowohl haßte als auch liebte. Es hatte tat­säch­lich von sei­nem Tod geträumt, und als der Vater einen Autoausflug vor­schlug, flehte es ihn an, nicht zu fah­ren. Er bestand dar­auf, was nur natür­lich war, da Kin­der ja zu die­ser Art von Alb­träu­men nei­gen. Die Fami­lie machte also einen Autoausflug, und sie hat­ten tat­säch­lich einen Unfall; das Auto über­schlug sich, und nur das kleine Mäd­chen blieb unver­letzt. Es ging zu sei­nem Vater, der auf der Straße lag und stieß ihn mit dem Fuß an, um ihn zu wecken. Aber er war tot. Ich konnte die­ses Kind wäh­rend sei­ner schwe­ren Depres­sion beob­ach­ten  … Es stand stun­den­lang in mei­nem Zim­mer  … Eines Tages stieß es ganz leicht mit dem glei­chen Fuß an die Wand, mit dem es den toten Vater ange­sto­ßen hatte, um ihn auf­zu­wecken. Ich konnte den Wunsch … in Worte fas­sen, ihren Vater auf­zu­wecken, den sie liebte, wenn sie auch dadurch, daß sie ihn mit dem Fuß stieß, zugleich Wut aus­drückte.« In einem Fall, Bianca H., war es die ent­täuschte Vatersehnsucht, die die Wut des Kin­des ver­ur­sachte. Aber die Aggres­sion konnte erst nach Jah­ren der ana­ly­ti­schen The­ra­pie als sol­che erkannt und retro­spek­tiv erlebt wer­den. Die Pati­en­tin hatte gedacht, ihre Wut hätte auf magi­sche Weise den Vater getö­tet, der sich getö­tet hatte, als sie sie­ben Jahre alt war. Im Grunde war es umge­kehrt; sie war wütend, weil er schon vor dem Selbst­mord weite Strecken psy­chisch tot war, für das Kind nicht zur Ver­fü­gung stand. – Eine andere Pati­en­tin, Olga N., hatte ein gro­ßes Maß an Wut auf den Vater wegen sei­nes Alko­ho­lis­mus anwach­sen las­sen; als er sich suizidierte, war die Pati­en­tin 15 Jahre alt.

Die Fähig­keit der umge­ben­den Erwach­se­nen, ihrer­seits zu trau­ern, ist für die Trauer­arbeit des Kin­des beson­ders wich­tig. McDougall (1989b, S. 208; Über­set­zung M. H.) schreibt: »Es muß nichts­de­sto­we­ni­ger betont wer­den, daß das Aus­maß der trau­ma­ti­schen Lang­zeit­wir­kung eines kata­stro­pha­len Ereig­nis­ses in gro­ßem Maße von den elter­ li­chen Reak­tio­nen auf das Trauma abhängt … Die Art und Weise, in der das poten­ ti­elle Trauma von der Umge­bung gehand­habt wird, ist des­halb ein bedeu­ten­der Fak­tor, der das Aus­maß bestimmt, in dem das Kind zukünf­tige patho­lo­gi­sche Kon­ se­quen­zen ent­wickelt … Was den frü­hen Ver­lust eines Eltern­teils betrifft, sollte ebenso betont wer­den, daß ein Vater, der gestor­ben ist, in der Psy­che des Kin­des als eine sehr leben­dige Figur erhal­ten blei­ben kann, was davon abhängt, wie die Mut­ter über den Vater spricht, und auch von der Natur sei­ner eige­nen frü­he­ren Bezie­hung zu dem Kind.«

Die Unfä­hig­keit des ver­blie­be­nen Eltern­teils zu trauern zeigt sich an des­sen Fest­hal­ten an idea­li­sier­ten oder ent­wer­te­ten Bil­dern des Gestor­ be­nen. Gefühle kön­nen nicht erlebt wer­den – Trauer, Angst, Wut – oder wer­den vor dem Kind ver­bor­gen. Das Kind wird gehin­dert, zu trau­ern, indem es »zu sei­nem Schutz« davor bewahrt wird, den Leich­ nam noch ein­mal zu sehen oder an der Bestattungszeremonie teil­zu­ neh­men. Je weni­ger aber die wah­ren Eigen­schaf­ten der Ver­stor­be­nen gese­hen und genannt wer­den dür­fen, je weni­ger auch sein Tod mate­

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ri­ell in Augen­schein genom­men wer­den kann, desto eher bleibt ein Geist, ein Phan­tom, von dem eine innere Tren­nung sehr schwer wer­den kann. Das glei­che Pro­blem ent­steht übri­gens noch ein­mal in der Ado­ les­zenz, in der es ein Jugend­li­cher leich­ter hat, sich von real anwe­sen­ den Eltern abzu­gren­zen und zu sich selbst zu fin­den als ledig­lich von einem inne­ren Bild, wenn Vater oder Mut­ter real nicht mehr für eine Aus­ein­an­der­set­zung zur Ver­fü­gung ste­hen. Ebenso wer­den manch­mal die Umstände, die zum Tode führ­ten, ver­heim­licht, ins­be­son­dere bei Sui­zid oder wenn der Tod im Zusam­men­hang mit Ver­bre­chen ein­trat; man denke an die Nazi-Täter, deren Tod mit unbe­nann­ten Greu­el­ta­ten bzw. deren Ahn­dung, zum Bei­spiel durch Todes­strafe, in Zusam­men­ hang stand. Die Mut­ter von Bianca H. ver­heim­lichte der Toch­ter, dass es sich um einen Sui­zid des Vaters han­delte, und behaup­tete, er sei von der Lei­ter gefal­len. Das Kind wird sich den Zusam­men­hang zwi­schen den Depres­sio­nen des Vaters und sei­nem Tod unbe­wusst her­ge­stellt haben, aber es hat nicht trau­ern kön­nen, da es dadurch das Geheim­nis des Sui­ zids (und dahin­ter noch wei­tere mög­li­che: Wie war die Bezie­hung der Eltern? Wie weit waren die Wut und die ödi­pale Liebe des Mäd­chens ver­ant­wort­lich?) aufgedeckt hätte. Oft wer­den die phantasmatischen Erklä­run­gen des Ver­lusts eines Eltern­teils vom Kind mit sei­nen ödi­pa­len Phan­ta­sien oder aber auch mit dem pseudo-ödi­pa­len Partnerersatzagieren des ver­blei­ben­den Eltern­ teils ver­schmol­zen. Ein jun­ger Mann, Mar­tin Z., kam in die The­ra­pie, weil er in sei­ner Not, sich nicht ein­deu­tig für eine Frau ent­schei­den zu kön­nen, mit 24 Jah­ren eine Frau, die ein Kind hatte, gehei­ra­tet hatte, um die Unent­schie­den­heit end­lich zu been­den. Nun hatte er aber große Ver­las­sen­heits­äng­ste, ver­bun­den mit star­ken Bestre­bun­gen, sich ande­ren Frauen zuzu­wen­den. Herr Z., dem von sei­nem Vater immer vor­ge­ wor­fen wor­den war, er sei schuld am Asthma sei­ner Mut­ter, da die­ses mit sei­ ner Geburt auf­ge­tre­ten sei (s. o. Teil II, S. 137) berich­tet: »An jenem Abend gab es wie­der Streit zwi­schen mei­nen Eltern, viel Schreierei und ein leich­tes Hand­ ge­menge. Meine Mut­ter las mir an die­sem Abend eine Geschichte im Bett vor. Danach ging sie nach unten, und wenige Augen­blicke spä­ter fand sie mei­nen Vater, der sich, wie ich aber erst Jahre spä­ter erfuhr, im Kel­ler erhängt hatte. Ich kann mich noch gut daran erin­nern, wie sie immer wie­der den Namen mei­nes Vaters schrie, und ich, in mei­nem Bett lie­gend, nicht wusste, wie ich das Ganze ein­ord­nen sollte, aber auch vor Angst wie gelähmt war und mich nicht traute, nach unten zu gehen. Ich hörte dann kurze Zeit spä­ter viele fremde Stim­men im Haus, wohl Poli­zei und Ärzte, für deren Exi­stenz ich natür­lich keine Erklä­rung fin­den konnte, und irgend­wann schlief ich dar­über auch ein … Ich war zu die­sem Zeit­ punkt unge­fähr fünf Jahre alt.«



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Eine Kom­pli­ka­tion lag in der pseudo-ödi­pa­len Bezie­hung zur Mut­ ter, die den Jun­gen in den Strei­te­reien mit dem Vater stets auf ihre Seite gezo­gen hatte, was Wut auf den Vater, aber auch unbe­wusste Schuld­ge­fühle ver­ur­sacht hatte. Ande­rer­seits rief auch das Abgrenzungsbedürfnis der Mut­ter gegen­über (Trennungs-)Schuld­ge­fühle her­ vor. Die­sem Dop­pel­ten ent­sprach sein spä­te­res Agie­ren der Hei­rat, mit der er sozu­sa­gen mit Gewalt sein Schwan­ken been­den wollte. Nun war er zwar ein Ehe­mann, ver­lor aber jedes sexu­elle Inter­esse an sei­ner Frau, und es stellte sich zudem her­aus, dass er zeu­gungs­un­fä­hig war. Eine ent­spre­chende Behand­lung schob er hin­aus, weil er »diese Unsi­ cher­heit« kei­nem Kind zumu­ten wollte. Bei­des machte Schuld­ge­fühle: gehei­ra­tet zu haben – die Strafe dafür ist eine Art dop­pel­ter Kastra­tion – und sich ande­ren Frauen zuwen­den zu wol­len – die Strafe sind die extre­men Ver­lust­äng­ste. Die pseudo-ödi­pale Verführungssituation ent­spricht einer Rol­len­ um­kehr im Sinne eines Partnerersatzes. Einer­seits stellt eine sol­che Kon­stel­la­tion eine Quelle eines (mani­schen) Tri­umphs dar, den Vater in der Gunst der Mut­ter über­run­det zu haben (vgl. Hirsch 1988; 2016), ande­rer­seits aber auch die Quelle eines star­ken Schuld­ge­fühls (Depres­ sion). Bei­des, Triumph und Schuld­ge­fühl, muss durch den Tod des Vaters für einen sol­chen von der Mut­ter »aus­ge­wähl­ten« oder ein­zi­gen Sohn auf die Spitze getrie­ben wer­den. In einem ande­ren Fall bat der schwer depres­sive Vater sei­nen ein­zi­gen, 15jäh­ri­gen Sohn, den spä­te­ren Pati­en­ten (Ingmar A.), er möge für die Mut­ter sor­gen – und brachte sich in der fol­gen­den Nacht um. Der Wider­streit zwi­schen mani­schem Hoch­ge­fühl, an die Stelle des Vaters zu tre­ten, und der maß­lo­sen Wut, benutzt, in der Iden­ti­täts­ent­wick­lung behin­dert und in unpas­sen­der Loya­li­tät gebun­den zu sein, führte viel spä­ter zu einer psy­cho­ti­schen Reak­tion, als es zum Streit mit den Schwe­stern kam, wer die pfle­ge­be­dürf­tige Mut­ter auf­neh­men und wer das Haus der Eltern über­neh­men solle.

Die Phan­ta­sien über die Ursa­chen der Bezie­hungs­pro­bleme der Eltern (Aggres­sion und Sexua­li­tät) haben, wie auch in die­sem Fall, gra­vie­ rende Stö­run­gen der Ent­wick­lung der Geschlechts­iden­ti­tät zur Folge (McDougall 1989b); die Schein­lö­sung des pseudo-ödi­pa­len Di­lemmas liegt darin, den Partnerersatzauftrag zu erfül­len, aber auf Sexua­li­ tät zu ver­zich­ten (bzw. auch diese in den Dienst der Mut­ter oder ihrer Nach­fol­ge­rin­nen zu stel­len; vgl. Hirsch 1988; auch Teil II, S. 220). Aber das Schuld­ge­fühl wird nicht besänf­tigt, denn die Loslösungsbestrebungen blei­ben beste­hen und die Anfor­de­run­gen des Ersatzpartners kann ein Kind nicht erfül­len, auch wenn es sich nicht trennt. In einem Fall konnte ich die Unmög­lich­keit der Lösung von einem ver­lo­re­nen Objekt neben dem Ambivalenzkonflikt auf ver­bo­tene ödi­

252 Schuldgefühl

pale Wün­sche zurück­füh­ren, die spä­ter bei der erwach­se­nen Pati­en­tin zu einer fort­wäh­ren­den Suche nach einem Vaterobjekt mithilfe promiskuösen Agierens führte, das sicher auch durch einen ein­ma­li­gen außerfamiliären sexu­el­len Miss­brauch deter­mi­niert war.

Die Patentin, Bea­trice A., als ein­zi­ges Mädchen vom Vater sehr geliebt, sah ihn zuletzt mit zwei­ein­halb Jah­ren, als er von der Front auf Hei­mat­ur­laub war. Als der Vater wie­der an die Front musste, ver­ab­schie­dete sie sich von ihm, natürlich ohne zu wis­sen, dass er nicht wie­der­keh­ren würde. Es gab auch kei­ner­lei Nach­ richt von sei­nem Tode, sodass Mut­ter und Toch­ter zehn Jahre lang immer wie­der hof­fend annah­men, dass er aus der Gefan­gen­schaft zurückkehren würde: Mut­ter und Toch­ter trau­er­ten nicht, sie hat­ten den Toten, den Leich­nam nicht gese­hen. Als die Pati­en­tin 13 Jahre alt war, ließ die Mut­ter den Vater für tot erklä­ren – Grund genug für die Ent­wick­lung des Schuld­ge­fühls, ihn getö­tet zu haben. In der Pati­en­ tin muss eine eigen­ar­tige phantasmatische Ver­bin­dung von Bezie­hung zum Vater, Sexua­li­tät, Ver­bot und Strafe, und zwar Todes­strafe, ent­stan­den sein. Als sie sechs Jahre alt war, wurde sie von einem Nach­barn sexu­ell miss­braucht, zwar ohne grobe Gewalt­an­wen­dung, jedoch vol­ler Angst und Ver­wir­rung, her­vor­ge­ru­fen aber erst durch die Reak­tion der Mut­ter, die ange­sichts der von Sperma befleck­ten Klei­dung des Mäd­chens in Panik geriet. Wie­der ein Bei­spiel ver­bo­te­ner Liebe – das Kind hatte das Gefühl, die Liebe der Mut­ter ver­lo­ren zu haben. Nach­dem der Vater für tot erklärt wor­den war, hatte die Mut­ter einen Freund; sie ließ die Kin­der nun jedes Wochen­ende allein, hin­ter­ließ ledig­lich eine Tele­fon­num­mer. Die Pati­en­tin nahm spä­ter an, die Mut­ter hätte zunächst den Freund gehabt und habe dann erst den Vater für tot erklä­ren las­sen. Der Bru­der der Pati­en­tin war zwei Jahre jün­ger als sie – es ent­stand die Phan­ta­sie, die Sexua­li­tät der Eltern, die zur Schwan­ger­schaft mit dem Bru­der geführt hatte, hänge mit dem Tod des Vaters zusam­men, ebenso ihre eige­nen sexu­el­len Wün­ sche ihm gegen­über. Wenige Jahre spä­ter, die Pati­en­tin war 18 Jahre alt, erschoss sich der Freund der Mut­ter, weil er an Darm­krebs erkrankt war. Auf Drän­gen der Mut­ter hei­ra­tete sie mit 21 Jah­ren einen beträcht­lich älte­ren Mann und bekam zwei Kin­der; der Mann starb an Krebs, als sie 35 Jahre alt war und kurz nach­dem sie die große Liebe ihres Lebens gefun­den hatte. Fünf Jahre spä­ter wollte sie zum ersten Mal eine The­ra­pie begin­nen, nach­dem bei die­sem gelieb­ten Freund eine Leuk­ämie dia­gno­sti­ziert wor­den war, sie eine hef­tige unrea­li­sti­sche Eifer­sucht ent­wickelt hatte – die als Aus­druck von Tren­nungs­angst ver­stan­den wer­den konnte – und sui­ zi­dal war: Weiter gab sie an, dass sie nicht wisse, wer sie sei und was sie wolle; sie sagte selbst, sie spre­che von sich wie von jemand ande­rem, viel­leicht wolle sie sich schon seit sehr lan­ger Zeit umbrin­gen. Die The­ra­pie begann sie erst, nach­dem der Freund drei Jahre spä­ter gestor­ben war. Als Zei­chen der Nichttren­nung hielt sie ein Haus im Aus­land, das der Freund ihr ver­erbt hatte, das sie aber nur wenige Wochen im Jahr bewoh­nen konnte, unver­än­dert wie eine Ge­denk­stätte, ein Mau­so­leum. Gleich­zei­tig war sie getrie­ben von der Suche nach Män­nern, die sie lie­ben konnte, unter der Vor­stel­lung, sie brau­che Sexua­li­tät, es sei nicht nor­mal, auch nur kurze Zeit ohne sexu­elle Bezie­hung zu leben. Es gelang in den andert­halb Jah­ren, bis sie die The­ra­pie abbrach, nicht, sie zu einer emo­tio­na­len Bewäl­ti­gung all ihrer Ver­lu­ste, auch nicht zu einem tie­fe­ren Ver­ständ­nis ihres Phantasmas von der Ver­bin­dung von Sexua­li­tät und Tod zu kom­men. Es ent­stand der Ein­druck – und das ist ein immer wie­der­keh­ren­des Phä­no­men bei der Behand­lung von »Intro­jekt-Pati­en­ten«  –, dass die Rekon­struk­tion von ver­bor­ge­nen Tat­sa­chen und von unbe­wuss­ten Kon­flik­ ten trotz der Kon­struk­tion einer schlüs­si­gen Psy­cho­dy­na­mik keine Ver­än­de­rung



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bewirkte. Zwei­ein­halb Jahre spä­ter kam sie wie­der und wollte The­ra­pie – gleich nach dem The­ra­pie­ab­bruch damals habe sie eine Bezie­hung zu einem viel jün­ge­ren Mann ange­fan­gen, den sie aber nicht wirk­lich wollte. Wenn er da war, fühlte sie sich opti­mi­stisch, wenn nicht, lebens­über­drüs­sig. Sie wisse nicht, wo die Läh­mung her­komme, sie sitze stun­den­lang vor einem Buch, regungs­los. Als der Mann noch da war, der sich jetzt zurück­ge­zo­gen hat, habe sie wie mit dem ver­stor­be­nen Freund die­sel­ben »Glücks­ge­fühle, als ob ich von innen strah­len würde«, gehabt. Sie habe den einen durch den ande­ren ersetzt. Jetzt sei sie leer. Einem The­ra­pie­be­ginn stand sie sehr ambi­va­lent gegen­über. Nach dem zwei­ten Vor­ge­spräch rief sie an, sie müsse wegen Darm­krebs ope­riert wer­den, sie würde sich bestimmt wie­der mel­den, wenn das vor­bei sei – was nicht gesche­hen ist.

Auch ein star­ker Kin­der­wunsch kann wie ein Ausfüllen der Leere und auch als Wiedergutmachungsversuch ver­stan­den wer­den. Zefira V., die ihren Vater im Alter von ein­ein­halb Jah­ren durch Selbst­mord ver­lo­ ren hatte, hei­ra­tete mit 20 Jah­ren einen Mann, den sie nicht beson­ders liebte. Sie war von der Idee beherrscht, Kin­der haben zu wol­len; obwohl ihr Sexua­li­tät mit ihrem Mann nichts bedeu­tete, unter­nahm sie große Anstren­gun­gen, schwan­ger zu wer­den, indem sie ihn drängte, zum Bei­spiel mor­gens um fünf Uhr weckte, wenn der gün­stig­ste Zeit­punkt für eine Kon­zep­tion gekom­men war. Sie bekam drei Kin­ der, die sie aber vol­ler Schuld­ge­fühle abrupt ver­ließ, als sie sich von dem auto­ri­ tä­ren, sadi­sti­schen und para­noi­den Mann trennte. Zu die­sem Zeit­punkt waren sie zehn Jahre ver­hei­ra­tet – die Ehe der Eltern dau­erte auch zehn Jahre, bis sie durch den Sui­zid des Vaters been­det wurde.

Das Aus­fül­len der durch den unbe­wäl­tig­ten Ver­lust ent­stan­de­nen emo­tio­na­len Leere wird durch ver­schie­dene Mit­tel zu errei­chen ver­ sucht, die ent­we­der auf Iden­ti­fi­ka­tion beru­hen oder die Schaf­fung eines Objektersat­zes – wie bei der Sexua­li­sie­rung – bedeu­ten. Zur ersten Gruppe gehört die Hypo­chon­drie. Auch die Rol­len­um­kehr hat Anteile von Iden­ti­fi­ka­tion (mit der Part­ner- bzw. Eltern­rolle): Bianca H. war nach dem Selbst­mord des Vaters ein Part­ner­er­satz für die Mut­ ter, die alle Sor­gen mit ihr tei­len wollte (bis sie, die Mut­ter, einen Freund hatte), sodass die Pati­en­tin in der Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Vater an seine Stelle trat und dadurch gewis­ser­ma­ßen par­ti­ell den Ver­lust für sich selbst rück­gän­gig machen konnte. Spä­ter war es ihr aus­schließ­lich mög­lich, für ältere Män­ner, die sie idea­li­sierte und die in der Regel mit dem Gebiet des Vaters beruf­lich zu tun hat­ten – er war Schrift­stel­ler gewe­sen –, als bril­lante Sekre­tä­rin zu arbei­ten. Als ob sie den Vater dadurch am Leben hielt, dass er in ihren Män­nern wie­der auf­er­stand. Sie betreute die Werke ihres Vaters, ver­han­delte mit Ver­le­gern, orga­ni­sierte Ver­an­stal­tun­gen; für die eigene beruf­li­che Iden­ti­tät etwas zu tun, war ihr jedoch abso­lut unmög­lich. Aller­dings kam sie sich mit fort­schrei­ten­der The­ra­pie zuneh­mend fremd vor, wenn sie für andere arbei­tete. Jetzt will sie die Tren­nung von ihrem Freund betrei­ben, obwohl es ihr schwerfällt und sie ihn immer wie­der sieht. »Wenn ich mit mei­nem Freund zusammensitze, habe ich das Gefühl, als ob mich was aus mei­nem Kör­per her­aus­zieht, dann krieg’ ich eis­kalte Füße.« Sie ist aber in einem Dilemma: Je mehr

254 Schuldgefühl sie sich trennt, desto stär­ker wer­den ihre kör­per­lich-hypochrondrischen Beschwer­ den: Ein ent­setz­li­cher Druck im Kopf, ein star­ker Nackenschmerz, als säße ihr »etwas [jemand!] im Nacken«, der sie kei­nen kla­ren Gedan­ken fas­sen lässt und sie von Arzt zu Arzt treibt. Es ist, als ob sie den Freund durch eine identifikatorische Ver­bin­dung zum Vater erset­zen würde, der mit den schwe­ren Depres­sio­nen schließ­lich »am Kopf« erkrankt war: Sie hatte als Kind die Erwach­se­nen reden hören, die über­leg­ten, ob die schwere Depres­sion des Vaters durch einen Hirn­tu­ mor oder etwas ähn­liches ver­ur­sacht wor­den sein könnte.

Da das Intro­jekt, das der Ver­lust geschaf­fen hat, Schuld­ge­fühle und drän­gende Unruhe ver­ur­sacht, gibt es auch noch im Erwach­se­nen­al­ ter das Bedürf­nis, den unru­hi­gen Geist im eige­nen Selbst zur Ruhe zu brin­gen, indem durch eine nach­ho­lende Trauer­arbeit eine weit­ge­hende innere Tren­nung erreicht wer­den soll. Um aber Kon­kre­tes über die Umstände des Ver­lusts und über die Per­sön­lich­keit des Ver­lo­re­nen zu bekom­men, sind oft schwie­rige Nach­for­schun­gen nötig, denn sichere Infor­ma­tio­nen hat der über­le­bende Eltern­teil oft völ­lig vor­ent­hal­ten – durch Idea­li­sie­ren oder gänz­li­ches Ver­schwei­gen. Bar­bara K. unter­nimmt große Anstren­gun­gen, um Infor­ma­tio­nen über den Tod ihres Vaters zu bekom­men, der im Krieg ver­misst wurde, als sie noch ein Säug­ling war. Sie war zum ersten Mal über­haupt allein auf einem Fried­hof, sie hat das Grab von Nach­barn gesucht, die sie nur flüch­tig gekannt hatte und die kürz­lich gestor­ben waren. Sie hat sich über­legt, dass sie in das Land, wo ihr Vater ver­misst wurde, fah­ren und sich von dort Erde holen möchte. Die würde sie auf das Grab der Nach­ barn streuen, dann hätte sie etwas von ihrem Vater in der Nähe. Sie könnte dann dort hin­ge­hen und die Hand auf die­ses Grab legen. Sie habe das Gefühl, sie könne sich nicht von ihm ver­ab­schie­den, wenn sie nicht etwas anfas­sen könne. Das dürfe natür­lich kei­ner wis­sen. Wenn sie in das Land fahre, in dem der Vater wohl gestor­ ben ist, wolle sie nie­man­den mit­neh­men, schon gar nicht ihre Mut­ter, denn es gäbe keine Chance, dass sie sie ver­ste­hen würde. Die Mut­ter habe immer alle Gefühle abge­lehnt, sie habe der Pati­en­tin irgend­wann ihren Ehe­ring und alle Papiere des Vaters gege­ben, wolle mit die­sem ver­gan­ge­nen Lebens­ab­schnitt offen­bar nichts zu tun haben. Noch nie wollte sie etwas damit zu tun haben! Sie denkt an einen Ham­ bur­ger Fried­hof, auf dem die Toten in einem bestimm­ten Bereich anonym begra­ben wer­den. Die Ange­hö­ri­gen, die doch anfangs die anonyme Bestat­tung gewollt hat­ ten, kom­men trotz­dem nach eini­ger Zeit und suchen den Ort, wo der Tote begra­ben lie­gen könnte, sie zan­ken sich auch mit ande­ren Hin­ter­blie­be­nen, wes­sen Toter wo liege. Man wolle eben etwas zum Anfas­sen haben. Im Urlaub wolle sie nach Israel fah­ren, um dort Nach­for­schun­gen anzu­stel­len, ob ihr Vater viel­leicht an der Ver­ fol­gung und Ermor­dung von Juden betei­ligt gewe­sen sei. Sie habe jetzt von sich aus Ange­hö­rige des Vaters auf­ge­sucht, nach denen sie geforscht hatte, und habe sich gewun­dert, dass sie von ihrer Exi­stenz wuss­ten und wie herz­lich sie auf­ge­ nom­men wurde.

Zefira V., deren Vater sich suizidierte, als sie ein­ein­halb Jahre alt war, unter­zog sich wäh­rend der lau­fen­den ana­ly­ti­schen The­ra­pie einer Hyp­ nose (ohne vor­her etwas davon mit­zu­tei­len), um auf diese Weise etwas über den Tod des Vaters zu erfah­ren:



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Zuerst habe sie in der Hyp­nose ihre eigene Geburt gese­hen, dann den Vater, der sich von ihr ver­ab­schiedete, indem er in ihr Zim­mer gekom­men sei und ihr freund­ lich zuge­wunken habe, sie habe auch sei­nen Tod gese­hen. Jetzt habe sie Ruhe, sie könne ihn ster­ben las­sen und auch ein neutraleres Ver­hält­nis zur Mut­ter bekom­ men. Es war ihr sehr wich­tig, dass der Vater sich von ihr ver­ab­schie­det habe. Spä­ter fügt sie hinzu, sie habe in der Hyp­nose die Mut­ter wiedererlebt, wie sie dem Vater Vor­hal­tun­gen gemacht habe, wozu denn die Exi­stenz des Kin­des (der Pati­en­tin) gut sei, der Vater habe für sie, die Mut­ter, nun über­haupt keine Zeit mehr. Das wird alles völ­lig neu­tral und ohne jede Emo­tion vor­ge­tra­gen. Auch in die­sem Fall hatte die Mut­ter nie über den Vater gespro­chen, der Selbst­ mord war ein Tabu. Die Pati­en­tin hatte ein dump­fes Schuld­ge­fühl wegen ihrer blo­ ßen Exi­stenz, hatte schon längst die Ver­zweif­lung des Vaters mit ihrer Exi­stenz in Ver­bin­dung gebracht, näm­lich dass er der Mut­ter aus­ge­lie­fert blieb, weil er wegen des Kin­des nicht gehen konnte.

Viel­leicht ging es in dem vori­gen Abschnitt so häu­fig um den Ver­lust eines Eltern­teils durch Selbst­mord, weil er nicht schick­sal­haft, son­ dern durch selbstdestruktive Gewalt her­vor­ge­ru­fen wird, die immer mit Geheim­nis, Partnerersatzansprüchen, Schuld­ge­füh­len des über­ le­ben­den Eltern­teils und dem Gefühl, Vater oder Mut­ter nicht geret­ tet zu haben, ein­her­geht und so die Schuld­ge­fühle poten­ziert wer­den. Auch scheint mir die Fähig­keit des über­le­ben­den Eltern­teils zu trau­ ern im Falle eines Selbst­mords in der Regel ver­rin­gert zu sein, sodass auch das Kind ohne Vor­bild und Unter­stüt­zung in sei­ner Trauer­arbeit bleibt.

Fol­ter und KZ-Haft Schwere Trau­ma­ti­sie­rung bedeu­tet mas­sive Grenz­über­schrei­tung, ein Ein­rei­ßen der Grenze zwi­schen Sub­jekt und Objekt, Täter und Opfer. Das Gewaltsystem dringt in das Opfer ein, nimmt von ihm Besitz; in einer ele­men­ta­ren Regres­sion ist der Täter für das Opfer das ein­zig er­reich­bare, nar­ziss­tisch stüt­zende Objekt (Eissler 1968). Für die erwach­se­nen Opfer mas­si­ver trau­ma­ti­scher Gewalt, inten­si­ver Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gung oder KZ-Haft gibt es eine Fülle von Mit­tei­lun­gen über das Zusam­men­spiel von äuße­rer und inne­rer Rea­li­tät, das zur Zer­stö­rung der Iden­ti­tät des Opfers führt (z. B. Amati 1977; 1990; Amigorena u. Vignar 1977; Bettelheim 1979; Ehlert u. Lorke 1988, Becker 1990). Die Implan­ta­tion des Bösen durch den Fol­te­rer – Amati (1990) nennt es »Durchtränkung« ­–, gefolgt von der Intro­jek­tion, dem Errich­ ten einer ent­spre­chen­den inne­ren Instanz, beschrei­ben Amigorena und Vignar (1977, S. 610) fol­gen­der­ma­ßen: »Das tota­li­täre Regime …

256 Schuldgefühl

dringt gewalt­sam in die psy­chi­sche Welt ein …, eta­bliert sich als inne­ res System, … als Struk­tur des Sub­jekts.« So wird den Au­to­ren zufolge die äußere Gewalt zur »tyran­ni­schen Instanz« im Opfer selbst. Es ist inzwi­schen unzwei­fel­haft, dass Extremtraumatisierung jeden durch­schnitt­lich psy­chisch Gesun­den der­art zu erschüt­tern ver­mag, dass er lebens­lang mit mehr oder weni­ger unspe­zi­fi­schen, immer gra­ vie­ren­den psy­chi­schen und phy­si­schen Sym­pto­men zu kämp­fen hat (Eissler 1963; Eitinger 1990). So ist heute gut belegt,

»daß die prämorbide Per­sön­lich­keit fast ohne Bedeu­tung ist, wenn der Streß so über­wäl­ti­gende For­men annimmt. Fast jeder, der sol­chem Streß aus­ge­setzt wird, muß patho­lo­gisch rea­gie­ren … Die Pro­ban­den der KZ-Gruppe sind häu­fi­ger krank, ihre Krank­hei­ten dau­ern län­ger, sie umfas­sen alle Diagnosegruppen, füh­ren häu­ fi­ger zu Krankenhauseinlieferungen, die sta­tio­nä­ren Behand­lun­gen dau­ern län­ger.

Men­schen sind zu kaum vor­stell­ba­ren Greu­el­ta­ten in der Lage.

»Es erscheint fast unmög­lich, jeman­den zu einem Ver­ständ­nis des­sen zu brin­gen, was die Nazi-Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger wirk­lich waren. Wer kann die Angst vor einer Selek­tion durch den SS-Arzt in einer Krankenbaracke nach­emp­fin­den oder die Ver­zweif­lung und die Lei­den der Opfer, die nackt vor der Gas­kam­mer stan­den? … Wer kann ver­ste­hen, was es bedeu­tet, buch­stäb­lich im Schat­ten der Kamine der Kre­ma­to­rien zu leben … Wie kann man selbst begrei­fen und wie kann man die­ses Begrei­fen irgend ­je­man­dem ver­mit­teln, was die Über­le­ben­den der Lager an Hun­ ger und Durst, an Ver­zweif­lung und Hoff­nungs­lo­sig­keit, an Lei­den und Prü­fun­gen, aber auch an War­ten und Hof­fen, an Sehn­süch­ten und Träu­men gelit­ten haben?« (Ei­tinger 1991, S. 3 f.).

Für die Wir­kung der Fol­ter, die die Iden­ti­tät eines Men­schen irre­pa­ra­ bel zer­bre­chen kann, sei hier nur Améry (1966, S. 38) ange­führt: »Die Tor­tur ist das fürch­ter­lich­ste Ereig­nis, das ein Mensch in sich bewah­ren kann.« Die Hauptsymptome, die der KZ-Haft fol­gen, fasst Eitinger (1990, S. 123) zusam­men: »Chro­ni­sche Angst­zu­stände, Alb­träume, Schlaf­stö­run­gen und Depres­sio­nen waren die wich­tig­sten psy­chi­schen Sym­ptome.« Hin­zu­zu­fü­gen wäre ein chro­ni­sches Schmerz­syn­drom ver­schie­den­ster Loka­li­sa­tion (Krystal 1991). Krystal (1991, S. 239) refe­riert Chodoff (1980), der mit KZ-Über­le­­ben­den psy­cho­the­ ra­peu­tisch gear­bei­tet hat: »Chodoff … ver­wies … auf die anhal­tende Freud­losig­keit der KZ-Über­le­ben­den, die in unglück­li­chen Ehen leben, und beschrieb sie als Men­schen, die ›zurück­ge­ zo­gen in einer depres­si­ven Ver­fas­sung leben …‹ (S. 208). Zu den Nach­wir­kun­gen des Holo­caust … zäh­len die Zer­stö­rung ihres ›Urvertrauens‹, die Unfä­hig­keit, die schlim­men Erfah­run­gen wiederzuerleben und zu beschrei­ben, die nach­träg­li­che Idea­li­sie­rung ihrer Kind­heit, hart­näckige Schuld­ge­fühle  … Wei­ter­hin listet er die dau­er­hafte, in den Lagern durch Regres­sion indu­zierte Stö­rung des Körperbildes, Pro­bleme der Aggressionsbewältigung, die Ten­denz, die Aggres­sion durch Eta­ blie­rung eines star­ren, reli­giö­sen Über-Ichs zu neu­tra­li­sie­ren, auf  …«



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Elie Wiesel (1960) gibt ein erschüt­tern­des auto­bio­gra­fi­sches Bei­spiel von ver­lo­re­ner Lie­bes­fä­hig­keit auf­grund der KZ-Erfah­rung. Freud­ losig­keit, Anhedonie bis hin zur Alexithymie sind Krystal (1991) zufolge Nach­wir­kun­gen von Extremtraumatisierung; ihre extreme Form haben wir bereits als »Musel­mann«-Syn­drom ken­nen­ge­lernt auf­ grund eines chro­nisch gewor­de­nen »closing off« (Lifton 1968), ein Phänomem, das Ferenczi (1933) erst­mals beschrie­ben hat, der auch als Folge des Trau­mas die Aus­bil­dung des »mecha­nisch-gehor­sa­men Wesens« (S. 309) bereits bemerkt hat; Krystal (1991, S. 243) spricht vom »psy­chi­schen Abschot­ten« und vom »automatenhaften Wesen«. Niederland (1968) zu­folge ist das »Über­le­ben­den-Syn­drom« bestimmt von 1. einer durch­ge­hen­den depres­si­ven Stim­mung mit der Ten­denz zu Rück­zug, Apa­ thie, Hilf­lo­sig­keit, Unsi­cher­heit, Man­gel an Initia­tive und Inter­esse. Gele­gent­ lich erfol­gen kurz­zei­tige Wut­aus­brü­che; 2. einem ern­sten und anhal­ten­den Schuld­kom­plex mit weit­rei­chen­der patho­lo­gi­ scher Signi­fi­kanz; 3. ver­schie­den­sten Somatisierungen, psy­cho­so­ma­ti­schen Krank­hei­ten und hypo­ chon­dri­schen Sym­pto­men; 4. Zustän­den von Angst und Erregt­heit, die Schlaf­lo­sig­keit, Alb­träume, moto­ri­ sche Unruhe und innere Span­nung ver­ur­sa­chen; 5. Per­sön­lich­keits­ver­än­de­run­gen, Unter­bre­chung der gan­zen Reifungsentwicklung (ins­be­son­dere bei Pati­en­ten, die in frü­hem Lebens­al­ter in Kon­zen­tra­ti­ons­ la­ger gebracht wur­den); 6. psy­cho­ti­schen oder psy­choseähnlichen Störungen mit Wahnsymptomatik, ins­ be­son­dere para­noi­den Zügen.

Für Niederland (1966, S. 469) ist das Überlebendenschuldgefühl (»survivor guilt«) ganz zen­tral, es liegt dem Über­le­ben­den-Syn­drom zugrunde (s. auch S. 215 ff.). Nach einem oft jah­re­lan­gen Inter­vall auf­ tre­tende Sym­ptome seien dadurch zu erklä­ren, dass das Schuld­ge­fühl nicht mehr ver­drängt wer­den kann; es ver­ur­sacht sowohl die Depres­ sion (und alle ent­spre­chen­den Sym­ptome) als auch die Verfolgungsvorstellungen. Auch spä­ter (1981) stellt Niederland das Überlebendenschuldgefühl zusam­men mit der unge­lö­sten Trauer (S. 420) in den Mit­tel­punkt; der KZ-Ter­ror sei prak­tisch immer mit Ver­lu­sten vie­ler, manch­mal aller Fami­lien­ange­höri­gen ver­bun­den. Die Über­le­ben­den wer­fen sich vor, die Fami­lien nicht geret­tet zu haben, lei­den dar­un­ter, den Ort nicht zu ken­nen, an dem sie begra­ben sind. Das Schuld­ge­ fühl beruhe kei­nes­wegs auf frü­he­rer Feind­se­lig­keit und auf Todeswünschen den Ange­hö­ri­gen gegen­über (S. 421); sein Kern sei das Über­le­ ben selbst, es ent­stamme kei­nes­falls einer alten Psy­cho­dy­na­mik, die Über­le­ben­den wür­den viel­mehr eine »Hyperakusis für Schuld« ent­wickeln.

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Zusam­men mit der schwe­ren Schuldgefühlssymptomatik beob­ach­ tete Niederland (1968, S. 17) Iden­ti­fi­ka­ti­ons­pro­zesse, die dazu füh­ ren, dass die Über­le­ben­den mit eben den Mit­teln bestraft wür­den, mit denen die Leidensgenossen damals ver­folgt wur­den. Als Beleg für die tief­ge­hende Regres­sion der Terroropfer zitiert er Friedman (1949), der selbst ein Über­le­ben­der war: »Man kann nicht über Jahre in einer Welt leben, in der Kan­ni­ba­lis­mus Wirk­lich­ keit wird, in der man mit vor­ge­hal­te­nem Gewehr gezwun­gen wird, seine eige­nen Faeces zu essen, ohne tiefe innere Anpas­sung, ohne zurück­ge­bracht zu wer­den zu einem pri­mi­ti­ven, nar­ziß­ti­schen Sta­dium der Ent­wick­lung« (Über­set­zung M. H.).

Die Mög­lich­keit der sekun­dä­ren Iden­ti­fi­ka­tion mit dem trau­ma­ti­schen Intro­jekt ist für ver­schie­dene Berei­che beschrie­ben wor­den (Bettelheim 1943; vgl. auch Teil II, S. 107 f.), für poli­ti­schen Ter­ror (»sekun­ däre Iden­ti­fi­ka­tion mit der ver­in­ner­lich­ten tyran­ni­schen Instanz«, Parin 1990), für die Depres­sion (Müller-Pozzi 1988) und für den sexu­el­len Miss­brauch (Hirsch 1993a; 1996). Wie wir gese­hen haben, wer­den Schuld­ge­fühle, die durch den Druck eines Introjekts ent­ste­hen, durch die Iden­ti­fi­zie­rung mit ihm gemil­dert. Die Ver­min­de­rung von Schuld­ ge­fühl geht ein­her mit dem Anwach­sen der Schuld, da die identifikatorische Bil­li­gung bzw. Nach­ah­mung des Unrechts des Täters mit-schul­dig macht. Ehlert und Lorke (1988, S. 520) for­mu­lie­ren im Zusam­men­ hang mit dem Phä­no­men der Mit­schuld des Opfers: »Indem das Opfer nun das Bild, das der Täter über die Tat von ihm kon­sti­tu­iert, als Selbst­bild in sich auf­nimmt, macht es sich in einem bestimm­ten Sinne tatsächlich zum ›Kom­pli­zen‹ des Täters, es unter­schreibt sozu­sa­gen die eigene totale Ent­wer­ tung, die der Täter erzwun­gen hat.«

Mei­ nes Erach­ tens wird hier durch den Identifikationsprozess eine Veränderung der Selbstrepräsentanz bewirkt, die über das Schuldgefühle-Machen durch das Intro­jekt hin­aus­ge­hend zu einem Schuldbewusstsein wegen des Mit-Machens, der Komplizenschaft, führt (vgl. Abschn. III, S. 277 f.). Es sollte aber daran gedacht wer­den, dass die sekundäre Iden­ti­fi­ka­ tion eine rela­tiv »reife« Ich-Lei­stung dar­stellt, die das Ich stützt und die Ich-Gren­zen festigt (vgl. Teil II, S. 113). Ein sol­cher Begriff scheint mir nicht zu den Vor­gän­gen der »Durchtränkung«, des gewalt­sa­men Ein­ drin­gens einer »tota­li­tä­ren Instanz« zu pas­sen. Denn in der Situa­tion schwe­rer phy­sisch-psy­chi­scher Trau­ma­ti­sie­rung erfol­gen Verschmelzungsvorgänge, die die Gren­zen zwi­schen Täter und Opfer, Recht und Unrecht ver­wi­schen, zumal archai­sche Regres­sio­nen auf die Stufe frü­ hen nar­ziss­ti­schen Ange­wie­sen-Seins des Opfers eine illu­sio­näre Hoff­



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nung auf Ret­tung durch den Täter als ein­zi­gem nar­zissti­sche Gra­ti­fi­ ka­tion gewäh­ren­den Lie­bes­ob­jekt ent­ste­hen las­sen (Eissler 1968). Es han­delt sich also eher um Mecha­nis­men einer pri­mä­ren oder glo­ba­len Iden­ti­fi­ka­tion (Müller-Pozzi 1988), die einer Auf­he­bung von Gren­ zen und damit einer Ich-Desta­bi­li­sie­rung gleich­kommt. Damit wür­den wir uns wie­der Ferenczis Vor­stel­lung der Unter­wer­fung durch Iden­ ti­fi­ka­tion nähern (vgl. Teil II, S. 100). Ehlert und Lorke (1988, S. 508) spre­chen für die Fol­ter und andere extreme Trau­mata wie Ver­ge­wal­ti­gung von einer erzwun­ge­nen Regres­ sion, die das Schutz­be­dürf­nis an den ein­zig anwe­sen­den »Erwach­se­ nen«, den Täter, rich­ten lässt. Auch Grubrich-Simitis (1979, S. 999) sieht die »Iden­ti­fi­zie­rung mit dem als omni­po­tent erleb­ten Angrei­fer« als »ein Gegen­mit­tel gegen die trotz noch so gestei­ger­tem Nar­ziss­ mus stän­dig dro­hende ›nar­ziss­ti­sche Ent­lee­rung‹«. Die Iden­ti­fi­zie­rung greife auch auf das Über-Ich, beson­ders auf seine archai­schen For­men des Ideal-Selbst über: »Das vom Ver­fol­ger pro­pa­gierte und auf die Ver­folg­ten pro­ji­zierte ent­wer­tete Feind­bild setzte sich sozu­sa­gen sub­ver­siv all­mäh­lich in deren Ideal-Selbst fest, und zwar wie­derum para­do­xer- und tra­gischer­weise sowohl nicht zuletzt mit­tels jenes Abwehrvorgangs, der Iden­ti­fi­zie­rung mit dem Angrei­fer, der die nar­ziß­ti­sche Ent­lee­rung gerade auf­hal­ten sollte« (S. 999).

Eine wei­tere Folge sei die Unfä­hig­keit der Über­le­ben­den, sich neuen Objek­ten zuzu­wen­den, da die »Beset­zung von Reprä­sen­tan­zen frü­he­ rer Objekte« (S. 1000) auf­recht­er­hal­ten blei­ben müsse. Es »hat sich gezeigt, daß in deren Erle­ben die Ver­lo­re­nen nur dann unwi­der­ruf­lich und end­gül­tig ver­lo­ren gege­ben wer­den, in der inne­ren Rea­li­tät erst wirk­lich ster­ben, wenn neue Objekte Bedeu­tung gewin­nen« (S. 1000). Das »hängt wie­derum mit einem zen­tra­len patho­ge­nen Fak­tor der Lagersituation zusam­men, der Erschwe­rung oder völ­li­gen Blockade des Trauerprozesses. Nicht zuletzt die zen­trale schwere Aggressionsproblematik, die im »Zen­trum des Über­le­ben­den-Syn­droms« (Grubrich-Simitis 1979, S. 1001) steht, ver­hin­dert die Trauer­arbeit.

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Transgenerationale Weitergabe »Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eif­ri­ger Gott, der da heim­sucht der Väter Mis­se­tat an den Kin­dern bis in das dritte und vierte Glied, die mich has­sen.« 2. Mose 20, 5

Bis­her ging es um trau­ma­ti­sche Gewalt und Ver­lust, die die Men­ schen selbst erlit­ten hat­ten; ebenso rele­vant, aber eher im ver­bor­ge­nen wirk­sam, sodass man der Wur­zel des Fremd­kör­pers noch schwe­rer auf die Spur kommt, ist die Aus­wir­kung der ver­dräng­ten, ver­leug­ne­ ten und ver­schwie­ge­nen Ver­lu­ste und Trau­mata, die die Liebesobjekte der vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tion getrof­fen haben. Wie­der sind es uner­träg­li­ches Trauma oder unbe­wäl­tig­ter Ver­lust, ver­bun­den mit Schuld und Schuld­ge­fühl oder un­auf­lös­ba­ren Wider­sprü­chen, die die Eltern zwin­gen, die eige­nen unbe­wäl­tig­ten Kom­plexe den Kin­dern zu implan­tie­ren, wo sie als wahr­lich Frem­des, also als Intro­jekt, wirk­sam wer­den. Die Wei­ter­gabe psy­chi­scher Inhalte auf identifikatorisch-introjektiven Wegen von einer Gene­ra­tion zur näch­sten wurde beson­ders von Kestenberg (1974), Grubrich-Simitis (1979), Faimberg (1987), die von »telescoping« der Gene­ra­tio­nen spricht, Kogan (1990b), mit dem Begriff der transgenerationalen Trans­mis­sion, und beson­ders von den fran­zö­si­schen Auto­ren Abraham (1978), Torok (1968) und Cournut (1988) unter­sucht. Eickhoff (1989) bezeich­net das Über­la­gern der Schuld der ersten Gene­ra­tion durch die Sym­pto­ma­tik in der zwei­ten Gene­ra­tion als »Palimpsest« (vgl. Fuß­note S. 95). Han­delt es sich um einen unbe­wäl­tig­ten Ver­lust in der Eltern­ge­ne­ ra­tion, so wird er – nicht etwa die Trauer, eher das Feh­lende, das Loch – vom Kind introjiziert, wel­ches die Trauer, die das Objekt zu lei­sten hätte (Abraham u. Torok 1976, S. 63), auch nicht lei­sten kann. Das Kind wird für die nar­ziss­ti­schen Bedürf­nisse, als Aus­fül­lung der nar­ ziss­ti­schen Wunde der Eltern benutzt (Faimberg 1987), es darf das Ver­bor­gene, das Geheim­nis aber an ihrer Statt nicht offen aus­tra­gen, da es jene zu sehr bedro­hen würde, wie wir es auch im Falle Jessicas (Stolorow u. Stolorow 1989; vgl. Teil II, S. 120) gese­hen haben. Im Falle der KZ-Opfer in der zwei­ten Gene­ra­tion wird über­ein­stim­mend (Gru­brich-Simitis 1979; Kogan 1990b) berich­tet, dass die Kin­der ver­su­chen, sich empa­thisch in die Eltern ein­zu­füh­len, in einer Art Rol­ len­um­kehr sor­gend einen Defekt der Eltern aus­zu­fül­len (Grubrich-Simitis 1979, S. 1006). Dar­über hin­aus sol­len die Kin­der



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»für die Eltern die Brücke zum Leben sein, ihnen nach jah­re­lan­ger Kon­fron­ta­ tion mit dem Tod, eigent­lich wie­derum in Ver­keh­rung der natür­li­chen Folge, das psy­chi­sche Leben schen­ken; sie sol­len die ver­lo­re­nen idea­li­sier­ten Liebesobjekte erset­zen, gleich­sam in deren abge­bro­chene Bio­­gra­phien schlüp­fen und dort zu leben anfan­gen, wo diese zu leben auf­hö­ren muß­ten, also im Grunde die Ermor­ dung von Eltern, Geschwi­stern, Kin­dern, Ver­wand­ten, Freun­den unge­sche­hen machen …« (Grubrich-Simitis 1979, S. 1008).

Es ist offensichtlich, dass die Kinder, mit diesen ungeheuren Aufgaben identifiziert, scheitern müssen und deshalb extreme Schuldgefühle entwickeln. Kogan (1990b) beschreibt ähn­lich, dass die Kin­der Ziele der Pro­jek­tion von Trauer und Aggres­sion der Eltern seien, dass sie in der Sorge mit den unzu­läng­li­chen Eltern sym­bio­tisch ver­schmel­zen, dass sie in der Phan­ta­sie das Trauma der Eltern wieder­zube­leben trach­ten, um sie zu ver­ste­hen, und ver­su­chen, die inne­ren Objekte der Eltern wie­der­her­zu­stel­len, was mit einer Selbst­auf­gabe ein­her­geht. Die Iden­ ti­fi­ka­tion schließ­lich (ich würde Intro­jek­tion sagen) mit der Abspal­tung der Affekte, mit dem »auto­ma­ti­sier­ten Ich-Bereich« der Eltern führe zu den glei­chen Sym­pto­men in der zwei­ten Gene­ra­tion: sich nicht leben­dig füh­len zu kön­nen (Grubrich-Simitis 1979, S. 1008). Diese Vor­gänge erin­nern an die Mecha­nis­men des »Aussaugens« (Ferenczi 1933), der »Aneig­nung» (Faimberg 1987) und des »Stehlens« von Selbstanteilen (Bollas 1987) – wie es in Teil II (S. 121 f. u. S. 123 f.) beschrie­ben wurde. Über die große Schwie­rig­keit der Identi­täts­fin­dung von Nach­ kom­men jüdi­scher Über­le­ben­der der Nazi-Ver­fol­gung in Deutsch­land hat Grünberg (1987) berich­tet; eine gefor­derte Iden­ti­fi­ka­tion mit den Eltern mache das Leben in der Bun­des­re­pu­blik fast unmög­lich (von Sym­pto­men, die der Ver­fol­gung der Eltern auf­grund des trau­ma­ti­schen Introjekts ent­stam­men, zu schwei­gen, M. H.), eine »(rela­tive) Iden­ti­ fi­ka­tion mit den Ver­hält­nis­sen des Lan­des« (S. 492) erzeuge schwere Schuld­ge­fühle den Eltern gegen­über (Trennungsschuldgefühl, M. H.). Es ist aber nicht nur ein Man­gel, den das Kind aus­glei­chen soll und will, es ist gleich­zei­tig ein intrusives, bemäch­ti­gen­des Benut­zen, das allein durch die sym­bio­ti­sche Nähe ent­steht, die sich durch die Bedürf­ tig­keit der Eltern her­stellt. »Die dazu not­wen­dige Nähe erfährt eine Inten­si­vie­rung. Damit erhal­ten sol­che Bezie­hun­gen einen inze­stuö­ sen Cha­rak­ter« (Eckstaedt 1989, S. 20). Inze­stuös meint in die­sem Zu­sam­men­hang ver­ein­nah­mend, ver­schmel­zend. Cournut (1988, S. 85) betont die Überstimulierung durch eine Mut­ter, die gleich­zei­tig mit der abwei­sen­den Kälte »den Kör­per des Kin­des aus­beu­tend in Beschlag nimmt«, die »sich mit dem Kör­per ihres Kin­des als eines Teils ihrer selbst erregte«. Dem­ent­spre­chend fin­det Cournut nicht nur den Typ, der an der »Öde«, der emo­tio­na­len Leere also, der Depres­sion, lei­

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det, son­dern den Typ des »Boden­lo­sen«, der uner­sätt­lich Befrie­di­gung sucht, also manisch ist. Auch Faimberg (1987, S. 12) sieht das Dop­ pelte von Aneig­nung des Kin­des, es also aktiv für die eige­nen Bedürf­ nisse benut­zen, und Ein­drin­gen, die eige­nen Defi­zite und Kon­flikte also intrusiv implan­tie­ren, wie wir es auch für die projektiv-identifikatorischen Grenz­über­schrei­tun­gen gese­hen haben. Bei Ver­trei­bung oder Migra­tion ist es oft nicht nur der Ver­lust der Hei­mat, der selbst erlit­ten wurde, son­dern der, den die ältere Gene­ra­ tion nicht genü­gend betrau­ern konnte, im Falle der deut­schen Kriegs­ ge­ne­ra­tion sicher auch als Wir­kung eines ver­bor­ge­nen Schuld­ge­fühls, die eigent­li­chen Ursa­chen der Ver­trei­bung betref­fend. Ein 20jäh­ri­ger tür­ki­scher Stu­dent, der seit sei­nem sech­sten Lebens­jahr in Deutsch­ land lebte und des­sen Fami­lie über die Gene­ra­tio­nen von Make­do­nien über die Tür­kei nach Deutsch­land gewan­dert war, ver­spürte immer wie­der den Drang, weg­ge­hen, sein Stu­dium ver­än­dern, ein bes­se­res Stu­dium begin­nen zu müs­sen. Wäh­rend der The­ra­pie wollte er mehr­fach in ein »bes­se­res« Land gehen. War er mit der Fami­lie zu Besuch in der Tür­kei, kam er sich bes­ser vor als die Tür­ken, näm­lich als Türke, der in Deutsch­land auf­ge­wach­sen war. In Deutsch­land dage­ gen kam er sich klein im Ver­gleich zu den Deut­schen vor, und er benei­dete auch die Tür­ken in der Tür­kei, die sich mit ihrem Land iden­tisch füh­len konn­ten. Die Part­ner­wahl war bestimmt von der Sehn­sucht nach Aus­län­de­rin­nen – auch aus ödi­pa­len Kon­flik­ten her­aus, die das pseudo-ödi­pale Ver­hal­ten der ver­füh­re­ri­schen Mut­ter und des teils abwe­sen­den, teils auto­ri­tä­ren Vaters sehr geför­dert hatte. Sie seien »bes­ser«. Hatte er einen flüch­ti­gen oder auch nur sehn­süch­ti­gen Kon­takt aus der Ferne mit einem Mäd­chen, lebte er in der stän­di­gen Erwar­tung, dass sie wie­der zurück­ge­hen würde in ihr Land, um dort ihren Ver­lob­ten zu hei­ra­ten, ihn zurück­las­send. Als Haupt­grund für die Unrast des Pati­en­ten konnte die nicht gelebte Trauer über die ver­lo­rene Hei­mat – und zwar sowohl die selbst ver­lo­rene als auch die von den Vorgenerationen ver­lo­rene – erkannt wer­den, die mit der Idea­li­sie­rung des ande­ren, dann »Bes­se­ren« bewältigt wer­den sollte, das aber die guten Eigen­schaf­ ten bald ver­lor, sodass Sehn­sucht und man­geln­des Selbst­ge­fühl blie­ben.

Wie­weit die introjektiven Pro­gramme auf oft unheimliche Weise auf die zweite Gene­ra­tion wir­ken kön­nen, ist auch an fol­gen­den Bei­spie­len zu sehen. Kestenberg (1974, S. 20) wurde auf die Kin­der der Ver­folg­ ten auf­merk­sam durch einen Jun­gen, der selbst nie einer Ver­fol­gung aus­ge­setzt gewe­sen war (wohl aber waren seine Eltern Über­le­bende des Holo­caust) und der »abge­ma­gert und hohl­äugig – wie ein ›Musel­ mann‹ in einem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger – zu mir kam« und die The­ra­peu­ tin wie einen feind­li­chen Ver­fol­ger erlebte. Der Freund einer Pati­en­tin aus mei­ner Pra­xis, des­sen Eltern beide Über­le­bende des KZs Ausch­witz waren, ent­wickelte pani­sche Äng­ste, auf ihn könnte durch das geschlos­sene Fen­ster geschos­sen wer­den, sodass er die Abende auf dem Boden lie­gend ver­brachte in einer Zeit, in der eine rechts­ra­di­kale Gruppe in Deutsch­land



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Schlag­zei­len machte. – Ein ande­rer Pati­ent, Sohn einer Über­le­ben­den aus Ausch­ witz und eines Vaters, der mit gefälsch­ten Papie­ren, einer fal­schen, und zwar deut­ schen Iden­ti­tät also, den Deut­schen ent­kom­men war, ent­wickelte eine abgrund­tiefe Depres­sion, die durch den Aus­lö­ser, eine Frau hatte sich von ihm getrennt, nicht erklärt wer­den konnte.

Auf­grund des Introjekts ent­ste­hen oft auch in den fol­gen­den Gene­ra­tio­ nen Insze­nie­run­gen, die das ursprüng­li­che Trauma abbil­den. Anna F. berich­tet, sie könne nicht mehr mit dem Rau­chen auf­hö­ren, sie rau­che schon lange, seit dem Tod ihrer Mut­ter. Beide Eltern der Mut­ter seien in Ausch­ witz umge­kom­men, die Mut­ter habe ein aben­teu­er­li­ches Leben geführt, als ob sie immer auf der Flucht gewe­sen sei, auch als der Krieg schon längst zu Ende war. Ihr Vater sei Deut­scher gewe­sen; die Eltern hät­ten sich schei­den las­sen, als sie unge­fähr sie­ben Jahre alt war. Die Mut­ter sei nach Israel gegan­gen, wo die Pati­en­ tin dann auf­ge­wach­sen sei.Die Patientin habe dort einen Ara­ber gehei­ra­tet, einen jäh­zor­ni­gen, gewalt­tä­ti­gen Mann, der das gemein­same Kind so miss­han­delt hat, dass es im Alter von einem Jahr gestor­ben ist. Direkt danach begann die schwere Asthmaerkrankung der Pati­en­tin. Sie ging nach Deutsch­land zurück, lernte einen Mann ken­nen, und als sie wie­der schwan­ger wurde, wurde das Asthma sehr viel bes­ser. Als sie Hei­rats­pläne mach­ten, nahm die Sym­pto­ma­tik weiter ab, nach der Geburt ihres Kin­des ver­schwand das Asthma ganz und ist seit­dem nicht wie­der auf­ ge­tre­ten. Aber sie ließ sich schei­den, als das Kind sechs Jahre alt war. – Jetzt steht ihr eine Band­schei­ben­ope­ra­tion bevor, um ihre Rücken­schmer­zen zu bekämp­fen. Sie hat Angst, dabei zu ster­ben, weil sie jetzt so alt ist, wie die Mut­ter war, als sie starb. Sie hat einen neuen Freund, der ist Nicht­rau­cher, der teilt ihr die Ziga­ret­ten zu: Wenn sie eine bekommt, legt sie sie vor sich auf den Tisch, sieht sie immer an, und nach drei Stun­den bringt sie sie ihm mit den Wor­ten: »Siehst du, ich habe nicht geraucht.«

Hier sind einige Wie­der­ho­lun­gen in den Lebens­läu­fen, die auf Intro­ jek­te zurück­ge­führt wer­den kön­nen, fest­zu­stel­len: Die Mut­ter hei­ra­tet ei­nen Deut­schen, obwohl ihre Eltern von Deut­schen umge­bracht wur­ den, die Pati­en­tin, eine Israeli, hei­ra­tet einen Ara­ber. Die Groß­el­tern wer­­den von den Deut­schen misshan­delt und getö­tet, der erste Ehe­mann miss­han­delt ihr Kind, wel­ches stirbt. Sie hei­ra­tet wie­der und lässt sich schei­den, als ihr Sohn fast so alt ist, wie sie damals war, als ihre Eltern sich schei­den lie­ßen. Und die Sym­pto­ma­tik bzw. die Sucht­mit­tel sol­ len ihre Ver­lu­ste kom­pen­sie­ren: das Asthma den Tod des Kin­des, das Rau­chen (trotz des Asth­mas) ver­bin­det sie mit der gestor­be­nen Mut­ter (die eine starke Rau­che­rin war), das Asthma geht zurück, als ein neues Kind sich ankün­digt; die Phan­ta­sie, wie die Mut­ter zu ster­ben, deu­tet eine Ver­ei­ni­gung im Tod an; der neue Freund aber, als ein alter­na­ ti­ves Objekt, hat gute Chancen, das Sucht­mit­tel über­flüs­sig zu machen. Bruggemann (1996) berich­tet:

264 Schuldgefühl »Eine 21jäh­rige jüdi­sche Frau nahm bei Beginn der Psy­cho­ana­lyse Steine aus Ausch­witz mit, ein ›enactment‹, weil sie damals noch keine Worte fin­den konnte. Ihr Vater, des­sen Fami­lie ver­gast wor­den war, trat in betrun­ke­nem Zustand ihre Meer­schwein­chen tot. Ein­mal ver­ga­ste er Mäuse im Ofen und ließ die Pati­en­tin die toten Tiere im Gar­ten begra­ben.«

Abraham (1978, S. 697) berich­tet ähn­liches von einem Pati­en­ten, des­sen Vater im KZ umge­kom­men war. Es wurde erst in der Ana­ lyse bekannt, dass die Mut­ter der Mut­ter den Vater denun­ziert hatte, weil sie ihn als Schwie­ger­sohn nicht akzep­tie­ren konnte. Der Vater wurde damals erst zum Steineklopfen abkom­man­diert und kam dann in der Gas­kam­mer um. Der Pati­ent bewahrte das Geheim­nis, wie er es gleich­zei­tig mit­teilte – leben­dig-tot –, indem er sich als Hobby-Geo­ loge (Steineklopfen) betä­tigte und Schmet­ter­linge sam­melte, die er mit Zyan­kali-Gas tötete!

Reale Schuld in der Vorgeneration – Schuldgefühl in der zweiten Generation Auch die Kinder der Täter sind Opfer einer transgenerationalen Transmission, allerdings nicht eines Traumas, vielmehr einer Weitergabe der – nicht anerkannten – Schuld der Vorgeneration. Im zuletzt geschil­der­ten Fall­bei­spiel bedeutete die Denun­zia­tion bereits reale Schuld in einer Vorgeneration, die dazu führte, dass das Fami­li­en­ge­heim­nis, der uner­träg­li­che Kom­plex, ver­bor­gen blei­ben musste. Nicht aner­kannte reale Schuld muss also als drit­ter Fak­tor neben Ver­lust und Gewalt in Betracht gezo­gen wer­den, für die Ent­ste­ hung fremdkörperartiger Intro­jekte ver­ant­wort­lich zu sein. Während in den bisher geschilderten Konstellationen auch die Eltern Opfer waren und dieselben Schuldgefühle und Symptome entwickelten, wie sie sie an die Kinder delegierten, weist hier der Täter alle Schuld weit von sich, implan­tiert sie vielmehr seinen Kindern projektiv, sodass er selbst nicht unter einem Schuld­ge­fühl lei­den muss, ebensoweinig ein Schuld­ be­wusst­sein ent­wickelt. Das Introjekt, das Schuldgefühl macht, wird also erst in der zweiten (und auch Enkel-)Generation virulent. Hier ein Beispiel für eine solche Schuldübernahme: Ber­na­dette L. unter­zog sich wegen »grund­lo­sen Wei­nens« einer Psy­cho­the­ra­pie in der Kli­nik, in der sie von der The­ra­peu­tin gefragt wurde, ob sie aus Liebe zu ihrem Vater ein­mal gelit­ten habe. Sie habe nichts sagen kön­nen, weil sie ein Leben lang unter dem Schwei­ge­ge­bot des Vaters gestan­den habe; der Vater sei Nazi gewe­sen, nach dem Krieg sollte er ver­haf­tet wer­den. In der Kli­nik sah sie sich als klei­nes Mäd­chen im Bett, wei­nend, vol­ler Angst. Damals hörte sie mar­schie­rende Sol­da­



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ten, Rus­sen, vor denen man sie gewarnt hatte; der Vater war nicht da, man hatte ihn ver­steckt. Viele Leute sind damals geflo­hen, einer wurde auf­ge­hängt … Der Vater ist spä­ter wie­der­ge­kom­men, hat die Kom­mu­ni­sten als schreck­li­che Men­schen dar­ ge­stellt und ihr dro­hend ein­ge­schärft, sie solle nie, nie etwas sagen! Das habe sie in der Kli­nik in der Ein­zel­the­ra­pie erin­nert, habe es aber in der Gruppe nicht sagen kön­nen, von Wei­nen und Bauchkrämpfen geschüt­telt. – Seit der Ado­les­zenz habe sie an hef­ti­gen Bauch­schmer­zen gelit­ten, habe sich nie etwas zuge­traut, obwohl sie zwei Berufe – den der Alten­pfle­ge­rin und der medi­zi­nisch-tech­ni­schen Assi­sten­ tin – erlernt habe. Sie habe früh einen Mann gehei­ra­tet, der sie extrem ter­ro­ri­siert, aus Eifer­sucht bewacht und ein­ge­sperrt und sie ein­mal mit dem Mes­ser bedroht habe. Dar­auf­hin habe sie sich tren­nen wol­len, sei von ihm ver­folgt wor­den, musste ihm sogar die drei Kin­der las­sen! Sie habe nicht genug um sie kämp­fen kön­nen, das sei ihre Schuld. Immer noch habe sie Schuld­ge­fühle, sei depres­siv, könne ihre Kin­der nicht sehen, traue sich nicht zu, wie­der zu arbei­ten. – In der anschlie­ßen­den Grup­pen­psy­cho­the­ra­pie ent­stand der Ein­druck, dass Frau L. noch immer von etwas Unbe­kann­tem bedrückt war. Sie begann, sich mit der Familien­geschichte aus­ein­an­ der­zu­set­zen, ins­be­son­dere, was es bedeu­tete, dass der Vater Nazi war. Die Mut­ter stellte sie als ängst­li­che, unselb­ststän­dige Frau dar, die nicht nein sagen konnte und dem Vater ganz unter­wor­fen war. Die Pati­en­tin hatte kei­nen Kon­takt mehr zu den Eltern gehabt, bis der Vater kürz­lich erkrankt war und sie sich ent­schloss, ihn im Kran­ken­haus zu besu­chen. Sie konnte ihr Ent­set­zen kaum beschrei­ben, als der alte Mann, dem es so schlecht nicht ging, mit gro­ßer Selbst­ver­ständ­lich­keit ver­langte, sie solle sich zu ihm legen, und ihr in ein­deu­ti­ger Weise kör­per­lich nahe kom­ men wollte. Anläss­lich die­ses Vor­falls konnte rekon­stru­iert wer­den, dass sie als Kind vom Vater sexu­ell miss­braucht wurde, was ebenso wie die Nazi-Iden­ti­tät des Vaters ein Geheim­nis war und bis­her ver­drängt blei­ben musste. Das Schwei­ge­ge­ bot des Vaters, an das sie sich erin­nert hatte, konnte eben­so­gut auf den Inzest bezo­ gen wer­den. In der Über­tra­gung kam es nach einer Zeit der soli­da­ri­schen Zusam­ men­ar­beit in der Rekon­struk­tion der trau­ma­ti­schen Ereig­nisse immer wie­der zu aggres­si­ven Aus­brü­chen, die mit dem Gefühl der Pati­en­tin erklärt wer­den konn­ten, durch die The­ra­pie – durch die Ver­pflich­tung, sich an den Rah­men der The­ra­pie zu hal­ten – in ihrer Frei­heit behin­dert zu sein. Sie fühlte sich ein­ge­sperrt, wie sie sich vom Ehe­mann jah­re­lang hatte ein­sper­ren las­sen, als ob sie das Gefäng­nis auf sich neh­men müsste, das der Vater – aus zwei Grün­den – ver­dient hatte. Die Durch­ar­ bei­tung führte zu einem befrie­di­gen­den Ergeb­nis – die Pati­en­tin nahm Kon­takt zu ihren Kin­dern auf, ord­nete ihre beruf­li­che Situa­tion und konnte sich auch wie­der an eine Part­ner­be­zie­hung her­an­wa­gen. Ein Ver­such, beide Eltern mit dem Inzest zu kon­fron­tie­ren, schei­terte aller­dings an der voll­stän­di­gen Leug­nung vonsei­ten der Eltern und brachte der Pati­en­tin von den Geschwi­stern den Vor­wurf ein, ein unver­schäm­tes Atten­tat auf die alten Eltern ver­übt zu haben. Aber sie nahm die Schuld dies­mal nicht auf sich, sie konnte sie viel­mehr da las­sen, wo sie hin­ge­hörte.

Wie in die­sem Fall sind unassimilierte Intro­jekte häu­fig mehr­fach deter­mi­niert. Wäh­rend es hier mehr­fa­che traumatisierende Fami­li­en­ ge­heim­nisse waren, sind es oft Ver­lu­ste in bei­den Eltern und Großelterngenerationen, die sich häu­fen und sich im Intro­jekt des Pati­en­ten poten­zie­ren. Die uneingestandene Schuld der Eltern bildet im Selbst des Kindes ein Introjekt, von dem Schuldgefühle ausgehen – nicht nur die Opfer haben die Schuldgefühle und empfinden die Scham, die die Täter nicht

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haben können oder wollen, auch deren Kindern wird das Unausgesprochene implantiert (vgl. Teil II, S. 191 f.), sodass diese eher Schuld und Scham empfinden als die Eltern, die der Tätergeneration angehören. Die Nachgeborenen schämen sich, Deutsche zu sein, können mit Juden nicht unbefangen umgehen, fühlen sich verantwortlich für etwas, was vor ihrer Geburt geschah. Und zwar gerade dann, wenn die Eltern eben diese Gefühle nicht haben können, da sie sich mit ihrer Verantwortung und ihrer Schuld nicht auseinandergesetzt hatten. Wenn sie es konnten, waren sie auch in der Lage, mit ihren Kindern darüber zu sprechen – und mit ihnen zu trauern. Das Muster der so weitergegebenen Schuld scheint allzu menschlich zu sein, denn es ist in Mythen niedergelegt, dem Ödipus-Mythos zum Beispiel: Laios’ Schuld, den Jüngling Chrysippos vergewaltigt zu haben, soll nach einigen Versionen der Sage Hera veranlasst haben, Laios’ Sohn Ödipus ein furchtbares Schicksal zu bestimmen (Deve­ reux 1953, S. 133). Und es ist natürlich auch die geheim gehaltene Schuld der Eltern, Ödipus ausgesetzt zu haben, die am Anfang der späteren Schuld Ödipus’ steht. Ödipus hätte nicht derartig schuldig werden müssen, hätte er die Schuld der Eltern gekannt und hätten sie sie auch anerkennen und bereuen können. Die Psychoanalyse Freuds hat den Ödipus-Komplex konzipiert, als gäbe es diesen ersten Teil des Mythos nicht, als begänne »Schuld« (Schuldgefühl) bei den ödipalen Bestrebungen des Kindes. Grot­ stein (1990) hat dieses »angeborene Schuldgefühl« im Konzept der frühen Psychoanalyse kritisiert; Devereux (1953, S. 139) bereits lässt den Ödipus-Komplex in der Elterngeneration beginnen: »Der ÖdipusKomplex scheint eine Konsequenz der Sensitivität des Kindes für die sexuellen und aggressiven Impulse seiner Eltern zu sein« (Übersetzung M. H.). Das heißt, wenigstens der pathologische Ödipus-Komplex wäre pseudo-ödipal, will sagen: von den inzestuösen Wünschen der Eltern hervorgerufen (vgl. Hirsch 1993c). Ebenso ist man lange mit dem realen Inzest, auch mit Vergewaltigungen, allgemein umgegangen: Allzuleicht wurde die Initiative der »ver­führerischen« Tochter bzw. der dann vergewaltigten Frau zugeschoben. Dabei wurde übersehen, dass, selbst wenn (aufgrund des entsprechenden Introjekts) ein Mädchen »verführerisch« (geworden) war, der Anfang des Geschehens bei einem erwachsenen Täter lag. Auch der »Pelikan«-Mythos des Physiologus (Seel 1960; vgl. Teil II, S. 191 f.) geht jedenfalls in seiner Verwendung der blutenden Brust der Pelikanmutter als Bild für die die Menschheit von ihrer Schuld befreienden Wunden Christi über den ersten Teil hinweg: Die Eltern versagen zuerst angesichts der Bedürfnisse der Kinder, lassen sie sterben, und



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dann erst retten sie sie durch das eigene Blut, von Schuldbewusstsein immerhin getrieben. Zum Abschluss ein klinisches Beispiel für die Erzeugung von Schuldgefühl im Kind durch Verleugnung der Verantwortung des Erwachsenen. Benigna U. hat sich von ihrem Mann getrennt und eine Woche Urlaub mit ihrem neuen Freund gemacht. Die Kinder ließ sie bei dem durch die Trennung chaotischen, unberechenbaren, sehr aggressiven Vater, ihrem Mann, der gleich nach ihrer Rückkehr ausziehen will. Die Patientin berichtet, ihr Sohn (vier Jahre alt) wolle nicht in den Kindergarten; die Tochter (sechs Jahre alt) habe gesagt, sie wolle auch Therapie haben … Die Patientin fragt mich naiv, was man denn mit solchen Problemen der Kinder machen könne. Es geht natürlich nicht darum, ihr zu raten, sondern auf ihr Schulddilemma hinzuweisen: Einerseits möchte sie ihr Leben endlich selbst gestalten, andererseits ist sie durch ihr Wegfahren verantwortlich für das Ausmaß der Angst der Kinder. Wenn sie das nicht sehen kann und den Kindern auch nicht mitteilen kann, bekommen die Kinder Schuldgefühle, dass sie selbst böse sind. Die Schuld anzuerkennen, auch gerade in der Therapie, ist peinlich, erzeugt Schamgefühle. Das Anerkennen der Schuld würde bedeuten: Klar, dass die Kinder so reagieren, wenn sie in dieser Situation für eine Woche verlassen werden … Es bedeutete, darüber zu trauern, dass die Ehe zu Ende geht: dann brauchen die Kinder nicht sich die Schuld zu geben, ein Schuldgefühl zu entwickeln, dass die Eltern nicht zusammenhalten konnten.

Reale Schuld auf­grund eines Introjekts Reale Schuld in der Vorgeneration kann nicht nur Schuld­ge­fühl, son­ dern wie­derum reale Schuld erzeu­gen. Einen sol­chen Fall von rea­ler Schuld des Opfers, die es auf­grund eines Introjekts auf sich gela­den hatte, beschreibt Kogan (1990a). Die geschil­ derte Pati­ en­ tin hatte zwei­fach die Auf­gabe, elter­li­che Kon­flikte bzw. Ver­lu­ste zu kom­pen­ sie­ren: Die Mut­ter der Pati­en­tin hatte nach Kriegs­ende erfah­ren, dass prak­tisch alle ihre Ange­hö­ri­gen im KZ ermor­det wor­den waren. Bald dar­auf ent­stand die Schwan­ger­schaft mit der Pati­en­tin, aber die leere Depres­sion der Mut­ter hörte nicht auf, die Schwan­ger­schaft und das dann gebo­rene Kind konn­ten sie nicht fül­len. Die Depres­sion der Mut­ ter wurde dem Kind als Intro­jekt, wie ich es sehe, implan­tiert, im Sinne der »toten Mut­ter« (Green 1983), das die Leere, das Gefühl des Unge­ nü­gens nun in der Pati­en­tin bewirkte; sie konnte den Auf­trag der Mut­ ter, alle erlit­te­nen Ver­lu­ste zu erset­zen, in kei­ner Weise erfül­len. Hinzu kam ein wei­te­res Moment des Unge­nü­gens: »Sie war schul­dig durch ihre bloße Exi­stenz, da ihre Geburt die Ver­schlech­te­rung des labi­len Gesund­heits­zu­stan­des der Mut­ter ver­ur­sacht hatte« (Kogan 1990a, S. 76). Also eine wei­tere Kom­po­nente ihres Schuld­ge­fühls im Sinne eines

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Basisschuldgefühls. Der Vater der Pati­en­tin in Kogans Fall­be­schrei­ bung fühlte sich schul­dig, weil er den eige­nen Vater, den Groß­va­ter der Pati­en­tin also, ver­las­sen hatte. Die­ser war gestor­ben, nach­dem der Vater der Pati­en­tin aus­ge­wan­dert war. Des­halb, aus Schuld­ge­fühl, den Vater allein­ge­las­sen zu haben, wollte er einen eige­nen Sohn, der den Namen des Vaters tra­gen sollte; die Pati­en­tin war aber ein Mäd­chen (Basisschuldgefühl wegen des »fal­schen« Geschlechts); sie bekam den ins Weib­li­che ver­wan­del­ten Namen des Vaters: Josepha. Spä­ter wollte der Vater dann, dass (wenig­stens!) seine Toch­ter, die Pati­en­tin, einen Sohn bekäme. Kurz vor sei­nem Tod wurde sie schwan­ger, bekam aber wie­derum eine Toch­ter. Als ob sie sich mit den Auf­trä­gen der Eltern, ein Ersatz für die ver­lo­re­nen Ange­hö­ri­gen und die unge­bore­nen Söhne zu sein, iden­ti­fi­ziert hätte, ver­ur­sachte sie den Tod ihrer Toch­ter durch einen selbst­ver­schul­de­ten Unfall kurz vor dem Jah­res­tag des Todes des Vaters! Eine andere, eher »männliche« Form der introjektiven Übernahme realer Schuld aus der Vorgeneration resultiert in einer identifikatorischen Nachahmung, einer Art nicht gelingender Selbstrettungsversuch durch Schaffung neuer Opfer. Hier ein Beispiel aus der Kindertherapie für die Weitergabe destruktiver Aggression über drei Generationen, ein Fall, über den ich bereits berichtet habe (Hirsch 2000; auch 2004): Armin K. entwickelte im Alter von 12 Jahren derartig aggressive und antisoziale Verhaltensweisen, dass der Verweis von der Schule drohte. Armin lebte allein mit der Mutter, nachdem diese sich von Armins Vater getrennt hatte. Der Vater wurde als extrem aggressiv beschrieben, in jähen Stimmungsschwankungen habe er sowohl Armin als auch die Mutter häufig geprügelt, sei dann oft wieder weinerlich Mitleid heischend gewesen. Er hatte eine Firma in den Konkurs getrieben; die Schuldenlast musste Armins Mutter, die der Vater einmal zu einer Unterschrift gedrängt hatte, allein tragen. Die Familie war nach Übersee geflohen, dort verstärkte sich aber bald die Aggressivität des Vaters, sodass die Mutter mit Armin zurückkehrte, obwohl sie in Deutschland die immensen Schulden abtragen musste. In seiner extremen Kränkung versuchte der Vater, Armin zu entführen, was in letzter Minute mit Polizeigewalt verhindert werden konnte. – Von Armins Vater wurde bekannt, dass er der Sohn eines hohen Nazibeamten war, der von den Alliierten zum Tode verurteilt, am Tage vor der Vollstreckung aber begnadigt und schließlich entlassen worden war, als Armins Vater etwa neun Jahre alt war. Wegen der langen Haft kannte er den Vater gar nicht und war umso mehr entsetzt, als der unbelehrbare, extrem gekränkte Vater eine Schreckensherrschaft installierte, die durch folgendes Bild illustriert werden kann: Die Familie saß stumm am Mittagstisch, die Suppe war noch sehr heiß, sodass das Kind sie nicht essen konnte. Voll stummer Wut über den vermeintlichen Ungehorsam packte der Vater den Nacken des Jungen und drückte sein Gesicht in den Teller mit heißer Suppe … – Armins Aggressionsproblematik zeigte sich bereits in der anfänglichen Kontaktaufnahme, gute und böse Teilobjekte (ein Krokodil attackiert einen Mann, und ein anderer sonnt sich im Liegestuhl) trennte er im Sceno-Test sauber, die beiden männlichen Objekte wohl gleichzeitig er selbst und eine ambivalent ersehnte und gefürchtete



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Vaterfigur. Die in der Übertragung entstandene Aggression wurde bald in einer für einen Pubertierenden durchschnittlich zu erwartenden Form ausgedrückt (die beiden Therapeuten werden in Zeichnungen geradezu massakriert). Dann aber scheint sich, unheimlich genug, etwas Spezifisches abzubilden, das aus der Nazitradition stammen dürfte: Die Vernichtungsphantasie wird in Form von maschinellen Apparaten, die Menschen (die Therapeuten) zerkleinern, dargestellt, die von uns, den Therapeuten, durchaus als Äquivalent der Anlagen fabrikmäßiger Massenvernichtung aufgefasst wurden. Was ich damals so nicht sehen konnte, verstehe ich heute als unbewussten Integrationsversuch des ungeheuerlich Destruktiven der Großelterngeneration durch den Jugendlichen: Die Aggression konnte offenbar weitgehend durchgearbeitet, eher metabolisiert werden, sodass die Übertragungsbeziehung einen positiveren Charakter annahm. Er schrieb mir gegen Ende der Therapie eine Karte ausgerechnet aus Israel, wohin er mit seiner Mutter gefahren war: »Hallo Opa, ich schreibe aus dem fernen Orient. Aber nur, weil ich nicht wusste, an wen ich diese letzte Karte noch schicken sollte. Hier ist es mittags sehr sonnig und warm, morgens und abends allerdings wie im Himalaya eiskalt! Jetzt hab‘ ich aber keine Lust mehr zu schreiben, denn ich habe schon über 10 Karten bekritzelt. Bis Donnerstag dann! Tschüss Armin.« Sicher war seine Anrede »Opa« ironisch-abwertend gemeint, unbewusst meinte er sicher den Großvater, der ja der Nazi-Täter gewesen war. Der ganze Text klingt aber sehr ambivalent und kann die heimliche Sympathie kaum verbergen, als wollte er sich durch die Übertragung auf mich von diesem lösen.

Unge­lö­ster Wider­spruch in der Eltern­ge­ne­ra­tion Intro­jekte ent­ste­hen auch, wenn ein Wider­spruch zwi­schen dem nar­ ziss­tisch-inze­stuö­sen Begeh­ren des Eltern­teils und des­sen verbietendem Über-Ich nicht gelöst ist. Wie­der sind es sub­tile For­men der intrusiven, projektiv-identifikatorischen Wei­ter­gabe an die Kin­der. Das Begeh­ren ist zwar im Sinne des laten­ten Inzests (vgl. Hirsch 1993c) atmo­sphä­risch vor­han­den, eine bewusste Wahr­neh­mung und Ein­ord­ nung oder gar eine Aus­ein­an­der­set­zung ist den Eltern aber nicht mög­ lich. Auch bei der nicht offen sexu­el­len Traumatisierung lässt sich eine gewisse Sexua­li­sie­rung oft nicht über­se­hen, her­vor­ge­ru­fen durch eine sub­tile Überstimulierung und ver­bun­den mit einem Defi­zit an Für­ sorge, wie es beson­ders Cournut (1988, S. 85 u. 92) be­schrie­ben hat. Es wäre dann das ver­pönte, ver­bo­tene müt­ter­li­che inze­stuöse Begeh­ ren, das gleich­zei­tig mit ihrem stren­gen Über-Ich introjiziert würde – wie in dem Fall­bei­spiel von Torok (1968, S. 511), in dem die Mut­ter das eigene Begeh­ren dadurch abwer­tet, dass sie den eri­gier­ten Penis des Jun­gen aggres­siv mit der Hand umfasste mit den Wor­ten: »Siehst du, wenn man [näm­lich die Mut­ter selbst] ange­grif­fen wird, kann man einen Mann am Geschlecht erwi­schen!« Ähn­lich ein Fall bei Zepf und Mit­auto­ren (1986, S. 136), in dem die Mut­ter nach einem lust­vol­ len Spiel im Bett mit dem Sohn ent­setzt über seine Erek­tion mit ihm

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schimpfte. Ein ande­rer, ähn­li­cher Wider­spruch in den Eltern ver­hin­dert die Ent­ste­hung eines Iden­ti­täts­ge­fühls des Kin­des: Ein Kind ist zwar gewollt, aber nicht »rich­tig« (vgl. Basisschuldgefühl, Teil II, S. 152). Die Eltern wol­len gute Eltern sein (Über-Ich), leh­nen das Kind aber ab: Es hat nicht das rich­tige Geschlecht oder ist unge­nü­gend als Ersatz für ein ver­lo­re­nes Objekt (ein totes Geschwi­ster z. B.). In dem von Torok (1968, S. 512) beschrie­be­nen Fall muss­ten Inzestwunsch und Inzestverbot der Mut­ter vom Sohn glei­cher­ma­ßen introjiziert wer­den, der in der Ana­lyse den ver­ständ­li­chen Wunsch ent­wickelte: »Ich mei­ner­seits, ich möchte, dass meine Mut­ter ihr Begeh­ren und Ver­lan­gen nach mir ein­ge­steht« (Her­vor­he­bung M. H.). Denn das sexu­elle Begeh­ren und, wie Ferenczi (vgl. Sabourin 1985, s. o.) es schon erfasste, noch viel mehr das gleich­zei­tige Ver­bot, das zu Schwei­gen und Ver­leug­nung führt, ver­hin­der­ten, dass Mut­ter und Sohn sich gegen­sei­tig gut fin­den konn­ten. Es folgt ein Bei­spiel für die introjektive Übernahme der Identi­täts­ probleme einer Mut­ter durch die Toch­ter, die sich unbe­wusst mit dem Man­gel an Selbst­wert der Mut­ter iden­ti­fi­ziert; das Intro­jekt ist in der Phan­ta­sie ver­bun­den mit und wird aus­ge­drückt durch ein peri­na­ta­les kör­per­li­ches Trauma: Eine Pati­en­tin berich­tet in den Vor­ge­sprä­chen, dass sie nach dem Tod des Vaters schwer depres­siv gewor­den sei, eine Essstö­rung ent­wickelt habe sowie eine Gehstörung, für die kein orga­ni­scher Befund erho­ben wer­den konnte. Sie könne Trep­ pen nicht »flie­ßend« stei­gen: »Als ob mein Leben aus dem Tritt gekom­men wäre.« Sie könne Part­ner­be­zie­hun­gen nicht durch­hal­ten: »Als ob ich einen rich­ti­gen Mann nicht ver­dient hätte.« Sie habe ihre Berufs­aus­bil­dung abge­bro­chen, weil sie sich nichts zuge­traut habe. Ihre Mut­ter war eine schweig­same Frau, sie habe nie gespro­ chen; im zwei­ten Vor­ge­spräch sagt sie: »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …« Die Mut­ter frage zwar, wolle aber eigent­lich gar nichts wis­sen. Die Mut­ter sei immer unzu­frie­den gewe­sen, habe kei­nen Beruf gehabt, habe sich in der Ehe unter­ ge­ord­net, wisse jetzt nichts mit sich anzu­fan­gen. Sie habe eine ältere Schwe­ster; als zwei­tes Kind hätte sie ein Junge sein sol­len. Als Kind sei sie auch wie ein Junge gewe­sen, dadurch war sie der Mut­ter aber zu unbe­quem, die Schwe­ster dage­gen sei vor­ge­zo­gen, sicher mehr geliebt wor­den, sei »wie ein Mäd­chen« gewe­sen, habe sich nie schmut­zig gemacht. Es ist, als habe die Mut­ter das erste Kind als Mäd­chen noch akzep­tie­ren kön­nen, als weib­li­ches Kind, das es ein­mal bes­ser haben sollte als sie selbst. Die Geburt der Pati­en­tin war aber eine Ent­täu­schung, es war wie­der kein Junge. Nun scheint es, als müsste die Pati­en­tin den nega­ti­ven Selbstanteil der Mut­ter tra­gen: Sie kann nichts, wie die Mut­ter, sie spricht nichts, sie weiß nichts, wie die Mut­ter, hat das Gefühl, wie die Mut­ter zu sein: »Eine dumme, unselb­ststän­ dige Frau, nicht wei­ter­ge­bil­det, kein Hobby, nichts!« Und auf der kör­per­li­chen Ebene gibt es eine Ent­spre­chung der Wert­lo­sig­keit, als ob ein kör­per­li­ches Zei­chen am Anfang ihres Lebens introjektartig sich fort­ge­führt hätte: Sie sei durch Kai­ ser­schnitt ent­bun­den wor­den, und dabei sei in ihre Haut geschnit­ten wor­den, sie sei ohne Nar­kose, wie man ihr berich­tet habe, genäht wor­den und habe furcht­bar



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geschrien. Durch einen Unfall spä­ter habe sie Schnittverletzungen im Gesicht erlit­ ten – und wegen immer wie­der­keh­ren­der Schweißdrüsenabszesse habe man sie immer wie­der schnei­den müs­sen …

Über­nom­mene Inzesttraumata Inze­stuöse Trau­mata sind prä­de­sti­niert, introjektiv ein­ge­kap­selt zu wer­den: Sie sind trau­ma­ti­sche Gewalt, die das Ich zu über­rol­len droht, ver­wir­rend, da von einem gelieb­ten Ange­hö­ri­gen ver­übt, mit Rede­ ver­bot belegt, und einen Zeu­gen gibt es nicht. Das Fremde ist hier die Sexua­li­tät des Erwach­se­nen. Aber beson­ders in Behand­lun­gen, in denen das Inzest-Thema stän­dig in der Luft liegt und doch manch­mal über Jahre der Ana­lyse als rea­les Gesche­hen der Ver­gan­gen­heit nicht veri­fi­ziert wer­den kann, ande­rer­seits auch die Ana­lyse der Phan­ta­sien das Thema nicht erübrigt, muss man daran den­ken, dass nicht die Pati­ en­tin oder der Pati­ent selbst das Opfer war, son­dern das Inzest-Thema von einem ande­ren über­nom­men wor­den ist, von der Mut­ter etwa oder einem Geschwi­ster, die Inzest­opfer gewor­den waren. Eine Pati­en­tin kam in der lang­jäh­ri­gen The­ra­pie zu der festen Über­zeu­gung, sexu­ell missbraucht wor­den zu sein, und zwar anhand von Träu­men und ihren maso­chi­sti­schen Part­ner­be­zie­hun­gen. Sie tat alles, um den Miss­brauch end­lich als Rea­li­tät nach­wei­sen zu kön­nen, suchte die Eltern auf und kon­fron­tierte sie. Sie konnte den Ort, an dem im Traum der Inzest statt­ge­fun­den hatte, wider Erwar­ ten nicht fin­den. Als ich vor­sich­tig ihre feste Über­zeu­gung rela­ti­vie­ren wollte, ent­wickelte sie hef­tige Aggres­sionen in der Über­tra­gung. Schließ­lich ver­dich­ tete sich der Ver­dacht, dass nicht die Pati­en­tin, son­dern ihre Schwe­ster Opfer des sexu­el­len Miss­brauchs durch den Vater gewor­den war. Es konnte nun eine kom­pli­zierte Rivalitätsbeziehung zur Schwe­ster auf­ge­deckt wer­den, vol­ler Ambi­ va­lenz, zwi­schen Abscheu und Eifer­sucht der geahn­ten Sexua­li­tät zwi­schen Vater und Schwe­ster gegen­über.

Ähn­lich haben Abraham und Torok (1976) minu­tiös nach­ge­wie­sen, dass der »Wolfs­mann« Zeuge der inze­stuö­sen Hand­lun­gen zwi­schen Vater und Schwe­ster gewor­den war und fortan, hin und her­ge­ris­sen zwi­ schen Inzestwunsch und Kastra­tions­angst, das Geheim­nis und die eigene Betei­li­gung als kryptisches Intro­jekt zeit­le­bens ver­ber­gen musste.

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Ver­lu­ste in der Eltern­ge­ne­ra­tion Je frü­her Eltern Ver­lu­ste erlit­ten haben und je weni­ger sie trau­ern konn­ ten, desto eher wer­den Intro­jekte her­vor­ge­ru­fen, die wie­derum auf die Kin­der introjektartig ein­wir­ken. Die Kin­der wer­den mit der ihnen noch ver­blie­be­nen Vita­li­tät ver­su­chen, die Eltern leben­di­ger zu machen, in einer Art Rol­len­um­kehr die Eltern zu bemut­tern, wie das beson­ders für Über­le­bende des Nazi-Ter­rors beschrie­ben wurde (z. B. Grubrich-Simitis 1979; Faimberg 1987; Kogan 1990b; s. o.). Aber auch weni­ger unfass­bare Schrecken und Ver­lu­ste kön­nen Intro­jekte hin­ter­las­sen, die auf die fol­gen­den Gene­ra­tio­nen wir­ken; die Kin­der ver­su­chen dann, der »Son­nen­schein« für Vater oder Mut­ter zu sein, sie ver­su­chen, von dump­fem Schuld­ge­fühl getrie­ben, die depres­si­ven Eltern zu ret­ten, indem sie end­los weiter für sie sor­gen, sich nicht tren­nen kön­nen, oder indem sie in ihren Part­nern wie­derum neue »Opfer« fin­den, die den Eltern ent­spre­chen und die sie wie­derum »ret­ten« müs­sen, ohne sich tren­nen, das heißt immer auch, im eige­nen Recht leben zu kön­nen. Lydia S., deren Vater Süd­ame­ri­ka­ner war, hatte eine Mut­ter, deren eigene Mut­ter wäh­rend der Geburt ihres drit­ten Kin­des bei einem Bom­ben­an­griff ums Leben kam, als sie (die Mutter der Patientin) neun Jahre alt war. Das Schuld­ge­fühl des Kin­des, der spä­te­ren Pati­en­tin, eine Mut­ter zu haben, wäh­rend die Mut­ter selbst keine hatte, fand ihre kom­ple­men­täre Ent­spre­chung in dem Vor­wurf gegen die Toch­ter (die Pati­en­tin) in der Ado­les­zenz: »Ich ver­stehe nicht, dass du es nicht bes­ ser nutzt, dass du eine Mut­ter hast, ich wäre froh gewe­sen …!« Aber darin ist ein projektiver Anteil ent­hal­ten, der auf eine unsi­chere Grenze zwi­schen Mut­ter und Toch­ter vonsei­ten der Mut­ter hin­weist: Eigent­lich möchte sie mehr von der Toch­ter haben wie von einer Mut­ter, die sie nicht hatte, wäh­rend die Toch­ter sich auf­macht, selb­ststän­dig zu wer­den. Als die Toch­ter klei­ner war, sagte die Mut­ter schon ein­ mal: »Wann bist du end­lich groß genug, dass ich dir alles erzäh­len kann …«

Es sol­len einige Bei­spiele fol­gen von introjektartigen Nie­der­schlä­gen in der Kindergeneration auf­grund schwe­rer Ver­lu­ste, die die Eltern erlit­ten hat­ten. Eine Pati­en­tin (Ange­lika A., die durch das Rau­chen mit der Mut­ter ver­bun­den war) klagt in der therapeutischen Gruppe, wie schlecht es ihr ginge, dass alles aus­ sichts­los sei, dabei habe sie doch eine glück­li­che Kind­heit gehabt. – Ein Grup­pen­ mit­glied bemerkt, dass sie vor kur­zem genau das Gegen­teil berich­tet habe, dass es ihr gutgehe und sie beruf­lich klar­komme. Eine andere Mit­pa­tien­tin glaubt ihr die »glück­li­che Kind­heit« nicht und sagt: »Du bist lie­ber trau­rig über deine ver­lo­ren­ge­ gan­gene Kind­heit, als Leere zu emp­fin­den, du baust dir das auf, um trau­rig sein zu kön­nen. Dann weißt du wenig­stens, was los ist. Trau­rig­keit ist leich­ter aus­zu­hal­ten als Leere.« – Dar­auf die Pati­en­tin: »Ja, wenn du Leere sagst, sehe ich Bil­der, die mich bedro­hen. Ich bin zum Bei­spiel in die Bahn ein­ge­stie­gen und habe gedacht: Nun werde ich depor­tiert …« – Es stellt sich her­aus, dass sie die­ses Wort als Kind



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ken­nen­ge­lernt hatte, damals wurde damit die Flucht der Mut­ter bei Kriegs­ende bezeich­net. Die Mut­ter hatte eine »glück­li­che Kind­heit« auf einem Bau­ern­hof in Ost­preu­ßen, die Mut­ter idea­li­sierte ihre Kind­heit, aus der sie durch die »Depor­ ta­tion« her­aus­ge­ris­sen wor­den war. Kürz­lich hat die Mut­ter das Bild einer Land­ schaft mit wogen­den gel­ben Wei­zen­fel­dern aus ihrer Hei­mat wie­der auf­ge­hängt. Wogende Wei­zen­fel­der bedeu­ten das Glück der Mut­ter; das Weser­berg­land dage­ gen bedeu­tet ihre eigene »glück­li­che Kind­heit«. Ihr spä­te­res Leben als Erwach­ sene, der beruf­li­che Erfolg, die Frei­heit aus der ein­en­gen­den Part­ner­be­zie­hung erlebt sie als »Depor­ta­tion«, ein aus­sichts­lo­ses Unglück. Dabei war die Kind­heit der Pati­en­tin über­schat­tet von der Depres­sion der Mut­ter, von ihrer Leere und Hilf­ lo­sig­keit; vol­ler Schuld­ge­fühl musste man ihr alles abneh­men und recht zu machen ver­su­chen. Die Pati­en­tin sagt jetzt: »Ja, ich habe eine Kinderwelt von Ost­preu­ßen in mir.« Würde sie sich davon tren­nen, würde es die Mut­ter nicht aus­hal­ten. Sie würde Schuld auf sich laden, die Mut­ter noch ein­mal depor­tie­ren, also zieht sie es vor, ihr rela­tiv akzep­ta­bles Leben, mit dem sie eigent­lich zufrie­den sein könnte, zu ent­wer­ten und als »Depor­ta­tion« aus einer idea­li­sier­ten Kind­heit zu erle­ben. In der­sel­ben Gruppe wol­len sich zwei Pati­en­tin­nen – Mela­nie B. und Bet­tina B. – von ihren Ehe­män­nern tren­nen. Mela­nie B. hat große Angst vor ihrer neuen Arbeits­stelle, sie will den Urlaub allein ver­brin­gen und hat mit ihrem Mann einen Ter­min bei einer Bera­tungs­stelle ver­ein­bart. Vor einer Woche hatte sie einen Traum: Sie ist bei ihren Eltern in der Garage und baut sich im Dun­keln und im Regen ein Fahr­zeug zusam­men, weil sie wegwill. Sie macht einen Schlauch von einem Brunnenmotor ab; die Garage der Eltern steht unter Was­ser. Der Schlauch und die Dich­tun­gen sind morsch. Sie muss das alles unbe­dingt ver­ber­gen. – Sie sagt gleich, dass sie sich schäme, einen »Ingenieurstraum« zu haben, denn ihr Vater war Inge­ni­eur. (Sie schämt sich, weil sie mit dem Vater ver­bun­den ist, das wider­spricht ihrem Ideal-Ich; sie hat aber Schuld­ge­fühle [»alles ver­ber­gen«], dass sie gehen will.) Es wird klar, dass sie unge­heure Schuld­ge­fühle hat, sich von ihrem Mann zu tren­nen, stän­dig über­legt, wie es ihm geht, ob er sui­zi­dal ist, ob sie ihm das antun kann, ob sie das Recht dazu hat. Schon wenn sie ein­mal nach­mit­tags mit Kol­le­gen zusam­men­trifft, sogar wenn sie in ihr Zim­mer geht und der Mann im Wohn­zim­mer bleibt, hat sie Schuld­ge­fühle. Bet­tina B. berich­tet, dass sie das Gefühl hat, als ob ein Geschwür in ihr sitze. Die­ses Gefühl habe mit der Nähe zu ihrem Mann zu tun, die er immer wie­der her­stel­len will, indem er dau­ernd ver­sucht, sie zu über­re­den, wie­der über ihre Bezie­hung zu spre­chen. Sie hat extreme Schuld­ge­fühle, diese Gesprächswünsche abzu­leh­nen, sie bekommt Asthma und migrä­ne­ar­tige Kopf­schmer­zen. Sie berich­ tet, dass sie »extrem blöde Träume« hat: Sie ist mit Freun­den in Urlaub gefah­ren, wo sie aber nur abscheu­li­che Hotels und öde, leere Land­schaf­ten antref­fen. Sie wech­seln aber den Ort nicht, weil Frau B. es ihrem Mann, der ihnen nach­ge­reist ist, und der sie im Traum an ihren Vater erin­nert, nicht erklä­ren könne, warum sie wegwolle.

Es wird klar, dass die unheim­li­chen Bin­dun­gen an die unge­lieb­ten Män­ ner, die in der Trennungssituation und der bevor­ste­hen­den Urlaubs­zeit wie­der ver­stärkt wer­den und ver­stärkt Schuld­ge­fühle machen, mit den Vaterbindungen bei­der Pati­en­tin­nen zu tun haben. Beide haben mutterlose Väter, die als Kin­der weg­ge­ge­ben wur­den: Die Mut­ter des Vaters von Mela­nie B. starb bei sei­ner Geburt, er wurde zu Ver­wand­ten in das Hei­mat­land sei­nes Vaters (die­ser hatte durch Emi­gra­tion die Hei­mat

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ver­lo­ren …) gege­ben, wo er eine fremde Spra­che lernte. Als der Vater (Groß­va­ter der Pati­en­tin) wie­der hei­ra­tete, wurde das Kind mit sechs Jah­ren zurück­ge­holt, ver­lor aber dadurch wie­derum die neue Hei­mat. Der Vater von Bet­tina B. ver­lor seine Eltern, weil er in der Nazi-Zeit in eine Fami­lie in Pflege gege­ben wurde, um zu ver­ber­gen, dass seine Mut­ter Jüdin, er also Halb­jude war. Es wird klar, dass beide Frauen noch immer ihre Väter ret­ten, deren Leere aus­fül­len müs­sen. Sie haben sich ent­spre­chende nar­ziss­tisch bedürf­tige Part­ner gesucht, mit denen sie das alles wie­der­ho­len. Ihre eigene Bedürf­tig­keit darf nicht erlebt wer­den, keine Gefühle dazu dür­fen her­aus­kom­men. Sie ver­su­chen, sich selbst zu ret­ten, indem sie ihre Väter ret­ten, während das Schuldgefühl sie hindert, diese Aufgabe hinter sich zu lassen. Das Unheim­li­che des Introjekts, das immer wie­der­kehrt und an die fol­gen­den Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben wird, wurde an der Geschichte einer Pati­en­tin, Lisbetta V., beson­ders deut­lich, deren Vater sowohl die Mut­ter als auch – schuld­haft? – die erste Ehe­frau ver­lo­ren hatte: In gera­dezu mysti­scher Weise erlangte das Lebens­al­ter von neun Jah­ren eine Bedeu­tung. Als der Vater der Pati­en­tin seine Mut­ter durch Tod ver­lor, war er neun Jahre alt. Die Pati­en­tin hatte drei ältere Halb­schwe­stern. Als die älte­ste Schwe­ster neun Jahre alt war, bekam deren Mut­ter, die erste Frau des Vaters also, ihr drit­tes Kind, wodurch die Älte­ste sich völ­lig allein­ge­las­sen fühlte. Als die zweit­äl­te­ste Halb­schwe­ster neun Jahre alt war, starb ihre Mut­ter nach einem Ver­kehrs­un­fall; der Vater hatte am Steuer geses­sen und war selbst schwer ver­letzt wor­den. Der Vater hatte dann wie­der gehei­ra­tet (die Mut­ter der Pati­en­tin); als die jüng­ste Halb­ schwe­ster neun Jahre alt war, wurde die Pati­en­tin gebo­ren, für die Stief­schwe­ster blieb nun keine Zeit mehr. Als die Pati­en­tin selbst neun Jahre alt war, zog die Fami­ lie aus der dörf­li­chen Umge­bung in die Groß­stadt, die Pati­en­tin wehrte sich gegen diese Tren­nung, wollte nicht weg, konnte natür­lich nichts aus­rich­ten.

Es hat den Anschein, dass der Vater also auf­grund des eige­nen Introjekts, das dem Ver­lust der Mut­ter ent­sprach, gezwun­gen war, jedem sei­ner Kin­der ein Stück Mut­ter weg­zu­neh­men, ent­we­der durch die Geburt eines neuen Kin­des oder gar durch Tod, und zwar im sel­ben Alter, in dem er die eigene Mut­ter ver­lo­ren hatte. Auch die Pati­en­tin selbst ver­lor noch etwas, als sie die­ses Alter erreicht hatte, die Hei­mat – ein Stück Mut­ter sozu­sa­gen.

III. Schuld und Schuld­ge­fühl

Das Schuld­ge­fühl ist mehr­fach deter­mi­niert In die­sem Abschnitt soll es über die Mehr­fach-Deter­mi­niert­heit der Über-Ich-Anteile und damit der verschiedenen Schuldgefühl-Komponenten hin­aus um das Zusam­men­tref­fen von Schuld­ge­fühl und Schuld gehen, das heißt um das Auf­zei­gen und Bestim­men von Antei­len des Schulderlebens in einem Indi­vi­duum, das teils ver­schie­de­nen Schuldgefühlsqualitäten, teils auch rea­ler Schuld an einem bzw. Ver­ant­wor­ tung für einen Scha­den ent­spricht, der einem ande­ren oder sich selbst ange­tan wurde. Der­ar­tige tra­gi­sche Ver­knüp­fun­gen, die aus einem lich unschul­ di­ gen Opfer einen schul­ di­ gen Täter machen, ursprüng­ beru­hen auf kom­pli­zier­ten Internalisierungs- und Identifikationsprozessen (vgl. Teil II., S. 90 ff. u. S. 242 ff.). Ich erin­nere an Zefira V., deren Exi­stenz bereits uner­wünscht war, denn sie sollte abge­trie­ben wer­den (Basisschuldgefühl), deren Vater sich suizidierte, als sie ein­ ein­halb Jahre alt war (Schuld­ge­fühl auf­grund frü­hen trau­ma­ti­schen Ver­lusts), die dann Part­ner­er­satz für die Mut­ter sein musste (Rol­len­ um­kehr), selbst­ver­ständ­lich damit über­for­dert war und ent­spre­chend Schuld­ge­fühle ent­wickelte, die­ser Auf­gabe nicht genü­gend gerecht zu wer­den. Auf­grund man­geln­den Selbst­wert­ge­fühls und mit ungelebter Aggres­sion ver­bun­de­ner Vater-Sehn­sucht erfolgte eine Part­ner­wahl, aus der eine der­art uner­träg­li­che Ehe resul­tierte, dass die Pati­en­tin ihre Kin­der ebenso abrupt – schuld­haft – ver­ließ, wie sie von ihrem Vater – ohne Abschied – ver­las­sen wor­den war. Eine sol­che Abfolge ist ebenso tra­gisch wie all­täg­lich; die Frage aber, wo ein irra­tio­na­ les Schuld­ge­fühl auf­hört und reale Schuld beginnt, ist hier bereits schwer zu beant­wor­ten. Natür­lich gibt es keine Schuld des Feten an sei­ner beab­sich­tig­ten Abtrei­bung, eines Klein­kin­des am Selbst­mord eines Eltern­teils, am Tod eines Geschwi­sters, der ein­trat, als man selbst noch gar nicht gebo­ren war. Ande­rer­seits kann man eine Ver­ ant­wor­tung sowohl für die Part­ner­wahl als auch beson­ders für das Ver­las­sen der Kin­der nicht über­se­hen, und nicht wahrgenommene Verantwortung bedeutet Schuld, auch wenn die Schuld des­halb tra­ gisch zu nen­nen ist, weil sie unaus­weich­lich auf­grund des introjekt-

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artigen Pro­gramms mehr­fa­cher frü­her Traumatisierungen ent­stan­den ist. In einem ande­ren Fall (Mar­tin Z.) brachte sich der Vater um, als der Junge fünf Jahre alt war – auch hier war die Exi­stenz unge­wollt, aus­ge­ drückt durch die Familienlegende, nach der durch die Geburt des Kin­ des das schwere Asthma der Mut­ter aus­ge­löst wor­den war, auch hier ent­stand eine Partnerersatzdynamik, oben­drein pseudo-ödi­pal sexua­li­ siert, die schwere Schuld­ge­fühle nach sich zog. Um letzt­lich die furcht­ ba­ren Schuld­ge­fühle zu ver­mei­den, Frauen immer wie­der ent­täu­schen zu müs­sen, wenn er die Bezie­hung nicht mehr aus­hielt und sich tren­nen musste, hei­ra­tete er, machte damit aber – schuld­haft – ein Ver­spre­ chen, das er nicht hal­ten konnte. Auch dem Kind sei­ner Frau, dem er ein Vater sein wollte, zum Teil als Wiedergutmachungsversuch sei­nes eige­nen Schick­sals gedacht, konnte er das impli­zite Ver­spre­chen, eben­ falls ver­läss­lich da zu sein, nicht hal­ten. Sicher ist hier eben­falls Schuld ande­ren Men­schen gegen­über ent­stan­den. Ein Bei­spiel viel­fäl­ti­ger Über­la­ge­rung und Bedin­gung von Schuld­ ge­fühl und Schuld fin­det sich in fol­gen­der Szene einer Gruppenpsychotherapiesitzung: Fanny G.-L. (vgl. Teil II, S. 216) ist zwar seit eini­gen Mona­ten in der Gruppe, hat sich aber bis­her wenig ein­brin­gen kön­nen. Sie kommt wegen ihres Termindrucks oft zu spät zu den Sit­zun­gen. Sie will es allen, das heißt dem Arbeit­ge­ber und den Kol­le­gen und der Gruppe, recht machen und ver­sucht, sich durch­zu­la­vie­ren. Sie hat große Angst vor der The­ra­pie, will aber nicht auf­hö­ren, weil sie meint, sie müsse sie durch­hal­ten. Der The­ra­peut möchte ihre unrea­li­sti­sche Angst vor Strafe durch die Gruppe auf ihre Ursprünge zurück­ge­führt haben. Fanny G.-L. hat zwei Bil­der von ihrer Her­kunfts­fa­mi­lie: Ein­mal die treu­sor­gen­den Eltern (»Wir tun alles für euch«), zum andern einen toben­den Vater, mit einem Schür­ha­ken über den Bru­der gebeugt, und eine Mut­ter, die psy­chisch zu dekom­pen­sie­ren drohte und auf­ge­löst mit Herzschmerzen und Körperzittern an ihre Umge­bung um Hilfe appel­lierte, aber »Lass mich in Ruhe!« rief, wenn die Pati­en­tin damals her­bei­eilte, um ihr zu helfen. Der jäh­zor­nige Vater ließ kei­nen Raum für eine eigene Mei­nung, die Mut­ter brach bei Aus­ein­an­der­set­zun­gen zusam­men, sie weinte immer gleich. Jetzt gibt es höch­stens noch Krach, wenn Fan­nys acht­jäh­ri­ger Sohn, den sie jeden Tag zu ihren Eltern bringt, zu sehr tobt. Man dürfe die Mut­ter nicht zu sehr bela­sten. Obwohl die Pati­en­tin weiß, dass es für ihren Sohn nicht opti­mal ist, meint sie, ihn ihren Eltern nicht weg­neh­men zu kön­nen: »Dann nehme ich mich lie­ber als Mut­ter zurück.« Sie fürch­tet, dass ihre Eltern nur Klein­krieg haben, wenn sie den Jun­gen nicht mehr hin­gibt und sie nicht sinn­voll beschäf­tigt sind, zumal der Vater inzwi­ schen pen­sio­niert ist. Ein Grup­pen­mit­glied ist ent­setzt, dass sie von den Eltern so abhän­gig ist und sich noch immer sorgt und immer alles auf sich nimmt und alles ent­schul­digt, sogar ihren Sohn hin­gibt, damit die Eltern etwas davon haben. – Die Gruppe erar­bei­tet, dass der Sohn wie eine Nabel­schnur eine Ver­bin­dung zu ihren Eltern her­stellt, die abrei­ßen würde, wenn sie ihn nicht mehr hinbrächte. Frau G.-L. hat Sorge, dass sich die Eltern dann abge­scho­ben füh­len wür­den; ande­rer­seits kann sie so ganz­tags



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arbei­ten, hat also auch etwas davon. Es wird klar, dass sie auf diese Weise ihre Eltern auch täg­lich sieht, dass auch ein Wunsch dahin­ter­steckt, noch immer etwas von ihnen zu bekom­men. Ein Grup­pen­mit­glied spürt eine tiefe Ver­pflich­tung bei Frau G.-L., sich um ihre Eltern zu küm­mern. Sie gibt ihnen ihren Sohn und will gleich­zei­tig von ihnen etwas haben.

An die­sen Bei­spie­len kann man deut­lich sehen, dass aus irra­tio­na­len Schuld­ge­füh­len, denen man nach­zu­ge­ben gezwun­gen ist, reale Schuld ent­ste­hen kann: Aus Schuld­ge­füh­len, für die Eltern nicht genug zu sor­gen (auf­grund alter Rollenumkehrdynamik) wird in dem einen Fall eine Ehe ein­ge­gan­gen und einem Kind ver­spro­chen, Vater für es zu sein, im ande­ren Fall das eigene Kind sozu­sa­gen einer unrea­li­sti­schen, aber natür­lich auch nicht unei­gen­nüt­zi­gen Vor­stel­lung von fami­liä­ rer Har­mo­nie, die zu erhal­ten man sich ver­ant­wort­lich fühlt, geop­fert. Auch falsch ver­stan­de­nes Mit­leid – eine Art Schuld­ge­fühl Bedürf­ti­gen und Lei­den­den gegen­über, beson­ders in hel­fen­den Beru­fen – führt oft zu einem Ver­spre­chen zu hel­fen, das nicht ein­ge­hal­ten wer­den kann, sodass der Scha­den und damit reale Schuld über­haupt erst dadurch ent­steht, dass nicht von Anfang an eine rea­li­sti­sche Grenze gezo­gen wor­den ist, zumal ähn­lich wie im Bei­spiel der Fanny G.-L. oft nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann, dass der Hel­fer sich gerade von den Bedürf­ti­gen selbst noch etwas holen möchte.

Die Schuld des Opfers Wenn der Umgang mit dem Begriff »Schuld« durch die Beschäf­ti­ gung mit der Exi­sten­zi­al­phi­lo­so­phie und den daseinsanalytischen Schu­len sozu­sa­gen all­täg­lich gewor­den ist, weil man Schuld selbstverständlich als Teil der conditio humana begreift, ver­liert man leicht das Gefühl für die Bedeu­tung, die ihm im all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch anhaf­tet. Schuld wird allzu leicht in die Nähe von Sünde und damit in einen Zusam­men­hang einer buch­stäb­lich Unmensch­li­ches for­dern­den Moral gestellt, wäh­rend der Begriff doch ledig­lich meint, dass Schuld bereits zum blo­ßen mensch­lichen Sein gehört und Han­deln immer auch Schuldigwerden ent­hält. Über die­ses All­ge­meine hin­aus defi­niert man beson­dere Schuld durch den kon­kre­ten Scha­den, den ein ande­rer oder man selbst durch eine Tat erlei­det. Auch kann man das Anteil­ mä­ßige durch den Begriff der Mit­schuld oder Mit­ver­ant­wor­tung aus­ drücken, das Opfer trägt einen Teil der Schuld oder Ver­ant­wor­tung, wenn es auf­grund von Iden­ti­fi­ka­tion zu schä­di­gen­den Hand­lun­gen kommt.

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Für das Opfer fami­liä­ren sexu­el­len Miss­brauchs ist die Aner­ken­ nung, ja das Den­ken über­haupt des Mit­ge­macht-Habens, des Auch-gewollt-Habens des doch schreck­li­chen Angriffs auf die kör­per­lich-psy­ chi­sche Inte­gri­tät eines Kin­des, die Aner­ken­nung der Kol­lu­sion und der eige­nen Lust am Inzest-Gesche­hen das Schwer­ste in der The­ra­pie zu Ent­deckende und zu Bear­bei­tende, ver­bun­den mit größ­ten Schuld- und Scham­ge­füh­len. Ebenso berei­tet es größte Schwie­rig­kei­ten, im Opfer ent­we­der schwe­rer fami­liä­rer Gewalt oder oft unvor­stell­ba­rer Gewalteinwirkungen wie Fol­ter oder KZ-Haft, Ver­ge­wal­ti­gung und Kriegs­ ein­wir­kung einen eige­nen Anteil, eine Mit­wir­kung, also Schuld oder Mit­schuld, Mit­ver­ant­wor­tung zu sehen. Da man selbst auf der Seite des miss­han­del­ten und missbrauch­ten Kin­des, des pri­mär unschul­di­gen Opfers poli­ti­scher oder ras­si­sti­scher, kaum begreif­ba­rer Ver­fol­gung steht, ist es sehr schwer, einen Teil des Opfers anzu­er­ken­nen, der mit dem Täter iden­ti­fi­ziert ist. Grubrich-Simitis (1979, S. 1016) spricht von »Kol­la­bo­ra­tion mit dem Täter«, ebenso Oliner (1995, S. 307). Es ist wie ein letz­tes Tabu, man wagt buch­stäb­lich nicht, daran zu den­ken. Doch wir haben Mecha­nis­men der Internalisierung von Gewalterfahrung ken­nen­ge­lernt, die zu mas­si­ven Iden­ti­fi­ka­tio­nen mit dem Täter und der Gewalt füh­ren. Für die Opfer des Nazi-Ter­rors war oft die »Iden­ti­fi­zie­rung mit der Nazi-Moral« (Bergmann 1995, S. 333) die ein­zige Mög­lich­keit zu über­le­ben. Die beiden Formen der Iden­ti­fi­ka­ tion mit der ver­in­ner­lich­ten Gewalt (mit dem Aggressor, mit dem Intro­ jekt) äußern sich ent­we­der darin, dass das Opfer eben die­selbe Gewaltform gegen sich selbst rich­tet, also oft lebens­lang Opfer bleibt, oder aber dass in einer Opfer-Täter-Umkehr die erlit­tene Gewalt nach außen gegen Schwä­chere gerich­tet wird. Mei­nes Erach­tens ent­steht beson­ders im letz­te­ren Fall Schuld, auch wenn das ursprüng­li­che Opfer keine Wahl hat. Über­le­bende von KZ-Haft externalisierten häu­fig in einer Art aggres­si­ven Kontrollverlusts die inter­na­li­sierte Gewalterfahrung, indem sie ihre Kin­der – wegen deren selbst­ver­ständ­li­cher Leben­dig­ keit – als Ter­ro­ri­sten erleb­ten, sie nann­ten sie wütend »klei­ner Hit­ler«, wie berich­tet wird (Bergmann 1995, S. 342). Bernhard Schlink (2002, S. 35) schreibt: »Dass die Opfer selber schuldig werden konnten, mag man kaum aussprechen. Die Furchtbarkeit ihres Leidens verschlägt einem die Feststellung ihrer Schuld. Aber in den Kindern wird die Wahrheit, die man nicht aussprechen mag, sichtbar.« Es liegt sicher eine Grenzverwischung von Täter und Opfer zugrunde – indem die Opfer des Ter­rors in ihren Kin­dern die Täter wie­der­er­le­ben, machen sie diese zu Opfern, wer­den selbst zu Tätern. Auch wenn die Iden­ti­fi­ka­tion und die Wen­dung gegen Schwä­chere aus exi­stenzi­el­ler Not, aus Grün­den des blo­ßen Über­lebens not­wen­dig



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war, ist Schuld inso­fern gege­ben, als ein ande­rer Scha­den erlei­det. Ich würde sogar noch einen Schritt wei­ter­ge­hen und auch dem Opfer eine Schuld zuschrei­ben, das ganz im Sinne des Täters, mit dem es sich iden­ti­fi­ziert, das eigene Leben immer wie­der zu zer­stö­ren sucht, eine Schuld auf­grund der Ver­nach­läs­si­gung der exi­sten­zi­el­len Pflicht, auch das eigene Leben opti­mal und »lebens­wert« zu gestal­ten. Die unbe­wusste Dyna­mik der Mit­tä­ter­schaft wirft auch ein Licht auf das viel­fach beschrie­bene Gefühl der Schuld am Tod so vie­ler Lei­dens­ ge­nos­sen bei Über­le­ben­den des Nazi-Ter­rors (vgl. Teil II, S. 199 f.). Die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Täter in Ferenczis Sinn führt nicht nur zu dem Gefühl des Opfers, selbst schlecht, sozu­sa­gen »zu Recht« Opfer zu sein, son­dern erstreckt sich ebenso auch auf die Schick­sals­ge­nos­sen, die unbe­wusst ent­spre­chend ebenso »zu Recht« Opfer wären, da man sich mit dem Täter iden­ti­fi­ziert, tra­gischer­weise seine Tat aner­kennt. Wie weit die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggres­sor auf einer intrapsychischen Ebene mit dem ent­spre­chen­den Intro­jekt gehen kann, hat Bettelheim (1979, S. 89 f.) ein­drück­lich beschrie­ben: »Die Art und Weise, wie diese Gefan­ge­nen von den alten Häft­lin­gen manch­mal tage­lang miß­han­delt und lang­sam umge­bracht wur­den, diese Methode stammte von der Gestapo … Die alten Gefan­ge­nen akzep­tier­ten auch Wert- und Ziel­vor­stel­ lun­gen der Nazis, und sie taten dies selbst dann, wenn es ihren eige­nen Inter­es­sen zu­wi­der­lief  … Die Befrie­di­gung, die man­che alten Gefan­ge­nen bei der Tat­sa­che emp­fan­den, daß sie bei dem … Appell … wirk­lich muster­gül­tig strammgestan­den hat­ten, läßt sich nur durch die Tat­sa­che erklä­ren, daß sie die Wert­vor­stel­lun­gen der SS ganz und gar als ihre eige­nen ver­in­ner­licht hat­ten. Sie hat­ten ver­sucht, Teile von alten SS-Uni­for­men zu erwer­ben,  … ahm­ten sogar die Frei­zeit­be­tä­ti­gun­gen der SS nach.«

Ähn­lich berich­tet Améry (1966, S. 25):

»Unwei­ger­lich stellte sich nach einer gewis­sen Zeit etwas ein, das mehr war als nur Resi­gna­tion und das wir als Akzep­tie­rung nicht nur der SS-Logik, son­dern auch des SS-Wert­sy­stems bezeich­nen dür­fen … Der Intel­lek­tu­elle aber, der nach dem Zusam­men­bre­chen des ersten inne­ren Wider­stan­des erkannt hatte, daß sehr wohl sein könne, was nicht sein darf, der die SS-Logik als stünd­lich sich erwei­sende Wirk­lich­keit erfuhr, ging nun im Den­ken ein paar ver­häng­nis­volle Schritte weiter. Hat­ten jene, die ihn zu ver­nich­ten sich anschick­ten, nicht viel­leicht recht gegen ihn, auf­grund des unbe­streit­ba­ren Fak­tums, daß sie die Stär­ke­ren waren?«

In der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Fol­ter, der er unter­wor­fen war, schreibt Améry (1966, S. 53): »Ich habe auch nicht ver­ges­sen, daß es Momente gab, wo ich der fol­tern­den Sou­ve­ rä­ni­tät, die sie über mich aus­üb­ten, eine Art von schmäh­li­cher Ver­eh­rung ent­ge­gen­ brachte. Denn ist nicht, wer einen Men­schen so ganz zum Kör­per und wim­mern­der Todesbeute machen darf, ein Gott oder zumin­dest ein Halb­gott?«

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Keilson (1959, S. 113) beschreibt dich­te­risch die Ein­heit von Täter und Opfer auf­grund von Iden­ti­fi­ka­tion, wie ich meine: »Ohne Unter­laß ernied­rigte ich mich, und dies mit einer bei­nahe selbst­mör­de­ri­ schen Freude am Erniedrigtsein. Jedesmal, wenn mich sein Schlag traf, dachte ich, daß es so sein müsse und daß es an mir liege. In allem, was er tat, schien mir ein Recht zu lie­gen und eine Berech­ti­gung, die für mich ihre beson­dere Bedeu­tung bewei­sen konnte. Aber wer bricht die Gemein­schaft, die ins­ge­heim zwi­schen Ver­ fol­gern und Ver­folg­ten auf­ge­rich­tet ist?«

»Zwi­schen Unter­drückern und Unter­drück­ten beste­hen keine Gren­zen mehr«, wie es Amigorena und Vignar (1977, S. 614) aus­drücken. Be­­kannt wurde unter der Bezeich­nung »Stock­holm-Syn­drom« eine mä­ ßige Soli­ da­ ri­ tät der Opfer des Über­ falls auf eine tiefe gefühls­ Stockholmer Bank durch Ange­hö­rige der Rote-Armee-Frak­tion; die Geiseln identifizierten sich mit den Tätern und interessierten sich für ihre Motive. Wenn auch der­ar­tige furcht­bare Unterwerfungsvorgänge aus dem Zwang zu über­le­ben zu ver­ste­hen sind, aus der Not­wen­dig­keit, sich ein nar­ziss­tisch gewäh­ren­des Objekt im Fol­te­rer zu schaf­fen, denn nie­mand sonst steht zur Ver­fü­gung (Eissler 1968; Ehlert u. Lorke 1988; Amati 1990), so macht die Iden­ti­fi­ka­tion schul­dig, durch Bil­li­ gung und even­tu­ell durch Mit­tä­ter­schaft. Im Zusam­men­hang mit der Dis­kus­sion der Scham­ge­fühle der Fol­ ter­op­fer unter­schei­det Amati (1990, S. 738) in einem Neben­satz zwi­ schen Schuld­ge­fühl und Schuld: »Eine mei­ner Pati­en­tin­nen zeigte tiefe Scham …; nur unter gro­ßen Schwie­rig­kei­ ten konnte sie sagen, was sie als ihre größte Schande emp­fand: die Bezie­hung mit einer der ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Es kam nach­ein­an­der zu Schuld­ge­füh­len und dann zu Gefüh­len der Scham im Bezug auf ihre Schuld.«

Auch Levi (1986) sieht eine enge Ver­bin­dung von Scham und Schuld­ ge­fühl des Über­le­ben­den (siehe im Folgenden). Scham­ge­fühle tre­ten Amati (1990, S. 738) zufolge dann auf, wenn inner­halb des the­ra­peu­ ti­schen Pro­zes­ses der Pati­ent

»aus sei­ner Sym­biose mit der Welt des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers her­aus­tritt und rea­ li­siert, daß er Dinge, die er nicht wollte, akzep­tiert, sich an ›was auch immer‹ ange­paßt hat. Oder sogar einer Fas­zi­na­tion erle­gen war …, sich für einen ande­ren ent­äu­ßert, ande­ren zu deren Zwecken als Werk­zeug gedient hat.«

Eine sol­che Scham, würde ich ergän­zen, ent­steht, wenn die Aner­ken­ nung der eige­nen Iden­ti­fi­ka­tion mit der Gewalt und der damit ver­bun­ de­nen Schuld bevor­steht oder voll­zo­gen ist. Ähn­lich wie bei extre­men Gewaltformen fällt es auch beim fami­ liä­ren sexu­el­len Miss­brauch beson­ders schwer, sich eine weit­ge­hende Iden­ti­fi­ka­tion des Opfers mit dem Gewaltgeschehen, also eine Kol­la­



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bo­ra­tion vor­zu­stel­len, da es sich doch um ein bedürf­ti­ges Kind han­delt. Bri­gitte O. war als Klein­kind ins Heim gege­ben wor­den, die Mut­ter hei­ra­tete wie­ der, als das Kind sie­ben Jahre alt war, und sie wurde aus dem Heim zurück­ge­holt. Vom Stief­va­ter wurde sie dem Bru­der vor­ge­zo­gen, sie bekam Geschenke, wurde gelobt, nicht wie er geprü­gelt. Das habe sie genos­sen. Sie hatte Angst, in den Kel­ler zu gehen. Die Mut­ter ach­tete nicht dar­auf und sagte: »Geh mal in den Kel­ler, Koh­ len holen!« War der Stief­va­ter in der Nähe, sagte er schnell: »Ich begleite dich!« Sie war froh dar­über, denn dann musste sie keine Angst haben, obwohl sie genau wusste, was gesche­hen würde. »Gib mir mal ’nen Kuss.« Na gut, warum nicht. Der Stief­va­ter drehte ihren Kopf so, dass Mund auf Mund traf, es wurde ein Zun­ gen­kuss, sie ent­wand sich, er lachte. Sie dachte damals, wenn sie das inze­stuöse Agie­ren mit­ma­chte: »Dann sieht der mich wenig­stens!« Die Mut­ter hat den Kör­per des Kin­des stän­dig schlecht gemacht, machte rup­pige, ent­wer­tende Bemer­kun­gen zum Beginn der Men­strua­tion, mäkelte stän­dig an der Klei­dung der Pati­en­tin: »Das ziehst du nicht an!« Die ersten schüch­ter­nen Kon­takte zu Jun­gen wur­den ver­spot­ tet, wenn Gleich­al­trige zu Besuch kamen, wur­den sie hin­aus­ge­wor­fen. Der Stief­ va­ter lau­erte der Pati­en­tin zu die­ser Zeit im Haus­flur auf.

Wie soll ein sol­ches Kind nicht vom Vater etwas haben wol­len, da es doch sonst sowenig bekommt? Hier fällt es schwer, einen Schuldanteil aus Iden­ti­fi­ka­tion zu sehen und einem Kind eine Ver­ant­wor­tung für den Teil zuzuschreiben, der sich vom Miss­brauch einen Vor­teil ver­spricht, was zu unter­schei­den und anzu­er­ken­nen aber in einer fort­ge­schrit­tenen The­ra­pie wich­tig wird. Als Frau O. elf Jahre alt war, hat sie der Stief­va­ter an ihren Brü­sten »ange­packt«, sie ist nicht weg­ge­gan­gen, hat es über sich erge­hen las­sen, auf die Uhr gestarrt … Das Schlimme: In der Nacht dar­auf hat sie das­selbe mit sich gemacht, hat Lust emp­fun­den, hat sich selbst befrie­digt … In der Ado­les­zenz aber hat sie sich eigene Lust ver­bo­ten, als könne sie Täter und Opfer nicht mehr unter­schei­den; wenn sie in die Nähe eines Jun­gen kam, konnte sie nur den­ken: »Hof­fent­lich miss­braucht der mich nicht …«, eigene Wün­sche hat sie nicht mehr zulas­sen kön­nen.

Das ist eine Abgren­zung an der fal­schen Stelle, als ob sie durch die Unter­ drückung der eige­ nen Bedürf­ nisse einen »Täter« abweh­ ren könnte. Einem tat­säch­li­chen, äuße­ren Täter aber ging sie in der Ado­ les­zenz in die Falle: Als sie 16 war, fuhr sie mit einer Freun­din mit dem Rad auf den Rheinwiesen über lange Feld­wege. Ein Mann fragte sie nach dem Weg und bestand dar­auf, die Mäd­chen soll­ten ihm nicht nur erklä­ren, wo er langfahren müsse, son­dern zei­gen. Sie sind ein Stück mit­ge­fah­ren, plötz­lich hat er die Freun­din weg­ge­schickt (»Du fährst jetzt nach Hause!«). Die Pati­en­tin ist arg­los weiter mit­ge­fah­ren. Irgend­wann ver­schwin­det der Mann hin­ter einem Busch, er uri­niert. Die Pati­en­tin bleibt in der Nähe. Der Mann kommt wie­der mit offe­ner Hose und eri­gier­tem Glied: Einen

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Schuld und Schuldgefühl

Moment ist Frau O. erschrocken, sieht aber daran vor­bei. Der Mann kommt auf sie zu, sie sieht sich die Land­schaft an. Erst als er sie zu Boden gewor­fen hat, denkt sie: »Ver­ge­wal­ti­gung!« Völ­lig zer­stört kommt sie nach Hause, die Mut­ter schreit sie an: »Wie konn­test du mir das antun!« Der Stief­va­ter aggres­siv: »Hure!« In der wei­te­ren Bear­bei­tung die­ser Erin­ne­rung erhär­tet sich der Ver­dacht, dass eine orale Ver­ge­wal­ti­gung durch den Stief­va­ter statt­ge­fun­den haben muss. Sie muss stän­ dig daran den­ken; sie träumt, dass etwas Schlei­mi­ges über ihr Gesicht läuft. Sie zwingt sich dazu, sich zu erin­nern. Es däm­mert ihr, dass der Stief­va­ter sie ein­mal mit dem Fahr­rad abge­holt hat, wor­über sie sich sehr gefreut hat. Sie sind an einer Wiese, einem Feld vor­bei­ge­fah­ren. Der Stief­va­ter hielt an, ging etwas bei­seite, um zu uri­nie­ren. »Komm mal gucken!« Sie zögert, ist teils neu­gie­rig, teils ist sie sich bewusst, dass es etwas Schlech­tes ist. Sie hat an sei­nem Glied vorbeigeguckt. Mit einem Hand­griff hat er ihren Mund geöff­net und ihre Wan­gen zwi­schen die Zähne gedrückt, dann den Penis ein­ge­führt. Sie erin­nert sich an seine Augen, sie hat in seine Augen geblickt, eine ein­zige Frage: »Warum?« Hat sie etwas getan, dass er sie so behan­delt?

Es fin­den sich genaue Par­al­le­len zwi­schen der Ver­ge­wal­ti­gung durch den Stief­va­ter und der zwei­ten in der Ado­les­zenz, die augen­fäl­lig zei­gen, dass das trau­ma­ti­sche Intro­jekt, das dem unschul­di­gen Kind implan­tiert wor­den war, sich in die schreck­li­che Rea­li­tät hin­ein ent­äu­ ßert hatte. Aber wäh­rend die Arg­lo­sig­keit des acht­jäh­ri­gen Kin­des dem Stief­va­ter gegen­über völ­lig berech­tigt erscheint, liegt bei der 16jäh­ri­ gen doch eine Mit­ver­ant­wor­tung dem Gesche­hen gegen­über vor, was ja nicht bedeu­tet, dass sie anders hätte han­deln kön­nen, da sie ja in ihren Urteils- und Realitätsprüfungsfunktionen eben durch das ver­in­ ner­lichte Trauma ein­ge­schränkt war. Trotz­dem hat sie durch die nun nicht mehr ange­brachte Arg­lo­sig­keit (auch die Freun­din hat ihr nicht hel­fen kön­nen) schuld­los-schul­dig zu der tra­gi­schen Wie­der­ho­lung des ursprüng­li­chen Trau­mas bei­ge­tra­gen. Frau O. sagt selbst: »Ich komme mit mei­ner Schuld nicht klar!« Noch eher kann der Begriff der Schuld angewendet werden, wenn das ursprüngliche Opfer seinerseits zum Täter gegenüber Schwächeren wird. Ein Beispiel für eine Täter-Opfer-Umkehr aufgrund von Identifikation mit der selbst einmal erlittenen Gewalt, verbunden mit starken Schuld- und Schamgefühlen, aber auch des Bewusstseins tatsächlicher Schuld findet sich bei Niemann (1994, S. 184 f.): »Einen wichtigen Teil meiner Entwicklung hatte ich bei dieser Therapie außen vor gelassen. In einer der letzten Stunden vor den Ferien beklagte ich mich über die wieder stärker gewordenen Schmerzen … Entsetzliche Rückenschmerzen … ›Wozu brauchen Sie jetzt diese Schmerzen?‹ fragte Dr. F. damals. Ich ahnte, was sie bedeuteten, aber ich konnte es nicht sagen. Die Ursache war seit Jahren in meinem Kopf, aber ganz weit hinten, fast vergessen. Fast. Ich schämte mich so entsetzlich. Ich hatte schon einmal darüber gelesen. ES kam nicht selten vor, aber ich wollte nicht zugeben, daß auch ich ES getan hatte. Bestimmt war es nicht so schlimm, aber diese Erinnerung kam immer wieder. Ich wurde sie nicht



Die Schuld des Opfers

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mehr los. Sie wurde immer deutlicher, sie nahm immer klarere Formen an, bis sie mich eingeholt hatte – und ich Angst bekam. Angst vor den Folgen. Ich wollte es ungeschehen machen, die Erinnerung auslöschen, diesen Punkt in meinem Gehirn wegbrennen. Ich wollte alles leugnen, wenn ES herauskommt, sagen, daß das nicht wahr ist, daß es eine gemeine Verleumdung ist. In Grund und Boden wollte ich versinken, lieber auf der Stelle tot umfallen, als es zuzugeben, als zu sagen: ›Ich habe selbst ein Kind mißbraucht.‹ Ich merkte, wie froh ich war, daß er nicht gleich aufsprang, mir an die Kehle, um mich zu würgen, mich, die ich mich nun in die Reihe der Kinderschänder miteingereiht hatte … Ich erzählte, wie es dazu kam, daß ich mir nicht im klaren darüber war, was ich tat, und schon gar nicht darüber, welche Folgen es haben könnte, und daß ich eigentlich selbst noch ein Kind war, zu der Zeit. ›Aber ich habe es getan, und jetzt habe ich Angst. Ich habe Angst davor, daß er sich eines Tages daran erinnert, krank wird und mich für den Mord an seiner Seele verantwortlich macht.‹ Plötzlich sah ich den Mißbrauch aus der Perspektive des Täters und mußte entsetzt feststellen, daß ich ihr Leugnen verstehen konnte. Auch ich würde das tun, käme Jürgen heute als junger Mann von sechsundzwanzig Jahren auf mich zu und würde mich zur Verantwortung ziehen. Ich würde sagen, daß er sich da etwas einbildet, vielleicht schlecht geträumt hat, und daß er es einfach vergessen soll. ›Aber ich erinnere mich genau‹, würde er sagen. ›Du hast mich manchmal aus dem Kindergarten abgeholt und nachmittags auf mich aufgepaßt, wenn meine Eltern nicht da waren. Und manchmal, wenn du mich ins Bett gebracht hast, dann hast du dich neben mich gesetzt und gewartet, bis ich eingeschlafen bin. Und dann bist du mit deiner Hand unter die Bettdecke und hast meinen Penis angefaßt. Einmal bin ich davon wach geworden und hab’ dich gefragt, was du da machst, und du hast ›nichts‹ gesagt. Und dann habe ich manchmal nur so getan, als würde ich schlafen. Ich hatte Angst, dir zu sagen, daß du das nicht tun sollst, und da mein Penis manchmal steif wurde und ich manchmal ein schönes Gefühl dabei hatte, dachte ich, daß es nicht so schlimm sein kann, wenn ich auch schöne Gefühle dabei habe und daß ich vielleicht selbst Schuld daran habe …‹ So oder ähnlich würde es sich abspielen, und ich begriff für einen kurzen Moment die Situation des Täters. Dann fiel mir glücklicherweise ein, daß ich zu der Zeit selbst noch ein Kind war. Das würde für Jürgen keinen Unterschied machen, aber mir half es erst einmal, meinen Anteil an diesem Wahnsinn so klein wie möglich zu halten … Nachdem ich die Geschichte von Jürgen erzählt hatte, ging es mir deutlich besser. Die Schmerzen waren wie weggeblasen.«

Hier entsteht Schuld, auch wenn anzunehmen ist, dass ein solches Kind keine Steuerungsmöglichkeit hat, weil das Introjekt sich ohne Widerstand des Ich impulsartig entäußert aufgrund einer globalen, primären Identifikation mit dem Täter. In einem letzten Beispiel (Thekla R.) entstand eine ganze Kette von selbst- und fremddestruktiven Handlungen, mit denen das ursprüngliche langjährige inzestuöse Trauma agiert wurde, und die Frage mag offenbleiben, wo Schuld und Verantwortung beginnen:

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Schuld und Schuldgefühl

Entsetzliche Schuldgefühle hatte Frau R., als sie sich wieder erinnerte, dass sie sich mit ihrem Hund Orgasmen verschafft hatte, als sie vielleicht 14 Jahre alt war. Mit 18 Jahren, als Lehrling, wurde sie von dem Sohn des Lehrherrn schwanger. Sie war nicht in der Lage, sich adäquate Hilfe zu holen und wäre aufgrund eines dilettantischen Abtreibungsversuchs fast gestorben. Wegen ihres chronischen Schmerzsyndroms ließ sie im Laufe der Zeit sechs gynäkologische Operationen bis hin zur Totaloperation über sich ergehen, ohne an einen Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in der Kindheit denken zu können. In der Ehe waren ihr sexuelle Gefühle nur im Zusammenhang mit sadistischer Gewalt möglich; große Scham und Schuldgefühle, im Laufe der Therapie auch Schuldanerkennung und Reue begleiteten die Erinnerung an einen aggressiven Kontrollverlust, indem sie einmal ihren kleinen Sohn, der nackt vor ihr auf dem Wickeltisch lag, einen Schlüsselbund ins Gesicht geschlagen hatte, sodass der Säugling einen Zahn verlor … (vgl. S. 114).

Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl Es ist bereits angeklungen, dass mit der »Schuld des Opfers« ein Grenzgebiet betreten wurde, das eher einer Grauzone entspricht als einer scharfen Markierung. Und im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, dass es in diesem Bereich der Überschneidung oft unbeantwortet bleiben muss, wo das Schuldgefühl aufhört und reale Schuld (und damit Schuldbewusstsein) anfängt. Trotzdem ist es besonders auch für therapeutische Belange wichtig, Schuldqualitäten zu differenzieren und sich klarzumachen, dass in einem bestimmten Fall eine klare Differenzierung eben nicht möglich ist. Eine Patientin, Birgit L., die mehrfach psychotisch reagiert hatte, fühlt sich schuldig, dass sie ihre jüngere Schwester, mit der sie damals zusammen wohnte, in der Psychose hatte töten wollen, sie habe schon mit dem Messer in der Hand vor ihrem Bett gestanden. Dann aber sei sie weggelaufen und wurde von der Polizei aufgegriffen. Als die Schwester sie vom Revier habe abholen wollen, habe sie sie geohrfeigt. – Die Schwester hat ein angeborenes Hüftleiden (die Patientin sagt: »Ich aber nicht!«, d. h. sie war gesund – Schuldgefühl aus Vitalität), sie war als Kleinkind häufig im Krankenhaus. – Ist sie schuldig? Der Kontrollverlust in der Psychose ist eigentlich entschuldigend. Ab wann aber tritt Schuld ein? Der Hinweis auf das Leiden der kleinen Schwester und die Betonung, dass sie selbst gesund gewesen sei, lässt die Vermutung zu, dass die Patientin damals Schuldgefühle hatte, gesünder und bevorzugt zu sein. Ist sie jetzt schuldig, da sie doch zur Tat schritt? Eine juristische Schuld käme nicht in Frage wegen des psychotischen Zustands, in dem sie sich befand. Ist ihr Schuldgefühl nicht doch ein Schuldbewusstsein? Die Psychose ist wie ein Traum, und für Traum, Phantasie und Wunsch kann der Schuldbegriff nicht passen, kann hier nur der des Schuldgefühls gelten. Ein Todeswunsch ist kein tatsächlicher Mord. Aber das gilt nicht überall: Die christliche Moral erklärt schon das Begehren seines Nächsten Weib und Hab und Gut zur Sünde.



Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl

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Das Spektrum zwischen Traum und wirklicher Tat wird in einem mittleren Bereich noch ergänzt durch Fehlleistungen, die »unbeabsichtigt« doch unbewussten Intentionen entspringen. Ist ein Schulderleben aufgrund einer Fehlleistung, die einen anderen schädigt, nun ein irrationales Schuldgefühl, oder entspricht es realer Schuld? Ich würde meinen, beides ist gegeben, es liegt eben eine Überschneidung vor, die jeweiligen Anteile können dabei einen verschiedenen Raum e­ innehmen. Ein neurotisches Schuldgefühl kann das Schuldbewusstsein übersteigen, wenn der reale Schuldanteil gering ist; die reale Schuld kann geleugnet, abgewehrt werden durch den Hinweis auf das gleichzeitig vorliegende Schuldgefühl, wie wir im Folgenden sehen werden. Noch ein kleines Beispiel: Einer Jugendlichen, Opfer des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater, fiel nach drei Jahren analytischer The rapie einmal auf, dass die Männer auf der Straße, Bauarbeiter zum Beispiel, nicht mehr anzüglich hinter ihr herpfiffen, was früher zu ihrem Ärger ständig passiert sei. Wer ist nun schuldig? Natürlich die Bauarbeiter, die ja etwas taten; aber wer ist dafür verantwortlich, dass sie es nun nicht mehr tun? Ist es die Jugendliche, die sich verändert hat war sie dann aber nicht auch dafür (mit-)verantwortlich, dass die Männer es vorher taten? Benigna U. sollte immer ein Junge sein. Die ältere Schwester hieß in der Familie »Königin«, die Patientin »Prinz«. (Eine andere Patientin, Zilly C., die sich auf dem Weg von der Apotheke zur Arztpraxis auch noch den anderen Arm verletzt hatte [siehe Teil II, S. 188], wurde bis weit ins Erwachsenenalter von ihrem Vater »Junge« genannt; auch Landauer [1930a, S. 183] berichtet, dass ein Vater seine Tochter stets mit »mein großer Junge« ansprach.) Sie hatte immer ganz kurze Haare, obwohl sie ihre dünnen Haare doch lang haben wollte. »Da wächst ja doch nichts!« sagte die Mutter, und ratsch, ratsch wurden sie auf zwei Zentimeter gekürzt. Und »Rein in die Hosen!« sagte die Mutter. Einmal hat sie eine Glasscheibe zerschlagen (wie ein Junge das nun einmal tut!) und sich tief in die Hand geschnitten, die Wunde heilte nicht, da sagte die Mutter: »Da kannst du mal sehen, dass dein Jähzorn bestraft wird, du bist selber schuld!« Wer ist schuld?

Wenn im englischen Sprachgebrauch »guilt« sowohl Schuld wie Schuldgefühl bedeutet, dann spiegelt das vielleicht den Umstand wider, dass sich beide in bestimmten Bereichen überschneiden und kaum zu trennen sind. Es gibt zum Beispiel ein Spektrum geschwisterlichen Hasses und entsprechender Schuld: Ganz sicher gibt es keinen Anteil realer Schuld, wenn das Geschwister vor der Geburt desjenigen starb, der gleichwohl heftige Schuldgefühle des Überlebens hat. Eine Krankheit eines Geschwisters kann Ursache eines Schuldgefühls, aber wohl kaum Grund für tatsächliche Schuld sein, auch der bloße Todeswunsch enthält keine Schuld, wohl aber manche entsprechenden Handlungen

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wie ein Erstickungsversuch oder das Umstürzenlassen eines Kinderwagens durch das ältere Geschwister. Aber auch da, besonders wenn es sich um ein Kind handelt, wird man fragen: Was hat das Kind dazu gebracht, was hat man ihm selbst angetan? Simmel (1990) hat ein ungewöhnliches Beispiel der Verstrickung von Schuld und Schuldgefühl gegeben. Eine Patientin, eine verhinderte »Lustmörderin«, litt unter dem Impuls, Mädchen sexuell zu attackieren und schließlich zu töten, war aber in der Lage, eine Therapie aufzusuchen, bevor sie ihren Drang realisierte. Auf die Frage, warum sie so etwas Entsetzliches tun müsse, antwortete die Patientin unter Tränen: »Ich muß es tun, weil ich Kinder so lieb habe« (Simmel 1990, S. 83). Simmel schreibt dazu: »Das Entwicklungsschicksal ihrer Objektbeziehungen hatte dazu geführt, daß sie lieben wollte, aber ihre Liebe sich als Haß entpuppte – ohne daß sie es wußte« (S. 83). Das mehrfach mißhandelte und sexuell mißbrauchte Kind »liebte es, die Spielsachen ihrer älteren Schwester zu zerstören, vor allem die Bäuche von deren Puppen aufzuschlitzen. Als ihr kleiner Bruder geboren wurde …, bekam Anna den Auftrag, auf ihr Brüderchen aufzupassen. Sie entledigte sich dieser Aufgabe mehrfach in der Form, daß sie ihn aus dem Kinderwagen zu werfen versuchte« (S. 84).

Die Analyse entwirrte eine vielfältige Verbindung zwischen einer Täter-Opfer-Gleichsetzung, in der das ursprüngliche Opfer, die Patientin, Täterin wurde an ihren Geschwistern, weiterhin durch Somatisierung sozusagen Täterin an ihren Körperorganen, die die Opferstelle ein­nahmen, bis sie schließlich ihre destruktiven Impulse gegen Mäd­ chen richtete, mit denen sie offenbar identifiziert war. Aber das Schuld­ thema setzte sich noch weiter fort:

»Eines der überraschendsten und erstaunlichsten Ergebnisse dieser Analyse war die Entdeckung, daß Anna eigentlich nicht davor floh, einen Mord zu begehen, sondern nur davor, ein solches Verbrechen zu wiederholen. Sie war tatsächlich eine Kindsmörderin, was ihr jedoch verborgen war … [Es] wurde ihr bewußt, daß es … noch einen anderen Bruder gab, der wenige Wochen nach der Geburt gestorben war. Anna war für den Tod dieses Kindes verantwortlich. Eines Tages fand sie den Säugling nackt und allein vor, worauf sie seinen Penis in den Mund nahm und daran saugte. Als er schrie, erschrak sie und tötete ihn, um sein Schreien zu ersticken« (S. 88).

Simmel stellt fest, dass sich in der »Figur des kleinen Bruders mehrere Bedeutungen verdichteten. Er stellte nicht nur ihr Wunschkind dar, sondern auch den Penis ihres Vaters; außerdem repräsentierte er die Brust der Mutter …« (S. 89). Die Verschmelzung von oralem und phallischem Objekt wurde aber durch frühere Traumatisierung bewirkt, welche als Introjekt zur schuldhaften Tat eines Kindes führte, für das man ihm wiederum eine Schuld nehmen muss: »Schon als Kind war Anna das Opfer einiger sexueller Verführungen … durch ihren eige-



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nen Vater. Dieser … hatte sie mehrfach gezwungen, seinen Penis zu berühren, zu masturbieren und auch in den Mund zu nehmen« (S. 88 f.). Ein letztes Beispiel enthält auch ein Spektrum zwischen irrationalem, teils ins Übergroße gesteigertem Schuldgefühl und einem zunehmenden Anteil realer Schuld: Es geht noch einmal um das Überlebendenschuldgefühl. Der Begriff des Schuldgefühls, überlebt zu haben, während so viele Angehörige oder Schicksalsgenossen sterben mussten, hat Primo Levi (1986) in die Nähe einer Scham gerückt, an der Stelle eines anderen, vielleicht Besseren zu leben, einer Scham auch, ein Mensch zu sein und als solcher fähig zu dem undenkbar Grausamen, dessen Opfer die KZ-Gefangenen waren (die Täter kannten diese Scham nicht, wie auch Améry [1966] bemerkt; vgl. auch Wiesel 1960, S. 142; s. Teil II, S. 203). Eine zweite Komponente des Überlebendenschuldgefühls nehme ich an aufgrund der Kenntnisse der globalen Identifikationsprozesse, die als Folge schwerster Gewalteinwirkung bekannt sind – bei aller Vorsicht der Mahnung Levis (1986, S. 85) eingedenk, dass die Phänomene »innen«, also im Lager, nicht von den Psychoanalytikern »draußen« ergründet werden können. Die Identifikation übernimmt die Meinung des Foltersystems: »Nun wurde zwar die Härte der Gefangenschaft als Strafe empfunden und das Schuldgefühl (wenn es eine Strafe gibt, muß es vorher eine Schuld gegeben haben) in den Hintergrund abgedrängt, aber nach der Befreiung tauchte es wieder auf« (S. 75). – Dass der Häftling schlecht und schuldig ist – und der Getötete muss dann »schlechter«, der Gerettete, sozusagen Auserwählte, »besser« sein –, ist eine mögliche Komponente des Überlebendenschuldgefühls (vgl. Teil II, S. 202 f.). Eine dritte Komponente scheint mir durch den Überlebenskampf bedingt – jeder musste an sich selbst zuerst denken (Levi 1986, S. 78), die moralischen Maßstäbe waren außer Kraft gesetzt: »Zudem hatten wir alle gestohlen: In den Küchen, in der Fabrik, im Lager, kurzum ›bei den anderen‹, bei der Gegenpartei, aber es blieb trotzdem Diebstahl. Einige (wenige) waren so gesunken, dass sie den eigenen Leidensgenossen das Brot wegstahlen« (S. 74). Ich möchte zu bedenken geben, ob nicht in diesem Überlebenskampf – so schuldlos er notwendig wurde – eine Möglichkeit realen Schuldigwerdens enthalten ist, die von den irrealen Anteilen abgetrennt werden sollte. Modell (1971) hat aus der Therapie eines KZ-Überlebenden berichtet, der zusammen mit seinem Vater gefangengehalten wurde und das irrationale Schuldgefühl entwickelt hatte, den Vater nicht gerettet zu haben – er hätte real in keiner Weise die Macht gehabt, etwas für seine Rettung zu tun. Aber es gab in diesem Fall noch eine andere Quelle des

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Schuldgefühls – jeden Tag wurde beim Appell eine bestimmte Zahl von Gefangenen selektiert, die ermordet werden sollten, und der spätere Patient verbarg sich jedesmal, sodass er nicht ausgewählt werden konnte, wodurch sich jedoch die Wahrscheinlichkeit für einen anderen vergrößerte, getötet zu werden. Meines Erachtens ist die Schuldgefühlsqualität hier eine andere als die dem Vater gegenüber, da etwas Reales geschah, das indirekt einem anderen Schaden zufügte – wenn auch aus unausweichlicher Notwendigkeit, das eigene Leben zu retten zu versuchen. In einem anderen Beispiel der unglaublichen Perfidie deutscher KZ-Schergen entstand eine ungeheuerliche Steigerung des Zwanges, aus Überlebensgründen schuldig werden zu müssen: Es wurden Boxwettkämpfe der Gefangenen zur Unterhaltung der Wächter organisiert nach wahrhaft zynischen Regeln: Wer gewann, bekam ein Brot – wer verlor, wurde ermordet … (von Young 1989 verfilmt). Die Entscheidung, wo Schuld und inwieweit Schuldgefühl vorliegen, bedarf eines Dritten, einer äußeren Instanz – der Moral, des Gesetzes, Gottes – oder einer inneren – des Gewissens oder Über-Ich. Innere und äußere Instanzen brauchen keineswegs übereinzustimmen – wie im KZ kann die Ordnung der Menschen pervertiert sein –, die innere Instanz kann fehlen, wie bei der Delinquenz, oder unerbittlich als feindliches Introjekt wirken. In der Therapie schwer Traumatisierter kann die Abstinenz nicht so weit gehen, dass sich einer Stellungnahme und Bewertung gänzlich enthalten wird, manchmal muss der Therapeut eine solche Instanz sein (vgl. Teil III, S. 303).

Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl Es gibt einige Autoren, denen die Möglichkeit der Ab­wehr von realer Schuld und Verantwortung durch ein überbetontes Schuldgefühl aufgefallen ist. Das ist nicht zu verwechseln mit Freuds (zuerst 1906c) Entdeckung des »Verbrechens aus Schuldgefühl«, bei dem ein Unschuldi­ ger sich seiner Schuldgefühle wegen schuldig macht, weil er sie nicht aushalten kann. Hier dagegen gibt es umgekehrt einen Schuldigen, der sich hinter einem Schuldgefühl zu verstecken sucht, das Schuldgefühl wird also als Abwehrmechanismus verwendet. Horney (1936, S. 173) hat das so ausgedrückt: »Es ist peinlich, ehrliches Bedauern oder Scham über etwas zu empfinden, und noch peinlicher, dieses Gefühl einem anderen gegenüber auszudrücken. In der Tat wird sich ein Neurotiker sogar noch mehr als jeder andere Mensch davor hüten,



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weil er eine solche Furcht vor Mißbilligung hat. Jedoch äußert er das, was wir Schuldgefühle nennen, sehr bereitwillig.«

Sandler und Sandler (1987) sprechen vom »kleineren Übel«, ein Schuldgefühl einzugestehen, und ähnlich andere Autoren (Condrau 1962, S. 122; Winnicott 1958, S. 25; Engel u. Ferguson 1990, S. 178; Hubbertz 1992, S. 23 u. 75 f.). Eine Formulierung von Fingarette (1962): »Erleichterung dadurch erreichen zu wollen, dass man sich einredet, es handele sich lediglich um irrationale neurotische Schuld, ist sowohl eine therapeutische als auch eine geistige Ausflucht. Dies stellt eine Abwehr gegen wirkliche Einsicht dar. Jede Therapie, die Einsicht erstrebt, besitzt eine moralische Dimension.«

Ein 35jähriger Patient, Anton V., beklagt sich, dass seine Frau, von der er sich von einem Tag auf den anderen getrennt hatte (nämlich vier Wochen, nachdem er eine andere Frau kennengelernt hatte), ihm ständig Vorwürfe mache, was er ihr und den beiden Kindern, die jetzt zwei und vier Jahre alt sind, angetan habe. Es tue ihm ja leid mit den Kindern, aber was seine Frau so aufbausche, sei doch nicht mehr als eine kleine Erschütterung ihrer Entwicklung, denn sie hätten ja keine Symptome entwickelt und er sehe sie regelmäßig. Ich war nicht in der Lage, das so stehenzulassen, und meinte, die Bezeichnung »Trauma« wäre wohl angemessener für das, was die Kinder erlebt hätten. Es fiel dem etwas zwanghaften, überangepassten Patienten sehr schwer, anzuerkennen, dass er tatsächlich den Kindern einen Schaden zugefügt hatte. Sein Selbstbild war von der Vorstellung bestimmt, dass er alle Probleme weit überdurchschnittlich gründlich durchdenke und optimal löse. Denn er habe ja doch stets Schuldgefühle entwickelt, wenn er nicht so gründlich abwäge, ob er etwa jemandem zu nahe trete oder ihn verletze. Stets habe man ihm gedroht, besonders die Mutter, die oft auch den Vater zu Hilfe geholt habe, ihm Schuldgefühle gemacht, wenn er als Kind etwas Eigenes unternehmen wollte. Deshalb lehne er es ab, wenn seine Frau ihm jetzt Schuldgefühle machen wolle, weil er sich getrennt habe. Seine Herkunftsfamilie behandle ihn jetzt genauso missbilligend, man akzeptiere die Trennung in keiner Weise, stehe auf der Seite seiner Frau, man lade ihn nicht einmal mehr zu Familienfesten ein. – Natürlich überlagern sich Schuld und Schuldgefühl hier; indem Herr V. sich trotzig gegen die Schuldgefühle wehrt, die ihm immer und auch jetzt gemacht werden, wehrt er im gleichen Atemzug auch die Schuld ab, die er zwar tatsächlich auf sich geladen hat, deren Anerkennung ihm aber zu viel Schamgefühle bereiten würde.

Buchholz (1990) unterscheidet selbstverständlich Schuldgefühl und Schuld und kritisiert in Paartherapien die Ideologisierung des Schuldgefühls zu Abwehrzwecken. In manchen Kreisen scheint es verbreitet zu sein, allzuschnell ein Schuldgefühl zu reklamieren, hier »trifft man gelegentlich auf eine Tendenz, die Wahrnehmung der eigenen Schuld Kindern oder Partnern gegenüber in ein Schuldgefühl umzudeuten und vom professionellen Therapeuten zu erwarten, dass er mit Hilfe therapeutischer Technik von solchen ›Restneurosen‹ befreit« (Buchholz 1990, S. 50; Hervorhebung original). In einem Fallbeispiel von Buch-

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holz geht es um die Auseinandersetzung eines Paares, nachdem die Partnerin eine Verabredung nicht eingehalten und darüber hinaus das gemeinsame kleine Kind durch eine Fehlleistung real verletzt hatte. Die Partnerin wehrt sich. »Sie sagt, sie möchte nicht durch ihn immer in ›die Position der Schuldigen‹ gebracht werden; sie wisse, wie leicht sie sich ›Schuldgefühle‹ machen ließe, und das wolle sie nicht« (Buchholz 1990, S. 380). Buchholz fasst zusammen: »Die eingetretene Schuld gegenüber den Kindern muss dann als ›Schuldgefühl‹ umgedeutet werden. Da das etwas Neurotisches sei, braucht man sich nicht länger damit zu beschäftigen« (S. 380). Manchmal beruht die Vertauschung von Schuld und Schuldgefühl auf Projektion des eigenen Über-Ich, das man im Partner lokalisiert glaubt; man tut alles, damit man seinen vermuteten Forderungen gerecht wird, anderenfalls befürchtet man heftige Vorwürfe und Lie­bes­entzug. Dabei bestimmt das eigene Über-Ich das Verhalten, und die Beziehung bleibt im Gleichgewicht, solange der andere keine eigenen Forderungen stellt. Wenn aber nun der Partner Kritik äußert, weil er ein Verhalten, das ihn stört, nicht akzeptieren kann, also aus diesem System aussteigt, wird er plötzlich zum verfolgenden, undankbaren Objekt, das vehement bekämpft werden muss. Es entsteht eine Art Rollenumkehr; jetzt geht man mit dem Aggressor (repräsentiert durch den Partner) genauso gnadenlos um, wie man es von ihm erwartet hatte für den Fall, dass die Spielregeln übertreten würden. Nun hat der Aggressor die Spielregeln übertreten und ihm wird ungefähr nach dem Motto vorgeworfen: »Ich habe doch sowieso ständig Schuldgefühle (habe die Spielregeln befolgt), wie kannst du es wagen, mich jetzt zusätzlich zu beschuldigen!« Der Vorwurf entspricht einer vollständigen Umkehr von Subjekt und Objekt: »Wie kannst du nur …« bedeutet, dass das Ob­jekt, das in der Phantasie bzw. in der Übertragung vorher immer moralischen Druck ausüben und Vorwürfe machen würde, wenn das Subjekt nicht »fügsam« wäre, jetzt ebenso strengen moralischen Vorwürfen ausgesetzt ist. Dadurch entsteht eine seltsame Aufrechterhaltung einer komplementären Subjekt-Objekt-Beziehung, allerdings mit vertauschten Rollen. Als ob um alles in der Welt eine Anerkennung sowohl des anderen als Kritiker als auch des Subjekts als real Verantwortlichem bzw. Schuldigem vermieden werden müsste, weil das eine unerträgliche Trennung bedeuten würde. Was erhalten bleiben muss, ist das internalisierte Schuldgefühlssystem, sodass reale Schuld, realistische Übernahme von Verantwortung, keinen Platz haben. Die Unterwerfung (unter die verinnerlichten Über-Ich-Forderungen) garantiert das Wohlwollen des anderen (des inneren Objekts wie des außen durch



Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl

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den Partner repräsentierten). Die Identifikation mit dem Über-IchObjekt, also das Zurückholen von dessen Projektion, schafft wieder die Verbindung (allerdings müsste der andere mitspielen und seinerseits schuldbewusst seine Kritik zurückziehen, also in das System der Schuldgefühlsverpflichtung zurückkehren). Der »Vorwurf« des äußeren Objekts muss immer latent bleiben. Wird er real, hört die Unterwerfung sofort auf; es erfolgt eine Subjekt-Objekt-Umkehr wie bereits geschildert. Der reale andere erlebt nun den Vorwurf des Subjekts, wie er denn nur Kritik üben könne, als Machtausübung; das Subjekt will bestimmen, was richtig ist und was verpönt. Dazu passt sehr gut ein Gedanke Wurmsers (1987, S. 13): »Dieses Durchdrungensein des inneren Richters von dem Geiste des Ressentiments läßt sich bei sehr vielen Patienten beobachten. Das ist eine Seite. Die andere, noch virulentere Form stellt sich jedoch dann ein, wenn die Selbstverurteilung, ganz besonders die Tiefe der Scham, zum brennenden Ressentiment und dieses seinerseits zur Auflehnung gegen alle menschlichen Bindungen und Verpflichtungen führt. Es besteht in der selbstgerechten Identifizierung mit dem eigenen, kategorisch verurteilenden Über-Ich und der Verkehrung der Anklage ins Gegenteil: Das Ich wandelt sich vom Opfer der Selbstanklage zum brutalen Richter und Rächer; der andere wird nun zum radikal Angeklagten, zum Verworfenen und zu Vernichtenden.«

Wiederum gilt, dass eine übertriebene therapeutische Abstinenz, die nicht Stellung bezieht, die Identifikation mit dem Über-Ich-Introjekt aufrechterhält, anstatt eine Lösung von ihm zu fordern.

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Schuld und Schuldgefühl

Zur Differenzierung von Schuld und Schuld­gefühl in der analytischen Psychotherapie »Der Psychotherapeut, der die Schuldgefühle eines einsamen Menschen behandelt, muß unterscheiden zwischen den Wunden und Narben eines verwundeten Narzißmus und realistischer existentieller Schuld.« Edith Weigert 1960/61, S. 543

Es gibt keine »Therapie des Schuldgefühls« und schon gar nicht eine der Schuld, trotz der Befürchtungen der Vertreter mancher daseinsanalytischer psychotherapeutischer Schulen. Aber es gibt gewisse Prinzipien der Therapie von schwer traumatisierten Patienten, die unter der Wirkung von zerstörerischen Introjekten leiden, zu denen ebenso irrationale wie starke Schuldgefühle gehören, das Schuldgefühl des Opfers nämlich, das eigentlich der Täter haben müsste. Von diesen sind andere Schuldgefühle zu differenzieren, zum Beispiel der Vitalität oder des Autonomiebestrebens, die der frühen Lebensgeschichte angehören. Für ganz besonders wichtig halte ich es, von Schuldgefühlen reale Schuldanteile zu unterscheiden, verursacht von realen Taten, seien sie nun durch freie Entscheidung oder unentrinnbare Wirkungen der Introjektions- und Identifikationsvorgänge zu­stande gekommen.

»Unschuldsvermutung« Als allgemeines Therapieziel lässt sich formulieren, dass internalisierte Objekterfahrungen in der Übertragung externalisiert immer wieder durchgearbeitet werden sollen, damit eine relative Freiheit von ihnen, das Leben und Beziehungen neu und selbstbestimmter einzurichten, erreicht wird. (»Ein Rest, der verbindet« [Cournut 1988], nämlich mit den alten Objekten, wird allerdings immer bleiben, es fragt sich nur, wie groß er ist.) Es ist aber, als ob die traumatisierten Patienten eine Ahnung davon hätten, dass in der Therapie die mit dem Trauma verbundenen Affekte von ungeheurer Angst (Shengold 1989), extremer Wut (Shengold 1989; Becker 1990), auch Scham (Amati 1990) und Trauer wieder auferstehen oder, da sie damals gar nicht in vollem Ausmaß erlebt werden konnten, erstmals in vollem Umfang zu entste-



Zur Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl

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hen drohen. Eine Befreiung vom Introjekt und damit vom Schuldgefühl kommt einer ebenso schmerzhaften Trennung gleich, als wollte man einem – wenn auch traumatisierten – Kind die – wenn auch misshandelnden und missbrauchenden – Eltern wegnehmen. Kein Wunder, dass an der Weichenstellung – schmerzhafte Fortschritte oder erleichternde Rückkehr – oft genug letzteres gewählt wird, Schuldgefühl und altbekannte Symptomatik in Kauf nehmend. Aber soweit ist es noch nicht. Eben wegen des großen Bedürfnisses der Traumaopfer, Beziehungen und also auch die therapeutische Beziehung selbst zu steuern, muss die erste Phase von einem grundlegenden Gewährenlassen und größter Vorsicht des Intervenierens bestimmt sein. Schon ein Interview eines Überlebenden kann als Katastrophe erlebt werden (Niederland 1961, S. 17); bei aller Mühe, die man sich gibt, kann ein Versuch des Einfühlens schon als Verfolgung und Eindringen erlebt werden (Ahlheim 1985, S. 335 u. 339; Hirsch 1995b), die Aufforderung zur freien Assoziation wirkt manchmal bereits als Übergriff. In einer Zeit, als sexueller Missbrauch keineswegs im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent war, kam eine Patientin zu Vorgesprächen nach einem langen Klinik­ aufenthalt wegen einer psychotischen Reaktion. Sie war wieder psychosenah, die Stimmen sagten ihr, sie müsse beten, um sich zu reinigen. Die Patientin berichtete einen Traum: Eine behaarte Hand nähert sich ihr, legt sich auf ihre Brust, ein riesiges Wesen mit glattem, traurigem Gesicht legt sich mit aller Schwere auf sie. Sie denkt, es ist der Teufel. Dreimalige Gebete nützen nichts, erst als sie sagt: »Im Namen der Dreieinigkeit, hebe dich hinweg!«, verschwindet er. – Eine Bekannte, der sie den Traum erzählt hatte, sagte ihr, es müsse sich um eine »arme Seele« handeln. Jetzt betet sie teilweise die ganze Nacht für die armen Seelen. – Ich interpretiere vorsichtig, wie es mir vorkam, heute würde ich ein solches Vorgehen als sehr riskant ansehen, dass ein Vater, der es nötig hat, die eigene kleine Tochter sexuell zu missbrauchen, tatsächlich eine »arme Seele« sein dürfte. Trotzdem sei es furchtbar, was dem Kind damit angetan würde. Die Patientin schien erleichtert, schien zu verstehen. Nach der Sitzung ruft der Ehemann an: Sie sei noch nicht zu Hause angekommen. Vor der nächsten Sitzung wieder ein Anruf: Sie sei wieder in die Klinik eingewiesen worden. Implizit habe ich wohl im Erleben der Patientin mit meiner Intervention den Vater exkulpiert, ihr vielleicht gar die Schuld zugeschoben, und sie damit allein gelassen.

Im Fall der Patientin (Brigitte O.), die als Kind auf einem Fahrradausflug vom Stiefvater und als Jugendliche ebenfalls auf einem Fahrradausflug von einem Fremden vergewaltigt worden war, versuchte ich mit der Bemerkung, es sei tragisch, dass die Menschen die ihnen einmal angetane Gewalt gezwungen seien, immer wieder zu erleben, empathisch zu sein. Aber die Patientin entnahm meinen Worten den Vorwurf, sie habe die Vergewaltigung im Jugendlichenalter provoziert (wie die Mutter ausrief, als sie von der Vergewaltigung hörte: »Wie

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konntest du uns das antun!«), sei also schuld daran, und reagierte mit so heftiger Wut, dass die Therapie fast abgebrochen worden wäre. Die erste Therapiephase muss also von einem unterstützenden Begleiten und vorwiegendem Bestätigen von Erinnerung und Wahrnehmung bestimmt sein, und zwar in allen Bereichen wie Kindheit, heutige Beziehung zu den realen Eltern und aktuelle Partnerbeziehungen. Amati (1990, S. 731) spricht von der »Unschuldsvermutung«, mit der der Patient ohne Reserve angenommen und angehört werden muss. Heigl-Evers und Ott (1997) sprechen in diesem Zusammenhang von »Schicksalsrespekt«. Dadurch können in einer ersten Öffnung Erinnerungen mitgeteilt werden, und in dem Gefühl, solidarisch gestützt zu sein, wird eine erste Äußerung von Wut und eine erste Verminderung von Schuldgefühl möglich. Amati (1990, S. 731) drückt es für die Therapie von Folteropfern so aus: »Die Verfügbarkeit des Therapeuten, der meines Erachtens am Anfang der Kur eher Depositar (Verwahrungsnehmer) und alternatives Identifizierungsobjekt als Übertragungsobjekt ist, scheint von wesentlicher Bedeutung zu sein.« Dementsprechend sollten Übertragungsdeutungen hier vermieden werden (Amati 1990). Denn Übertragung bedeutete, dass der Ursprung des interpersonellen Geschehens im Patienten liegt, dass er also die Verantwortung für sein Erleben (z. B. von Missverständnis, Affektlosigkeit, Hilflosigkeit) zugeschrieben bekäme, die er noch längst nicht tragen kann. Geradezu paradox erscheint die Notwendigkeit, dem Patienten nicht gleich alle Schuldgefühle zu nehmen, ein Gedanke, der auf Fairbairn (1952, S. 69; s. nächstes Kapitel) zurückgeht. Aber Schuldgefühle sind Ausdruck der Anwesenheit der (wenn auch traumatischen) vertrauten inneren Objekte, und Fairbairn zufolge würde »die Welt um den Patienten mit Teufeln bevölkert« (S. 69; Übersetzung M. H.), wenn man sie ihnen zu schnell wegnähme.

Durcharbeiten Mit fortschreitender Belastbarkeit der Beziehung und größer werdendem Vertrauen können zunehmend negative Qualitäten in die therapeutische Beziehung gelangen, und zwar entweder durch äußere Er­eignisse wie besonders Trennungssituationen, zum Beispiel erste Pra­xisferien, oder dadurch, dass zunehmend eine Konfrontation mit den destruktiven Anteilen des Patienten erfolgt. Insbesondere autoaggressives Agieren, in Beziehungen oder gegen den eigenen Körper, hat immer auch einen Selbstbestrafungsaspekt und soll Schuldgefühle mindern.



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Durch die Konfrontation werden nun Therapeut und Therapie als böse Objekte erlebt, paranoide Ängste gegen sie gerichtet und sozusagen Gegenmaßnahmen ergriffen: Alte Objekte, etwa Partner aus de­struk­ tiven, eigentlich beendeten Beziehungen, werden wieder aufgesucht, die Symptomatik von Depression, Suizidalität, Angst und Suchtmittelmissbrauch flammt wieder auf. Auch die Weigerung des The­rapeuten, die bisher notwendige Idealisierung von Objekten der Vergangenheit oder Gegenwart weiter mitzuvollziehen, erzeugt Wut, da sie einer Trennungsaufforderung bzw. -bedrohung entspricht. Wer die Verleugnung nicht teilt, macht sich zum Verfolger (vgl. Ahlheim 1985, S. 342). Das Schuldgefühle machende Introjekt wird nun im Therapeuten wiedererlebt. Deshalb entstehen wie an einer Nahtstelle zwischen alten und Übertragungsobjekten Vorwürfe, die wir bereits kennengelernt haben: »Ich habe doch selbst ständig Schuldgefühle, und jetzt machen Sie mir auch noch Vorwürfe!« Hier entsteht die Notwendigkeit, an der Unterscheidungsfähigkeit von innen und außen zu arbeiten und sie zu stärken (Amati 1990; Becker 1990). Die Aggression, der Hass auch anderen Objekten gegenüber muss nun auf die Übertragung bezogen werden, denn wenn sie gegen den Täter gerichtet bleibt in einer Solidarität mit dem Patienten gegen den Täter, bleibt das Introjekt erhalten, und es erfolgt keine Trennung des Patienten von der Identität eines Opfers. Ein Beispiel: Veronika A. war am Wochenende allein gewesen, ihr Mann war weggefahren. Sie hatte eigentlich vor, sich Pornovideos zu holen, hat sich das aber nicht getraut, sondern schließlich zwei sentimentale Liebesfilme ausgeliehen. Sie hat das Wochenende also nur zu Hause verbracht und versucht, die Depression mit Alkohol zu bekämpfen. Sie will bedauert und getröstet sein. Ich sage aber: Das sei ein schwaches Bild, sie hätte aus dem Wochenende doch etwas Konstruktives machen können … Sie wehrt sich heftig, das hätte sie nicht von mir erwartet, gerade von mir nicht! Immer hat sie Vorwürfe gehört, ihr ganzes Leben Vorwürfe, hat sie sich auch selbst gemacht, sie will sie nicht auch noch von mir hören! Ich sage, sie wolle von ihren Schuldgefühlen wegen des Wochenendes entlastet werden. Als ob sie es absichtlich missversteht, fragt sie: »Wieso Schuld – sind denn alle Kinder schuldig?« Ich fühle mich gedrängt, eine rechtfertigende Erklärung abzugeben, und schweige. – »Warum sagen Sie nichts?!« – Ich erkläre, dass ich das Gefühl habe, sie wolle mich zwingen, einen Vortrag zu halten, damit sie von sich abgelenkt ist, sich nicht allein und abgelehnt fühlen muss und damit sie wenigstens etwas bekomme. – »Ja«, schreit sie, »ich will allerdings was haben, alle haben mich immer allein gelassen, auch Sie, ich hasse Sie!« Darüber ist sie erschrocken, sie habe nie einen derartigen Wutausbruch gehabt, fühle sich aber erleichtert. Wäre es nach der Patientin gegangen, hätte ich sie in ihrer Zerknirschung – Vorwürfe mache sie sich schon allein – bestätigen und trösten sollen; ich hätte sie in ihrer Opferrolle bestärkt. Da ich aber ihre Täter- und Schuldseite konfrontatorisch akzentuierte, konnte sie (endlich) die Wut empfinden, die sie bisher stets unterdrückt oder gegen sich selbst gerichtet hatte.

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Schuld und Schuldgefühl

Man kann zwar meines Erachtens nicht erwarten, dass das ganze Ausmaß an Aggression, das dem ursprünglichen Trauma entspricht, immer in die therapeutische Beziehung gelangen wird. Wie soll ein Analytiker im ganzen Umfang als Folterer erlebt werden können, ohne dass die Beziehung zerstört würde. Aber wenigstens theoretisch würde ich meinen, dass nach und nach, womöglich in verschiedenen therapeutischen Beziehungen oder fraktionierten Therapieabschnitten das Trauma in der Übertragung wiedererlebt werden muss. Dieser Gedanke geht auf Ferenczi zurück (Haynal 1989, S. 324), der allerdings meinte, das Traumaerleben allein sei nicht heilend (Ferenczi 1985, S. 257), man würde das Erleben einer gleichzeitig vorliegenden positiven Beziehungsqualität (also eine Art therapeutische Ich-Spaltung des Patienten) fordern müssen. Aber auch die in der Gegenübertragung auftretenden Gefühle von Wut, Angst, Scham und Schuldgefühl müssen ausgehalten und im rechten Maß und zur rechten Zeit auch kommuniziert werden. Becker (1990) folgt hier Winnicott (1947), der annahm, dass der schwergestörte Patient den eigenen Hass auf den Analytiker nur dann ertragen kann, wenn dieser den seinen erlebt, mitteilt und aushält. Wenn die Angst jedoch zu groß zu werden droht, sieht sich der Patient vor der Entscheidung, ob er weiter fortschreiten oder nicht lieber zu den alten Objekten und ihren Vertretern zurückkehren soll. Meines Erachtens ist die negative therapeutische Reaktion, also das Phänomen, dass sich trotz oder vielmehr gerade wegen einer treffenden Deutung die Symptomatik verschlechtert (Freud 1923b), zu einem guten Teil auf diese Rückkehr zurückzuführen (Hirsch 1994; 2013). So ist Fairbairns (1952, S. 69) Beobachtung zu verstehen, dass die negative therapeutische Reaktion auftritt, wenn die Analyse den Patienten zu früh von Schuldgefühlen entlastet, das heißt, die Verbindung zum inneren Objekt schwächt oder wegnimmt. Und auch Green (referiert in Kittler 1991, S. 134) zufolge äußert sich »das beharrliche Festhalten an einem schlechten inneren Objekt in einer negativen therapeutischen Reaktion«. Shengold (1989a, S. 321) nennt dieses Problem eine Herausforderung für das Opfer, das »das Gefühl erfahren hat, daß es unmöglich ist, ohne die innere Anwesenheit des Aggressors zu existieren, des Seelenmörders, mit dem das Opfer sich identifiziert hat … Im Bedürfnis nach der Bindung an die Eltern liegt der Kern des Widerstands gegen Veränderung.« Am folgenden Beispiel soll gezeigt werden, wie das Introjekt, das in die realen Beziehungen externalisiert wurde, als Alternative zum therapeutischen Objekt bzw. zum Fortschritt in der Therapie fungieren kann.



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Über die gesamte Dauer der bisher zweijährigen Therapie von Regine G. war das Inzestthema ständig präsent, ohne dass ein reales Inzesttrauma verifiziert werden konnte. Jetzt hat sie einen neuen Freund, einen Vater von zwei Kindern, bei denen der Verdacht, dass sie sexuell missbraucht worden seien, dadurch aufgetaucht ist, dass der sechsjährige Sohn ein extrem sexualisiertes Verhalten zeigte. Der Freund der Patientin will das Sorgerecht beantragen; am liebsten möchte sie nicht mit diesem Thema in Berührung kommen. Aber dann müsste sie sich von ihm trennen, das wolle sie auch nicht. – Schweigen. – Ich sage: »Wie ein fremder Brocken, dessen Verdauung angst macht. Entweder ist eine Trennung notwendig, oder es entsteht eine noch größere Angst, dass das Thema auch Ihres ist, es aus Ihnen verstärkt herauskommt, indem es an Sie herangetragen wird.« – Daraufhin sagt sie: Vor ein paar Tagen habe sie der Junge so manipulieren wollen, dass sie, hätte sie ihm nachgegeben, zusammen geschlafen hätten. Sie habe sich gewehrt, aber trotzdem Schuldgefühle gehabt, als hätte sie es getan, nämlich das Sexuelle zugelassen. Dann entstand Wut auf den Jungen, als wolle er sie fertigmachen, die Wut mache auch wieder Schuldgefühle, sie könnte ihm den Hals umdrehen, ihn an die Wand klatschen! – Ich sage: Sie könne weder vor noch zurück, sie sei von Schuld umkreist – als ob der Junge sie prüfen wolle, sie könne aber die Prüfung nicht bestehen, was sie auch tue, erzeuge Schuldgefühle. Sie entgegnet, das habe so viel in ihr ausgelöst, dass sie es nicht ertragen könne. Manchmal könne sie nicht schlafen, aus Angst, er könne zu ihr kommen.

Das Introjekt der Patientin äußert sich als in der äußeren Realität auftauchendes Inzestthema. Dadurch, dass sie es aber so hoch besetzt, ihm keine Grenze entgegensetzen kann, nimmt es den ganzen Raum der Therapie ein und wirkt so als Widerstand. Denn die Patientin braucht so nicht über die Beziehung zum neuen Partner zu sprechen, weil alles Negative im Problem des »übergriffigen« Kindes gebunden ist, als wäre alles gut, wenn das gelöst wäre. Kein Gedanke, dass das Böse im Partner oder in ihr selbst stecken könnte. Sie braucht nicht zu fragen, wer er ist, auch nicht, wer sie ist, die sie ihn gefunden hat, und wie die Beziehung ist. Tatsächlich vermied die Patientin nun das Thema »sexueller Missbrauch« weitgehend, sprach nicht mehr über ihre Beziehung und brach die Therapie nicht lange danach ab. Stagniert die analytische Therapie hartnäckig, sollte man als Ursache des Widerstands ein zähes Festhalten an einem traumatischen Introjekt in Betracht ziehen, das eben auch Schuldgefühl wegen der Versuche, sich von ihm zu trennen, macht. In einem von Modell (1965, S. 328) vorgestellten Fall, in dem die Analyse stagnierte, bedeutete ein Fortschritt in der Phantasie des Patienten, dass sich die Mutter umbringen würde. Es ist zu überlegen, ob nicht ein aktives therapeutisches Vorgehen die Externalisierung fördern kann, indem auf Initiative des Therapeuten Abhängigkeiten und lebensgeschichtliche Daten eindringlich konfrontierend geschildert werden, auch Bilder entworfen werden, die der Patient zu denken nicht in der Lage ist. Eine Patientin, Angelika A., von der ich wusste, dass ihre Mutter die ostpreußische Heimat verloren

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hatte, brach in Tränen aus, als ich in der therapeutischen Gruppe ein Bild von endlosen wogenden Weizenfeldern rings um das unwiederbringlich verlorene Gut der Familie der Mutter entwarf (vgl. Teil II, S. 272 f.); bei einer anderen Patientin, die ratlos vor der Nazi-Vergangenheit ihres Vaters stand, kamen verborgene Affekte ans Licht, als ich die Vorstellung einer Gerichtsverhandlung im besetzten Deutschland nach dem Krieg durch die Alliierten und die Möglichkeit der Todesstrafe drastisch schilderte. Konfrontationen mit Charakter- und Körpergewohnheiten zog bereits Reich (1933) in Betracht, in neuerer Zeit fordern Gedo (1993) und Moser (1996) ein unter Umständen affektiv-aktives psychodramatisches Vorgehen vonseiten des Therapeuten.

Trennung Es ist hier eine Trennung vom verinnerlichten Gewaltsystem gemeint, die ein Aufgeben der Opfer-Identität bedeutet. Das ist aber die Identität, in der man sich eingerichtet hatte; eine Trennung macht unter Umständen extreme Angst und große Schuldgefühle, wie bereits beschrieben. Es erscheint wieder paradox, dass dazu die Schuldzuweisung an den Täter aufhören soll; diese behält zwar ihre Berechtigung, der Patient aber darf dabei nicht stehenbleiben, da das Festhalten am »blaming« verhindert, dass sowohl die eigenen Schuldanteile wie auch eine zukünftige Identitätsentwicklung frei von der Verbundenheit mit der Vergangenheit und ihren traumatischen Introjekten gesehen werden kann. Ebenso muss auch einmal das dem Trauma entsprechende Introjekt als zum Selbst zugehörig anerkannt werden, es wird also zunehmend um die Anteile des Patienten und seine Verantwortung für sein Leben gehen und nicht so sehr um das, was ihm einmal angetan wurde und entsprechend seinen internalisierten Erfahrungen noch aktuell angetan wird. Hier entsteht nun die zentrale Aufgabe der Therapie, Schuldgefühlsund Schuldbereiche zu differenzieren. Dabei nehme ich drei große Gruppen an: 1. Das Schuldgefühl, das vom Introjekt verursacht wird, das einer glo­ balen identifikatorischen Übernahme der Schuld des Täters oder der Vertreter des Gewaltsystems (des familiären oder gesellschaftlichen) entspricht. Hier sind wiederum Abteilungen zu differenzieren wie Ba­sis­schuld­gefühl (z. B. Unerwünschtsein, Rollenumkehr), Schuldgefühl aus Vitalitätsgründen, traumatisches Schuldgefühl. 2. Das Schuldgefühl aufgrund der Trennungsbestrebungen. Das Opfer



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erfüllt für das Gewaltsystem eine wichtige Funktion, wie es auch selbst nicht auf die Zugehörigkeit zu ihm verzichten kann. (Das ist für den Fall der familiären Gewalt unmittelbar einleuchtend; für den Fall von anderen Gewalteinwirkungen wie Folter insofern, als im Gewaltakt selbst eine regressive symbiotische Täter-Opfer-Verschmelzung eintritt.) 3. Die reale Schuld und Verantwortung aufgrund der Identifikation mit der Gewalt und ihrem Introjekt, der einmal die Vernachlässigung der eigenen Lebensverwirklichung entspricht, das Festhalten an der Opfer-Identität (primäre Identifikation), zum anderen die Wendung der einmal selbst erlittenen Aggression nach außen gegen Schwä­ chere (sekundäre Identifikation). Ich möchte auch an die vielfältige Determinierung der Schuldgefühle und der Schuld des weiblichen Inzestopfers erinnern (s. S. 262). Eine Aufgabe jeder psychoanalytischen oder psychodynamischen Therapie ist es ja, Unbewusstes und auch das »ungedacht Bekannte« (Bollas 1987) nicht nur bewusst zu machen, sondern auch die Fragmente zu ordnen und die Vorstellungen von der Lebensgeschichte des Patienten und seine Beziehungsschicksale konkreter, sozusagen anfassbarer werden zu lassen. Denn nur von dem, was man sicher kennt, kann man sich trennen, und Psychotherapie ist Trennungs- und Trauerarbeit. Wie kompliziert eine derartige Differenzierung sein kann, soll das Beispiel einer Gruppenpsychotherapie-Sitzung illustrieren: Benigna U. klagt, sie könne nicht selbstständig sein. Sie habe sich zwar getrennt, aber ihr Mann habe ihr kein Auto gekauft, worum sie ihn gebeten hatte, sie wisse nicht, wie man das mache. Es stellt sich heraus, dass sie nicht weiß, dass Stellenanzeigen mittwochs und samstags in der Zeitung erscheinen, wie man Schecks ausfüllt und so weiter, kurz, sie hängt an ihrer Unselbstständigkeit. Bärbel S., die selbst große Autonomieprobleme hat, auch besonders als Frau, äußert, dass sie ziemlich entsetzt sei, dass Frau U., Anfang 30 und mit zwei Kindern, so unselb­st­ ständig sei. Daraufhin reagiert Frau U. sehr wütend, Frau S. sei absolut brutal! Sie springt in ihrer Erregung auf, verlässt den Raum – auf die Frage, wohin sie gehe: »Aufs Klo …« Nun beginnt Frau S. zu weinen, sie fühle sich schuldig, wie immer, wenn sie mal aggressiv sei. Frau U. kehrt zurück, sie ist immer noch empört, fühlt sich völlig blockiert, denn das sei es, was man immer aus ihr gemacht habe, nämlich eine Täterin, obwohl sie doch Opfer sei. Es sei immer dasselbe; wenn beispielsweise der Vater sie am Hintern angepackt und sie sich dagegen verwahrt habe, habe er geantwortet: »Du bist aber komisch, was stellst du dich so an!« Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, zu intervenieren, und meine, einen Ansatzpunkt gefunden zu haben: Die Reaktion von Frau S. sei nicht so sehr brutal gewesen, meine ich, Frau U. habe sicher vielmehr das Gefühl gehabt, dass es brutal gewesen sei. Während nun Frau S. sich sehr (von ihrem Schuldgefühl) entlastet fühlt, fühlt sich Frau U. missverstanden und weiter in eine Täterecke gedrängt, aus der sie jedenfalls in dieser Sitzung nicht mehr herauskommt.

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Für meine Begriffe ist Frau S. mehr in der Lage, Schuldgefühl und Verantwortung zu trennen. Sie spricht mehr über sich, hat weniger Schuldzuweisung nötig. Frau U. dagegen kann Schuld und Schuldgefühl nicht trennen, kann die Verantwortung für eine gegenwärtige Handlung von einer Schuldzuweisung damals, deren Opfer sie war, nicht auseinanderhalten (ähnlich Anton V., s. S. 305). Es folgt nun ein Beispiel aus einer analytischen Einzeltherapie unter meiner Supervision11, in dem reale Schuld auf ein habituelles Schuldge­ fühl aufgepfropft wird. In der Therapie entstand die Aufgabe, beide voneinander zu differenzieren. Es handelt sich um eine Patientin, die hatte Suizid begehen und ihre Tochter mit in den Tod nehmen wollen, sie selbst wurde gerettet, während die Tochter starb. Trotz ihres Alkoholismus hat sie ihre Arbeitsstelle in einem privaten Krankenhaus bisher behalten können. Die Patientin differenziert zwei Über-Ich-Stimmen: Patientin: ’ne ganze Zeit lang war das mal so, das ist aber nicht mehr, dass die eine Stimme gesagt hat, ich wär’schuldig und die andere Stimme hat immer gesagt, ich wär’ das gar nicht in schuld. Therapeut: Jetzt Moment: Was hat die andere Stimme gesagt? Patientin: Ich wär’s nicht in schuld. Therapeut: Sie wären es nicht in schuld? Patientin: Ja … Das war dann mit der Ulla [der Tochter der Patientin] aber … Therapeut: … also das heißt, verstehe ich das richtig, Frau H., dass dieses ›Ich bin schuldig‹, das und auch dies ›ich wär’s nicht in schuld‹ bezieht sich auf die Ulla. Patientin: … dass sie gestorben ist.

Nun versucht die Patientin eine Schuldentlastung, indem sie darauf hinweist, dass die Tochter hätte gerettet werden können, wenn das Telefon nicht defekt gewesen wäre. Der Therapeut greift das Bild vom gestörten Kontakt metaphorisch auf und entlastet sie von dem Schuldgefühl, zu den Menschen keinen Kontakt finden zu können, was wohl zur Suizidalität beigetragen habe. Therapeut: … in diesem Sinne sind Sie nicht schuldig, weil Sie es nicht in der Hand hatten, den Kontakt zu verbessern zwischen sich und den andern Menschen …, die Sie damals umgeben haben.

Die Patientin geht zu ihrer Schuld zurück, als sie sich fragt, ob sie überhaupt hätte telefonieren wollen, und macht sich weiter Vorwürfe.

11 Ich danke der Patientin und Johannes Pfäfflin für das Einverständnis, das Fallmaterial zu verwenden.



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Patientin: Läuft mir denn das das ganze Leben nach? Dass ich deswegen überhaupt mich nicht mehr richtig freuen kann, obwohl ich mich manchmal richtig freuen möchte … Und die sind alle nett. Ich hab’ soviel nette Erlebnisse da auch im Büro und … die mögen mich alle.

Nun geht es darum, dass die Kontakte zu anderen Menschen behindert werden durch das Schuldgefühl und die Vorstellung der Patientin, dass sie mit einer Krebserkrankung leichter leben könne. Therapeut: Ja, mit Krebs zu leben und mit einem zerstörten Körper, als die Schuld zu tragen, die Sie auf sich geladen haben. Patientin: Wahrscheinlich … und das kommt mir immer so stark zu Bewusstsein, wenn es mir eben so gut ging, wie jetzt in den letzten 14 Tagen.

Es geht jetzt um einen Rückfall in den Alkoholmissbrauch und darum, dass der Chefarzt, mit dem sie gesprochen hatte, sie gedeckt hat. Therapeut: Also in dem Punkt, wo es um diesen Rückfall geht … hat der Chefarzt sie entschuldigt. Patientin: Na, ich weiß nicht, ob er das – entschuldigt. Wahrscheinlich nicht, der das … Therapeut: … Sie sprechen jetzt über sich wie jemand, der kein Verständnis für sich hat. Patientin: Ne, dafür hab’ ich auch kein Verständnis. Für manche Dinge hab’ ich ja auch kein Verständnis, echt nicht … Therapeut: Ja, zum Beispiel auch dafür kein Verständnis, dass Sie Schuld mit daran tragen könnten, dass Ulla nicht mehr lebt. Patientin: Natürlich, ich hab’ sie gesucht, die ganze Schuld, das ist es ja. Es sind ja nur Ausweichmanöver, die ich da so an den Tage leg’.

Die Patientin möchte also nicht einfach von der realen Schuld, wegen des Alkoholismus und wegen des Todes der Tochter, freigesprochen werden. Patientin: Ich kann ja gar nichts abgeben [von der Schuld], das ist ja das Schlimme. Wenn ich was abgeben könnte, dann ging’s mir besser. Therapeut: Wenn Sie sich verstehen lernen könnten, kann ich mir vorstellen, dass es Sie auch ein bisschen entlasten könnte. Patientin: Ja, aber es ist immer schon so gewesen, immer schon, immer wenn irgend etwas war, ich war immer schuld, oder ich hab’ das immer gemeint. Ich hab’ immer gemeint, ich habe jetzt die ganze Situation vermasselt. Wenn Streit war, war ich immer diejenige, die sich gleich den ganzen Streit anzog, immer ich. Wenn’s Missverständnisse waren, immer ich war’s. Hab’ ich immer gemeint. Mein’ ich auch heute noch. Therapeut: Also schon früher … Patientin: Wenn einer nicht mehr mit mir sprach, egal, ob ich was gemacht hatte oder nicht, ich bin immer hingegangen und hab’ gesagt: ›Man, sprich’ wieder mit mir.‹ Und ich hab’ gar nichts gemacht. Nur damit ich nicht diese Gefühle hatte, jetzt hab’ ich wieder alles, bin ich wieder alles schuld. Das muss so tief in mir drin

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Schuld und Schuldgefühl

sitzen, das ist ja auch, wenn mal jemand frech zu mir ist, dann mein’ ich immer, ich hätt’ jetzt wieder was gemacht.

In der letzten Passage nun ging es um das althergebrachte Schuldgefühl der Patientin, hier wäre eine analytische Bearbeitung angebracht, während die Patientin selbst deutlich zu erkennen gegeben hat, dass sie an ihrer realen Schuld tragen möchte, sie anerkannt haben möchte, worin sie zu bestärken wäre. Wie man sieht, geht es ohne Stellungnahme des Therapeuten nicht, denn ohne die Schiedsrichterfunktion eines Dritten würde der Zirkel von Schuldgefühl und Schuldvorwurf endlos gehen (vgl. auch den Ab­schnitt »Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl«, S. 288 f.). Die Differenzierung der verschiedenen Schuldgefühlsanteile voneinander einerseits und des realen Schuldanteils von ihnen andererseits ist die Voraussetzung ihrer Bearbeitung. Kurz gesagt, soll das Schuldgefühl »weganalysiert« werden, muss es auf seine Ursprünge, auf die dahinterliegenden Traumata, Defizite und Konflikte, die das Opfer nicht zu verantworten hat, zurückgeführt werden, mit dem Ziel, dass es von ihnen befreit wird. Davon sorgfältig zu trennen ist das Schuldbewusst­ sein, das der realen Schuld aufgrund der Identifikation mit dem Introjekt und der daraus entstehenden Komplizenschaft entspricht. Dieses soll nicht »weganalysiert«, sondern im Gegenteil zunehmend benannt und anerkannt werden. Eine Patientin Nedelmanns (1996) hat die Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl, das auf der traumatischen Tat eines anderen beruhen würde, kreativ im Traum ausgedrückt: »Julia fühlte sich von einer Professorin unfair geprüft. Viele Menschen waren Zeugen und diskutierten heftig die Schuldfrage. Schließlich äußerte Julia sich selbst und sprach zu der Professorin: ›Ich gelte als ein höfliches Mädchen. Soweit ich die Schuld trage, nehme ich sie auf mich. Aber was Sie angerichtet haben, dafür kann ich nicht aufkommen.‹«

Die Lösung von der Opfer-Identität bedeutet sowohl Auflösung irra­ tionaler Schuldgefühle als auch Anerkennung eigenen Schuldanteils. Die Daseinsanalytiker haben die Notwendigkeit, Schuld und Verantwortung für sich zu übernehmen, als Befreiung von Fremdbestimmtheit, das heißt von Schuldgefühl, erkannt. Psychotherapie muss dem Menschen auch helfen, »seine Schuld zu erkennen und auszutragen« (Condrau 1962, S. 150). »Erst die beharrlich wiederholte Zurückweisung auf sich selbst, die ständige Frage, warum er denn ›jetzt‹ noch an diesem oder jenem Einfluß seines Vaters festhalten müsse und was ein solches Verhalten in bezug auf seine eigene Reifungsmöglichkeit bedeute, eröffnete ihm die Möglichkeit zur Übernahme eigener Verantwortlichkeit und damit auch der Schuld« (Condrau 1962, S. 164).



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Während die Daseinsanalytiker eher die Verantwortung für und Schuld an der eigenen Existenz meinen, gibt es meiner Meinung nach auch die Notwendigkeit der Anerkennung der realen Schuld durch die Tat aufgrund der Identifikation. Diesen Anteil zu erkennen und auszuhalten bedeutet, ein oft großes Maß von Scham zuzulassen und nicht abzuwehren, Scham, sich etwas Fremdem derart weitgehend unterworfen zu haben (Amati 1990). Und den Schuldanteil anzuerkennen bedeutet auch, Trauer zu empfinden, dass man selbst nicht anders war, neben der Trauer, dass das Schicksal und die Menschen, mit denen man zusammenlebte und -lebt, so und nicht anders, nämlich liebevoller, akzeptierender, glücklicher sein konnten. »Introjekttherapie« ist meines Erachtens deshalb auch immer Trauerarbeit entsprechend Freuds Gedanken in »Trauer und Melancholie« (1917e). Immer wieder müssen das verinnerlichte Objekt und die Erfahrungen mit ihm »besetzt«, also vergegenwärtigt werden; unter Schmerzen, Angst und Wut, auch Schuldgefühl wiederbelebt und angesehen, erkannt werden als das, was sie waren, was das Objekt getan hat und wie man – schuldlos – gezwungen war, es in sich hineinzunehmen, um tragischerweise wieder schuldig zu werden.

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Register

Abitur  224, 230–233, 241 »Abschalten« der Affekte  103 Abstillen 196 Abstinenz  10, 288, 291 Abtreibung  136, 140–141, 169, 222, 275 Adoleszenz  25, 34, 107, 118, 139–140, 154, 184, 187, 198, 209, 213, 220, 222–223, 250, 265, 272, 281–282 Adoption  137, 172–173, 175 Aggression  – kannibalistische-  24, 46, 58, 68–70, 73, 75–78, 80, 83–84, 88–89, 94, 97, 99, 102, 107, 109–116, 136, 156, 176, 182, 191–194, 199, 204, 206, 213, 226, 247, 249, 251, 256, 261, 268–269, 275, 295–296, 299 Ambivalenz  12, 23, 68, 70, 75, 79, 80, 88, 108, 152–154, 171, 176, 179, 190–191, 197, 204, 225–226, 234, 236, 247–248, 271 – orale  24 Angst  15, 31, 33–34, 38, 57–61, 64, 69–72, 76, 79–80, 83, 85, 96, 100–101, 105, 108–109, 111, 115, 121–123, 134, 137, 156, 158, 167, 175, 179–181, 183, 185, 189–190, 194, 197, 214–215, 223–224, 229–231, 233–235, 237–242, 247, 249–250, 252, 256–257, 263–264, 267, 273, 276, 281, 283, 292, 295–298, 303 – Existenz- 57 »Anna-selbdritt  152, 191 Anorexie  185, 197 »Anti-Ödipus« 237 antisozialen Tendenzen  71 Arbeit  10, 39, 50–51, 64, 71–72, 74, 78, 87, 92, 94–95, 101, 105, 109, 118, 124, 127, 130, 139, 157, 172, 177, 180–183, 186, 194, 209, 224, 227–229, 235, 237, 239, 246

Arbeitsstörung  74, 82, 134, 177, 182–186, 215, 223, 226–227, 230, 232–234, 238 Assimilierung von inneren Objekten  107 »Auschwitz-Ich« 58 Ausstoßungsmodus 133 Autofahren 240–241 Automatisieren 103 Autonomie  12–13, 15, 74, 79, 130, 185, 207, 211, 214–215, 219, 231 – Abhängigkeits-Konflikt  209, 237 – streben  23, 47, 73, 74 Beichte  45, 54 »Besorgnis« 71 Bindung  4, 45, 84, 157, 168, 190, 209, 296 »Bindungsmodus« 216 Borderline-Persönlichkeitsstörung 91 Brückenobjekt  123, 241 Bulimie  123, 185 Buße  52, 54 »caritas humana«  148, 150, 152 »container« 121 culpa 30 Daseinsanalyse  11, 31, 37 debitum 30 Delegation  101, 142 Depersonalisation 172 Dissoziation  90, 105 Doppelbotschaft 215 »Dopplung«  58, 125 double-bind 227 Dysmorphophobie 25 Einzelkind 156 »Elternmord« 211 Entschuldigung 29 »Entwöhnung der Mutter vom Kind«  211 Erbsünde  13, 30, 38, 44–45 Erfolg  13, 21, 55, 74, 82, 88, 180–186, 209, 214, 223–228, 232, 234, 238, 273 – »Don Juan des Erfolgs«  184 Ersatzkind  156, 157, 164–167, 184, 189

320 Register Externalisierung  86, 94, 112, 297 Extremtraumatisierung  65, 103, 202, 242, 256, 257 Familiengeheimnis  65, 175, 189, 193, 264 »Familienscham« 174 Folter  72, 85, 95, 103, 105, 124, 242, 255–256, 259, 278–279, 299 freie Assoziation  293 Führerschein 240–241 Geburt  21, 27, 37, 63, 74, 128–130, 133– 135, 137–138, 154, 157–160, 164–165, 167–168, 170, 172, 185, 189, 197, 212– 213, 216, 224, 232, 235, 250, 255, 263, 266–267, 270, 272–274, 276, 285–286 – Fehl-  136 – »Gnade der späten Geburt«  40 Gegenübertragung  64, 99, 169, 173, 187, 203, 296 Gewissen  28–29, 31–34, 38–40, 47, 49, 51, 53, 57, 67–69, 76, 81, 94–95, 115, 137 – autochthones  12, 36, 86 – autoritäres  33, 58 – personales 34, 36 – »Tabu-«  50, 75 – Vulgär-  33, 38 Grenzüberschreitung  16, 20, 22, 91, 122, 255 »guilt« 285 Gymnasiasten 230 – zwei Typen  246 »Herzkind«  138, 167, 178, 189 Herzneurosen 188 Homosexualität  220, 222 »Hormonkind« 213 Hypochondrie  25, 237–240, 253 Hysterie  105, 124 Ich-Bestrebungen  78, 79, 207, 209 Ich-Ideal  75, 91 Ideal-Ich  29, 52, 57, 133, 185, 203, 237, 245, 273 Ideal-Selbst  52, 259 Identifikation  12, 14, 22, 34–35, 43, 63, 65, 69–70, 72, 75, 85, 91, 93, 95, 98, 102–119, 121–122, 126, 132, 138–139, 165, 169, 171, 187–189, 196, 198, 200, 203–205, 213, 215–216, 243, 245, 253, 258–259, 261, 277–283, 287, 291, 299, 302–303 – Assimilation durch  82, 90

– »globale«  117, 204, 259, 283, 298 – kryptische  98, 103 – melancholische  95, 105 – mit dem Aggressor  12, 77, 102, 107, 111, 114–118, 203, 243, 278–279, 290 – mit dem Introjekt  70, 106–107, 203, 278, 302 – mit dem Opfer  116–117, 213, 244 – mit der Mutter  198 – mit der Nazi-Moral«  278 – primäre  117, 203, 213, 299 – Projektiv  121 – sekundäre  116, 258, 299 – tragische  203 – Über-  61 – Über-Ich-  76, 107 – Unterwerfung durch  259 Identität  15, 22, 25–26, 30, 34, 39, 47, 61, 86, 105, 113, 122, 133, 135–136, 140, 146, 154, 156, 158–159, 161–163, 165–166, 168, 172, 174, 184, 194, 199, 217, 221, 224, 228, 231–232, 234–237, 239, 253, 255–256, 263, 265, 295, 298–299, 302 – -sangst  38 – -sersatz  196 – geschlechtliche  25, 239 – primäre  113 – Zerstörung der  255 Implantation  72–74, 101–102, 113, 118, 124, 139, 162, 200, 202, 245, 255 Individuation  15, 22–23, 27, 187, 207, 211 Initiation  26, 235–236 Inkorporation  97, 103–104 Internalisierung  36, 70, 75, 89, 93, 104, 108, 117, 200, 202, 278 Introjekt  12–13, 70, 72, 83, 88, 91, 94, 96–99, 102, 104–107, 114–115, 117, 119–120, 123–126, 156–157, 163, 165–166, 172, 174, 200, 203, 238, 242, 246–248, 252, 254, 258, 260, 264–265, 267, 270–271, 278–279, 282–283, 286, 288, 291, 293, 295–299, 302 – als Objektersatz  246 Introjektion  68, 70, 72, 74–75, 77, 82, 87, 90–95, 97, 99, 101–105, 107–109, 111, 113, 115, 117, 119–121, 123, 125, 139, 166, 200, 245, 255, 261 – extraktive  119



Register 321

– der Schuld des Täters  245 Intrusion  101, 119, 136 Inzest  25, 94, 123, 144, 174–175, 180, 189, 197, 220, 223, 244, 265–266, 271, 278 – -Familie  245 – latenter  214 – -schranke  173 – -Vater  61 – -verbot  219, 270 – -wunsch  270 inzestuöse Partnerwahl  220 Kastration  111, 183, 226, 251 – -sangst  271 – -sdrohung  236 Kind als Opfer  213 Kinderprostitution  148, 218 Kinderwunsch  136, 253 Kindesmisshandlung 105 Konkretisierung  97, 106 KZ-Haft  72, 85, 103, 167, 242, 255–256, 278 KZ-Opfer in der zweiten Generation  260 Leere  99, 120, 168–171, 213, 235, 253, 261, 267, 272–274 Lernstörung 185 Loyalität  227, 251 Masochismus  78, 87 Masturbation  111, 198, 222–223 Melancholie  52, 67–68, 77, 87–89, 93, 100, 104, 247, 303 Menstruation 212 Metaphysische Schuld  28 Migration  105, 262 Mitleid 277 Moral  16, 31, 34, 36–37, 55, 277–278, 284, 288 motivational-funktionalen Systeme  23, 209 »Muselmann«-Syndrom 257 Nacktheit  22, 24–25, 27 Namensgebung  22, 24, 26–27, 39, 160–161 Nebenbemerkungen Freuds  93 negative therapeutische Reaktion  92, 215, 296 Neid  156, 176–177 Neubeginn 26 Objektbeziehungstheorie 100 Ödipus-Drama 172 Ödipus-Komplex  21, 79, 86–89, 177, 183, 237, 266

– früher  77 Ödipus-Mythos 266 Opfer-Identität  61, 298–299, 302 Paargespräche 62 »Palimpsest«  95, 260 Parentifizierung 142 Partnerersatz  144, 253, 275 »Pelikan«  149, 191–196, 266 Penisneid 153 Priesterberuf 222 Projektion  50, 85, 90–91, 94, 110, 112–113, 121, 149, 155–156, 171, 261, 290–291 Prüfer  – Angst vor dem Prüfer  237 – Psychologie des  236 Prüfungsangst  74, 177, 182–183, 215, 223, 225–226, 230, 233, 240–241 pseudo-ödipal  213, 266, 276 Ressentiment 291 Reue  12, 14, 29–30, 45, 48–49, 55, 62, 71, 284 Rollenumkehr  73, 75, 130, 135, 141–146, 148, 171, 213, 216, 225, 241, 251, 253, 260, 272, 275, 290, 298 Sadismus  77, 81–82, 94 Scham  14–16, 22, 24–26, 29, 40, 52, 57–58, 123, 133, 139, 174–175, 180, 201, 223, 265–266, 280, 284, 287–288, 291–292, 296, 303 – Abhängigkeits-  227 – Überlebens-  203 – Verbrechen aus  86 Schmerz  15, 18, 59–60, 85, 101, 118–119, 125, 132, 160, 190, 212 Schöpfungsmythen  15–16, 39 Schreibhemmung 230 Schuld – All-  37 – -angst  69, 225 – -anerkennung  29, 42, 47–48, 52–53, 55, 195, 284 – Basis-  38 – -bewältigung  30, 47, 49, 51–53, 55 – -bewusstsein  29, 35, 37, 47–52, 56, 58, 62, 67–69, 84, 193, 258, 264, 267, 284–285, 302 – -dialektik  46 – Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl 292

322 Register – -dilemma  46–47, 267 – durch Identifikation  303 – -erfahrung  29, 48, 54 – -erleben  14–15, 29–30, 48, 51, 285 – Existential-  31 – existentielle  31 – Existenzs-  30, 34, 46, 56 – -fähigkeit  15, 22, 30, 43 – und Freiheit  43 – Kollektiv-  40–42 – kriminelle  28 – metaphysische  28 – – Mit-  278 – moralische  28, 52 – »- der Mütter«  60 – - des Opfers  267, 277, 279, 281, 283–284 – politische  28 – Tat-  38 – tragische  43, 46 – Überlebens-  40 – -vorwurf  61 – -zuweisung  46, 58–59, 61, 110, 157, 202, 298, 300 Schuldgefühl – Abwehr von – 84–85, 87, 89 –Angst und  64, 85, 240 – Basis-  13, 72–75, 127, 129–131, 133, 135, 137–139, 141, 143, 145, 147, 149, 151, 153, 155, 157, 159, 161, 163, 165, 167, 169, 171, 173–175, 212–213, 217, 243, 268, 270, 275, 298 – Differenzierung von Schuldgefühl und Schuld 292 – »entlehntes«  68, 106 – normales  49 – ödipales  21, 73 – präödipales  177 – traumatisches  13, 74, 242–243, 245, 247, 249, 251, 253, 255, 257, 259, 261, 263, 265, 267, 269, 271, 273 – Trennungs-  12, 13, 18, 73, 79, 130, 167, 177, 180, 182, 191, 207–209, 211, 213, 215, 217, 219, 221, 223, 225, 227, 229, 231, 233, 235, 237, 239, 241, 245, 261 – unbewusstes  93 – Überlebenden-  12, 40, 73–74, 166–167, 177, 199, 202, 206, 246, 248, 257, 287 – »Verbrechen aus -«  86, 89 – aus Vitalität  13, 73, 75, 79, 176–177, 179,

181–183, 185, 187, 189, 191, 193, 195, 197, 199, 201, 203, 205, 210, 219, 284 Schwangerschaft  74, 87, 96, 117, 128–129, 132–136, 139–141, 154–155, 159, 167, 196, 198, 214, 216, 238–239, 252, 267 – -ssängste  238 »Seelenmord« 105 Selbstbeschädigung  62, 92, 124 Selbstbestrafung 88 Selbstdestruktion  68, 115, 125 Selbst-Objekt-Differenzierung  207, 210, 225 Separation-Individuation 207–211 Sexualisierung  123–124, 253, 269 Sexualität  13, 15, 24–25, 46, 73, 77, 101, 123–124, 131, 146–147, 178, 180–182, 214, 219, 221–223, 245, 251–253, 271 – bedeutet Trennung  219 sexueller Missbrauch  95, 118, 293, 297 sexuelle Perversion  220–221 Somatisierung  199, 205, 286 Spaltung  23, 58, 80, 90, 103, 107, 125, 165, 172, 188, 201, 296 – vertikale  103 »Sprachverwirrung«  77, 100–101, 108, 113 »Stockholm-Syndrom« 280 Strafbedürfnis  86, 92, 94, 107, 156 Sublimierung 162 Sünde  18, 28, 36–37, 45, 55, 127, 137, 194, 277, 284 – Ur-  193 Sündenbock 58–59 Sündenfall  16, 21, 25, 27, 45, 180 Suizidalität  84, 111, 127, 131, 295, 300 »Superego-Intropression«  78, 101 Täter-Opfer-Gleichsetzung 286 Täter-Opfer-Umkehr 286 Teilobjekte  23, 268 »telescoping« – der Erfahrungen  243 – der Generationen  260 »Terrorismus des Leidens«  73, 111, 118, 138, 143, 187 Therapie  14, 57, 61, 93, 96, 99, 106, 120, 122–123, 135, 139, 142, 146, 154–155, 157–158, 163, 166, 170, 173, 175, 179, 186, 189–190, 203, 214, 217–218, 225–227, 229, 233, 240, 243–244, 249–250, 252–254, 262, 265, 267, 269,



Register 323

271, 276, 278, 281–282, 284, 286–289, 292, 294–300 – erste Phase  293 –»Introjekt« 295 – als Trennungsbedrohung  217 therapeutisches Objekt  296 Tod  15–16, 20, 24, 34, 37, 39, 51, 77, 94–95, 98, 105, 120, 138–139, 144, 156–160, 162, 164–168, 170–171, 178, 180, 186, 189–190, 197, 199–201, 204–206, 210, 219, 224–225, 235, 238–239, 244, 247–252, 254–255, 261, 263, 268, 270, 274–275, 279, 286, 300 – Angst vor dem  34 – Gleichsetzung mit Trennung  225 Todestrieb  12, 70, 77, 80–81, 83, 124, 130–131 Todeswunsch 284–285 »tote Mutter«  95, 169 Totgeburt 159 »tragischer Mensch«  64 transgenerationale Transmission  95, 260, 264 Trauer  29, 52, 54, 61, 87, 89, 93, 105, 124, 164, 166, 205, 213, 247–249, 257, 260–262, 292, 303 – arbeit  90, 105, 125, 156, 158, 204–205, 247–249, 254–255, 259, 299, 303 – pathologische Trauer  247 Trauma  21, 97, 100, 102, 130, 249, 260– 261, 263, 270, 282–283, 289, 292, 296, 298 – familiäres  243 – kumu­la­tive  106 – subtiles  120 – zweizeitiges  243 Traumatisierung  37, 74, 84–85, 90, 100, 102, 106, 112–113, 117, 122–123, 126, 243, 255, 258, 269, 286 Trennung  13, 15, 18, 23, 25, 74, 90, 92, 98, 107, 135, 166, 172, 180, 182–183, 190– 191, 207–208, 210–215, 217, 219–226, 228, 231, 236, 244, 246, 248, 250, 253– 254, 267, 274, 289–290, 293, 295, 297–298 – -sangst  143, 210, 214, 225, 237, 252 – -bedrohung  217 – über das verlorene Objekt  205 Triumph  89, 183, 201, 205, 225, 246, 251

– masochistischer Triumph  62 »Tun und Sein«  65 Über-Ich  29–32, 34–36, 49, 57, 68–69, 72–73, 75–80, 85–91, 94, 100–102, 107–108, 110, 113, 123–125, 133, 181, 184, 207, 210–211, 226, 234, 247, 259, 269–270, 288, 290–291, 300 – -Ich-Anteile  81, 186, 227, 229, 232, 275 – frühes  70 – reifes  82–83 – Suspendierung des  84 – Vorstufe des  33, 115 Überlebenden-Syndrom  199, 257 Überlebenskampf 287 Überstimulierung  91–92, 261, 269 Übertragung  64, 89, 91, 124, 146, 173, 190, 227, 265, 269, 271, 290, 292, 295–296 – sdeutung  65, 294 Umwelteinfluss 88 Ungeschehen-Machen  57, 205 Unschuldsvermutung  292, 294 Vaterfigur  – Prüfer als  236 Vater-Sehnsucht 275 Vater-Tochter-Bündnis 245 Verantwortung  28, 30, 33, 34, 38–42, 44, 47, 52–56, 58, 61–62, 65–66, 71, 88, 112, 131, 132, 135, 142, 171, 182, 186–187, 195–196, 224, 231, 233–234, 266–267, 275, 277, 281, 283, 288, 290, 294, 298–300, 302–303 – Mit-  13, 28, 277–278, 282 Vergebung 53 Vergewaltigung  59, 95, 98, 102–103, 115, 139, 178, 243, 255, 259, 278, 282, 293 Verführungstheorie  21, 62–63, 72, 100 Verleugnung  24, 57, 102, 130, 167, 204–205, 267, 270, 295 Verluste  72, 95, 105, 107, 118, 123, 169– 170, 246, 252, 260, 263, 265, 267, 272 Verschmelzung  126, 171, 210, 286, 299 Versöhnung  29, 42, 47, 53, 131 Vertreibung  13, 17, 20, 105, 208, 262 Verwerfung 95 Verzeihung  29, 51–52 Wendung gegen das eigene Selbst  115 Wendung von der Passivität zur Aktivität 108–109 Wendung gegen Schwächere  278

324 Register »Wiedehopf« 145 Wiederannäherung 212 Wiedergutmachung  29, 52–53, 55, 70–72, 128, 131, 162, 193, 205 Wiederholungszwang  59, 90, 97, 99, 124, 126 Zwillinge  197, 205

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