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German Pages [325] Year 2017
Mathias Hirsch
Schuld und
Schuldgefühl Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt Mit 5 Abbildungen
7., überarbeitete Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagabbildung: Masaccio »Die Vertreibung aus dem Paradies«, Science Photo Library / akg-images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-01473-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, 2002, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Karo Creativ Süd | KCS GmbH, Stelle
Inhalt
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. Schuld Schuld fängt »bei Adam und Eva« an. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die Schöpfungsgeschichte als Bild für die Ontogenese. . . . . . 22 Überblick über den Schuldbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Schuld und Gewissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Kritik des psychoanalytischen Gewissensbegriffs. . . . . . . . . . . . 35 Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Schuld und Gewissen im Kontext von Beziehung. . . . . . . . . . . . 39 Kollektivschuld und Generationenhaftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Christliche Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Schulddialektik und Schulddilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Schuldbewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Schuldbewusstsein und Reue. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Schuldanerkennung, Umkehr und Vergebung. . . . . . . . . . . . . 53 Juristische Schuldbewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Schuldabwehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Schuldzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 »Schuld der Mütter«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Psychoanalyse und Schuld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
II. Schuldgefühl Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 »Frühes« Über-Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 »Reifes« Über-Ich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6 Inhalt
Abwehr von Schuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Regression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 »Verbrechen aus Schuldgefühl«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Introjektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Unbewusstes, entlehntes Schuldgefühl (Freud 1923). . . . . . . 92 Das Introjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Ferenczi: »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Identifikation mit dem Introjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Identifikation mit dem Aggressor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Subtile Traumata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Sexualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Wiederholungszwang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl. . . . . . . . . . 127 Die Existenz des Kindes ist nicht gewollt . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Rollenumkehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Die Existenz ist gewollt, aber das Kind ist nicht »richtig« . . . 152 Die »tote Mutter« als eigenes basales Falsch-Sein erlebt. . . . . 169 Adoption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Familiengeheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität . . 176 Ödipales Schuldgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sexualität und Schuldgefühl I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Scheitern am Erfolg I – Erfolg bedeutet Übertreffen. . . . . . . . 182 »Terrorismus des Leidens«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Geschwisterrivalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Überlebendenschuldgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl . . . . . 207 Trennungsschuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Sexualität und Schuldgefühl II – Sexualität bedeutet Trennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Scheitern am Erfolg II – Erfolg bedeutet Trennung. . . . . . . . . 223 Vierte Gruppe der Schuldgefühle: Traumatisches Schuldgefühl. 242 Familiäre Traumata. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Verluste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Folter und KZ-Haft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Transgenerationale Weitergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Inhalt 7
III. Schuld und Schuldgefühl Das Schuldgefühl ist mehrfach determiniert. . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Die Schuld des Opfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl. . . . . . . . . . . . . . 284 Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Zur Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl in der analytischen Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 »Unschuldsvermutung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Durcharbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Trennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Filme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Einleitung
Schuld ist ein Grundphänomen menschlicher Existenz, das Schuld thema durchzieht das menschliche Leben, es ist unerschöpflich und findet sich überall in Mythologie, Kunst und Dichtung sowie im Alltag. Insofern ist jeder Mensch sein eigener Experte auf diesem Gebiet, jeder hat seine persönliche Auffassung, was Schuld bedeutet und von wann an sie beginnt. Auch Schuldgefühl ist ein ubiquitäres Phänomen, unentbehrlich für die Regulation menschlichen Zusammenlebens, bei jeder psychischen Störung ins Pathologische gesteigert anzutreffen. Die Domäne der Psychoanalyse ist das Intrapsychische, die Dynamik der inneren Instanzen; im Zusammenhang mit dem Schulderleben eines Menschen geht es der Psychoanalyse um die Einwirkungen des Über-Ich auf das Ich, die sich als Schuldgefühl bemerkbar machen. Es wird sich hier in der Regel um ein irrationales, unrealistisches oder neu rotisches Schuldgefühl handeln, eher verborgenen Wünschen und ins besondere latenten Aggressionen entsprungen. Aber auch reale Taten, die ein Böses, eine tatsächliche Verletzung bewirken, hinterlassen ein Schuldgefühl, dessen Qualität jedoch von ersterem unterschiedlich ist, da das Bewusstsein einer schuldhaften Handlung mit ihm verbunden ist. Freud (1930a, S. 491) zufolge sollte dieses letztere Schuldgefühl gar nicht Gegenstand der Psychoanalyse sein, da es sich ja um eine Reaktion auf ein reales zwischenmenschliches Geschehen handelt; ihn interessierte vielmehr, was in der Psyche des Individuums vor sich geht: »Die Psychoanalyse tut also recht daran, den Fall des Schuldge fühls aus Reue von diesen Erörterungen auszuschließen, so häufig er auch vorkommt und so groß seine praktische Bedeutung auch ist.« Ich plädiere für eine strenge begriffliche Trennung von unrealistischem Schuldgefühl und Schuldbewusstsein, das heißt Anerkennung einer realen Schuld, auf die der Affekt der Reue folgen kann. Längst aber hat sich die Psychoanalyse fortbewegt von einer »EinPersonen-Psychologie«, wie Balint (1969) es ausdrückte, in der die den einzelnen umgebenden Menschen bestenfalls Objekte der Libido sind, nicht aber als interagierende, handelnde Personen in Erscheinung treten, hin zu einer »Zwei- und Mehr-Personen-Psychologie«; Verhal
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ten, Gestaltung von Beziehungen, eventuelle pathologische Sympto matik hängen sowohl ab von den realen Erfahrungen in Beziehungen der Vergangenheit als auch von dem, was das »Ich daraus gemacht hat« (A. Freud 1976) und was aus Anlagen (im Sinne von Entwick lungspotenzial) und affektiven Bedürfnissen sowie Impulsen (Triebe) entstanden ist. Wenn sich aber der Gegenstand der Psychoanalyse von den ausschließlich inneren Prozessen hin zu den Objektbeziehungen (der Vergangenheit und Gegenwart) und besonders ihren intrapsychischen Niederschlägen (Objektbildern, Objektrepräsentanzen) verlagert hat, kann sie das Handeln der Menschen untereinander nicht verleug nen. Dann darf sie nicht bei der Beschäftigung mit den aufgrund von innerpsychischen Konflikten entstandenen Schuldgefühlen stehenblei ben, sondern muss sich auch der durch konkretes Handeln anderen oder sich selbst gegenüber entstandenen realen Schuld annehmen. Denn nicht nur unrealistische Schuldgefühle, auch schuldhafte reale Grenz verletzungen werden von unbewussten Motiven und Triebschicksalen mitbestimmt, also von ureigenen Bereichen der Psychoanalyse. Wenn sich auch Schuld im äußeren zwischenmenschlichen, Schuldgefühl dagegen im intrapsychischen Bereich ereignet, so sind sie doch mitein ander verwoben, wie Haynal (1989, S. 326) es ausdrückt, allerdings auf das Doppelte von Traumatisierung (entspricht Schuld) und Phan tasie (entspricht Schuldgefühl) bezogen: »Die Verbindung zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit, dem Ereignis und seinem Einfluß auf die innere Welt des Menschen [ist] ein schwieriges und komplexes Problem.« Darüber hinaus betrifft die Anerkennung realer äußerer Einflüsse und damit die einer Verantwortungs- oder Schulddimension auch die therapeutische Beziehung. Diese kann heute nicht mehr als von »Indif ferenz« (Freud 1915a) oder Neutralität bestimmt angesehen werden, der Anteil des Analytikers auch nicht mehr als bloß auf die Übertra gung reagierend, er muss vielmehr bei aller Asymmetrie als eigener originärer Beitrag zur Gestaltung und Entwicklung der Beziehung verstanden werden. Dabei gehen durchaus unvermeidlich Haltungen, Werte, sogar Charakterzüge und persönliche Vorlieben sowie Abnei gungen des Analytikers in die Beziehung ein, und da man sie nicht unterdrücken kann, muss man für sie die Verantwortung übernehmen, sie als Realität sogar benennen, wenn der Analysand sie nicht klar als Äußeres von seinem Inneren unterscheiden kann (vgl. Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage 1992). Das bedeutet keineswegs, eine immer notwendige Abstinenz aufzugeben oder gar mutuelle Analyse zu betrei ben. Weiterhin hat die analytische Arbeit mit Extremtraumatisierten, auch mit Opfern familiärer Gewalt gezeigt, dass sehr wohl das, was
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»dem Ich angetan« wurde (A. Freud 1976), als reales Trauma vom Analytiker anerkannt und gegebenenfalls benannt und bestätigt werden muss, bevor eine Analyse des Intrapsychischen beginnen kann (vgl. Amati 1990; Hirsch 1993b; Oliner 1995, S. 299; Grubrich-Simitis 1995, S. 358). Trotzdem trifft man eine grobe Unterscheidung zwischen Schuldge fühl und Schuld ebenso wie eine von intrapsychisch und interpersonell. Schuldig wird man am anderen, am Gegenüber (vgl. besonders Buber 1958 und Jaspers 1946) oder an sich selbst als Objekt des Handelns (das geht besonders auf Heidegger zurück). Deshalb ist Schuld vor nehmlich eine Sache von Religion und Philosophie; schließlich geht es um sittliche Maßstäbe des Verhaltens im (Zusammen-)Leben der Menschen und um ihr Sein und die Verantwortung dafür. Sicher hat das Phänomen Schuld ein Doppelgesicht, es existiert sozu sa gen gar nicht, ohne dass eine (ethisch-mora li sche) Instanz Schuld definiert. Andererseits gibt es diese Instanzen; notfalls, wenn die menschlichen Maßstäbe nicht ausreichen, verlegt man sie ins Meta physische. Will die Psychoanalyse die (traumatische) Realität berück sichtigen, muss sie auch reale Schuld anerkennen; auch wenn sie sich nicht selbst zum Richter machen darf, muss sie die existierenden Kri terien, die Schuld definieren, einbeziehen. Eine Trennung der beiden Bereiche des Schulderlebens ist für ein Verständnis ihrer Verschiedenheit, für ein begriffliches und schließlich therapeutisches Arbeiten nützlich und notwendig, andererseits fallen sie oft im immer vielfach determinierten Schulderleben partiell wie der zusammen. Ihre Trennung im Einzelfall wirkt dann künstlich und verlangt nach Synthese, um die Komplexität der mannigfaltigen Kom ponenten von Schuld und Schuldgefühl in der Schulderfahrung des Einzelnen zu achten. Deshalb ist die vorliegende Untersuchung in drei Teile gegliedert: Schuld und Schuldgefühl werden zunächst in je einem Abschnitt getrennt behandelt, um dann in einem dritten ihre vielfälti gen Überschneidungen und Untrennbarkeiten aufzuzeigen. Am Anfang des ersten Abschnitts werden die Schöpfungsmythen als Geschichte der Menschwerdung verstanden, hier liegt der Anfang aller Schuld, entsteht Schuldfähigkeit durch den Austritt des Menschen aus dem instinktgesteuerten Tierreich. Man kann die Schöpfungsgeschichte aber auch als Erzählung der ontogenetischen Individuation eines jeden, anfangs »unschuldigen« Menschen verstehen. Daran anschließend wird die Auseinandersetzung der Daseinsanalyse und auch der christlichen Theologie mit dem Schuldgefühlskonzept der Psychoanalyse thema tisiert, wobei oft genug eine erstaunliche Ignoranz der Psychoanalyse unterstellt, dass sie alle, auch reale und existenzielle Schuld »wegana-
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lysieren« wolle und zu können vorgebe. Der Determinismus der Psy choanalyse – das Über-Ich ist stets durch Umwelterfahrung geprägt – erregt den Argwohn derjenigen, die ein »autochthones« Gewissen des Menschen annehmen. Für die christliche Theologie, die auf der Annahme der frei gewählten Tat, die schuldig macht, besteht, ist das Konzept des Unbewussten der Psychoanalyse, das den Menschen in seiner Entscheidung oft genug unfrei macht, anscheinend bedrohlich. Das Schuldgefühl wird der psychoanalytischen Theorie zufolge vom Über-Ich erzeugt, dessen Entstehung und verschiedene Qualitä ten diskutiert werden. Schuldgefühl setzt Ambivalenz voraus; nur die Liebe zum gleichzeitig gehassten Objekt lässt Reue und Wiedergutmachungswunsch entstehen. Der Urgrund des Schuldgefühls lässt sich deshalb in der Ambivalenz der Brust gegenüber, in der oral-kanniba listischen Phase, sehen; nicht zufällig nimmt die orale Thematik einen breiten Raum ein, Beispiele aus Mythologie und Dichtung illustrieren die Grundambivalenz des Menschen von Abhängigkeits- und Autonomiebestrebung: Beides lässt Schuldgefühle entstehen, das Begehren und Vereinnahmen des Liebesobjekts ebenso wie das ZurücklassenWollen des Objekts aus Freiheitsbedürfnis. Lange hat die Psychoanalyse Schuldgefühl ausschließlich auf die ödipalen Regungen zurückgeführt (die Kleinianer auf den Todestrieb), bis Modell (1965; 1971) sozusagen in einem Quantensprung die Mög lich keit eines Schuldgefühlskonflikts auf grund nicht triebbedingter Bestrebungen wie Erfolgsstreben, das Streben nach Autono mie, verstanden als Wunsch, ein »eigenes Leben« führen zu wollen, beschrieb. Modell konzipierte so ein Trennungsschuldgefühl sowie ein Schuldgefühl aufgrund vitaler Bedürfnisse. Einen weiteren Bereich beschrieb Niederland (1961; 1981) mit dem Überlebendenschuldgefühl aufgrund seiner Erfahrungen mit Überlebenden des Nazi-Terrors. Die moderne psy cho ana ly ti sche Traumaforschung ist mit dem Schuldthema untrennbar verbunden, denn das Opfer verschiedenster familiärer und außerfamiliärer Gewalt entwickelt immer eine schwere Schuldgefühlsymptomatik. Meines Erachtens hat Ferenczi (1933) das Fun da ment für ein Ver ständ nis der Internalisierungsvorgänge traumatischer Gewalt gelegt, Introjektbildung und Identifikation mit dem Aggressor gehen auf ihn zurück. Gewalt-, aber auch Verlusterfah rungen schlagen sich als Introjekt im Selbst nieder und wirken selbst zerstörerisch weiter, Symptomatik und Selbstwerterniedrigung verur sachend. Hier ergibt sich nun ein direkter Zusammenhang zwischen Schuld und Schuldgefühl: Die reale Schuld des Täters (die jener nicht anerkennt) wird zum Schuldgefühl des Opfers (das unschuldig ist), weil das Introjekt wie ein feindlich verfolgendes Über-Ich Schuldgefühle
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macht. Und es sind keineswegs nur massive Traumatisierungen, die eine oft lebenslange Schuldgefühlsproblematik verursachen, sondern gerade auch subtile Beziehungstraumata innerhalb der Familie des sich entwickelnden Kindes. Über das Schuldgefühl des Opfers hinaus muss man noch einen Anteil realer Schuld im Sinne von Mitschuld oder Mitverantwortung auch des Opfers annehmen, da aufgrund von, wenn auch tragischen, Identifikationen im Sinne von Unterwerfung unter das Gewaltsystem oder seiner Billigung die schuldhafte Tat begünstigt oder auch vom Opfer Schwächeren gegenüber wiederholt wird. Eine differenzierte, psychoanalytisch fundierte Systematisierung des Schuldgefühls gibt es bisher nicht. Lediglich Weiss und Sampson (1986) hatten die erwähnten Arbeiten von Modell und Niederland ihrem Konzept eines Trennungs- oder Autonomie- und eines Überlebendenschuldgefühls (dessen Definition sie sehr weit fassten) zugrunde gelegt. In diesem Buch möchte ich folgende Einteilung des Schuldgefühls vorschlagen: 1. Basisschuldgefühl, das heißt ein Schuldgefühl aufgrund der bloßen Existenz des Kindes oder seines So-Seins, insbesondere seines Ge schlechts. 2. Schuldgefühl aus Vitalität, das heißt expansive Bestrebungen, das Begehren, Haben-Wollen, Erfolg-haben-Wollen, Andere-übertref fen-Wollen werden dadurch schuldhaft erlebt, dass sie von der fami liären Umgebung nicht willkommen geheißen werden können. 3. Trennungsschuldgefühl. Hier sind die Autonomiebestrebungen des Kindes in allen Lebensaltern mit Schuldgefühl verbunden, da Tren nung für die elterlichen Objekte eine Bedrohung darstellt. 4. Traumatisches Schuldgefühl: Schwere Gewalt- und Verlusterfah rungen hinterlassen einen Fremdkörper im Selbst, ein Introjekt, das Schuldgefühle verursacht. Interessanterweise sind alle Qualitäten in der Schöpfungsgeschichte als Schuld der Menschen enthalten: Sowohl orale Gier (das Essen des Apfels, nicht umsonst rund wie eine Brust) als auch Sexualität, die erst nach der Vertreibung aus der Latenz ersteht, können als Schuld(gefühl) aus Vitalität gesehen werden. Der Drang nach Erkenntnis und die damit verbundene Übertretung des väterlichen Gebots entspricht einem schuldhaften Trennungs-, Autonomiebestreben. Auch ein traumati sches Schuldgefühl könnte im Mythos gesehen werden: Die Schuld am traumatischen Verlust des Paradieses müssen sich die Menschen selbst geben. Und einem Basisschuldgefühl entspricht die Auffassung von der Erbsünde, der basalen Schuld des Menschengeschlechts.
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In einem dritten Abschnitt wird der Grenzbereich des Zusammen treffens von Schuld und Schuldgefühl, etwa im Zusammenhang mit der Identifikation mit der Gewalt, bearbeitet. Schließlich wird auf die Notwendigkeit der Differenzierung der verschiedenen Schuldgefühlsqualitäten voneinander und dieser von den Anteilen realer Schuld in der psychoanalytischen Therapie hingewiesen. Irrationales Schuldgefühl sollte entweder in seiner Triebkonfliktbedingtheit verstanden oder bis auf seine tief verborgenen Wurzeln von traumatischer Erfahrung und ihrer phantasmatischen Verarbeitung zurückgeführt und schließlich aufgelöst werden. Reale Schuld, einmal als solche erkannt und abge grenzt, soll anerkannt, benannt und mit Scham und Reue überwunden werden, wofür die Therapie letztlich nicht umhin können wird, Aufga ben der Bewertung und Entscheidung zu übernehmen, um Realität von Phantasie im Schulderleben trennen zu helfen. Jede psychische Erkran kung hat mit (auch unbewusstem) Schuldgefühl zu tun, wie es Freud früh entdeckte, aber jeder Mensch, auch der psychisch Leidende, ist gleichzeitig sowohl an seinem Sein als auch an seinem Tun stets real schuldig.
I. Schuld
Schuld fängt »bei Adam und Eva« an Alle Schöpfungsmythen erzählen vom Ursprung des Menschen in dem Sinne, dass sie die Entwicklung zum Mensch-Sein metaphorisch beschreiben und damit Eigenschaften und Bedingungen wiedergeben, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden. Wie die Sprache, auch das Lachen, das Reflexionsvermögen (über sich selbst), das Bewusst sein der Sterblichkeit und die Scham ist die Schuld – man spricht von Schuldfähigkeit – eine der Bedingungen des Mensch-Seins. Eine vergleichende Betrachtung der Schöpfungsmythen der Mensch heit kann hier nicht geleistet werden, aber ich möchte mich der Be- merkung von Stork (1988a, S. 35) anschließen, der meint, »es wäre nicht schwer, aufzuzeigen, daß sich in allen Schöpfungsmythen, … in denen es um den Ursprung des Menschen geht, der Held, der diese Los lösung des Menschen vollzog, sich selbst und den Menschen für diese Tat den Tod einhandelt.« Nicht nur den Tod, sondern auch Schmerz, Mühe, Angst, Schuld und Scham, andererseits Kreativität, Freiheit der Entscheidung durch Fähigkeit zum Denken, zum Wissen und WissenWollen, zur Reflexion zur vorausschauenden Planung und zur Kommunikation mit anderen. Über allen diesen Eigenschaften, Erfahrungen und Fähigkeiten, die den Menschen vom Tier unterscheiden, schwebt die Schuld – als Schuldfähigkeit, Schulderleben bis hin zum Schuld gefühl –, weil die Bestrebungen des Individuums, die mit Trennung, Loslösung, Autonomie – damit hängt auch Sexualität zusammen, wor auf ich zurückkommen werde – verbunden sind, immer einwirken auf einen anderen, von dem man sich trennt, dessen Existenz und Identi tät verändert wird durch die Trennung, der nicht mehr so ist wie im Zustand des Zusammenseins. Schöpfungsmythen stellen Trennungsbewegungen dar, zum einen die der Entwicklung des Menschen aus der Tierwelt (phylogenetische Ebene), zum anderen die der Individuation eines jeden Menschen, seiner Loslösung aus der frühen Abhängigkeit (ontogenetische Ebene).
16 Schuld
Schöpfungsmythen als Bild für die Phylogenese der Menschen »Wer daher spräche, ich bin mir keiner Schuld bewußt, also habe ich nichts zu bereuen, der wäre entweder ein Gott oder ein Tier. Ist der Sprechende aber ein Mensch, so weiß er vom Wesen der Schuld noch nichts.« Häfner (1959/60, S. 671) gibt hier ein Wort Schelers wie der, das kurz und prägnant den Zusammenhang zwischen Schuld und Mensch-Sein bezeichnet. Für mich ist die Paradiesgeschichte vor allem eine Metapher für den Austritt des Menschen aus dem Reich der völlig instinktgesteuerten Tierwelt. Tiere, so denkt man, wissen nichts vom Tod und können Scham und Schuld nicht empfinden. Die Instinkte sind das Maß ihres Verhaltens, ein Maß, das nicht überschritten wer den kann. Mit der Freiheit des Denkens und der Entscheidung haben die Menschen das naturgegebene Maß verloren, sie müssen es sich herstellen (sie schaffen sich Götter, Moral, Gesetze) und sind immer wieder vor die Entscheidung gestellt, es einzuhalten oder zu über schreiten. Das Überschreiten eines solchen Maßes, seiner Grenzen, bedeutet Schuld; ohne die Freiheit zur Grenzüberschreitung gibt es keine Schuld. »Schuld hat, wer gewählt hat« (Platon, Politeia, zit. nach Dorn 1976, S. 110). An die eine Seite des menschlichen Bereichs grenzt also das Tier reich, an die andere das der Götter, die mit keiner Schuld jemals zu tun haben, wie aus Schelers Bemerkung hervorgeht. Eine Hauptschuld des Menschen wird ja auch damit in Verbindung gebracht, dass er wie Gott sein will. Die Schlange sagt dem Weib – noch nicht »Eva« – im Paradies: »Welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen auf getan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist« (1. Mose 3,5). Auch wenn er es nicht erreichen wird, sein Wollen ist schon Schuld; Gott zieht anscheinend mit einem gewissen Bedauern die Konsequenz: »Siehe, Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld bebaute, davon er genommen ist, und trieb Adam aus …« (1. Mose 3, 22 f.).
Der Anfang aller Schuld liegt also im Austritt des Menschen aus der instinktgesteuerten Natur des Tieres, dargestellt im Bild vom Paradies; sein Wissen-Wollen, Tun-Wollen und Frei-entscheiden-Wollen wird mit der Umschreibung »Wie-Gott-sein-Wollen« ausgedrückt. Fromm (1947, S. 118) versteht die Geschichte vom Sündenfall als Prototyp des autoritären Systems:
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18 Schuld »Die Pflicht, eine Überlegenheit der Autorität anzuerkennen, schließt eine Reihe von Verboten ein. Das umfassendste ist das Tabu, sich der Autorität gegenüber als gleichwertig zu empfinden … Adams und Evas Sünde bestand darin, daß sie Gott gleich zu werden versuchten.«
Gott gleich sein zu wollen verbindet Fromm mit dem Schöpferischen im Menschen, das aber wegen der Abhängigkeit von Gott als Ausdruck seines Willens Schuldgefühl hervorruft. Im Zusammenhang mit dem Schöpfungsmythos, der die Trennung aus der paradiesischen Einheit mit Gott (mit der Natur) beschreibt, ist es interessant, dass ein großer Bereich des ubiquitären, oft neurotisch-konflikthaften Schuldgefühls (also nicht der realen Schuld und ihres Bewusstseins, sondern das irra tionale Gefühl, schuldig zu sein) als Trennungsschuldgefühl verstanden werden muss, wie wir sehen werden. Das individuelle Schuldgefühl, sich als Adoleszenter von den Eltern trennen zu wollen, fände sich auf phylogenetischer Ebene als Niederschlag allgemeiner menschlicher Erfahrung in der Schöpfungsgeschichte wieder. Man kann den biblischen Schöpfungsmythos mit dem des Prome theus verbinden (vgl. Fromm 1947; Stork 1988b, S. 128). Prome theus wurde von den Göttern bestraft, weil er den Menschen das Feuer brachte. Aus freier Entscheidung übertrat er das Verbot des Zeus, der – ähnlich wie der jahwistische Gott – den Menschen Wissen und Erkenntnis vorenthalten wollte. Er bringt den Menschen Wissen und Kunstfertigkeit, das bedeutet Freiheit von der Abhängigkeit von Gott oder, wie ich stattdessen sagen würde, Lösung aus dem absoluten Ein gebundensein in die Natur. Gleichzeitig aber wird Prometheus an den Felsen gekettet, also unfrei gemacht, als Zeichen des Beginns des Lei dens, des Eingeschränkt- und Begrenztseins des Menschen, letztlich vor allem im Tode. Im Falle Adams ist es der Ackerboden, an den er gebunden ist; und übrigens musste Prometheus Schmerz erleiden, wie auch Adam und Eva und das folgende Menschengeschlecht. Auch Schmerz (seelischer und gegebenenfalls auch psychogener Körperschmerz) steht auf der ontogenetischen Ebene wie das Schuldgefühl sehr oft im Zusammenhang mit Trennungs- oder Loslösungsbestrebungen des Individuums. Je mehr der Mensch sich von der selbstverständlichen Eingebundenheit in die Natur entfernt, desto mehr muss er offenbar versuchen, sie eigenmächtig zu gestalten und zu beherrschen. Und dieses Die-Naturverändern-Müssen ist der Schritt des Menschen aus dem instinktgeleiteten Tierreich, und dieser Schritt ist mit Schuld verbunden, der Basisschuld des Menschengeschlechts. Ich habe schon eine Metapher, die diesen Schritt bezeichnet, erwähnt: Der Mensch steht zwischen Tier und Gott, ist vielleicht gottähnlich, wird aber nie ein Gott oder so sein
Schuld fängt »bei Adam und Eva« an
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wie Gott. Anscheinend muss er aber immer mehr so sein wollen, und gerade das ist ihm stets als seine Schuld vorgehalten worden. Einssein mit der Natur entspricht vollkommen der Vorstellung des Einsseins mit Gott, das den Menschen abhanden gekommen ist. »Und die ganze jahwistische Urgeschichte liest sich also als der Versuch, den Ver lust Gottes durch Selbstvergötterung auszugleichen« (Drewermann 1977b, S. 583). Ähnlich beschreibt Richter (1979, S. 23) den Austritt des Menschen aus der relativen Gott-Nähe des Mittelalters: »Der einmal eingeleitete Prozeß der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität enthielt von vornherein die Tendenz zu einem rasanten Umschlag ins Gegenteil, in die Identifizierung mit der göttlichen Allwissenheit und Allmacht« (Hervorhebung original).
Für Freud (1930a, S. 450 f.) steht Gott nicht für Natur, vielmehr schafft sich der Mensch seine Götter als Projektionen der eigenen Ideale: Er »hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwis senheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar erschien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht voll kommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gele gentlich noch viel zu schaffen.«
Dem Zwischenbereich der menschlichen Existenz entspricht auch der seltsam doppelwertige Charakter der menschlichen Freiheit. Der Mensch ist frei zu denken, sich zu entscheiden, mithilfe von Kreativität und Produktivität sich auf den Weg zu machen, die Natur zu beherr schen und gar gottähnlich sein zu wollen. Aber ist er wirklich frei? Er ist frei und ziemlich erfinderisch, Krankheiten zu heilen, steht aber Krankheit, Hunger und Armut von Milliarden Menschen hilflos gegen über. Er kann die Umwelt gestaltend verändern; aber ist er Herr über die von ihm – einem Zauberlehrling gleich – hervorgerufenen »Natur«Katastrophen? Der Mensch ist frei zu töten – aber er erscheint unfähig, Kriege zu verhindern oder zu beenden, wie wir noch heute jeden Tag erfahren. Sicher tötet auch das Tier, aber nur in dem Maße, wie es für das eigene Leben notwendig ist. Dieses »natürliche« Maß ist den Men schen abhanden gekommen. Anders als im allgemeinen das Tier macht er übrigens auch keineswegs halt vor der Tötung seiner Artgenossen, wie es die Genesis auch gleich vom Menschen, kaum dass er das Para dies verloren hat, am Beispiel des Brudermords berichtet.
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In der Schöpfungsgeschichte kann man die »Illusion subjektiver Freiheit bei wachsender objektiver Unfreiheit« (Drewermann 1977b, S. 582) entdecken, die Freiheit, Grenzen zu überschreiten (die verbo tene Frucht zu essen), untrennbar verbunden mit der Unfreiheit, wirk lich Herr über sein Handeln zu bleiben. Auch hier dürfte es sich um zwei Dimensionen menschlicher Schuld handeln, um eine unvermeidlich existenzielle – immer töten zu müssen, um leben zu können (Drewermann 1977b, S. 613) –, dann aber auch um eine andere, nämlich die des verlorenen Maßes, der Grenzüberschreitung. Natürlich kann die Frage K.s aus Kafkas »Prozeß« auch an dieser Stelle wieder gestellt werden: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein?« (1935, S. 180). Denn er ist doch unausweichlich seiner menschlichen Natur verhaftet, hat eben nicht die Freiheit, sie zu verlassen, anders zu sein, als er ist, wenn er »naturhaft« lebt, wenn sein »Verhalten aus seiner biologischen und psychologischen Anlage selbst resultiert« (Drewermann 1977b, S. 356). Hält man sich an den Schöpfungsmythos, könnte man den Menschen auch von jeder Schuld freisprechen. Man darf nicht vergessen, dass es »Zwei Bäume im Garten«1 Eden gab, nämlich den Lebensbaum, den »Baum im Hintergrund« (Blumenberg 1988, S. 95), und den Baum der Erkenntnis. Blumenberg (1988, S. 95) macht auf einen Satz Kafkas in dessen dritten »Oktavheft« aufmerksam: »Warum klagen wir wegen des Sün denfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen« (Hervorhebung original). Das ist die »Substanz, die das Geheimnis des ›Prozeß‹ ausmacht«. Ein personifizierter Gott konnte es Blumenberg zufolge nicht ertragen, dass er nicht einzig bleiben könnte. Es gibt also keine »Urschuld« des Menschen, denn die Früchte des Lebensbaums waren doch erlaubt. »Der Mensch, der keinen Grund gegeben hatte, ihm diesen Baum zu verbieten, … wurde in eine Affäre verstrickt, die den Vorwand gab, ihm die Göttergleichheit zu entziehen, nach der zu begehren es gar keiner Versuchung bedurfte, denn dort stand er, der Baum des Lebens. So kam es zur Fiktion einer Schuld, die der Vertreibung den Schein des Rechts gab. Die Vertreibung überlieferte das Leben dem Tod … Der Tod war es, der aus der fiktiven Schuld die reelle werden ließ: Das sterbliche Wesen kann nicht leben ohne die Schuld, wegen seiner endlichen Lebenszeit den Nächsten als den Rivalen um jedes Lebensgut nicht lieben zu können« (Blumenberg 1988, S. 95).
Der Tod also als Begrenzung der Lebenszeit macht den – primär unschuldigen – Menschen schuldig. Weil Gott keinen Rivalen duldete, »machte er sein Ebenbild zu Rivalen untereinander« (S. 95), und folge richtig ist der erste Tod ein unnatürlicher: »Der erste Mord, der aussieht
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wie Neid auf den Erfolg um die Gottesgunst, ist ein Akt der Rivalität um die ›Technik‹ der Naturherrschaft als Ersatz für den Lebensbaumbesitz« (S. 96; alle Hervorhebungen original). Es geht hier offenbar um nichts weniger als um den Ursprung der Schuld, denn folgt man Kafkas und Blumenbergs Gedanken, liegt sie bei Gott, der schuldhaft handelte, weil er zuerst »sein Ebenbild« als Rivalen fürchtete. Bei genauerem Hinsehen mussten also Adam und Eva schon vor dem Sündenfall zwischen »gut« und »böse« unterschei den lernen, da ihnen von verbotenen und erlaubten, guten und bösen Früchten also, gesagt wurde. Diese erste Unterscheidung aber traf Gott; es war also nicht alles gleichermaßen »gut«. Wenn Parallelen gezogen werden sollen zwischen Mythologie und kindlicher Entwicklung bzw. ihrer psychoanalytischen Theorie, kommt man kaum umhin, an die Wechselfälle der Schuldzuschreibung für die Ursache der Neurose zu denken, die mit der Geschichte der Psycho analyse verbunden sind. Anfangs nämlich war sich Freud sicher, dass der Schuldige der Erwachsene war, der dem Kind höchst eigennützig ein (sexuelles) Trauma zufügte (»Verführungstheorie«; vgl. Hirsch 1987). In einer solchen Auffassung entspräche der Erwachsene einem primär handelnden Gott, der seine Schöpfung fürchtet, wie der pseudoödipale Vater, der den Sohn nur als Rivalen sieht und die Tochter allein besitzen muss. Der Schöpfungsmythos als Gebilde einer schon patriar chalischen Kultur gibt aber dem Geschöpf die Schuld, das Verbot wird gar nicht hinterfragt (erst von Kafka), allein seine Übertretung zählt und macht schuldig. Ebenso gibt der Ödipus-Komplex, den Freud nach dem Aufgeben der Verführungstheorie an deren Stelle gesetzt hat, dem Kind und seinen Trieben die Initiative für das ödipale Geschehen1. Grotstein (1990, S. 20) drückt das folgendermaßen aus: »Zu den Vermächtnissen, die Freud mit seiner zweiten Theorie der Psychoana lyse (im Anschluß an die Theorie eines verdrängten sexuellen Traumas) hinterließ, gehört das Postulat des inhärenten Schuldgefühls, das der Mensch von Geburt an aufgrund jener unvermeidlichen und unerbittlichen Phantasien erwirbt, in denen er von dem einen Elternteil vollständig Besitz ergreift und eine mörderische Aggres sion gegen den andern Elternteil richtet, d. h. aufgrund des Ödipus-Komplexes.«
Freud ist in den letzten Jahren vehement, allerdings in unzulässiger Simplifizierung, zum Vorwurf gemacht worden, dass er den Ursprung des Traumas von der schuldhaften Tat des Erwachsenen, mit der er das Kind missbraucht, in die triebhaften Wünsche des (»unschuldigen«) 1 Eine in den Mythen dargestellte Schuld entspricht regelmäßig einem Schuldgefühl des Individuums; zum Beispiel Sündenfall – Schuldgefühl aus Autonomiestreben; Schuld des Ödipus – ödipales Schuldgefühl.
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Kindes verlegt habe (z. B. Masson 1984; vgl. Hirsch 1987). Und zwar aus Identifikation mit eben den patriarchalischen Machtverhältnissen, so der Vorwurf, die man auch bei einem Gott Jahwe, folgt man Kafka, vermuten muss. Wo immer man nun den Ursprung der Schuld finden mag und wie immer man den Widerspruch zwischen nur Mensch-sein-Können und als Mensch Schuldig-sein-Müssen auch zu lösen versucht, ich denke, der Schuldbegriff sollte erhalten bleiben als Erinnerung an die Unfrei heit der menschlichen Existenz, der Notwendigkeit zu entkommen, zu töten und zu leben, und als fortwährende Mahnung, die Hybris aller möglichen Grenzüberschreitungen zu bedenken und ihr Ausufern zu begrenzen, soweit es nur möglich ist. Denn die Überschreitung ver nünftiger Grenzen verursacht jeden Tag Beeinträchtigung oder Zer störung der menschlichen und ökologischen Umwelt und bedeutet damit besondere Schuld. Übrigens hat Freud (1930a, S. 506) schon seinerzeit die Möglichkeit der allerletzten Grenzüberschreitung durch die Menschheit ins Auge gefasst: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.«
Die Schöpfungsgeschichte als Bild für die O ntogenese
Man kann die Schöpfungsgeschichte auch ontologisch, also als Meta pher für den Austritt aus der »unschuldigen« Gebundenheit innerhalb der psychischen Entwicklung des Kleinkindes in eine eigene Identität verstehen, als Metapher für Individuation (vgl. Drewermann 1977b; Stork 1988a, 1988b; Kind 1992). Und tatsächlich, viele Bereiche der Kindesentwicklung werden im Schöpfungsmythos behandelt. Da ist die Erkenntnis von Gut und Böse und der Erwerb der Schuldfähig keit (bzw. des Schuldgefühls), die Entstehung von Scham wegen der Nacktheit und der sexuellen Wünsche, die Namensgebung, schließlich auch der Erwerb eines Begriffs vom Tode. Nur die Sprache scheint sich im Schöpfungsmythos nicht entwickeln zu müssen, obwohl wir sie in der Entwicklung des Kindes als einen wichtigen Meilenstein der Abgrenzungsfähigkeit kennen, man denke an das erste »Nein!« eines kleinen Kindes. Wenn auch die Vorstellung der Psychoanalyse von einem objektlosen primärnarzisstischen Anfangsstadium der Entwicklung aufgrund der neue ren Säuglingsforschungen auf ge ge ben wer den muss, lässt sich wohl noch immer ein Ablauf der zunehmenden Differenzierung
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der Bewertung und Einordnung von Erfahrungen des Säuglings, ihrer Affektqualitäten und ihrer Herkunft annehmen (vgl. besonders Stern 1985; Dornes 1993; Fonagy, Gergely, Jurist u. Target 2004). Melanie Klein (1946) hat Spaltungsvorgänge, welche Erfahrungen des Säuglings mit sich selbst und den umgebenden Objekten in »nur gute« und »nur böse« Teilerfahrungen trennen (deren Repräsentanzen »nur gute« und »nur böse« Teilobjekte sind), für ein sehr frühes Alter angenommen. Die Annahme eines derart frühen Zeitpunkts lässt sich zwar nicht mehr halten, aber gute und schlechte Erfahrungen werden Stern (1985, S. 351) zufolge vom Säugling durchaus in »hedonische Gruppen« eingeordnet, wenn auch anfängliche Qualitäten von »gut und böse« erst später aufgrund reiferer Symbolisierungsmöglichkeiten mit zwischenmenschlichen Erfahrungen verbunden werden können. Man kann annehmen, dass die Zuflucht in eine saubere Trennung von Gut und Böse einem anfänglichen Differenzierungsvermögen entspricht, das durch die Erkenntnis von Gut und Böse im Schöpfungsmythos dar gestellt wird. Und das Wissen-Wollen ist eine der Grundmotivationen schon des ganz jungen Menschen; auch hier hat die Psychoanalyse ein einseitiges Konzept der triebhaften Lust-Unlust-Vermeidungs-Motiva tion revidieren müssen. Eines der fünf von Lichtenberg (1988) auf gestellten motivational-funktionalen Systeme ist das Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration; beide bezeichnen ein Autonomiestreben, das in der Schöpfungsgeschichte gut wiedergefunden werden kann, wenn man sie als Metapher für Individuation und für das Her austreten des Menschen aus einer Unmündigkeit verstehen will. Den Zusammenhang von Wissen-Wollen und Fähigkeit der Differenzierung von Eigenschaften und Erfahrungsqualitäten beschreibt auch Kind (1992, S. 32; Hervorhebung original) in bezug auf die Schöpfungsge schichte: »Die Prägung von gut und schlecht als Kategorie wird erst dadurch möglich, daß der Mensch wissen will … Der Mensch erschafft seine erste eigene kognitive Kategorie, die Antithese von Gut und Böse.« Folgt man Melanie Klein (1946), so entsteht ein erstes Schuld gefühl aus der Aufhebung der Spaltung, zu der der etwas ältere Säug ling fähig ist. Er muss realisieren, dass die Aggression zu ihm gehört, mit der er ein geliebtes Objekt gleichzeitig hasst und bekämpft, da es gleichermaßen »gut« ist wie auch versagend. Die Entwicklung des Schuldgefühls ist an die Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten, geknüpft (»depressive Position« bei M. Klein). Den Zusammenhang zwischen Oralität und Ambivalenz hat zuerst Abraham (1924) ent wickelt, indem er auf eine präambivalente Stufe des reinen lustvollen Saugens eine oral-sadistische, kannibalistische der Ambivalenz folgen lässt.
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Der Säugling verspürt Impulse, aggressiv bemächtigend in die Brust zu beißen, die ihm doch die Nahrung spendet. »Die Libido droht dem Objekt Vernichtung durch Auffressen« (Abraham 1924, S. 141). Nahrungsbedürfnis, also Leben, ist mit der kannibalistischen Aggression, dem Töten, also dem Tod, eng verbunden. Freud (1912–13) hat mit seiner spekulativen Studie »Totem und Tabu« die Wurzel des Schuldgefühls in dem Mord der Urhorde an dem Urvater gesehen, eine Tat, die der ödipalen Situation des männ lichen Kindes entspricht; ein Motiv der Urhorde ist dementsprechend, die Frauen, die der Vater allein beansprucht, zu besitzen. Hier entsteht das Schuldgefühl ebenfalls aus der Ambivalenz. Aber wie die Psy choanalyse sich insgesamt von der Zentralität des Ödipus-Komplexes zugunsten einer Aufeinanderfolge früherer und späterer Entwicklungs stadien und der zugehörigen Objektbeziehungsqualitäten abgewandt hat, kann man mit der Schöpfungsgeschichte die orale Ambivalenz2 als Grund lage des Schuld ge fühls ansehen. Drewermann (1977b, S. 597) vermutet sie in der Notwendigkeit der prähistorischen Men schen, die als Jäger die Tiere töten mussten, die sie doch als Götter verehrten: »Die erste prähistorische Erfahrung von Schuld wird wirklich in einem Mord bestanden haben, aber nicht in einem Mord aus sexuellen Motiven, sondern in dem furchtbaren Tötenmüssen um des eigenen Lebens willen … ein Gedanke, der mit einschließt, daß man schuldig werden muß, um das Dasein zu gewährleisten.«
Die anderen Bereiche der Übereinstimmung von Genesis und kindlicher Entwicklung sind Scham, Sexualität und Namensgebung. Während die Schuld sowohl eine des Tuns, des Handelns als auch eine des Seins, der Existenz sein kann, bezieht sich das Schuldgefühl vorwiegend auf eine Tat, der man sich schuldig fühlt. Ebenso ist Scham ein Affekt, ein Gefühl, bezieht sich aber vorwiegend auf das Sein, das So-Sein. Die Nacktheit bedeutet unverhülltes Sein, dessen man sich bewusst wird, indem man sieht, etwa in einem Spiegel, oder vor allem, indem man gesehen wird. Dadurch kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass man so ist, wie man ist; Verleugnung und Beschönigung versagen, und da man nicht einverstanden ist mit seinem So-Sein, schämt man sich. (Wäre man es, so wäre der Affekt: Stolz.) Augenfällig ist die Paral lele des Übergangs eines Stadiums der »unschuldigen«, vorbewussten Akzeptanz der eigenen Nacktheit im Kleinkindalter und im Paradies 2 Nicht umsonst ist es eine Frucht, etwas Lebendiges, das sterben muss, indem es gegessen wird, die die »Erkenntnis« symbolisiert. André Gide lässt, wie Stork (1988b) berich tet, in einer Erzählung über den »schlecht gefesselten Prometheus« endlich Prometheus »seinen« Adler verspeisen.
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vor dem Sündenfall (»Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht« [1. Mose 2, 25]). Die Nacktheit besteht jeweils schon vorher, aber das Erkennen, das Kennen, das Wissen um sie gibt ihr eine neue Qualität. Die Scham hängt mit dem Verlust des Einsseins mit sich (mit der Natur, mit Gott) zusammen, und die ersten Menschen nach dem Sündenfall »schämten sich dessen, was sie ohne Gott sind, ihres geschöpflichen Mangels« (Drewermann 1977b, S. 209). Interessant, dass Masaccio (Abbildung 1) Eva ihre »Scham« bedecken lässt, während Adam die Hand vor die Augen hält: nicht gesehen werden und nicht sehen wollen. Ich denke, auch das Kleinkind verliert zunehmend die Übereinstimmung mit sich durch die zuneh mende Individualität, die zunehmende Trennung aus der Einheit mit der mütterlichen Umgebung. Nacktheit hat über das allgemeine Sein hinaus wohl immer etwas mit dem geschlechtlichen Sein zu tun. Denn die Körperteile, die unsere geschlechtliche Identität zu erkennen geben (»Geschlechtsmerk male«), sind sowohl in der Kindheit als auch in der Schöpfungsge schichte bevorzugte Objekte des Schamgefühls; Adam und Eva bedecken ihre »Scham« mit den Blättern des Baumes, dessen Frucht ihnen zur »Erkenntnis« verholfen hatte. Auch Sexualität bedeutet immer Trennung aus den Beziehungen der Familie wegen des Inzest-Verbots, und selbst die masturbatorische Sexualität ist mit einem Rückzug von ihnen verbunden. Dass Sexualität mit dem Verlassen der Eltern und der Beziehung zu neuen Menschen zu tun hat, geht bereits aus 1. Mose 2, 24 hervor: »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch«; das klingt wie eine Ahnung des nach dem Sündenfall Kommenden. Folgerichtig treten in der Adoleszenz die genannten Bereiche der Scham wieder in den Vordergrund. Auch hier sind es der nackte Kör per, besonders die Geschlechtsteile, an denen der Hader mit dem (geschlechtlichen) So-Sein festgemacht wird, oft wahnhaft ins Patho logische gesteigert in Form von Dysmorphophobie und Hypochondrie (vgl. Hirsch 1989a). Und die Sexualität ist schließlich der Schauplatz der Identitätskämpfe des Jugendlichen (auch die Wahl bestimmter Objekte seines sexuellen Begehrens kann mit heftiger Scham verbun den sein), wie sie auch der kräftigste Motor ist, ihn exogamisch aus der Familie hinauszutreiben. Die Aufgabe der individuellen Entwicklung wäre, sich in seinem Selbstbewusstsein derart neu zu ordnen und zu finden, dass man (überwiegend) wieder einverstanden sein kann mit seinem So-Sein, auch ohne die ursprüngliche Sicherheit der umgeben den Familie; wenn die menschliche Existenz auch nicht ohne Schuld
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denkbar ist, so bleibt doch immerhin die Möglichkeit, weitgehend Schuldgefühl und Scham(gefühl) zu überwinden. Neben der sexu el len Iden ti tät, mit wel chem Begriff man das geschlechtliche So-Sein bezeichnet, kann man sich aber auch des sexuellen Tun-Wollens und Tuns schämen (und Schuldgefühle bekom men). Vielleicht gibt es wenig Gelegenheiten, bei denen man soviel von sich zu erkennen gibt, wie beim sexuellen Handeln, das ja auch in aller Regel vom öffentlichen Einblick abgeschlossen ist. Wie immer es auch etymologisch hergeleitet werden kann, jedenfalls »erkannte« Adam sein Weib Eva, und sie wurde schwanger (1. Mose 4, 1), das heißt, es scheint von alters her bekannt zu sein, dass in der sexuellen Begegnung ein Erkennen stattfindet. Die Namensgebung, das Benennen, kann man als symbolischen Akt der Bezeichnung und Festschreibung einer Identität verstehen. Der Vorname, der einem Kind gegeben wird, bezeichnet übrigens auch sein Geschlecht. Der Familienname bezeichnet die Abstammung, zum Teil auch die geografische Herkunft (z. B. »… von Preußen«). Es er scheint nur logisch, dass die Sprache auch die genealogische Herkunft mit dem Wort »Geschlecht« bezeichnet, jemand ist »vom Geschlecht derer von …«. Die Namensgebung wird wohl immer als Ritus began gen (vgl. Hirsch 2004a); in unserer Kultur ist es die Taufe, die auch eine ritualisierte Aufnahme des Neugeborenen in die menschliche und familiäre Gemeinschaft bedeutet (vgl. Bally 1960, S. 308). Auch die Initiationsriten mancher Naturvölker sind mit der Verleihung neuer Namen verbunden: »Eine andere weit verbreitete Sitte ist, den Initiier ten neue Namen zu geben. Dies ist der intimen Verbindung zwischen einem Menschen und seinem Namen sowie magischer Funktionen wegen, die Namen oft zugeschrieben werden, ein besonders bedeu tungsvoller Akt« (Bettelheim 1954, S. 159). Die Veränderung des Namens drückt immer einen Neubeginn aus; ein Patient Lebovicis (1988, S. 56) gab sich eines Tages einen neuen Namen, er »verwei gerte … die Identität, die ihm seine Eltern gegeben hatten.« Man denke auch an die Aufnahme neuer Mitglieder eines Ordens oder einer Sekte, die mit der Annahme eines neuen Namens einhergeht; bis vor kurzem war ja auch in unserer Kultur die Namensveränderung der Braut bei der Eheschließung dadurch obligatorisch, dass sie den Namen des Mannes annehmen musste, was man als Symbol für die Unterordnung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft, für das Opfern ihrer eigenständi gen Identität verstehen kann. Interessant ist, die Benennung der »ersten Menschen« in der Ge nesis zu verfolgen. In der ersten Fassung (1. Mose 1) werden sie als »Mann und Weib« (1. Mose 1, 27) bezeichnet, und Gott spricht
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von »allerlei Kraut … Bäume[n] … Getier, Vögel[n] … Gewürm« (29 f.). Diese allgemeinen Bezeichnungen werden auch im 2. Kapi tel beibehalten. Der »Mensch« wird durch Einblasen des »lebendi gen Odem[s]« (7) mit einer »lebendigen Seele« (7) ausgestattet, aber einen Namen bekommt er nicht. Die »Gehilfin« (18), die der Mensch bekommen soll, lässt sich nicht unter den Tieren finden; Gott bringt alle Tiere, die er gemacht hat, »zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nannte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen. (19) Und der Mensch gab einem jeg lichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefun den, die um ihn wäre« (20). Daraufhin erst schuf Gott »ein Weib« aus der Rippe des Menschen (22), und der Mensch meint, »man wird sie Männin heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist« (23). Auch die »Männin« hat noch keinen Eigen-Namen; lediglich die Tiere sind benannt worden, und zwar vom Menschen, als scheute sich Gott, die Aufgabe der Namensgebung selbst zu übernehmen. Auch noch während des Sündenfalls im 3. Kapitel treten keine Namen auf (»Das Weib … aß und gab ihrem Mann auch davon …« [6]). Erst danach, und zwar in dem Moment, in dem sie ihrer Nacktheit gewahr werden und sich schämen, wird erstmalig, völlig unvermittelt, der Mensch mit dem Namen »Adam«3 belegt (8), und fortan behält er ihn, während »das Weib« noch keinen bekommen hat. Das geschieht erst, nachdem Gott den Menschen ihre Hauptbestimmungen genannt hat – das Weib soll gebären, der Mann den Acker bestellen: »Und Adam hieß sein Weib Eva, darum daß sie eine Mutter ist aller Lebendigen« (20). Es scheint so, als ob in der paradiesischen Ureinheit eine individualisierende Benennung nicht nötig gewesen ist, als ob Gott gar nicht an eine solche Möglichkeit gedacht hätte und erst der Mensch die Tiere und nach seiner endgültigen Menschwerdung sich selbst benennen sollte4. Kain und Abel bereits werden ohne weiteres von Geburt an mit ihrem Namen benannt. Wenn es auch nicht explizit ausgesprochen wird, scheint doch der Autor der Vorlage der Übersetzung durch Luther nicht ohne Sinn den Namen Adams erstmalig nach dem Sündenfall erwähnt zu haben, vielleicht hat auch erst Luther diese Unterschei dung durch die Übersetzung getroffen.
3 »Adam« soll »rot, blutfarben« bedeuten, weil er aus roter Erde gemacht wurde; »Eva« bedeutet Leben (s. Büchner 1877). 4 In Griechenland bekommen die Kinder erst mit etwa einem Jahr ihren Namen (vielleicht als Zeichen größerer Individuation), vorher heißen sie einfach to móro, das Baby.
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Überblick über den Schuldbegriff Je mehr man über Schuld nachdenkt, desto mehr kann es einem so vor kommen, als gäbe es sie gar nicht wirklich, als schwebe sie im Raum über den Köpfen der Menschen, die ratlos wie (nicht mehr unschuldige) Kinder mit etwas wie Äußerem und doch Eigenem konfrontiert sind, mit dem sie fertig werden müssen, schwankend zwischen Abwehr und Anerkennung von etwas Vagem, Unbestimmtem. Und in der Tat bedarf Schuld, um sich zu manifestieren, einer Instanz, die sie definiert und auch den Schuldigen selbst als solchen bezeichnet. Diese Instanz kann außerhalb des Individuums liegen oder in ihm selbst; im letzteren Fall denken wir an das Gewissen, im ersteren an das Gericht, das Normen überwacht und schuldig spricht, aber auch an eine übermenschliche, metaphysische Instanz, eine höhere Ordnung, der man sich verpflichtet fühlen und vor der man schuldig werden kann. Eine anschauliche Gliederung der Schuldmöglichkeiten und ihrer Instanzen gibt Jaspers (1946, S. 17 f.; Hervorhebung original) in »Die frage«. Unter dem Ein druck der Nazi-Herr schaft und ihrer Schuld Beendigung geschrieben, haben diese Sätze eine erstaunliche Gültig keit bewahrt:
»1. Kriminelle Schuld: Verbrechen bestehen in objektiv nachweisbaren Handlun gen, die gegen eindeutige Gesetze verstoßen. Instanz ist das Gericht, das … die Gesetze anwendet. »2. Politische Schuld: Sie besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe (politische Haftung). Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird. Instanz ist die Gewalt und der Wille des Siegers … »3. Moralische Schuld: Für Handlungen, die ich doch immer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Verantwortung … Niemals gilt schlechthin ›Befehl ist Befehl‹ … Die Instanz ist das eigene Gewissen und die Kommuni kation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem Liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen. »4. Metaphysische Schuld: Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Men schen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt … Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich … Instanz ist Gott allein.«
Zu ergänzen ist, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Schuld vor Gott mit Sünde bezeichnet wird. Durch das Wirken der einen oder anderen dieser Instanzen führt das
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Faktum der Schuld zu einem Schulderleben, einer Schulderfahrung. Mit einer Ausnahme: Wenn der Schuldspruch eines Gerichts nicht auf ein empfängliches Gewissen fällt, der Täter also, verstockt, seine Schuld leugnet, bleibt es eben bei der Schulddefinition von außen ohne korrespondierendes Schulderleben. Dieses nun lässt sich weiter dif ferenzieren in ein Schuldgefühl, dessen Bezeichnung schon die Nähe zum Affektiven enthält, das eher also das Irrationale, Unrealistische und das emotional Drückende bezeichnet, jedoch durchaus die Ein sicht in einen Anteil realer Schuld enthalten kann. Die Alltagssprache enthält dementsprechend auch den Satz: »Ich fühle mich schuldig.« Überwiegt die Realität der Schuld, die man anerkennen muss, spricht man besser von Schuldbewusstsein, wie es der Sprachgebrauch auch bezeichnet: »Ich bin mir (k)einer Schuld bewusst!« Mit dem Schuldbewusstsein kann auch der Affekt der Scham ver bunden sein, der sich nicht so sehr auf das Handeln, sondern auf das Sein bezieht; ich war so, dass ich das getan habe. (Zur Diskussion der Differenz von Sein und Tun vgl. Teil I, S. 56.) Auch die Scham ist ein Affekt, der aus der Spannung zwischen der Idealvorstellung seiner Selbst (Ideal-Ich) und der Realität des Selbst, die diesem nicht entspricht und die anzuerkennen man nicht umhinkommt, resultiert. Scham kann aber auch durch das Vom-anderen-gesehen-Werden ent stehen; ähnlich wie beim Schulderleben gibt es auch hier eine innere und äußere Instanz, nämlich das Ideal-Ich als innere, den »Blick des anderen« (Seidler 1995) als äußere. Schuldgefühl rührt also von der Spannung zwischen Über-Ich und Ich her und betrifft vorwiegend das Tun und damit überwiegend das, was man dem anderen antut, Scham dagegen betrifft eher das Sein und das, was man sich selbst schuldet, indem man nicht so ist, wie man sein könnte oder müsste. Aber die Bereiche von Schuldgefühl und Schuldbewusstsein bzw. Scham wer den sich überschneiden; oft äußert sich das Sein am Tun und ist erst durch dieses zu erkennen. Ein weiterer Affekt, der zur Schuldanerkennung gehört, ist der der Reue; auch die Reue ist erforderlich für eine Veränderung, eine Ent wicklung (»Wandlung«) des schuldigen Menschen, mit der die Schuld zwar nicht aufgehoben wird (das kann in keinem Fall geschehen, Schuld bleibt immer bestehen), aber bewältigt werden kann. Überdies wird Trauer auftreten darüber, dass man so war und ist und nicht ein anderer. Ist man einem anderen gegenüber schuldig geworden, ist Reue die Voraussetzung der Wiedergutmachung und einer Versöhnung, zu der der andere mit Verzeihung beiträgt. Insofern kann der Bitte um Entschuldigung eigentlich nicht entsprochen werden, die Bitte um Ver zeihung wäre angemessen, da sie erfüllbar ist. Trotzdem gibt es dieses
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Gegensatzpaar auch in anderen Sprachen: pardon – excuser; I’m sorry (hier ist – sprachlich jedenfalls – auch Reue enthalten) – excuse me; ebenso scheinen sich die beiden Qualitäten der Schuldbewältigung im Lateinischen »ignoscere«, das heißt »nicht wissen«, und im Griechi schen syngignoskein (συγγιγνώσϰειν), das heißt auch »übereinstim men«, eingestehen. Bei der Beschäftigung mit realer Schuld fällt eine Zweiteilung auf: Reale Schuld erscheint einmal als Schuld der Tat und eine solche des Seins (Häfner [1959/60] nennt das »Tatschuld« versus »Existenzschuld«). Der Charakter des Doppelten oder Dialektischen der Schuld zeigt sich auch in der alten Unterscheidung von »culpa« (schuldig geworden sein) und »debitum« (jemandem etwas schulden). »Culpa« betrifft das Tun, das Handeln am anderen (aber auch an sich selbst), mit dem man sich schuldig gemacht hat, lässt sich also auch als Beziehungsgeschehen begreifen, während die Schuld am Sein von der Ver nachlässigung der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der eigenen Identität herrührt, der nie umfassenden, nie vollkommenen eigenen Existenz des Menschen (dem entspricht die christliche Lehre von der Erbsünde als unausweichliche Gegebenheit); man schuldet sich (und den anderen), in gewisser Weise zu sein. Nicht zuletzt gehört zum Wesen der Schuld die Freiheit des Men schen; schuldig werden kann nicht das instinktgesteuerte Tier, auch nicht ein Gott, nur der Mensch, der in einem Zwischenbereich zwi schen beiden angesiedelt ist. Aber die Freiheit der Entscheidung zu handeln und das Sein zu bestimmen, ist wahrlich relativ und schließt längst nicht die Freiheit ein, Schuld gänzlich zu vermeiden. Im Gegen teil, Schuld gehört existenziell zum Mensch-Sein, nur der Mensch ist zur Schuld fähig. Die Schuldfähigkeit gehört zur Würde des Menschen (Sölle 1971), ebenso wie auch die Fähigkeit zur Anerkennung seiner Schuld. Buber (1958, S. 16 f.) sondert Schuld und Schuldgefühl:
»Ein Mensch steht vor uns, der handelnd oder Handlung unterlassend eine Schuld auf sich geladen … hat … Ihm ist von der Genese seines Übels nichts verhoh len …, was ihn immer wieder antritt, hat mit keiner elterlichen oder gesellschaft lichen Rüge irgend zu tun …«
Unter deutlicher Bezugnahme auf die Psychoanalyse stellt Buber fest, dass das Schulderleben nicht unbewusst ist, auch nichts mit internali sierten elterlichen Geboten, dem Über-Ich also, zu tun hat. Vielmehr liege eine weitgehende Einsicht in die Schuld des Handelnden vor. Wenn man auch nicht annehmen kann, dass bei jeder schuldhaften Tat eines jeden Menschen eine derartige Einsicht bewusst vorhan den ist, kann man doch sehen, dass es Buber auf eine Dimension der
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Tiefe ankommt, die er voraussetzt, um eine persönliche Schuld von beträchtlicher Tragweite zu definieren, die er Existenzialschuld nennt: »Existentialschuld, d. h. Schuld, die eine Person als solche und in einer persönlichen Situation auf sich geladen hat, … geschieht, wenn jemand eine Ordnung der Menschenwelt verletzt …« (Buber 1958, S. 18 f.). Es erscheint mir allerdings etwas problematisch, eine persönliche, durch eine Tat hervorgebrachte Schuld »Existentialschuld« zu nennen, erinnert dieser Begriff doch allzu sehr an die ganz andere »existenti elle Schuld« der Daseinsanalyse, auf die wir im Folgenden zu sprechen kommen werden.
Schuld und Gewissen »Ein Gesetz der Menschenordnung« (Buber 1958, s. o.) zu verlet zen, macht schuldig; aber welches Gesetz? Kennt es jedermann? Maß stäbe müssen her, an denen Schuld gemessen werden kann, Regeln, geschriebene und ungeschriebene, an denen sich der einzelne wie auch die Gemeinschaft orientieren können. Man kann die Regeln in ethischmoralische und juristische aufteilen, darüber hinaus noch Normen einer christlichen Ethik oder Moral setzen sowie mit Jaspers (1946) eine politische Haftung fordern. Die einmal von außen gesetzten Normen, die das menschliche Mit einander regeln sollen und die aus den genannten Bereichen stammen, werden vom einzelnen Individuum verinnerlicht – sogar die juristi schen zum Teil und soweit man mit ihnen bekanntgeworden ist; das Ergebnis des Aufgenommenen ist das Gewissen. Hier kommt die Psy choanalyse zu Wort, wenn auch nicht von allen unwidersprochen: Freud hat gezeigt, wie äußere Vorstellungen, Werte und Normen, Gebote und Verbote sich in einer inneren Instanz, dem Über-Ich, nie derschlagen, dessen bewusster Teil er mit dem Gewissen identifiziert hat. In seinem späten Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« entwirft Freud (1930a, S. 484) das Konzept der Gewissensbildung von den Anfängen im Kleinkindalter: »Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür mit Liebesverlust bedroht wird; aus Angst vor diesem Verlust muß man es vermeiden … Man heißt diesen Zustand ›schlechtes Gewissen‹, aber eigentlich verdient er diesen Namen nicht, denn auf dieser Stufe ist das Schuldbewußtsein offenbar nur Angst vor dem Liebesverlust, ›soziale‹ Angst.«
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Die Verhältnisse ändern sich durch die Verinnerlichung der elterlichen Autorität, »durch die Aufrichtung eines Über-Ichs … Damit werden die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen …« (Freud 1930a, S. 484 f.). Wir sind von der realen Schuld und dem Gewissen als Instanz, einem verinnerlichten Maßstab, an dem Schuld gemessen werden kann, aus gegangen. Nun stellen wir fest, dass das Über-Ich Schuldgefühle macht, deren Qualität durchaus auch irrational sein kann, je nachdem nämlich, in welcher Weise welche Normen an das heranwachsende Kind durch die familiäre Umgebung herangetragen wurden. Ein solches Über-Ich mitsamt seinem bewussten Anteil, dem Gewissen, kann also durchaus sowohl realistische als auch irrationale, »neurotische« Inhalte enthal ten, kann realistische Schuldgefühle machen, die das soziale Verhal ten genügend regeln, aber auch unrealistischen Druck aufgrund innerer irrationaler Konflikte ausüben können, der eine konstruktive Entwick lung behindert. Die psychoanalytische Sicht des Gewissens ist immer wieder heftig kritisiert worden. Das Über-Ich ist dabei allzu sehr nur als das Ergebnis oberflächlicher Anpassung an elterliche und gesellschaftliche Normen verstanden worden, angeblich, ohne eine Tiefendimension des Gewis sens, ein im Mensch-Sein verankertes, sozusagen naturgegebenes Wis sen um ethische und moralische Richtlinien zu berücksichtigen. Aus einer daseinsanalytischen Sicht akzeptiert Häfner (1959/60, S. 675) zwar die von der Psychoanalyse beschriebene Über-Ich- und also auch Gewissensbildung, meint aber, dass diese zu einer anfangs zwar not wendigen, später aber zu durchbrechenden Anpassung führe, und for dert ein darüber hinausgehendes Gewissen höherer Qualität: »Wenn man die Individualität der menschlichen Person bejaht, dann muß man auch zur Existenz eines personalen Gewissens jenseits der Über-IchFunktionen stehen.« Ebenso spricht Boss (1962, S. 21) vom »eigenen Gewissen« im Gegensatz zu den »Dressurprodukten« der Gebote und Verbote der Eltern. Fromms (1947) ähnliche Unterscheidung zwischen autoritärem Gewissen – das er mit dem Über-Ich gleichsetzt – und humanistischem Gewissen – das dem personalen Gewissen Häfners entspricht – passt hier gut hinein. Ich denke, in diese Dichotomie der Gewissensarten gehören auch die Gedanken Ballys (1960) über die zwei Möglichkeiten, schuldig zu werden: Angepasste Menschen halten sich streng an die Gebote, die sie vorfinden, tun ihre Pflicht, gehorchen der Obrigkeit und suchen sich »in der Verfestigung in ethischen Gebo ten und Gesetzen …, was gut und böse ist«, abzusichern (Bally 1960, S. 308). Die anderen schwingen sich »über jede solche Gesetzlichkeit
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hinaus« (S. 308), können dadurch zwar in der Hybris scheitern, ande rerseits aber einem höheren Gewissen folgen, als es die Normen der anderen verlangen. In den 1950er Jahren war wohl die Diskussion um das Dilemma zwischen Autoritätsgehorsam und Verantwortung vor sich selbst angesichts der kaum verblassten Greuel in Nazi-Deutsch land (die andererseits bereits kräftig verdrängt waren) besonders aktu ell. Jaspers (1946) hatte gleich nach dem Ende Nazi-Deutschlands eine Abwehr von Schuld durch die Berufung auf Staatsräson und hierarchi sche Abhängigkeiten (»Befehl ist Befehl«) als nun endgültig illegitim verworfen. Sicher beschreibt auch Buber (1958, S. 38) eine solche Hierar chie der Gewissensqualitäten, wenn er vom »Vulgärgewissen, das … unfähig ist, der Schuld auf ihren Grund und Abgrund zu kommen …« spricht. »Dazu bedarf es eines größeren, eines ganz personhaft gewor denen Gewissens … Denn es ist dem Gewissen des Menschen ein geboren, sich erheben zu können.« (Sich zu erheben wohl gegen die von Menschen gemachten Gesetze, um eine vorhergesehene größere Schuld zu vermeiden.) Unverständlicherweise stellt sich Fromm (1947, S. 115) in Opposi tion zur Psychoanalyse Freuds, wenn er das autoritäre Gewissen mit dem Über-Ich gleichsetzt, denn Freud beschreibt ganz ähnlich wie Fromm die an die äußere Autorität angepasste Haltung, die gut oder böse lediglich nach der Anwesenheit der Autoritätsperson und nach der Wahrscheinlichkeit der zu erwartenden Strafe misst, als Vorstufe des Über-Ich. Freud (1930a, S. 484) meint auch exakt wie Fromm den autoritären Charakter des Erwachsenen, wenn er hinzufügt: »Beim kleinen Kind kann es niemals etwas anderes sein, aber auch bei vielen Erwachsenen ändert sich nicht mehr daran, als daß anstelle des Vaters oder beider Eltern die größere menschliche Gemeinschaft tritt. Darum gestatten sie sich regel mäßig, das Böse, das ihnen Annehmlichkeiten verspricht, auszuführen, wenn sie nur sicher sind, daß die Autorität nichts davon erfährt oder ihnen nichts anhaben kann, und ihre Angst gilt allein der Entdeckung. Mit diesem Zustand hat die Gesell schaft unserer Tage im allgemeinen zu rechnen.«
Fromm (1947, S. 125; Hervorhebung original) setzt dem autoritären Gewissen das »humanistische« entgegen, das heißt »nicht die nach innen verlegte Stimme einer Autorität …; es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen gegenwärtig ist und die von keinen äußeren Strafen und Belohnungen abhängt … Stimme unseres wahren Selbst, die uns auf uns selbst zurückruft, produktiv zu leben, uns ganz und harmonisch zu entwickeln – d. h. zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind.« Das Ziel des »humanistischen Gewissens« ist Fromm zufolge Produktivität des Menschen (auch Kreativität, könnte
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man hinzufügen); Häfner spricht von Wandlung, auf die das »per sonale Gewissen« hinaus will, im Gegensatz zur Unterwerfung und Stagnation, die mit dem Über-Ich-Gewissen verbunden sind. Beide, Fromm und Häfner, sprechen von der Angst vor dem Tod (wie auch Buber, s. o.): »Das Gefühl, nicht gelebt zu haben, ist die Ursache dieser irrationalen Furcht vor dem Tode. Sie ist der Ausdruck unseres schlechten Gewissens, daß wir das Leben vergeudet und die Gelegenheit versäumt haben, von unseren Fähigkeiten produk tiven Gebrauch zu machen« (Fromm 1947, S. 128).
Häfner führt die Todesangst auf das Anwachsen der »Existenzschuld« zurück, die beim Angepassten immer größer geworden ist. Beide Autoren nehmen Freud in seiner Konzeption des Über-Ich allzu wörtlich und bleiben dabei in der ersten Stufe der Über-Ich-Bildung stecken, in der das Über-Ich noch reine Strafangst war. Auchter (1996, S. 87 f.) spricht von »Über-Ich-Gehorsam« und »Über-IchMoral«, die zum Kadavergehorsam eines Befehlsempfängers führen, der die Art des Befehls nicht mit dem eigenen Gewissen abgleicht, ihn vielmehr blind befolgt. Denn Freud beschreibt selbst verschie dene Reifegrade des Über-Ich; er rechnet pessimistischerweise »im allgemeinen« mit der Mehrzahl der Menschen, die auf der Stufe des autoritären Über-Ich steckengeblieben sind. Andere kommen darüber hinaus, indem im »Untergang des Ödipus-Komplexes« eine Identifika tion mit ihren Werten stattfindet, die meines Erachtens viel eher eine Hineinnahme in die eigene selbstverantwortete Identität bedeutet als bloße Anpassung aus Unterwerfung. Im Grunde besteht die Aufgabe schon für das etwa sechsjährige Kind, die elterlichen Normen nicht nur introjektiv aufzunehmen, sondern sie zu integrieren, durch Assimila tion sich zu eigen zu machen und – insbesondere in einer neuerlichen Bearbeitung in der Adoleszenz – sich durchaus von Teilen dieser elter lichen Angebote und Vorbilder auch wieder zu trennen, um eine Iden tität im eigenen Recht zu schaffen, etwa unter Einbeziehung anderer Identifikationsmuster außerhalb der Familie. Insofern wird der Mensch auch im psychoanalytischen Entwicklungskonzept nicht aus der Ver antwortung entlassen, sich um die Entwicklung des eigenen authenti schen Selbst zu kümmern, eine Aufgabe, an der er auch – schuldhaft – scheitern kann. Fromm und Häfner sagen nichts über die Genese des nicht-auto ritären Gewissens. Die Philosophie schafft anscheinend zuweilen die Dinge aus sich selbst heraus, wie es in der Formulierung von Bron (1990, S. 481) auch für Kant gilt: »Für Kant ist das Gewissen die ›Stimme des inneren Richters‹ … Kant verzichtet auf inhaltliche Aussagen über dieses Bewußtsein und fragt nicht nach dem Einfluß
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psychosozialer Bedingungen und objektiver Ordnungen auf die Gewis sensbildung.« Freud dagegen vertritt für die Über-Ich-Bildung eine rein psycho logische Ansicht: »Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unter scheidungsvermögen für gut und böse darf man ablehnen« (Freud der Ein fluß« 1930a, S. 483), wie bereits erwähnt, denn »ein frem (S. 483) bestimmt, was gut und böse ist. Heute nehmen wir an, dass es ein angeborenes Potenzial zur Entwicklung von Empathie, Mentalisierung und damit Gewissensbildung gibt, dass diese Entwicklung aber eine fördernde soziale Umgebung voraussetzt. Mentalisierung bedeutet, sich vorzustellen, was im Anderen vorgeht, sodass man in der Identifikation damit ihm nicht antun möchte, was man selbst nicht erleiden will.
Kritik des psychoanalytischen Gewissensbegriffs Gegen einen solchen Determinismus der Gewissensbildung durch äußere Einflüsse bei Freud wehrt sich Boss (1962, S. 35) vehement:
»Ist andererseits ein reifes Sich-schuldig-fühlen-Können seinem Gotte oder sei nem Geschicke oder seinem Mensch-Sein gegenüber nur deshalb unecht und etwas Abgeleitetes, Verschobenes, Projiziertes, weil ein Schuldigsein sich auch bei einem Kinde vor seinem Vater ereignen kann?«
Hier handelt es sich um ein drastisches Beispiel von unzulässiger Ver mischung von Schuldgefühl und Schuld, noch dazu pathologischem Schuldgefühl (»unecht … Verschobenes … Projiziertes«) mit einem Schuldigsein und diesem folgenden Sich-schuldig-Fühlen, das heißt einem realistischen Schuldbewusstsein. Eine derartige Vermischung oder Verwechslung von Schuld und Schuldgefühl findet sich in der Literatur allenthalben (z. B. Bally 1952, S. 228; Buber 1958, S. 30; Zacher 1987, S. 171; vgl. auch Körner 2010, S. 18), erscheint oft unreflektiert und verhindert zu sehen, daß Schuld und Schuldgefühl tatsächlich (und nicht wegen ihrer unsauberen Definitionen) inein ander übergehen können. Als ginge es der Psychoanalyse tatsächlich darum, ein »psychotherapeutisches Gewissensabbauverfahren« (Boss 1962, S. 22) zu installieren oder »einen Analysanden sich wirklich und grundsätzlich schuldlos fühlen zu lassen« (S. 36). Es scheint sich um ein grandioses Missverständnis zu handeln, über dessen Hintergründe hier nur spekuliert werden kann. Zum Beispiel könnte das Interesse an der Aufrechterhaltung irrationalen Schuldgefühls und die Befürch tung, die Psychoanalyse könnte allzu weitgehend von Schuldgefühl
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und damit von Abhängigkeit befreien, zu der Unterstellung geführt haben, sie wolle und sei fähig, jede Schuld »abzubauen«. Dass die Psy choanalyse sich mit den intrapsychischen Schuldgefühlsmechanismen beschäftigt, heißt doch keineswegs, dass sie die Existenz realer Schuld einfach negiert; sie beschäftigt sich eben nicht damit. Noch weniger bedeutet das aber, dass sie verspricht oder auch nur andeutet, je reale Schuld genauso wie irrationales Schuldgefühl »aus der Welt schaffen« zu wollen (Bally 1952, S. 228). Trotz aller Polemik unterscheidet Boss (1962, S. 61) schließlich doch zwischen neurotischem Schuldgefühl und existenzieller Schuld. »Es kann einem Menschen von klein auf eine Moral andressiert wor den sein, die sein Eigenwesen … wesentlich behindert und verstüm melt …« Genau dem wäre zuzustimmen, dass es nämlich gerade auf die Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl (letzteres kann durchaus erstere bewirken oder vergrößern!) ankommt, um beide dif ferenziert würdigen zu können. Die Sorge der daseinsanalytisch orientierten Autoren scheint zu sein, dass das, was sie als autochthones oder eigenes, auch personales Gewissen bezeichnen, von dem Über-Ich- bzw. Gewissensbegriff der Psychoanalyse absorbiert wird. Hole (1989, S. 97) dagegen versteht die Über-Ich-Bildung als »stets notwendige[s] Durchgangsstadium«, in der eine Internalisierung von Werten und Normen stattfinde. Ohne eine Basis sei die »Bildung eines persönlichen Gewissens … psycho logisch nicht denkbar«. Eine ähnliche Befürchtung, dass die Psychoanalyse sowohl Schuld als auch ein ursprüngliches Gewissen abschaffen wolle, scheint die christ liche Theologie zu bewegen. Baumann und Kuschel (1990, S. 90; Hervorhebung original) formulieren an die Adresse der (psychoanaly tischen?) Psychologie die Frage: »Wird nicht vielleicht doch alle Schuld in Schuldgefühl aufgelöst, echte Schuld ver drängt statt besprechbar gemacht, so daß keine ›Sünde‹ übrigbleibt … und infolge dessen auch keine Schuld, die von ihm [Gott] vergeben werden könnte? … Ist es denn nicht verantwortungslose Verführung …, Menschen von ihren Schuldgefüh len zu befreien, ohne ihnen ein Gefühl für Schuld zu vermitteln …?«
In dieser Fragestellung wird wenigstens die Unterscheidung von Schuldgefühl und Schuld eindeutig getroffen. Auch Rahner (1959, S. 61) unterscheidet sorgfältig zwischen Schuldgefühl und der »exi stentiellen Grundbefindlichkeit« von Schuld und gesteht durchaus zu, dass Schuldgefühle »daher Gegenstand ärztlicher Tätigkeit sein« kön nen. Sollte die Psychoanalyse nicht nur in der Theorie, sondern auch
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in der Praxis reale Schuld und ihre notwendige Anerkennung vernach lässigen, Schuldgefühl mit Schuldbewusstsein verwechseln, wären die Zweifel berechtigt. Aber wie in der Frage des Einflusses realer Trau matisierung auf die Neurosenentstehung war die Psychoanalyse nie der Aufgabe enthoben, zwischen äußerer Realität, deren Verzerrung im Erleben und in der Phantasie sowie reiner Phantasietätigkeit zu diffe renzieren, und ebenso wird sie sich auch immer die Mühe der Diffe renzierung von realer Schuld und neurotischem Schuldgefühl gemacht haben müssen, wenn auch zuwenig über diese Aufgabe publiziert wor den ist.
Der Schuldbegriff der Daseinsanalyse Schuldigsein gehört Heidegger zufolge wesenhaft zum menschlichen Dasein, es ist ein Existenzial, wie Condrau (1962, S. 151 f.) referiert: »Das Dasein ist in seiner Grundstruktur schuldig, das heißt, die Schuld bildet nicht etwas zufällig oder akzidentell dem Menschen Anhaften des, kein ›Attribut‹ des Daseins, sondern wird im Begriff des Daseins mitbegriffen.« Eine solche existenzielle Schuld ist ganz verschieden von einer Tatschuld, auch unabhängig von der Übertretung definier ter sozialer Normen. Sie begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Tod, unabhängig davon, ob er davon weiß, also ein Bewusstsein einer solchen Schuld entwickelt. Auch Condrau betont, dass eine solche Schuld unabhängig von ihrem (Schuld-)Bewusstsein ist; auch ein freier Wille, wie ihn die kirchliche Moral für das Schuldigwerden ebenso voraussetzt wie eine Kenntnis des Übels, das man willentlich begeht (wir werden im Folgenden darauf zurückkommen), ist für die ses Schuldigsein an der bloßen Existenz nicht Voraussetzung. Nach allgemeiner Übereinstimmung wäre es aber nicht legitim, sich auf dieser Erkenntnis, dass jede Existenz unausweichlich Schuld ent hält aufgrund des So-und-nicht-anders-Seins, das geschuldet wird, aus zuruhen und die existenzielle unvermeidbare Schuld als »Ent-Schul digung« für vermeidbares individuelles, situatives Schuldigwerden zu gebrauchen. Die grundlegende Schuld der Existenz erinnert an die »All-Schuld« bei Dostojewski (»Die Brüder Karamasoff«, 1908b), die radikale bewusste Übernahme von Schuld »allen gegenüber«: »Die Sünde aber ist für Dostojewski … eine Macht, die über den einzel nen und seine Freiheit verfügt … Ohnmacht kann zum Alibi, Bedingt heit durch die ›Umwelt‹ zur Ausrede werden« (Baumann u. Kuschel 1990, S. 10). Die Alternative wäre die Übernahme der All-Schuld, »die
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Fähigkeit, daß der Unschuldige freiwillig die Schuld anderer überneh men kann, um die übergroße Schulden-Last der Menschheit zu tilgen« (S. 10). Ähnlich auch die Frage Kafkas, die er dem Protagonisten sei nes Romans »Der Prozeß« in der zentralen Dom-Szene in den Mund legt: »›Ich bin aber nicht schuldig‹, sagte K. ›Es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein? Wir sind doch alle Menschen, einer wie der andere‹« (Kafka 1976, S. 180). Die Frage bedeutet im Grunde, ob ein individuelles Schuldigwerden angesichts einer existenziellen Basisschuld überhaupt noch denkbar ist. Das aber ist es allerdings, denn man ist seiner individuellen Schuld nicht dadurch ledig, dass man sich auf die existenzielle Schuld aller Menschen beruft. Auch die christliche Religion kennt diese beiden Ebenen der Schuld; denn die Berufung auf die »Erbsünde darf nicht zu einem Wege des Ausweichens vor der … Schuld werden« (Jaspers 1946, S. 69). Zwischen der existenziellen Schuld des Menschen und einer indivi duellen, in jedem Augenblick möglichen alltäglichen Tat-Schuld gibt es eine dritte Form der Schuld, nämlich die Aufgabe zu vernachläs sigen, die Existenz, das eigene Leben möglichst so zu gestalten, dass man seinen Fähigkeiten, Begabungen, seiner Bestimmung letztlich möglichst nahekommt und gerecht wird. Hier entsteht die Konzeption Heideggers von Gewissen, das »Man« entspricht dem autoritären Gewissen Fromms und dem Vulgärgewissen Bubers (s. o.). Es gibt also eine mittlere Ebene der Verantwortung und Schuld für die Gestal tung des eigenen Lebens trotz der gleichzeitig bestehenden »Geworfenheit«, nicht nur als Verpflichtung, sondern auch als »Möglichkeit zur Übernahme eigener Verantwortlichkeit und damit auch Schuld« (Condrau 1962, S. 164). Schuld im existenziellen Sinne ist wieder mit Angst verknüpft, sei ner Existenz, das heißt seinen Möglichkeiten, Begabungen und Fähig keiten, sogar seinen Lust- und Triebmöglichkeiten, auch seinen Ver wirklichungsmöglichkeiten in Beziehungen zu anderen Menschen nicht gerecht geworden zu sein, eine Identitätsangst. Es ist die Angst, an der – ungenügenden – Verwirklichung der eigenen Existenz schul dig geworden zu sein, einer Angst vor dem Tode als dem Ende eines zu wenig gelebten Lebens.
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Schuld und Gewissen im Kontext von Beziehung Hubbertz (1992, S. 52) verbindet die Frage der Identität mit dem »Prinzip Verantwortung« (Jonas 1984), vornehmlich die Verantwor tung auch für etwas zu Tuendes, nicht etwa nur für etwas Getanes. »In der Schuld geht der Blick zurück, in der Verantwortung jedoch nach vorn« (Hole 1989, S. 97). Jonas (1984, S. 391) dehnt die Ver antwortung für die eigene Existenz auf eine für die Mitmenschen aus: »Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ›Besorgnis‹ wird« (zit. nach Hubbertz 1992, S. 53; Hervorhebung original). Verantwortung bedeutet also Verpflichtung, für jemanden und sich selbst zu sorgen, während Schuld erst entsteht, wenn jemand seiner Verantwortung (durch Tat oder Unterlassung) nicht gerecht geworden ist. Die umgebende Gruppe gibt dem Neugeborenen ein Versprechen, ihm zu einer Existenz als Mensch zu verhelfen, und der rituelle Aus druck dafür ist die Namensgebung (vgl. die Bedeutung des Namens im Zusammenhang mit den Schöpfungsmythen), die Taufe in der christli chen Kultur, aber auch die Konfirmation oder Firmung als unsere Form des Intitiationsritus. Bally (1960, S. 309; Hervorhebung original) fügt dieses Eingebundensein in die umgebende (zuerst familiäre) Gruppe der Existenzphilosophie hinzu: »Kein Menschenwesen ist also im vor hinein bei sich und damit gleichzeitig bei der Welt als der seinen und damit auch schon als der unseren. Es kommt vielmehr erst zu sich. Es ist vermittelt. Wir werden, die wir sind.« Ähnlich wie der späte Freud (1930a): Ursprünglich kann der Mensch gut und böse nicht unterschei den, weiß nichts, hat kein Gewissen (s. o.). Auch Boss (1962, S. 50; Hervorhebung original) sieht den Menschen im Zusammenhang mit den ihn umgebenden Dingen und auch der sozialen Gruppe: »Gerade dies und nichts anderes als ein solches Sich-brauchen-Lassen ist es aber im tiefsten, was der Mensch dem, was ist und zu sein hat, schuldet. Darum gründen in diesem Schuldig-Sein alle menschlichen Schuldge fühle überhaupt.« Ähnlich auch Condrau (1962, S. 168): »Verantwor tung ist Verpflichtung im Miteinandersein, weil Menschsein immer schon das Mitmenschsein einschließt …« Schließlich bleibt Binswanger (1942) zu nennen, dessen Arbeit »Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins« Hubbertz (1992, S. 205) als »großangelegten Gegenentwurf zu Heideggers ›Sein und Zeit‹« bezeichnet. Binswanger entwickelt den Gedanken, »Daseinserkenntnis habe ›im liebenden Miteinandersein von Ich und Du ihren eigentlichen Grund und Boden‹« (Hubbertz 1992, S. 205). Schuld, Tod und Grenzverletzung zerstören keineswegs die »Wirheit« der Liebenden unbedingt, sondern machen
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sie »frei für … den Reichtum des Verzeihens und die Kraft der Demut, diese eigentlichen Zeichen der Liebesfülle …« (zit. bei Hubbertz 1992, S. 207; Hervorhebung original).
Kollektivschuld und Generationenhaftung Wenn die Schuld des Menschen sich nicht nur an den Folgen seiner Taten misst, sondern seinem jeweils bestimmten Sein, liegt die Frage nach der Schuld jenseits der Kausalität einer Tat und ihren Folgen nahe. Die soziale Dimension der Schuld enthält die Verantwortung für das in die Gruppe hineingeborene neue Individuum, ein Versprechen der anderen, ihm zu einer Existenz als Mensch zu verhelfen. Das Gelin gen eines solchen Vorhabens hängt allerdings nicht davon ab, was ein Mitglied einer derartigen (Familien-)Gruppe tut oder unterlässt, son dern vielmehr davon, wer und was es ist. Und so wie ein Familienmit glied ist, wird es nicht nur Vorbildfunktion für das heranwachsende Kind haben – aber da wird es durch sein So-Sein bereits schuldig wer den, da es nicht anders ist, als es ist, dem Kind kein anderes Vor bild abgeben kann –, sondern unvermeidlich als Teil der Gruppe mit den anderen interagieren, sodass Rückwirkungen auf die Entwicklung des neuen Lebens unvermeidlich sind, auch und gerade, wenn der ein zelne nichts tut oder indem er ihm gar nicht gegenübertritt, sodass sein Nicht-Dasein Wirkungen zeigt. Eine solche Sichtweise entspricht der Forderung Sölles (1971), Schuld nicht mehr privat zu sehen, sondern unser Gewissen »ein wenig« zu politisieren. Denn »am Leiden anderer erwacht unsere Scham darüber, glücklich zu sein, und über das Mit leiden hinaus fühlen wir uns mitverantwortlich, ja mitschuldig, auch dann, wenn der Zusammenhang zwischen unserem Glück und dem Unglück des anderen nicht kausal deduziert … werden kann« (Sölle 1971, zit. nach Imbach 1989a, S. 42 f.). Es handelt sich also, wie ich ergänzen möchte, wenn wir nichts tun oder zu wenig tun, um eine Art der Überlebensschuld (kein Überlebendenschuldgefühl, das im zwei ten Teil des Buches ausführlich behandelt werden wird) denen gegen über, die mehr leiden müssen als wir, die wir – übrigens eher zufällig, »unverschuldet« – besser leben. Es gibt auch eine »geschichtliche Dimension« der Schuld (Baumann u. Kuschel 1990, S. 74), da Schuld in der Geschichte »als das Ende einer langen Kette menschlicher Taten« (S. 74) erscheint. Eine Gnade der späten Geburt entschuldigt niemanden; »uns bleibt die ahnungsvolle Frage, was wir selbst und unsere Generation wohl zur
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unheilvollen Störung der Geschichte künftiger Generationen beitragen: aus Egoismus, bequemer Sorglosigkeit, aus gutgemeinter Sorge, aus Ahnungslosigkeit oder Überklugheit, vielleicht auch aus Enttäuschung und Verbitterung« (S. 75). Ähnlich auch Camus (1974, »Der Mensch in der Revolte«), den Hubbertz (1992, S. 214) zitiert: »Der Mensch endlich ist nicht vollkommen schuldig, denn er hat die Geschichte nicht begonnen, doch auch nicht unschuldig, da er sie ja fortführt. Diejeni gen, die diese Grenze überschreiten und ihre völlige Unschuld beteu ern, enden in der Wut einer endgültigen Schuld.« Ich möchte zu bedenken geben, ob nicht durch Identifikationen der Mitglieder einer größeren oder kleineren sozialen Gruppe miteinan der und auch der Vertreter aufeinanderfolgender Generationen Iden titäten mitgeschaffen werden, die eine partielle Übereinstimmung mit den Taten der anderen, denen man sich verbunden fühlt, enthält. Durch diese Identifikationen mit den Mitgliedern einer bestehenden Gruppe – eine horizontale Ebene – oder mit den Vor- und Nachfahren – eine vertikale Ebene – ist nicht auszuschließen, dass durch Wiederholung oder auch Duldung die schuldhaften Taten in den eigentlich Unschul digen wiederauferstehen – und mögen die Identifikationen auch zum Teil gewaltsam aufgepfropft oder aus existenzieller Not heraus vor genommen worden sein. Auf derartige transgenerationale Wiederholungszwänge aufgrund von Introjektionen und Identifikationen werde ich im zweiten Teil des Buches zurückkommen. Jean Améry (1966, S. 92; Hervorhebung original) will Kollektiv schuld definieren als »Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher – Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld – die Gesamtschuld eines Volkes. Der Begriff der Kollektivschuld ist vor seiner Anwen dung zu ent my thi sie ren und zu entmystifizieren.« Jaspers (1946, S. 25) verneint eine Kollektivschuld: »Ein Volk als Ganzes gibt es nicht … Ein Volk kann nicht zu einem Individuum gemacht werden.« Es könne weder eine verbrecherische, noch eine moralische oder meta physische Kollektivschuld geben, wohl aber eine politische Haftung. »Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit. Angesichts der Verbrechen, die im Namen des Deutschen Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverantwortlich gemacht. Wir ›haften‹ kollektiv« (S. 40). Haftbar sein bedeute jedoch nicht, tatsächlich schuldig zu sein. Die politische Haftung leitet sich aus der Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft ab: »Aber geschichtlich bleiben wir gebunden an die näheren und engeren Gemeinschaften und würden ohne sie ins Boden lose sinken« (S. 51). Meines Erachtens beschreibt Jaspers hier die Verantwortung eines
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jeden Mitglieds einer Gemeinschaft für ihren Charakter und ihre Taten, da jeder durch Identifikationen unlösbar immer ein Teil auch der Aus wirkungen und Auswüchse ist, die er für sich entschieden ablehnt. Und ebenso erstreckt sich diese Identitätsgemeinschaft auf die nachfolgen den Generationen: Jaspers denkt an das Gefühl der Mitschuld »für das Tun unserer Familienangehörigen«. Das würde das Tun unserer Kinder, denen wir Vorbild waren, betreffen, aber auch das der Eltern generation. Sicher kann es dabei nicht um reale, »greifbare« Schuld gehen, eher um ein Schuldgefühl bzw. -bewusstsein in einer Art Soli darität im Bösen innerhalb der Generationenfolge. Auch Améry (1966, S. 96) will nicht »die Jungen« anklagen, die »frei sind von individuel ler und die individuelle zur kollektiven aufsummierter Schuld«. Aber er meint eben die Identifikationen, wenn er einen »Jungen« zitiert: »›… schließlich sind wir es leid, immer wieder zu hören, daß unsere Väter sechs Millionen Juden umgebracht haben‹« (S. 95). Das Gegen teil dieser Klage täte not: Deutschland »würde dann … sein vergange nes Einverständnis mit dem Dritten Reich als die totale Verneinung … des eigenen besseren Herkommens begreifen lernen, würde die zwölf Jahre, die für uns andere [die Opfer] wirklich tausend waren, nicht mehr verdrängen, vertuschen, sondern als seine verwirklichte Weltund Selbstverneinung, als sein negatives Eigentum in Anspruch neh men« (S. 98). Das ist die Forderung nach Schuldanerkennung, wie sie auch beim Individuum als Voraussetzung einer Versöhnung notwen dig ist; und Améry zeichnet eine Utopie: »Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treff punkt des Wunsches nach Zeitumkehr und damit nach Moralisierung der Geschichte … Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen« (S. 98). Wenn es keine Kollektivschuld gibt, so sprechen wir doch von Generationenhaftung und transgenerationaler Verantwortung. Karl Jaspers (1946, S. 17 f.) hatte wohl eine vage Vorstellung davon, wie wir bereits gesehen haben, wenn er von politischer Haftung spricht und von metaphysischer Schuld, entstanden durch die Solidarität zwischen allen Menschen, »welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt« (vgl. Jaspers 1946, S. 17 f., Teil I, S. 28). In sehr überzeugender Weise hat Bernhard Schlink (2002) eine Schuld beschrieben, die daraus entsteht, dass die Angehörigen des Täters mit ihm solidarisch bleiben, sich nicht von ihm lossagen. Zwar »kann der Schuldbegriff, wenn überhaupt, im Zusammenhang kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne nur als irrationaler Schuldbegriff anerkannt werden; als psychisches Phänomen« (S. 24). Das wäre ein kollektives Schuldgefühl. Jedoch: »Das Kollektiv haftet,
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soweit es die Solidar- und auch Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Täter aufrechterhält, von ihm profitiert, ihn begünstigt und seine Bestrafung vereitelt« (S. 26). Schlink bezeichnet die Verbundenheit mit dem Täter als Solidarität, wo ich eher von Identifikation sprechen würde; es ist dasselbe gemeint. Weiter Schlink: »Der rechtsgeschichtliche Rückblick zeigt, dass auch das Nichtlossagen, Nichtverurteilen, Nichtverstoßen Schuld stiftet. […] Das Nichtlossagen verstrickt in alte und fremde Schuld, aber so, dass es neue, eigene Schuld erzeugt« (S. 29 f.).
Christliche Religion Für Sölle (1971) gehört die Schuldfähigkeit zur Würde des Menschen. Baumann und Kuschel (1990, S. 92) fragen: »Wird die Möglichkeit menschlicher Schuld abgeschafft, wird dann nicht zwangsläufig die Freiheit zu menschlichem Handeln mit abgeschafft?« In der Tat, nur der Mensch ist schuldfähig aufgrund der prinzipiellen Freiheit seiner Entscheidung, etwas »Gutes« oder »Böses« zu tun. Ein Charakteristikum, das in den Abhandlungen zur theologischen Auffassung von Schuld durchgehend vorkommt, ist das des »freien Willens«, der wissentlichen Entscheidung für die unstatthafte Tat. Schuld kann Rahner (1959, S. 56) zufolge nur in Bewusstsein und Freiheit begangen werden. Und es geht um eine Tat, eine Handlung, wie schon Augustinus im 4. Jahrhundert nach Christus sagte: »Schuld ist die Folge einer Tat oder eines Begehrens gegen die Weisung des Ewigen Gesetzes« (zit. von Condrau 1962, S. 133). Es ist, als ob die christliche Theologie, sofern sie an der Auffassung der Entscheidungsfreiheit festhält, sowohl gegen die Existenzphiloso phie ankämpfen müsste als auch gegen die Psychoanalyse. Denn wenn es sich nur um eine »Tatschuld« (Häfner 1959/69) handeln kann, ist die dem Sein, der Existenz immanente Schuld unmöglich. Ebenso aus unbewussten Motiven heraus schuldig zu werden. Dementsprechend gebe es keine tragische Schuld im Sinne des Dilemmas, dass jemand von zwei Übeln, die ihn beide schuldig werden lassen, das kleinere wählen müsste, da dann keine Entscheidung für das Böse vorläge, wenn man keine Wahl habe. Auch hält Rahner es geradezu für »unsittlich« (1959, S. 56), von Mut zur Schuld zu reden, das heißt die mutige Aner kennung existenzieller, realer Schuld zu empfehlen. Die Betonung des freien Willens, der bewussten Entscheidung gegen die Gesetze der Ordnung Gottes muss zwangsläufig einer Auffassung der Psychoanalyse, dass der Mensch in seinem Verhalten und Denken
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vielfältig auch unbewusst determiniert ist und auch für sein Unbewuss tes die Verantwortung trägt, zuwiderlaufen. In den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« hält Freud (1916–17, S. 104) seinen Zuhörern vor, »daß ein tief wurzelnder Glaube an psychische Freiheit und Willkürlichkeit in Ihnen steckt, der aber ganz unwissenschaftlich und vor der Anforderung eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus die Segel streichen muß«. Von theologischer Seite fragen Baumann und Kuschel (1990, S. 94) kritisch, ob wir denn überhaupt »Herr im Hause« seien. Sie meinen ein Schrumpfen des Spielraums der freien Entscheidung des einzelnen zu bemerken. Es kann auch in der christlichen Ethik ein Doppeltes, eine Dialektik festgestellt werden, dass einerseits eine schuldhafte Tat in freier Entscheidung des Individuums geschieht; andererseits kann sie nicht übersehen, dass »das Böse« vielfach gesell schaftlich und lebensgeschichtlich bedingt ist, sodass die Freiheit einer bewussten Entscheidung weitgehend eingeschränkt ist. Nimmt man das Unbewusste als determinierenden Faktor hinzu, ist man schon gar nicht »Herr im eigenen Haus«, wie Freud (1916–17, S. 295) dieses Bild in diesem Zusammenhang formuliert hatte. Die christliche Religion hat meines Erachtens immer ein dialekti sches Konzept von Schuld vertreten: Es gibt einerseits die Sündhaf tigkeit, die Erbsünde (vgl. Jaspers [1957] über Augustin), die »Ur schuld« (Buber 1958, S. 7), die zur Existenz des Menschen, zu seiner Definition als Mensch grundlegend gehört, die mit der prinzipiellen Fähigkeit zur freien Entscheidung mit dem Erkennen-Können von Gut und Böse zusammenhängt, und andererseits die einzelne »sün dige« Tat, die der einzelne mit aller Kraft zu vermeiden angehalten ist (auch wenn es ihm, da er wiederum ein schwacher Mensch ist, nicht oder nur selten gelingen wird). Wie im Konzept der All-Schuld von Dostojewski, in der jeder für jedes schuldig ist, (in einer überstei gerten Nachahmung der Übernahme der Schuld aller Menschen durch Jesus Christus) und in Kafkas Frage, wie denn der Mensch überhaupt schuldig werden könne, da doch alle – existenziell? – schuldig seien, könnte die eine Seite der Dialektik – alle Menschen sind immer sündig – als Rechtfertigung dienen, sich aus der Personalschuld, der konkreten Verantwortung eines jeden herauszustehlen. Ein Ausweg liegt in der Annahme, daß auch die unausweichlich – unfrei – begangenen Sünden von vorherigen Entscheidungen des Individuums bestimmt sind. Rahner (1959) versucht damit, an der Bedingung der freien Entscheidung für das Schuldigwerden festzuhalten. Eine andere Möglichkeit, das Konzept der freien Entscheidung zu retten, ist die Vorstellung des »Situiert-Seins inmitten von Schuld«
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(vgl. Imbach 1989b, S. 137), denn die Freiheit der Entscheidung ist immer mitbestimmt, mitbedingt durch die Schuld anderer. Baumann und Kuschel (1990, S. 134) kritisieren zu Recht, dass hier an der katholischen Auffassung der freien Entscheidung zur Sünde zu sehr festgehalten wird, die protestantische aber zu kurz kommt, in der »die Sünde … existentielle Sündentat« ist. Mir scheinen diese diametral verschiedenen christlichen Auffassungen – unausweichliche Erbsünde bzw. stets freie Entscheidung – auf differente Interpretationen der Schöpfungsgeschichte zurückzugehen. Einmal wird der Sündenfall Adams als Beispiel für eine freie Entscheidung eines Menschen zur Sünde verstanden, zum anderen aber als Metapher für die Mensch werdung und die Beschaffenheit der menschlichen Existenz, unaus weichlich sündig sein zu müssen. Im ersten Fall wäre der Sündenfall Ergebnis der Freiheit, im zweiten Fall entsteht die Freiheit erst aus dem Sündenfall (durch die Erkenntnis von Gut und Böse), wenn es sich auch um eine immer beschränkte Freiheit handelt. Jedenfalls lassen sich die beiden Auffassungen als Pole verstehen, zwischen denen sich die dialektische Spannung der menschlichen Schuld aufbaut. Meines Erachtens hat sich die christliche Religion mit dem Dogma der »freien Entscheidung zur Sünde« keine Möglichkeit gelassen, dem Menschen das Doppelte, die Dialektik von Sündhaftigkeit des Men schengeschlechts aufzuzeigen als Zeichen seiner prinzipiellen Freiheit, seiner Würde gar, und andererseits von »Sünde« der alltäglichen Tat, für die er sich, allerdings mehr oder weniger determiniert, also unfrei, ent scheidet oder auch nicht. Daraus entstünde die Forderung, alles zu tun, um so wenig Schuld auf sich zu laden wie möglich, ohne aber je ganz ohne Schuld sein zu können, da sie dem Mensch-Sein immanent ist. Dadurch könnte die Religion eine ungemein schuldbewältigende Wir kung haben und dem einzelnen helfen, individuell empfundene Schuld als prinzipiell unausweichlich zu begreifen, wobei sie ihn gleichzeitig aber keineswegs der Aufgabe entheben müsste, sich mit aller Kraft zu bemühen, persönliche Schuld zu minimieren. Dadurch würde auch eine Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft erreicht, von der der einzelne sich entfernt haben mag in dem Gefühl, sich durch seine Schuld für diese Gemeinschaft disqualifiziert zu haben. Die Beichte, das Anerkennen von Schuld, das in seiner emotionalen Dimension Reue genannt wird, wor auf eine (sym bo li sche) Abso lu tion durch einen Vertreter der menschlichen Gemeinschaft erfolgt, könnte und sollte wohl eine psychohygienische, geradezu therapeutische Funktion haben. Durch das Aufzeigen von prinzipieller Schuldhaftigkeit und der gleichzeitigen Forderung, Schuld so gering wie möglich zu halten,
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erfolgt Angstreduktion und, sozusagen unverdient, Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Die christliche Kirche, das heißt die menschlichen Vertreter die ser Religion, scheint mir jedoch allzu sehr Schuldvorwurf betrieben und aus dem unerbittlichen Durchsetzen strenger Moralvorstellun gen Macht über die sündigen und deshalb ohnmächtigen Gläubigen gezogen zu haben. Nicht nur, dass der, der »intensive und anhaltende Schuldgefühle auszubilden in der Lage ist, … der christlichen Bot schaft näher« gilt (Hole 1989, S. 83), sondern »die kollektive psy chische Entwicklung im abendländisch-christlichen Kulturkreis [ist] durch eine starke Betonung des Autoritätsprinzips und damit … des Schuldprinzips gekennzeichnet« (S. 97). Also fragen Baumann und Kuschel (1990, S. 91; Hervorhebung original): »Haben sich so viele Christen nicht deshalb von jenem nun vermißten Sünden verständnis distanziert, weil es tatsächlich fragwürdig ist? … Fragwürdig, weil es nicht ausreichend zwischen der konstitutionellen Schwäche … und verantwortli chem Versagen, Schuld und Schuldgefühlen unterscheidet …, weil es eine … von der wirklichen Schuldproblematik ablenkende … Sündenmystik begünstigt, statt die Befreiung und Erlösung des Menschen in seiner Gemeinschaft?«
In der Tat scheint die Kirche weder die kreativen Möglichkeiten noch auch die dilemmaartigen Probleme der menschlichen Sexualität als allgemeingültig aufgezeigt und damit von Schuld bzw. Schuldgefühl entlastet zu haben. Vielmehr scheint sie die rigide Unterdrückung der menschlichen Sexualität gefordert, scheint sie eher mit individueller Schuldzuweisung Aggression bekämpft als gesellschaftlichen und politischen Machtmissbrauch, Krieg und Ausbeutung angeprangert zu haben.
Schulddialektik und Schulddilemma Schulddilemmata und damit das, was man »tragische Schuld« nennt, ergeben sich auf zwei Ebenen: Einmal ginge es darum, nur die Wahl eines kleineren Übels zu haben, die eine Aufgabe schuldhaft vernach lässigen zu müssen, indem man die andere wahrnimmt. Wer je sei nem Kind weh getan hat, indem er das Haus seiner Pflichten wegen verließ, kann sich in das Dilemma hineinversetzen. Die andere Mög lichkeit: Zwei verschiedene Schulddimensionen geraten in Konflikt, näm lich Tatschuld und Existenzschuld. Indem ich meine Pflicht jemandem gegenüber wahrnehme, kann es sein, dass ich versäume, was ich mir selbst schuldig bin. Geht zum Beispiel der Familienva
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ter nicht aus dem Haus, weil das Kind zu sehr schreit, begibt er sich damit der Möglichkeit, seine Existenz zu sichern und seine Iden tität zu erweitern, macht er sich an sich selbst schuldig; verlässt er das Kind, entsteht Schuld diesem gegenüber. In der Diskussion um die verschiedenen Gewissensqualitäten werden die Konflikte deut lich: Gehorcht man dem autoritären Gewissen (»moralische Fremd herrschaft« [Condrau 1962, S. 151]), macht man sich gegenüber der Verantwortung für sich selbst schuldig. Spielt sich der Konflikt zwi schen moralischen oder juristischen Gesetzen und den existenziellen Bedürfnissen eines einzelnen ab, ist er meist leicht überschaubar und auch entscheidbar. Schwieriger wird es, wenn einerseits Schuld durch Verletzung der Rechte oder des Lebens eines anderen droht, ande rerseits aber ebenso die eigenen Bedürfnisse oder auch das eigene Leben selbst exi sten zi ell bedroht wären, würde man den ande ren schonen und das Schuldigwerden an ihm vermeiden. Ein Verhungern der, der seinem Leidensgenossen ein Stück Brot stiehlt, macht sich an ihm natürlich schuldig; tut er es aber nicht, vernachlässigt er schuld haft die Pflicht, sich um sein Leben optimal zu sorgen. Ein alltägli cher Vorgang ist der Konflikt zwischen der Verpflichtung (vielleicht auch dem Bedürfnis), bei jemandem zu bleiben, und andererseits dem Bedürfnis, frei seiner Wege zu gehen, ein Basis-Konflikt der Men schen zwi schen Anklammerungstrieb, Geborgenheitswunsch einer seits und Autonomiestreben, Freiheitsdrang andererseits. Verletzte der Sohn die Mutter, der eine Partner den anderen durch sein Wegge hen-Wollen, so ginge es zwar dabei um das hier gemeinte Schulddilemma; da es sich aber oft um unrealistische, irrationale Forderungen oder Verpflichtungsgefühle handelt, gehört ein solcher Konflikt zwi schen Anklammerungs- und Autonomiebestreben eher in den Bereich der Schuldgefühle.
Schuldbewältigung Schuld ist nicht ungeschehen zu machen oder sonst aufhebbar – im Gegensatz zum irrationalen, neurotischen Schuldgefühl, dessen Sinn verstanden und dessen unbewusste Motive analysiert und aufgegeben werden können, sodass das Schuldgefühl wegfällt. Schuld ist aber zu bewältigen durch Versöhnung mit dem Geschädigten (der dazu bereit sein muss) als einer Neudefinition ihrer Beziehung sowie durch die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft, deren Ordnung gestört worden ist. Die Voraussetzung ist Schuldbewusstsein und Schuldanerkennung,
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ein Bekenntnis, verbunden mit einer gefühlsmäßigen Einsicht, eben der Reue. Eine Szene aus »Rodion Raskolnikoff« von Dostojewski (1908a, S. 563 f.) soll das illustrieren. In dieser Szene hört Raskolnikoff, der Mörder, unwillig den Rat der liebenden Frau, Ssonja, den er jedoch noch längst nicht annehmen kann: »Was soll ich jetzt tun? Sprich!« fragte er … und blickte sie mit einem vor Ver zweiflung förmlich entstellten Gesicht an. »Was tun!« rief sie aufspringend aus, und ihre Augen … blitzten plötzlich. »Steh auf! … Geh sofort, unverzüglich, stell dich auf einen Kreuzweg, knie nieder und küsse zuerst die Erde, die du entweiht hast, und dann verneige dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen, und sage vor allen Menschen laut: ›Ich habe getötet!‹ Dann wird Gott dir wieder Leben geben. Wirst du gehen? Wirst du gehen?« fragte sie ihn, wie in einem Anfall am ganzen Körper bebend … und ihr brennender Blick sah ihn unablässig an … »Du meinst die Zwangsarbeit, oder was, Ssonja? Daß ich mich selbst anzeigen soll?« fragte er finster. »Das Leiden auf sich nehmen und sich dadurch erlösen, das ist es, was man tun muß.« »Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.« »Wie willst du denn leben, leben? Womit wirst du denn weiterleben?« rief Ssonja. »Ist das denn sonst noch möglich? Wie wirst du denn mit deiner Mutter sprechen? Ach, was rede ich! Du hast ja deine Mutter und Schwester schon ver lassen. Du hast sie doch schon verlassen, verlassen! Gott!« schrie sie auf. »Er weiß das alles schon selbst! Aber wie, wie kann man denn ohne einen Menschen weiterleben!«
Viel später, schon im Gefängnis, wird die Notwendigkeit des Affekts der Reue dargestellt: »Wenn doch das Schicksal ihm Reue gesandt hätte – brennende Reue, die das Herz zerreißt, die den Schlaf verjagt, eine Reue, deren schreckliche Qualen einen an Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten ist, denken lassen! Oh, er hätte sich über sie gefreut! Qualen und Tränen – das ist gleichfalls Leben. Aber er bereute sein Verbrechen nicht« (Dostojewski 1908a, S. 731).
Schuldbewusstsein und Reue Wie bereits erwähnt, möchte ich den Begriff Schuldbewusstsein für die kognitive Anerkennung einer realen Schuld wegen tatsächlich begangener Handlungen oder auch für die Einsicht in die schuld hafte Begrenztheit der eigenen Existenz verwenden. Seine affektive Erweiterung, der affektive Anteil also an der Schuldanerkennung, nennt man Reue. Beide Begriffe gehören zur Schulderfahrung, zum Schulderleben. Wir haben in der Polemik gegen den Schuldgefühls-
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und Über-Ich-Begriff der Psychoanalyse ein bedauerliches Beispiel von unfruchtbarer Auseinandersetzung kennengelernt, die vor allem aus der Verwechslung der Begriffe (neurotisches) Schuldgefühl und (reale) Schuld bzw. deren Anerkennung (die jetzt Schuldbewusstsein und Reue heißen soll) herrührt. Ich möchte zur Unterstützung mei nes Vorschlags die Differenzierungsfähigkeit der deutschen Sprache heranziehen, die schließlich von »sich einer Schuld bewusst sein« spricht, und dabei kann es sich nur um reale Schuld handeln. Ebenso heißt es zum Beispiel »schuldbewusst dreinblicken«; in diesem Aus druck ist bereits ein affektiver Anteil enthalten, der der Reue ent spricht (ein Blick also voller Reue), ein Begriff, dessen affektive Qua lität im allgemeinen mit dem Adjektiv »zerknirscht« bezeichnet wird. Schuldbewusstsein deckt sich auch mit dem umgangssprachlichen »schlechten Gewissen« (Condrau 1962, S. 130). Synonyme, die in der Literatur verwendet werden und eine reale Schuld im Gegensatz zum neurotischen oder irrationalen Schuldgefühl bezeichnen, sind zum Beispiel: – »normales Schuldgefühl« (Müller-Braunschweig 1947/48, S. 194), auch »normgemäßes Schuldgefühl« (Boss 1962, S. 46); – »authentisches Schuldgefühl« (Buber 1958, S. 20); – »Reifes-sich-schuldig-fühlen-Können« (Boss 1962, S. 35); – »angemessenes Schuldgefühl wegen etwas, das ein Mensch getan hat« (Sandler u. Sandler 1987, S. 148). In allen diesen Begriffen muss das »Schuldgefühl« mit einem Adjektiv von einem Schuldgefühl, wie wir es sonst als Bezeichnung für irra tionale Schuld selbstverständlich gebrauchen, ausdrücklich abgehoben werden. Meines Erachtens sollte deshalb »Schuldgefühl« vorbehalten bleiben für das subjektive Gefühl der Schuld, wie es der Sprachge brauch ja auch bezeichnet. Freud verwendet Schuldgefühl und Schuldbewusstsein fast immer synonym. In einem Vortrag vor Juristen (»Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse« [Freud 1906c, S. 13]) weist er auf das Irrationale des Schuldbewusstseins des Neurotikers hin, »der so reagiert, als ob er schuldig wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein ihm bereitliegendes und lauerndes Schuldbewußtsein sich der Beschuldigung des beson deren Falles bemächtigt«. Ähnlich einem Kind, »dem man eine Untat vorwirft« (S. 13), das zwar die Tat entschieden leugnet, »dabei aber weint wie ein überführter Sünder« (S. 13). Das Kind ist unschuldig an der Untat, die ihm zur Last gelegt wird, aber dafür schuldig an einer anderen – es leugnet mit Recht seine Schuld an der einen Sache, verrät
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aber durch sein Weinen die Schuld wegen einer anderen, ähnlichen. Natürlich ist es beim Neurotiker keine reale Schuld, sondern eine der Vorstellungs- und Gefühlswelt, muss man hier ergänzen. Ähnlich wird von Freud in den »Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose« (Freud 1909d, S. 399) das einem kleinen Anlaß unangemessen große Schuldbewusstsein des Patienten anerkannt, weil es zu einem unbe wussten Vorstellungsinhalt gehört (»falsche Verknüpfung«). In »Totem und Tabu« (Freud 1912–13, S. 85) wird das Auftreten von »Tabugewissen« und »Tabuschuldbewußtsein« nach Übertretung des Tabus beschrieben. Beide sind ganz ähnlichen Charakters, das Gewissen »verwirft bestimmte Wunschregungen«, mahnt also vor der Tat; das Schuldbewusstsein ist die »Wahrnehmung der Verurteilung solcher Akte, durch die wir bestimmte Wunschregungen vollzogen haben«, regt sich also nach vollzogener Tat. Dass man hier den Ein druck bekommt, es handle sich um ein Schuldbewusstsein wegen einer real begangenen Tat, liegt wohl daran, dass Freud hier einen Mythos schildert, sozusagen seinen ureigenen ödipalen Schöpfungs mythos übrigens, der sicher als Projektion des unbewussten Gesche hens der zeitgenössischen Menschen in die Phylogenese hinein ver standen werden muss (vgl. Grubrich-Simitis 1993, S. 164 f.). Das heißt, was im Mythos als Realität geschildert wird und deshalb Schuld und Schuldbewusstsein zur Folge hat, wird im Intrapsychischen als Schuldgefühl erscheinen wegen einer irrealen Schuldqualität aufgrund von Vorstellungen und Phantasien (vgl. Fußnote 1). Mehrmals noch werden Schuldgefühl und Schuldbewusstsein in dieser Arbeit Freuds gleichsinnig gebraucht; einmal heißt es: ein »brennendes Schuldge fühl« (S. 174) – hier muss Freud verständlicherweise den Begriff »Schuldgefühl« wählen, denn ein »Bewußtsein« kann nicht mit einem solchen Attribut des Affekts wie »brennend« belegt werden. Ein ande res Mal (S. 191) spricht Freud vom Schuldbewusstsein der Neurotiker, und damit ist klar, dass er ein neurotisches Schuldgefühl meint. In einem weiteren Beispiel verwendet Freud (1916d, S. 382 f.) die Begriffe offenbar ganz unachtsam in genau der entgegengesetzten Weise, wie es der Sprachgebrauch eigentlich nahelegt. In »Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit« geht es um die Heldin Rebekka aus Ibsens »Rosmersholm«, die heimtückisch die Frau des geliebten älteren Mannes beseitigt hat. Sie kann sich ihm aber nun nicht nähern, weil »›meine eigene Vergangenheit mir den Weg zum Glück versperrt.‹ Sie ist also eine andere geworden unterdes, ihr Gewissen ist erwacht, sie hat ein Schuldbewußtsein bekommen, welches ihr den Genuß versagt.« Das ist das Bewusstsein einer realen Schuld. Im fol genden versucht Freud, dieses »Schuldbewußtsein« auf die (nur unbe
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wusst begriffene) inzestuöse Beziehung zu einem anderen Mann, ihrem leiblichen Vater – sie wusste nicht, dass er ihr Vater war – zu beziehen. Meines Erachtens würde Schuldgefühl dazu viel besser passen, weil es das Gefühl der Schuld wegen eines verdrängten Inzestkomplexes aus drücken würde. Als es aber darum geht, dass Rebekka möglicherweise unter der realen Handlung, nämlich die Rivalin Beate in den Tod getrie ben zu haben, leidet, verwendet Freud (1916d, S. 383) den anderen, auch hier unpassenden Begriff: »Und nun antwortete sie nicht …, daß keine Verzeihung ihr das Schuldgefühl nehmen könne, das sie durch den tückischen Betrug an der armen Beate erworben, sondern …« Ver zeihung und irrationales Schuldgefühl passen aber nicht zusammen; verziehen werden kann nur ein reales Tun, Verzeihung kann also nur ein aus diesem entstandenes realistisches Schuldbewusstsein lindern. Die andere große Arbeit Freuds, die sich mit dem Schuldthema beschäftigt, ist »Das Unbehagen in der Kultur« (Freud 1930a). Auch hier der synonyme Gebrauch, wenn auch eindeutig zugunsten des Begriffs Schuldgefühl, den er in dieser späten Arbeit eher verwendet, wenn es um irrationales Schulderleben geht. Dann aber wird es für Freud möglich, ein irrationales Schuldgefühl von einem wegen einer realen Tat empfundenen zu differenzieren: »Wenn man ein Schuldgefühl hat, nachdem und weil man etwas verbrochen hat, so sollte man dies Gefühl eher Reue nennen. Es bezieht sich nur auf eine Tat, setzt natürlich voraus, daß ein Gewissen, die Bereitschaft, sich schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand« (Freud 1930a, S. 491; Hervorhebung original).
Und gleich darauf erklärt er die Psychoanalyse für einen solchen Fall als nicht zuständig: »Die Psychoanalyse tut also recht daran, den Fall des Schuldgefühls aus Reue von diesen Erörterungen auszuschließen, so häufig er auch vorkommt und so groß seine praktische Bedeutung auch ist« (S. 491). Das heißt nichts weniger, als dass Freud die Psy choanalyse für nicht geeignet oder berechtigt hält, sich um die Bedeu tung und die Wirkung realer Schuld zu kümmern. Bei Freud verwirren sich manchmal die Bezeichnungen; er war sich wohl im klaren, dass das, was er hier »Reue« nennt, im Sprachgebrauch ganz anders heißt: »In den gemeinen, uns als normal geltenden Fällen von Reue macht es sich dem Bewußtsein deutlich genug wahrnehmbar; wir sind doch gewöhnt, anstatt Schuldgefühl ›Schuldbewußtsein‹ zu sagen« (S. 494). Aus die ser Stelle ent steht mei nes Erach tens die Berech ti gung, Schuldgefühl und Schuldbewusstsein zu definieren, wie ich es vor geschlagen habe. Leider verwendet Freud dann wieder »Schuldbe wußtsein« für »Schuldgefühl«; hätte er es nicht getan, wäre ihm der Wider spruch, eine »contradictio in adjecto«, eines »unbe wuß ten
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Bewußtseins« erspart geblieben: »Und darum ist es sehr wohl denk bar, daß auch das durch die Kultur erzeugte Schuldbewußtsein nicht als solches erkannt wird, zum großen Teil unbewußt bleibt …«5 Die Ver wirrung hängt auch damit zusammen, dass Freud ein unbewusstes von einem bewussten Schuldgefühl unterscheiden will (beide neurotisch) und, statt »unbewußtes Schuldgefühl« zu sagen, dazu neigt, »Schuld bewußtsein« zu verwenden. Den Begriff der Reue für die Anerkennung realer Schuld zu verwen den, erscheint mir wegen seines erwähnten affektiven Gehalts nicht günstig; Reue ist meiner Meinung nach vielmehr der affektive Anteil der Schuldanerkennung, des Schuldbewusstseins. Während das Schuldbewusstsein die Übernahme von Verantwor tung sich selbst und den anderen gegenüber enthält, ist die Reue die Voraussetzung für die Trauer, die notwendig ist, um sich abzulösen von dem, der man als schuldhaft Handelnder war. Es ist die Trauer darüber, dass man nicht anders hat handeln und sein können; man kann vielleicht auch sagen, dass man die Illusion, seinem Ideal-Selbst nahe zu sein, verloren hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Freud (1917e, S. 432 f.) in »Trauer und Melancholie« die heftigen Selbstvorwürfe des Melancholikers nicht als echte Reue anerkennen kann: »Endlich muß uns auffallen, daß der Melancholiker sich doch nicht ganz so benimmt wie ein normalerweise von Reue und Selbstvor wurf Zerknirschter. Es fehlt das Schämen vor anderen, welches diesen letzteren Zustand vor allem charakterisieren würde.« Zur echten Reue gehört also auch ein Schamempfinden, Scham über das So-Sein oder So-gewesen-Sein, das mit dem Ideal-Ich nicht über einstimmt. Die Schuldbewältigung findet ihren Abschluß in dem Versuch der Wiedergutmachung und der (mehr oder weniger ritualisierten) Sühne. Neben der Anerkennung und dem Öffentlich-Machen der Schuld scheint mir die Sühne (im religiösen Sinne auch Buße oder im juristischen Sinne Strafe) als notwendige Voraussetzung der Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft, denn, so Dostojewski (1908a, S. 564): »Wie kann man denn ohne einen Menschen weiterleben?« Ein letzter Schritt, den aber nicht der Schuldige, sondern das Opfer (unter der Vor aussetzung, dass der Täter seinen Teil beigetragen hat) leisten muss, ist der der Verzeihung. »Moralische Schuld kann anders als durch Ver-5 Freud hat den Begriff »unbewußtes Schuldbewußtsein« selbst als »befremdliche Verei nigung« der beiden Wörter bezeichnet (1915e, S. 276). Auch in »Das Ich und das Es« (1923b) war sich Freud des Widerspruchs bewusst und änderte noch in der Umbruch korrektur »Schuldbewußtsein« in »Schuldgefühl«, nachdem ihn Ferenczi (Brief vom 18. 3. 1923) darauf hingewiesen hatte (Grubrich-Simitis 1993, S. 187).
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zeihung nicht ausgeglichen werden …« (Vossenkuhl 1983, S. 122). Auch die Mittel der eher symbolischen Wiedergutmachung müssen vom Geschädigten anerkannt werden.
Schuldanerkennung, Umkehr und Vergebung Spätestens hier klingt die Notwendigkeit der Wiederaufnahme eines Dialogs mit dem Schuldigen an, um ihn zu reintegrieren und Schuld zu bewältigen. Besonders Hubbertz (1992) hat darauf hingewiesen, dass Schuld im Sinne von Schuldigsein und Schuldigwerden in Beziehun gen geschieht und nur in der Auseinandersetzung der Beteiligten, in der Klärung ihrer jeweiligen Standpunkte und Motive bewältigt werden kann. Es kann hier zwar keine erschöpfende Untersuchung geleistet werden, wie die Menschen sich Rituale oder praktische Vorgehens weisen geschaffen haben, um die erforderlichen Schritte der Schuldbewältigung zu leisten. Als zwei Beispiele möchte ich aber die Beschrei bung der Praxis der frühchristlichen Gemeinde durch Baumann und Kuschel (1990, S. 142 f.) sowie die Zusammenfassung der Vorstel lungen Hubbertz’ (1992, S. 54 u. 60) wiedergeben. Es ergeben sich dabei erstaunliche Parallelen, die sich sowohl in der psychotherapeuti schen Praxis als auch im juristischen Vorgehen finden, wie es sich bis heute entwickelt hat. Baumann und Kuschel (1990, S. 142 f.; Hervorhebungen original) geben einen Überblick über die »urchristliche Bußordnung, … deren Ursprünge in die Gemeindeordnung der jüdischen Synagoge zurück reichen … 1. … Offenliegende Schuld … kann nicht ein fach hin ge nom men, sie muß besprechbar gemacht werden. Der Sünder soll seine Schuld selbst einsehen. Schulderkenntnis ist die erste Voraussetzung für die Umkehr. 2. Die Umkehr, ›metánoia‹, ist das Ziel der Ermahnung. (Darauf) hören, heißt: Schuld übernehmen, Verantwortung anerkennen … Wir verwenden für diese innere Umkehr heute meist das Wort Reue. Es enthält zusätzlich ein affektivgefühlshaftes Element: das schmerzliche Bedauern über eingesehenes Versa gen, … aber auch den Wunsch und dann die Absicht, … alles zu tun, um den angerichteten Schaden wieder in Ordnung zu bringen, und gleichzeitig zu wissen, daß ich mir meine Schuld selbst nicht nachlassen kann, sondern auf Vergebung angewiesen bin … Versöhnung ist nur möglich als gemeinsamer Neubeginn. 3. Was aber, wenn der Ermahnte diesen Neubeginn nicht will? Dann … soll man ihm … noch einmal ins Gewissen reden. Wenn er auch jetzt nicht zur Einsicht kommt …, dann freilich muß man ihn verloren geben. Er ist ›exkommuniziert‹, ausgeschlossen von der Gemeinschaft …, bleibt ›gebunden‹ an seine Schuld … Das Ziel … ist bis zum Schluß die Versöhnung.«
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Die Autoren weisen auch besonders darauf hin, dass »die alte Kirche … unter ›Buße‹ etwas völlig anderes [verstand]: Buße hatte der reumütige Sünder in jedem Falle vor seiner Wiederaufnahme zu tun … Die Bußauflagen waren oft drakonisch … Dennoch hatte diese Buße nicht in erster Linie den Sinn einer Strafe …, der Büßende sollte vielmehr durch freiwillige Übernahme der ihm auferlegten Entbehrungen den wirklichen Ernst seiner inneren Umkehr unter Beweis stellen und sich bewähren, ehe ihn der Bischof der Gemeinde … fei erlich wieder aufnahm« (Baumann u. Kuschel 1990, S. 145 f.).
Wie man sieht, wurde einige Mühe verwendet und mussten einige Bedingungen erfüllt werden, bevor eine Aussöhnung und Rehabilita tion stattfinden konnte. Um eine Verbindung von der Verantwortlichkeit für sich selbst und die soziale Gemeinschaft als auch vor deren Institutionen und die Ver bindung der Bereiche geht es Hubbertz (1992, S. 59 u. 60): »Eine Haltung der Verantwortlichkeit beinhaltet vielmehr die Freiheit und die Not wendigkeit, eine persönliche Gestaltung des eigenen Schuldumgangs zu suchen. Obwohl sie prinzipiell in eine dialogische Beziehungsstruktur eingebettet ist, bleibt Verantwortung deshalb selbstreflexiv, d. h. Verantwortung vor sich selbst« (S. 59; Hervorhebung original).
Hubbertz (1992, S. 60; Hervorhebung original) fordert, dass folgende Bedingungen der Selbstverantwortung im Umgang mit Schuld erfüllt sein sollen:
»– die Annahme des eigenen Schattens (d. h. … die Integration von Persönlichkeitsanteilen, welche mit dem schuldhaften Handeln verknüpft sind); » – der Dialog mit den Anderen (d. h. der kommunikative Austausch über schuld haftes Handeln …) und » – Umkehr und Neuentscheidung (d. h. der Versuch, nach Annahme und dialo gischer Verarbeitung der eigenen Schulderfahrung sein eigenes Selbstkonzept und Handeln neu auszurichten).«
Einen Vergleich und eine Angleichung der Elemente der traditionellen christlichen Beichte, nämlich Gewissenserforschung, Reue, Losspre chung (Vergebung) und Buße, mit der psychoanalytischen Begriffswelt leistet Brocher (Brocher u. Linz 1971). Für Gewissenserfor schung verwendet Brocher Selbstwahrnehmung und Selbsterkennen auch unbewusster Anteile, für die ebenfalls Verantwortung übernom men werden soll. Reue verbindet Brocher mit Trauer, versteht sie im übrigen als eine Form der Einsicht: »Zur Vergebung [gehört] Liebe …, und zwar Nächstenliebe wie Selbstliebe … Wenn man das Gefühl hat: Da ist eine Schuld, die ich vor mir selbst verantworten muß, – muß man auch in der Lage sein, sich selbst zu vergeben … Man muß von einem Vergebung zu erlangen suchen, … um Vergebung … bitten« (Brocher u. Linz 1971, S. 216).
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Juristische Schuldbewältigung Das Recht beurteilt Schuld und ihr Maß eher nach den Folgen einer Tat, nicht so sehr nach ihrer Intention, auf die es der Moral schon eher ankommt; hier kann unter Umständen schon der Gedanke, die Absicht, der Wunsch (z. B. zu töten) oder das bloße Begehren (»des Nächsten Weib«) Sünde bedeuten. Auf diesen Unterschied hat Vossenkuhl (1983, S. 137) hingewiesen. Vom moralischen Standpunkt kann das Maß der Verwerflichkeit einer Tat wohl nicht von ihrem Erfolg abhän gen, bei der Rechtsprechung macht es aber anscheinend doch einen Unterschied, ob etwa das Opfer eines beabsichtigten Mordes über lebt oder nicht. Aber sonst finden sich ganz ähnliche Elemente der Schuldverarbeitung in der Rechtsprechung, wie wir sie schon kennen gelernt haben: Als »Sphäre des … Rechtes« bezeichnet Buber (1958, S. 34) die »Forderung, die die Gesellschaft ihren Gesetzen gemäß an den Schuldigen stellt; die Vorgänge des Vollzugs heißen Geständnis, Strafverbüßung und Schadloshaltung.« In dem Geständnis müssten Einsicht, ein Unrechtbewusstsein und die Schuldanerkennung gefor dert werden. Buber übergeht die meines Erachtens ganz zentrale Funktion der Verhandlung, die zum einen ein Öffentlich-Machen ist, das für den Delinquenten auch eine entlastende Funktion haben mag, da er an sei ner Schuld nicht mehr einsam tragen muss, sondern wieder einen ersten Kontakt zur Gemeinschaft bekommt, ähnlich einem Kind, das ein elterliches Donnerwetter allemal einem bedrohlichen, weil in seiner Qualität undurchsichtigen Schweigen vorzieht. Die Verhandlung bil det darüber hinaus den Ort des Dialogs der Parteien – Schädiger und Geschädigte –, in dem über den Tatbestand, das Maß der Schuld und die Sühne (Buber: »Strafverbüßung und Schadloshaltung«) gesprochen wird. Eine Wiedergutmachung wird eher im Zivilrecht als im Straf recht einen Platz haben; manchmal handelt es sich um eine eher sym bolische Wiedergutmachung, wenn die Geldbuße des Verkehrsrowdys dem Roten Kreuz oder die des Kinderschänders dem Kinderschutz bund zufließt. Dass die Rechtsprechung keineswegs nur die Interessen der Staatsgemeinschaft und ihr eventuelles Bedürfnis nach Vergeltung im Sinn hat, sondern auch die Rehabilitation des Delinquenten, zeigt sich an der Berücksichtigung von Geständnis, Einsicht und sogar Reue bei der Bemessung des Strafmaßes (das also nicht objektiv feststehen kann), der Berücksichtigung von Wiederholungstaten, der Möglich keit der Bewährungsstrafe sowie anderer Ansätze der Resozialisation. Auch für den Täter kann die öffentliche Verhandlung einen entlasten den, resozialisierenden Effekt haben. Das Verfahren sollte zudem –
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zumindest unter anderem – seine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft als Resultat eines Dialogs der Parteien intendieren.
Schuldabwehr Das Eingeständnis realer Schuld widerstrebt den Menschen; der mit der Anerkennung verbundene Schameffekt weist auf den narzisstischen Charakter des Geschehens hin: Niemand möchte sich so schwach, so unvollkommen, oder aber unmoralisch oder antisozial fühlen, dass er es nicht verhindern konnte, schuldhaft zu handeln. Niemand möchte auch derart bloßgestellt werden, sich so gekränkt fühlen müssen. Eine erste Abwehrform gegen ein Schuldbewusstsein kann man dementsprechend narzisstische Abwehr nennen, die sich in zwei For men äußert: 1. Massive Aggressionen richten sich gegen jemanden, der auch nur einen vagen Verdacht vorbringt: In Vorwegnahme einer erwarteten Kränkung wird eine unmäßige narzisstische Wut nach außen gerich tet und jede Auseinandersetzung im Keim erstickt. 2. Eine viel zu schnelle Anerkennung einer Schuld enthält Kränkung und Trotz und soll auf den Beschuldigenden zurückfallen; der soll Schuldgefühle bekommen, wie er es wagen konnte, überhaupt einen Vorwurf zu machen. Eine Form der Verschiebung haben wir schon kennengelernt, nämlich Kafkas Frage: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein, wir sind doch alle Menschen, einer wie der andere« (Kafka 1935, S. 180). Hier liegt eine Schuldabwehr durch Verschiebung von einer persönlichen Schuld (auch der Verantwortung für die eigene Existenz) auf die Ebene der Schuldhaftigkeit des Menschen überhaupt vor. Und der Geistliche antwortet auch prompt: »Das ist richtig …, aber so pfle gen die Schuldigen zu reden« (S. 180). Das entspricht der bereits disku tierten Befürchtung, eine Tatschuld durch Berufung auf die Existenzschuld leugnen zu können. Es gibt auch die umgekehrte Richtung der Verschiebung, mit der versucht werden kann, die schuldhafte Existenz, das So-Sein, zu dem man beigetragen hat durch Tat oder Versäumnis, zu verleugnen, indem man nach seinen Taten fragt. Die Frage: »Was habe ich getan, dass du mich nicht mehr liebst?« enthält die Hoffnung, dass wenigstens etwas hätte bewirkt werden können oder vielleicht auch noch in Zukunft
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getan werden könnte. Die Antwort: »Du hast gar nichts getan …« wirft den anderen auf sich selbst zurück, da sie bedeutet: »Du bist nicht so, dass ich dich lieben kann …« Viele Patienten kommen in die psy chotherapeutische Sprechstunde und fragen: »Was soll ich tun …?« oder sagen: »Ich weiß nicht, was ich tun soll« oder: »Ich weiß nicht, wie ich die Therapie machen soll.« Und hinter diesen Fragen steckt die Angst vor dem Sein, auf das es doch in der analytischen Therapie ankommt. Winnicott (1971, S. 95 u. 147) hat besonders zwischen Sein und Tun (being and doing) unterschieden; Grotstein (1990, S. 16) formuliert es in bezug auf die Mutter-Kind-Beziehung so: Es geht um die »Dyade des passiven, ›seienden‹ Säuglings (des normalen Pro totyps des ›wahren Selbst‹), der auf intuitives (und stilles) ›Halten‹ angewiesen ist, und des ›aktiven‹, ›tätigen‹ Säuglings (des normalen Prototyps des ›falschen Selbst‹, der nach der Brust suchen und sie ver wenden muß.« Winnicotts Technik beruht eher auf dem Sein als auf dem Tun, wie es Rudnytsky (1988, S. 427) berichtet. Winnicott hatte eine ganze Analysestunde geschwiegen, sagte dann aber doch: »Ich habe nichts zu sagen, aber wenn ich nichts sage, könnten Sie denken, ich bin nicht anwesend …« Für viele Patienten, die die Frage nach dem bloßen So-Sein schlecht aushalten, scheint deshalb eine verhal tenstherapeutische Methode angemessener zu sein, denn dort geht es eher um ein Handeln. Meister Eckhart hat von dieser Existenzangst und ihrer Abwehr durch Aktivismus sicher gewusst: »Die Menschen sollten nicht so sehr bedenken, was sie tun sollen, sondern was sie sind« (zit. in Fromm, »Haben oder Sein«, 1976). Schuld(gefühl) habe ich dem Tun, Scham dem Sein zugeordnet (Hirsch 2008), man fühlt sich (oder ist auch) schuldig einer Tat und schämt sich, so zu sein, wie man idealerweise (gemäß seinem Ideal-Ich) nicht sein möchte. Spaltungsmechanismen finden sich allenthalben, zum Beispiel Ver leugnung, Ungeschehen-Machen, auch projektive Rationalisierungen in dem Stil: »Das ist doch nicht schlimm, schließlich machen es alle!« Je zahlreicher und anonymer die anderen sind, desto mehr verdünnt sich die Schuld, bis es sie scheinbar nicht mehr gibt. Eine häufige Verleugnungsstrategie der Täter kann man mit Buchholz, Lamott und Mörtl (2008, S. 159) »dritte Option« nennen. Die Autoren meinen damit eine »Art der Konversation, die gelingende Kunst, sich zwischen dem scheinbar einzig möglichen ‚Ja oder Nein‘ hindurchzubewegen und dritte Gesprächsoptionen elegant hervorzubringen.« Sie meinen damit »den Raum zwischen Ja- und Nein-Sagen, zwischen Befolgen oder Ablehnen einer Regel […], zwischen Mitteilung oder Nichts-Sagen.« Die massivste Abwehr ist die Abspaltung ganzer Persönlichkeitsteile zu dem Zweck, dass der eine Teil vom Gewissen oder Über-Ich
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des anderen gar nicht mehr erreicht wird, sodass Verbrechen ohne jedes Schuldbewusstsein möglich werden. Lifton (1986, S. 491 ff.) nennt das für den Fall der KZ-Ärzte »Dopplung«, die es ermöglicht, das Gewissen, das gar nicht einmal ausgeschaltet zu sein braucht, auf das »Auschwitz-Ich« des KZ-Schergen zu übertragen: »Die Ansprüche des Gewissens wurden auf das Auschwitz-Selbst transferiert, das seine eigenen Kriterien für gutes Verhalten hatte … und durch deren Erfül lung das ursprüngliche Selbst von der Verantwortung für das Handeln in Auschwitz befreite« (S. 496). Diese extreme Spaltung ermöglicht die Ausschaltung eines ursprünglichen Gewissens, sodass das autoritäre Gewissen über die Tat befindet.
Schuldzuweisung Der allerhäufigste Mechanismus der Abwehr von Schuldbewusstsein ist die Schuldzuweisung (vgl. Fenichel 1945, Bd. I, S. 235). Schon die allererste Schuld wurde abzuschieben versucht; Adam: »Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß« (1. Mose 3, 12), und Eva: »Die Schlange betrog mich also, daß ich aß« (13). Adam schiebt es auf Eva, diese auf die Schlange: Schuld ist immer der andere, letztlich Gott, da er die Schlange (so) geschaffen hat … (vgl. Thielecke 1976, S. 93: »Versuche, Schuld in Schicksal zu verwan deln«). Das entspricht dem Ausweichen vor der Schuld durch den Hin weis auf das Mensch-Sein. Alle Kinder weisen Schuld von sich: »Ich war es aber nicht!« Es war das Geschwister. Die Deutschen nach dem Nazi-Regime: »Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen!« (so der Titel eines Stückes von Hermann van Harten, Freie Theateranstalt Berlin, 1994). Man könnte diesen gängigsten Schuldabwehrmechanismus projektive Verschiebung nennen, man schiebt die Schuld jeman dem zu und projiziert einen Teil von sich auf ihn, zum Beispiel Angst, Aggression, Scham und Schuldbewusstsein. Schuldzuweisung in Gruppen nennt man Sündenbock-Mechanis mus; das in der Gruppe enthaltene Böse, also auch die Schuld daran wird einem ausgewählten Gruppenmitglied zugeschoben – sicher wird derjenige ausgesucht, der es noch am ehesten mit sich machen lässt, sich nicht wehrt, schon vorher voller Schuldgefühle ist und sich selbst schon längst nicht besonders wertschätzt. In der modernen Arbeits welt nennt man das »Mobbing«, und auch die Familientherapie kennt das Phänomen des »Index-Patienten«, der die Misere der Familie verantworten soll. Natürlich wird das Böse und mit ihm verbunden die
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Schuld, die in der Gruppe enthalten sind, nicht dadurch beseitigt, dass man den Sündenbock in die Wüste jagt, sie wachsen wieder nach und fordern bald ein neues Opfer. Eine ebenso perfide wie häufige Art der Schuldzuweisung ist das »blaming the victim«, mit dem dem Opfer einer kriminellen Tat auch noch die Schuld aufgebürdet wird. Typischerweise wird dem Vergewal tigungsopfer die Schuld gegeben, es sei verführerisch gewesen, habe es ja auch gewollt … Auch und gerade vor Kindern macht eine derartige Selbstrechtfertigung nicht halt, und das Tragische ist, dass ein primär bedürftiges Kind auf der Suche nach Zuwendung, nach kindgerechter Liebe um so größere Chancen hat, durch die »Liebe« eines Erwach senen sexuell missbraucht zu werden (vgl. Ferenczi 1933; Hirsch 1987). Die Internalisierungsmechanismen, mit denen die Schuld des Erwachsenen zum Schuldgefühl des Opfers werden, durch die auch ein Wiederholungszwang entsteht, der gerade die Situationen wiederherstellt, die der Vergewaltigung entsprechen, werde ich im zweiten Abschnitt des Buches ausführlich darstellen. Schuldzuweisung kann auch als Abwehr nicht nur eigener Schuld, dern auch als Abwehr von zu gro ßem Schmerz oder zu gro son ßer Angst verwendet werden. Eine Mutter, die ihrem an Scharlach erkrankten, fiebernden Kind vorwirft, es wisse doch, es habe nicht mit bloßen Füßen auf dem Steinfußboden laufen sollen, bekämpft nicht nur ein eigenes Schuldgefühl, vielleicht nicht genug für ihr Kind gesorgt zu haben, sondern verschafft sich eine Möglichkeit, sich nicht so hilflos einer vielleicht schweren Krankheit ihres Kindes ausgeliefert zu fühlen, da das Kind doch durch Handeln oder Unterlas sen wenigstens etwas hätte bewirken können. In »Früchte des Zorns« von Steinbeck (1939, S. 519) gibt es eine Szene, in der nach einer Früh- und Totgeburt, die durch extreme Entbehrungen und Anstren gungen verursacht wurde, die Menschen hilflos fragen: »Haben wir denn was Falsches gemacht? … Hätten wir denn was andres tun kön nen?« Ein elfjähriger Junge trat morgens auf dem Weg zur Schule vor die Haustür, wandte sich jäh wieder zurück und schrie: »Eine Katze, eine Katze auf der Fahrbahn, viel leicht ist sie tot!« Er konnte es weder wahrhaben, dass es sich um seinen geliebten Kater, den »Tiger«, handeln, noch dass er wirklich tot sein könnte. Als er dann nicht umhin konnte, die Realität anzuerkennen, fragte er mehrfach verzweifelt: »Warum gerade er, der Tiger, warum? Warum nicht eine andere Katze?« (Das ist die Frage Hiobs: Warum trifft es den Gerechten, warum nicht die Ungerechten?) Dann versucht der Junge, die Bedrohung durch diese unbeantwortbare Frage mit einer Schuldzuweisung zu mildern, sie aushaltbar zu machen: Die Autofahrer seien schuld, wie rücksichtslos die fahren würden, überhaupt die städtische Umwelt, so wie wir leben, die Menschen also sind schuld. – Schließlich aber findet er selbst
60 Schuld den Weg zum Existenziellen, als er sich tröstend sagt: »Wenn der Kater nicht so abenteuerlustig gewesen wäre [das betrifft sein Wesen, sein So-Sein], dann wäre er so nicht umgekommen, dann wäre er aber auch nicht er selbst gewesen, nicht ›der Tiger‹ gewesen, und dann hätte ich ihn auch nicht so geliebt.«
In diesem Beispiel werden also Angst und Schmerz über den Verlust (ebenso die »Schuld« des Tieres, unvorsichtig gewesen zu sein, aber auch die mögliche eigene Schuld, nicht genügend für das Tier gesorgt zu haben) zuerst durch die Frage nach dem Warum, nach der Ursache abgewehrt, denn eine Beantwortung gäbe mehr Sicherheit, auch für zukünftige ähnliche Bedrohungen. Da diese Frage unbeantwortet blei ben muss, wird die Schuld dem anonymen Anderen vorgeworfen. Dann aber findet das Kind Trost, indem es sich offenbar einen Schuldkonflikt des Tieres vorstellt, das zu wählen gehabt hat zwischen einer Schuld, zu riskant zu leben, und andererseits aber einer Verpflichtung, so zu leben, wie es seinem Wesen entspricht. Der Trost liegt in dem Akzep tieren dieses So-Seins, das auch eine erste Beantwortung der Frage nach dem Warum darstellt. »Vieles spricht dafür, daß diese Suche nach dem Schuldigen tief in der mensch lichen Psyche verankert ist. Menschen … wollen verstehen, erklären, wissen … Im Denken des kleinen Kindes verbindet sich die Frage nach dem ›Warum?‹ regelmäßig mit der Frage ›Wer?‹. Ursache und Urheber sind hier eins … Es ist die Frage nach der Schuld, fremder oder eigener, die im Denken des Menschen nie völlig verstummt« (Rohde-Dachser 1989, S. 250 f.; Hervorhebung original).
Die Frage nach dem Warum beantworten zu wollen, indem jemandem die Schuld gegeben wird, scheint die große existenzielle Unsicherheit, die Erfahrung von Ohnmacht des Menschen etwas mildern zu sollen.
»Schuld der Mütter« Das Wort von der »Schuld der Mütter« (Rohde-Dachser 1989) bedeu tet eine Zuweisung der Schuld an die Mütter (weniger an die Väter), für das persönliche, auch neurotische Unglück und Leid des Kindes, des späteren Erwachsenen, verantwortlich zu sein. In dem Maße, in dem sich die Psychoanalyse von einem Bild der triangulären, ödipa len, vaterzentrierten Fami lie als Haupt ort der Neurosenentstehung abgewandt und dem der frühen Mutter-Kind-Dyade zugewandt hat, ist die Neigung größer geworden, die Mutter in ihrer Fähigkeit oder Unfähigkeit, dem Kleinkind gerecht zu werden, für spätere psychische Störungen verantwortlich zu machen. Rohde-Dachser (1989) deckt
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die Phantasie von der omnipotenten, perfekten Mutter-Figur auf, die hinter einem solchen »mother blaming« steckt, und entlarvt diese als die Phantasie des kleinen Kindes von einer solchen Mutter mit ihren allspendenden, aber auch bedrohlichen Seiten. Sicher ist es nicht för derlich (auch für den Patienten nicht), sich allzusehr mit dem Kind, das einmal mehr oder weniger gelitten hat, zu identifizieren. Traumata in Form von Defiziten oder Übergriffen kommen in allen Lebensaltern vor und sind nicht nur der Mutter anzulasten. Eine Haltung der Überidentifizierung zum Beispiel mit dem Mädchen als Opfer einer männlichen Macht, des Inzest-Vaters nämlich, kann die Therapie auch nicht über einen gewissen Punkt hinausführen, da sie die komplexen familiendynamischen Verhältnisse und vor allem die komplizierten Internalisierungsvorgänge, mit denen das Inzest-System in das Opfer hineingelangt, nicht berücksichtigt (vgl. Hirsch 1987; wir werden ausführlich auf diese Psychodynamik, nämlich vornehmlich eine des Schuldgefühls, zurückkommen). Andererseits ist ein gewisses Maß an Identifizierung mit dem Kind (im Patienten) als einem der Verantwor tung und Schuld der Erwachsenen (und als anfänglich passivem Emp fänger je besonderer familiendynamischer Einflüsse) primär ausgelie ferten Opfer unumgänglich. Es ist eben eine Synthese erforderlich, die sowohl berücksichtigt, was mit dem Kind gemacht wurde, als auch, was es selbst daraus gemacht hat. Es kann in der Therapie gar nicht darum gehen, jemandem die Schuld zu geben, vielmehr ist das Ziel, der Wirklichkeit der Beziehun gen der Vergangenheit und der Gegenwart möglichst nahe zu kommen und sich einer Wahrheit zu nähern und sie zu benennen, weil erst dann Angst, Wut und Trauer möglich sind, deren Entstehung für eine Verän derung, auch von Beziehungen, Voraussetzung ist. Ein Steckenbleiben in dem Schuldvorwurf an die Mütter, Väter oder die schlechte Kindheit würde auch das Ziel einer jeden tiefergehenden Therapie verfehlen, dem Patienten zu eigener Verantwortlichkeit seinem Leben gegenüber zu verhelfen. Geht es doch um die Ablösung von dem verinnerlichten Familiensystem. Sowohl Schuldgefühle des Opfers als auch ein andau ernder Schuldvorwurf sind starke Bindungskräfte. Das Aufrechterhal ten einer Opfer-Identität bedeutet eine permanente Schuldzuweisung an den Täter oder das Tätersystem. Diese Zuordnung der Schuld ist aus der Sicht des traumatisierten Kindes zwar mehr als berechtigt, dient später aber über kurz oder lang der Abwehr der Loslösung und der Gestaltung eines selbstverantworteten Lebens. Und somit entsteht aus der permanenten Schuldzuweisung eine Schuld durch die Vernachläs sigung der eigenen Identitätsentwicklung. Ähnlich in Partnerbeziehun gen: Der ständige Blick auf die Fehler und die »Schuld« des anderen
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wehrt die Verantwortung für den eigenen Anteil und besonders auch die eigene Veränderung ab. (Eine eiserne Regel für Paargespräche ist, ausschließlich von sich selbst zu sprechen und ein »Du hast …« strikt zu vermeiden [Moeller 1988].) Die sprichwörtliche Berliner Göre, die ausruft: »Geschieht meiner Mutter ganz recht, daß mir die Fin ger abfrieren, was kauft sie mir keine Handschuhe!«, mag zwar ein Gefühl masochistischen Triumphs über eine als mächtig erlebte, aber versagende Mutter-Figur empfinden, drückt sich aber vor der Verant wortung, sich selbst um das Wohlergehen ihres Körpers zu kümmern. Wie man im masochistischen Triumph der Selbstbeschädigung ein Machtgefühl durch das Erleben der Schlechtigkeit (und Schuld!) des Anderen bekommt, kann man sich auch ein klägliches Gefühl der Macht verschaffen, indem man sich selbst die Schuld gibt. Wenn man selbst schuldig ist, dann hat man es wenigstens selbst bewirkt, hätte vielleicht auch die Macht gehabt, es zu lassen oder anders zu machen. Jemandem (auch sich selbst) die Schuld geben, kann also auch der Ausdruck eines Sicherungsbedürfnisses sein, eines Bedürfnisses nach Bewirken-Kön nen und nicht ohnmächtig Ausgeliefert-sein-Müssen. Schuld sein für etwas oder Sich-an-jemandem-schuldig-Machen bedeutet auch, (viel leicht nur illusionäre) Macht zu haben, überhaupt noch mit ihm in Ver bindung zu stehen, die Beziehung zu ihm noch zu beherrschen oder noch retten zu können.
Psychoanalyse und Schuld Reale Schuld ist nicht der Gegenstand der Psychoanalyse, wie Freud es für das Schuldbewusstsein, das er auch Reue nannte, also das Bewusstsein realer Schuld, deutlich ausgesprochen hat. Schuldig wird man am Anderen oder sich selbst gegenüber, während die Psycho analyse, jedenfalls ursprünglich, sich auf die Beschäftigung mit dem Intrapsychischen beschränken wollte. Für die Psychoanalyse in ihren Anfängen war die Konfrontation mit Schuld selbstverständlich, war doch die bahnbrechende Entdeckung Freuds die eines Verbrechens an Kindern, die »allzu oft« von nahen Verwandten sexuell missbraucht worden waren (Freud 1896c; vgl. Hirsch 1987). Freud (1985, S. 283 f.) formuliert in einem Brief an Fliess: »Dann die Überraschung, daß in sämtlichen Fällen der Vater [Hervorhebung original] als pervers beschuldigt werden mußte« – allerdings in dem Brief, in dem er den Widerruf der Verführungsthe-
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orie mitteilte. Ging es vorher um die schuldhafte Tat an einem primär unschuldigen Kind, das damit intrapsychisch fertig werden musste, trat nun die Bedeutung des Traumas zurück zugunsten des Primats der triebbedingten Konflikte und Phantasien des Kindes (des Patienten), für die niemand anders als dieses selbst verantwortlich sein konnte. So entwickelte sich eine Haltung, die mit den Worten Anna Freuds (1976, S. 236) charakterisiert werden kann: »Das Ich kann nur ändern, was es selbst getan hat, nicht, was man ihm angetan hat.« Oliner (1995, S. 299) findet
»unter Psychoanalytikern die Tendenz, Ereignisse der äußeren Realität ausschließ lich als Problem der Soziologen zu betrachten. Dies hat sie gleichwohl nie an dem Versuch gehindert, in der Behandlung Erinnerungen an bestimmte Ereignisse aufzudecken, die für die pathologischen Abwehrreaktionen im Ich verantwortlich sind. Die Psychoanalyse mißt der Reaktion des Ichs auf das, was ihm zustößt, zen trale Bedeutung bei.«
Es scheint in gewisser Weise nach dem Aufgeben der Verführungstheorie eine Abspaltung der traumatischen Realität gegeben zu haben, die zwar als Einwirkung auf das kindliche Ich weiterhin Bedeutung hatte, aber nur insofern, als die Reaktion des Ich der einzige Gegenstand des analytischen Interesses blieb. Hier passt der Ausspruch Vischers, den Freud (1905a, S. 25) zitiert (vgl. Falzeder u. Haynal 1989): »Das Moralische versteht sich ja von selbst.« Das Verhalten der Eltern also, der Täter und schließlich des Analytikers muss nicht auf seine Realanteile untersucht, nicht nach irgendeiner Schuld befragt werden. Auch nicht nach einer möglichen Schuld – vielleicht einer Identifikation mit dem damaligen Aggressor entsprechend – des Opfers, die meines Erachtens in der Analyse gewissenhaft von den Schuldgefühlen geson dert werden muss (vgl. Teil III, S. 292 f.). So bleibt in der Psychoanalyse – soweit man ihre verschiedenen Richtungen pauschal zusammenfassen kann – lange ein Paradox unaufgelöst: Schuld ist zwar nicht ihr Gegenstand, aber dadurch, dass das Individuum (das Kind, der Patient) an seinen ureigenen, letztlich triebbedingten Konflikten mit einer durchschnittlichen und deshalb »unschuldigen« sozialen Umwelt leidet, wird es selbst zum »schuldi gen Menschen«, wie es Kohut (1977) ausdrückt. Grotstein (1990, S. 20) würdigt Winnicotts Berücksichtigung der Umwelt, wodurch er aus der Begrenztheit der Freudschen und Kleinianischen Psychoana lyse herausgetreten sei, die ein »Postulat des inhärenten Schuldgefühls, das der Mensch von Geburt an aufgrund jener unvermeidlichen und unerbittlichen Phantasien erwirbt«, enthält und vom Patienten verlangt anzuerkennen, dass »in der Psychoanalyse einzig die eigenen Reaktio nen auf Vernachlässigung oder Übergriffe von signifikanter Bedeutung
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sind, gleichgültig, wie schlecht er als Säugling oder Kind tatsächlich behandelt worden ist« (S. 21; Hervorhebung original). Die Modifikationen der Psychoanalyse, die Weiss und Mitarbeiter (Weiss u. Sampson 1986; vgl. Eagle 1984, S. 126) vornahmen, schei nen Kohuts Konzept des »schuldigen« und des »tragischen Menschen« (der an seiner Selbstverwirklichung scheitert) in gewisser Weise parallel zu gehen. Sie stellen nämlich der Forderung der traditionellen Psycho analyse – der Patient soll tun, was er nicht will, nämlich auf die infantile Triebbefriedigung im Symptom verzichten – eine andere Therapieauffassung gegenüber: Der Patient soll (zu tun) lernen, was er will – und bisher nicht konnte, weil er von unbewusster Angst und Schuldgefühl daran gehindert war. Der Analytiker ist Weiss zufolge zwar auch Übertragungsfigur, aber in dem Sinne, dass er – mit eben den Gefühlen, die aus traumatischen Beziehungen damals stammen – getestet wird, ob er eine bessere Beziehungsumwelt, die die Realisierung der Ich-Ziele des Patienten ermöglicht, zur Verfügung stellen kann. Die Anerkennung traumatischer Realität und ihre Benennung sowie die Anerkennung der Schuld oder Verantwortlichkeit durch den Ana lytiker geht meines Erachtens einher mit einer Haltung der Berück sichtigung auch der Realität des Analytikers in der therapeutischen Beziehung. »Die Betonung des Gewichts der traumatischen Momente in der Entstehung psy chischer Störungen sowie der sogenannten realen Beziehung zwischen Analytiker und Analysand während der klinischen Arbeit – eine Fokussierung, die seinerzeit gänzlich unüblich war und die sich damals noch gegen den Vorwurf des Unanalytischen verteidigen zu müssen glaubte – ist unterdessen in der internationalen psy choanalytischen Diskussion zu etwas eher Vertrautem geworden« (Grubrich-Simitis 1995, S. 358).
Wäh rend die frühe Psy cho ana lyse noch glaubte, eine »objek tive Methode zu haben, die zur Klärung menschlicher Beziehungen einge setzt werden könnte« (Falzeder u. Haynal 1989, S. 117), während Ferenczi anfangs meinte, jeder Analytiker würde objektiv dieselben Feststellungen und Maßnahmen in einem bestimmten Fall und in einer bestimmten Situation treffen, führte er spätestens 1932 den subjektiven Faktor des Analytikers ein, die positiven Gefühle (»Ohne Sympathie keine Heilung«, Ferenczi 1985) und die aversiven bzw. ihre heuchle rische Beschönigung (Ferenczi 1933). Genau wie in den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kin dern werden unvermeidlich Werte und Haltungen des Analytikers dem Analysanden vermittelt (Lichtenberg et al. 1992), und zwar jenseits von Übertragung und Gegenübertragung (verstanden als Reaktion auf die Übertragung), für die ebenso wie die Erwachsenen der Analytiker
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die Verantwortung und – im Falle von kleineren oder größeren Trau mata – die Schuld zu übernehmen hat. Eine Bestätigung der Wahr nehmung des Analysanden, dass der Analytiker eine bestimmte Hal tung entwickelt hat, wird den Fortschritt der Analyse nicht behindern, sondern fördern, da eine Identifikation mit jemandem möglich wird, der innen und außen unterscheiden kann und Verantwortung für das eigene Tun und Sein übernimmt. Eine solche Haltung wird nicht nur die Bestätigung der Realität extremer Traumata und familiärer Gewalt einschließen, sondern auch kleinere, oft chronische Beziehungstraumata in der Entwicklung des Patienten (und dadurch eine »Schuld« der Täter anerkennen). So werden die Beziehungsanteile des Analytikers auch benannt werden können (»Schuld« des Analytikers), aber auch schließlich die realen destruktiven Taten eines (ehemaligen) Opfers, für die es selbst verantwortlich ist (»Schuld« des Opfers). Wie die Not wendigkeit der Realitätsbenennung für die Opfer von Extremtraumatisierung nur in einer Anfangsphase notwendig ist (Grubrich-Simitis 1995, S. 375) und dann die Bearbeitung der Reaktionen und die Verbindung des Traumas mit der Phantasiewelt des Patienten möglich wird, kann auch nach einer Anfangsphase des schützenden Annehmens, der Vermeidung von Konfrontation und von Übertragungsdeu tungen eine zunehmende Belastung durch Hineinnehmen der eige nen Verantwortung des Patienten erfolgen (vgl. Amati 1990; Hirsch 1993b). Die Psychoanalyse ist durchaus für Teilbereiche der Schuld zustän dig: 1. Die Entdeckung Freuds (1916d), dass reale Verbrechen aus einem Schuldgefühl heraus motiviert sein können, um dieses zu mildern, ist Allgemeingut geworden (vgl. Teil II, S. 86 f.). 2. Die verschiedenen Formen der Abwehr eines an sich angebrachten Schuldbewusstseins, also die spezifische Abwehr der Anerkennung realer Schuld als psychische Aktivität (des Ich) gehört durchaus zum Gebiet der Psychoanalyse und wurde bereits behandelt (Teil I, S. 56 f.). 3. Die Wirkung von schuldhaftem Handeln auf die Psyche eines ande ren im Sinne eines Traumas wird uns noch ausführlich beschäfti gen; wir werden sehen, dass und wie aus der Schuld des Täters die Schuldgefühle des Opfers werden. 4. Schließlich wirkt in einem ähnlichen Sinne die Schuld der Eltern generation, insbesondere wenn sie verleugnet und verdrängt ist (oft im Sinne eines Familiengeheimnisses), auf das Subjekt, auch wenn es gar nicht selbst Opfer der schuldhaften Tat gewesen ist. Auch das
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Geheimnis der Schuld der Eltern macht Schuldgefühle bei den Kin dern. 5. Jede Psychotherapie wird an Bereiche kommen, in denen es erfor derlich ist, abzuwägen und auch zu bewerten, ob die empfundene Schuld des Patienten eher im Bereich des irrationalen Schuldgefühls liegt, ob es sich um ein tatsächliches Schuldig-geworden-Sein han delt, ob es Kombinationen sind, bei denen ein Schuldgefühl an eine reale Schuld anknüpft und diese vergrößert, oder ob sich eine schuld hafte Handlung auf ein gleichsinniges Schuldgefühl aufgepfropft hat. Dass eine solche Differenzierungsarbeit der Schuldempfindungen für den therapeutischen Prozess große Bedeutung hat, liegt auf der Hand, denn es geht dabei darum, den Ursprung der Schuld, der Verantwortung oder aber des Schuldgefühls zu lokalisieren – außen im Sinne eines erlittenen Traumas, innen im Sinne einer selbst zu verantwortenden Handlung, aus welchen inneren Motiven und Iden tifikationen sie sich auch herleiten mag, oder aufgrund verborgener Phantasien und Konflikte.
II. Schuldgefühl
Überblick Eine Definition des Schuldgefühls haben wir bereits bei der Differen zierung der verschiedenen Qualitäten des Schulderlebens bereits unter nommen. Guntrip (1970, S. 61) beschreibt Schuldgefühl – für den Laien – folgendermaßen: »Wir könnten sagen, daß es eine Mischung aus Furcht, Ängstlichkeit, der Besorgnis, die Anerkennung der Mit menschen zu verlieren, Liebe und gutem Willen ist, also ein komple xes Gefühl, das uns immer dann überkommt, wenn uns das Gewissen schlägt.« Das Schuldgefühl zentriert sich um die Sorge, etwas getan zu haben, was die Liebe eines geliebten und benötigten Menschen beeinträchtigt haben könnte. Aber das kann man auch vom Schuldbewusstsein sagen, wenn dieses auch vielleicht nicht ganz so unbestimmt, sondern viel konkreter und auf bestimmte definierte Handlungen bezogen ist. Das haupt säch li che Unterscheidungsmoment liegt viel mehr in der für den Betrachter nicht nachvollziehbaren Diskrepanz zwischen Anlass bzw. Begründung und Ausmaß des Affekts:
»Wenn eine Mesalliance zwischen Vorstellungsinhalt und Affekt, also zwischen Größe des Vorwurfs und Anlaß des Vorwurfs vorliegt, so würde der Laie sagen, der Affekt sei zu groß für den Anlaß, also übertrieben, die aus dem Vorwurfe gezogene Folgerung, ein Verbrecher zu sein, sei also falsch. Der Arzt sagt im Gegenteile: Nein, der Affekt ist berechtigt, das Schuldbewußtsein ist nicht weiter zu kritisieren, aber es gehört zu einem andern Inhalte, der nicht bekannt (unbewußt) ist und der erst gesucht werden muß. Der bekannte Vorstellungsinhalt ist nur durch falsche Verknüpfung an diese Stelle geraten. Wir sind aber nicht gewohnt, starke Affekte ohne Vorstellungsinhalt in uns zu verspüren, und nehmen daher bei fehlendem Inhalt einen irgendwie passenden anderen als Surrogat auf, etwa wie unsere Poli zei, wenn sie den richtigen Mörder nicht erwischen kann, einen unrechten an seiner Stelle verhaftet« (Freud 1909d, S. 399 f.).
Wegen der Diskrepanz nennen wir ein solches Schuldgefühl auch neu rotisch, irrational, irreal oder pathologisch, im Falle der Melancholie auch psychotisch. Schuldgefühle sind ubiquitär, denn jede psychische Störung ent
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hält Aggression und Destruktion, die sich nicht entfalten können, da sie sich gegen ein Liebesobjekt richten und die resultierende Ambi valenz nicht gelöst werden konnte. Außerdem ist in jeder »schwere ren Neurose« (Freud 1923b, S. 280) ein Über-Ich-Faktor enthalten, »ein Schuldgefühl, welches im Kranksein seine Befriedigung findet und auf die Strafe des Leidens nicht verzichten will« (S. 279), das heißt, auch gegen eine Veränderung durch die Analyse eingestellt ist. Besonders bei der Zwangsneurose und bei der Melancholie entstehen starke Schuldgefühle; bei ersterer wehrt sich das Ich mit vielfältigen Reaktionsbildungen gegen das harte Über-Ich, bei der Melancholie hat sich das Ich ganz ergeben und die Unerbittlichkeit des Über-Ich über nommen. Freud (1923b) hat das unbewusste Schuldgefühl als den stärksten Widerstand gegen eine Heilung bezeichnet, man könne nicht viel mehr tun, als das Ich zu stärken, und anhand der bewussten Schuldgefühls anteile sich langsam vorantasten, um unbewusste Anteile nach und nach zu bewältigen. Das unbewusste Schuldgefühl gibt sich am ehe sten durch Selbstdestruktion und als Widerstand gegen die Behand lung, wie erwähnt, zu erkennen. Ich möchte besonders darauf hinwei sen, dass nicht ganz klar ist, ob es sich hier um das Ergebnis einer Verdrängung handelt oder ob das Schuldgefühl aus anderen Gründen nicht ins Bewusstsein kommen kann. In seiner berühmten Fußnote (s. S. 94) spricht Freud von der Möglichkeit, dass es auch ein »entlehn tes Schuldgefühl« (S. 279) sein kann, und gibt damit einen Hinweis auf die Übernahme des Schuldgefühls von einem Liebesobjekt, sodass das Schuldgefühl introjektartig von außen übernommen worden sein kann. Es gäbe also eine Introjektion eines Schuldgefühls (vgl. auch Fenichel 1945, Bd. I, S. 237) oder einer Schuld einer anderen bedeu tenden Person. Diese wichtige Unterscheidung wird uns später noch beschäftigen. Wir haben im ersten Abschnitt des Buches ein Bewusstsein realer Schuld (Schuldbewusstsein) abgegrenzt von einem Schuldgefühl, das von einer inneren Instanz erzeugt wird, dem Über-Ich, und seinem bewussten Anteil, dem Gewissen. Die Gründe, derer sich das Über-Ich bedient und die ein Schuldgefühl rechtfertigen sollen, sind einerseits mehr oder weniger realitätsgerecht, andererseits auch irrational, unrea listisch. Die Kontroverse zwischen den daseinsanalytisch orientierten Autoren und der Psychoanalyse ging um das Problem, inwieweit es ein autochthones Gewissen gibt bzw. ob es sich immer um ein erworbenes, aus den äußeren Geboten und Werten verinnerlichtes handeln muss. Ungeachtet dieser Kontroverse muss man davon ausgehen, dass die Qualität des Über-Ich ganz verschieden sein kann – streng, lebensfeind
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lich bis hin zu angemessen, lebenserleichternd – und auch die Bereiche, die zur Begründung des Über-Ich verwendet werden, sich auf einem Spektrum von großer Irrealität bis hin zu realistischen Gründen bewe gen können, die ein freundliches Gewissen warnend Einspruch erhe ben lassen. Schließlich ist das Gewissen, wie wir gesehen haben, eine Instanz, die im allgemeinen wirkliche Schuld verhindern oder wenig stens nachträglich realitätsgerecht bewerten soll. Ein wünschenswertes Über-Ich wird mehr prospektiv vor Fehlverhalten warnen und auf den Erhalt sozialer Beziehungen achten, während ein feindliches mit Vorwurf und Entwertung arbeitet. Es wird also einen gleitenden Übergang geben zwischen völlig irrationalem und mehr realistischem Schuldge fühl bis hin zum Schuldbewusstsein, darüber hinaus vielfältige Über lagerungen, Überschneidungen und Entsprechungen von Schuldgefühl und Schuldbewusstsein. Darüber wird im dritten Abschnitt des Buches mehr zu erfahren sein. In dem Konflikt zwischen der Triebnatur des Menschen und den Erfordernissen sozialen Zusammenlebens misst Freud (1930a) dem Schuldgefühl eine zentrale Bedeutung bei; es liegt ihm daran, »das Schuldgefühl als das wichtigste Problem der Kulturentwicklung hin zustellen und darzutun, daß der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird« (S. 493 f.). Die Regulation sozialen Verhaltens (»Kultur«) liegt in den Händen des Über-Ich (des Gewissens); dieses bedient sich des Mit tels des Schuldgefühls. Die Notwendigkeit, Triebverzicht zu leisten, erzeugt erst die Existenz des Schuldgefühls, das Gewissen stellt sich als »Folge des Triebverzichts« dar. Freud scheint hier Nietzsche zu folgen, der schlechtes Gewissen und Schuldgefühl für die Wirkung der unterdrückten, eingesperrten Triebe des Menschen hielt, denen der Mensch untreu wurde und Gesellschaft, Frieden und Behaglichkeit vorzog (vgl. Dorn 1976, S. 119 f.; Condrau 1962, S. 144, der Tramer zitiert). Die äußere Autorität, die Verzicht fordert, wird das Ziel massiver Aggression, welche aber – aus Angst vor Liebesverlust, letzt lich vor Verlassenwerden – nicht offen ausgedrückt werden kann. Die unterlassene Aggression wird vom Über-Ich übernommen, denn das Kind hilft sich, »indem es diese unangreifbare Autorität durch Identi fikation in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird« (Freud 1930a, S. 489), das Über-Ich ist nun im Besitz all der Aggression, die man als Kind gegen die Autorität ausgeübt hätte. Freud hat also die Entwicklung des Über-Ich aus einem Stadium sozialer Angst angenommen, in dem das Auftreten von Schuldgefühl – eher eine Schuldangst – von der Anwesenheit der liebenden, aber gegebenenfalls auch (mit Liebesentzug) strafenden Person abhängt.
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Die volle Einsetzung des Über-Ich geschieht Freud zufolge durch das Aufgeben der ödipalen Strebungen und die Identifikation mit den elterlichen Vorstellungen – Schuldgefühl ist für Freud immer ein ödipales. Es ist anzunehmen, dass die Über-Ich-Bildung in drei Stufen verläuft: Zuerst muss die strafende Instanz (»Vater«) real anwesend sein, um durch Strafandrohung ein Fehlverhalten zu verhindern. Dann nimmt das Kind den Vater in sich auf (Introjektion), er ist in der Vorstellung präsent (Introjekt), und ihm zuliebe benimmt sich das Kind. Erst in einer dritten Stufe macht sich das Kind die Wertvorstellungen der Erwachsenen zu eigen, fügt sie durch Identifikation (Identifikation mit dem Introjekt) seinem Ich hinzu; das Ergebnis ist ein »frühes Über-Ich«, also ein präödipales, das zuerst von Melanie Klein (1927; 1933) als Auswirkung der Macht des von ihr ange nommenen Todestriebes beschrieben wurde und das von weit mehr feindlicher, verfolgender Qualität ist als das ödipale, ist inzwischen allgemein anerkannt, viel weniger aber seine angebliche Wurzel, der Todestrieb; auch ein »frühes« Über-Ich beruht durchaus auf der Ein wirkung der sozialen Umgebung oder besser, ist das Ergebnis der Milderung eines Konflikts zwischen eigenen Bestrebungen und den es sen der Liebesobjekte durch Internalisierung dieser InteresInter sen. Vielleicht ist es zu wenig deutlich geworden, dass Schuldgefühl nicht nur pathologisch, verfolgend, einschränkend sein muss, sondern wichtige, eigentlich lebensnotwendige Regulationsfunktionen hat. Denn die Aggression gegen das geliebte Objekt muss im Zaum gehal ten werden. Das meinte Freud (1930a, S. 493), als er das Schuld gefühl als »das wichtigste Problem der Kulturentwicklung« bezeich nete. Innerhalb der Entwicklungspsychologie des ersten Lebensjahres, wie sie Melanie Klein (1933) entworfen hat, bedeutet die Fähigkeit, die Ambivalenz von aggressiven und liebenden Gefühlen auszuhal ten (»depressive Position«) einen entscheidenden Entwicklungsschritt. Der ältere Säugling ist Melanie Klein zufolge nun in der Lage, die Mutter und andere Beziehungspersonen als ganze Objekte wahrzuneh men, das heißt, auch zu erkennen, dass sich der Hass nicht auf ein nur böses Teilobjekt richtet, sondern auf das auch geliebte ungespaltene Objekt, sodass »depressive Angst, Schuldgefühl und der Drang nach Wiedergutmachung entstehen« (Klein 1948, S. 178). Das Wesentliche des Schuldgefühls ist die Anerkennung, »daß der dem geliebten Objekt zugefügte Schaden durch die aggressiven Regungen des Individuums verursacht worden ist« (S. 179). Die Annahme, den Schaden verursacht zu haben, das heißt das Schuldgefühl, denn es handelt sich um eine Phantasie, lassen den Drang entstehen, »diesen Schaden ungeschehen
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zu machen oder zu reparieren« (S. 179). Die Bedeutung des Schuldge fühls liegt darin, dass es eine
»wesentliche Bedingung für die Fähigkeit des Ichs, sich selber und die entgegen gesetzten Aspekte des Objekts zu integrieren« (S. 179), darstellt. Die Bedingung für die Entstehung von depressiver Angst, Schuldgefühl und Reparationstendenz ist, daß die »Liebesgefühle für das Objekt die destruktiven Regungen überwiegen« (S. 179).
Während es Melanie Klein um die Triebbefriedigung des Kindes geht, um die existenziellen Konflikte aufgrund der Widersprüchlich keit der aggressiven und libidinösen Triebkomponenten sowie die Not wendigkeit, daraus entstehende Angst zu bewältigen, geht Winnicott (1958; 1963) einen Schritt weiter in Richtung auf die wechselseitige Gestaltung der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Denn die Fähigkeit zur Wiedergutmachung, zur »Besorgnis« (1958, S. 27; 1963), ist der Anteil des Kindes, aber es bedarf auch der »Fähigkeit der Mutter, das Triebmoment zu überleben und also dazusein, um die wahre Wiedergutmachungsgeste entgegenzunehmen und zu verstehen« (1958, S. 29). Denn es hängt auch von der Reaktion der Mutter ab, ob das Kind Schuldge fühle entwickeln kann: »Wenn das Kleinkind herausbekommt, daß die Mutter weiterlebt und die Wiedergutmachungsgeste annimmt, wird es allmählich fähig, die Verantwortung für die ganze Phantasie von dem vollen Triebimpuls auf sich zu nehmen, die vorher skru pellos war. Bedenkenlosigkeit weicht der Reue, Sorglosigkeit der Sorge« (S. 29).
Schuldgefühl wird von Winnicott auch mit der Fähigkeit, die »Ver antwortung für Es-Impulse zu übernehmen« (S. 31) definiert. Das erin nert an die Fähigkeit, Verantwortung für eine reale schuldhafte Hand lung zu übernehmen; hier scheint jedoch ein Schuldgefühl nur möglich zu sein, wenn das Individuum in der Lage ist, die Es-Impulse, also vorwiegend sadistisch-aggressive Triebimpulse, als eigene anzuerken nen und nicht etwa gezwungen zu sein, sie projektiv nach außen zu verlagern. Denn Persönlichkeiten mit antisozialen Tendenzen fallen durch einen »Mangel an der Fähigkeit zu Schuldgefühlen« (S. 31) auf, und konsequenterweise wird das Fehlen von Schuldgefühlen auf einen Mangel der frühen Umgebung zurückgeführt: »Jene, denen es an mora lischem Empfinden fehlt, haben in den Frühstadien ihrer Entwicklung das emotionale und physische Milieu entbehrt, das ihnen die Entwick lung einer Fähigkeit zu Schuldgefühlen ermöglicht hätte« (S. 31). Ein Delinquent müsste Winnicott zufolge also konsequenterweise eine Umgebung wie für einen Säugling bekommen, damit die Entwick lung zur Fähigkeit, Schuldgefühle zu haben, nachgeholt wird. In einer späteren Arbeit definiert Winnicott (1963) »Besorgnis« genauer und grenzt sie von Schuldgefühlen ab: Die Mutter muss fortgesetzt lebendig
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und präsent (»verfügbar«, S. 105) bleiben, die »Fülle der Es-Triebe des Babys« (S. 105) empfangen, damit das Kind Schuldgefühle empfinden kann; bis sich eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung ergibt, kann es die Schuldgefühle »halten«. »Diesen Schuldgefühlen, die gehal ten, aber nicht als solche empfunden werden, geben wir den Namen ›Besorgnis‹« (S. 105). Kann die Mutter die Wiedergutmachungsgeste nicht annehmen, wird das Schuldgefühl unerträglich, primitive Formen entstehen sowie übermäßige Angst. Das Über-Ich ist zunächst ein Introjekt, also etwas von außen in das Ich oder besser Selbst Hineingenommenes. Dort kann es etwas Fremdes, Abgekapseltes bleiben, gleichwohl große Wirkung haben, oder kann durch Identifikation assimiliert werden – hier ist wieder ein Spektrum anzunehmen; je nachdem wie archaisch, feindselig, letzt lich gegen die Interessen des Individuums gerichtet oder sozusagen »auf seiner Seite« es ist, wird es kaum oder leichter zu assimilieren sein, und zwar durch Identifikation, die das Selbst des Kindes mo difiziert, das die äußeren Forderungen sich nun zu eigen gemacht hat. Die Qualitäten und Inhalte der elterlichen Gebote und Werte, die in das Über-Ich des Kindes eingehen, sind von Freud kaum je befragt worden. Daher bedeutete es meines Erachtens eine Revolution in der Psychoanalyse, dass Ferenczi (1933) nicht nur die von Freud 1897 (vgl. Hirsch 1987) aufgegebene Verführungstheorie wiederaufnahm (sexuelle Gewalt als extremes Beispiel der realen Einwirkung des Erwachsenen auf das Kind), sondern die Mechanismen aufzeigte, die in einem Ablauf von Implantation der Gewalt, wie man heute ergänzen muss, ihrer Introjektion und der anschließenden (partiellen) Identifi kation. Das traumatische Introjekt nun erzeugt (im Prinzip genau wie ein durchschnittlich »freundliches« Über-Ich) Schuldgefühl, ein aller dings traumatisches Schuldgefühl destruktiver Qualität und immer in gewisser Weise der realen Schuld eines Anderen entstammend. Auch im Erwachsenen können extreme Traumata wie Folter, KZ-Haft und schwere Verluste, Introjekte und damit übermäßige Schuldgefühle her vorrufen. Als weiterer elterlicher oder familiärer Einfluss auf das Kind ist die Ablehnung seiner Existenz überhaupt bzw. bestimmter Eigenschaften, insbesondere seines Geschlechts zu sehen. Eine solche Nichtakzeptanz erzeugt ein Basisschuldgefühl in bezug auf die eigene bloße Existenz. Eine zweite »Revolution« in der Differenzierung der Schuldgefühls qualitäten wurde meines Erachtens mit der Arbeit »On having the right to a life – an aspect of the super-ego’s development« von Modell
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(1965) eingeleitet. Nicht nur elterliche Maßregeln, nicht nur der sa distische Trieb (nach M. Klein) oder die traumatische Implantation, sondern auch die Behinderung eines an sich selbstverständlichen und wünschenswerten Autonomiestrebens erzeugt Schuldgefühl, ein Trennungsschuldgefühl, eben wegen die ses Bedürf nis ses nach Selbstständigkeit und Getrenntsein vom Objekt, das diese Bestrebun gen bekämpft, dessen Wohlwollen gleichwohl jedoch nötig bleibt. Den skizzierten vier Möglichkeiten der Über-Ich- oder Introjekt entstehung entsprechen vier große Gruppen von Schuldgefühlsqualitäten, die ich folgendermaßen formulieren möchte: Basisschuldgefühl Es ist ein Schuldgefühl wegen des bloßen Seins oder aber des So-Seins. spricht der »Unter ord nung unter nega tive Bot schaf ten der Das ent Eltern«, wie es Weiss und Sampson (1986) nennen, die wie der Fluch einer bösen Fee existenzielle Wirkung haben können. Zugrunde liegt ein basales Nicht-gewollt-Sein vonseiten der Eltern, verbunden mit einem Verantwortlich-Machen für das Leid der Eltern und ihre Beziehungsschicksale, auch Gezeugt-Werden, um ein verlorenes Kind zu ersetzen, aber auch um eine bestimmte versorgende Funktion für die Eltern im Sinne einer Rollenumkehr zu erfüllen. Schuldgefühl aus Vitalität Dieses Schuldgefühl entsteht aus dem Bestreben, stark zu sein, zu wach sen, zu expan die ren, und damit ver bun den aus dem HabenWollen, Wegnehmen-Wollen. Dieser Bereich entspricht am ehesten dem ödipalen Über-Ich, entstammt der ödipalen oder anderer Riva lität, reicht aber auch an existenztielle Bereiche wie das Überlebendenschuldgefühl heran. Die Grundlage dieses Schuldgefühls liegt in der Behinderung der Lebens- und Überlebensbestrebungen des Kin des, zum Beispiel durch chronische Krankheit der Eltern, durch die im Sinne des »Terrorismus des Leidens« (Ferenczi 1933) die Vitalität des Kindes unterdrückt und mit Schuld in Verbindung gebracht wird. Auch ödipales Schuldgefühl und Überlebendenschuldgefühl gehören in diesen Bereich. Trennungsschuldgefühl Ein drittes Gebiet ist das des Schuldgefühls aus dem Autonomiestreben heraus, auch hier sind massive Behinderungen anzutreffen, die haupt sächlich Einschränkungen der Identitätsentfaltung bewirken. Loslö sung wird als Aggression gegen die Eltern, also schuldhaft, erlebt. An dieser Stelle ist mindestens eine Quelle des Schuldgefühls wegen sexu eller Bedürfnisse zu sehen, da Sexualität immer mit der Entfernung von
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den familiären Objekten zu tun hat. Ein ausgedehnter Schuldgefühlsbereich betrifft Arbeitsstörungen und Prüfungsangst, die im Zusammen hang mit Autonomiebehinderung gesehen werden – Erfolg bedeutet Trennung. Traumatisches Schuldgefühl Der vierte abgrenzbare Schuldgefühlsbereich geht auf die traumati schen Einwirkungen von außen auf das Kind (auch später den Erwach senen) zurück, die ein traumatisches Schuldgefühl erzeugen, das auf Implantation von Gewalt beruht, der ihre Introjektion folgt, weiterhin können verschiedene Identifikationsvorgänge die zerstörerische Wir kung des Introjekts zu mildern versuchen. Der Internalisierungsvorgang der Gewalt ist von Ferenczi begründet worden. Weiss und Sampson (1986) sprechen von einer »Unterordnung unter die negative Behand lung der Eltern«, auch hier wird man vernichtender Gewalt begegnen, und auch über das Kindesalter hinaus sind Menschen imstande, ande ren durch extreme Traumatisierung lebenslang schwere Schuldgefühle aufzudrücken. Insbesondere werden so die Mechanismen der Weiter gabe der internalisierten Gewalt auf die nächsten Generationen begreifbar. Natürlich sind Überlagerungen und Überschneidungen der auf geführten Bereiche immer zu erwarten, die an der häufigen Mehr fachdeterminiertheit des Schuldgefühls liegen, zum Beispiel ist ein Überlebendenschuldgefühl oft sowohl von dem Bestreben des Überle ben-Wollens als auch von extremer Gewalterfahrung bestimmt; ebenso lassen sich Bedürfnisse von Vitalität und Autonomie in der Regel kaum voneinander trennen. Und auf ein Basisschuldgefühl wird sich oft genug sowohl eines aufgrund von Behinderungen des Autonomiestrebens als auch eines aufgrund traumatischer Gewalt aufpfropfen. Aber häufig entfernt man sich von der komplexen Wirklichkeit menschlicher Phänomene, indem man um größerer Klarheit willen Abgrenzungen und Klassifikationen vornimmt, die man – hoffentlich – wieder relati vieren kann, wenn man sich ihrer Komplexität – beispielsweise in der therapeutischen Arbeit – wieder nähert. Dorothea L. litt an einem Basisschuldgefühl, das begründet war in der ungewollten Schwangerschaft der Mutter mit ihr, auch in der Jugend und Mittellosigkeit der Eltern. Die Mutter musste den Beruf aufgeben, der Vater an zwei Arbeitsstellen Geld verdienen. Alles wäre nicht nötig gewesen, wenn Frau L. nicht geboren wäre. Sie drückt das so aus: »Es gibt ein Gefühl in mir, wie eine innere Stimme, die sagt: ›Du hast Schuld.‹ Das Gefühl geht bis vor meine Geburt zurück. Ich werde es nicht los. Bevor ich auf die Welt kam, war ich schon schuldig.« Wenn schon ein Kind, wollte der Vater wenigstens einen Jungen, er behandelte sie anfangs wie einen solchen, sie versuchte in der Kleinkindzeit, sich an seine Wünsche anzupassen
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(wildes, »jungenhaftes« Verhalten, kurze Haare etc.). Das Basisschuldgefühl wegen der ungewollten Existenz wird durch das »Falschsein« also noch potenziert. In der Grundschulzeit bereits war das Verhalten des Vaters deutlich sexistisch im Sinne des latenten Inzests, der auch später durch anzügliche Bemerkungen, körperliche Übergriffe und Herabsetzungen agiert wurde. Hier kommt ein traumatisches Schuldgefühl hinzu. Die Mutter wird als depressiv, seltsam leer erlebt (die Introjektion einer solchen Mutter trägt zum Basisschuldgefühl bei, wie wir gesehen haben); in einer Rollenumkehr (»Sonnenschein sein für sie«) wollte Frau L. als Kind immer wieder die Mutter »retten«, musste aber stets scheitern, was wiederum Schuldgefühle machte. Die um ein Jahr jüngere Schwester war immer viel mehr von den Eltern akzeptiert, aber auch angepasster, mit den Eltern konform; die Rivalitätsdynamik mit der Schwester verursachte ein Schuldgefühl aus Vitalität; auch um die Schwester meinte sich Frau L. immer kümmern zu müssen. Ein trotz aller Identifikation mit den familiären Aggressoren frühentwickeltes Protestpotential, mit dem sie heftig – meist vergeblich – um Gerechtigkeit kämpfte, das mit drastischen körperlichen Strafmaßnahmen beantwortet wurde, weist auf ein starkes Trennungs- und Individuationsbedürfnis hin, das aber als schuldhaft definiert und geahndet wurde.
Über-Ich In »Totem und Tabu« sprach Freud (1912–13) vom Gewissen, vom »Tabu-Gewissen«, wie wir gesehen haben; das Tabu (der Wilden) ist ein »Gewissensgebot« (S. 85) und bereits aus der Ambivalenz (dem Urvater gegenüber) entstanden. Der Einspruch des Gewissens wegen der bloßen Aggression gegen jemanden wäre überflüssig, wenn man diesen nicht gleichzeitig auch liebte; das Gewissen mahnt sozusa gen, der Aggression wegen der Liebe nicht freien Lauf zu lassen. Das Tabu also wird von Freud wie eine Instanz beschrieben, die er erst viel später (1923b) Über-Ich nennt. In »Zur Einführung des Narziß mus« bringt Freud (1914c) Gewissen und Ich-Ideal zusammen; ein Ideal wird aufgerichtet, an welchem das Ich gemessen wird, die Bil dung eines »Ich-Ideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist«, ist »von dem … kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen« (Freud 1914c, S. 163). Tabu und Ich-Ideal sind Vorläufer in der Konzep tion des Über-Ich; einmal noch erweiterte Freud (1921c, S. 145) das Ich-Ideal, indem er bemerkt, »daß möglicherweise alle Wech selwirkungen, die wir zwischen äußerem Objekt und Gesamt-Ich in der Neurosenlehre kennengelernt haben, auf diesem neuen Schau platz innerhalb des Ichs zur Wiederholung kommen«, dass es sich also um eine Verinnerlichung äußerer Objekterfahrung handelt. Hier hätte Freud auch traumatische Einwirkungen und ihre Internalisierung erfassen können, wie es dann Ferenczi 1933 getan hat. 1923 schließlich wird in »Das Ich und das Es« der Begriff des Ich-Ideal durch das »Über-Ich« ersetzt. Das Über-Ich entsteht durch Identifi
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kation mit Anteilen der Eltern; neben die das Ich bereichernden Iden tifikationen treten Über-Ich-Identifikationen aufgrund der Notwen digkeit, die ambivalenten Bestrebungen des Ödipus-Komplexes zu bewältigen. »Das Kind errichtet im Über-Ich dieselbe Schranke gegen seine Triebimpulse, wie sie in der Außenwelt in Gestalt der Eltern vorhanden ist« (Sandler 1960, S. 725). Wie Freud (1930a) spä ter schreibt, ist vor der Entstehung des Über-Ich die Angst vor dem Liebesverlust der Eltern der Motor von Schuldgefühl und Gewissen, dann aber tritt »eine große Änderung … ein, wenn die Autorität durch die Aufrichtung eines Über-Ichs verinnerlicht wird. Damit werden die Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben, im Grunde sollte man erst jetzt von Gewissen und Schuldgefühl sprechen« (S. 484). Das Gewissen möchte Freud an die Existenz des Über-Ich geknüpft wissen (S. 496), aber ein Schuldgefühl bestehe bereits vorher. Das Über-Ich wacht also über die Begrenzung der Triebkräfte, aber es besteht nicht nur aus den Niederschlägen der Identifikationen mit den Eltern, sondern erhält seine Kraft auch aus den aggressiven Trieb kräften des Es. Es wird dadurch sadistisch, dass es die Aggressionen in sich aufnimmt, auf deren Agieren das Ich verzichtet hat. Freud muss hier in einer für meine Begriffe abenteuerlichen Konstruktion erklären, wie die Strenge der äußeren Autorität und Aggressionstrieb zusam menwirken: Die ursprünglich gegen die Autorität gerichtete Aggres sion – weil diese nämlich Triebverzicht forderte – kann nicht befriedigt werden. Das Kind hilft sich, »indem es diese unangreifbare Autorität durch Identifizierung in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird und in den Besitz all der Aggression gerät, die man gern als Kind gegen sie ausgeübt hätte« (Freud 1930a, S. 489). Freud lässt zwar die nicht weiter differenzierte und beschriebene Strenge der äußeren Autorität gelten, das Ausmaß der Aggression des Kindes aber stammt aus ihm selbst, seinen ursprünglichen triebhaften Aggressionen: »Die Beziehung zwischen Über-Ich und Ich ist die durch den Wunsch entstellte Wiederkehr realer Beziehungen zwischen dem noch ungeteilten Ich und einem äußeren Objekt. Der wesentliche Unterschied aber ist, daß die ursprüngliche
Strenge des Über-Ichs nicht – oder nicht zu sehr – die ist, die man von ihm erfahren hat oder die man ihm zumutet, sondern die eigene Aggression gegen ihn vertritt« (Freud 1930a, S. 489; Hervorhebung von M. H.).
Dadurch kann es geschehen, dass das Über-Ich viel strenger und sadi stischer ist, als die Erziehung der realen Eltern vermuten lässt – Freud akzeptiert eine Idee Melanie Kleins an dieser Stelle (s. u.). Die »Strenge« der Eltern wird aber gar nicht weiter untersucht, und
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obwohl Freud hier von In-sich-Aufnehmen der Autorität durch Identi fizierung spricht, »die nun das Über-Ich wird«, stammt das Ausmaß der Aggression, das mit der aufgenommenen Autorität verbunden ist, vom Kind. Warum sollte es denn aber nicht vom Erwachsenen stammen? Einleuchtend wäre auch, wenn das Kind sich mit dem Aggressor, dem Erwachsenen, auf den es wütend ist, identifizieren müsste, weil es des sen aggressive, vernichtende Reaktion auf seine Aggression als Rache fürchten muss, vielleicht aus längst gemachter einschlägiger traumati scher Erfahrung. Es sieht so aus, dass Ferenczi sozusagen genug hatte von der Nei gung der Psychoanalyse, den Triebkräften des Kindes immer die Funk tion des Primum movens zu geben, und dass er zwei Jahre nach Veröf fentlichung von »Das Unbehagen in der Kultur« in seinem Wiesbadener Vortrag »Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft«, dem er zur Veröffentlichung den Titel »Sprachverwirrung zwischen den Erwach senen und dem Kind« (Ferenczi 1933) gab, die Verhältnisse zurecht rücken wollte, indem er als Urheber von Sexualität und Aggression in der Eltern-Kind-Beziehung ausdrücklich den Erwachsenen benannte und deutlich zeigte, dass das In-sich-Aufnehmen der »äußeren Autori tät« untrennbar mit der Introjektion von dessen Aggression verbunden ist. Vielleicht hat Ferenczi hier primärprozesshaft die Sprachverwir rung zwischen Freud bzw. der Psychoanalyse und ihm selbst ausge drückt, indem er diesen Titel wählte. Im übernächsten Kapitel wird darüber ausführlich zu reden sein. Die Bemerkung Melanie Kleins, das Über-Ich könne strenger sein als die Strenge der Eltern vermuten ließe, die Freud aufgriff, wirft ein Licht auf ihre Konzeption des Über-Ich: Es ist praktisch nur noch ein Ausdruck des Todestriebes; hier wird verallgemeinert, was Freud (1923b, S. 283) für die Melancholie annahm: »Wenden wir uns zunächst zur Melancholie, so finden wir, daß das überstarke Über-Ich … gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit wütet, als ob es sich des ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt hätte … Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes, und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben, wenn das Ich sich nicht vorher durch den Umschlag in Manie seines Tyrannen erwehrt.«
Melanie Klein nun ist in diesem Punkt »päpstlicher als der Papst« in dem Sinne, dass sie die Triebe, besonders den Todestrieb, stets an die erste Stelle setzt und die Einflüsse der sozialen Umgebung vernachläs sigt. Da sie aber nicht nur frühe Schuldgefühle annahm, sondern auch eine Über-Ich-Bildung aufgrund eines »frühen Ödipus-Komplexes«, löste sie heftige Kontroversen aus. Mit Recht wurde ihr vorgehalten,
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dass Schuldgefühl noch keine innere Struktur darstellt (Modell 1965), wie es vom Über-Ich als Resultat eines aufgegebenen, »untergegange nen« Ödipus-Komplexes definitionsgemäß zu erwarten ist. Folgt man Melanie Klein, kommt das Böse primär aus dem Kind, Über-Ich und Schuldgefühl sind deshalb Abkömmlinge des Todestriebes. In sei ner letzten Arbeit kommt Ferenczi (1933) dagegen immer mehr zu dem Schluss, dass das Böse von außen kommt – nicht umsonst spricht Ferenczi (1938, S. 294) von »Superego-Intropression (seitens der Erwachsenen)« – und die Psyche des Kindes damit fertig werden muss (indem es das aufgezwungene Böse seinerseits in sich aufnimmt). Freud kann sich nicht entscheiden, inwieweit die »Strenge des Über-Ich« der Aggression der Eltern bzw. der Erwachsenen entspricht oder wie weit sie aus der triebhaften Konstitution entspringt. In »Das ökonomische Problem des Masochismus« (Freud 1924c, S. 380) ver tritt er wieder eher einen Umweltstandpunkt: »Das Über-Ich behielt nun wesentliche Charaktere der introjizierten Personen bei, ihre Macht, Strenge, Neigung zur Beaufsichtigung und Bestrafung.« Und in seinem letzten fragmentarischen Werk »Abriß der Psycho analyse« (Freud 1940a, S. 137) schildert er deutlich den Einfluss der sozialen Umgebung auf die Qualität des Über-Ich: »Es [das Über-Ich] vertritt für alle späteren Lebenszeiten den Einfluß der Kin derzeit des Individuums, Kindespflege, Erziehung und Abhängigkeit von den Eltern … Und damit kommen nicht nur die persönlichen Eigenschaften dieser Eltern zur Geltung, sondern auch alles, was bestimmend auf sie gewirkt hat, die Neigungen und Anforderungen des sozialen Zustandes, in dem sie leben, die Anla gen und Traditionen der Rasse, aus der sie stammen.«
Man kann aber wenigstens sagen, dass das Über-Ich bei Freud eine Instanz darstellt, deren Aufgabe es ist, Triebkräfte zu regulieren, auch eine Instanz, deren (aggressive, sadistische) Kraft zum Teil von den Trieben selbst herrührt, aber auch der Strenge der äußeren Objekte ent stammt. Sicher werden die Einflüsse der realen (elterlichen) Umge bung des Kindes, die in die Über-Ich-Bildung eingehen, von den Äng sten, Bedürfnissen und Phantasien des Kindes beeinflusst, verzerrt und modifiziert. Das bedeutet meines Erachtens aber nicht, dass Freud die reale Umgebung zu sehr berücksichtigt hat, wie Sandler und Sandler (1987, S. 146) annehmen; eher im Gegenteil. Freud beachtet die realen Einflüsse nicht weiter, versteht sie offenbar als durchschnittlich gegeben, während Melanie Klein sie ganz vernachlässigt und die inneren Phantasievorgänge bei der Bildung des Über-Ich in den Vor dergrund rückt. Woran Freud nicht denkt, sind solche Inhalte des Über-Ich, die nichts mit Triebwünschen, son dern mit Ich-Bestrebungen zu tun
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haben. Denn es kann auch sein, kritisieren Weiss und Sampson (1986) Freud, dass andere als Triebäußerungen des Kindes von den Eltern kanalisiert oder unterbunden werden, Bestrebungen wie Autonomie, Selbstbewusstsein, Für-sich-selbst-Sorgen, also Ich-Bestrebungen, die die Eltern nicht ertragen können und bekämpfen müssen, wodurch sie Über-Ich-Inhalte setzen. Auch die Liebe der Eltern erhalten zu wollen, ist schließlich ein Ich-Wunsch, wie schon Freud (1940a) meinte (vgl. Weiss 1986a, S. 48). Diese Überlegungen führen zur Auffassung von Trennungsschuldgefühl und Schuldgefühl aus Vitalität, die uns später beschäftigen werden.
»Frühes« Über-Ich »Niemand wird mehr abstreiten, daß die Über-Ich-Bildung lange vor dem Ende des Ödipus-Komplexes beginnt und keineswegs unbedingt mit diesem zusammenhängt« (Sandler u. Sandler 1987, S. 145). Die Grundlagen für die Erkenntnis der Ambivalenz des frühen ora len Triebes hat Abraham (1924) gelegt, indem er auf das »saugende« orale Stadium das oral-sadistische, kannibalistische folgen ließ. Nicht der Ödipus-Komplex ist so der einzige und wohl nicht einmal der wich tigste Ort der Ambivalenz und des aus ihr stammenden Schuldgefühls, es ist die grundlegende Erfahrung des notwendigen Hasses gerade dem Objekt gegenüber, das lebensnotwendig gebraucht und geliebt wird. »Auf der Stufe der beißenden Mundtätigkeit wird das Objekt einverleibt und erlei det dabei das Schicksal der Vernichtung … Damit beginnt die Ambivalenz das Verhältnis des Ich zum Objekt zu beherrschen. Die sekundäre, oral-sadistische Stufe bedeutet also in der Libidoentwicklung des Kindes den Anfang des Ambiva lenzkonfliktes, während wir die primäre (Saug-)Stufe als vorambivalent bezeich nen müssen« (Abraham 1924, S. 141; Hervorhebung original).
Auch hat Abraham den Grundstein gelegt für den Gedanken, daß sich die Zuspitzung heftigster Ambivalenz im Laufe der Entwicklung durch die Erreichung größerer Reife (»Nach-Ambivalenz«) legt. Wie Abraham hat auch Melanie Klein den Ursprung der Ambivalenz aus den widerstreitenden Trieben gesehen. Sie beruft sich auf den von Abraham (1924) entdeckten frühen kannibalistischen Trieb und die von diesem bewirkte Angst, einhergehend mit einem ersten Schuld gefühl (Klein 1948, S. 166). Man kann nicht übersehen, dass Melanie Klein die Keime ihrer folgerichtig ausgebauten frühkindlichen Phantasiewelt aus Abrahams, auch aus Freuds Werk entnommen hat, dass sie in der Konsequenz aber, sie als psychische Realitäten zu
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nehmen und als feste Konstanten zu behandeln, viel weiter gegangen ist als die Urheber. Das Über-Ich-Konzept Melanie Kleins beruht auf einer Zwei teilung von einem »frühen«, archaischen und einem reifen, späteren Über-Ich. Letzteres entspricht dem Konzept Freuds, ersteres baut auf der archaischen Ambivalenz auf, die Abraham zuerst beschrieben hat, und ist bei Melanie Klein gänzlich vom Todestrieb bestimmt.
»Beim Erwachsenen finden wir zwar ein Über-Ich vor, das sehr viel strenger ist, als es die Eltern in Wirklichkeit waren und das zum Teil gar nicht identisch mit ihnen ist. [Das ist der Gedanke, den Freud (1930a) in »Das Unbehagen in der Kultur« aufgenommen hat.] Es kommt aber der Wirklichkeit doch mehr oder weniger nahe. Beim kleinen Kind stoßen wir auf ein außerordentlich unglaubliches und phantasti sches Über-Ich … Wir sehen als regelmäßige Bestandteile seines Seelenlebens die Angst, verschlungen, geköpft oder in Stücke geschnitten zu werden; seine Furcht, von bedrohlichen Gestalten umgeben zu sein oder verfolgt zu werden« (Klein 1933, S. 90).
Hinter diesen »imaginären Figuren« stehen Melanie Klein zufolge »als reale Objekte die Eltern des Kindes«, aber:
»1. Das Über-Ich des Kindes stimmt nicht mit dem realen Bild der Eltern überein, sondern wurde durch Phantasiegebilde oder Imagines hervorgerufen, die es in sich aufgenommen hatte. »2. Seine Furcht vor realen Objekten – seine phobische Angst – basiert auf seiner Furcht sowohl vor seinem unrealistischen Über-Ich als auch vor Objekten, die als solche real sind, die das Kind aber unter dem Einfluß seines Über-Ich in einem phantastischen Licht sieht« (Klein 1933, S. 90).
Winnicott (1958, S. 22) nennt diese Über-Ich-Gebilde »subhuman und so primitiv, wie man es sich nur vorstellen kann«. Grunberger (1974, S. 512) findet für diese primitive Instanz den Begriff »Ober-Ich«: »Die Ober-Ich-Bildung erwächst also aus den eigenen archaischen aggressiv-destruktiven Triebimpulsen und Affektbewegungen« (Auchter 1996, S. 65). Im Grunde stehen sich zwei Konzepte gegenüber: Ist es die im Kinde entstandene triebhafte Aggression, die auf die (geliebten) Objekte projiziert werden muss, oder ist die Aggression zuerst außen, wird von den Objekten gegen das Kind gerichtet und von ihm introjiziert (Ferenczi 1933), später dann gegebenenfalls wieder nach außen projiziert. Das ganze Ausmaß des Todestriebes kann aber nicht externalisiert werden, ein Teil wird durch Spaltung an das Über-Ich geheftet: »Meiner Meinung nach legt diese wohl früheste Abwehrmaßnahme des Ich [die Spaltung] den Grundstein zur Entwicklung des Über-Ich; die Tatsache, daß das Über-Ich Abkömm ling sehr inten si ver Destruktionstriebe ist, wäre somit für seine übermäßige Heftigkeit auf dieser frühen Entwicklungsstufe verantwortlich« (Klein 1933, S. 92).
Über-Ich 81
Das Über-Ich wird hier ganz wie ein äußeres Objekt behandelt; sicher sind es »Imagines«, für das Kind jedoch von ganz realistischer Qua lität. Aber hat nicht auch Freud von einer Instanz gesprochen, die an die Stelle der äußeren Objekte tritt und sie wahrlich ebenbürtig ver tritt? Und entsteht nicht auch die Feindseligkeit des frühen Über-Ich, die durch die aggressiven Triebe hervorgerufen wird, Freud zufolge aus einer Beimischung der Triebe des Kindes, ist also nicht nur aus den Einwirkungen der Eltern abzuleiten? Vielleicht hat Melanie Klein so heftige Ablehnung Freuds (und Anna Freuds) erfahren (vgl. Grosskurth 1986), weil sie Freud zu konkretistisch, den Todes trieb zu wörtlich genommen und seine das Kind und seine Beziehun gen bestimmende Kraft als den Motor der psychischen Phänomene und der Pathologie aufgefasst hat. Man könnte sagen, sie musste zur Dissidentin werden, weil sie Freuds eigene Zweifel an seinem Todestriebkonzept, das er selbst spekulativ nannte, nicht mitvollzog. Das »übermäßige« Anerkennen des Todestriebkonzepts konnte aber schlecht herhalten, sie zu kritisieren, und so blieb der Zeitpunkt als Grund für die Zurückweisung: Das Über-Ich als Abkömmling des Ödipus-Komplexes könne nur nach dessen Bewältigung (»Unter gang«) etwa im fünften Lebensjahr entstehen, und Melanie Kleins Annahme, beide entstünden sehr früh, konnte nicht akzeptiert werden.
»Reifes« Über-Ich Der weitere Verlauf der Über-Ich-Entwicklung erstreckt sich über die Kleinkindzeit und mündet in das reife und »milde« Über-Ich bzw. nun Gewissen, das auch Freuds Vorstellungen entspricht. Die Verände rung wird durch das Nachlassen des Sadismus und das Stärker-Werden der genitalen Kräfte, also durch die spontane Triebentwicklung des Kindes, nicht durch Umwelteinflüsse bewirkt. »Das Über-Ich – das bisher eine bedrohende, tyrannische Macht war … – übt jetzt einen milderen und überzeugenderen Einfluß auf das Ich aus und stellt nun Forde rungen, die erfüllbar sind. Mit anderen Worten, das Über-Ich wird nun im wahrsten Sinne des Wortes in das Gewissen umgewandelt« (Klein 1933, S. 93).
Die Vorstellung zweier so unterschiedlicher Über-Ich-Qualitäten klingt in den späten Konzeptionen der Existenz mehrerer Über-Ich-Anteile wieder an, gespaltener Über-Ich-Teile (Loewald 1979; Wurmser 1987; 1990), die jedoch heute nicht derart triebbestimmt, sondern
82 Schuldgefühl
als introjektartige Niederschläge verschiedener, oft widersprüchlicher Objekterfahrungen bzw. -forderungen aufgefasst werden (vgl. Hirsch 1995a; s. a. das übernächste Kapitel: Introjektion). Ein Über-Ich-Anteil könnte zum Beispiel Höchstleistungen fordern, ein anderer dagegen Erfolg verhindern, wie es bei allen Arbeitsstörungen der Fall ist. Ein freundliches Über-Ich könnte die von einem feindselig-archaischen Über-Ich-Anteil hervorgerufenen schwe ren Schuldgefühle mildern (Modell 1971, S. 344). Modell (1965, S. 327) personifiziert die verschiedenen Identifikationsqualitäten: Frühe Identifikationen mit der »Mutter« können durch spätere Bezie hungen (zum »Vater«) gemildert werden und zu einem mehr funktio nalen und strukturierten Über-Ich führen. Ich denke, man sollte eine solche Sicht heute nur noch gelten lassen, wenn man »Mutter« und »Vater« als Metaphern für verschiedene Beziehungsqualitäten, die ver schiedenen Entwicklungsphasen zugerechnet werden, versteht, nicht aber als Ausdruck der Beziehungen zur realen Mutter bzw. zum Vater. Die Aufteilung in ein frühes archaisches und ein spätes reifes Über-Ich wurde auch noch später verwendet, zum Beispiel von Modell (1965, S. 328), der von primärem und sekundärem Über-Ich spricht; Sandler und Sandler (1987) ordnen das frühe, primitive Über-Ich dem von ihnen vorgeschlagenen »Vergangenheitsunbewußten« zu (S. 151), das spätere Über-Ich, ein »Erbe« des früheren, eine »zweite Zensur«, dem »Gegenwartsunbewußten« (S. 153). Heute kann man immer noch anerkennen, dass die frühen Impulse des Säuglings (»Sadismus«) zwar existieren, aber nie ohne emotionale, oft verborgene oder unbewusste Reaktionen der Eltern bzw. umgeben den Familiengruppe denkbar sind. »Es gibt keine paranoid-schizoide Position ohne reale Elternpersonen« (Beland 1996)6. Und auch die Einstellungen und resultierenden Verhaltensweisen der Eltern werden immer das Erleben und Verhalten schon in der allerfrühesten Kind heit beeinflussen (vgl. Lichtenberg et al. 1992). Allerdings kann man sich gut vorstellen, dass die Qualität der Über-Ich-Introjekte verschie den archaisch oder feindselig ist, dass sie auch (aber keineswegs nur) von der Qualität und Quantität der aus dem Kind stammenden Triebe beeinflusst werden und dass ihre Assimilation durch Identifikation um so eher möglich ist, je weniger destruktive Anteile sie enthalten und je mehr realitätsgerecht ihre Inhalte sind (siehe auch das folgende Kapi tel). 6 Diskussionsbemerkung auf der Tagung der Mitteleuropäischen Psychoanalytischen Ver einigungen, Weimar, 1996.
Über-Ich 83
Es gibt noch eine andere historische Linie der Auffassungen der Über-Ich-Bildung, in denen der Motor, die primäre Initiative nicht im Trieb des Kindes, sondern in einem Einwirken seiner Umgebung gese hen wird. Rank beschreibt einen Vorläufer des Über-Ich, eine »IchHemmung«, die der Wiederherstellung der Einheit mit der Mutter dient.
»Dieses von der Mutter ausgelöste Über-Ich ist keine ›Identifikationsleistung‹ des Kindes, sondern es ist im Gegenteil ›Objektanerkennung‹: Die Mutter, die sich versagt, benimmt sich eben wie die übrige (sich zunächst) versagende Außenwelt. Zugleich dient diese Objekt-Anerkennung und die in ihrem Gefolge einsetzende Ich-Hemmung als eine Form der Wiederherstellung der Einheit mit der Mutter – allerdings innerhalb des eigenen Ich, denn dieses Ich (und nicht die Mutter) wird in diesem Verschiebungsprozeß zum Objekt der Hemmung … Ranks Ich-Psycholo gie zeigt also auf dem genetischen Weg, daß das Schuldgefühl (als Angst vor dem eigenen Ich) nicht aus der Ödipussituation stammt, sondern seinen Ursprung in der mütterlichen Versagung hat« (Zottl 1982, S. 85 f.).
Ein anderer Vertreter einer umweltbestimmten Über-Ich- bzw. Introjektbildung ist Ferenczi, der besonders gegen Ende seines Lebens die Wirkungen, das heißt die Internalisierungsvorgänge realer Traumata und ihre Folgen erforscht hat. Darüber werden wir im übernächsten Abschnitt ausführlich berichten. Winnicott (1958) schließlich weist auf die notwendige Voraussetzung einer ausreichend guten frühen Umgebung des Kindes für die Fähigkeit hin, überhaupt Schuldgefühl empfinden und damit ein reifes Über-Ich bilden zu können. Zusammenfassend möchte ich den Phasenablauf der Über-Ich-Bildung so formulieren: Arglos folgt das Kleinkind einem Impuls (der kleine Junge aus der Wiener Großbürgerschicht am Anfang des 20. Jahrhunderts möchte zum Beispiel aus dem Marmeladentopf naschen) und ist mit dem verbietenden Vater konfrontiert. Die Gewissensin stanz ist noch ganz außen (der kleine Junge wird wieder naschen, wenn der Vater abwesend ist). In einer zweiten Stufe introjiziert das Kind das Verbot des Vaters, es ist in seiner Psyche wie ein Fremdkörper (Über-Ich-Introjekt), dem das Kind gehorcht, um die Liebe des Vaters nicht zu verlieren, wenn er auch selbst das Verbot nicht akzeptieren kann. In einer dritten Stufe identifiziert sich das Kind mit dem Vater und seinem Verbot, macht es sich zu eigen, es hat ein »reifes« Über-Ich gebildet (vgl. auch Sandler 1960). Der destruktive, lebensfeindliche Charakter eines »archaischen« Über-Ich, das schwere Schuldgefühle verursacht, musste von Melanie Klein und ihren Nachfolgern (auch Freud) mit der Todestrieb-Aggression des Kindes begründet werden, weil eine Vorstellung von traumatisierenden Schädigungen des sich entwickelnden Kindes vonseiten der Erwachsenen nicht möglich war. Gravierende, pathologische Schuldgefühle unserer Patienten führen wir heute nicht auf eine Trieb-
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pathologie zurück, sondern nehmen eher massive destruktive Einflüsse (Traumatisierung) in lebensnotwendigen Beziehungen auf das Kind an. Wie unterscheidet sich nun ein Schuldgefühl, das die »Grundlage der Kultur« (Freud 1930a) dadurch ist, dass es in notwendiger Weise das soziale Zusammenleben reguliert und konstruktiv das Verhalten des Individuums bestimmt, von einem destruktiven Über-Ich, das lebensbehindernde Schuldgefühle verursacht, verbunden mit Symptomen wie Depression bis hin zur Suizidalität? Ich denke, das wünschenswert regulierende Über-Ich hat mehr einen warnenden, voraussehenden Charakter, etwa wie ein freundlicher Begleiter, der zu bedenken gibt, dass das eine oder andere Verhalten eher schädlich sein wird, man es also vermeiden sollte, während es in anderen Bereichen ermuntert und bestätigt. »Schuldempfindungen haben hier ähnlich wie die sogenannte ›Signalangst‹ eine Signalfunktion, wenn durch das Übertreten von Normen die Bindung an bedeutsame andere gefährdet ist« (Auchter 1996, S. 85). Das feindliche Über-Ich dagegen arbeitet mit Vorwürfen und entwertet pauschal das Ich (»Selbstwerterniedrigung«).
Abwehr von Schuldgefühl Schuldgefühl als unangenehmer, auch zerstörerisch-lähmender Affekt beeinträchtigt Selbstgefühl und Ich-Funktionen, und so ist es unter Umständen notwendig, ihn abzuwehren, wenn er überhandzunehmen droht. Die Methoden der Abwehr sind ähnlich denen, die ein zu gro ßes Schuldbewusstsein (welches reale Schuld betrifft) begrenzen (vgl. Teil I, S. 56 f.).
Regression Schuldgefühl empfinden zu können bedarf der Erreichung der depres siven Position; sind die Schuldgefühle zu stark, kann ihr Ursprung (das Über-Ich) durch Regression auf die paranoid-schizoide Stufe entspre chend der Kleinianischen Sichtweise aufgehoben werden. Dadurch wird man aber zum Verfolgten, zum Opfer feindlicher Aggression, deren Urheber nach außen projiziert ist, während man selbst in einer Art Suspendierung des Über-Ich »unschuldig« davonkommt. Auf die Möglichkeit der regressiven Umwandlung von zu starken Schuldge fühlen in Verfolgungsangst (Verfolgung durch das nun zu böse erlebte
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Objekt) hat schon Melanie Klein (1948, S. 180) hingewiesen, wenn auch Angst und Schuldgefühl meist vermischt auftreten. Ähnlich kommt es bei Opfern schwerster Traumata wie KZ-Haft und Folter vor, wie Krystal (1968, S. 17) berichtet, dass das schwere Schuldge fühl der Überlebenden, das trotz aller Verdrängungs- und Rationalisie rungsversuche schwere Depression, »inner misery« und Schmerz ver ursacht, umschlagen kann (wenn es unerträglich wird) in ein Gefühl, verfolgt, angegriffen und gehasst zu werden. Dabei kann durchaus ein Selbstbehauptungsmoment erhalten bleiben, da man sich gegen die äußere Verfolgung, die man als Unrecht empfindet, besser wehren kann und so eine Möglichkeit hat, eine Ich-Überwältigung zu verhin dern, da ein äußerer Feind leichter als beherrschbar erlebt wird als ein übermächtiger innerer, ein feindliches Über-Ich.
Identifikation Ein sehr häufiges Mittel, Schuldgefühle zu mindern, ist die Identifi kation mit dem Vorwurf des Über-Ich, das man durch verschieden ste Methoden, Bestrafung zu erlangen, besänftigen möchte. Schon die Projektion der »Schuld« enthält die Identifikation mit den Vorstellun gen des Über-Ich (Sandler u. Sandler 1987, S. 160), nur dass man meint, noch einmal davongekommen zu sein, indem man Schuld und Bestrafung auf den anderen lenkt. Nun aber ist es das Subjekt selbst, das Strafe auf sich nehmen möchte, um die Last des Schuldgefühls zu vermindern. Krystal (1968, S. 17) beschreibt für schwere Traumati sierung durch KZ-Haft eine Abwehr, die in einer absoluten identifikatorischen Unterwerfung unter die Verfolgung besteht, als »request to be killed or bitten to death«, da innere Verfolgung und das von dieser ersetzte Schuldgefühl anders nicht zu ertragen sind. Wir werden spä ter (Teil II, S. 106 und S. 107 f.) auf die Bedeutung der Identifikation zurückkommen.
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»Verbrechen aus Schuldgefühl« Es war Freuds (1916d, S. 390) Idee, dass Verbrechen, also reales Schuldigwerden, von (unbewusstem) Schuldgefühl hervorgerufen wer den könne. »So paradox es klingen mag, ich muß behaupten, daß das Schuldbewußtsein früher da war als das Vergehen, daß es nicht aus diesem hervorging, sondern umgekehrt, das Vergehen aus dem Schuldbewußtsein. Diese Personen durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein bezeichnen.«
(Wie bereits diskutiert, verwendet Freud meist »Schuldbewußtsein« in dem Sinne, wie in diesem Buch stets »Schuldgefühl« verwendet wird.) Das Verbrechen und seine Bestrafung mildern das Schuldgefühl, das aus ganz anderen Quellen stammt (bei Freud als Quelle stets der Ödipus-Komplex, aber auch bei Alexander und Staub [1929] und sogar noch bei Winnicott [1958]). Wie sehr (irrationale) Affekte das Individuum beeinträchtigen können, sodass ihre Bekämpfung durch eine reale Straftat vorgezogen wird, sieht man an der Möglichkeit des Verbrechens aus Scham; Hilgers (1995) merkt an, dass es unter Umständen leichter ist, ein Täter zu sein, als weiter ein Opfer eigener Schamgefühle. Ähnlich kann auch eine körperliche Erkrankung zur Schuldentlastung dienen, sogar noch besser, denn der Kranke fühlt sich nicht einmal als Täter, sondern als Opfer, durch die Krankheit genug bestraft. Besonders Simmel (1932) hat durch direktes Freisprechen von Schuld(gefühl) Symptomverbesserungen erzielt. Ein Verbrechen zu begehen bedeutet in einer solchen Konstellation auch eine Externalisierung des Über-Ich, wenn auch der unbewusste Grund des Strafbedürfnisses verschoben, das heißt, das eigentliche »Verbrechen« ist ein anderes als das bewusst unternommene. Die Bestrafung muss auch oft geradezu provoziert werden, da das Ver gehen wenig Aufmerksamkeit erhält (Fenichel 1945, Bd. I, S. 237; Sandler u. Sandler 1987, S. 160); ist das Vergehen zu geringfü gig, muss ein zweites, größeres geschehen, damit endlich die ersehnte und entlastende Bestrafung eintritt wie in dem schönen Beispiel von Alexander und Staub (1929):
Die Autoren berichten über einen Delinquenten, der wegen kleinerer Diebstähle zu Gefängnis verurteilt worden war. Er hatte mit einem gefälschten Diplom erfolg reich, anerkannt und beliebt jahrelang als Chirurg gearbeitet. Er fiel auf, als er medizinische Bücher in einer Buchhandlung gestohlen und sie sofort einer anderen Buchhandlung zum Kauf angeboten hatte, wobei er nichts tat, um seine Identi tät zu verbergen. Da das Vergehen für eine Bestrafung nicht ausreichte, wieder holte er es in einer anderen Stadt; als man ihn auch da nicht recht ernst nahm, gestand er mehrere weitere kleine Diebstähle, sodass er, auch wegen des gefälsch
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ten Diploms, ins Gefängnis gebracht wurde, wo er sich »wohl und erleichtert« fühlte. – Erstmalig straffällig war er als Jugendlicher geworden, nachdem ihn seine Mutter in schwangerem Zustand in seiner Kadettenanstalt besucht hatte, was ihm ungeheuer peinlich war, denn er fühlte sich »schuldig für die Schwangerschaft seiner Mutter, da er sich ja in seiner unbewußten Phantasie für deren Urheber« (Alexander u. Staub 1929, S. 328) hielt. Er floh aus der Anstalt, indem er den Grund dafür selbst herstellte: den Diebstahl einer Menge von Süßigkeiten (die ihm der strenge Vater immer vorenthalten hatte). Die weitere Untersuchung erhellte die problematische Beziehung des Delinquenten zum Medizinberuf: Ein Hausarzt hatte wegen seiner angeblich schwachen Konstitution von einem Medizinstudium abgeraten; derselbe Arzt hatte aber stets »freien Zutritt in das Schlafzimmer der dauernd kranken Mutter« (S. 329), sodass es zu einer »Gleichsetzung des Arztbe rufes mit der Befriedigung der kindlichen Inzestwünsche« (S. 330) kam.
Man kann deutlich sehen, dass der Patient sein Schuldgefühl »wenig stens irgendwie untergebracht« (Freud 1916d, S. 390) haben wollte. Winnicott (1958, S. 33) sieht es als »unbewußten Versuch …, einem Schuldgefühl Sinn zu geben … Der antisoziale Mensch schafft sich Erleichterung, indem er sich ein begrenztes Vergehen ausdenkt, das nur auf verborgene Weise dem Vergehen in der verdrängten Phanta sie gleicht, das zum ursprünglichen Ödipus-Komplex gehört.« Heute würden wir auch den Kommunikationsaspekt sehen: Wenn ein Kind stiehlt, hat es sicher mehrfache Gründe, die ihm völlig unbewusst blei ben können: Es beschafft sich symbolisch die Liebe, deren Fehlen seine orale Bedürftigkeit hat so anwachsen lassen (er kauft sich Süßigkeiten, die an sich bereits ein Surrogat der Mutterliebe sind, und verschenkt sie obendrein, um wenigstens so eine Anerkennung zu bekommen), sicher wird er ein dumpfes Schuldgefühl besänftigen wollen, aber das braucht ja keineswegs ödipal, es kann ja geradezu kannibalistischen Ursprungs sein, denn ein Mangel macht stets Wut; aber nicht zuletzt wird es sich bei einem solchen Agieren doch auch um einen Hilferuf handeln, der sich an die Erwachsenen richtet, damit endlich an seiner emotionalen Not etwas geändert wird. Denn es ist die Frage, ob es nun wirklich Strafe ist, die so ersehnt wird, ob Masochismus nicht das Sehnen nach und das Wiederherstel len einer Liebe ist, die man ursprünglich nur in Verbindung mit Hass und Zurückweisung durch das Objekt erfahren hat (Berliner 1947). Ein solches Objekt wird durch Introjektion zu einem Über-Ich, das die ursprünglich reale sadistische Situation aufrechterhält. In einer vergessenen Arbeit mit dem Titel »Das Problem der Melancholie« hat Radó (1927, S. 442) das verlorene Objekt (entsprechend Freud 1917e, »Trauer und Melancholie«) mit dem Über-Ich in Zusammen hang gebracht und die melancholischen Selbstanklagen als Unterwer fung unter seine Forderungen verstanden: »Es ist, als ob das melancho
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lische Ich zu seinem Über-Ich sagen würde: Ich nehme alle Schuld auf mich, unterwerfe mich jeder Strafe, … wenn du dich nur wieder meiner annimmst und lieb zu mir bist.« Radó, der »die Melancholie als einen großen Verzweiflungsschrei nach Liebe« (S. 442) bezeichnet, verbindet folgerichtig Schuldüber nahme und Selbstbestrafung: »Es (das Kind) beginnt in seinem Innern unbewußt die elterlichen Strafen zu reproduzieren, in der unbewußten Hoffnung auf Liebe« (S. 443; Hervorhebung original). Bemerkenswert, daß Radó von realen elterlichen Strafen spricht und nicht dem Trieb oder dem Ödipus-Komplex des Kindes die Initiative gibt; allerdings sieht er dann doch wieder die Ambivalenz des Kindes als Ursache eines derart fordernden Über-Ich als Eltern-Introjekt, denn mit seiner Aggressivität habe das Kind den Objektverlust »selbst verschuldet« (S. 447). Die Zeit war 1927 eben noch nicht soweit, den Umweltein fluss als primär anzusehen, es sind auch eher die Nuancen, die den Unterschied zwischen Trieb- und Umweltursache der Schuldgefühlsund Neurosenfrage ausmachen; die Schwierigkeit der dialektischen Zusammenschau beider Komponenten scheint – auch heute noch – doch recht groß zu sein. Derselbe Mechanismus der Selbstbestrafung aus Schuldgefühl fin det sich häufig bei depressiven Patienten, die irrationalerweise, das heißt zunächst nicht einsehbar annehmen, sie hätten Schuld auf sich geladen, ohne dass sie in der Realität wirklich gehandelt hätten. Eine Patientin, Beate S., die immer nur als »zweiter Mann«, nämlich als Assisten tin eines (männlichen) Chefs Erfolg – und unter diesen Umständen beträchtlichen Erfolg – haben konnte, war bei einer Agentur beschäftigt, die den überregionalen Wahlkampf einer großen Partei organisierte und gestaltete. Ihre Verantwortung reichte immerhin so weit, dass sie Mitarbeiter einstellte, Aufträge vergab, Gelder verwaltete und in gewissen Grenzen zeichnungsberechtigt war. Am Wahlsonntag wurde sie von Panik ergriffen, weil sie fest überzeugt war, persönlich und allein die Hauptschuld an dem beträchtlichen Stimmenverlust der betreffenden Partei zu tra gen! In der analytischen Bearbeitung konnte hinter diesem heftigen Schuldgefühl die grandiose Phantasie entdeckt werden, eine derartige Macht zu haben, dass sie die politischen Geschicke Europas (es handelte sich um eine Europawahl) entschei dend lenken konnte. – Bald darauf entwickelte sie ähnliche Ängste, nachdem ihr Freund sich für viel Geld in ihrer Gegenwart ein gebrauchtes Auto gekauft hatte. Nach kurzer Zeit war an dem Wagen ein Defekt aufgetreten, und die Patientin machte sich schwere Vorwürfe, dass sie dem Partner nicht vom Kauf abgeraten hatte, denn sie hatte nicht darauf bestanden, dass der Verkäufer eine kleine Unre gelmäßigkeit des Fahrzeugs, die ihr aufgefallen war und die sie mit dem Scha den in Verbindung brachte, ausreichend erklärt hatte; so gab sie sich die Schuld, daß der Freund ein defektes Auto gekauft hatte. Dabei hatte sie kein besonderes technisches Verständnis, nicht einmal einen Führerschein, während der Partner in technischen Dingen recht versiert war. Das zugrunde liegende unbewusste wahre Schuldgefühl konnte als eines wegen ihrer Aggression auf die mächtigen Män
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ner erkannt werden, denen sie ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellte. Wegen des Schuldgefühls meinte sie, stets zurücktreten zu müssen. Einerseits wurde durch die Schuldübernahme die Aggression, die den Männern galt, gegen das eigene Selbst gelenkt, andererseits aber machte sie sich in masochistischer Grandiosität dadurch, dass sie sich ein Versagen vorwarf, in der Phantasie zur Mächtigen, die die Männer, die an der Spitze der Macht standen, vernichten könnte. Die Patientin hat zwar in ähnlicher Unterwerfung wie beim »Verbre
chen aus Schuldgefühl« und bei der Melancholie eine »Schuld« auf sich genommen, um ein unbestimmtes Schuldgefühl zu vermeiden, aber man hat den Eindruck, als habe sie einen großen Gewinn, als sei eigentlich sie die Mächtige angesichts ihres Gegenübers, sei es nun die mächtige Parteiorganisation oder der (männliche) Partner. Es ist das, was man im Zusam men hang mit Selbstbeschädigungsagieren (und das ist immer auch ein Selbstbestrafungsagieren, eine Wendung von Aggression gegen das eigene Selbst) »masochistischen Triumph« nennt (Kernberg 1975; vgl. Hirsch 1996). Dieser Triumph soll das gehasste und benötigte Objekt treffen, ähnlich wie die Haut-Patienten Schurs, die sich selbstdestruktiv die Haut kratzen und damit nicht nur Aggression gegen sich richten, sondern auch gegen den Arzt (in der Übertragung) und gegen die Mutter(-repräsentanz):
»Auf der einen Ebene mag das Kratzen Ausdruck von Selbstbestrafungstendenzen sein, aber gleichzeitig bedeutet es auf einer tieferen Ebene auch die Bestrafung eines äußeren Objekts, gewöhnlich der Mutter. Einer meiner Patienten verwandte den größten Teil einer Sitzung darauf, daß er sich über einen Arzt beschwerte, der ein paar Allergietests an ihm vorgenommen hatte; er schloß mit den Worten: ›Und natürlich habe ich mich wieder die ganze Nacht gekratzt!‹ Auf die Frage, warum er das getan habe, kam die Antwort: ›Ich mußte ihm doch zeigen, was er mir angetan hatte‹« (Schur 1955, S. 106).
Freuds Idee des »Verbrechens aus Schuldgefühl« ist ganz aus dem psychoanalytischen Verständnis des Ödipus-Komplexes als Kern der Neurose heraus entstanden, noch bevor eine erste Konzeption der Ver innerlichung von Objekten (Freud 1917e, »Trauer und Melancholie«) und anschließend eine des Über-Ich (Freud 1923b, »Das Ich und das Es«) vorlag. Heute denken wir eher in Objektbeziehungsqualitäten, und das Über-Ich ist auch Freud zufolge ein Ergebnis der Internalisierung von Objektanteilen. Aber auch da scheiden sich wieder die Geister: Wie erhält eine Objektrepräsentanz seine Qualität, etwa durch die Triebe des Kindes? Oder die tatsächlichen Eigenschaften der rea len äußeren Objekte? Oder vielmehr von beiden Seiten? Radó kommt dem Doppelcharakter ziemlich nahe, Ferenczi steht ganz auf der Seite des »unschuldigen« Kindes (siehe den nächsten Abschnitt), Winnicott wirkt erstaunlich konservativ, wenn er noch den Ödipus-Kom
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plex ins Zentrum der Schuldgefühlsbildung stellt. Inzwischen denken wir angesichts des realen Ausagierens von »Verbrechen« und anderen autoaggressiven Aktivitäten (wie Selbstbeschädigungsagieren, artifizi elle Krankheit, Unfallpersönlichkeit, Essstörungen, Sucht) an die Wir kung traumatischer Introjekte. Diese bewirken schwere Schuldgefühle, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Im Wiederholungszwang erzeugen sie mit mächtigem Externalisierungsdruck die vom Patien ten agierend hergestellten »Verbrechen«, die der ursprünglich erlitte nen Traumatisierung entsprechen, immer wieder neu. Damit wird das Schuldgefühl gemindert – nicht zuletzt durch den Selbstbestrafungscharakter –, aber auch gleichzeitig die verborgene Traumatisierung mitgeteilt.
Introjektion Die Über-Ich-Bildung ist ein Modell für den Vorgang der Aufnahme äußerer Vorgänge durch Introjektion nach innen sowie der anschließen den Assimilation, der »Verdauung« des Aufgenommenen und dadurch auch der Veränderung des Selbst, durch Identifikation. Dabei gilt, dass sich die Assimilation um so schlechter gestaltet, je fremder, feindlicher und archaischer das Aufgenommene, und um so besser, je realitäts- und Ich- bzw. kindgerechter es ist. Melanie Klein folgend wären Intro jekte unassimilierte innere Objekte, deren archaisch feindliche Qua lität und die Unmöglichkeit, sie zu integrieren, zu assimilieren, aus der übermäßigen Stärke des Todestriebs herrührt. Ferenczi dagegen stellt sich die traumatische Erfahrung, in der das Ich überwältigt wird, mit den realen äußeren Objekten als Grund für die fehlende Assimila tion vor, weder Assimilation durch Identifikation noch Trennung und Trauerarbeit sind möglich, weshalb Spaltung, Dissoziation notwendig wird. Jede traumatische Erfahrung kann zu intrapsychischen Objekt repräsentanzen, den Introjekten führen, entstanden aus äußerer Erfah rung und modifizierender Phantasietätigkeit (Winnicott 1958, S. 22; Sandler u. Sandler 1987, S. 146), die fremdkörperartig Erleben und Verhalten bestimmen und stets – genau wie aufgrund der Spannung zwischen Über-Ich und Ich, wie Freud das sah – Schuldgefühle ver ursachen. Den Begriff der Introjektion verwendete Ferenczi (1909, S. 19) erstmalig, indem er dem Psychotiker mit seiner Neigung zur Projektion den Neurotiker mit seinem Interesse an den Objekten der Außenwelt gegenüberstellte, bei denen er seine frei flottierenden Affekte unterzu
Introjektion 91
bringen sucht: »Der Neurotische ist stets auf der Suche nach Objekten, mit denen er sich identifizieren kann, auf die er Gefühle übertragen, die er also in den Interessenkreis einbeziehen, introjizieren kann.« Wie man sieht, wird Introjektion aber nicht von Identifikation unter schieden – eine Unklarheit, die sich in der psychoanalytischen Litera tur über Jahrzehnte hinweg hält, worauf wir zurückkommen werden –, sogar Übertragung wird hier synonym verwandt. Ferenczi will offenbar mit diesen Begriffen lediglich die Beziehungen zu äußeren Objekten bezeichnen, wie er sich auch Introjektion etwas später als »Mechanismus jeder Übertragung auf ein Objekt, also jeder Objekt liebe als Introjektion, als Ich-Ausweitung« (Ferenczi 1912, S. 100; Hervorhebung original) vorstellt. Den Charakter der Grenz über schrei tung von außen nach innen der Introjektion hatte Freud (1915c, S. 228) bereits aufgezeigt: Das Ich »nimmt die dargebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdrucke Feren czis) und stößt andererseits von sich aus, was ihm im eigenen Innern Unlustanlass wird. (Siehe später den Mechanismus der Projektion.)« Zehn Jahre später nimmt Freud (1925h, S. 13) in der Diskussion der sich entwickelnden Urteilsfunktionen diesen Gedanken wieder auf: »Das ursprüngliche Lust-Ich will, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen.« Weiter beschreibt er die bei den Vorgängen des Aufnehmens und Ausstoßens notwendig werdende Grenz erfahrung: »In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: Das will ich essen oder will es ausspucken, und in weiter gehender Übertragung: Das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen … Es ist, wie man sieht, wieder eine Frage des Außen und Innen« (Freud 1925h, S. 13; Hervorhebung original).
Man kann aber eine Grenzverwischung nicht nur zwischen außen und innen, sondern auch zwischen verschiedenen intrapsychischen Instan zen beob ach ten. Oft ist die Unter schei dung zwi schen archai schen omnipotenten Phantasien, die in den Kern des Selbst, und solchen, die ins Ich-Ideal bzw. Über-Ich eingehen, schwer zu treffen (Modell 1965). Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen sind die Grenzen von archaischen Elementen des Ich und des Über-Ich verwaschen (Modell 1965); Objekt- und Selbstrepräsentanzen bleiben mehr oder weniger fremdkörperartig als Introjekt abgespalten oder können durch Iden tifikation im Selbst assimiliert vorliegen. Die Grenzen zwischen den Repräsentanzen sind unsicher, und es findet eine oszillierende Fluk tuation der Imagines über die unbestimmten Grenzen hinweg statt. Modell bezieht das Verhalten der Eltern nicht ein, obwohl in seinen beiden beschriebenen Fällen sexuelle Überstimulierung der Kinder
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durch die Eltern zu entsprechenden Fusionsgefühlen, also Empfindun gen der Grenzenlosigkeit zwischen »außen und innen«, geführt haben dürfte. Und es muss gar nicht immer eine Fusion durch körperliche Überstimulierung eintreten; in einem Fall (Modell 1965, S. 328) rie fen die Fortschritte in der Analyse eines Patienten Selbstmordabsich ten der Mutter hervor, das heißt Trennungsbestrebungen werden oft von realen terroristischen Behinderungen beantwortet, deren innere Motive (bei der Mutter bzw. dem Elternteil) dem Kind verborgen blei ben, sodass es nicht abgrenzen kann, ob es sich um die eigenen Tren nungsängste handelt oder um das Bedrohtsein des Elternteils durch die Trennung.
Unbewusstes, entlehntes Schuldgefühl (Freud 1923) Die Verbindung von Introjektion und Schuldgefühl stellt Freud (1923b, S. 279) wie nebenbei, halb unbeabsichtigt in einer Fußnote zu seiner Arbeit »Das Ich und das Es«, in wenigen Sätzen her. Es geht hier darum, dass für den Widerstand des Patienten gegen Fortschritte der Genesung, für die negative therapeutische Reaktion also (man kann noch ergänzen: für Selbstbeschädigung und Strafbedürfnis), ein »moralischer Faktor« verantwortlich gemacht wird; es handelt sich
»um ein Schuldgefühl, welches im Kranksein seine Befriedigung findet und auf die Strafe des Leidens nicht verzichten will … Aber dies Schuldgefühl ist für den Kranken stumm. Es sagt ihm nicht, daß er schuldig ist, er fühlt sich nicht schuldig, sondern krank. Dies Schuldgefühl äußert sich nur als schwer reduzierbarer Wider stand gegen die Herstellung« (Freud 1923b, S. 279).
Das Schuldgefühl ist also unbewusst, als solches für den Kranken gar nicht erkennbar. Die Fußnote beginnt mit der Schwierigkeit der Bear beitung und Auflösung des Schuldgefühls:
»Der Kampf gegen das Hin der nis des unbe wuß ten Schuld ge fühls wird dem Analytiker nicht leicht gemacht. Man kann direkt nichts dagegen tun, indirekt nichts anderes, als daß man langsam seine unbewußt verdrängten Begründun gen aufdeckt, wobei es sich allmählich in bewußtes Schuldgefühl verwandelt« (S. 279).
Während bis hierher noch nicht klar ist, woher sich das unbewusste Schuldgefühl ableitet, wird von Freud nun die Verbindung zum Objekt hergestellt. Dadurch, dass es von einem Objekt entlehnt worden sein kann, wird es als Ausdruck und Teil einer Objektbeziehung erkannt:
Introjektion 93
»Eine besondere Chance der Beeinflussung gewinnt man, wenn dies ubw Schuld gefühl ein entlehntes ist, das heißt das Ergebnis der Identifizierung mit einer anderen Person, die einmal Objekt einer erotischen Besetzung war. Eine solche Übernahme des Schuldgefühls ist oft der einzige, schwer kenntliche Rest der auf gegebenen Liebesbeziehung. Die Ähnlichkeit mit dem Vorgang bei Melancholie ist dabei unverkennbar. Kann man diese einstige Objektbesetzung hinter dem ubw Schuldgefühl aufdecken, so ist die therapeutische Aufgabe oft glänzend gelöst, sonst ist der Ausgang der therapeutischen Bemühung keineswegs gesichert. Er hängt in erster Linie von der Intensität des Schuldgefühls ab, welcher die Therapie oft keine Gegenkraft von gleicher Größenordnung entgegenstellen kann« (S. 279).
Diese Vorgänge erinnern an die Internalisierungsvorgänge in »Trauer und Melancholie« (Freud 1917e, S. 435), wo es heißt: »Identifikation mit dem aufgegebenen Objekt« und »der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich …« Cournut (1988) versteht die Fußnote als Korrektur des Konzepts des unbewussten Schuldgefühls aufgrund der intuitiven Erfassung des Charakters des Fremden des Introjekts durch Freud wie auch den Zusammenhang mit einer ungelösten Objektbeziehung. Unbewusstes Schuldgefühl muss nun nicht mehr von verdrängtem eigenen Bestrebungen stammen, es kann auch als von einem äuße ren Objekt übernommen verstanden werden. (Es scheint sich um ein Beispiel einer der Nebenbemerkungen Freuds zu handeln, von denen Melanie Klein einmal sagte: »Hier und dort finden wir in seinen Schriften bedeutungsvolle Andeutungen eingestreut, voll von Mög lich kei ten, denen man nach ge hen könnte, Hin weise, die er selbst jedoch nicht weiterverfolgte« [Grosskurth 1986, S. 370]. Ähnlich schreibt Simmel [1944, S. 230], »daß ich bei meiner Entdeckung ledig lich eine Tür durchschritten habe, die Freud selbst geöffnet hat, ohne hindurchzugehen.«) Das bedeutet einmal, dass Schuldgefühle unbewusst bleiben können, darüber hinaus scheint es sich bei der Entlehnung um die Übernahme des Schuldgefühls eines Liebesobjekts, also eines fremden Schuldge fühls zu handeln. Ganz klar drückt sich Freud meines Erachtens nicht aus; ist es die »Identifikation mit einer anderen Person« (Freud 1917e, S. 435), die das Schuldgefühl macht (heute besser nicht Identifikation, sondern Introjektion), oder ist es die Identifikation (Introjektion) mit dem Schuldgefühl einer anderen Person? Jedenfalls hat Freud deutlich genug Schuldgefühl als Ergebnis der Internalisierung von Aspekten äußerer Objekte im Sinn gehabt. Die Gedanken in Freuds Aufsatz wie auch besonders in der Fuß note hatten auch gleich die Ausarbeitung durch seine Mitarbeiter zur Folge. In einer Fallarbeit schildert Lampl (1925) ein Beispiel der Iden tifikation mit den Schuldgefühlen des Vaters durch den Sohn und die entsprechenden Symptombildungen, Schuldgefühlen des Vaters, die
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dieser aber gar nicht hatte, sodass die Schuldgefühle des Sohnes (des Patienten) eher der realen Schuld des Vaters entsprach: »Er empfand das ungeheure Maß an Schuld, das der Vater gegenüber der Mutter durch die Zerstörung des Familienlebens auf sich geladen hatte … In der Identifi zierung mit dem sündhaft erotischen Tun des Vaters scheint sich nun die Identifi zierung mit dem Vater auf die Identifizierung mit dessen Schuldgefühl zurückge zogen zu haben. So erwirbt er am Ausgang der infantilen Ödipussituation durch Identifizierung das Schuldgefühl des Vaters und überlagert mit diesem entlehnten Schuldgefühl das primäre aus dem Mutter-Inzest. Von da an ist sein Seelenleben durch ein großartiges Strafbedürfnis beherrscht, und sein Leben erscheint darauf angelegt, anstelle der Ausführung der Ödipustat für die Schuld des Vaters zu süh nen« (Lampl 1925, S. 466; Hervorhebung original).
Deutlich kann man sehen, dass hier eine Vermengung der ödipalen Schuldgefühle mit der von außen übernommenen Schuld stattfindet, Schuldgefühle also keineswegs nur ödipalen Charakter haben, sondern durch die introjektive Übernahme fremder Komplexe gebildet werden. Im selben Jahr veröffentlichte auch Fenichel (1925) eine Arbeit »Zur Klinik des Strafbedürfnisses«, in der er annahm, dass der reale Sadismus der Mutter »ins Über-Ich« aufgenommen, also introjiziert worden war: »Das Vorbild für die sadistischen Phantasien des Patienten war seine Mutter, die so getobt hatte, wenn er oder die Geschwister etwas angestellt hatten. Die Auf nahme der Mutter ins Über-Ich des Patienten entfaltete so nach beiden Richtungen ihre Wirksamkeit: In den Selbstbestrafungen setzte er die mütterlichen Züchtigun gen am eigenen Leibe fort, während die sadistischen Phantasien seine Sehnsucht bezeugten, auch in seinem Verhalten nach außen die Mutter zu kopieren« (Fenichel 1925, S. 474).
Und das Selbst (der »eigene Leib«) scheint in diesem Falle mit der rea len Mutter als Ziel der Aggression austauschbar zu sein, sodass Fenichel eine Externalisierung des Introjekts (»Über-Ich«) beschreibt: »Die gehaßte Mutter, von der er glaubte, daß sie seine Bestrafung, seine Krankheit, seinen Tod von ihm verlange, erwies sich als Projektion seines Über-Ichs. Wie er, auf sein Gewissen schimpfend, sich erst recht schlug, so demonstrierte er am eige nen Leibe, wie er der Mutter mit Genuß ein Messer in den Leib rennen möchte. Es war eine Art Rückprojektion des Über-Ichs an jene Stelle der Außenwelt, aus der es hervorgegangen war, eine regressive Projektion« (S. 475).
An diesem Beispiel wird deutlich, dass es sich auch um introjizierte Eigenschaften des Objekts, nicht nur um dessen Schuld oder Schuld gefühl, handeln kann. Auch die Möglichkeit der Überschreitung der Ich-Grenzen von außen nach innen durch Introjektion und nachfolgend wieder nach außen durch Projektion auf dasselbe Objekt, von dem das Introjekt übernommen worden war, wird anschaulich dargestellt.
Introjektion 95
Das Entlehnte ist aber keineswegs nur ein Schuldgefühl des ande ren (bzw. vielmehr das, welches er haben müsste), eher seine reale Schuld, wie es aus den Fallbeispielen Lampls und Fenichels hervor geht; deutlich ist es dort die nicht anerkannte Schuld der Eltern, die das Schuldgefühl der Kinder schafft. In neuerer Zeit hat Eickhoff (1989) die Symptomatik einer Tochter eines Nazi-Verbrechers als »Palimpsest«7, also als überlagerte Mitteilung der unbewussten Schuldgefühle bzw. der realen Schuld des Vaters bezeichnet. Für Eickhoff ist die melancholische Identifikation gerade mit der nicht anerkannten Schuld eines Liebesobjekts der zentrale Mechanismus der transgenerationalen Transmission von Traumafolgen. Inzwischen kann man sagen, dass es sich um mehrere Gruppen von traumatisch wirksamen Realeinflüssen handelt, die Introjekte (die Schuldgefühle verursachen) hervorbringen: körperlicher und sexuel ler Missbrauch (auch Folter und Vergewaltigung im Erwachsenenal ter), unbewältigte Verluste, nicht anerkannte reale Schuld, emotionale Mangelversorgung sowie subtile langdauernde Beeinflussungen in der Eltern-Kind-Beziehung im Sinne der projektiven Identifikation, die ebenfalls die Grenzen zwischen außen und innen überschreiten. Wir werden auf diese Bereiche zurückkommen. Die Verbindung zwischen Freuds Fußnote und der Introjektbildung hat Cournut (1988) in einer bemerkenswerten Arbeit hergestellt, indem er das »entlehnte Schuldgefühl« auf die Geheimnisse, die unbe wältigten Verluste, die lähmende Depression (vgl. Green 1983, »Die tote Mutter«) der Liebesobjekte zurückführt. Die »Patienten [schei nen] für jemand anderen an dessen und von dessen Stelle aus zu spre chen …, um diesen anderen zu schützen mitsamt seinen Geheimnissen, von denen man nicht weiß, ob sie dem Gewissen oder der Lust oder beiden gehorchen« (Cournut 1988, S. 76). In einer Gruft ist nicht nur Schuld, sondern sind hauptsächlich Affekte begraben (Cournut 1988, S. 91); diese sind es, die Schuldgefühl (und entsprechende Symptoma tik) erzeugen, auch wenn die Tatsachen (z. B. der Tod von Eltern der Eltern, der Tod von Geschwistern, schuldhaftes Handeln in Vorgenerationen, Gewalt, unter der die Liebespersonen gelitten hatten etc.) als Information bekannt sind, während die entsprechenden Affekte wegen ihrer überwältigenden Stärke nicht erlebt, ausgelebt werden konnten, sondern durch Abspaltung und Verwerfung unterdrückt werden muss ten. 7 Palimpsest: griechisch für »wiederabgekratzt« – das heißt, beschriebene Pergamente wur den, um das kostbare Material wiederverwenden zu können, abgekratzt und neu beschrie- ben. Mit bestimmten Techniken lässt sich der ursprüngliche Text rekonstruieren – ein Analogiebild, das sich für die Psychoanalyse gut verwenden lässt.
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Das Introjekt Bisher haben wir die Entwicklungslinie des Introjektionskonzepts von Ferenczi (1909) über Freud – bei diesem insbesondere mit seiner halbverborgenen, intuitiven Erfassung des Objektbeziehungscharakters des Introjekts in besagter Fußnote (s. o.) – aufgezeigt. Ferenczi (1985, S. 91; Hervorhebung original) wusste, um was es ging: Eine seiner Patientinnen »fühlt gelegentlich, besonders wenn sie aggressiv, hart, sarkastisch etc. ist, daß etwas Fremdes aus ihr spricht, in dem sie sich nachher nicht wiedererkennt. Das bösartige Fremde entpuppt sich … als die bösartige, unbe herrschte, aggressive, leidenschaftliche … Mutter, deren beinahe manische Gebär den und Mimik, auch ihr Schreien, von (der) Patientin mit einer Naturtreue imitiert wird, wie sie nur die Folge einer vollkommenen Identifizierung sein kann … Ein Teil ihrer Person gerät ›außer sich‹, der so leer gewordene Platz wird vom Willen des Erschreckenden eingenommen.«
Introjekte erkennt man an ihrem seltsam fremden Charakter, sie sind Ich-dyston. Eine Patientin aus meiner Praxis sagte: »Meine Mutter hat sich in meinen Eingeweiden breitgemacht, da sitzt sie!« Eine andere meinte: »Ich habe den Eindruck, dass ich meine Eltern in jeder Zelle habe, dass sie sich da eingenistet haben.« Und eine dritte: »Vielleicht steckt ein Monster in mir, ich habe Angst, dass es durch die Therapie rauskommt.« Zwei Fallvignetten sollen illustrieren, dass häufig von den Patienten das Fremdartige als von anderen Objekten stammend geschildert wird: Eine Patientin, die als Kind unter dem Alkoholismus des Vaters sehr gelitten hatte, besucht ihren alten Vater, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen ist, auch andere Bekannte sind gekommen. Der Vater bietet Schnaps an, die Besucher blicken betreten auf den Fußboden, keiner trinkt mit dem Vater. Nur die Patientin nimmt das Angebot an, obwohl sie sonst nie Alkohol trinkt. Sie sagt, sie habe aus »Mitleid« mit ihm getrunken. Danach habe sie Übelkeit verspürt, einen Druck im Oberbauch, wie bei einer Schwangerschaft. Ich sage: Wie etwas Fremdes, das in den Körper hineingekommen ist und nicht richtig zu Ihnen gehört. – Darauf erin nert sie einen Traum: Sie habe etwas Ekelhaftes erbrochen, Fleischstücke, und war erleichtert, als sie es los war. Dann aber fühlte sie eine leere Stelle im Bauch, wie ein Loch. – »Ich kann nicht zu meinem Vater nein sagen, weil er so in mir drin ist.« Eine andere Patientin, Angelika A., hat sich aus einer Beziehung, die von gegen seitiger terroristischer Abhängigkeit bestimmt war, getrennt, eine eigene Wohnung gefunden und ist froh, allein zu sein. Da kommen die Eltern unangemeldet (aus dem rund 250 Kilometer entfernten Heimatort der Patientin) vorgefahren, sie seien beunruhigt, weil sie telefonisch nicht erreichbar sei. Die Patientin ist kurz angebun den, sie habe durch den Umzug so viel zu tun, nach dem Tee müssten sie gleich wieder fahren. Zum Abschied sagt die Mutter, auf deren Brille sich ein paar Flecken befinden: »Du hast so Stellen im Gesicht, mein Kind, das ist sicher Hautkrebs!«
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Die Phantasie der Mutter ist klar: Hätte die Tochter Krebs, käme sie (nach der gescheiterten Beziehung) zur Mutter zurück, die sie pflegen könnte. Wäre es der Patientin nach dem Umzug schlecht gegangen, hätte sie der Mutter etwas vorge jammert, vielleicht sogar gebeten, sie solle noch bleiben, um sie zu trösten, wäre die Mutter zufrieden gewesen. Da die Tochter das aber nicht tat, musste die Mutter ein so schweres Geschütz auffahren und in einer Verdichtung ihren Wunsch, bei der Tochter bleiben zu können, und ihre Aggression, weil das nicht möglich war, in der Phantasie vom Hautkrebs zusammenbringen. – Später, in der weiteren Aus einandersetzung in der Gruppensitzung sagt die Patientin: »Würde ich aufhören zu rauchen, würde ich meine Mutter verlieren. Das Rauchen ist meine Mutter. Die Mutter hat immer geraucht, der Vater war immer dagegen.« Als Jugendliche hat sie heimlich zusammen mit der Mutter geraucht, im Bündnis gegen den Vater. Und sie raucht noch immer, obwohl sie an einer Krankheit leidet, die als Sarkoidose diagnostiziert worden war (gar nicht so weit entfernt von dem Spruch der Mut ter vom Hautkrebs), und eigentlich allen Grund hat, mit dem Rauchen aufzuhören.
Das Introjekt ist ein Gebilde, das als Fremdkörper wirkt und vom IchErleben, vom Denken, Phantasieren und Sprechen weitgehend abge trennt ist. Einzig seine Wiederbelebung in äußeren Objekten durch Externalisieren, immer wiederholtes Agieren (»Konkretisierung«, Bergmann 1995, S. 344 f.) und sein Ausdruck im Traum stellt eine bin dung zu ihm her. Das Fremdkörperartige des Introjekts ist Ver immer wieder beschrieben worden – auch wenn nicht ausdrücklich auf das Introjekt bezogen, aber worum sonst sollte es gehen, wenn Freud (1895d, S. 85) schreibt: »Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psy chische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß.« Wurmser (1987, S. 3; Hervorhebung original) fragt sich: »Was ist die Perversion des Gewissens, die zum Erscheinen jenes ›Dämon‹ führt?«, eines Dämon der schweren Neurose, manifestiert durch »Ge genwillen« und Wiederholungszwang. Ein anschauliches Bild für das Eindringen des Fremden ins Ich wäre ein Virus, das in den Zellkern fremdes Genmaterial einschleust und den Organismus zwingt, fremdes Material zu produzieren. Parin (1990) teilt das dichterische Bild mit, das Heinrich Heine für den Vorgang der Introjektion, geradezu Inkorporation, fand, wenn er im »Wintermärchen« über die Preußen spottet (vgl. Hirsch 1998): »Noch immer das hölzern pedantische Volk, Noch immer ein rechter Winkel In jeder Bewegung, und im Gesicht Der eingefrorene Dünkel.
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Sie stelzen noch immer so steif herum, So kerzengerade geschniegelt, Als hätten sie verschluckt den Stock, womit man sie einst geprügelt. Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie, Sie tragen sie jetzt im Innern …« (Heine 1976, S. 97 f., Hervorhebung M. H.). Und so ist das Introjekt als ein »Rest« (Freud 1923b, S. 279, Fußnote) bezeichnet worden, als ein »isolierter Ich-Anteil« (Müller-Braunschweig 1970, S. 673), ein »obskurer hartnäckiger Gast des Ichs« (Cournut 1988, S. 470). Ein solches Introjekt wird das Ich nicht bereichern, sondern es wird ihm hinzugefügt, wodurch es unterschie den werden kann (zur ausbleibenden Assimilation vgl. auch Ehlert u. Lorke 1988; Müller-Braunschweig 1970). Entsprechend den Kla gen und Symptomen der Patienten sind einige Bezeichnungen für das Introjekt formuliert worden, die den Charakter der fremdkörperartigen Abkapselung enthalten: »Gefrorenes Introjekt« (Giovacchini 1967), »malignes Introjekt« (Müller-Braunschweig 1970), »dämonisches Introjekt« (Moser 1996), »Krypta«, »kryptische Identifikation«, auch »Einschließung« bei Abraham und Torok (1975; 1976; Torok 1968; Abraham 1978); Abraham (1978) nennt es »Phantom«, genau wie Virginia Woolf (1991) in ihren Tagebüchern, die es verwendete, um die Unmöglichkeit zu bezeichnen, den Geist der Mutter loszuwerden, die sie real im Alter von neun Jahren durch Tod verloren hatte. In der Mythologie finden sich Entsprechungen für das Introjekt: ruhelose Geister, Untote, Incubi und Succubi, deren Bedrohlichkeit durch personifizierende Externalisation von außen wirkt; Geister spie len zum Beispiel in den Seefahrernationen eine große Rolle (vgl. Haga 1988), da die auf See gebliebenen geliebten Angehörigen sich nicht ver abschiedet haben, eine Trennung nicht durch Augenschein erleichtert wurde, sodass die »lebendig Toten« nicht zur Ruhe kommen. Ebenso ist der Mythos vom Nachtmahr, dem überwältigend bedrückenden Inkubus, auf das Erleben der Vergewaltigung eines Kindes durch einen Erwachsenen zurückgeführt worden (Haga 1989). Freud (1909b, S. 355) verwendet das Bild des ruhelosen Geistes für die Symptomatik der Neurose, allerdings ohne damals an ein Gebilde wie das Introjekt zu denken: »Aber was so unverstanden geblieben ist, das kommt wieder; es ruht nicht, wie ein unerlöster Geist, bis es zur Lösung und Erlösung gekommen ist.« Der Fremdkörper steuert das Erleben und Verhalten des Patienten
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wie ein fremdes Programm einen Automaten, lässt im Wiederholungs zwang das Verborgene Wirklichkeit werden, lähmt andererseits Krea tivität und Ich-Funktionen (Giovacchini 1967) und führt zu Gefühlen der Leere, des mangelnden Selbstwerts, der »grundlosen« Depression. Die Patienten sprechen folgerichtig von einer »Leiche in sich selbst« (Kogan 1990a, S. 67), sie wirken »seelisch tot« (Faimberg 1987, S. 115; Skogstad 1990, S. 22), »lebendig tot« (Giovacchini 1967; Derrida 1976), »wie im Nebel, innerlich gefroren« (Skogstad 1990, S. 27; Giovacchini 1967), machen den Eindruck, abwesend zu sein (Faimberg 1987, S. 115). Green (1983, S. 213 f.) beschreibt einen zurückbleibenden »kalten Kern«; ein erschütternder Bericht über die aufgrund der KZ-Erfahrung persistierende Unfähigkeit zu lieben findet sich bei Wiesel (1960). Patienten einer anderen Gruppe, die Cournut (1988) »die Boden losen« nennt, agieren selbstdestruktiv gegen den eigenen Körper, sind sexuell promiskuös, leiden unter Albträumen, Angstzuständen oder körperlichen Symptomen, das heißt, das Introjekt entäußert sich im Agieren oder verwendet den Körper als Ausdrucksmittel bzw. De struktionsobjekt. Der Eindruck des Fremden entsteht auch nicht zuletzt dadurch, dass die Analyse über kurz oder lang stagniert und immer wieder dieselben Inhalte erscheinen, die Sprache versiegt und eine Kluft entsteht, in der Gegenübertragung eine Lähmung einsetzt und die Unfähigkeit vorherrscht, den toten Raum mit Gedanken, analysierbarem Inhalt zu füllen. Versucht man es, tauchen Symptome wieder auf oder verstärken sich, der Analytiker wird feindlich intrusiv erlebt, Aggression entsteht und droht, zum Abbruch der Therapie zu führen. Der Intro jekt-Begriff ist auch kri ti siert wor den, beson ders von Schafer (1972, S. 797 f.): »Vor allem hat man sich angewöhnt, von Introjekten zu sprechen, als seien sie Engel oder Dämonen mit eigenen Gedanken und Kräften. Man spricht von ihnen nicht, als handele es sich um die Beschreibung von Erfahrungen des Analysanden, sondern einfach um Tatsachen … Wir vergessen in diesen Fällen, daß ein Introjekt nur eine Phantasie sein kann, daß das Introjekt keine Macht oder Motive und keine Wahrnehmungs- und Urteilsfunktionen besitzt. Infolgedessen hat die Theorie der Introjekte immer den gleichen spukhaften Charakter wie die subjektive Erfahrung, auf die sie sich bezieht.«
Der letzte Satz klingt fast wie der Ausspruch Karl Kraus’: »Die Psy choanalyse ist die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält!«, aber der Wert der Kritik Schafers liegt wohl darin, dass er sich gegen den unreflektierten Gebrauch eines Terminus wendet, der sich so verselbst ständigt und eine Art Realitätscharakter erhält.
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Ferenczi: »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933) Bisher habe ich das Fremdartige, Schuldgefühle Machende des Introjekts eher phänomenologisch beschrieben. Die Grundlage eines theo retischen Verständnisses legte Ferenczi (1933), der mit seinem skandalerregenden – inzwischen muss man auch sagen: bahnbrechenden – Vortrag »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« die Internalisierungsvorgänge traumatischer Gewalt beschrie ben hat, anknüpfend an Freuds ursprüngliche Verführungstheorie (vgl. Hirsch 1987), auch Freuds Internalisierungskonzepte der ÜberIch-Bildung und der Melancholie (Freud 1917e) implizit berücksichti gend. Trotzdem erregte er einen Eklat, der fast zu einer Unterdrückung des Vortrags (auf dem Wiesbadener Kongress 1932) und seiner Ver öffentlichung (die englische Version erschien erst 1949) geführt hätte, denn Ferenczi berücksichtigt die Triebe des Kindes gar nicht mehr, verlegt vielmehr den Anfang und das Wesen der Neurosenentstehung in das von außen durch eine geliebte und benötigte Elternperson dem Kind angetane Trauma. Sicher hatte in der Psychoanalyse immer das Trauma eine Rolle gespielt, aber eher als akzidentelle Störung der Triebentwicklung; sicher war Freud immer an Objektbeziehungen interessiert, aber es waren eben die Objekte der Triebe; das Eigenle ben der Objekte und ihr Anteil an der Gestaltung der Objektbeziehung wurde vernachlässigt. Bei Ferenczi sind Beziehungen grundsätzlich das Ergebnis des Handelns und Fühlens aller Beteiligten, und insofern hat der Begriff des Traumas für Freud und Ferenczi jeweils völlig verschiedene Bedeutungen. Das Trauma bei Ferenczi »wird fortan, anders bei Freud, wo das Trauma das Triebschicksal bestimmt, die Beziehung zum Objekt verändern, zu äußeren Objekten wie zu den inneren Repräsentanten derselben« (Cremerius 1983, S. 998). In sei nem Vortrag legt Ferenczi (1933) den ganzen Schwerpunkt auf den traumatischen Einfluss des äußeren Objekts auf das kindliche Ich; durch die Betonung der Internalisierungsvorgänge wird er zu einem der hauptsächlichen Väter der (nicht Kleinianischen) Objektbeziehungstheorien, wie Cremerius (1983) bemerkt. Ferenczi geht von der übermäßigen Anpassung und Unterwerfung mancher Patienten aus, mit der sie größte Heuchelei und Unverständ nis des Analytikers hinnehmen. Das seien Folgen einer übermächtigen Traumatisierung in der Kindheit und der ihr folgenden unerträglichen Angst; besonders im Falle des sexuellen Missbrauchs darüber hinaus auch der nachfolgenden Konfusion, weil das Kind die Qualität der Angriffe nicht verstehen kann, da sie dem Stand der eigenen sexuellen
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Entwicklung nicht entspricht. Ferenczi spricht von »Sprachverwir rung«, da Erwachsener und Kind, meist Vater und Tochter, eine ganz andere Art von »Liebe« meinen. Pathologisch veranlagte Erwachsene
»verwechseln die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexuell reifen Person oder lassen sich, ohne Rücksicht auf die Folgen, zu Sexualakten hinrei ßen … Schwer zu erraten ist das Benehmen und das Fühlen von Kindern nach solcher Gewalttätigkeit. Ihr erster Impuls wäre: Ablehnung, Haß, Ekel, kraftvolle Abwehr, … dies oder ähnliches wäre die unmittelbare Reaktion, wäre sie nicht durch eine ungeheure Angst paralysiert … Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unter zuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizie rung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Reali tät und wird intrapsychisch, statt extra … Doch die bedeutsamste Wandlung, die die ängstliche Identifizierung mit dem erwachsenen Partner im Seelenleben des Kindes hervorruft, ist die Introjektion des Schuldgefühls des Erwachsenen, das ein bisher harmloses Spiel als strafwürdige Handlung erscheinen läßt« (Ferenczi 1933, S. 308 f.; Hervorhebungen original).
Schuldgefühl ist hier nicht mehr nur intrapsychische »Spannung zwi schen Über-Ich und Ich« als Folge verbotener ödipaler Wünsche, son dern die Folge einer Implantation oder Delegation eines Ich-Anteils eben dieser Eltern, die damit eigene Schuld negieren und Schuldgefühl vermeiden, obendrein das Opfer zum Täter machen können.8 Um sich die Eltern oder noch erträgliche Bilder von ihnen zu erhalten, unter wirft sich das Kind notgedrungen und nimmt das Implantierte in sich auf (Introjektion). Aber wieder ist es Ferenczi, der als Erster die implantierende Akti vität der Mächtigen (der Erwachsenen) dem Schwachen (dem Kind) gegenüber deutlich gemacht hat. Wenn er diese auch in seiner Arbeit »Sprachverwirrung …« nicht ausdrücklich als theoretischen Terminus formuliert, tut er das doch in den Notizen, wenn er von »Superego-Intropression seitens der Erwachsenen« (Bausteine IV, S. 294) spricht. Und auch in seinem Klinischen Tagebuch von 1932 (Ferenczi 1985) lässt er keinen Zweifel daran, dass traumatische Einflüsse stets an der Bildung eines Über-Ich beteiligt sein dürften: Da ist von »Aufpfropfung einer verrückten Persönlichkeitskomponente aufs Über-Ich« (S. 94) die Rede, von »Ich-fremde[r]-Einpflanzung« (S. 102), »Im plantierung von unlustspendenden, Schmerz und Span nung erzeu 8 Der Begriff Implantation wird auch von Laplanche (1970, S. 74) verwendet, der den Ursprung der Sexualität in der Einpflanzung der Phantasmen der Erwachsenen in das Kind sieht, in dem so ein »innerer Fremdkörper« zur Quelle des Sexualtriebs wird. Eckstaedt (1989, S. 19) spricht vom »Implantat« psychischer Strukturen, das auch nach abgeschlossener Entwicklung durch »Intrusion aufoktroyiert« werden kann.
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genden Seeleninhalten in die Seele des Opfers« (S. 124). Ferenczi spricht auch von »Mutter-Influenz«, von »mütterlichem Transplantat« (S. 104), nicht selten sei »die inzestuöse Fixierung … der Psyche von außen eingepflanzt, also ein Über-Ich-Produkt« (S. 236). Der Introjek tion der Gewalt als Ich-Aktivität des Kindes (des Opfers) wäre also die gewaltsame Aktivität des Erwachsenen (des Täters) voranzustellen; die Implantation geht der Introjektion voraus. Es ist aber nicht die Traumatisierung allein, welche die Introjektion bewirkt, es kommt hinzu, dass niemand da ist, der dem Opfer die Qua lität der traumatisierenden Einwirkung und die Realität seiner Wahr nehmung bestätigen könnte. Sabourin (1985, S. 287; Hervorhebung original) schreibt im Nachwort des Klinischen Tagebuchs Ferenczis: »Denn es ist Ferenczi, der das ›Leugnen des Stattgefundenen sei tens der Mutter‹ als den Faktor betrachtet, der ›das Trauma pathogen macht‹, also nicht nur die Vergewaltigung, sondern auch die ihr fol gende Verleugnung und Verleumdung.« Traumatische Gewalt von außen, überwältigende Verlustangst, das heißt Verlust der einzig denkbaren Liebesobjekte, ungeheure Aggres sion (Shengold 1979), Schuldgefühl, das Missbrauchssystem verlas sen zu wollen, das Geheimnis, das heißt das Fehlen eines Zeugen (vgl. Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 239) und das verleugnende Schweigen ver hindern zusammen, dass das Introjekt aufgegeben werden kann. Meines Erachtens ist der Kerngedanke Ferenczis, dass das Kind durch die massiven Abwehroperationen der Introjektion der Gewalt und der Identifikation mit dem Aggressor sich selbst dadurch zu retten versucht, dass es die für es lebensnotwendige Beziehung zu erhalten sucht, indem es sich selbst die Ursache der Gewalt, des Bösen und die Schuld dafür zuschreibt. Das entspricht Ferenczis (1933) Formu lierung, die Gewalt sei nicht mehr außen, sie sei intrapsychisch. Das Kind könnte denken: »Vater ist ein liebender Vater, aber wenn er mich schlägt oder missbraucht, werde ich es wohl verdient haben, in mir wird wohl das Schlechte liegen. Deshalb bin ich schuld, nicht Vater, der ja auch alle Schuld von sich weist.« Die Tragik liegt darin, dass das Kind sich ein genügend gutes Bild von den Eltern erhalten muss, koste es, was es wolle, auch um den Preis der Selbstaufgabe. Eine Patientin, Bettina B., berichtet, dass der Vater sich in der frühen Kindheit kaum gekümmert habe, emotional und räumlich eigentlich immer abwesend gewe sen sei. An ihrem achten Geburtstag hatte er versprochen, sie von der Schule abzu holen, um ihr etwas Schönes zu kaufen. Natürlich hatte er vor dem Geburtstag nicht daran gedacht, rechtzeitig ein Geschenk zu besorgen. Sie wartete und wartete vor der Schule, eine Stunde, und er kam nicht. Sie weinte nicht, sondern ging allein nach Hause und dachte, er sei doch der beste Vater und sie sei seine Lieblings tochter, denn er habe ihr doch was Schönes kaufen wollen, sicher sei ihm etwas
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dazwischengekommen. Die Patientin sagt, sie habe ihn nämlich als guten Vater gebraucht, »als Ausgleich gegen meine unerträgliche Mutter«, von der sie sich abgelehnt und verfolgt fühlte.
Wie wir aus der Traumaforschung wis sen, fin den bei Folter und KZ-Haft, Vergewaltigung und Entführung als Beispielen von Extrem traumatisierung regres sive Pro zesse auch bei erwach se nen Opfern statt, die frühe Formen der Objektbeziehung, verbunden mit totaler Abhängigkeit, entstehen lassen, sodass auch das erwachsene Opfer tragischerweise im Täter die alleinige Quelle noch möglicher narziss tischer Zufuhr erlebt (vgl. Eissler 1968). Durch die Unterwerfung wird das Opfer »zu einem mechanisch-gehorsamen Wesen« (Ferenczi 1933, S. 309); hier ist der Grundgedanke gelegt für das »Abschal ten« der Affekte des Opfers während des Missbrauchs und später als Charakterzug (vgl. Hirsch 1987). Shengold (1989a) spricht von »vertikaler Spaltung«, einem Nebeneinander von Denken und Wahr nehmung im Ich, um durch »Kompartmentierung das Unerträgliche in Schach zu halten«. Ferenczi nennt es »lebendig-tot« (1933), bei Opfern extremer Traumata spricht man vom »Automatisieren« (Krystal 1968, S. 31) bis hin zum Syndrom der »Muselmänner« (S. 34). Introjektion und Identifikation werden weder von Freud noch von Ferenczi unterschieden: »Durch die Identifizierung, sagen wir Intro jektion des Angreifers …« (Ferenczi 1933, S.308). Überhaupt ist in diesem Bereich eine Verwirrung der Nomenklatur zu beklagen und zu bewältigen. Torok (1968, S. 500) zufolge muss man ein »begriffliches Gelände voller Fallen …«, das der »Introjektion« durchqueren. Müller-Pozzi (1988, S. 76) spricht im selben Zusammenhang von einem »Urwald der Begriffe«. Um den Internalisierungsvorgang, der einen unassimilierten fremdkörperartigen Niederschlag einer Objektbeziehung im Subjekt hinterlässt, zu bezeichnen, sind sowohl »Inkorpora tion«, »Introjektion« als auch »unbewußte Identifikation« verwendet worden. Searles (1958) gebraucht alle drei Begriffe in einem Atem zug, um sich dann doch für Introjektion zu entscheiden (Searles 1961, S. 206). Abraham und Torok (1975; 1976; Abraham 1978; Torok 1968) beziehen sich auf die ursprüngliche Definition Ferenczis (1909) der Introjektion, die dieser als Aufnahme von Objektaspekten ins Ich, als Objekt- und Übertragungsbeziehung, die der Ich-Bereicherung dient, verstand. Sie ziehen es deshalb vor, die Aufnahme des Frem den mit Inkorporation zu bezeichnen (auch Schafer 1972, S. 792), während für sie gerade – Ferenczi (1909) folgend – Introjektion ein assimilierender Prozess ist, der das von außen Aufgenommene modifi ziert und das Ich bereichert. Außerdem bezeichnen sie den Prozess der Aufnahme des Fremden als Identifikation, als »kryptische Identifika
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tion«, da sein Ort eine Gruft, eine Krypta ist. Faimberg (1987, S. 125) spricht von »entfremdeter, abgespaltener Identifikation«. Küchenhoff (1991, S. 31) zufolge ist die Inkorporation die umfassendste und konkreteste Form der Internalisierung, das Objekt wird als Ganzes ver einnahmt, es wird dann vom Subjekt »verkörpert«. Torok (1968) weist darauf hin, dass die sich später zunehmend differenzierenden Formen der Internalisierung in der frühen oralen Phase noch weitgehend ungetrennt zusammenfallen. Ich selbst lehne mich an die Begriffe Sandlers (1987b, S. 52) an, der Identifikation und Introjektion folgendermaßen differenziert:
»Identifikation ist ein Prozeß, in dem auf der Basis eines Aspekts einer Objektre präsentanz eine Veränderung in der Selbst-Repräsentanz stattfindet. Man könnte in gewisser Weise sagen, daß ein Objekt in das Selbst hineingenommen worden ist. Introjektion ist sozusagen das Aufrichten eines inneren Begleiters, mit dem man im Dialog stehen kann, der aber nicht ein Teil der Selbst-Repräsentation ist. Das Introjekt ist so eher wie ein Beifahrer, jemand, der einem entweder freundlich oder unfreundlich erzählt, was man tun soll, und mit dem man einen unbewußten Austausch haben kann, genau wie er bewußt auch mit einem realen äußeren Objekt stattfinden kann.«
Während also das Introjekt von innen auf das Selbst einwirkt, ist durch Identifikation bereits eine Veränderung des Selbst vonstatten gegan gen. Derartige Selbst-Objekt-Vorstellungen haben in der britischen Psychoanalyse eine lange Tradition, Heimann (1942; vgl. M. Klein 1946, S. 143, Fußnote) hat schon früh von Zuständen gesprochen, in denen innere Objekte wie Fremdkörper wirksam wurden, eingebettet in das Selbst. Hinshelwood (1996, S. 534) ergänzt, dass sie sozusa gen als »Nicht-Ich«, trotzdem aber im Selbst lokalisiert erlebt werden. Ähnlich wie Sandler definiert Schafer (1968, S. 72) das Introjekt als »innere Repräsentanz, mit der man sich in einer kontinuierlichen oder intermittierenden dynamischen Beziehung fühlt. Das Subjekt … erfährt es als innerhalb der Grenzen seines Körpers oder seiner Psyche oder beider existierend, jedoch nicht als einen Aspekt oder einen Aus druck seines subjektiven Selbst.« Auch Stolorow und Stolorow (1989) verwenden den Begriff entsprechend Sandlers Definition. Vielleicht sollte man hier anmerken, dass Introjektion nicht notwen dig zur Bildung eines Introjekts führen muss. Wie Milrod (1988) aus führt, hatte Freud (1917e) als Voraussetzung der Introjektbildung den völligen Abzug der Objektbesetzung vorausgesetzt, während Introjek tion ein ubiquitärer Internalisierungsvorgang sei; »die normalen Iden tifikationen, die ein aufwachsendes Kind vornimmt, das den Mechanis mus der Introjektion verwendet, sind keine Introjekte« (Milrod 1988, S. 92). Zwar spricht Freud auch bei der Melancholie von »Identifika tion«, aber es handele sich hier offenbar um eine besondere Form im
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Gegensatz zur Hysterie, bei der die Objektbesetzung erhalten bleibt: »Der melancholische Typ der ›Identifikation‹ ist überhaupt keine reife Identifikation. Vielmehr bleibt das Introjekt abgesondert, nicht assimi liert oder zum Teil der Selbstrepräsentation gemacht« (Milrod 1988, S. 92). Ein Introjekt ist das Resultat einer Introjektion nur dann, wenn die Besetzung des Objekts aufgehoben ist, im Sinne von Freuds Arbeit bei unverarbeitetem Verlust, aber auch, wie ich hinzufügen möchte, bei traumatischen Einwirkungen durch das Objekt, mit der Folge des Aufgebens der Beziehung, an der festzuhalten unerträglich wäre und die ja auch, worauf Sabourin (1985) hinweist, vom Täter durch die Tat längst aufgekündigt worden ist. Das Einwirken der traumatischen Gewalt auf das Ich schwächt direkt seine Ich-Funktionen, zerstört gute Objektbilder auch retrograd, überschwemmt es mit Angst, die massiv abgewehrt werden muss durch Aussteigen aus der Realität, »Abschalten«, Dissoziation. Verschiedene Formen von nicht bewältigbaren Traumata sind denkbar: 1. Körperliche und psychische Gewalt, deren Prototypen Kindesmiss handlung und Folter sind. Die Unmöglichkeit der Integration liegt meines Erachtens in dem absoluten Ausgeliefertsein, verbunden mit der systematischen Zerstörung der Ich-Identität (»Seelenmord«, Shengold 1989a), die das Opfer zwingt, sich den Täter als einzig denkbares Liebesobjekt zu erhalten, um einer psychischen Vernich tung ein letztes Mittel entgegenzuhalten. Die Folgen sind die Wir kungen der Introjekte, lebenslange Somatisierungen, Albträume, endlose Depressionen, Angstreaktion, nicht zuletzt Schuldgefühl. 2. Sexuelle Gewalt, insbesondere innerhalb von Familienbeziehungen ist gerade um so weniger integrierbar, je größer die Konfusion über den Begriff der Liebe ist, kindliche Liebe bzw. Erwachsenensexualität, und je weniger das Kind einen Dritten zur Verfügung hat, der es über die Qualitäten dessen, was geschieht, im Sinne der Realitäts prüfung aufklären kann (Hirsch 1987). 3. Aber auch Verluste, die nicht genügend betrauert werden konnten, wie der Tod eines Elternteils, eines Geschwisters, auch der Verlust von Heimat durch Vertreibung oder Migration bewirken zerstöre rische Introjekte. Die Trauerarbeit ist ausgeblieben, die den Trau ernden durch schrittweises Überbesetzen und Wiedererinnern der Anteile des Objekts und der Beziehung zu ihm, verbunden mit dem affektiven Ausdruck der Trauer, von den Bindungen an das verlo rene Objekt befreit (Freud 1917e). 4. Der Mangel an emotionaler Präsenz der Pflegeperson kann ein Introjekt hervorrufen, es ist im Bild der »toten Mutter« von Green
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(1983) beschrieben worden; auch das »kumulative Trauma« (Khan 1963) gehört hierher. 5. Unbewältigte Schuld ist etwas, das das Individuum verfolgt, wie man eher aus der Mythologie weiß als aus der Psychotherapie, denn ein Täter wird sich nicht so schnell einer Therapie unterziehen. Aber das aufgrund der persistierenden Schuld entstandene Introjekt treibt den Täter zum Ort der Tat zurück, er findet keine Ruhe, zerstört sein Leben. Unbewältigte Schuld als Ursache von Introjektbildung leitet zu einer weiteren Dimension der Wirkungen unbewältigter Trau mata hin: Das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe des Traumas auf die folgenden Generationen, »bis ins dritte und vierte Glied« (vgl. »entlehntes Schuldgefühl«, S. 92, und Teil II, S. 243). Das Introjekt kann nicht aufgegeben werden, weil mit seiner Aufgabe die Anerkennung und die Wiederbelebung des unerträglichen Trau mas verbunden wäre. Immer geht es auch darum, die Beziehung zu den lebensnotwendig gebrauchten Bezugspersonen aufrechtzuerhal ten, und sei deren Qualität auch noch so illusionär: der Täter als lie bender Vater, der Folterer als ersehnter Retter. Andererseits führt das Dissoziieren des Traumas, das notwendig ist, um nicht von ihm über schwemmt zu werden, um eine befürchtete psychische Desintegration zu vermeiden, dazu, dass es psychisch nicht repräsentiert ist (Grubrich-Simitis 1979) und ein Fremdkörper bleiben muss, weil seine Wiedererweckung eben die unerträglichen Affekte hervorrufen würde, die während der Traumatisierung bereits abgespalten werden muss ten. Die Phantasiebildung ist geschwächt oder zerstört (Bergmann 1995, S. 344 f.), Sprache und Metapher (Grubrich-Simitis 1995) ste hen nicht zur Verfügung, deshalb wird das traumatische Introjekt in die Realität hinein agiert im Sinne der Konkretisierung (Bergmann 1995), außerdem verschafft das Handeln die Illusion eigener Macht (Bergmann 1995).
Identifikation mit dem Introjekt Das unassimilierte Introjekt hält ständig eine Schuldgefühlsspannung aufrecht. Ein Aufnehmen des Introjekts in das Selbst würde die Span nung verringern, aber das abnehmende Schuldgefühl durch anwach sende Schuld ersetzen (vgl. Teil III, S. 277), denn die Identifikation mit einem Gewalt-Introjekt bedeutet die Nachahmung des Täters, das ursprüngliche Opfer macht nun – schuldhaft – wiederum Schwächere
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zu Opfern. Wie bei der Über-Ich-Bildung kann eine Assimilation des introjektiv Aufgenommenen erfolgen. Heimann (1942) hat den Mecha nismus der Assimilierung von inneren Objekten eingeführt, der für die Ausbildung von Ich-Funktionen und für die Erlangung von Unabhän gigkeit wichtig sei. Dieser Vorgang sollte als Identifikation bezeichnet werden. Das Über-Ich wird so zu einem Teil des Ich oder Selbst, und dasselbe gilt für alle Aspekte eines Objekts, die in einer Objektbeziehung nach introjektiver Aufnahme durch eine identifikatorische Assi milation zu einer Bereicherung, einer Ich-Erweiterung führen. Erst die Identifikation also erweitert das Ich (s. o. Sandlers [1987b] Defini tion), das Introjekt dagegen bleibt als etwas Abgespaltenes im Selbst zurück, wenn Assimilation bzw. Modifikation oder Trennung von ihm nicht möglich sind. In der weiteren Entwicklung, ich denke besonders an die Adoleszenz, muss es auch möglich sein, Objektaspekte – wie beispielsweise Wertvorstellungen der Eltern – nicht nur zu assimilie ren, sondern sich auch von ihnen zu lösen oder sie zu modifizieren. Das Introjekt als fremdkörperartiges Gebilde, Abkömmling uner träglicher Gewalt oder unbetrauerter Verluste, erzeugt wie ein feindli ches Über-Ich Selbstwerterniedrigung, Strafbedürfnis, Aggression und Schuldgefühl. Man kann Freuds Bild der Spannung zwischen Über-Ich und Ich durchaus übertragen. Introjekte verursachen immer massives Schuldgefühl. Eine Identifikation mit dem Introjekt wird das Schuld gefühl, die Spannung, vermindern und das Ich zunehmend zur Ruhe kommen lassen. Ausgehend von Freud (1917e), der eine Spaltung zwischen Ich und kritischem Ich-Anteil wie zwischen zwei Objekten beschrieb, hatte auch Radó (1927) eine Unterwerfung des melancho lischen Ich unter das Über-Ich wie unter eine andere Person konzipiert (s. o. Teil II, S. 85 f). Die Unterwerfung beruht auf einer Identifika tion mit dem Über-Ich. Sandler (1960, S. 736; Hervorhebung origi nal) nennt sie Über-Ich-Identifikation, die er als »eine Verbindung von Introjektion einerseits und einer entsprechenden ›Ich‹-Identifizierung andererseits« ansieht.
Identifikation mit dem Aggressor Da das Introjekt einem ursprünglich äußeren Angreifer entspricht, liegt es nahe, den Begriff der Identifikation mit dem Aggressor zu unter suchen, der aber zwei ganz verschiedene Konzepte benennt, die sich einmal auf Anna Freud, zum anderen auf Ferenczi zurückführen lassen. Die Einführung dieses in Zeiten wachsenden Interesses für eine
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psychoanalytische Traumatologie hochaktuellen Terminus wird meist Anna Freud (1936) zugeschrieben (z. B. Heigl-Evers 1965; Moeller 1977; Rohde-Dachser 1979; Grubrich-Simitis 1979; Sandler 1983; Blum 1987), die ihn in »Das Ich und die Abwehrmechanismen« als Form der Bewältigung der Angst von Kindern vor Autoritätsper sonen beschrieben hat. So verstanden lässt er sich durchaus bereits in Freuds Werk aufspüren: In »Jenseits des Lustprinzips« (1920g) führt Freud ein Beispiel für die Wendung von der Passivität zur Aktivi tät an: Nach einem unangenehmen, auch erschreckenden Arztbesuch würde ein Kind diesen bestimmt zum Gegenstand des nächsten Spiels mit dem Spielgefährten machen. »Indem das Kind aus der Passivi tät des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses Stellvertreters« (S. 15). Auch hier setzt sich das Opfer an die Stelle des Täters, und das Moment der Rache spielt auch eine Rolle. Auf dieses kleine Beispiel nimmt auch Anna Freud (1936, S. 296) Bezug. In der Konzeption der Über-Ich-Bildung durch Freud (z. B. 1930a, S. 486) spielt die Identifizierung eine große Rolle, nicht gerade mit einem »Angreifer« vielleicht, aber doch mit dem durch die Erziehung als einschränkend und strafend erlebten Elternteil, Identifizierung als wichtiges Moment, seine Liebe, also die Beziehung zu ihm, zu erhal ten (vgl. S. 76). 1930 hat Landauer in einem Vortrag die Eltern, die zu einem recht strengen Über-Ich eines Patienten beigetragen haben, doch ziemlich drastisch als traumatisierend beschrieben und konnte deshalb – erstmals, soweit ich weiß – den Begriff der »Identifikation mit dem Bedroher« (Landauer 1930b, S. 197) formulieren als Aus weg aus der Ambivalenz des Kindes dem strengen, aber doch geliebten Vater gegenüber. Vor Anna Freud hat dann Ferenczi 1932 in seinem in diesem Buch zentral gewürdigten Vortrag »Sprachverwirrung zwi schen den Erwachsenen und dem Kind« (Ferenczi 1933) die Abwehr vorgänge der Internalisierung realer traumatischer Gewalt eindrücklich beschrieben: »… sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren« (S. 308), die Opfer reagieren »mit ängstlicher Identifizierung und Introjektion des Bedrohenden oder Angreifenden›« (S. 309; Hervorhebung original). Anna Freud veröffentlichte drei Jahre später ein ganz anderes Ver ständnis der »Identifizierung mit dem Angreifer«, womit sie diesen Mechanismus den bekannten Abwehrformen hinzufügte (Sandler 1983, S. 587). Ferenczi wurde nicht zitiert, sodass man die umfang reiche Liste der psychoanalytischen Autoren, die Ferenczi »wie einen Steinbruch« verwendeten, aber nicht zitierten (Cremerius 1983), um
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den Namen Anna Freuds verlängern muss. Dass sie ihn nicht berück sichtigt hat, kann meines Erachtens nur daran liegen, dass gerade diese seine letzte Arbeit nicht mehr als »psychoanalytisch« angesehen wurde. Anna Freud (1936) beginnt mit dem Beispiel eines grimassierenden Jungen, der den Tadel des Lehrers in den Griff bekommen will, indem er dessen ärgerlichen Gesichtsausdruck unbewusst nachahmt, ähnlich wie ein Kind mit Gespensterangst sich vorstellt, selbst ein Gespenst zu sein, um seine Angst zu verlieren (das zweite Beispiel A. Freuds). Hier liegt eine Identifikation mit dem Gegenüber, welches angreifen könnte, vor; in einem weiteren Beispiel ist es die Identifika tion nicht mit der Person, sondern mit deren Aggression: Ein Knabe reagiert auf einen Zahnarztbesuch mit dem blinden Zerstören von Bindfäden und Bleistiften; derselbe Junge legt nach einem Zusammen prall mit dem Lehrer im Sportunterricht Spielzeugwaffen und -rüstung an, um sich mit diesen männlichen Attributen vor ähnlichen Unfällen zu schützen. Das Gemeinsame dieser Fälle liegt in der Wendung von der Passivität zur Aktivität: »Mit der Darstellung des Angreifers, der Übernahme seiner Attribute oder seiner Aggression verwandelt das Kind sich gleichzeitig aus dem Bedrohten in den Bedroher« (A. Freud 1936, S. 296). Die Aggression, der die bisher von Anna Freud erwähnten Kinder ausgesetzt waren, ist ziemlich geringfügig: der Tadel des Lehrers, ein phantasiertes Gespenst, der Zahnarzt und ein kleiner Unfall mit einer Autoritätsperson. Das Mittel der Bewältigung der resultierenden Angst oder Kränkung ist die Wendung der erlittenen und dann identifikatorisch ausgelebten Aggression nach außen gegen den Angreifer zurück. In zwei weiteren Beispielen verwandeln die Kinderpatienten die Angst vor Strafe durch Erwachsene in Aggression: Der eine hat beim Spielen die Zeit vergessen, er kommt viel zu spät nach Hause und ver anstaltet eine wilde Klingelei an der Haustür; als das Hausmädchen öffnet, überhäuft er sie mit Vorwürfen, sie habe ihn warten lassen. Der andere denkt an masturbatorische Unternehmungen, und aus Angst vor Bestrafung beginnt er, Mutter und Großmutter zu schlagen und »attackiert die Analytikerin als brüllender Löwe« (A. Freud 1936, S. 298), schließlich fängt er an, mit Messern zu hantieren. Anna Freud lässt es nicht ganz klar werden, wie groß die reale Gefahr der Bestrafung für die Onanie eigentlich ist: »Seinen Erfahrungen nach werden die Erwachsenen böse, wenn sie solche Hand lungen bei einem Kind entdecken. Man wird angebrüllt, mit Ohrfeigen einge schüchtert, mit der Rute geschlagen; vielleicht wird einem auch etwas mit einem Messer abgeschnitten. Die Aktivität mittels Gebrüll, Rute und Messer dient also der Darstellung und Vorwegnahme seiner Befürchtungen« (S. 298).
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Angebrüllt-Werden und einen Klaps mag er vielleicht real erfahren haben, aber das Abschneiden … Es geht jedenfalls auch hier um den erwarteten Tadel oder die Bestrafung, die, wie Anna Freud ausführt, introjiziert und dann »gegen dieselben Personen seiner Außenwelt« (S. 298) zurückgewendet werden. Und zwar deshalb, weil in einer Art Zwischenstufe der Über-Ich-Bildung zwar begriffen wird, dass etwas Tadelnswertes geschah, die Fähigkeit zur Selbstkritik bei den Kindern aber noch nicht vorhanden ist, sodass »mit Hilfe eines neuen Abwehrvorgangs der aktive Angriff auf die Außenwelt« (S. 299) notwendig wird. In den letzten drei Beispielen sind die attackierten Erwachsenen nun gar nicht mehr in irgendeiner Weise Aggressoren; die Jugendlichen reagieren auf eine phantasierte Kritik der Erwachsenen mit der aggres siv vorgebrachten projektiven Zuschreibung eben der Eigenschaften, die eigentlich die ihren sind, werfen der Mutter also Neugierde vor, haben dabei jedoch selbst voyeuristische Gelüste, oder der Analyti kerin Geheimnistuerei, während sie tatsächlich selbst wichtige Dinge heraushalten. Nun stellen sie sich die Kritik der Erwachsenen vor, mit der sie sich identifizieren; da aber noch kein entwickeltes Über-Ich vor handen ist, ist das Ich »intolerant gegen die Außenwelt, ehe es streng gegen sich selber wird«, es ist ein »Vorläufer und Ersatz des Schuldge fühls« (A. Freud 1936, S. 301). »Die Identifizierung mit dem Angrei fer ergänzt sich durch ein anderes Abwehrmittel, durch die Projektion der Schuld« (S. 301), der ganze Mechanismus setzt sich also aus zwei Komponenten zusammen: Identifikation und Projektion im Sinne der Schuldzuweisung. Die Identifikation mit dem Angreifer dient Anna Freud zufolge eher der Regulierung der Konflikte mit den äußeren Objekten als der der Triebäußerungen. Sieht man sich das Verhalten der äußeren Objekte einmal an, so ist es so aggressiv nicht, es handelt sich eher um Befürchtungen vor Strafe innerhalb eines unsicheren Tastens, wieweit aggressive und libidinöse Regungen erlaubt sein werden. Denn wären die Erwachsenen wirkliche Aggressoren, hätte das Kind wohl keine Chance, seine Aggression derart gegen diese zu richten, es müsste eine vernichtende Antwort fürchten. Anna Freud scheint mir eine Zwi schenstufe, wie sie sagt, der Bildung eines durchschnittlichen ÜberIch zu beschreiben, es scheint sich um Kinder zu handeln, die »gute Beziehung[en]« (1936, S. 299) zu den Eltern haben und deren Störun gen bestenfalls dem entsprechen, was man Neurose nennt. Der Han delnde ist immer das Kind, das Ich tut etwas, die mäßige Aggression der Erwachsenen ist reaktiv, wenn nicht überhaupt nur befürchtet. Bei Ferenczi geht es ganz anders um »tatsächliche Vergewalti
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gungen von Mädchen, die kaum dem Säuglingsalter entwachsen sind, ähnliche Sexualakte erwachsener Frauen mit Knaben, aber auch for cierte Sexualakte homosexuellen Charakters« (1933, S. 308). Darüber hinaus sind es »unerträgliche Strafmaßnahmen …, die spielerischen Vergehungen des Kindes werden durch die leidenschaftlichen, oft wutschnaubenden Strafsanktionen erst zur Realität erhoben« (S. 310), und der »Terrorismus des Leidens«, das heißt die Einwirkungen chronischer, auch hypochondrischer Erkrankungen, von Depression und Suizidalität der Erwachsenen auf das Kind (vgl. Teil II, S. 187). Da die Kinder notgedrungen, »um die verlorene Ruhe und die dazugehörige Zärtlichkeit wieder genießen zu können« (Ferenczi 1933, S. 312), versuchen, die Defizite und Konflikte der Familie zu reparieren, »die Last aller anderen auf ihre zarten Schultern zu bürden« (S. 312), kann »eine ihre Leiden klagende Mutter … sich aus dem Kind eine lebens längliche Pflegerin schaffen, die Eigeninteressen des Kindes gar nicht berücksichtigend« (S. 312). Und Ferenczi nimmt das Rollenumkehrkonzept vorweg, wenn er schreibt: »Die Angst vor den … gleichsam verrückten Erwachsenen macht das Kind sozusagen zum Psychia ter« (S. 311). Es sind also in Ferenczis Konzeption der Identifika tion mit dem Aggressor unübersehbar die Erwachsenen, die handeln, und deren Aggression im Vergleich zu den Verhältnissen, die Anna Freud beschreibt, wahrlich destruktiv sind. Ein Begriff, zwei völlig verschiedene Welten Beide Autoren sprechen in ihren Auffassungen der Identifikation mit dem Angreifer von Kindern, die, mit Aggression konfrontiert, Mög lichkeiten der Bewältigung entwickeln. Beide Autoren verwenden die Begriffe Identifikation und Introjektion synonym, wie es der Ent wicklungsstand der psychoanalytischen Theorie der 1930er Jahre, als Beziehungs- und Internalisierungsvorgänge noch nicht weiter diffe renziert waren, nicht anders zuließ. Anna Freud (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290) sagt in den Seminaren mit Sandler über ihr Buch 36 Jahre später: »Wir haben natürlich die Termini Identifizierung und Introjektion völlig gleichbedeutend verwendet.« Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Der gravierendste Unterschied scheint mir in der Qualität der Aggres sion bzw. der Art des Aggressors zu liegen. Bei Anna Freud ist es die von den Kindern befürchtete Kritik, der Tadel (vielleicht auch einmal wirklich Schläge) oder aber die phantasierte Kastration aufgrund eige nen schuldhaften Fehlverhaltens, das sich aus aggressiven und sexu ellen Triebregungen (Masturbation) herleitet. Die von Anna Freud zuerst geschilderten drei Beispiele liegen noch etwas anders, hier geht
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die Aggression von den Erwachsenen aus, der Lehrer oder der Zahn arzt (das Gespenst klammern wir hier einmal aus), aber das Maß der Aggression kann hier als harmlos gelten. Die Aggression dagegen, die Ferenczi meint, ist die einer realen massiven Traumatisierung inner halb einer lebensnotwendigen Objektbeziehung, die diese zu zerstö ren droht. Wegen der unterschiedlichen Qualität der Aggression sind jeweils völlig verschiedene Abwehrmaßnahmen erforderlich oder auch nur möglich. Weil die Aggression, die ja zum Teil lediglich befürch tet ist, bei Anna Freuds Konzept ein derart geringes Ausmaß hat, kann die Identifizierung darin bestehen, dass das Kind sie als berechtigt anerkennt (»Identifizierung mit der erwarteten Kritik«, Sandler mit A. Freud 1985, S. 293), sie nun übernimmt, sei es im Spiel oder im Agieren, und selbst so offen aggressiv ist, wie es das vom »Angreifer« erwartet. Das kann es sich leisten, gefährdet es doch nicht die offenbar durchschnittlich guten Beziehungen, die sogar dann erhalten bleiben, wenn die Aggression nun gegen die Bezugspersonen selbst gerichtet wird. Im Gegenteil, das Ich des Kindes legt die Ursache, die Schuld für seine Impulse gerade in die Autoritätsperson, deren Kritik es fürchtet. Anna Freud (1936, S. 301 f.) spricht tatsächlich von »Selbstwahrneh mung der eigenen Schuld« und »Wahrnehmung des eigenen Verge hens«. Die »Schuld«, auch Verantwortung, wird erst identifikatorisch anerkannt, in einem zweiten Schritt aber projektiv nach außen gewen det. Sandler formuliert im Seminar mit Anna Freud: »Aber Projektion von Schuld ist nicht die Projektion eines Gefühls …, sondern vielmehr eine Externalisierung von Verantwortlichkeit. Was da geschieht, ist keine Projektion von schlimmen Schuldgefühlen, sondern sie werden beseitigt, indem die Verantwortung dafür externalisiert wird.«
Durch die Projektion auf den angenommenen Aggressor findet nun ein Rollentausch statt: Das Kind verwandelt sich »aus dem Bedrohten in den Bedroher« (A. Freud 1936, S. 296). Das traumatisierte Kind in Ferenczis Konzept dagegen bleibt pas siv, es bleibt Opfer und hat eben keine Möglichkeit der offen aggres siven Abwehr: »Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilf los, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Auto rität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne« (Ferenczi 1933, S. 308). Und das Ausmaß der Gewalt lässt keine offene Aggression zu. Formen der Identifikation Die Qualitäten des Begriffs Identifikation oder Identifizierung sind bei den beiden Autoren völlig verschieden. Ferenczi beschreibt einen
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Vorgang der gewaltsamen Ich-Grenzen-Überschreitung, zu dem heute der Begriff der Identifikation nicht mehr passt. Vielmehr muss man von Introjektion der Gewalt, von In-sich-Aufnehmen, und zwar nach ihrer gewaltsamen Implantation von außen sprechen. Nach dem Konzept Ferenczis gelangt also die Aggression des Täters in das Selbst hinein, während es Anna Freud zufolge gerade nicht die Aggression der Beziehungspersonen ist: Sandler klärt im Seminar mit Anna Freud später: »Ich möchte gerne klargestellt haben, daß es nicht die elterliche Aggression als solche ist, die introjiziert wird« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290). Und noch etwas wird Ferenczi zufolge introjiziert: Die Schuld des Täters wird übernom men; Ferenczi spricht (1933, S. 309) von »Introjektion des Schuldge fühls des Erwachsenen«. Dadurch wird dieser entlastet, eine Beziehung zu ihm ist weiter möglich. Bei Anna Freud dagegen ist es das Kind, welches seine Schuld (sofern man überhaupt davon sprechen kann; besser wäre hier Schuldgefühl) dem »Aggressor« zuschiebt, wie wir gesehen haben. Bei Ferenczi ist es umgekehrt; Shengold (1989a, S. 194), ein Autor, der im Geist Ferenczis denkt, formuliert: »Der Seelenmörder schiebt dem Kind die Schuld zu.« Das Kind ist primär unschuldig, anders als bei Anna Freud, bei der die Triebimpulse des Kindes allzu leicht mit Schuld, nicht einmal nur mit Schuldgefühl, in Verbindung gebracht werden. Während bei Anna Freud die Identifikation, noch dazu gefolgt von der Projektion unbequemer, störender Inhalte nach außen, eine Ich-Sta bilisierung bewirkt, kann man sagen, dass die Traumatisierung entspre chend Ferenczis Konzept eine Bedrohung der Ich-Kohärenz bedeutet, was ich aus Ferenczis Ausdruck »sich selbst ganz vergessend« (1933, S. 308) ableite. Shengold (1979; 1989a) hat als Wesen des »Seelenmords«, um den es Ferenczi in der Tat gegangen ist, den Angriff auf das zentrale Identitätsgefühl, die primäre Identität, genannt. Wesent lich ist weiterhin, dass das Opfer annehmen muss, dass der Täter nicht registriert (Shengold 1979) – im Sinne von: nicht wahrhaben will oder kann –, was geschieht; das hat Ferenczi in dem Bild der »Sprach verwirrung« über die beiden Begriffe der Liebe ausgedrückt. Identifizierung bezeichnet bei Anna Freud eher eine Anerken nung und nachahmende Übernahme der befürchteten Aggression des Erwachsenen, wie Sandler (Sandler mit A. Freud 1985, S. 290) feststellt. Es ist eine sekundäre Identifizierung mit dem äußeren Objekt, ein Vorläufer des Über-Ich (A. Freud 1936, S. 298; Sandler mit A. Freud 1985, S. 292) und damit eine Ich-Erweiterung in einem stabili sierenden Sinne. Bei Ferenczi dagegen hat die Identifikation, die auf die traumatische Implantation und die Introjektion der Gewalt folgt,
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den Charakter der Ich-Veränderung, der Ich-Schwächung. In seinem »Klinischen Tagebuch«, das in den Monaten vor dem Wiesbadener Kongress niedergeschrieben wurde und offenbar eine Material- und Gedankensammlung für den Vortrag darstellt, verwendet Ferenczi den Begriff der Unterwerfung, und ich denke, er bezeichnet damit die Art der archaischen, umfassenden, Ich-zerstörenden primären Identi fikation mit dem traumatischen Introjekt, um die es geht: »Unterwerfe ich mich seinem Willen so vollkommen, daß ich zu existieren aufhöre, widersetze ich mich ihm also nicht, so schenkt er mir vielleicht das Leben« (Ferenczi 1985, S. 155). Bei Anna Freud macht sich »das Kind … zum Aggressor, um sich zu schützen« (A. Freud in Sandler mit A. Freud 1985, S. 283), bei Ferenczi ist und bleibt das Kind das Opfer, um den Täter bzw. die Beziehung zu ihm zu schützen. Die introjizierte Gewalt verursacht von innen Selbstwerterniedrigung und massives Schuldgefühl, während die Identifizierung mit dem Angreifer nach Anna Freud gerade Schuld gefühle verhindert. Interessanterweise findet man den Vorgang einer primären Identi fikation und Wendung der Aggression gegen das Selbst in der Regel nicht, wenn es um die Aggression männlicher Jugendlicher geht. Männliche Jugendliche wenden die Aggression, die sie einmal zum Opfer gemacht hatte, in der Identifikation mit dem Aggressor gemäß Anna Freud nach außen, ziehen es vor, ein mächtiger Täter zu sein, sich ohne Schuldgefühl im Recht zu fühlen. Einer Anregung A. StreeckFischers folgend (persönliche Mitteilung 1995) nehme ich darüber hinaus an, dass auch die Möglichkeit des direkten, impulshaften Aus bruchs der introjektartig internalisierten Gewalt äußeren Objekten gegenüber besteht. Ich denke an das Beispiel einer Patientin, eines Opfers des jahrelangen sexuellen Missbrauchs durch den Vater, die in einem unkontrollierten Impulsdurchbruch ihrem ungefähr einjährigen Sohn, der vor ihr nackt auf dem Wickeltisch lag, mit einem Schlüssel bund ins Gesicht schlug, sodass er einen Zahn verlor (Hirsch 1987). Es kann sein, wie auch bei dieser Patientin, dass die Aggressionsbereit schaft (äußeren Objekten gegenüber) hinter einer Fassade der Anpas sung verborgen ist; das trifft auch auf Typ 2 der Jugendlichen zu, deren auf sekundärer Identifikation beruhende fassadenartige »Mimikry«Verkleidung (Streeck-Fischer 1995) aufgrund besonderer Umstände von der verborgenen Aggressivität durchbrochen werden kann. Das ist aber zu unterscheiden von der Täter-Opfer-Umkehr aufgrund einer sekundären Identifikation, etwa entsprechend dem Motto: »Mir haben die Prügel nicht geschadet, also prügele ich auch meine Kinder, damit mal was aus ihnen wird«, während der Impulsdurchbruch zu einer Aus
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sage passen würde wie: »Ich hatte mir so vorgenommen, meine Kinder nie zu schlagen, so wie ich immer geschlagen worden bin, aber es pas siert mir immer wieder, ohne dass ich es kontrollieren kann …« In die Gespräche von Anna Freud mit Sandler in den Semina ren von 1972/73 fließen die Fortschritte der Theoriebildung der Psy choanalyse seit den 1930er Jahren ein. In den Seminaren versucht Sandler entsprechend der inzwischen getroffenen Unterscheidung von Identifikation und Introjektion mehrfach, von Anna Freud zu erfahren, wie weit sie die Über-Ich-Bildung im Zusammenhang mit der Identifikation mit dem Angreifer schon vorangeschritten sieht, wie weit »das Gewissen von der Person als Teil ihrer selbst erfahren wird, oder als eine innere Stimme, die in bestimmter Weise von ihr unabhän gig ist, ihr fremd ist« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 286). Das heißt, ersteres wäre identifikatorisch assimiliert, letzteres noch introjektartig. Sandler meint: »Identifizierung mit dem Angreifer kann sich auch in der Form von Identifizierung mit dem Über-Ich-Introjekt zeigen. Man kann mit ihm und mit seiner Angst vor ihm sehr wohl so umgehen, indem man sich gegen andere wendet und sie attackiert« (S. 285). Aber Anna Freud will ihm nicht so recht folgen und bleibt bei der Auffas sung, dass die Vorstufe des Über-Ich projiziert wird. In den Seminaren kann jedoch auch Anna Freud nicht immer an dem klassischen Konzept festhalten, sondern muss die Möglichkeit des realen Traumas und einen Zusammenhang mit der Identifikation mit dem Aggressor anerkennen. Sie erwähnt nun den Fall eines extrem aggressiven Jungen, dessen Vater brutal aggressiv zur Mutter und zum Jungen selbst war, »wo wir meinen, es sei eine Reaktion auf oder eine Identifizierung mit der Aggres sion seines Vaters … Was ist es nun? Ist es das Verhalten des Vaters, das die eigene Aggression des Kindes weckt, so daß es dann diese gewalttätigen Hand lungen begeht? Oder erweckt der Vater in dem Jungen ein solches Ausmaß von Angst, daß es nur noch durch Mobilisierung der eigenen Aggression bewältigt werden kann? Das sind ganz schwierige Fragen« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 291).
Eine Möglichkeit für Anna Freud wäre schon 1936 gegeben, schwere Selbstdestruktion durch den von ihr beschriebenen Abwehrmechanis mus der »Wendung gegen das eigene Selbst«, den sie aber nicht mit der »Identifikation mit dem Aggressor« verbindet, theoretisch zu fas sen. Die Wendung der erfahrenen Gewalt gegen sich selbst wäre ja die Fortsetzung der Vergewaltigung durch den Täter aufgrund einer Identifikation mit dem Aggressor gemäß Ferenczi. 36 Jahre später aber denkt Anna Freud an eine Kinderpatientin und kann den äußeren Einfluss viel eher mitdenken:
116 Schuldgefühl »Dieses Kind hatte auch ein geringes Selbstwertgefühl, weil es ungeliebt war, weil es in den Augen der Eltern ein entwertetes Objekt war. Die Mutter wollte einen Jungen, aber sie ist ein Mädchen, und so weiter. Zu diesem Gefühls hintergrund …, der aus der Vergangenheit stammt, kommt nun die Aggression hinzu, die von Rechts wegen nach außen auf die Personen gerichtet sein müßte, die sie herabsetzen, enttäuschen und zu wenig lieben. Wenn wir dann das End ergebnis vor uns haben, ist es schwer zu sagen, was davon aus dem Gefühl der Herabsetzung stammt, das sich aus ihrer Identifizierung mit dem Bild herleitet, das die Eltern von ihr haben, und was danach durch die auf das Selbst abgelenkte Aggression hinzugekommen ist« (Sandler mit A. Freud 1985, S. 153 f.).
Die Wendung der Aggressionen gegen das eigene Selbst, die eigentlich die Liebesobjekte verdient hätten, stellt also eine gewisse Nähe zum Konzept Ferenczis her. Und auch umgekehrt gibt es im Falle schwe rer traumatischer Gewalt eine Annäherung der Konzepte: Es kann eine sekundäre Identifikation mit dem Aggressor erfolgen, die eher Anna Freuds Konzept entspricht, durch welche das Opfer später die einmal erlittene Gewalt gegen Schwächere richtet, wieder nach dem Motto: »Mir haben die Prügel nicht geschadet …« »Identifikation mit dem Opfer« Eine andere Möglichkeit, an Anna Freuds Konzept festzuhalten und gleichwohl schwere äußere Traumata anzuerkennen, wäre die Annahme einer Identifikation mit dem Opfer. Die Identifikation mit dem Aggres sor, die Ferenczi meint, das Unterwerfen und die identifikatorische Übernahme des Gewaltsystems, sodass ein Teil des Selbst fortwährend einen anderen schädigt, nennt Blum (1987) Identifikation mit dem Opfer, die auch später immer wieder Misshandlungen durch andere herausfordere. Auch Wurmser (1987, S. 46) sieht die Identifikation mit dem Opfer als Spiegelbild zur Identifikation mit dem Aggressor, verbunden mit der Wendung gegen die eigene Person. Blum (1987) dagegen versteht Identifikation mit dem Aggressor im Zusammenhang mit Misshandlung als Wiederholung der Gewalt in der nächsten Gene ration, als Wendung also der einmal erlittenen Aggression nach außen, aber auf den Schwächeren, das eigene Kind. (Das hatten wir bereits als sekundäre Identifikation bezeichnet.) Meines Erachtens ist der Begriff einer Identifikation mit dem Opfer unglücklich und fast eine Verlegen heitslösung, um Ferenczi nicht heranziehen zu müssen, denn wo ist das Opfer, mit dem sich jemand, wenn er sich selbst beschädigt, identi fiziert? Er selbst ist doch Opfer gewesen, als er als Kind traumatischer Gewalt ausgesetzt war. Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor Mei nes Erach tens bedarf es einer Kon struk tion der Identifikation
Introjektion 117
mit dem Opfer auch nicht, wenn man zwei Formen der Identifikation annimmt: eine primäre verschmelzende und eine sekundäre, das Ich abgrenzende. Sandler (in: Geerts u. Rechardt 1978, S. 366), der im übrigen mit Anna Freuds Konzept weitgehend übereinstimmt, hatte selbst eine andere Form der Identifikation mit dem Aggressor abge grenzt, die in akuten Situationen massiver Traumatisierung auftritt: In einer »automatischen primären Identifikation im Moment des Trau mas« gehen die Selbst-Objekt-Grenzen verloren. Das heißt, in der aku ten Traumatisierung sind Täter und Opfer nicht mehr unterschieden. In der Diskussion des Vortrags Ferenczis spricht Cremerius (1983, S. 993) von der »Identifikation mit dem Angreifer, vor allem in der frühen Form der Internalisierung«. Das ist zwar etwas unscharf ausge drückt, meint aber wohl die Selbstgrenzen aufhebende Überwältigung durch den Täter bzw. das regressive Sich-selbst-Aufgeben angesichts des Traumas. Die primäre Identifikation ist eben gekennzeichnet durch das Fehlen oder wenigstens die große Durchlässigkeit der Ich- oder Selbst-Grenzen. Müller-Pozzi (1988, S. 75) spricht von »globaler Identifikation« in »Abhebung von den selektiven partiellen Identifizie rungen, die dem Ich Stärke und dem Selbst Charakter geben«. Damit sind meines Erachtens Beschreibungen der verschiedenen Qualitäten der Identifikation gegeben, die sich vollständig auf die verschiede nen Arten der Identifikation mit dem Aggressor nach Anna Freud respektive Ferenczi anwenden lassen. Die erstere entspricht dem Charakter der sekundären, Ich-stärkenden und -erweiternden Identi fikation mit dem äußeren Objekt, das ist die Identifikation mit dem Aggressor, zu der männliche Jugendliche eher neigen, man kann sie »männlich«-sadistisch nennen. Letztere dagegen ist eine Identifikation mit dem malignen traumatischen Introjekt und hat den Charakter der primären, verschmelzenden Identifikation, das ist die Identifikation mit dem Aggressor nach Ferenczi, das Opfer bleibt Opfer; da eher Frauen zu dieser Form der Identifikation greifen, kann man auch von einem »weiblich«-masochistischen Modus sprechen. Ich möchte nun zwei kleine Fallbeispiele, jeweils einmal à la Ferenczi und einmal à la Anna Freud vorstellen: Eine Patientin überweist der Mutter jeden Monat einen beträchtlichen Geldbetrag; sie hat starke Schuldgefühle, sie allein g elassen zu haben. Sie fühlt sich außerdem verpflichtet, sich um die Schwester zu kümmern, materiell und mit Gesprächen, weil es ihr so schlecht geht. Als Kind hat ihr die Mutter immer vorgeworfen, dass sie schuld an ihrem Unglück sei, denn wegen der Schwangerschaft mit ihr habe sie heiraten müssen und sich auch später nicht von dem alkoholkranken Ehemann trennen können. Beschimpfungen und Prügel waren an der Tagesordnung, wäh rend die viel später geborene Schwester immer bevorzugt wurde. Hätte sich die Patientin mit der Mutter entsprechend Anna Freud identifizieren können, würde sie
118 Schuldgefühl heute sagen: »Du hast mir damals nichts gegeben, deshalb gebe ich dir heute auch nichts. Du hast mich damals geprügelt, nun bin ich auch aggressiv zu dir!« Sie hat aber eher eine Haltung, als ob sie sagen würde: »Ich war damals so schlecht, dass ich die Prügel verdient hatte; eigentlich hattest du viel zu geben, aber es lag an mir, dass ich es nicht bekommen habe. Um meine Schuld wiedergutzumachen, gebe ich dir Geld und kümmere mich …« Allerdings war das nicht alles; die Patientin zog auch einen beträchtlichen Gewinn aus dem Gefühl, eine bessere »Mutter« zu sein als die eigene damals. Ein weiteres Beispiel: Ein Junge wurde von seinem Vater immer schwer geprügelt, damit einmal ein »richtiger Mann« aus ihm würde. Zur Strafe für kleine Verge hen musste er auf Holzscheiten knien, oft musste er hungrig in sein ungeheiztes Zimmer frühzeitig schlafen gehen. In der Adoleszenz wuchsen ihm die Hände, wurden so groß, wie Vaters Hände waren. Er hasste seine Hände, hätte sie am liebsten abgeschnitten, verletzte sich dauernd an ihnen – das ist Identifikation mit dem Aggressor à la Ferenczi. Hätte er die Ich-Stärke besessen, die den Kindern aus Anna Freuds Arbeit zur Verfügung stand, hätte er gesagt: »Warte, Alter, wenn du noch einmal zuschlägst, schlage ich zurück!« Oder hätte andere Kinder geschlagen. Und er hätte das Holzscheit genommen und es dem Vater an den Kopf geworfen! Das hat er aber nicht getan, sondern er drückte im Gegenteil, wenn er sich am Knie verletzt hatte, noch kleine Steinchen hinein, damit es richtig weh tat. Und er deckte sich in seinem kalten Zimmer mit Absicht nicht zu, sondern dachte: »Vater soll mal sehen, dass ich ein richtiger Mann werde, ich bleibe die ganze Nacht aufgedeckt!« Wäre es nach Anna Freud gegangen, hätte er dem kleinen Bruder das Abendbrot weggenommen und die Bettdecke dazu. Oder er hätte den Vater so lange beschimpft, bis er sein Essen bekommen hätte … Aber der Vater war mächtiger, der Junge hatte keine Chance.
Subtile Traumata Die Art der traumatischen Einwirkung, die bisher untersucht wurde, war eher eine grobe, sozusagen sichtbare, wie körperlicher und sexu eller Missbrauch und »Terrorismus des Leidens«, also der Terror, den – Schuldgefühle generierend – die chronische oder auch nur hypo chondrische Krankheit eines Elternteils auf das Kind ausübt; das waren Ferenczis (1933) Beispiele. Schwere Verluste sind ebenfalls geeignet, Introjekte zu erzeugen, wie mehrfach erwähnt, auch Traumata in vor angegangenen Generationen – wir werden noch darauf zurückkommen (Teil II, S. 260 f.). Ferenczi (1985, S. 124) hat aber auch an subtilere Formen des Traumas gedacht, die zum Teil mit der groben Implanta tion einhergehen und diese ergänzen: »Das Resultat dieses Prozesses ist einerseits die Implantierung von unlustspendenden, Schmerz und Spannung erzeugenden Seeleninhalten in die Seele des Opfers, zugleich aber saugt sozusagen der Aggressor ein Stück, d. h. das ausgedrängte Stück des Opfers in sich ein. Daher der beruhigende Effekt des Wutauslebens
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auf den Wütenden, wenn es gelingt, dem andern einen Schmerz zu bereiten: Ein Teil des Giftes wird einer anderen Person implantiert …, zugleich annektiert der Aggressor … die naive, angstlose, ruhige Glückslage, in der bis dahin das Opfer lebte. Einfach ausgedrückt hieße das etwa: … man gibt sozusagen einem Hunde einen Fußtritt in einer Depression. Dadurch erreicht man, daß auch der andere leidet, was meinen Schmerz unbedingt lindern muß. Andererseits annek tiere ich bei diesem Akt die frühere Glückslage.«
Für meine Begriffe ist hier ähnlich wie in der Fußnote Freuds (1923b, S. 279) in »Das Ich und das Es« ein zwischenmenschliches Geschehen angedeutet, das sich in der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse als überaus bedeutungsvoll herausstellen sollte. Es geht hier um direkt kaum sichtbare Grenzüberschreitungen, die in einem Implantieren eige ner schlechter Inhalte in das Gegenüber bzw. einem Berauben »guter« Anteile und Aufnahme in das eigene Selbst bestehen. Die mythologi sche Entsprechung des Aussaugens ist unschwer im mythologischen Bild des Vampirs, einer übrigens bedürftigen, lebensunfähigen Gestalt, die nicht zur Ruhe kommen kann (das ist die mythologische Entspre chung des Introjekts) und die Unschuldigen, Lebendigen ihrer Lebens kraft beraubt, zu erkennen (Hirsch 2005). Faimberg (1987) hat ebenso unterschieden zwischen Aneignung des Kindes durch den narzisstisch bedürftigen Elternteil, das heißt einer Ausübung direkter ausbeuteri scher Gewalt, die ein Introjekt hinterlässt, und Intrusion, als Eindringen eines vom Erwachsenen nicht bewältigten, verdrängten und verleug neten traumatischen Komplexes, der, wie ich ergänzen möchte, mit Gewalt, Verlust und Schuld zusammenhängt und vom Kind introjektiv übernommen werden muss. Extraktive Introjektion Ferenczis Gedanke vom »Berauben des Guten« durch vampirartiges Aussaugen hat inzwischen ebenfalls eine theoretische Ausarbeitung gefunden, wenn deren Ursprünge in Ferenczis Arbeiten auch mit keiner Silbe erwähnt werden. Bollas (1987, S. 157 f.) schlägt eine Bezeichnung für eine subtile Interaktionsform vor: extraktive Intro jektion. Damit ist in gewisser Weise die Umkehrung der projektiven Identifikation gemeint: »Extraktive Introjektion geschieht, wenn eine Person … ein Element des psychischen Lebens eines anderen Individuums stiehlt. Eine derartige intersubjektive Gewalt findet statt, wenn der Täter (A genannt) automatisch annimmt, dass das Opfer (B genannt) keine innere Erfahrung mit dem psychischen Element hat, das A verlangt. Im Moment dieser Annahme findet der Diebstahl statt, und B kann
120 Schuldgefühl vorübergehend betäubt sein und unfähig, den gestohlenen Teil seines Selbst zurückzubekommen. Wenn solch eine Extraktion von einem Elternteil einem Kind gegenüber ausgeübt wird, kann es viele Jahre der Analyse dauern, bevor B den gestohlenen Teil seines Selbst zurückerobern kann« (Übersetzung M. H.).
Es werden von Bollas Beispiele angeführt: Raub der selbstkritischen Fähigkeiten eines Kindes durch ständiges Schimpfen über kleine Ungeschicklichkeiten des Kleinkindes in der Annahme, es sei nicht in der Lage, selbst zu sehen, dass es einen Fehler gemacht hat. Beraubung des »Spielerisch-Seins« (playfulness); jeder kann sich den Vater eines fünfjährigen Kindes vorstellen, das ihm freudig eine Kinderzeichnung bringt, während der Vater unwirsch sagt: »Gib mal her, so malt man das nicht, ich mach’ das mal für dich!« und dem Kinde Kreativität und Spontaneität raubt. Denkvermögen, Affektivität, psychische Strukturen, Teile des Selbst können Bollas zufolge Gegenstand des Beraubens sein. In der Literatur habe ich ein Beispiel gefunden, das das Berauben illustriert, und zwar das Berauben des Identitätsgefühls eines Kindes. Stolorow und Stolorow (1989) haben ein Mädchen, Jessica, in Therapie genommen, deren Bruder starb, als sie ein Kleinkind war, deren Eltern aber den Tod nicht wahrhaben wollten, sondern das Mädchen als die weiterlebende Verkörperung des Toten ansahen. »Jessica sehnte sich danach, das Gefühl zu haben, den Verlust ihres Bruders betrauern zu dürfen, um ihr eigenes Sein zu behaupten, aber dieser Trauerprozess war verboten, denn er würde die Forderung der Eltern verletzen, dass sie ihn am Leben erhalten sollte« (Stolorow u. Stolorow 1989, S. 324; Hervorhebung original; vgl. Teil II, S. 187 f.).
Es kam zu einer Introjekt-Bildung: »Aus unserer Sicht kann ein Introjekt verstanden werden als ein Bezirk der Schwäche in der Erfahrung eines Menschen, der ausgefüllt worden ist von Wahrnehmungen, Urteilen, Gefühlen oder Bedürfnissen von einem emotional wichtigen Anderen … Wenn die Validität der eigenen Wahrnehmungswirklichkeit angegriffen wird, ohne dass eine Verteidigung möglich ist, dann kann diese Erfahrung der psychologischen Vereinnahmung zunehmend dramatisiert und konkretisiert werden, bis sie schließlich den Punkt des Wahns erreicht. Das war der Fall mit Jessica. Ihre Eltern unterzogen ihre Erfahrung der Krankheit und des Todes ihres Bruders einer unbarmherzigen Behandlung des Ungültigmachens, und zwar in einem Ausmaß, dass sie zweifelte, dass er überhaupt gestorben sei. Im selben Maß schwächte das ebenso unbarmherzige Bedürfnis der Eltern, ihn zu erhalten, indem sie ihn im Grunde in ihr weiterleben sahen, ihre Erfahrung ihrer selbst als einer getrennten Person. Die resultierende Leere in ihrem subjektiven Universum war angefüllt durch Introjektion. In Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Eltern brachte sie Justin (den Bruder) innerhalb ihrer selbst zum Leben, schließlich wurde
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sie zu ihm, indem sie praktisch ihre eigene Existenz ausradierte« (S. 324; Übersetzung M. H.).
Es wird hier deutlich, wie durch die Beraubung ein leerer Raum entsteht, in den das Fremde, nämlich das der Eltern und des Bruders, introjektartig einströmen kann. Die Reaktion auf die Beraubung kann Bollas zufolge ein tiefsitzendes Rachebedürfnis sein, das Gestohlene zurückzuholen – »durch gewaltsames Eindringen in den anderen« (Bollas 1987, S. 166). Und Bollas formuliert exakt Ferenczis Gedanken, dass auch das »projektiv identifikatorische« Eindringen immer ein Berauben, wenigstens des Seelenfriedens, ist: »Dadurch, dass er unerwünschte Teile seines Selbst in eine andere Person befördert, erfreut sich der Projizierende eines begrenzten Maßes an Seelenfrieden, ein psychischer Zustand, der von dem Empfänger extrahiert wurde, der verwirrt zurückbleibt« (S. 167).
Projektive Identifikation Heute ist inzwischen das Einlagern der unbewältigten Inhalte in die Psy che des Objekts besonders mit dem Mechanismus der projektiven Iden tifikation (Ogden 1979; Kernberg 1987; Sandler 1987a) verbunden worden. Dabei geht es im wesentlichen um die Projektion unerträglicher Selbst- und Objektrepräsentanzen, gefolgt von subtiler interpersoneller Interaktion, die dazu führt, dass der Empfänger sich tatsächlich so fühlt und auch so handelt oder handeln möchte, wie es dem Projizierten entspricht. Die dritte Dimension der projektiven Identifikation ist die Re-Introjektion; nachdem das Gegenüber (»container«, Bion 1963) den empfangenden Inhalt aufbewahrt und durch seine differente Einstellung verändert hat, ist er so wieder für den ursprünglichen Sender aufnehmbar gemacht worden. Man denkt da hauptsächlich an zwei Vorgänge: Der Säugling ist überschwemmt mit Angst erzeugenden, mit psychischer Desintegration drohenden Erregungen, die von einer ruhigen, siche ren, liebenden Mutter empathisch angenommen und modifiziert, »ver daut« – nämlich als nicht weiter beunruhigend in ihrer Qualität – dem Säugling zurückgegeben werden. Eine wünschenswerte, sinnvolle, weil wachstumsfördernde Einrichtung. Die andere Version: Jemand wird mit seinen inneren Vorgängen, mit Angst, Neid, Wut nicht fertig und legt sie in den Anderen hinein – auch hier gilt das Säuglingsmodell, wenn es sich um »schwache« Sender und »starke« Empfänger handelt, zum Beispiel in einer therapeutischen Situation. Was aber, wenn in einer Partnerschaft so »Täter« und »Opfer« ent stehen, wie weit bleibt der Anspruch auf »containing« durch den ande
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ren legitim? Eine Traumatisierung, auf die ich hinaus will, geschieht ganz sicher, wenn der »Sender« der projektiven Identifikation der real Mächtige, der »Empfänger« entsprechend der Schwache ist, wie es in der Eltern-Kind-Beziehung gegeben ist. Das heißt, meine Frage ist, ob nicht projektive Identifikation auch von Eltern in Richtung Kind stattfinden kann. Die Traumatisierung würde auch hier in einer aller dings subtilen Grenzüberschreitung bestehen; das Kind müsste ver wirrt sein über außen und innen; die Ahnung über den Ursprung würde erstickt, wenn der Sender das im Empfänger Hervorgerufene verpönt und bekämpft, die eigene Urheberschaft verleugnend. Ogden (1979, S. 5) schildert den Druck, der auf ein Kind ausgeübt wird, »sich über einstimmend mit der Pathologie der Mutter zu verhalten, und die dau ernd vorhandene Bedrohung, für die Mutter nichtexistent zu werden, sollte das Kind dem nicht entsprechen … Unter dem Einfluß der the rapeutischen Interaktion spürt der Therapeut den Druck der Angst, für den Patienten nicht mehr zu existieren, wenn er sich nicht mehr in Übereinstimmung mit dessen projektiver Identifikation verhält.« Das heißt, in der therapeutischen Beziehung entsteht im Therapeuten unter Umständen vermittels projektiver Identifikation vonseiten des Pati enten ein analoges Gefühl, das der Situation des Kindes damals entspricht. Es lassen sich einige Bereiche vorstellen, in denen Erwachsene die eigenen Ängste und Konflikte durch projektive Identifikation mithilfe ihrer Kinder zu bewältigen versuchen. Trennungsängste der Eltern wer den entsprechende Hemmungen und Ängste sowie massive Schuldge fühle in bezug auf Autonomiewünsche entstehen lassen, wie wir später sehen werden. Körperängste, Angst vor Erkrankung der Eltern lassen im Kind hypochondrische Ängste entstehen (Hirsch 1989a). Haas (1994, S. 166) berichtet von hypochondrischen (karzinophoben) Äng sten des Therapeuten, ausgelöst durch die Ferienunterbrechung der Therapie einer Patientin, die den Verlust des durch Krebs verstorbenen Großvaters nicht betrauert hatte. Eigene sexuelle Ängste werden unter Umständen entsprechende Hemmungen im Kind erzeugen; umgekehrt kann eine sexuelle Familienatmosphäre im Sinne eines latenten Inzests (Hirsch 1987; 1993c) Sexualisierungen erzeugen, die wiederum von den nach außen »prüde« erscheinenden Eltern heftig bekämpft wer den. Ein weiterer Bereich, in dem häufig transgenerationale projektive Implantationen geschehen, ist der der Konflikte mit der (geschlechtli chen) Identität; besonders Mütter wirken auf ihre Töchter ein, Gefühle von Wertlosigkeit des eigenen Geschlechts vermittelnd, die dann jene im Spiegel sehen, in den sie selbst hineinschauen (vgl. Hirsch 1987; 2016).
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Ein Beispiel subtiler sexueller Übergriffe eines Vaters und die Wir kungen auf die Tochter (Dorothea L.) soll hier für viele stehen: Sie beste hen im wesent li chen in einer Ver un si che rung der Ich-Gren zen ent sprechend den chronischen Grenzüberschreitungen in der Kindheit; die Patien tin ist extrem verunsichert, wo das Böse liegt, wo es entstanden ist, ob es ihr eigenes oder ein fremdes ist. Als Kind war sie jahrelang verbalen sexualisier ten Verfolgungen durch den Vater und später körperlichen Übergriffen ausge setzt gewesen, obwohl – oder gerade weil – sie »eigentlich ein Junge sein sollte«. Kleinste Vergehen wurden von dem jähzornigen Vater stets mit schweren Prü geln geahndet. Die Mutter ordnete sich ihm ganz unter, »sie hatte keine eigene Meinung«. – Frau L. weiß nicht, ob das Böse in ihr ist oder außen. Ob sie die Familie zerstören möchte oder die Familie sie (beide könnten zur Polizei gehen: Die Patientin könnte den Inzest anzeigen, und die Familie könnte sie der falschen Anschuldigung bezichtigen). Sie hat Angst, dass sie in der Therapie mir gegen über durch ihre sexuellen Bedürfnisse Täterin werden könnte. Gleichzeitig hat sie immer wieder Angstträume von sexuellen Übergriffen in den Therapiesitzun gen. Sieht sie kleine Mädchen in der Straßenbahn, bekommt sie Panik, dass sie sie verführen könnte, so stark, dass sie die Bahn verlassen muss. Kürzlich hatte sie einen Traum: Es wuchsen ihr kleine schwarze Haare überall, es entstand ein heftiges Ekelgefühl. – Sie denkt daran, dass sie sich als Kind vor sich selbst ge ekelt hat, weil sie sich vor dem Vater geekelt hat … Sie denkt an Schamhaare und bekommt Panik. Als Jugendliche hatte sie das Gefühl, sie würde regelrecht zuwachsen, als ob alle sehen könnten, wie hässlich sie geworden sei. Sie ist des halb nicht mehr ausgegangen, hat keinen Badeanzug mehr angezogen. Es stellt sich heraus, dass die Schamhaare einerseits ihre eigene Sexualität bezeichnen, aber auch ihre Scham, gleichzeitig bedeuten sie eine Verbindung, eine Brücke, ein Brückenobjekt zum inzestuösen Vater.
Sexualisierung Im Zusammenhang mit dem traumatischen Introjekt lässt sich immer wieder eine Verbindung von Gewalt oder Verlust mit sexualisierter Sehnsucht, einem Begehren gerade des verlorenen, aber auch des für die gewalttätige Traumatisierung verantwortlichen Objekts finden. Im Falle des sexuellen Missbrauchs erscheint es klar, dass die Sexualität des Erwachsenen einen Hauptteil des Introjekts ausmacht, und Sexuali tät wird in solchen Fällen im späteren Leben immer wieder, trotz einer gewissen bewussten Abscheu und Verurteilung der eigenen Bestrebun gen durch einen Über-Ich-Anteil, suchtartig eingesetzt werden, um nar zisstische Bedürfnisse, solche der Selbstbestätigung, erfüllt zu bekom men (vgl. Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 112 u. 226). Aber auch in Fällen nicht sexueller Gewalt und schwerer Verluste kann es zu einer Sexualisierung kommen. Torok (1968) geht in ihrer
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Arbeit von einem Phänomen aus, das meist nur verschämt eingestan den wird, dem des Anstiegs der Libido nach dem Verlust eines gelieb ten Objekts, der damit abgewehrt wird, verbunden mit einer Hoch stimmung, die der geforderten Trauer entgegengesetzt ist. Ehlert und Lorke (1988) haben ähnlich introjektive Unterwerfungsmechanismen bei Extremtraumatisierten herausgearbeitet, aufgrund derer einerseits sowohl der Folterer als auch das ihm entsprechende Introjekt zum ein zigen Objekt der Liebe werden kann (vgl. auch Eissler 1968). Ande rerseits ist der Mechanismus der Folter dem des sexuellen Missbrauchs ähnlich. Der Täter macht das Opfer schlecht und wertlos, um seine Tat zu rechtfertigen (das ist die Implantation von Minderwertigkeit und Schuldgefühl, die vom Opfer introjiziert werden). »Dabei findet dieser Fremdkörper schnell Anschluss an jene … ›schuldigen Geheimnisse‹, die die sexuellen Phantasien des Kindes mit den uneingestandenen sei ner Eltern verbinden, ohne dass ihm das je bewusst werden konnte« (Ehlert u. Lorke 1988, S. 524). Und dies offenbar, ohne dass die Folter unbedingt direkt sexuellen Charakter angenommen haben muss. Ich kann mir vorstellen, dass der Mechanismus, den Khan (1975) für die Hysterie entwickelte, auch hier eine Bedeutung hat. Khan versteht die Kommunikation sexuellen Begehrens des Hysterikers als Wunsch nach einer entbehrten frühen emotionalen, eben nicht sexuellen Für sorge, die einmal real so defizitär war, dass die triebhafte Sexualität sich frühreif in dieses Vakuum hineinentwickelt hat. (Vgl. Teil II, S. 252, die sexualisierte Objektsuche bei Frauen, die früh den Vater verloren hatten.) Adler (1997, S. 388) versteht Sexualisierung dagegen als »soziales Symptom«, als »verzweifelte Suche nach Intimität« in Mangelsituationen und in diesem Kontext sexualisierte Übertragung als »aufgeblähte Abart der Übertragungsliebe«.
Wiederholungszwang Auch in anderer, nicht sexueller Hinsicht ist dem Introjekt ein trieb hafter Charakter zugeschrieben worden, wie es besonders Ehlert und Lorke (1988) ausgearbeitet haben, was insbesondere für ein Verständ nis des Wiederholungszwangs, zu dessen Erklärung Freud (1920g) das Todestriebkonzept entwarf, nützlich ist. »Das Wirken des Phan toms umfaßt alles das, was Freud unter der Überschrift ›Todestrieb‹ beschrieben hat« (Abraham 1978, S. 696). Das Introjekt bewirkt letzt lich die von innen, wie triebhaft wiederholten Selbstbeschädigungen, die von einem anderen Teil des Ich bzw. Über-Ich abgelehnt werden.
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»Tendenzen zur Selbstdestruktion lassen sich also zunächst als ein Wüten des gesunden Teils der Persönlichkeit gegen den ›kranken‹, vom traumatischen Introjekt besetzten Teil verstehen« (Ehlert u. Lorke 1988, S. 528). Man kann das ständige Wiederholen als Restitutionsversuch verstehen, als Versuch der Trauerarbeit, die ja in kleinen Schritten über die Zeit das verlorene – hier das traumatische – Objekt überbesetzt, um die Besetzung dann abzuziehen, wie Freud es (1917e) beschrieben hat, was hier nicht gelingen würde. Überzeugender klingt für mich aber die Vorstellung, dass das Wiederholen der Selbstde struktion eine Vergewisserung der Anwesenheit des wenn auch trau matischen, so doch einzig anwesenden Objekts bedeutet. »Der vom Über-Ich [d. h. vom Introjekt] ausgehende Schmerz ist es letztlich, der das Opfer vor der totalen Einsamkeit des endgültigen Objektverlustes bewahrt«, wie Ehlert und Lorke (1988, S. 529) es formulieren. Es ist so, als ob das Introjekt auch die Hoffnung enthält, dass das trauma tische Objekt in der Zukunft doch noch einmal ein liebendes werden könnte (vgl. Torok 1968, S. 508). Damit aber diese wundersame Verwandlung eines Gewalttäters in ein liebevolles Objekt geschehen kann, muss das gewählte Objekt wiederum und immer wieder ein böses sein. Natürlich tritt diese Wandlung nie ein; das Opfer sollte sich von seiner Sehnsucht trennen. Würde man versuchen, das Gute, das man als Kind nicht bekom men hat, gelingend von anderen, alternativen Objekten zu bekommen, versuchen, Beziehungen zu haben, in denen kein Missbrauch, keine Misshandlung, keine Vernachlässigung stattfindet, hätte man sich von den alten Objekten gelöst. So aber wird darum gekämpft, das Gute von jemandem zu bekommen, der so sein muss wie der, von dem man es damals nicht bekommen hat! Bettina B., die als Kind an ihrem Geburtstag vergeblich auf den Vater hatte warten müssen (s. o. Teil II, S. 102), lernte mit 18 Jahren ihren späteren Mann kennen. Sie fand ihn von Anfang an aggressiv, zynisch, andere verletzend, absolut egoistisch. Damals dachte sie insgeheim, woran sie sich jetzt erinnert, dass er aber so sein sollte, wie er war. Denn ein Mann konnte nur mit diesen Eigenschaften so »stark« sein, dass er ihr, dann aber nur ihr, wenn sie die Auserwählte war, mit seiner ver borgenen »guten« Seite das Entbehrte geben könnte. Hinter dem Bild des Verge waltigers (der Vater) oder des »Arschs von Ehemann« war immer die Phantasie von deren »guter Seite« verborgen, die einmal zum Vorschein kommen würde; dann endlich würde die Patientin glücklich sein können.
Diese Erwartung beruht offenbar auf einer Art »Dopplung« des Objekts, die genau komplementär zu der Spaltung des Selbstbildes ist: Sich einerseits befreien wollen aus sadistischen Beziehungen, sich anderer seits masochistisch unterwerfen: Nichts anderes verdient haben. Die
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Phantasie, mit dem brutalen, egoistischen, zynischen männlichen Part ner symbiotisch zu verschmelzen und manische Erfüllung zu bekom men und auszuleben, ist auch in mehreren Filmen ausgedrückt: »Bonnie and Clyde« (Penn 1967; vgl. M. Hirsch u. J. Hirsch 2014), »Wild at Heart« (Lynch 1989) und »Natural Born Killers« (Stone 1993). Im Film-Mythos gelingt, was in der Wirklichkeit stets scheitert: durch symbiotische Verschmelzung mit dem Täter über alle Grenzen und Regeln menschlichen Zusammenlebens hinweg mithilfe des manisch omnipotenten Verbrechens das zu nehmen, was seit jeher entbehrt wer den musste. Die ständige Wiederholung ist Ausdruck der Notwendigkeit, das Objekt als Introjekt in der Arretierung zu halten, es weder zu assimi lieren noch sich von ihm zu trennen, weil beides unerträglich wäre, wie bereits mehrfach ausgeführt wurde. Zepf, Weidenhammer und Baur-Morlok (1986, S. 140) formulieren es so: »Die Selbstdestruktivität, die Freud Anlaß war, einen Wiederholungszwang jenseits des Lustprinzips zu postulieren, und die sich in den quälenden Wiederho lungen des Traumas darstellt, ist als Resultat der zur Re-etablierung des Ichs unumgänglichen Identifikation mit dem zerstörerischen Objekt anzusehen.« Nichts ist schlimmer, als es zu verlieren (vgl. Torok 1968, S. 508; Abraham u. Torok 1976, S. 167). Durch das Zurückführen des Wiederholungszwangs auf eine reale Traumatisierung der Vergangen heit wird aber »die k onzeptionelle Notwendigkeit eines Todestriebes zurückgewiesen« (Cournut 1988, S. 97).
Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl
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Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl »Ich fragte: ›Wo ist meine Sünde?‹ Da gab mir eine Stimme Antwort: Sünde ist, daß du da bist – eine schwerere gibt es nicht.‹« Gunaid: Kasf 297 (in: Tor Andrae: Islamische Mystiker, 146; zit. bei Drewermann 1977a, V) »Entschuldige, daß ich geboren bin!« Ausruf einer 17jährigen Jugendli chen während eines Streits mit der Mutter
Für eine häufig anzutreffende Form des Schuldgefühls, das die bloße fen den Men schen als schuld haft erle ben lässt, Existenz der betref möchte ich den Begriff Basisschuldgefühl vorschlagen. Einmal dar auf aufmerksam geworden, wird man Symptomatik wie Mutlosigkeit, Depression, Sich-nichts-Zutrauen, fehlendes Selbstwertgefühl bis hin zur latenten oder offenen Suizidalität oft auf ein solches globales Schuldgefühl zurückführen können, für das keine eigentliche Begrün dung zu erfah ren ist. Marcinowski (1924, S. 19; Her vor he bung original) macht eine Bemerkung, die auf ein Basisschuldgefühl hinweist: »Ist es nicht auffallend, daß wir uns schuldhaft, verantwortlich fühlen oft auch für etwas, für das wir gar nichts können, und was gänzlich unserer Einflußsphäre ent rückt ist, z. B. für Eigenschaften, für körperliche Mängel und Unschönheiten und dergleichen mehr, kurz dafür, daß man so ist?«
In einer umfangreichen Arbeit stellt Lotterman (2003, S. 548 f.) basale Fragen, sozusagen Menschheitsfragen: »Wir schulden jemandem unser Leben. Was bleiben wir dafür schuldig? Was ist ein angemessener Ausdruck von Wertschätzung und Dankbarkeit? […] Haben wir unsere Eltern genügend geehrt? Haben wir mit genügender Ernsthaftigkeit die biblische Forderung, das zu tun, befolgt? Haben wir eine Art Schuldigkeit angenommen? Wenn ja, was sollten wir zurückzahlen? Was sollen wir unseren Erzeugern opfern? Bis zu welchem Ausmaß? Sind wir loyale Diener unserer Eltern oder haben wir ein davon getrenntes ›Recht‹ zu leben?« Als Phantasie sei ein solches Schuldgefühl ubiqui-
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tär, meint Lotterman, es würde aber durch frühe Erfahrungen sowohl gemildert als auch verstärkt werden können. In vielen Fallberichten finden sich Hinweise und Beschreibungen dieser Schuldgefühlform. Kogan (1990a, S. 76) zum Beispiel schreibt: »Seit Beginn ihres Lebens fühlte sich Josepha der Mutter gegenüber schuldig. Sie war schuldig durch ihre bloße Existenz, da ihre Geburt die Verschlechterung des labilen Gesundheitszustandes der Mutter ver ursacht hatte.« Kramer berichtet über zwei Fälle sexuellen Missbrauchs durch die Mutter. Über das erste Mädchen schreibt sie: »Abby war die jüngste von drei Töchtern … die S.s [die Eltern] erzählten ganz offen von ihrer Enttäuschung, eine dritte Tochter zu haben, besonders eine, die schwächlich war und nicht hübsch. Abbys Schwestern waren schön und begabt und erfreuten ihre Eltern durch Vorführungen, wenn Gäste da waren. Abby verlor während der postnatalen Periode an Gewicht. Im Alter von drei Wochen trat eine schwere Diarrhöe auf, weshalb sie für sechs Wochen ins Krankenhaus mußte. Ihre Eltern besuchten sie nur einmal, denn sie ›konnten den Anblick der intravenösen Kanülen in diesem zerbrechlichen Körper nicht ertragen‹. Nachdem Abby nach Hause gekommen war, klagte ihre zwei Jahre ältere Schwester über Bauchschmer zen. Der Kinderarzt wies die S.s an, dem mittleren Kind mehr Aufmerksamkeit zu schenken, … was zur Folge hatte, daß Abby vollständig ignoriert wurde« (1983, S. 339; Übersetzung M. H.).
Im zweiten Fall »war es Casey [der Patientin] bekannt, daß ihre Mutter die Schwangerschaft mit ihr nicht wollte und einen erfolglosen Abtreibungsversuch unternommen hatte. Als die Mutter realisierte, daß sie das Kind austragen mußte, wünschte sie sich einen Jun gen. Statt dessen wurde eine Tochter mit einem leichten Geburtsschaden geboren.«
Einer Doku men ta tion von Berich ten von Inzest opfern (Gardiner-Sirtl 1983, S. 143) ist folgendes Zitat entnommen: »Ich war ihr sowieso ein Dorn im Auge, weil ich auf die Welt kam.« Die Mutter dieser Patientin sagte zu ihr: »Du solltest tot sein!« Eine Patientin aus meiner Praxis sprach von der »Grundschuld, überhaupt geboren wor den zu sein, und von der Pflicht der Wiedergutmachung: pflegeleicht sein, sich anpassen« (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 102). Ich habe über eine Patientin, Veronika A., berichtet (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 109), die lange vor dem Missbrauch durch den Vater, zu dem sie von der Mutter gegeben worden war, als die Mutter einen neuen Freund hatte, ein uner wünschtes Kind war, gezeugt während einer flüchtigen Begegnung der Eltern, die dann gar nicht zusammenblieben: »›Wahrscheinlich bin ich schuld, weil ich überhaupt geboren wurde!‹ Von der Schwester des Vaters wurde sie immer abgelehnt. Die Tante jammerte über den
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›armen kleinen Bruder‹ (den Vater der Patientin), der von der ›städtischen Hure‹ (der Mutter der Patientin) verführt worden sei. Und das ›kleine Biest‹ (die Patien tin) sei auch nicht besser. Einmal kam die Schwester ins Zimmer, als der Vater die Hand unter dem Rock des Kindes hatte … Die Patientin berichtete von der Mutter, die immer sagte: ›Ich hab’ mich mein ganzes Leben für dich geplagt!‹ und ständig wollte, daß das Kind sich um sie kümmere!«
In die sen Bei spie len ist die Uner wünscht heit des Kin des deut lich erkennbar; die Mütter machen keinen Hehl daraus, werfen den Kin dern direkt die bloße Existenz vor, machen Vorwürfe, dass sie selbst ihr Leben den Kindern opfern mussten, bei diesem Mann bleiben muss ten, die Karriere aufgeben und auf die Freuden des Lebens verzichten mussten und so weiter. Besser als die Schriftstellerin Helga Schubert (1990, S. 103) kann man das nicht ausdrücken:
»So sprichst Du zu Deiner Mutter, Du solltest Dich schämen, so zu Deiner Mutter zu sprechen, nach allem, was ich für Dich getan habe, für Dich entbehrt, gelitten, Du kamst unerwünscht, die berufliche Karriere hast Du mir unterbrochen, ja abge brochen, die beschwerliche Schwangerschaft, die schwere Geburt, ohne Dich wäre ich nicht bei Deinem Vater geblieben, ohne Dich hätte ich wieder heiraten können, aber eine Witwe mit Kind bei der Konkurrenz nach dem Krieg? Deinetwegen habe ich auf alles verzichten müssen, auf eine neue Familie, Reisen, unbeschwerten Reichtum, meine Begabungen konnte ich nicht entdecken, meine Interessen nicht befriedigen, viel Geld mußte ich für Dich ausgeben, weißt Du überhaupt, wieviel materielle Opfer ein Kind fordert? Undankbar bist Du, so sprichst Du mit Deiner Mutter, es wird Dir noch einmal leid tun.«
In einer anderen Gruppe von Berichten, die von einem Basisschuldgefühl handeln, wird die Unerwünschtheit nicht so offen sichtbar, sondern manifestiert sich darin, dass das Kind nicht im eigenen Recht leben darf, sondern die Bedürfnisse der Eltern erfüllen muss. Versagt es darin, entwickelt es Schuldgefühle, weil es zwar da sein soll, es aber nicht so ist, wie es von den Eltern gewünscht wird. Deshalb sieht es auf den ersten Blick so aus, als wären die Kinder sogar besonders geliebt und bevorzugt. Bei näherem Hinsehen fällt aber auf, dass die Kinder instrumentalisiert werden, für die Eltern dasein müssen und dementsprechend geradezu zwangsläufig Schuldgefühle haben wegen des Bedürfnisses, ein eigenes Existenzgefühl zu entwickeln: »Der Patient war der ausgezeichnete, exklusive Besitz seiner Mutter … Sie klei dete ihn in ausgesuchte Kostüme, schrieb ihn in Schauspielklassen und Tanzschu len ein, ermöglichte ihm Gesangs- und Klavierstunden … Häufig beschrieb sie, wie sie ihn bewundert und verwöhnt hätte als Kind, bei den kleinsten Anzeichen mit ihm zum Arzt geeilt sei … Für ihn habe sie alles geopfert: Sie gab ihre Büh nenkarriere auf und blieb seinetwegen mit seinem Vater verheiratet, den sie als ›unzivilisierten Bastard‹ und Alkoholiker ansah. Oft hat sie ihm [dem Jungen] erzählt, dass sie nie andere Kinder wollte, weil sie ihn so geliebt habe. Als Kind war der Patient vollkommen abhängig von der Mutter. Wenn er seinen Willen nicht
130 Schuldgefühl bekam, entwickelte er Tobsuchtsanfälle, und sie strafte ihn durch Schläge mit einer Hundepeitsche, ließ ihn allein oder sperrte ihn aus dem Haus aus. Bei solchen Gele genheiten erzählte sie ihm, er sei adoptiert worden, und wenn er schrie, sagte sie, es sei nur ein Scherz gewesen. Der Kindergarten war ein Horror für ihn, und seine Mutter musste ihn für die ersten zwei Jahre zur Schule fahren … Seit früher Kind heit wurde der Patient von ständigen Schuldgefühlen gepeinigt« (Berman 1978, S. 571 f.; Übersetzung M. H.).
Ein ähnliches Doppeltes von Ablehnung und Schuldvorwurf aufgrund der bloßen Existenz, aber auch von Besitzergreifung findet sich in Aschs (1976, S. 392) Beispiel:
Eine Mutter sagt: »›Deine Geburt war so schwierig, ich bin fast gestorben, innen war alles zerstört.‹« Dem Patienten »wurde das Gefühl suggeriert, daß er für die Unfähigkeit der Mutter, weitere Kinder zu haben, verantwortlich war … Mütter, die eine intensive narzißtische Verbindung zu ihren Kindern aufrechterhalten, nei gen dazu zu versprechen, explizit oder implizit durch ihr verführerisches Verhal ten, daß das Kind ihr auserwähltes ist.«
Es findet eine »Verleugnung der Individualität des Kindes durch die Eltern – seiner persönlichen Bedürfnisse, Wünsche, Befürchtungen, seiner Autonomie – zugunsten unpersönlicher Kategorien« (Wurmser 1987, S. 272; Hervorhebung original) statt. In solchen Fällen ist auch die Nähe zum Trennungsschuldgefühl deutlich, und sicher gibt es hier gleitende Übergänge, die eine strenge Unterscheidung künst lich erscheinen lassen. Aber im Prinzip liegt die Unterscheidung darin, dass ein Trennungsschuldgefühl durch die Behinderung der Loslösung hervorgerufen wird, ein Basisschuldgefühl dagegen ist in der primären Unerwünschtheit begründet, die allerdings oft auch eine Instrumenta lisierung des Kindes und, wie wir sehen werden, die Entstehung der Rollenumkehr zur Folge hat. Einige Bearbeitung hat das Thema des primär unerwünschten Kin des in der Literatur aber doch erfahren. Zuerst ist Ferenczi (1929) zu nennen, der eine kurze Arbeit mit dem Titel »Das unerwünschte Kind und sein Todestrieb« veröffentlicht hat. Die Arbeit ist für meine Begriffe eine brillante Auseinandersetzung mit der Frage Trieb versus Umwelt; Ferenczi scheint zuerst ganz mit Freuds Todestriebkonzept als Gegenstück zu einer Auffassung der Lebenskräfte übereinzustim men: Er habe Auswirkungen des Todestriebs gesehen, mit starken selbstzerstörerischen Tendenzen, allerdings aufgrund von »unlustvolle[n] Erlebnisse[n] …, die dem Patienten das Leben kaum mehr lebens wert erscheinen ließen« (Ferenczi 1929, S. 251). Man spürt förmlich das Ringen Ferenczis mit dem Todestriebkonzept; er möchte Freuds Denken nicht aufgeben und scheint doch das Trauma bereits an die erste Stelle setzen zu wollen. Er bringt nun zwei Fälle von Glottiskrampf, die er als »Selbstmordversuch durch Selbsterdrosselung« (S. 252) deutet.
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Den zugrunde liegenden Einfluss der Umgebung formuliert Ferenczi so: »Beide Patienten kamen sozusagen als unwillkommene Gäste der Familie zur Welt … Alle Anzeichen sprechen dafür, daß diese Kinder die bewußten und unbe wußten Merkmale der Abneigung oder Ungeduld der Mutter wohl bemerkt und durch sie in ihrem Lebenwollen geknickt wurden« (S. 252 f.; Hervorhebung ori ginal).
In einem weiteren Fall von Suizidalität wurde die Patientin
»als drittes Mädchen einer knabenlosen Familie höchst unliebsam empfangen … Ihre Grübeleien über die Herkunft alles Lebendigen waren gleichsam nur die Fort setzung der unbeantwortet gebliebenen Frage, warum man sie denn überhaupt zur Welt gebracht hat« (S. 253).
In einem für mich zentralen Satz nun stellt Ferenczi unser jüdischchristliches Denken (»Du sollst Vater und Mutter ehren!«) und auch die Grundannahme der Psychoanalyse, dass das Kind aufgrund seiner ödi palen Triebkräfte primär schuldig auf die Welt kommt (vgl. Grotstein 1990 u. Teil I, S. 21) auf den Kopf: »Das Kind muß durch ungeheuren Aufwand, Liebe, Zärtlichkeit und Fürsorge dazu gebracht werden, es den Eltern zu verzeihen, daß sie es ohne seine Absicht zur Welt brach ten, sonst regen sich alsbald die Zerstörungstriebe« (Ferenczi 1929, S. 254). Das bedeu tet eine Umkeh rung von Pflicht, Verantwortung und Schuldgefühl: Nicht das Kind hat dafür zu sorgen, dass es mit seiner Umgebung leben kann, indem es die Triebkräfte überwindet, sondern die Umgebung hat die primäre Pflicht, das Kind adäquat anzunehmen und zu halten; nicht die Eltern haben dem Kind zu verzeihen, son dern umgekehrt: das Kind den Eltern für den schuldhaften Akt der ungefragten Erzeugung seines Lebens! Und erst wenn die Eltern die ser Pflicht der größtmöglichen Wiedergutmachung ungenügend nach kommen, »regen sich alsbald die Zerstörungstriebe«. Die »Lebens kraft« (S. 254) sei gar nicht so groß, sagt Ferenczi entsprechend, sie entwickelt sich nur, wenn »taktvolle Behandlung und Erziehung eine fortschreitende Immunisierung gegen physische und psychische Schäden allmählich herbeiführen« (S. 254). Das bedeutet nichts weni ger als eine elegante Versöhnung der Trieb- und Umweltkonzepte in Form einer Ergänzungsreihe: Der Lebenstrieb muss durch die lie bevolle Umgebung gestärkt werden, und der Todestrieb nimmt erst überhand, wenn die Umgebung versagt und ihrer Pflicht nicht nach kommt. Den vorweggenommenen Vorwurf, er vernachlässige durch die Betonung der Zärtlichkeit die »Bedeutung der Sexualität in der Verursachung der Neurosen« (S. 255) unterläuft Ferenczi elegant,
132 Schuldgefühl
indem er meint, alle Lebensäußerungen des kleinen Kindes seien libi dinös. Folgendes Beispiel aus meiner Praxis scheint mir die Gedanken Ferenczis der Verpflichtung dem neuen Leben gegenüber passend zu illustrieren: Ein Patient, Volker V., Anfang 40, dem es bisher nicht gelungen ist, Beziehungen zu Frauen längere Zeit durchzuhalten, und der sein Ideal, eine Familie zu gründen, deshalb nicht erreichen kann, berichtet, dass sein Vater im Krieg alle Familien angehörigen verloren habe und die Mutter aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Die Eltern begegneten sich; sie liebten sich zwar nicht, aber es entstand die Schwan gerschaft mit dem Patienten, da wurde eben geheiratet … Später sagten die Eltern oft sinngemäß: »Wir haben Dir das Leben geschenkt, Du musst uns dankbar sein.« Noch heute ertappt sich der Patient in der Identifikation mit diesem Gedanken, wenn er sich sagt: »Immerhin haben sie mir …« – In einer Gruppensitzung regt er sich auf: »Was heißt denn geschenkt? Es gab mich als Kind doch noch gar nicht, bestenfalls als Phantasie im Kopf der Eltern, die konnten mir doch nichts schenken, die haben es sich höchstens selbst geschenkt, wenn schon. Es soll so aussehen, als ob ich den Eltern was geschuldet hätte!« In der weiteren Bearbeitung durch die Gruppenmitglieder wird formuliert, dass die Eltern schließlich die Verantwortung für die Zeugung hätten, wenn schon Schuld, dann hätten die sie. Außerdem hätten sie geheiratet, ohne sich »richtig« zu mögen, und hätten Kinder gezeugt, die, wie man sehe, nicht besonders glücklich geworden seien (der Bruder des Patienten ist Alkoholiker), weil sie ihnen wohl nicht genügend gerecht werden konnten. Statt diese ihre Schuld anzuerkennen, delegieren sie sie an das Kind, das prompt Schuld gefühle entwickelt.
Ein erschütterndes Beispiel für mangelnden Lebenswillen und entspre chenden Selbstzerstörungsdrang soll folgen: Eine junge Mutter, völlig aufgelöst in entsetzlichem Schmerz, berichtete in der Beratung, dass ihr zweieinhalbjähriges Kind von zu Hause weggelaufen, wie blind gegen eine Straßenbahn gerannt und kurz danach verstorben sei. Sie wisse nicht ein noch aus, mache sich große Vorwürfe, nichts könne sie beruhigen, aber sie wolle das, was da geschehen sei, verstehen. Es sei ihr zweiter Junge, der älteste sei zwei Jahre älter. Das Kind, das sie jetzt verloren habe, sei immer unruhig gewe sen, habe viel geschrien, sei schlaflos gewesen, habe nicht richtig gegessen, habe aber früh laufen gelernt und war seitdem immer »unterwegs«, habe sich, sobald es konnte, stets losgerissen, sei weggelaufen, auch spätabends, unbekleidet, bar fuß, sei mehrfach von fremden Leuten zurückgebracht worden. Man habe den Jungen schließlich an den Kinderwagen binden und die Haustür stets abschließen müssen. Jetzt sei er davongestürmt, als sie, mit dem älteren Sohn vom Kinder arzt kommend, durch die Haustür getreten und einen Moment abgelenkt gewesen sei. Sie sei sofort hinterhergelaufen, er muss direkt den Weg aus dem ruhigen Wohnviertel zur belebten Hauptstraße genommen haben. Als sie kam, war schon großer Aufruhr, sie habe nichts tun können, der Junge war bewusstlos. In ihrer großen Regression und Ich-Auflösung brach es schließlich aus der Mutter unkon trolliert heraus: »Er hat sich geopfert, er hat sich geopfert, er hat gewusst, dass er uns zuviel war, er hat uns helfen wollen!« – Man kann sich vorstellen, dass die Schuldgefühle der Mutter nicht nur die mangelnde Aufsicht betrafen, sondern sich
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auch auf die Zeugung des als zu belastend empfundenen Kindes erstreckten. Und den Schuldgefühlen der Mutter entsprechen die des Kindes, das sich ihrer durch sein Opfer entledigt.
Familiendynamisch (Stierlin, Rücker-Embden, Wetzel u Wirsching 1977) dürfte es sich bei diesem Umgang mit dem unerwünsch ten Kind um ein Beispiel des Ausstoßungsmodus handeln. Wurmser (1987, S. 294) bezieht ein solches Gefühl mit Recht auf die Scham, denn diese betrifft in der Tat das Sein, wie wir gesehen haben, während die Schuld bzw. das Schuldgefühl eher aus dem Tun erfolgen. Aber Wurmser relativiert den Bezug zur Scham und lässt einen Patienten von Schuldgefühl sprechen:
»›Wenn ich meiner Mutter nur nein sage, fühle ich mich schon schuldig. Oder wenn ich ich selbst bin …, heißt das: Ich will nicht wie Du sein.‹ Die eigene Person zu sein, einen eigenen Willen zu haben, eigene Gefühle zu bekunden, heißt bei der Mutter, einer äußerst zudringlichen Frau, die ihren Sohn immer als Verbündeten in ihrer fortwährenden Fehde mit ihrem Gatten einsetzte, daß er sie absolut verrate … ›Oft denke ich, es sei mir nicht erlaubt, das Gefühl zu haben, daß es mir gut geht, sondern daß ich mich deswegen schuldig fühlen müsse‹« (Wurmser 1987, S. 294).
Und tatsächlich haben die Patienten oft das Gefühl, die eigene Existenz selbst zu verantworten, als hätten sie ihr So-Sein aktiv hergestellt und dabei versagt. Insofern gerät das Gefühl der – minderwertigen – Identi tät nicht nur mit dem Ideal-Ich, sondern besonders auch mit dem ÜberIch in Kollision. Für den Ursprung des Basisschuldgefühls nehme ich zwei For men des Nicht-gewollt-Seins an: 1. Die Existenz des Kindes ist nicht gewollt; 2. die Eltern wollten zwar ein Kind, aber es ist nicht das »rich tige« – so wie es ist, wird es abgelehnt.
Die Existenz des Kindes ist nicht gewollt »Der Ehe-Stifter« »Heiraten-Müssen« der Eltern wegen der Schwangerschaft eines ersten Kindes ist wohl die häufigste Möglichkeit, einem Kind die Hypothek einer »Schuld« seiner bloßen Existenz wegen schon vor der Geburt aufzubürden. Viele Beispiele finden sich in der therapeutischen Praxis, allerdings muss man auch sehen, dass das Nicht-gewollt-Sein ja nichts Absolutes, das Kind auch immer mehr oder allerdings weniger gewollt ist, auch wenn es nicht »geplant« oder »gewünscht« ist.
134 Schuldgefühl Eine Patientin, Olivia L., leidet unter schweren Arbeitsstörungen. Sie fühlt sich verfolgt von den erfolgreicheren Bekannten, fühlt sich aber auch von sich selbst verfolgt, wenn sie Alkohol trinkt, im Bett bleibt und nicht arbeitet, stundenlang Computerspiele spielt, statt zu schreiben. – Sie weint unerwartet heftig, als ich ihr sage, dass das Fremde, das sie jetzt verfolgt, in sie hineingetan worden ist, als sie ein Kind war. Unvermittelt sagt sie: »Wenn man sich vorstellt, dass meine Eltern damals heiraten mussten …! Beide waren doch gerade erst 20! Mutter musste ihre Ausbildung aufgeben, und sie wurde von den Eltern meines Vaters abgelehnt. Ich war gerade vier Monate alt, da war meine Mutter schon wieder schwanger …« Eine andere Patientin, Dorothea L., hat einen Traum: Sie zieht mit einer Karawane, die nur aus Patienten meiner Praxis besteht. Sie versucht, zur Rast in der Oase einen Platz zu bekommen. Es gibt drei Sänften; es ist nicht ganz klar, ob darin drei Patienten sind, die nicht gesehen werden wollen, oder drei Therapeuten, die sich tragen lassen. Sie hat keinen Platz bekommen und hat auch den Anschluss verloren, ihr Fahrzeug bleibt liegen … Ein anderer Traum kurz danach: Ein Auto fährt füh rerlos auf eine Mauer zu. Sie steigt in das Auto und will bremsen und lenken, aber irgendwelche Stimmen sagen, sie könne das nicht, da lässt sie es. Sie hat Angst vor dem Aufprall, hört einen Knall, spürt aber nichts. – Sie will etwas unbedingt in den Griff bekommen, um irgend etwas Schlimmes zu verhindern. Sie konnte wegen eines Staus nicht zur letzten Sitzung kommen. Sie hat Angst vor meinen Vorwür fen, gibt sich die Schuld, dass sie kein Vertrauen zu mir habe. Sie könne sich nicht fallenlassen, das Steuer aus der Hand geben. Sie habe das Gefühl, dass niemand für sie da ist, dass sie keinen Platz habe, das ist wie im Traum mit der Karawane. Die drei Figuren in den drei Sänften bedeuten sicher Vater, Mutter und die Schwester (zwei Jahre jünger), von der sie schon immer angenommen hat, dass sie glücklicher ist. Wenn das so sei, dann habe sie eben den Anschluss an die Familie verpasst. Sie hat das Gefühl, dass niemand für sie da ist, seltsamerweise schon seit der Zeit vor ihrer Geburt. Sie könne auf Menschen nicht zugehen, weil sie alles allein machen müsse. Und es ist ihre Schuld, dass diese Menschen nicht da sind. Die Schwe ster ist viel unkomplizierter. Als Kind hat sie sich oft gefragt, warum die Eltern sie wollten, warum sie überhaupt auf der Welt sei. Sie hat sich als kleines Kind so viele Gedanken gemacht: Sie wollte »zurückgegeben« werden, sie wollte als Kind in einer anderen Familie noch einmal neu anfangen. Wie oft hat sie (in der Vorschulzeit!) das Köfferchen gepackt, ist in die Straßenbahn gestiegen und wurde an der Endhaltestelle aufgegriffen. Wie oft ist sie einfach zur Tante gefahren. Sie hatte noch einen anderen Traum, für den sie aber kein visuelles Bild erinnern kann, sondern nur ein Gefühl, dass ihre Mutter in der Schwangerschaft mit ihr (!) zu wenig geben konnte. Sie kann sich erinnern, dass sie als Kleinstkind ein »Bäuer chen« machen sollte, dazu wurde sie über die Schulter gelegt von jemandem, sah das karierte Küchenhandtuch. Dabei hatte sie ein Gefühl, erwachsen zu sein und für sich sorgen zu müssen. Sie fragt sich, ob es das gebe, eine Erinnerung bis in den Mutterleib, aber sie ist sich sicher, dass die Mutter genug Sorgen hatte damals, denn die Eltern waren jung, der Vater hatte die Ausbildung nicht abgeschlossen, war praktisch nie da, trotzdem hätten die Eltern wegen der Schwangerschaft mit ihr geheiratet. Die Mutter hat erzählt, dass es eine schlimme Geburt war. Die Pati entin hat die Phantasie, dass die Mutter nicht genug dazu getan hat, dass sie auf die Welt kommen konnte, »sie hat einfach nicht genug geben können«. Manchmal hat die Mutter etwas durchblicken lassen, dass sie selbst nie genug bekommen habe, selbst abgeschoben worden sei. »In dem Moment konnte ich ihre Seele sehen.« Aber trotzdem: »Allein dass ich da war, war meiner Mutter schon zuviel. Sie hat
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mir immer das Gefühl gegeben, ich bin lästig. Wenn sie mir das lange Haar gebür stet hat, hat sie mit der Bürste auf meinen Kopf geschlagen. Das war auch die Zeit, in der sie mich immer in die dunkle Kammer eingesperrt hat.« Die Patientin sagt noch: »Als ob mir jemand bei meiner Geburt einen Stempel aufgedrückt hätte: Du bist schuld! Einfach weil ich da war.« Die Eltern einer anderen Patientin, Lydia S., hatten sich während des Studiums kennengelernt; der Vater kam aus einem südamerikanischen Land, um hier zu stu dieren, und wollte eigentlich zurückkehren. Die Schwangerschaft mit der Patientin kam dazwischen, man heiratete; inzwischen übernahm in seinem Heimatland das Militär die Macht, es war ihm nicht möglich, zurückzukehren, auch seine Familie sah er nicht wieder. Die Mutter warf der Patientin später vor, dass ihre Existenz Schuld daran sei, dass der Vater den Kontakt zu seiner Familie verloren habe, dabei bedeute doch in seiner Heimat der Familienzusammenhalt soviel! Deshalb müsse sie, die Jugendliche, bei ihm bleiben, dürfe das Elternhaus nicht verlassen, denn sie habe eine Schuld abzutragen, zumal bei dem Vater jetzt der Verdacht auf eine Krebserkrankung aufgetaucht sei. Dieselbe Mutter hatte die Patientin, ihre einzige Tochter, zeitlebens wie eine enge Freundin behandelt und missbraucht, wie man sagen muss. Es gab endlose »therapeutische« Gespräche sowie ein Eindringen in das Leben der dann adoleszenten Tochter durch Öffnen ihrer Briefe und Lesen ihres Tagebuchs. Die Tochter hatte schließlich das Elternhaus verlassen, um ein neues Studium zu beginnen; einen ersten Studienversuch hatte sie abgebrochen. Die Mut ter schrieb ihr zu diesem Zeitpunkt einen sechs Seiten langen Brief, in dem sie ihr implizit vorwarf, drogenabhängig und für den Beruf, der aus dem neuen Studium hervorgehen sollte, absolut nicht geeignet zu sein, obwohl sie, die Mutter, nichts lieber wünschte, als dass sie es wäre. Aber so, wie sie sich benehme, wie sie ihre Eltern behandle, sei sie nicht in der Lage, Verantwortung zu tragen, sie sei einfach unreif. Sie müsse an sich arbeiten, aber sie könne ja keine Hilfe annehmen (als die Patientin schließlich eine Therapie begann, war es in den Augen der Mutter nicht die richtige). Die Mutter wehrt sich offenbar mit Händen und Füßen, ihre Freun din und Beraterin zu verlieren, und schreibt der Tochter: »Ich hatte neulich einen Traum: Hinter einer dicken Glaswand sehe ich eine verhüllte Gestalt. Plötzlich fällt das Gewand, und ich sehe Dich. Ich rufe Dich an. Du schweigst. Ich schreie, ich schlage mit Fäusten gegen das Glas, bis sie blutig sind. Mein ganzer Körper wirft sich dagegen. Umsonst! – Wirst Du das Glas zerschlagen?« Es wird deutlich, dass die Mutter die Trennung von ihrer Tochter erlebt, als würde sie selbst wie ein Kleinkind die Mutter verlieren im Sinne der Rollenumkehr; tatsächlich war ihre Mutter gestorben, als sie neun Jahre alt war.
Ein derartig grandioser Widerspruch zwischen Ablehnung des Kindes und seiner Identität und dem Benutzen des Kindes für die Bedürfnisse der Eltern wird uns im folgenden noch öfter begegnen.
Forcierte Schwangerschaft: »Das Hormonkind« Eine Patientin, Rosemarie J., sagte: »Meine Mutter konnte keine Kinder bekom men und wollte immer eins; dann kam ich als erstes ›Hormonkind‹ und habe sie bei der Geburt da unten fürchterlich zugerichtet, weil ich so breite Schultern hatte schon damals.«
136 Schuldgefühl
Sicher ist Kinderlosigkeit bei bestehendem Kinderwunsch meistens ein großes Unglück für Paare; ich möchte aber mit Berger (1993) zu bedenken geben, dass ein solches Problem nicht nur rein medizinisch betrachtet werden sollte. Berger weist daraufhin, dass über das Tech nische hinaus kinderlose Paare oft mit dem Stress, der körperlichen und psychischen Intrusion einer solchen Behandlung allein fertig werden müssten, sogar im Falle des Erfolgs oft keinerlei Hilfe bekämen, sich in einem psychischen Prozess auf die nun Realität gewordene Existenz des gemeinsamen Kindes einzustellen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass ein eventueller psychosomatischer Faktor, der zur Kinderlosigkeit beiträgt, durch eine rein somatische Behandlung überrannt und nicht berücksichtigt werden könnte. Für den Fall, dass es starke unbewusste Widerstände gegen eigene Kinder gibt, die sich in der Kinderlosig keit manifestieren, würden sich diese feindseligen Faktoren gegen das nun existierende Kind richten. Am Anfang des Ödipusdramas befragt Laios »bekümmert über seine Kinderlosigkeit … das Delphische Ora kel. Dieses verkündete ihm, sein scheinbares Unglück sei ein Segen, denn das Kind, das Iokaste ihm gebären würde, würde sein Mörder werden« (v. Ranke-Graves 1955). Vielleicht kann man in manchen Fällen von einer Art Weisheit des Körpers sprechen, mit der durch die Kinderlosigkeit ein größeres Unglück vermieden werden soll. Ein ungeborenes Kind kann natürlich auch als feindlich verfolgendes, Identität zerstörendes Objekt erlebt werden. Wenn zu große Gefühle der Aggression, der Wut und Enttäuschung sowie Schuldgefühle aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung der Schwangeren zurückgeblieben sind, werden sie in der »unumgänglichen Regression einer Schwangerschaft« (Pines 1990, S. 312) auf den Fötus projiziert (Hirsch 2010, S. 319 ff.). »Der Fötus ist ein Aspekt des schlechten Selbst oder des schlechten inneren Objekts, das ausgestoßen werden muss. In den Analysen solcher Patientinnen zeigt sich, dass die frühe Mutterbeziehung durchdrungen ist von Frustration, Zorn, Enttäuschung und Schuld. Der Verlust des Fötus, sei es durch Fehlgeburt oder Abtreibung, wird eher als Erleichterung denn als Verlust erlebt. Als ob die weiter vorhandene innere böse Mutter es der Tochter nicht erlaubt hätte, ihrerseits Mutter zu werden« (Pines 1990, S. 312).
Andere Körperreaktionen wie extremes Schwangerschaftserbrechen sind mildere Abwehrformen. Auch kann die Schwangere negative Aspekte ihres eigenen Selbstbildes auf das Ungeborene projizieren. Befürchtungen, das Kind sei missgebildet, sind dann häufig, auch entsprechende Träume kommen vor.
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Die Geburt macht die Mutter krank Eine Patientin, Tina M., schreibt: »Was mich eben auch sehr belastet hat, ist, dass ich wusste, dass mein Vater seit meiner Geburt trinkt und meine Mutter seit mei ner Geburt ständig krank ist. Ich hatte sehr, sehr lange ein schlechtes Gewissen deswegen, obwohl ich mir nicht erklären konnte, warum ich daran Schuld haben sollte … Ich habe auch sehr lange Zeit gedacht, ich sei gar nicht das eigene Kind, sondern sei adoptiert worden.«
Die Patientin bezieht ihr Gefühl, keine Existenzberechtigung zu haben, auf die Geburt, die die Eltern krank bzw. alkoholabhängig gemacht hat; und mit der Phantasie der Adoption befreit sie sozusagen die Eltern von ihrem Kind, wie sie selbst auch im Sinne des Familienromans die Eltern los wird. Übrigens muss ein massives Schuldgefühl der eige nen Existenz entstehen, wenn die Mutter bei der Geburt tatsächlich in Lebensgefahr gerät oder gar stirbt. Asch (1976, S. 392) bemerkt, Vor würfe wie: »Deine Geburt war so schwierig, ich bin fast gestorben; in mir war alles zerrissen« füge den Phantasien des Kindes »fixierende Elemente historischer ›Realität‹« bei. Ein 25jähriger Patient, Martin Z., berichtet: »Meine Mutter leidet seit meiner Geburt an Bronchialasthma, zur damaligen Zeit oft in lebensbedrohlichen Zuständen. Mein Vater gab mir dafür die Schuld, weil die Krankheit zuvor seit Jahren nicht mehr ausgebrochen war. Aufgrund dieser Krankheit musste meine Mutter in meinem Säuglingsalter mehrere Wochen ins Krankenhaus, ich, wegen der Arbeitszeiten meines Vaters, ins Säuglingsheim. Während meiner Grundschulzeit waren die lebensbedrohlichen Asthmaanfälle meiner Mutter oft sehr akut … [Der Vater hatte sich inzwischen durch Erhängen suizidiert, als der Patient fünf Jahre alt war.] Ich saß oft neben ihr am Bett und versorgte sie mit Tabletten und Sprays, weil sie zu ersticken drohte. Sie gab mir oft dafür die Schuld, weil die Anfälle bei Aufregungen zunahmen, und sie eigentlich ständig wegen mir in Aufregung versetzt wurde. Die größte Sünde meines … Daseins war sicherlich meine Geburt, da dadurch das Asthma bei ihr [der Mutter] ausbrach. Meine Mutter pflegte gelegentlich die Bemerkung zu machen, dass ich im Krankenhaus nach der Geburt wahrscheinlich vertauscht worden wäre und gar nicht ihr Sohn sei. Es gab Situationen im Bade zimmer, wo sie mir die Haare wusch und mich dabei pausenlos anbrüllte. Ich hatte manchmal Angst, sie würde mich in der Badewanne ertränken. Als Jugendlicher hatte ich immer Angst, meine Mutter zu verlieren, denn in extremen Konfliktsitua tionen drohte sie auch schon einmal, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«
Wie bei Frau M., die eine Adoptionsphantasie entwickelt hatte, hat hier die Mutter die Phantasie, der Sohn sei gar nicht der eigene. Die Aggressionen der Eltern, die in ihrer Heftigkeit ein Mordpotenzial bil deten (Selbstmord des Vaters), werden gegen das Kind gerichtet, als wäre dieses die Ursache allen Unglücks, zudem der Vorwurf, die Mut ter habe durch die Geburt des Kindes Schaden erlitten, an dem das
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Kind schuld sei. Auch Rosemarie J. hatte ihrer Mutter »da unten« alles kaputtgemacht: »Also ich bin schuld, dass sie da unten so eine Muskel schwäche hatte und Probleme mit dem Wasserlassen seitdem.« Die Mutter von Henrike S. war ständig krank. Die Patientin habe schon intraute rin der Mutter die Niere zerdrückt, und die jüngere Schwester habe ihr (der Niere) dann den Rest gegeben! Die Patientin musste mit vier Jahren vorübergehend in ein Heim, weil die Mutter im Krankenhaus war: Die Niere war gesund, aber es waren Nierensteine entfernt worden. Schon damals wurde dem Kind gesagt, dass es schuld an der Krankheit sei. Die Kinder wurden ständig durch die entfernten Nierensteine, die im Küchenschrank lagen, an ihre Schuld erinnert! (Ein Beispiel für »Terrorismus des Leidens«.) Die Patientin fühlte sich auch sonst schuldig am schlimmen Leben der Mutter. Jeder Widerspruch (»Widerrede«) verursachte Prü gel und heftige Vorwürfe. Noch heute hyperventiliert die Mutter am Telefon, bis sie umfällt, der Ehemann der Patientin eilt hin, um Erste Hilfe zu leisten. Die Patientin war seit drei Wochen nicht »zu Hause« (bei den Eltern), sie entwickelt deshalb panische Schuldgefühle verbunden mit Körperzittern (Identifikation mit den Hyperventilationsanfällen).
Die Aussagen der Mütter: Die Geburt habe sie fast getötet, sollte man nicht konkret verstehen. Im Grunde dürfte es sich um Metaphern han deln für den erlebten sozialen Tod, für die Identitätseinschränkung, die die Geburt für die Mutter bedeutet hat, die durch das Kind ans Haus gefesselt ist, wofür ihm »die Schuld« gegeben wird, woraus ein Basisschuldgefühl resultiert.
Unehelich geboren werden Unehelich geboren worden zu sein, bedeutet heute wohl immer weni ger ein Makel, obwohl man noch immer wünschen würde, dass ein Kind mit zwei Eltern, seien sie nun verheiratet oder nicht, aufwachsen kann. Trotzdem kann besonders in den vorangegangenen Generationen die Tatsache, dass ein Kind unehelich geboren wurde, einen beträcht lichen sozialen Einfluss und natürlich einen psychischen und interper sonellen Stellenwert haben. Lisa M., das »Herzkind« (s. Teil II, S. 189) berichtet: Ihr Vater war unehelich gebo ren worden; unehelich sei wie unwert. In der Familie wurde darüber nie gespro chen. Der Vater hatte dann selbst ein uneheliches Kind (mit der Mutter der Pati entin) gezeugt, einen Sohn; der Vater war im Krieg, als dieser geboren wurde. Er starb als Säugling, im Alter von drei Wochen, an Scharlach oder Diphtherie. Als Kind hatte Frau M. die Phantasie: »Die haben ihn umgebracht, meine Tante hatte Scharlach oder Diphtherie, die hat ihn angesteckt!« Als die Eltern nach dem Krieg heiraten wollten, habe eine Nachbarin erzählt, dass die Mutter ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann gehabt habe, als der Vater im Krieg war. War sie etwa schwanger gewesen von diesem Mann? Der Vater habe zwar zur Mutter gehalten,
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aber der Tod des Säuglings, war der eine Strafe? Wer sollte bestraft werden? Die Mutter war als Kind zu einer Tante nach Berlin gegeben worden, die hatte einen »lockeren Lebenswandel«, es gab das Gerücht, sie ginge der Prostitution nach … In der Familie wurde nie über die Vergangenheit der Mutter gesprochen. Die Pati entin habe immer Schuldgefühle gehabt, weil sie die Moralvorstellungen der Eltern nicht teilen konnte, weil sie viele Männer hatte, meistens viel jüngere, weil sie nie feste Beziehungen einging, auch wegen ihrer beiden Abtreibungen. Sie fühlte sich immer schuldig, dass sie anders sei als die Eltern. Jetzt fragt sie sich, ob sie viel leicht nur Teile der Eltern ausgelebt hat? Oder auch der Großeltern? Jetzt habe sie selbst eine uneheliche Tochter, habe es den Großeltern und Eltern nachgemacht, vielleicht wolle sie ihnen aber auch zeigen, dass sie es besser macht.
Kinder der Gewalt Wie kann eine Schwangerschaft, die durch Vergewaltigung zustande kommt, willkommen, ein Kind, das dann geboren wird, erwünscht sein? Engel und Ferguson (1990, S. 111) stellen eine ganze Liste von negativen Botschaften von Eltern an ihre Kinder auf, ein Punkt darauf ist: »Eine Schande, daß du geboren wurdest.« Eine Patientin, Diana J., die in der frühen Adoleszenz vom Vater mehrfach sexuell missbraucht worden ist und deren mangelndes Selbstwertgefühl sich auf den Körper, der ständig krank ist, erstreckt, sagt, dass sie sich schäme, dass sie ständig krank sei und hypochondrische Ideen habe. Täglich denke sie, dass sie bald sterben müsse. Das Böse sitze in ihr, das habe sie begriffen. Es sei ja auch kein Wunder, habe sie sich inzwischen überlegt, denn sie wurde durch eine Vergewaltigung der Mutter durch den Vater gezeugt. Wieso schämt sie sich eigentlich, der Vater sollte sich schämen! In der weiteren therapeutischen Arbeit in der Gruppe wird formu liert, dass der Vater das Böse doch durch den Missbrauch in sie hineingesteckt hat, »im wahrsten Sinne des Wortes«, wie die Patientin bitter sagt (das ist die Implan tation der Gewalt). Aber sie habe es sich auch »reingezogen« (das ist die Introjek tion), und auch irgendwie gewollt (in der Identifikation): Jetzt schäme sie sich, zum Teil auch mitgemacht zu haben. Es wird die Frage aufgeworfen, ob nicht auch die Mutter »zum Teil« mitgemacht hat, auch die Mutter Grund zur Scham hätte, ob sie nicht für beide Eltern etwas austrägt, was ihr Scham und Schuldgefühle macht, ob nicht damit zusammenhängt, dass sie sich so schwer von ihnen trennen konnte und immer noch Schwierigkeiten hat, ohne Schuldgefühle nein zu sagen, wenn der Vater bettelt, sie solle ihn besuchen, und wenn die Mutter wieder versucht, sie mit Geld und Geschenken zu bestechen. Eine andere Patientin, Julia C., im Februar 1946 geboren, begann die Therapie wegen zunehmendem Alkoholismus und schwerer Kontaktlosigkeit nach zwei gescheiterten Ehen. Sie berichtet ihre Geschichte: Sie sei das »Produkt einer Ver gewaltigung« der Mutter durch mehrere Soldaten der Roten Armee in den Wirren des Kriegsendes in Pommern. Als sie ein Jahr alt war, sei die Mutter im Viehwa gen Richtung Westen gezogen, nicht zur Ruhe gekommen, bis sie bei Verwandten unterkam. Als Säugling hatte sie schlimmen Milchschorf über das ganze Gesicht, der war entzündet. Sie war sehr früh sauber, denn die Mutter sei bei diesem Thema
140 Schuldgefühl rigoros gewesen. Die Mutter habe gearbeitet, das Kleinkind habe sich in der weit läufigen Verwandtschaft ganz gut aufgehoben gefühlt. Die Schule war furchtbar: Die Kinder riefen ihr »Pappchinese« nach und: »Hast ja keinen Vater!«; als sie auf die höhere Schule ging, war sie der »Bauerntrampel«. Im Biologieunterricht hat eine Lehrerin sie zwingen wollen, ihren Familienstammbaum aufzumalen, und hat sie fertiggemacht, weil sie es nicht konnte. Dabei wusste die Lehrerin alles. Im Religionsunterricht wurde gesagt, jede Frau sollte verheiratet sein und drei Kinder haben; dabei war die Lehrerin selbst ledig … In der Adoleszenz war sie völlig ein sam, hat sich mit 16 in den Geschäftsführer eines Kinos verliebt, wurde schwanger und gebar mit 17 Jahren einen Sohn. Die Schwangerschaft hatte sie vor der Mutter geheimgehalten; als sie es erfuhr, hat sie getobt und die Patientin links und rechts geohrfeigt. Die Mutter wollte mit allen Mitteln die Schwangerschaft unterbrechen lassen, aber als der Sohn da war, war er ihr ein und alles! Das Kind kam ins Heim, weil auch die Mutter arbeiten musste, die erste Ehe hielt nicht lange, die viel zu schnell geschlossene zweite Ehe scheiterte nach einigen Jahren, weil die Patien tin nie ihre Bedürfnisse hatte anmelden können und ihre Kontaktprobleme nicht geringer wurden; sie hat sich getrennt, weil sie sich nichts mehr zu sagen hatten, und wurde danach sehr depressiv. Nach wenigen Wochen brach sie die analytische Gruppenpsychotherapie ab mit der brieflichen Mitteilung: »Ich habe festgestellt, dass die allmähliche Vertrautheit zu allen anderen Gruppenteilnehmern mich blockiert hat, über mich selbst zu reden.« Es ist, als konnte sie die Vertrautheit, die sie doch erreichen wollte und über deren Mangel in anderen Beziehungen sie sich beklagt hatte, nicht aushalten.
Existenz trotz versuchter Abtreibung Eine Patientin, Helene L., berichtet, sie sei unehelich geboren. Ihre schwere Rück gratverkrümmung habe man immer als »Missbildungs-Skoliose« bezeichnet. Sonst wurde nie darüber gesprochen. Sie durfte nichts als Kind, weder Fahrrad fahren noch Rollschuh laufen, sie sei eben krank gewesen. Einmal hat die Großmutter dann erzählt, die Mutter habe am Anfang der Schwangerschaft massiv Tablet ten genommen, um eine Abtreibung herbeizuführen … Die Mutter habe immer so getan, als würde sie selbst am meisten unter der Behinderung ihrer Tochter leiden, sie sei mit einem kranken Kind geschlagen … »Eigentlich war Mutter das Opfer, nicht ich, so hat sie es jedenfalls immer hingestellt.« In der Adoleszenz war es ganz schlimm, weil die Mutter sie überwachte und warnte: Männer würden sie nur ausnutzen, sie hat alle Kontakte verboten, kein Mann würde sie wegen ihrer Behinderung mögen … Erst mit 16 Jahren konnte sie mit gewissem Druck durch setzen, dass die Mutter die Identität des Vaters preisgab, sodass sie ihn suchen konnte. Auch der Vater habe bestätigt, dass die Mutter Tabletten genommen habe. Mit der Mutter könne man nicht sprechen, noch heute schreit sie oder kriegt Wein krämpfe, als wolle sie jeder angreifen. Sie habe das Gefühl, dass ihr Mann sie mit ihrer Behinderung akzeptiert. Aber wenn er betrunken sei, und er sei täglich betrunken, nachdem er einen Rückfall in seinen Alkoholismus erlitten habe, werde er aggressiv und werfe mit Gegenständen nach ihr: Da holt sie alles wieder ein, und sie denkt: Ich habe keinen besseren verdient.
Die Entdeckung, dass jemand abgetrieben werden sollte, bedeutet oft einen schweren Einbruch in die Kontinuität des Lebensgefühls
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eines Menschen, manchmal jedoch auch die Erklärung für etwas vor her kaum Definierbares, Unwägbares, für ein Fremdheitsgefühl der Patienten, die sich »anders als die andern« fühlen, für diffuse subtile Kontaktschwierigkeiten und ähnliches mehr. Nun aber haben sie eine Erklärung; sie sind nicht »anders«, sondern sie waren ursprünglich von den Eltern nicht genügend gewollt.
»Es wurde Casey bekannt, daß ihre Mutter mit ihr nicht schwanger werden wollte und daß sie einen erfolglosen Abtreibungsversuch unternommen hatte. Als die Mutter dann realisierte, daß sie die Schwangerschaft austragen mußte, wünschte sie sich einen Sohn. Statt dessen aber wurde eine Tochter mit einem leichten Geburtsschaden geboren« (Kramer 1983, S. 339; Übersetzung M. H.).
Marcinowski (1924, S. 32; Hervorhebung original) weist ähnlich auf die Folgen eines Abtreibungsversuchs hin:
»Wenn es richtig ist, daß unter den nervös Veranlagten sich eine übergroße Zahl von Menschen findet, deren Leben wörtlich genommen im Keime geschädigt wurde, dadurch, daß man sie eigentlich gar nicht wollte, daß sie einer unerwünsch ten Schwängerung entsprangen und nicht der überschäumenden Gewalt des Zeugungswillens ihr Dasein verdanken, dann tritt es doch wie eine offensichtliche For derung logischen Denkens vor uns hin, daß solchen Menschen es am Lebenswillen selbst doch fehlen müsse.« Barbara K. hat einen Traum: Sie liegt im Krankenhaus, zwei Ärzte sagen ihr, sie müssten ihr die Mandeln herausnehmen, das sei ein nutzloses Organ. Sie wehrt sich, sie habe doch nichts, sei doch nicht krank. Es hilft aber nichts, sie soll operiert werden, es werden Schalen und Instrumente gebracht. – Sie denkt in Anlehnung an das paarige Organ der Tonsillen an Hoden; ich denke wegen der Schalen und Instrumente an Abtreibung. Sie kommt irgendwie auf das Fehlen einer vollstän digen Familie, an der sie sich hätte orientieren können, kommt von da auf »ihre Kinder«, die sie hätte haben können: Als sie 18 Jahre alt war, ist sie schwanger geworden, die Mutter war dagegen, dass sie das Kind behielte, sie gab ihr Instru mente, die die Mutter schon selbst benutzt hatte! Auch ähnliche Schalen wie die im Traum waren dabei. Damals hatte die Patientin heftige Blutungen, sie habe wohl nur überlebt, weil sie zu einer Ärztin gebracht worden ist. Vor zehn Jahren hatte sie eine extrauterine Gravidität; sie wollte unbedingt ein Kind. Aber das war vielleicht unehrlich, jetzt denkt sie, es war besser so; inzwischen kann sie längst keine Kinder mehr bekommen.
Rollenumkehr Die Umkehr der Eltern-Kind-Rolle ist ein Versuch der Bewältigung eines Mangels in dem Erleben eines gegenseitigen Defizits an Liebe und adäquater Versorgung bzw. Akzeptanz zwischen Eltern und Kin dern.
142 Schuldgefühl Eine jugendliche, wenn auch bereits 28jährige Patientin, Bianca H., sagte deutlich genug: »Wenn ich bei meiner Mutter bin, die verhält sich so, als ob ich die Mutter wäre, und sie das Kind, sie ist nur über sich am labern … Sie will immer was von mir, dabei müsste ich doch was von ihr wollen …«
Da die Rollen aber naturgemäß ungleich verteilt sind, es einfach die Realität ist (die es ja über die innere, psychische Ebene des Erlebens und der Phantasie hinaus schließlich gibt), dass Eltern ihre Kinder ver sorgen sollen, wird man es wieder schwer haben, die beiden Partner des Geschehens gleichberechtigt zu sehen, sondern der Realität von stark und schwach, allein lebensfähig und allein nicht lebensfähig, wissend und unwissend folgen, dem Erwachsenen die Verantwortung für eine adäquate Versorgung geben und dem Kind die »Unschuld«, die seiner Hilflosigkeit entspricht, lassen. Und wieder wird es sich automatisch ergeben, dass »Mutter« der Begriff für den sorgenden Erwachsenen bleibt, da die reale Mutter die wichtigste Bezugsperson für das kleine Kind ist, auch wenn wir wissen, dass auch andere Perso nen, der Vater zum Beispiel, sie ersetzen können und dass die umge bende Familiengruppe für Mutter und Kind absolut wichtig ist. Rollenumkehr bezeichnet die Verkehrung dieser Verhältnisse von stark und schwach, versorgen und versorgt werden, Verantwortung und »Unschuld«. Die familiendynamische Terminologie spricht auch von Parentifizierung des Kindes und von einer Form der Delegation. Ferenczi (1933) hat in seinem Plädoyer für die »Unschuld« des Kin des und die Verantwortung des Erwachsenen – ich denke als Erster – Rollenumkehr beschrieben. Man erinnert sich an den eindrücklichen Begriff der »lebenslänglichen Pflegerin«, das Kind, das die chronisch kranken, terrorisierenden Eltern versorgen muss, und den des »kleinen Psychiaters«, der gezwungen ist, die Verrücktheiten der Erwachsenen aus Überlebensgründen zu verstehen, die diese nicht durchschauen, und womöglich ihre Therapie zu übernehmen. Im »Klinischen Tagebuch« (Ferenczi 1985, S. 130) spricht er vom »wise baby«, dem gelehrten Säugling, der 1923 noch als Traum erschienen war (Ferenczi 1923: »Der Traum vom ›gelehrten Säugling‹«), keine zehn Jahre später aber von Ferenczi als Bild für die reale Ausbildung frühreifer Fähigkeit aus Überlebensnotwendigkeit gezeichnet wurde. Später haben Novick und Novick (1991, S. 315; Übersetzung M. H.) eine Abwehrphantasie des Opfers beschrieben, die intrapsychisch die Rollen zwischen stark und schwach vertauscht, entsprechend der omnipotent grandiosen For mel: »Wie muss ich wichtig, bedeutend und mächtig sein, dass er, der Täter, mich so lebensnotwendig braucht und ohne mich, das Opfer, zusammenbräche!« Ähnlich sieht Bergmann (1985, S. 21) in der Rol
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lenumkehr einen Abwehraspekt; es wird durch sie vermieden, dass die »Bezogenheit zwischen Mutter und Kind« verloren geht, und es bleibt eine gewisse Selbstkohärenz des Kindes erhalten. Beide Befunde scheinen mir darauf hinzuweisen, dass das Rollenumkehrkind aus der Not eine Tugend macht. Es gibt ein mehrgenerationales Prinzip der Rollenumkehr: Weil sich die (junge) Mutter aus der eigenen Mutterbindung nicht genügend hatte lösen können, fühlt sie sich erstens den Anforderungen als Mutter dem Kind gegenüber aus dem Gefühl heraus nicht gewachsen, selbst zuwenig oder inadäquate mütterliche Zufuhr bekommen zu haben, und erwartet zweitens in ihrem eigenen Kind eine mütterliche Figur, die – im Sinne der Rollenumkehr – ihr das geben können wird, was ihr die eigene Mutter zu geben nicht in der Lage war. Oft genug hatte bereits die (junge) Mutter ihrer Mutter gegenüber Mutter-Funktionen überneh men müssen, das heißt nicht nur das Defizit, sondern auch die Methode der erhofften Überwindung wird über die Generationen weitergegeben. Der Zusammenhang mit dem Schuldgefühlsthema ist ein zweifa cher. Einmal entsteht aus dem Gefühl, nicht genügend willkommen zu sein, das heißt, keine ausreichende mütterliche Akzeptanz zu erhalten, das Bild von sich selbst, ungenügend, nicht richtig zu sein, obendrein daran Schuld zu sein, und ein auf dieses sich aufbauendes Schuldge fühl, ein Basisschuldgefühl, wie wir gesehen haben. Aus diesem Grund habe ich das Kapitel »Rollenumkehr« auch in den Abschnitt »Basisschuldgefühl« hineingenommen. (Es hätte auch gut zu »Terrorismus des Leidens« gepasst; dort wird am offensten vom Kind die Übernahme der mütterlichen Rolle verlangt. Aber »Terrorismus des Leidens« ist nur eine Form der Dynamik, die zur Rollenumkehr führt.) Die Akzep tanz der Zuschreibung der mütterlichen Rolle durch das Kind bedeutet darüber hinaus eine Hoffnung auf Bewältigung der Trennungsangst, denn durch die Bemutterung erhöht sich die Aussicht, dass eine durch die Fürsorge erstarkte Mutter wiederum für das Kind mehr präsent sein kann. Außerdem besteht die Hoffnung, das Basisschuldgefühl zu ver ringern oder loszuwerden, durch die »Bemutterung der Mutter« gewis sermaßen eine Schuld der eigenen bloßen Existenz wegen abzutragen. Andererseits beobachten wir ein Schuldgefühl, das aus der Rollen umkehr entsteht! Denn die übernommene Mutterrolle wird vom Kind nie ausreichend, die Mutter zufriedenstellend, ausgefüllt werden kön nen; das Kind fordert in der Identifizierung mit der Zuschreibung aber genau das von sich, kann es nicht erreichen und gibt sich die Schuld daran.
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Das Kind als Partnerersatz In einem späteren Alter des Kindes wird es eher zu einem Partnerersatz in bezug auf Stützung und Verständnis gemacht; König Ödipus richtete den Wunsch nach Erfüllung all seiner Bedürfnisse im Alter auf seine Tochter Antigone. Sie war das einzige Kind, das er behalten wollte, denn seine Söhne verfluchte er beide und gab sie dem Tod anheim, wie es seine Eltern mit ihm am Anfang seines Lebens getan hatten. Auf einer erotischen, latent inzestuösen oder »allzuoft« einer mani fest sexuellen Ebene werden Jungen die kleinen auserwählten Prinzen der Mütter, Mädchen die Objekte des sexuellen Begehrens der Väter. Bereits Freud (1895, S. 238) beobachtete Anzeichen der Rollenum kehr bei einem Inzest-Opfer: »Als die Tante9 starb, wurde Rosalia die Schützerin der verwaisten und vom Vater bedrängten Kinderschar. Sie nahm ihre Pflichten ernst, focht alle Konflikte durch, zu denen sie diese Stellung führte.« Der Kern der Dynamik ist schließlich, dass beide Eltern sich im Sinne einer Partnerwahl als emotional Bedürftige finden, voneinander die Erfüllung ihrer Bedürfnisse erwarten, aber sich darin enttäuschen müssen, wobei vonseiten des Vaters die narzisstischen Bedürfnisse sexualisiert sind (sicher durch eine entsprechende frühe subtil ver führerische Objekterfahrung bedingt), und beide Eltern sich meist der ältesten Tochter bemächtigen, indem sie sie zur ambivalent geliebten, gehassten und auch schließlich sogar gefürchteten Mutterfigur machen. Rollenumkehr hat mit ungenügend entwickelten (Generations-) Grenzen zwischen Eltern und Kind, Versorgenden und Versorgten, zu tun. In jeder Altersstufe des Kindes, die einer Schwelle zu einem neuen Identitätsabschnitt entspricht, werden die Grenzen wieder regressiv in Frage gestellt. Viola R. hat eine 13jährige Tochter, die jetzt öfter bei einer Freundin übernachtet, auf Partys geht und anfängt, sich zu schminken; diese kleinen Trennungsschritte werden von der Patientin als bedrohlich erlebt: »Ich glaube, ich wär’ nicht mehr am Leben, wenn meine Tochter nicht wäre. Weil sie da war, habe ich eben immer gekocht und auch für mich mitgekocht. Für mich allein hätt’ ich das nicht getan. Allein war ich mir nichts wert.« Jetzt fängt die Tochter an, sie zu bemuttern, sie kocht und putzt. Frau R. hat sich also selbst bemuttert, während sie damals die Tochter bemuttern musste, das bedeutet: Die Tochter hat sie damals schon »bemut tert«, durch ihre Existenz, jetzt versorgt sie sie tatsächlich.
9 Es war keineswegs die Tante, sondern die Mutter, entsprechend der Fußnote von 1924: »Auch hier war es in Wirklichkeit der Vater, nicht der Onkel.« Freud hatte ursprünglich den Vater schützen wollen und für ihn »Onkel« eingesetzt.
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Rollenumkehr-Forderungen gibt es das ganze Leben hindurch; eine Mutter, die in der Tradition das Erfahrene an die eigene Tochter weiter gibt, ist keineswegs automatisch von der Aufgabe entbunden, sich weiter um die eigene Mutter zu kümmern (Halberstadt-Freud 1993). Und es sind eben in der Regel die am wenigsten geliebten Kinder, die in die Pflicht genommen werden und sich ihr unterwerfen, die aufgrund eines Basisschuldgefühls die Mutter-Rolle so eifrig annehmen, weil sie sich eine Aufwertung ihrer selbst und eine Verringerung ihres Schuld gefühls erhoffen. Während typischerweise die geliebteren Kinder sich viel besser trennen konnten, längst verheiratet und auch weit weg gezo gen sind, ist die ungeliebte Tochter – auch aufgrund eines verstärkten Trennungsschuldgefühls – in der Heimatstadt (wenn nicht in der elter lichen Wohnung) geblieben und muss die Eltern versorgen, regelmäßig anrufen, Gesellschaft leisten, nicht ohne, wie eh und je, ständig von der unzufriedenen Mutter unwillig angetrieben und kritisiert zu werden.
»Der Wiedehopf« – Von der Sehnsucht, gestillt zu werden Im »Physiologus« (Seel 1960, S. 16), der alten frühchristlich-mytho logischen Naturbetrachtung, findet sich folgender Abschnitt: »Vom Wiedehopf
Geschrieben steht: Wer Vater und Mutter flucht, der soll des Todes sterben. Wie also mag es solche geben, die gegen Vater und Mutter die Hand heben? Ist ein Vogel, genannt Wiedehopf. Wenn dessen Kinder ihre Eltern alt werden sehen, zupfen sie ihnen die alten Federn aus und lecken ihnen die Augen, und sie hegen die Eltern unter ihren Fittichen und machen, daß sie wieder frisch und jung werden. Und dabei sagen sie zu ihren Eltern: So wie ihr euch geplagt habt, als ihr mit Plage uns aufzoget, so tun auch wir Desselbigengleichen an euch. Wie also mag es so unverständige Menschen geben, die nicht ihre eigenen Eltern lieben?«
Das Bedürfnis, von seinen Kindern – besonders im Alter – etwas zu bekommen, genährt zu werden, scheint ein allgemeines Menschengut zu sein, wie sein Ausdruck in Mythologie, Dichtung und bildender Kunst es belegt. Wäre der Wiedehopf, der die alten Eltern unter seine Fittiche nimmt, dazu imstande, gäbe er den darbenden Alten auch noch die Brust! Rollenumkehr dagegen ist ein pathologisches Muster, so lange es sich um die Überforderung eines Kindes und die Umkehr der selbstverständlichen Richtung der emotionalen Zufuhr zwischen Erwachsenen und Kind handelt. Der Wunsch aber, von seinen Nach kommen etwas zu bekommen, ist so legitim wie er auch überall anzu treffen ist. Und man kann ja auch von seinen Kindern genug bekommen an Anerkennung und Liebe, man kann sich freuen an ihrer Entwicklung
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und ihren Fortschritten und einen legitimen narzisstischen Gewinn dar aus ziehen. Rollenumkehr bedeutet dagegen die Umkehr des Versorgungsstroms aufgrund eines Drucks, dem das Kind sich notgedrungen fügt, etwas zu geben, was es eigentlich nicht geben kann, sodass es sich schuldig fühlt. Kein Bild ist wohl so geeignet, emotionale Zuwendung und Ver sorgung zu bezeichnen wie das Stillen, die Brustfütterung des Säug lings, eine »Situation, in welcher wir uns einst alle behaglich fühlten, als wir im Säuglingsalter … die Brustwarze der Mutter oder Amme in den Mund nahmen, um an ihr zu saugen« (Freud 1910c, S. 155), eine Situation, die Freud (an gleicher Stelle) als »menschlich schöne Szene« bezeichnet. Im Traum wird das Bild aber auch oft verwendet, um Rollenumkehr und Missbrauch zu symbolisieren, das heißt das Kind soll den Eltern die Brust geben, oft verdichten sich die Bilder von Mutter und Kind: Dorothea L. träumt, sie sollte ihrem Säugling (sie hat real keine Kinder) die Brust geben, sie hat sich gefreut, dass das Kind lebte, aber sie hatte eine zu kleine Brust, die gab keine Milch, um das Kind zu nähren. Im Traum hatte sie ein zweifaches Gefühl, als ob sie es selbst gewesen wäre, die da nichts bekommt, und gleichzeitig eine Mutter, die nichts geben kann. Eine andere Patientin, Annette J., träumt: Eine Frau beklagt sich, dass sie (die Patientin) sie nicht mehr besucht. Dann erscheint eine Gruppe von Kindern, die sie betreuen muss, aber sie scheitert kläglich, sie ist ungeeignet, mit Kindern umzu gehen. Dann liegt sie mit einem jungen Mann im Bett, der ihre Brüste befühlt und sagt: »Da ist ja noch Milch drin!« – Dazu wird erarbeitet: Der Traum erschien gegen Ende der Weihnachtsferien. Sie hatte die Mutter wieder besucht, nach dem sie zwei Jahre Weihnachten nicht zu ihr gegangen war. Die Mutter hatte sich beklagt, dass sie keiner mehr besucht. Der Traum stellt manifest dar, dass sie unfähig ist, für Kinder zu sorgen. Sie liegt zwar im Traum mit einem Mann im Bett, aber es ist, als könnte keine sexuelle Beziehung entstehen, solange die Brüste noch Milch enthalten. Die Weihnachts ferien bedeuten: Keine Therapie, also bekommt sie keine therapeutische Nahrung. Sie konnte auch nicht in den Ferien das für das Studium arbeiten, was sie sich vorgenommen hatte, konnte also keine Fortschritte machen, unabhängig sein, sich selbst »ernähren«. Stattdessen musste sie auf die Symptomatik zurückgreifen: Hef tige Fressanfälle und Erbrechen als drastische Karikatur nicht gelingender Selbst versorgung. Das Fazit also: Solange sie Milch für die Mutter haben muss, die sich beklagt, dass sich keiner um sie kümmert, kann sie keine eigenen Kinder haben, kann sie nicht Sexualität haben, kann keine Fortschritte in der beruflichen Identität machen.
Der folgende Traum handelt von Missbrauch und von Umkehr der Ver sorgung in der Übertragung:
Lea G. träumt: Sie hat ein ärmliches Unterhemd an, das sie zu verbergen sucht, es ist ihr peinlich, so gesehen zu werden. Dann trifft sie ein völlig verarmtes Zigeu
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nerkind, das endlos weint, sie hat großes Mitleid. In ihrem Unterhemd ist plötzlich eine Tasche, aus der sie 100 Mark holt, die sie dem Kind geben will. Dann denkt sie aber, das Kind müsste alles dem Vater abgeben, und zögert deshalb, ihm das Geld zu geben. Das Mädchen hat auf der Brust blaue Narben, es sieht so aus, als seien es Tumore, als habe sie der brutale Vater misshandelt. – Sie denkt daran, dass sie ihre Sexualität »frühzeitig verstecken« musste – wie das Unterhemd. Ich denke wegen des Geldbetrags im Traum an das Gruppentherapiehonorar (sie hatte gefehlt, sodass sie für zwei Sitzungen 100 Mark würde zahlen müssen). Sie will dem Vater nichts geben (der Therapeut würde es kriegen, wenn sie es der Gruppe gibt). Die Gruppe ist bedürftig, da will immer jemand weinen, die Brüste (die Gruppe als Mutter) sind verstümmelt, blau verfärbt und narbig. Aus diesen Brüsten kann nichts kommen, sie sind missbraucht worden. Im Traum schämt sie sich der eigenen Ärmlichkeit, Bedürftigkeit. Dann denkt sie daran, dass sie völlig erschrocken war, als ihre pubertierende Tochter in einem Geschäft ein Kleidungsstück anprobiert, reflexartig wollte sie die sich entwickelnde Brust der Tochter bedecken. Sie denkt: Das arme Kind muss eine Frau werden. Sie denkt auch: Was denkt eigentlich der Sportlehrer, wenn er sie so sieht?
Wieder handelt es sich um eine Verdichtung von oraler und sexueller Bedürftigkeit (des Vaters) und die Auseinandersetzung mit der Anfor derung an das Kind, mehr zu geben, als es bekommen kann. Auch in der Literatur fand ich ein Beispiel von der »Brustfütterung Erwachsener«: »Ich hatte einen von diesen Albträumen … genau wie früher, als ich noch das Asthma hatte. Ich war in einem zerbrechlichen kleinen Boot, und das Meer wurde wilder und wilder, und ich ertrank fast. Aber ich fand eine kleine Kajüte, in die ich hineinschlüpfte. Die Wellen … donnerten gegen die Fenster. Plötzlich sah ich eine Frau in meinem kleinen Gehäuse, die zeigte auf zwei hübsche rundlich geformte Töpfe, die offensichtlich meine waren, und sagte: ›Ich möchte, daß du mir die gibst.‹ Ich zögerte keine Sekunde und sagte: ›Nimm sie, sie sind deine!‹« (McDougall 1989a, S. 159; Übersetzung M. H.).
Die Patientin McDougalls machte während des Erzählens eine Bewe gung: Sie umfasste mit beiden Händen ihre Brüste und streckte dann die Arme, als wollte sie sie jemandem geben. Das bedrohliche Meer wurde mit der Mutter gleichgesetzt (französisch »mer« und »mère« klingen gleich): Die Patientin hatte das Gefühl, ihrer Mutter alles gege ben zu haben, ihre Weiblichkeit, ihre Vitalität, ihre Mütterlichkeit. Die Therapeutin (McDougall 1989a, S. 160) ergänzte: Es scheine, sie habe der Mutter »die Brust gegeben«. »Das stimmt genau! Ich habe sie ständig gefüttert – mit kleinen Geschenken und Aufmerksamkeiten. Sie brauchte die ganze Zeit Aufmerksamkeit, um nicht auseinanderzufallen. Ich fühlte mich immer schuldig, wenn es ihr schlecht ging oder sie unglücklich war, als wäre es meine Schuld. Ich war ewig untergebener Diener. Sie war der Grund meiner Existenz. Sie war das verlassene Kind, nicht ich!«
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Also ein typischer Fall von Rollenumkehr, die im Traum durch ein (verschlüsseltes) Bild von der Brustfütterung, dem »Brust geben« (auch englisch: »to give the breast«; französisch: »donner le sein«), dargestellt wird. Manchmal holen sich die Eltern auch noch von ihren erwachsenen Kindern, was sie kriegen können, auch materiell, wohl ihrerseits aus dem Gefühl heraus, immer zu kurz gekommen zu sein: Lydia S., deren Vater aus Südamerika stammt, berichtet: Die Eltern wohnen in einer Sozialwohnung, für die sie weniger Miete zahlen, weil sie eine Tochter (die Patientin) haben, die aber gar nicht mehr bei ihnen wohnt. Sie ist deshalb nicht frei, sich polizeilich umzumelden. Sie hat Schuldgefühle, das zu tun, weil dann ihre Eltern mehr Miete zahlen müssten. Das Kindergeld, das die Eltern für sie bekommen, behalten sie ganz für sich. Andererseits verdienen sie aber so viel, dass die Patientin nur 60 Prozent des Höchstsatzes des staatlichen Stipendiums bekommt, sie zahlen der Tochter jedoch keinen Pfennig. In einem Brief der Mut ter, in dem sie immer wieder extreme Sorgen ausdrückt, dass die Tochter, wenn sie sich nicht ändere, völlig lebensunfähig sei, schreibt sie: »Dass Du Dich an der finanziellen Unterstützung der Familie Deines Vaters beteiligen willst, ist lobens wert.« Frau S. verdient sich einen Teil ihres Lebensunterhaltes mit Jobs neben dem Studium. bara K., über die ich ausführlich berichtet habe (Hirsch 2001), war auf Bar einem Bauernhof mit der Mutter allein aufgewachsen – der Vater war im Krieg geblieben. Wie in der Analyse ans Licht kam, war das Kind ein Opfer regel rechter Kinderprostitution auf dem Bauernhof gewesen, indem die Mutter es an die Angestellten und Logisgäste auslieh – es blieb offen, ob das gegen Bezahlung geschah … Wenn die Patientin, die inzwischen studierte und den Miss brauch völlig verdrängt hatte, zum Wochenende die Mutter besuchte, nahm die Mutter von ihr 30 Mark als Kostgeld, als sie später mit ihrem Mann kam, den doppelten Betrag. Eine perverse, weil erzwungene »caritas humana« (s. im Folgenden).
Ein Beispiel der Darstellung der großen narzisstischen Bedürfnisse im Alter, die an die Tochter gerichtet werden, findet sich bei Shake speare: King Lear erwartet alles von seiner Tochter Cordelia, und die Zurückweisung löst ein Unmaß an narzisstischer Wut aus. Shengold (1989b) hat die frühkindliche Qualität der Bedürftigkeit des Königs herausgearbeitet, wenn diese auch mit inzestuösen Anteilen vermischt sein mögen: »Lear will seine Tochter als perfekte Mutter haben, als seine Amme, voll von Milch« (S. 229; Übersetzung M. H.). Das viel fach wiederholte »nichts« der Tochter als Antwort auf die Frage, was sie sagen könne, um ihre Liebe zum Vater in Worte zu fassen, ver steht Shengold als die »zurückweisende Brust«; die Tochter »hat eine orale Gabe verweigert, die für Lear einen ›Busen‹ bedeutete, der ›alles‹
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[everything] enthielt« (S. 230). Die eigene Gier legt Lear projektiv in die Tochter, als er sich auf der Heide in einem großen Unwetter befin det. Shengold (1989b) versteht dieses Unwetter als Projektion der kannibalistischen Wut auf die Umgebung; ähnlich wie im Traum der Patientin McDougalls auf das aufgewühlte Meer, wie ich denke. Er wirft dem heruntergekommenen Edgar vor: »Hast du alles Deinen Töchtern weggegeben? … Behieltst dir nichts zurück? Gabst ihnen alles?« Dann sagt Lear zu ihm: »Stirb, du Verräter! Nichts sonst könnt’ Natur So tief verwirrn, wie undankbare Töchter. Ist das die Mode, daß verstoßene Väter mit ihrem Fleisch so wenig Mitleid haben? Kluge Bestrafung! Denn es war dies Fleisch ja, das solche Pelikane von Töchtern zeugte« (Shakespeare [1968–1987]: König Lear, 3. Aufzug, 4. Szene).
Das heißt, die Tochter habe ihn ins Elend gebracht, wie er meint, denn der (verdrehten) Pelikan-Fabel (s. u. Teil II, S. 191) nach ernährten sich die gierigen Jungen des Pelikans von dem Blut der aufgehackten Brust der Mutter. Anstatt dass er die Brust der Tochter kriegt, meint Lear, ihr sein Blut, wie die Pelikane, geben zu müssen, wie er denkt, dass Edgar es getan hätte. Caritas humana Über die Pathologie hinaus repräsentiert das Motiv der Brustfütterung durch die eigene Tochter wohl ein allgemein menschliches Bedürfnis nach Versorgtwerden (materiell und emotional) im Alter durch die dann lebenstüchtigen Kinder der nächsten Generation. Ein Beispiel ist die Darstellung des Stillens einer gebrechlichen, bettlägerigen Alten durch eine junge Frau auf einer Marmorplatte am Eingang des Friedhofs zu Macao10, zusammen mit dem Vertreter der nächsten Generation, einem kleinen Kind, das offenbar zornig seinen Anspruch auf die lebensspen dende mütterliche Flüssigkeit geltend macht (vgl. Abbildung 2 ). Dasselbe Motiv ist in einer römischen Legende enthalten, die Valerius Maximus (Facta et Dicta Memorabilia, 5. Buch 7, S. 149) folgen dermaßen erzählt:
10 Ich danke Margrit Marenbach und Dr. Jürgen Marenbach für das Foto und den Hinweis auf die chinesische Fassung dieses Motivs.
Darstellung des Stillens einer gebrechlichen, bettlägerigen Alten durch eine junge Frau auf einer Marmorplatte am Eingang des Friedhofs zu Macao13, zusammen mit dem Vertreter der nächsten Generation, einem kleinen Kind, das offenbar zornig seinen Anspruch auf die lebensspendende mütterliche Flüssigkeit geltend macht (s. Abb. 2). 150 Schuldgefühl
Abbildung 2: Marmorplatte am Eingang des Friedhofs in Macao »… der Prä tor über eine frei geborene Legende Frau, die … zum Todedie ver urteilt wor Dasselbe Motiv istgab in einer römischen enthalten, Valerius den war, dem Triumvirn, um sie im Gefängnis hinrichten zu lassen. Als sie dorthin Maximus (Facta et emp Dicta Memorabilia, 7,leid S. 149) den war, fand der Gefängnisa5. ufsBuch eher Mit mit ihrfolgenderund erdros gebracht wor maßen selte sieerzählt: nicht sofort. Er gestattete auch ihrer Tochter, sie zu besuchen, nachdem er
sie genau untersucht hatte, damit sie keine Speisen mit hineinnehme; er glaubte nämlich, die Frau werde Hungers sterben. Als aber schon mehrere Tage vergangen
13 Ich danke Margrit Marenbach und Dr. Jürgen Marenbach für den Hinweis auf die waren, fragte er sich, womit sich die Frau so lange am Leben erhalte, und nachdem chinesische Fassung dieses Motivs.
er die Tochter aufmerksamer beobachtet hatte, stellte er fest, daß sie ihre Brust entblößte und den Hunger der Mutter mit ihrer Milch stillte. Er meldete diesen so unerhörten, bewunderswerten Vorfall dem Triumvirn, der Triumvir dem Prätor, der Prätor dem Richterkollegium; daraufhin wurde der Frau ihre Strafe erlassen. Wohin führt nicht oder was ersinnt nicht die Liebe zwischen Kindern und Eltern? Sie fand einen neuen Weg, die Mutter im Gefängnis am Leben zu erhalten. Was nämlich ist so unüblich, was so unerhört, wie die Tatsache, daß eine Mutter an den Brüsten der Tochter genährt wurde? Nun könnte jemand meinen, es sei dies ein Verstoß gegen die Natur – wenn nicht das erste Gesetz der Natur vorschriebe, seine Eltern zu lieben.«
Hier ist es die Mutter, die schmachtet, ein Enkelkind, zu dessen Nach teil die Alte versorgt wird, ist nicht dargestellt. In einer anderen Ver sion ist es der Vater, der im Gefängnis darbt; die Legende von Cimon und seiner Tochter Pera wurde als Bild einer »caritas humana« oder
Erste Gruppe Gruppe der der Schuldgefühle: Schuldgefühle: Basisschuldgefühl Basisschuldgefühl Erste
Abbildung 3: 3: Antonio Antonio Belucci Belucci (1654–1726), (1654–1726), Caritas Cimon and Pero Abbildung Romana (Mit freundlicher Genehmigung der1685 Kunsthalle Bremen) (Roman Charity), um (mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bremen)
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»caritas romana« bekannt, auch von der christlichen Kirche als Sinn bild wahrer Nächstenliebe verwendet. »Das Bildmotiv beruht auf einer antiken Legende, nach der ein Athener Bürger im Gefängnis vor dem Hungertode bewahrt bleibt, weil seine Tochter ihn aus ihrer Brust nährt« (Sachs, Badstübner u. Neumann 1973, S. 74). Es gibt mehrere künstlerische Darstellungen dieses Motivs: beispielsweise im Chorgestühl des Magdeburger Doms (um 1360) und auf einem Bild von Carlo Cignani (1628–1719); ein Bild stammt von Jaques-Antoine Beaufort (1721–1784), Musée des Beaux Arts, Bordeaux; drei Gemälde sind im Besitz der Bremer Kunsthalle (Joachim von Sandrart [1606–1688], »Cimon und Pera«, 1645; Antonio Belucci [1654–1726], »Caritas Romana«, 1688 [s. Abbildung 3]; Noel-Nico las Coypel: »Cimon und Pera«). In diesen Darstellungen fehlt meist auch die Kinder-Generation nicht, sodass sie eine besondere Form des »Anna-selbdritt-Motivs« abbilden, eine Dreieinigkeit der Generatio nen. Hier ist es aber nicht, wie es Berger (1989, S. 266) so überzeu gend am Beispiel des Leonardo-Bildes abgehandelt hat, die »Mut ter-Figur … [als] zu haltende und tragende Gestalt, aus deren sicheren Schoß heraus sich eine angstfreie weibliche Geste zum Kind hin bil det«, das heißt die gute mütterliche Erfahrung der eigenen Kindheit, auf deren Grundlage eine ausreichende mütterliche Hinwendung zum eigenen Kind möglich ist. Vielmehr ist in der Darstellung der »caritas humana« eine Umkehr der Richtung der mütterlichen Zuwendung zur Elterngeneration hin gemeint, während die berechtigten Ansprüche des kleinen Kindes erst einmal zurückstehen müssen. (Das Kind auf der chinesischen Darstellung protestiert recht heftig.) Aber immerhin, die bildlichen Darstellungen geben meist so viel Harmonie in der Kompo sition der drei Generationen wieder, dass man auch hier davon ausge hen kann, dass es die allegorische Darstellung wünschenswerter, nicht ausbeuterischer Ansprüche der alternden Eltern und ihrer Erfüllung ist.
Die Existenz ist gewollt, aber das Kind ist nicht »richtig« Im Vergleich mit dem überwiegenden, und zwar eindeutigen Nicht-willkommen-Sein ist ein Kind, dessen Existenz zwar erwünscht ist, das aber nicht den Erwartungen der Eltern genügt, weit mehr mit Ambi valenz konfrontiert. Es lassen sich einige Formen dieser Diskrepanz vorstellen, etwa wenn es sich um ein missgebildetes Kind handelt oder eines, das von einem ungeliebten Partner stammt. Am häufigsten rührt die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität wohl vom »falschen«
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Geschlecht des Kindes her; immer noch häufiger bereitet davon das weibliche Geschlecht die Enttäuschung, manchmal ist aber auch ein Mädchen gewünscht, abhängig unter Umständen auch von der Zahl der Geschwister und deren Geschlecht; nach drei oder vier Jungen soll es endlich ein Mädchen sein, und umgekehrt! Wie auch beim »ein deutig« abgelehnten Kind wird es immer auch einen Teil in den Eltern gegeben haben, mit dem es angenommen worden ist, schließlich haben die Kinder überlebt. Eine Einteilung einerseits in ganz abgelehnte und andererseits zwar willkommene, aber ihrer Eigenschaften wegen abge lehnte Kinder ist deshalb etwas künstlich. Es ist mein Eindruck, dass die Ambivalenz sich im Selbstgefühl und im Verhalten der späteren Patienten ausdrückt. Zum Beispiel könnte es sein, dass ein Kind einen Teil von sich entwickelt, der depressiv, schuldbeladen die Ablehnung, ein anderer, rebellierender, aktiver das prinzipielle Gewolltsein reprä sentiert. Oder ein Kind, das »eigentlich« gewollt war, kann sich eher an die Erwartungen anpassen, etwa an bestimmte Geschlechtsrollenerwartungen, jedenfalls bis zu einem gewissen Alter (oft der Pubertät), sodass es erst dann wieder zu offener Ablehnung kommt. Die beiden Bereiche, die von den denkbaren Möglichkeiten der Zurückweisung eines ursprünglich gewünschten Kindes hier besprochen werden sol len, sind die des »falschen Geschlechts« und des »Ersatzkindes«.
Das »falsche« Geschlecht Lillian Rotter (1934, S. 368; Hervorhebung original) wollte im Ver gleich zum Penisneid
»das Interesse auf eine viel weniger gewürdigte Erscheinung lenken: Auf den Unterschied im Betragen der Mutter gegen ihre Tochter und ihren Sohn. Auf Schritt und Tritt bekommen wir den flehentlichen Wunsch gravider Frauen zu hören: Ihr Kind möge doch ein Junge werden! Dieselben Frauen pflegen zumeist ihre Enttäuschung – ja oft sogar Kränkung –, wenn es doch nur ein Mädchen geworden ist, gar nicht zu verheimlichen.«
Natürlich bezieht die Ferenczi-Schülerin Einstellung und Verhalten der Umwelt und insbesondere der immer noch wichtigsten Bezugsper son des kleinen Kindes, der Mutter, auf die Bildung der Einstellung des Individuums zu sich selbst und seinem Geschlecht, seinem Körper, seinen Eigenschaften mit ein. »Die Selbstanklagen, der gegen die eigene Person gerichtete Tadel der weiblichen Kranken – die Kranke findet sich häßlich, klein, schwach – hängen meist mit dem Penismangel zusammen, doch stellt es sich oft heraus, daß die Kleine diese Klagen zuerst von der Mutter gehört hatte, wie das bei einer Kranken der Fall war, deren
154 Schuldgefühl Mutter beim Baden der kleinen Tochter immer lamentierte, wie klein, schwarz und häßlich ihr kleines Mädchen doch sei! Ihren Sohn aber bewunderte sie stets« (Rotter 1934, S. 368).
Auch bei Kramer (1983, S. 333) fanden wir ein Beispiel solcher Hal tung: Wenn schon die Schwangerschaft ausgetragen werden muss, dann soll es wenigstens ein Junge sein! Ich habe berichten hören, dass die Mutter einer Patientin direkt nach der Niederkunft, als man ihr das neugeborene Mädchen reichte, ausrief: »Da ist ja gar kein Schniepel dran!« In einem anderen Fall war der Vater, der mit einem Blumen strauß in die Klinik geeilt war, derart enttäuscht über das weibliche Geschlecht seines neugeborenen Kindes, dass er die Blumen in die Ecke warf und drei Tage nicht mit seiner Frau sprach. Eine Patientin, Herta H., suchte die Therapie auf, weil sie mit ihrem 18jährigen Sohn nicht mehr zurechtkam, hin und hergerissen zwischen dem Schuldgefühl, ihm Grenzen setzen zu wollen und einem anderen, dazu nicht in der Lage zu sein und deshalb als Mutter zu versagen. Ihr Ehemann hielt sich aus den Fragen der Erziehung des einzigen Kindes völlig heraus. Ganz anders in der Herkunftsfamilie der Patientin, in der der Vater absolut dominierte und die Mutter sich völlig unter geordnet hatte, keinen Beruf ausübte, jedoch oft insgeheim mit »viel Diploma tie« ihren Willen durchzusetzen verstand. Die um ein Jahr jüngere Schwester war immer sehr weiblich, sie sieht auch die ganze Familiendynamik viel wohlwollen der als die Patientin, die immer mehr jungenhaft und wild war, gegen Familienunternehmungen rebellierte und die meiste Prügel des autoritären Vaters einsteckte; immer hatte sie das Gefühl, wegen ihrer Wildheit in der Familie nicht anerkannt zu werden. Die Schwester dagegen meint heute, sie (die Patientin) sei doch das Lieblingskind des Vaters gewesen, auch wenn er lieber einen Jungen gehabt hätte. In der Adoleszenz hielt sie es in der Familie kaum mehr aus, heiratete gegen den extremen Protest des Vaters sehr früh einen viel älteren Mann, von dem sie sich anerkannt fühlte. Sie hatte keine Berufsausbildung, zwei Fehlgeburten versetzten sie in völlige Verzweiflung, und als sie schließlich einen Sohn geboren hatte, war sie »unheimlich stolz«. Später eroberte sie sich auch eine berufliche Karriere, wäh rend die Schwester ganz in ihrer Ehe und in ihrer Rolle als Mutter von drei Kindern aufgehe. Sie könnte eigentlich zufrieden sein, käme aber mit dem negativistischen, rebellischen Verhalten des Sohnes nicht zurecht, sei hin und hergerissen zwischen Wut, Schuldgefühl und Verzweiflung. Es konnte erarbeitet werden, dass die Patientin sowohl mit ihrer aggressiven, rebellischen Seite, die sie in ihrem Sohn wiedererlebte, als auch mit ihrer passiven, gewährenden, zurückhaltenden Seite nicht einverstanden war, beides hielt sie nicht für richtig und erlebte es als schuldhaft. Hier aktualisiert sich wieder die Ambiva lenz der Eltern bzw. der Familiendynamik: Sie war ein Wunschkind, aber hätte ein Junge sein sollen. Die Schwester war gar nicht erwünscht, schon ein Jahr nach der Geburt des ersten Kindes, aber in der weiteren Entwicklung hat sie anscheinend doch eine ausgeglichene weibliche Identität entwickeln können. Mit der frühen Heirat hat die Patientin einerseits gegen die Familie rebelliert, andererseits sich in eine ähnliche Rolle begeben wie die Mutter, offenbar unbewusst, in der Erwartung, endlich einen Sohn zu gebären. In der Rebellion des adoleszenten Sohnes aktuali sierte sich ihr eigener Identitätskonflikt wieder.
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Aber auch das männliche Geschlecht ist manchmal unwillkommen: Nach wiederholten, äußerst demonstrativen Suizidversuchen in Zuständen aggressi ven Kontrollverlustes suchte ein 40jähriger Patient, Gerd O., die Therapie auf. Er hatte einen »ziemlich brutalen Vater, der oft betrunken vom Dienst kam und viel geprügelt hat«. Der Vater war erst bei der SS, später bei der Polizei gewesen. Die Eltern waren bereits mehrere Jahre verheiratet, bis der nun sehr erwünschte älteste Sohn, der spätere Patient, geboren wurde. Seine Existenz war aber von zwei Hypotheken belastet: Die Mutter, wie sie später erzählte, fühlte sich gar nicht wohl, ein Kind männlichen Geschlechts zu haben, dem gegenüber sie eine gewisse Ehrfurcht, Scheu, dadurch aber auch große Distanz empfunden hatte; eigentlich war sie während der Schwan gerschaft fest überzeugt gewesen, ein Mädchen zu bekommen. Der Vater dagegen war mit dem Geschlecht des Sohnes einverstanden, hatte jedoch nichts anderes mit ihm im Sinn, als dass er einmal »was Besseres« werden sollte. Anscheinend hatte Herr O. die Aufgabe, diese verschiedenen sich widersprechenden Zuschreibungen zu vereinbaren bzw. sich von ihnen zu befreien, nicht anders lösen können, als sich imitatorisch mit der brutal-männlichen Seite des Vaters zu identifizieren: Er war ein Waffennarr geworden, es kam über die Jahre immer wieder zu Alkoholexzes sen, die Kontrollverluste führten immer wieder zu Tätlichkeiten, auch gegen die jeweiligen Partnerinnen. Wenn er Hand an sich selbst legte, geschah das immer in Anwesenheit der Frau, mit der er gerade zusammen war, offenbar als extrem aggressiver Appell gemeint, endlich als er selbst anerkannt zu werden. Auch in diesem Falle gab es einen Bruder, der wahrlich nicht gewünscht war: Der Vater hatte in einer heftig paranoiden Reaktion auf die erneute Schwangerschaft reagiert, indem er dachte, das Kind sei nicht von ihm; immer war der Bruder der Abge lehnte, Unglückliche, Unscheinbare von den Geschwistern. Der Bruder habe aber ohne jedes Aufsehen seinen Weg gefunden und sich jetzt eine erfolgreiche Position erkämpft, während Herr O. es nie wirklich zu etwas gebracht hatte. »Jetzt bekommt er Anerkennung von meinem Vater, und Mutter hört auf ihn wie ein Hündchen, dabei ist er doch jünger als ich!«
In solchen Fällen versuchen die Kinder, sich den elterlichen Erwar tungen anzupassen, Mädchen entwickeln beispielsweise jungenhafte Verhaltensweisen wie Frau H., klettern auf Bäume, tragen Hosen und kurze Haare. Schlimm nur, wenn sie nun wegen ihrer »Wildheit« in die Schranken verwiesen werden. Es ist eben im allgemeinen so, dass die Anpassungsvorgänge nicht ausreichen, die ursprüngliche Ablehnung zu beseitigen. Weder die dem Mädchen mögliche Rebellion führt zur Anerkennung, noch reicht die Anpassung an die Erwartungen aus, wie wir in den Beispielen bemerken konnten. Und beide Richtungen des Verhaltens als Ausdruck von Identitätsanteilen verursachen Schuldge fühle, was besonders im Beispiel von Frau H. zu sehen war. Dagegen sind die Geschwister, die nicht derart zwischen Wunsch kind-Projektion und Enttäuschung zerrissen sind, oft unauffälliger und zielstrebiger, sodass sie die Problemkinder »überholen«. Ähnlich haben Engel und Ferguson (1990, S. 142) festgestellt, dass derartige Rebellionen und auch bestimmte entwickelte Fähigkeiten oder Erfolge
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nicht halten können, sondern durch unbewusste Sabotage die ursprüng lichen negativen Botschaften der Eltern erfüllen.
Totes Geschwister I – Das Ersatzkind Der Tod eines Geschwisters kann ganz verschiedene Bedeutungen und Wirkungen haben, je nachdem ob bereits eine Beziehung zu ihm bestanden hat oder nicht. Im ersten Fall ist es die Aufgabe auch des kleinen Kindes, durch Trauerarbeit die Beziehung zu lösen, um zu sich selbst zu kommen, und das aus Aggression und Neid zusammen mit den kindlichen Todeswünschen entstandene Schuldgefühl zu verrin gern oder zu verlieren. Je mehr die Umgebung, allen voran Vater und Mutter, ihrerseits zu trauern in der Lage sind, um so eher kann es auch das Kind. Ganz anders verhält es sich mit dem Tod eines Geschwisters zu einer Zeit, als das überlebende Geschwister noch gar nicht geboren oder so jung war, vielleicht ein Säugling noch, dass es keine wirkli che Beziehung zum verstorbenen Geschwister hatte entwickeln kön nen. Die dann entstehenden Folgen müssen ihm vermittelt worden sein durch die Menschen, die eine Beziehung zu dem verstorbenen Kind hatten und den Verlust nicht ausreichend bewältigen konnten, sodass sie das lebende Kind verwenden, um ihn nicht wirklich (affektiv) wahr haben zu müssen. In gewisser Weise muss das lebende das gestorbene Kind ersetzen, es bekommt die Identität eines anderen verschrieben, um nicht zu sagen implantiert, ohne zu wissen, was ihm geschieht. Das Phänomen »Ersatzkind« übt eine eigenartige Faszination aus, und das liegt wohl daran, dass das Introjekt, welches im Kind entsteht, den Charakter des Unheimlichen trägt. Es ist nicht zu greifen, entzieht sich der Analyse, es nimmt einen Raum im Selbst ein, der fremdartig wirkt. Das Phänomen des Ersatzkindes ist der überzeugende Beweis, dass im Kind psychische Gebilde zu entstehen vermögen, an denen es selbst und seine Triebe nicht mitgewirkt haben können, da ein Ereignis vor der Existenz des Kindes wirksam wurde. Das Kind ist »unschul dig«; und doch fühlt es sich schuldig – jedes Introjekt macht Schuld gefühle. Das Einzelkind kann die omnipotente Phantasie entwickeln, selbst verursacht zu haben, dass die Eltern keine weiteren Kinder haben (Arlow 1972), auch ohne dass zuvor ein Geschwister gestorben ist. Eine solche Phantasie macht bereits Schuldgefühle, zumal sie sich auf die eigene intrauterine Zeit erstrecken kann, in der alle denkbaren Geschwister in einem siegreichen Kampf im Keime erstickt worden sind, wie Arlow berichtet. Die Folgen sind Angst vor Rache, Schuld gefühl und Strafbedürfnis, auch Projektion des phantasierten Angriffs
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oder der Strafe auf den Körper, sodass hypochondrische Ängste auf treten. Aber nicht allein die Phantasie bewirkt derartige Ängste, auch die subtilen oder offenen Botschaften der Eltern wirken in dem Kind, sichtbar an Mitteilungen, wie sie Arlow (1972, S. 515; Übersetzung M. H.) wiedergibt: »Wir dachten, wir könnten kein anderes Kind lieben, oder: Du hast alle Liebe bekommen, und da blieb für ein anderes Kind nichts übrig; manchmal hat die Antwort (auf die Frage des Kindes) einen entschieden negativen Klang: Es hat so viel Opfer gekostet, für dich zu sorgen, wir dachten, wir könnten das mit einem anderen Kind nicht wieder durchstehen.«
Wenn schon Schuldgefühle entstehen wegen der Phantasie, die bloß möglichen Geschwister beseitigt zu haben, um wieviel mehr dürfte ein tatsächlicher Tod Schuldgefühle machen, auch wenn er vor der eigenen Geburt eingetreten ist. Nur: Offene Mitteilungen der Eltern gab es nicht. Oder es gab sie, aber sie hatten keine affektive Entspre chung, als ob es sie auch wiederum nicht wirklich gegeben hätte. Sie werden – bloße Informationen – oft wieder vergessen. In ihrer klassischen Arbeit haben Cain und Cain (1964) die Grundzüge der Dynamik des Ersatzkindes aufgezeigt: Die Bindung der Eltern an das verlorene Kind und die Sehnsucht nach ihm bleiben intensiv, das Ersatzkind wird in eine Welt von Depression und Sorge hineinge boren. Seine »Existenz ist fast ausschließlich als Teil des Versuchs, das verlorene Objekt zurückzuerhalten oder wiederzugewinnen« (S. 453), zu sehen, und die Beziehung zu ihm wird überschattet vom Bild des verlorenen Kindes. Die Autoren übersetzen das Unbewusste der Eltern in eine sekundärprozesshafte Sprache, und dabei erscheint eine Schuld zuwei sung, die genau dem spä te ren Schuld ge fühl des Kin des entspricht: »Das neue Kind ist anstelle unseres toten Kindes am Leben. Es hat seinen Platz eingenommen. Dieses Kind ist nicht unser totes Kind, aber es sollte es sein, es ist seine Schuld, dass es es nicht ist …. Es ist verantwortlich für all das, es ist ganz seine Schuld« (S. 448; Hervorhebung original). Ein junger Mann, Beatus C., befand sich seit langem in analytischer Therapie; er litt unter einer schweren chronischen entzündlichen Darmerkrankung. (Auch eine Patientin Küchenhoffs [1991] war an Morbus Crohn erkrankt und trug das Introjekt eines toten Geschwisters in sich.) Er machte einen weichen, »femininen« Eindruck, und sein Vorname, Beatus, war für einen männlichen Namen in der Gegend, aus der er stammte, recht ungewöhnlich; man dachte gleich, ob er wohl eine »Beate« hätte sein sollen. Die Darmerkrankung machte ihn fast lebensunfähig, mit aller Kraft und der Hilfe der Therapie konnte er sich in seinem Studium müh sam von Prüfung zu Prüfung arbeiten, konnte nicht verreisen, keine Jobs anneh men, musste immer wieder Ärzte aufsuchen, die er allerdings allzu häufig gegen
158 Schuldgefühl einander ausspielte. Die andere große Schwierigkeit lag in seinen Beziehungen zu Mädchen, die entweder, selten genug, kameradschaftlichen Charakter hatten oder Sehnsuchtsbeziehungen zu unerreichbaren Liebesobjekten waren, die er aus der Ferne begehrte, ohne je mit ihnen zu sprechen. Der elementare Charakter der lebenseinschränkenden Kraft machte Herrn C. und den Therapeuten immer wieder mut- und ratlos; es war, als ob alle durchaus berechtigten psychodynamischen und familiendynamischen Zusammenhänge keine verändernde Kraft entfalten konnten. Als bloße Information hatte Herr C. in den Vorgesprächen angegeben, dass die Eltern ein erstes Kind gehabt hatten, das vor seiner Geburt gestorben war – sel ten erinnerte er sich in den Jahren der Therapie daran, und auch der Therapeut fand keine rechte Verbindung zwischen Lebenseinschränkung und diesem unbe kannt-bekannten Tod. Der Gedanke lag nahe, dass Herr C. ein Mädchen hätte ersetzen sollen, aber die Eltern berichteten, nachdem er sie gefragt hatte, es sei ein Junge gewesen. Herr C. fragte sich, ob die Eltern unfähig gewesen seien, über haupt einen Jungen zu haben oder ob sie wegen des Todes des ersten Jungen unbe wusst gemeint haben könnten, dass auch er wegen seines Geschlechts gefährdet sei, sodass sie ihn eher als Mädchen behandelten. »Warum hat es mich so (mit der Krankheit) getroffen, warum nicht meine Schwestern? Die haben alle ihren Füh rerschein gemacht, sausen in der Gegend herum und haben Beziehungen!« Wann seine Krankheit angefangen habe, fragt jemand aus der Gruppe. Direkt nachdem er gegen den Willen der Eltern nicht an einer kirchlichen, sondern an einer staatlichen Hochschule zu studieren angefangen habe, um nämlich in der Nähe des Mädchens zu sein, das die Eltern ablehnten. Aber nie habe er eine »richtige« Freundin gehabt, nie mit einer Frau geschlafen. Er habe zwar auch den Führerschein gemacht, habe aber große Schwierigkeiten zu fahren … Als ob die männliche Identität erst die Ablösung so gefährlich machte; der Eintritt eines wirklichen Fortschritts in der Therapie wird wohl davon abhängen, ob die schweren Schuldgefühle, als Mann leben und sich ablösen zu wollen, als Affekt hergestellt und Angst, Wut (auf die behindernden Eltern) und Trauerarbeit (über das gestorbene Geschwister), die eigentlich die Eltern hätten leisten sollen, erlebt werden können.
Ähnlich berichtet auch Cournut über
»Analysen, die so lange stagnieren, bis sich ein unbekannter oder verkannter Todesfall offenbarte, …, der sich vor der Latenzperiode des Patienten ereignete, in zeitlicher Nähe seiner Geburt oder sogar vorher, nicht den Vater oder die Mut ter betreffend, sondern einen Großelternteil oder ein älteres Geschwister, das früh verstarb« (Cournut 1988, S. 76).
Aus nebenbei gemachten Bemerkungen wie: »Ich glaube, meine Mut ter hatte einen Sohn vor mir, aber er starb vor meiner Geburt, ich habe ihn nicht gekannt« (S. 77) schließt Cournut, »daß ein Toter umher irrte, von dem niemand etwas wissen wollte« (S. 76).
Die Mutter von Angelika A. hatte ihr schon, als sie ein Kind war, erzählt, dass sie sieben Jahre vor ihrer Geburt eine Totgeburt gehabt hatte, es hätte ein Junge sein sollen … In Zeiten der Regression bekommt dieser tote Bruder eine seltsame Qualität von Wirklichkeit im Erleben der Patientin: »Mein Bruder ist in meinem Kopf, da sind wir drei …« Sie stellt ihn sich vor, spricht mit ihm. (Der Sinn scheint
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dann zu sein, dass sie mit der Mutter in illusionärer Vorstellung seiner Existenz verbunden ist.) Dann wieder hat sie die Phantasie, es hätten nur zwei auf einer Bank Platz und sie hätte sich als jüngstes Geschwister auf die eine Seite gesetzt, sodass auf der anderen das tote Geschwister hinuntergefallen sei. Die Eltern hat ten gesagt, sie hätten nicht getrauert, es sei sowieso Krieg gewesen (1949!). Die Patientin versetzt sich in die Mutter, die etwas Totes in ihrem Körper trägt, etwas Kaltes, wie entsetzlich.
Die Geburt eines Kindes ist immer ein Verlust, nämlich der der Schwan gerschaft, als ob ein Körperteil verlorengeht, aber dafür bekommt die Mutter ein Kind. Bei einer Totgeburt bekommt die Mutter nichts. Wenn die Eltern nicht trauern können, muss das tote Kind irgendwo bleiben, es scheint wie ein Geist in der Phantasie von Mutter und Tochter weiter zu existieren. Bei näherer Beschäftigung mit dem Phänomen des Ersatzkindes entsteht das Unheimliche durch unbegreifbare Zusammenhänge und Koinzidenzen völlig voneinander unabhängiger Schicksale verschie dener Menschen, deren Gemeinsames aber ein totes Kind, ein vor ihrer Geburt oder in den ersten Lebensmonaten verstorbenes Geschwister ist. Françoise, eine Patientin Lebovicis (1988, S. 55), enthüllt dem Ana lytiker,
»daß sie auf den Tag genau ein Jahr nach der Totgeburt einer Schwester namens Françoise zur Welt kam; da sie schicksalhaft als Ersatz für ihre tote Schwester gebo ren wurde, gab man ihr denselben Vornamen. Sie hatte getan, was sich gehörte: Sie hatte genau den Platz ihrer toten Schwester eingenommen und war nichts weiter als deren Ersatz gewesen; sie hatte also kein Recht auf eine eigene Identität.«
Nagera (1967, S. 10) berichtet über van Gogh:
»Am 30. März 1852 wurde das erste Kind ihrer Ehe geboren. Es erhielt den Namen Vincent Willem van Gogh, kam jedoch unglücklicherweise tot zur Welt. Das Schicksal wollte es, daß genau am gleichen Tag des gleichen Monats, nur ein Jahr später, ihr zweites Kind geboren wurde. Auch es bekam den Namen Vincent Wil lem van Gogh, nach dem totgeborenen Kind … Es war Vincents Schicksal, ohne eigene Identität auf die Welt zu kommen. Er war ein Ersatz für seinen toten Bruder; ein Beweis dafür ist, daß seine Eltern ihm den gleichen Namen gaben.«
Küchenhoff (1991, S. 42) berichtet über Salvador Dalí:
»Dalís Eltern hatten einen ersten Sohn, Salvador Dalí di Domenech. Dieser Sohn starb im Alter von 21 Monaten am 1. August 1903. Am 11. Mai 1904 wurde im gleichen Haus und im gleichen Bett der zweite Salvador geboren; nur neun Monate und 10 Tage trennen den Tod des ersten von der Geburt des zweiten Sohnes. Für die Eltern spielt das verstorbene erste Kind unentwegt eine Rolle, sein Bild hängt über dem Ehebett, die Eltern vergleichen beide Söhne ständig. Dies wird von Dalí selbst so geschildert, aber auch seine Umgebung, z.B. sein Cousin und der Bürgermeister von Figueras, bezeugen, daß der verstorbene Bruder ständig eine Rolle spielt. ›Sie verglichen die Kinder jeden Tag neu. Sie benutzten dieselben Kleider und gaben
160 Schuldgefühl ihnen dieselben Spiele. Sie behandelten ihn, als wäre er der andere, und Dalí hatte den Eindruck, daß er gar nicht existierte‹ (zit. Secrest 1988, S. 27; eigene Überset zung [von Küchenhoff]). Dalí berichtet von diesen unentwegten Anspielungen auf den Bruder im Alltag: ›Er erzählte einem französischen Psychiater, daß jedes Mal, wenn er fortging, seine Mutter ihm sagte, setz eine Mütze auf, wenn du nicht sterben willst wie dein Bruder an einer Hirnhautentzündung‹ (a. a. o.).«
Wolffheim (1989, S. 8) berichtet über Hans Henny Jahnn:
»Doch entscheidender für seine psychische Entwicklung ist, daß er sich mit einer Figur identifizierte, die weder historisch verbürgte Bedeutung besaß noch auch über den eigenen Familienkreis hinaus bekannt war. Er identifizierte sich näm lich mit seinem eigenen Bruder, dem 1891 geborenen Gustav Robert Jahn, der im August 1893 gestorben ist, also ein gutes Jahr vor Jahnns Geburt.«
Niederland (1967, S. 70; Her vor he bung ori gi nal) berich tet über Heinrich Schliemann: »Das eine Geheimnis – auf dem Kirchhof von Neu-Buckow – bezog sich darauf, daß dort ein gewisser Heinrich Schliemann begraben lag, der gestorben war, als der uns bekannte Heinrich drei Monate alt war. Dies war so: Im März 1822 starb in Neu-Buckow ein acht Jahre älterer Bruder, Heinrich genannt, und wurde auf dem dortigen Friedhof begraben, wo auf dem Grabstein eine eingemeißelte Inschrift den Schmerz der Eltern über den Tod ihres geliebten Sohnes Heinrich Schliemann sprachlich klar zum Ausdruck brachte. Unser Heinrich Schliemann, d. i. der zweite dieses Namens, wurde im Januar 1822 geboren. Trotz meiner fortgesetzten Korrespondenz … und weiterer Versuche in dieser Richtung hat sich bisher nicht feststellen lassen, wie es im Jahre 1822 zur gleichen Benennung der beiden Brüder seitens der Eltern kam.« (Ich denke, die Eltern haben nach dem Tod des Älteren das Neugeborene im Alter von drei Monaten einfach nach jenem benannt, da es vorher nicht getauft war. Oder der Vater, Pfarrer der Gemeinde, hat den schon existierenden Namen des uns bekannten Heinrich im Taufregister verändert.)
Fast immer weisen bereits die zeitlichen Verhältnisse des Todes des Geschwisters und der Zeugung des Ersatzkindes auf die Intention der Eltern hin. Insofern ist es sicher nicht einfach ein »Schicksal«, das Nagera und Lebovici beschwören. Die Namensgebung jedenfalls bei vier von den fünf Fällen belegt drastisch die Ersatzidentität. Und auch im fünften Fall, dem Hans Henny Jahnns, kommt es zu einer Na mensangleichung zwischen totem und lebendem Geschwister:
»Aufschlußreich ist nun, daß Jahnn diese erträumte Wesensgleichheit mit dem toten Bruder soweit trieb, daß er diesem – entgegen allen nachprüfbaren Familiendaten – seinen eigenen Namen gab, von ihm immer als Hans Jahn sprach, wie sich aus Tagebucheintragungen seit dem Jahre 1913 erkennen läßt. Ich weiß – dort werde ich nie ruhen, dort ruht schon ein Hans Jahn! Ich könnte es sein, denn auf dem Grabstein steht nur: ›Hier ruhet Hans Jahn.‹ – Ich könnte es sein, aber es ist mein Bruder … Es ist bezeichnend, daß er noch im Mannesalter an der Fiktion fest hält, sein Bruder habe den gleichen Namen getragen wie er selber« (Wolffheim 1989, S. 8 f.; Hervorhebung original).
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Schliemann ist zu ähnlich eigenmächtiger Identitätsveränderung in der Lage: »Die intensiven Wiederherstellungsstrebungen äußern sich u.a. auch darin, daß er seinen Vater Adolph in vielen Briefen einfach zu seinem ›Bruder‹ macht und ihn so bezeichnet« (Niederland 1967, S. 68).
Jahnn gab nicht nur seinem verstorbenen Bruder eigenmächtig den eigenen Namen, er veränderte auch eigenmächtig seinen eigenen zweiten Vornamen: Aus Henry machte er Henny, nach Angaben sei ner Biographin durchaus ein weiblicher Vorname, seiner »bisexuellen Anlage« entsprechend:
»Ausdrücklich vermerkt Jahnn, die Mutter habe sich statt seiner eine Tochter gewünscht, was durchaus denkbar ist, da sie ja bereits drei Söhne geboren hatte …. Die Vermutung liegt nahe, daß er damit eine Erklärung für seine früh erfahrene bisexuelle Anlage zu gewinnen suchte« (Wolffheim 1989, S. 12).
Und Jahnn tut ein übriges: Er verändert seinen Familiennamen, macht aus Jahn: Jahnn. Und er findet einen Vorfahren, einen Baumeister »Jann«, der trotz aller Recherchen aber nicht auffindbar ist (Wolffheim 1989). Wir wissen bereits, wie bedeutungsvoll die Namensgebung für die Identität ist; auch an der Namensgebung kann man die Menschwer dung in der Genesis ablesen (s. Teil I, S. 26). Die Vermutung liegt nahe, dass Jahnn sich auf diese Weise symbolisch seine Identität selbst geben wollte, da sie ihm viel zu sehr vorgegeben war. Und wenn er schon mit dem Bruder gleichgesetzt werden soll, dann will er es wenigstens selbst tun, indem er ihn mit seinem Vornamen benennt. Das Grab des verstorbenen Geschwisters verfolgt in drei Berichten die Überlebenden. »Das Grab dieses toten Bruders lag nahe dem Eingang zur Kirche seines Vaters in Zundert. Wahrscheinlich sah Vincent dieses Grab mindestens jeden Sonntag. Es muß wohl einen eigentümlichen Eindruck auf ihn gemacht haben, seinen Namen auf dem Grabstein des Bruders zu sehen« (Nagera 1967, S. 10).
Hans Henny Jahnn steht am Grab des Bruders: »Und ich kann den ken, daß ich schon längst begraben liege. Ich stehe an meinem Grab und sehe die Schrift: ›Hier ruhet Hans Jahn‹ und denke, daß seine Kraft nicht ruht, sondern Großes schafft‹« (Wolffheim 1989, S. 8; Hervorhebung original). Und Schliemann steht vor dem Grab seines Bruders wie vor einem Rätsel:
162 Schuldgefühl »Was somit für uns Heutige noch ungeklärt ist, muß für den überlebenden Knaben Heinrich, nachdem er lesen gelernt hatte und bei Friedhofsbesuchen der Grabstätte des verstorbenen Bruders seinen eigenen Namen als Todesinschrift in den Grabstein gemeißelt fand, eines der großen und beängstigenden Geheimnisse seiner Jugend gewesen und darüber hinaus zeit seines ganzen Lebens geblieben sein. Er war sich offenbar niemals ganz sicher, ob er der tote Heinrich im Grab oder der lebende Hein rich außerhalb des Grabes war« (Niederland 1967, S. 70; Hervorhebung original).
Nichts liegt näher als anzunehmen, wie es Niederland tut, dass dieses Rätsel ein erstes war in seinem Leben, das dem Lösen der Menschheitsrätsel schließlich geweiht war, der Motor für
»dessen rastlose Tätigkeit, Arbeitswut, Schaffen, Reisen, Geldverdienen, Sprachen lernen, Schreiben, Ausgraben, Verborgenes und Entschwundenes ans Tageslicht fördern, Inschriften lesen und entziffern« (S. 71). – »Ihm kam es vor allem auf die Enterdung – falls es erlaubt ist, dieses Wort in die deutsche Sprache einzuführen; auf englisch: unearthing – des Begrabenen und Verlorengeglaubten an, es wieder ans Tageslicht zu bringen und so das Vergangene, das Tote wiederherzustellen, es der Erde zu entnehmen und ›neu‹ oder ›lebendig‹ zu machen« (S. 68). – »Alles weist darauf hin, daß die mit einem frühkindlichen Aufwachsen solcher Art ver bundenen Wahrnehmungen und Erfahrungen über Tod, Sterben, Tote, Särge, Grä ber, Grabsteine für ihn niemals ihren erregenden, erlebnisdynamisch fortwirken den Charakter verloren« (S. 70).
Und das Ausgraben-Wollen passt zu dem Charakter des Verborgenen, des Introjekts, dem »Leben im Grab« (Skogstad 1990), der »Krypta« (Abraham u. Torok 1976), der Gruft. Niederland (1967) und Pollock (1978) weisen darauf hin, dass bei diesen Fällen von sichtbaren traumatischen Verlusten eine Wurzel der Kreativität in dem Moment der Wiedergutmachung, der Reparation liegt. Das ist schon ein weiter Schritt über eine psychoanalytische Kreativitätstheorie hinaus, deren Basis die Sublimierung von Triebkräften ist. Aber meines Erachtens kommt ein weiteres Moment hinzu: Das der Rebellion gegen die Implantation oder Zuschreibung der fremden Iden tität, ein Befreiungsversuch und Selbstfindungsversuch ähnlich wie die »eigenmächtigen« Namensveränderungen Jahnns. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel (1998, S. 57) drückt es in seinem Roman »Der Verlorene« so aus: »Ich wollte niemandem ähnlich sein, und schon gar nicht meinem Bruder Arnold.« »Sehr früh entsteht in Dalí die Vorstellung, er wolle ein Genie sein oder sei bereits ein Genie. ›Nichts als die Unsterblichkeit hätte einem Jungen genügen können, der Tag für Tag, Stunde für Stunde eine heroische Anstrengung unternehmen mußte, um sich seine einzigartige Persönlichkeit unter Beweis zu stellen‹ (Secrest 1988, S. 36)« (Küchenhoff 1991, S. 42). Auch bereits als Kind »besaß er eine despoti sche Macht über die Eltern. Die Eltern von Dalí lebten in einer Art Entsetzen, daß ein unreflektiertes Wort eine Zorneskrise bei ihrem Sohn auslösen könnte, die in ihrer Phantasie ihm Krankheit oder Tod bringen mußte. Daher mußten seine ver rücktesten Wünsche befriedigt werden« (S. 43).
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Dalís Wut auf die Eltern zeigt sich auch in folgender Anekdote: Von seinem ersten großen Geld soll er sich einen nagelneuen Rolls-Royce gekauft haben, den er auf einem Felsen festbetonierte, den seine Eltern, wenn sie vor ihrem Haus saßen, täglich anzusehen gezwungen waren … Auch von van Gogh wird berichtet,
»er habe ein merkwürdiges, ungewöhnliches, exzentrisches Benehmen gehabt und sei deswegen gelegentlich bestraft worden« (Nagera 1967, S. 15). Und über seine Kunstwerke schreibt Nagera (S. 41), »daß er einen ständigen Kampf füh ren mußte, um in seinem Leben für sich eine Identität zu finden, eine Identität in seiner Kunst, einen einmaligen Stil, der ihn, wie er später sagt, von allen anderen unterscheiden könnte und seine Werke, auch wenn sie unsigniert wären, kenntlich machte.«
Diese einmalige Identität fand er durch seine Kunst am Ende seines Lebens, konnte sie aber nicht leben, musste seinem Leben ein Ende set zen, als ob er den Bruder nicht überleben dürfte (vgl. Teil II, S. 182 f. und 199 f.). Auch Schliemanns unermüdlicher kreativer Schaffens drang verlieh ihm eine einmalige unverwechselbare Identität, und zwar durch »eine schöpferische Leistung, die ihm den ebenso ersehnten wie berechtigten Weltruhm einbrachte« (Niederland 1967, S. 72). Die Rebellion ist die eine Kraft, die sozusagen übermenschlich groß sein muss, um das lebensbehindernde Introjekt zu besiegen, wie wir es in der Kreativität großer Künstler vermuten. Aber selbst da wird der Sieg nie ein vollständiger sein, immer ein Ringen bedeuten, ein Hoch und Nieder, denn immer wieder wird sich die andere Kraft, die des Introjekts, der Zuschreibung, die keine eigene Identität erlaubt, erhe ben. Und deshalb wird es ein Schwanken, ein Oszillieren zwischen Rebellion gegen und Anpassung an diese Kraft sein. In der Therapie eines »Ersatzkindes«, über das Abend (1986) berichtet, konnten zwei gegensätzliche Phantasien herausgearbeitet werden: Das Kind musste perfekt sein, um die angenommenen Standards der Eltern, die ihn an dem idealisierten Geschwister maßen, zu halten, damit er nicht ver lassen würde. Gleichzeitig dachte er, er müsse anders sein als das Geschwister, als Vater und Bruder, damit er das Schicksal des toten Bruders vermeiden könne. In den erwähnten Berichten über die heraus ragenden Künstlerpersönlichkeiten gibt es natürlich auch Einbrüche von Identitätszweifeln, von Verzweiflung: Hans Henny Jahnn »hat sich, aus welchen Gründen auch immer, in die Rolle des Ersatzkinds hinein gesteigert und daran die ausschweifendsten Phantasien geknüpft. In seinen Tag träumen hat er sich immer Konstellationen ausgemalt, in denen er ein anderer war als in der Realität« (Wolffheim 1989, S. 13).
164 Schuldgefühl
Über Dalí wird berichtet:
»Er merkt, daß er nur zum Scheine lebt, da ein Teil von ihm der verstorbene Bruder ist, der zwar in ihm noch vorhanden ist, aber der sich ihm doch immer wieder entzieht und eine Leerstelle in ihm selbst bedeutet« (Küchenhoff 1991, S. 43).
Von van Gogh sind durch den umfangreichen Briefwechsel mit sei nem Bruder Theo die größten Selbstzweifel und Lebensschwierig keiten bekannt geworden, bis er seinem Leben durch Suizid ein Ende setzte, und zwar kurz bevor eine erste große Ausstellung seiner Bilder stattfinden sollte, bevor er also als der, der er war, öffentlich bekannt werden sollte. Den Kern der Psychodynamik des »Ersatzkindes« bilden zwei Ele mente: Einmal können die Eltern den Verlust nicht betrauern und idea lisieren das verlorene Kind, zum andern schreiben sie dem neuen Kind eine Ersatzfunktion zu und messen es ständig am idealisierten Bild des toten Kindes. Diesem Bild nie nahe kommen zu können, rechnet sich das Ersatzkind als eigene Schuld an. Volkan (1976, S. 118) bezieht sich auf einen andern Autor:
»Poznanski (1972) vertritt die Ansicht, daß diese Situation bereits ein Syndrom in sich trägt; das neue Kind hat in solchen Fällen automatisch eine ›Geschichte‹ und erbt eine Reihe von (gewöhnlich idealisierten) Erwartungen, die durch das ver storbene Kind hervorgerufen worden sind. Poznanski stellt fest: ›Der Ersatz eines Kindes durch ein anderes erlaubt den Eltern, den Tod des ersten Kindes partiell zu [ver]leugnen. Das Ersatzkind fungiert dann für die Eltern als Barriere gegen die Anerkennung des Todes, da ein wirkliches Kind existiert, das ein Ersatz ist. So werden die ersten Stadien der Trauer vorzeitig blockiert, und der Prozeß des Trauerns setzt sich unendlich fort, wobei das Ersatzkind beständig als Vehikel des elterlichen Schmerzes fungiert‹.«
Hans Henny Jahnn schreibt ähnlich in seinen Aufzeichnungen: »Mein toter Bruder starb zwei oder drei Jahre vor meiner Geburt. Die Mutter erzählte mir viel von diesem ihrem Meistgeliebten … Die Mutter war untröstlich, ihre Verzweiflung löste sich erst, als der Entschluß feststand, daß ein weiteres Kind kommen sollte. Sie hatte bisher nur Knaben gehabt und erwartete nun mit abso luter Bestimmtheit ein Mädchen. Sie war deshalb schwer enttäuscht, als ich zur Welt kam. Ich erhielt den gleichen Namen wie der Tote, Hans Henny (Henny ist ein Frauenname), aber ich widersprach in jeder Hinsicht den gehegten Erwartungen, weshalb die Trauer der Mutter durch mich nicht überwunden war« (Wolffheim 1989, S. 9 f.; Hervorhebung original; die Biographin vermerkt, daß der Umgang Jahnns mit Daten und Namen durchaus willkürlich war).
Auch das introjekthafte der Hypothek, unter der er leidet, beschreibt Jahnn:
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»Mein Blut ging in mir um, und ich wußte, daß es nicht mein Blut war, daß nichts mir gehörte, sondern alles dem, der da begraben lag … Ich war überzeugt, daß ich seine Seele trug, eine fremde Seele, die sich nun ihrem wahren Leib näherte und hinaus wollte in das Grab hinein … Damals wußte ich schon das Geheim nis meiner Zeugung, daß ich sein sollte, was er war, und ich erkannte, daß seine lachende Seele an einen häßlichen, einen widerlichen, entstellten Leib geraten war« (Wolffheim 1989, S. 8; Hervorhebung original).
Hier findet man ein Beispiel von Spaltung zwischen dem in der Iden tifikation idealisierten Objekt in der »lachenden Seele« und der nega tiven Seite, inklusive der Wut, die eigentlich dem toten Geschwister gelten müsste, auf den eigenen »häßlichen … Leib« projiziert. Ich denke, es ist deutlich, dass das Introjekt durch Identifikation gemil dert werden soll. Jahnn nennt sich selbst »Henny« und übernimmt die Idealisierung durch die Eltern. Aber die Feindlichkeit gegen das eigene Selbst, besonders gegen den eigenen Körper, und die Unsicherheit der Geschlechtsidentität weisen auf die Übermacht des Introjekts hin. Die Eltern trauern nicht, weil sie den Tod nicht wahrhaben kön nen. Ein eindrucksvolles Beispiel der Unfähigkeit der Eltern, den Tod zu realisieren, gibt Chiland (1988, S. 147). In einem Fall von nes, der ein Ersatzkind Mann-zu-Frau-Transsexualismus eines Man war, war das tote Kind ein Mädchen gewesen. Den Wunsch nach Geschlechtsumwandlung verstehe ich in diesem Fall wieder als Rebel lion: Ich will meine Identität selbst bestimmen! – sowie gleichzeitig aber auch als Unterwerfung: den Eltern das Mädchen wiedergeben. »In Frankreich wurde eine viel beachtete Fernsehsendung über Personen aus gestrahlt, die an Geschlechtsdysphorie lit ten: ›Etre transsexuel‹ (transsexuell sein). Darin wurde unter anderem ausführlich über einen zur Frau tendierenden transsexuellen Mann berichtet, Jacques, genannt Jackie, der zu Marie-Ange gewor den war, sowie über seine Frau und seine Eltern. Bei der Erwähnung des Todes einer kleinen Tochter, Claudine, weinten die Eltern noch immer, 40 Jahre nach dem Geschehen. Sie hatten das kleine Mädchen vor der Geburt von Marie-Ange bekommen und verloren. Als sie gefragt wurden, was sie gedacht hätten, als sie vom Problem ihres Sohnes, von seiner chirurgischen Umwandlung in eine Tochter erfuhren, antworteten beide. Der Vater sagte: ›Ich habe gedacht, die Hauptsache ist, daß Marie-Ange da ist.‹ Und die Mutter sagte: ›Daß sie lebt.‹ Etwas später fügte die Mutter hinzu: ›Es war wie ein Keulenschlag, weil ich nicht darauf gefaßt war; ich habe nicht geweint, ich weine nicht so leicht. Aber ich habe sofort gedacht: Das ist schrecklich für Marie-Ange, aber sie ist noch da … Weil nämlich Claudine tot ist, aber Marie-Ange ist da.‹ Und sie begann zu weinen.«
Pollock (1978) listet die Reaktionen der Eltern nach dem Verlust auf (allerdings geht es um den Verlust eines Kindes, während das Geschwi ster schon geboren und beziehungsfähig ist): Rückzug, Schuldgefühl, Überbehütung und Kontrollieren des überlebenden Kindes. Aber die Überbehütung, auch Verwöhnung, gilt ja nicht dem lebenden, sondern
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dem toten Kind, wie Dalí es wohl bemerkt hat (s. o. Küchenhoff 1991, S. 43). Das Wichtigste ist das Nicht-trauern-Können der Eltern. In etwas anderem Zusammenhang sagt Cournut (1988, S. 79) über seinen Patienten: »Alban beweinte nicht seine Mutter, sondern weinte an ihrer statt, für sie und in ihrem Auftrag.« Green (1983, S. 213; Her vorhebung original) hat das Bild von der »toten Mutter« entworfen, einer Introjektion einer Mutter, die nicht wirklich trauern konnte und deren leere Depression von ihrem Kind übernommen wird (vgl. den nächsten Abschnitt): »Der wesentliche Zug dieser Depression ist, daß sie in Anwesenheit des Objekts stattfindet, das seinerseits durch eine Trauer völlig in Anspruch genommen ist.« (Mit Trauer ist hier aber offenbar nicht wirkliche Trauer, eher die leere Depression gemeint.) Die Ursachen der Depression sind verschiedene, aber »nachdrück lich sei betont …, daß der frühe Tod eines Kindes am schwersten wiegt« (S. 213). Das Fehlen der Trauer der Eltern bewirkt die Bildung des Introjekts – folglich werden die Folgen des Verlusts bei Kindern durch die nachgeholte Trauer der Eltern überwunden (Pollock 1978, S. 480). In einem Beispiel von Volkan (1976) bekommt ein »Ersatzkind« von der Mutter eine Puppe mit einem Porzellankopf, mit der sie nicht spielen soll, weil der Kopf zerbrechen könnte. Die Patientin lernt verstehen, dass das tote Kind und auch sie selbst es sind, die so zerbrechlich sein sollen, sie erlebt in der Therapie ihre frühere Bezie hung zu ihrer depressiven Mutter wieder »und zeigt eine intensive und angemessene Gefühlsreaktion« (Volkan 1976, S. 118). Ein solches Introjekt bewirkt Schuldgefühle, die man als Überlebendenschuldgefühl bezeichnen kann (s. Teil II, S. 199 f.). Schuldgefühle entstehen darüber hinaus, weil das idealisierte Bild des toten Geschwi sters nie erreicht werden kann. Schuldgefühle entstehen besonders auch, wenn ein Drang entsteht, das introjizierte System des Ersatzkindes zu verlassen. Das Dilemma ist: Nicht nur durch die Unterwerfung lebt das Kind schuldbeladen, denn es akzeptiert den Auftrag, den es nicht erfüllen kann, auch die Rebellion gegen ihn macht Schuldgefühle. Denn die identifikatorische Unterwerfung unter das Introjekt des toten Geschwisters bedeutet, einen Tod zu leben, lebendig tot zu sein, wie es auch Küchenhoff (1991, S. 40 u. 41) formuliert:
»Auf der einen Seite ist sie [die Patientin] mit der toten Schwester identifiziert; wenn sie hungert, verstummt oder depressiv ist, stirbt sie einen leisen Tod … ›Wenn ich mich nicht von den Eltern ablöse, dann sterbe ich einen psychischen Tod, da ich mich als eigenständiger Mensch nicht entwickeln kann.‹«
Aber die Auflehnung, die Befreiung und Trennung vom Introjekt, von der aufgezwungenen Identität, würde wiederum einen Tod bringen, und zwar den des toten Geschwisters, der dann erst realisiert, wahrgehabt
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werden müsste, weil die Funktion des Überlebenden, bei der Verleug nung zu helfen, wegfiele. Insofern hat meines Erachtens Küchenhoff (an gleicher Stelle) nicht recht, wenn er die Lösung als (psychischen) Tod des überlebenden Geschwisters versteht: »›Wenn ich mich von den Eltern ablöse, dann sterbe ich wie die Schwester, also darf ich nicht weggehen.‹« Ich denke im Gegenteil, dass das »Sterben wie die Schwester« durch das Nichtgehen, durch die Unterwerfung unter die Identitätsverschreibung geschieht. Das Weggehen wäre meines Erach tens nicht nur sozusagen ein Mord am toten Geschwister, sondern auch ein Angriff auf die Eltern, von denen das überlebende Kind annehmen muss, dass sie die Realisierung des Todes nicht aushalten können, da sie das Ersatzkind so notwendig brauchen. Deshalb sind die Schuld gefühle, ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, so groß. Hier gibt es auch wieder eine Verbindung zu Modells (1965) Konzept des Trennungsschuldgefühls und des »Rechts auf ein eigenes Leben«. In bezug auf die Eltern, die das Kind in einer bestimmten Funktion brau chen, handelt es sich auch beim Ersatzkind um ein Trennungsschuldgefühl. Bergmann (1995) hat ähnlich bei Kindern von Überlebenden von KZ-Haft ein Trennungsschuldgefühl als Teil des von den Eltern introjizierten Überlebendenschuldgefühls gefunden. Manchmal findet sich die Phantasie, das tote Geschwister sei umge bracht worden, und ich denke, dass darin die eigene mörderische Wut auf den Verursacher der Identitätsbehinderung ihren projektiven Aus druck findet. Ein Patient, Benjamin F., berichtet im Zusammenhang mit Geschwisterrivalität, dass er einen älteren Bruder gehabt habe, der bei der Geburt gestorben sei. Die Mutter habe während der Schwangerschaft mit diesem ersten Kind geträumt, dass es nur drei Tage leben sollte. Sie habe bis vor wenigen Jahren jeden Geburtstag dieses Kin des wie ein Fest begangen und Kuchen gebacken, sie sei traurig gewesen und habe die Kinder angehalten, auch traurig zu sein. Jetzt habe er die Phantasie, die Mutter habe den ersten Sohn umgebracht, weil sie sich damals mit dem Vater nicht vertra gen habe. Er selbst dagegen sei von allen geliebt worden, er sei ja auch am Leben.
Hier fließt also die ödipale Angst vor Strafe in das Überlebendenschuldgefühl mit ein. Eine andere Patientin, Lisa M., das »Herzkind« (vgl. Teil II, S. 189) berichtet, dass sie in den Ferien im Heimatland ihrer Eltern gewesen ist. Sie hat den Heimatort gefunden, nicht aber das Grundstück und deshalb auch nicht das Grab des toten Bruders, der damals dort begraben worden sein soll. Sie hat aber gedacht, sie habe sich wohl so gewünscht, dass das Kind umgebracht worden wäre, weil dann bewie sen wäre, dass sie von der Mutter mehr geliebt würde, da sie ja noch am Leben sei.
Auch bei Cournut (1988, S. 87) kommt die Phantasie von der Tötung in Form einer Verneinung unverhofft heraus:
168 Schuldgefühl »Nora [die Patientin] klagt über ihren trockenen Verstand und ihren kalten Körper. Die Leere, die ihr innewohnt, erkennt sie wie eine, die sie … ›selbst aktiv herbeiführt‹. ›Ich verurteile mich dafür, daß ich nur Ersatzobjekte …, keine wirklichen Beziehungen besitze.‹ Deutung: ›Das hat sich Ihre Mutter zweifelsohne nach dem Tod ihres Bruders auch gesagt.‹ Unmittelbar Antwort von Nora: ›Aber sie hat ihn doch nicht getötet! …‹ Entgegnung: ›Wer sprach von töten?‹«
Nicht immer bestehen die Folgen des Introjekts des toten Geschwi sters in Rebellion und Kreativität als Zeichen großer Anstrengung, das Leben selbst zu bestimmen, viel öfter dürfte das lebensbehindernde Element aufgrund der Unterwerfung stärker sein. Oft sind die beiden wichtigen Bereiche, die berufliche Identität und Partnerbeziehungen (»Lieben und arbeiten«, wie es Freud bereits auf den Punkt brachte), mehr oder weniger stark betroffen. Lisa M. fiel irgendwann einmal auf, dass sie mit vielen Jungen zusammen war, die Wolfgang hießen, wie ihr verstorbener Bruder. Immer hat sie jüngere Part ner gehabt und musste diese Beziehungen verheimlichen. Einmal hatte sie einen Freund, der war 17, als sie 26 war, sie war sogar seine Vorgesetzte, die Beziehung musste absolut verheimlicht bleiben. »Die jüngeren Männer sind wie mein kleiner Bruder«, sagt sie; zwar war ihr Bruder acht Jahre älter, da er aber als Kleinkind gestorben war, trägt sie das Bild des »kleinen Bruders« in sich. Damit hänge es wohl auch zusammen, dass sie es nie geschafft habe, aus einer Beziehung eine langdauernde Bindung zu machen und eine Familie zu gründen. Eine andere Patientin, Angelika A., geriet in extreme Panikzustände, als sie ihre erste Stelle als Lehrerin antreten sollte. Es bedeutete für sie, endgültig aus der Familienbindung herauszutreten. Es bedeutete auch, den vor ihrer Geburt verstor benen Bruder hinter sich zu lassen, die Verbindung auch zu ihm abzuschneiden, und zwar dadurch, dass sie (beruflich) völlig selbstständig zu werden drohte. Viola R. war im Alter von sechs Wochen an Pneumonie erkrankt, ein paar Tage lang konnte sie keinen Laut von sich geben, hatte bereits die Sterbesakramente bekommen. Dann blieb sie aber doch am Leben. Der erstgeborene Sohn der Eltern sei an Pneumonie im selben Alter gestorben. Sie habe damit auch in Zusammen hang gebracht, dass sie seit der Pubertät bis heute an heftigen Asthmaanfällen litt, das sei wie eine Fortsetzung der Lungenentzündung, wie eine Verbindung mit dem toten Bruder. Sie habe ein »Helfersyndrom«, sagt sie selbst, warum müsse sie immer einen Mann retten? Vielleicht, weil sie sonst nichts wert sei: »Was habe ich denn sonst für einen Wert?« Sie hatte früh das Gefühl, dass die Eltern nicht wollten, dass sie da sei. Sie sollte wohl nicht da sein, sondern der Bruder. Beson ders den Vater habe es sehr getroffen, dass sein heißgeliebter Sohn gestorben sei, sogar Hanna, ihre Tochter, sollte noch diesen verstorbenen Sohn für den Vater ersetzen, er hatte fest damit gerechnet, dass es ein Junge würde. Einmal hat er rich tig mit Hanna gespielt, was er mit ihr, der Patientin, nie getan hatte, und plötzlich rutschte es ihm heraus: »Ach, wenn du doch ein Junge wärst!« – Sie trifft immer auf Männer, die große Schwierigkeiten haben, Alkoholiker, Suchtkranke … Ihr Vater war aufgelockert, angenehm, gesprächig, wenn er etwas getrunken hatte. Sie weiß nicht, ob sie den Vater retten will oder den toten Bruder, um sich selbst dadurch zu retten.
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Die »tote Mutter« – als eigenes basales Falsch-Sein erlebt Das »tote Geschwister« bedeutet zuallererst einen Verlust für die Eltern; insofern schließt sich das Kapitel der »toten Mutter« nahtlos an, da es auch die Wege aufzeigt, auf denen ein unbewältigter Ver lust an die nächste Generation weitergegeben wird. Wenn die eng sten Pflegepersonen Verluste erlitten haben, die sie nicht genügend betrauert haben, und deshalb eine schwere Depression entwickeln, sind sie »psychisch tot, nicht existent … für das Erleben … [des] Kindes« (Kittler 1991, S. 138). Kittler (1991) hat Greens Konzept prä gnant referiert. Das Gefühl der Patienten ist nicht einmal so sehr das der Depression, vielmehr eines der Sinnlosigkeit, des basalen Unbefrie digt-Seins. Dadurch dass der Analytiker sich in der Gegenübertragung ausgeschlossen, nicht existent fühlt, schließt Green auf die psychische Nicht-Existenz der Mutter. »Die Mutter ist nicht da, weil sie selbst in einer Depression gefangen und von die ser vollkommen absorbiert ist. Sei es, daß sie einen Toten betrauert, sei es, daß sie verlassen wurde oder, und das ist nicht zu selten, daß sie mit einem Abort oder einer Abtreibung fertig werden muß. Jedenfalls ist sie für ihr Kind zwar da, sorgt auch für dieses, ›aber das Herz ist nicht mehr dabei‹« (Kittler 1991, S. 138).
Diesen Besetzungsabzug vonseiten der Mutter erlebe das Kind nun als narzisstische Katastrophe, es resigniert. »Nach anfäng li chen Reparationsversuchen zieht es schließ lich sei ner seits die Besetzung von der Mutter ab und identifiziert sich (per primärer Identifikation) mit der ›toten Mutter‹, weil diese Identifikation die einzige Möglichkeit der Wie dervereinigung mit der Mutter darstellt. Es wird hinfort damit beschäftigt sein, das Grab der ›toten Mutter‹ zu hüten, die ›tote Mutter‹ zu nähren und am Leben zu erhalten … Denn hat das Kind die lebendige Mutter zwar verloren, so hat es immerhin die ›tote Mutter‹ sicher bei sich« (Kittler 1991, S. 139).
Den Zusammenhang eines ungelebten Lebens mit der psychischen Leere der Mutter am Anfang des Lebens einer Patientin soll folgendes Beispiel aus meiner Praxis illustrieren:
Karola R. ist umgezogen. Nach einigen Wochen ist ihre neue Wohnung noch völ lig chaotisch, unaufgeräumt, nicht eingerichtet, sodass sie niemanden zu Besuch bitten kann; es wird deutlich, dass sie nicht akzeptieren will, dass sie endlich eine eigene Existenz hat (die Hälfte ihrer Sachen ist noch bei den Eltern gelagert), sich ihr Leben nicht einrichten will. Es kommt ihre Menschenscheu heraus, sie will sich und ihr Leben nicht zeigen. Nun denkt sie an die affektive Leere, die sie schon als Kind immer wieder erlebte, seit sie bereits mit vier Monaten und dann immer wie der wegen einer Hüftgelenksdysplasie ins Krankenhaus musste, derentwegen meh rere Operationen notwendig waren. Sie gebe sich die Schuld, dass sie nicht kontakt freudig sei, es nicht besser mit den Menschen hinkriege. Ich frage sie, in welcher
»Nach anfänglichen Reparationsversuchen zieht es schließlich seinerseits die Besetzung von der Mutter ab und identifiziert sich (per primärer Identifikation) mit der ›toten Mutter‹, weil diese Identifikation die einzige Möglichkeit der Wiedervereinigung mit der Mutter darstellt. Es wird hinfort damit beschäftigt sein, das Grab der ›toten Mutter‹ zu hüten, die ›tote Mutter‹ zu nähren und am Leben zu erhalten … Denn hat das Kind die lebendige Mutter zwar verloren, so hat es immer170 Schuldgefühl hin die ›tote Mutter‹ sicher bei sich« (Kittler 1991, S. 139).
Abbildung Mutter (I)«, Abbildung 4: 4: Egon Egon Schiele Schiele (1890–1918), (1890–1918), »Tote Die tote Mutter, 1910, Leopold-Museum, 1910, akg-images Wien Situation sie überhaupt auf die Welt gekommen sei: Ihre Eltern hätten erst zwei Jahre nach ihrer Geburt geheiratet, ihre Mutter musste immer arbeiten und hat das Den ungelebten mit der»weil psychischen Baby Zusammenhang zwei Wochen nacheines der Geburt zu einer Lebens Kusine gebracht, sie keinen Leere dermich Mutter am Jetzt Anfang einer folgendes Platz für hatte«. kanndes sie Lebens sehen, dass diePatientin chaotischesoll Wohn situation »keinmeiner en PlatzPraxis für sich haben« zu können. Sie wolle der Mutter keine bedeutet, aus Beispiel illustrieren: Schuld geben, sie habe es nicht anders gekonnt, sie war selbst ein depressiver, Karola umgezogen. Nach einigen Wochen ist ihre neue Wohnung noch völfreudloR. ser,istein samer Mensch. lig chaotisch, unaufgeräumt, nicht eingerichtet, so daß sie niemanden zu Besuch Eindrucks ist auch diedaß Unter uchung Rudnytskys übereine die bitten kann; vesoll wird deutlich, sie snicht akzeptieren will, daß(1988) sie endlich eigene ihrerBru Sachen noch bei Elternund gelagert), sich UnterExistenz schiede hat der(die VerHälfte luste des dersist jeweils beiden Freud bei Gun-
trip: Letzterer verlor einen Bruder, als er dreieinhalb Jahre alt war, und die Bearbeitung dieses Verlusts blieb unbefriedigend. Erst die Therapie bei Winnicott, die er in einem Alter von 61 Jahren begann, konnte die affektive Leere der Mutter ans Licht bringen, derentwegen sie beiden Kindern schon vor dem Tod des Bruders nicht hatte gerecht werden können. Möglich wurde diese »Wiederbelebung« der Vergangenheit und der »toten Mutter« meines Erachtens dadurch, dass es Winnicott
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zulassen konnte, selbst die »leere Mutter« zu sein und dadurch eine gute Mutter war. Erst nach dem Tod Winnicotts machte eine Serie relevanter Träume die Zusammenhänge deutlich. Sicher ist die Unterscheidung berechtigt, die Rudnytsky (1988) trifft: Die Projektion der Leere der Mutter verursacht kein Schuldge fühl; verstanden in bezug auf die Kleinianischen Entwicklungsphasen hieße das, die schizoid-paranoide Position wurde nicht verlassen. Erst die depressive Phase ermöglicht Schuldgefühl – der Verlust des Bru ders, den Freud erlitt (obwohl er mehr als 18 Monate jünger war als Guntrip – bezogen auf das Alter zum Zeitpunkt des Verlusts) trug zu Freuds lebenslanger Ambivalenz und der damit verbundenen Fähig keit, Schuldgefühle zu haben, bei – während Guntrip an »absence of grief« litt, um den Begriff von Helene Deutsch zu verwenden. Meines Erachtens aber sind die Verhältnisse in der Realität nie derart klar abgegrenzt. Schuldgefühle entstehen immer aus einer Spannung zwischen Teilen des Selbst, und ein völliges Fehlen würde tatsächlich eine vollständige Verschmelzung im Sinne der primären Identifikation mit der leeren Depression des Mutter-Objekts bedeuten. Die Phantasien einer Patientin, Beate S., kommen dieser Einheit mit der Mutter nahe. Aber bereits der Wunsch, etwas zu ändern im Sinne der Rollenumkehr (»Ver antwortung für andere«, Ehe der Eltern zu retten), ist eine Abgrenzung von dem verinnerlichten Komplex und kann Schuldgefühle verursachen: Beate S. fühlte sich immer verantwortlich für andere. Ihr Studium hatte sie auf gegeben und arbeitete als »rechte Hand« eines Professors. Sie lebte sehr zurückge zogen, hatte keine Partnerbeziehung, fühlte sich »allein mit meinem Körper«. Pha sen erheblichen Übergewichts wechselten mit Normal- oder sogar Untergewicht, die Schwankungen betrugen bis zu 15 Kilogramm. Als fünftes Geschwister in eine extrem von Aggressivität bestimmte Ehe geboren, dachte sie als Kind: »Es ist egal, ob ich da bin«, wenn sie wieder einmal vergeblich versucht hatte, die Mutter auf zuheitern, und Anstrengungen machte, die Eltern zu beruhigen oder sie zum Reden zu bringen. »Ebenso könnte ich auch tot sein.« Jetzt denkt sie: »Dem Leben ein Ende setzen oder schwanger werden wie meine Mutter, deren fünf Kinder ihrem Leben einen Sinn geben sollten. Schwanger werden und dann lauter leere Kinder produzieren.« Es wird erarbeitet, dass die Patientin als Kind versucht hatte, mit der Übernahme der Verantwortung für die Mutter und die Familie »sich selbst aufzufül len«, wie sie es mit dem Körper tut, wenn sie »fressen» muss. Wenn sie das Gefühl hat, dass das alles sinnlos ist, denkt sie an Selbstmord. Bewusst empfindet sie ein Schuldgefühl aufgrund dieser Abgrenzung, die selbst übernommenen Aufgaben im Sinne der Rollenumkehr nicht erfüllt zu haben. Aber das Bedürfnis, »Mutter für die Mutter« zu sein, entsteht bereits aus einem Schuldgefühl, verantwortlich zu sein für den Zustand der Mutter; aber das bedeutet, dass das Kind nicht völlig eins ist mit der Mutter, sondern so weit getrennt, dass es die Mutter ändern will. Selbst das macht obendrein Schuldgefühl.
172 Schuldgefühl
Adoption Nehmen wir an, ein adoptiertes Kind erfährt nichts von seiner Adop tion – eine Situation wie im ersten Teil des Ödipus-Dramas: Ausset zung und Adoption, das heißt eine Doppelidentität von einerseits versto ßenem, andererseits angenommenem Kind. Und diese Spaltung würde ein geheimes Wissen bedeuten, ein unbewusster Niederschlag einer Beziehungserfahrung, die sich in geheimnisvollen Schicksalswegen oder Symptomen äußert. Aber diese Spaltung bleibt immer bestehen, sie kann meines Erachtens nur gemildert werden, wenn keinerlei Geheim nis der Adoption aufrechterhalten bleibt. Eliacheff (1993) hat in der Arbeit mit weggegebenen, teilweise sogar ausgesetzten Säuglingen ein drucksvoll deutlich gemacht, dass die Anerkennung der Wahrheit des Geschehenen und der Identität der Eltern bzw. auch der in Aussicht genommenen Adoptiveltern das Wichtigste für die Entwicklung auch schon des Säuglings ist. Auch wenn ein Kind gleich nach der Geburt adoptiert wird, hat die leibliche Mutter es doch abgegeben, und die annehmenden Eltern haben bis dahin keine Identitätsentwicklung als Eltern durchleben können. Eher noch sind sie durch all die vergeblichen Anstrengungen einer Reproduktionsmedizin immer tief in ein Bewusst sein der Unfähigkeit, Eltern zu sein, hineingetrieben worden. Wichtig für das »Gelingen« einer Adoption ist die Anerkennung der Adoptiveltern, dass es eine ist (Hoksbergen, Juffer u. Textor 1994), als wichtigster Faktor, die Gefahr der Identitätsspaltung gering zu hal ten. Denn meines Erachtens ist mit der Adoption (und den vorange gangenen Erfahrungen wie Trennung von den leiblichen Eltern, Heim aufenthalte, Emigration) ein Introjekt implantiert worden, welches als abgespaltener Selbstanteil auf jeden Fall wirkt, durch positive Erziehungserfahrungen allerdings im Sinne der Integration und dadurch Bil dung eines zunehmend einheitlichen Selbstbildes abgeschwächt werden kann. Deshalb wird der Identitätsbildung des Adoptivkindes soviel Auf merksamkeit gewidmet (Nienstedt u. Westermann 1989; Baethge 1993; Hoksbergen et al. 1994). Dettmering (1994) hat anhand der Bearbeitung des Adoptionsmotivs in Dichtungen Depersonalisation und Entfremdung als Ausdruck der unsicheren Herkunft und der man gelnden Kontinuität der Beziehungserfahrung herausgearbeitet. Resul tate sind Doppelidentität, falsches Selbst, »Fassade von Künstlichkeit und Leblosigkeit« (Dettmering 1994, S. 68). Die »Familienroman«Bildung wird durch die Adoption begünstigt (Baethge 1993), sie ist ja schon normalerweise eine auf die Herkunft verschobene Identitätsfrage. Mehrere Konstellationen der gespaltenen Selbst- und Objekt bilder sind denkbar: 1. Die biologischen Eltern sind »schlecht«, die
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sozialen Eltern »gut«; 2. die sozialen Eltern – mit denen in der Über tragung und Gegenübertragung der Hass natürlich erlebt werden kann und wird – sind »schlecht«, die (phantasierten) biologischen »gut«; 3. das Kind selbst ist »schlecht», »schuld« an seiner Adoption, das heißt, war schon von Anfang an so »schlecht«, dass es sozusagen weggege ben werden musste, und nun zeigt es sich wieder an den Problemen, die es den Adoptiveltern macht (vgl. Hoksbergen et al. 1994, S. 343). Baethge (1993, S. 52) kommt dem nahe, wenn sie ein vages Schuldge fühl des Adoptivkindes beschreibt, das sich als »falsches Kind« fühlt. Hier liegt der Grund für ein Basisschuldgefühl, das das Adoptionskind entwickelt aufgrund der Annahme, sein So-Sein wäre der eigentliche Grund für das Weggeben, aber auch für die Schwierigkeiten in den aktuellen Beziehungen. Das Kind wird aufgrund des Introjekts für diese Annahme auch durch sein Agieren immer wieder eine Bestä tigung provozieren – auch in der Hoffnung, durch übergroße Liebe umgekehrt einmal zu erfahren, dass es doch nicht so schlecht ist, weil es nämlich geliebt wird, obwohl es sich so schlecht benommen hat. Dazu müsste es in einer Umgebung leben, die praktisch nach einem therapeutischen Prinzip die Gegenübertragung zwar erlebt, nicht aber entsprechend handelt. Aber das ist ja nicht einmal in der Therapie schwer gestörter Patienten immer möglich. Und die Adoptiveltern selbst sind von eigenen Ängsten und Komplexen nicht verschont; einen Überblick gibt Baethge (1993): Durch die Kinderlosigkeit haben sie »eine Ver unsicherung des Gefühls eigener sexueller Kompetenz erfahren« (S. 50), neigen zu Überbesorgtheit, »zudem erleben sie den ›Besitz‹ eines Kindes, das von anderen gezeugt wurde, unbewußt als Diebstahl. Sie fürchten, als Strafe werde ihnen dieses Kind wieder genommen oder sie werden von dem Kind deswegen gehaßt werden, welches dann zu sei ner biologischen Mutter zurückkehren wolle« (S. 51). Wenn die Eltern Strafe erwarten, müssen sie ein Schuldgefühl in sich tragen, sozusagen das »Basisschuldgefühl«, ein Kind adoptiert zu haben. Ich würde auch denken, dass die Ahnung, das (schwierige) Kind doch nicht so gewollt zu haben, Schuldgefühle macht, die durch zwanghaftes Durchsetzen von Erziehungsinhalten (z. B. Sauberkeit, »gesundes« Essen, Schullei stungen) kompensiert werden soll. Die Schuldgefühle des Kindes wer den verstärkt durch den elterlichen Vorwurf, das Kind sei »undankbar« (Baethge 1993, S. 52), ein hilfloser Versuch, die eigenen Gefühle des Versagens zu mildern, erinnert doch gerade das heranwachsende Kind daran, dass dessen biologische Eltern (wenigstens) zeugungsfä hig waren. Die für die Adoptions-Eltern niedrige Inzestschranke führt zu deren gesteigerten Inzestängsten, sodass sie dem Heranwachsenden Schuldgefühle wegen dessen keimenden sexuellen Interesses machen.
174 Schuldgefühl
Es bedarf keiner »typischen Adoptionsmutter« (Dettmering 1994, S. 68), die die Herkunft des Kindes verschweigt und ihm die eige nen Konflikte und Idealbildungen (etwa: »Aus ihm soll einmal etwas Besonderes werden …«) einpflanzt, um dem Kind ein Gefühl unein heitlicher Identität erst zu vermitteln; es trägt es – als Introjekt – in sich. Übrigens ist das bei allen Menschen potenziell so, auch wenn die Kontinuität der Eltern-Kind-Beziehung in der Zeit gewahrt blieb, sind die Möglichkeiten für Brüche durch Traumatisierungen mannigfach. Deshalb bietet sich das Adoptionsthema für den Dichter an, die allge meine menschliche Erfahrung des Fremdseins in das Adoptionsthema, in dem man sich nicht direkt erkennen muss, zu projizieren.
Familiengeheimnisse Das Prinzip Basisschuldgefühl erzeugender Familiengeheimnisse lau tet: Etwas in der Vergangenheit der Eltern oder in den Vorgenerationen ist so schlecht, dass es verheimlicht werden muss. Die Familie oder die Eltern bleiben damit der Öffentlichkeit gegenüber, oberflächlich gesehen, »gut«, aber da etwas Schlechtes passiert ist, das sich subtil in Heimlichkeiten, Andeutungen, Anspielungen und Gerüchten Ausdruck verschafft, wirkt es auf ein Kind, das mangels anderer Erklärungsmög lichkeiten sich selbst dafür verantwortlich macht, zerstörerisch. Das Kind kommt sich anders vor als die anderen, schlecht, weil etwas mit ihm nicht stimmt, es schämt sich (auf das Moment der Scham, auch der »Familienscham«, hat Wurmser immer wieder hingewiesen, z. B. 1987) einer Sache, die es nicht kennt und die womöglich seiner Existenz wegen stattgefunden hat. Familiengeheimnisse sind starke »Introjektbildner«, das Prinzip wurde schon im Kapitel über Introjekte abgehandelt. Hier sollen deshalb nur noch einige illustrierende Bei spiele aufgeführt werden. Ein ganzes Arsenal von verschiedenen Familiengeheimnissen, die einen Patienten beeinträchtigten, schildert Wurmser (1987, S. 266): Der Bruder hat die Schwester nicht nur belästigt, sondern mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt, was die Eltern nicht wissen; vom Vorleben des Vaters ist wenig bekannt, es sickerte durch, dass er im Krieg bei der Durchführung eines Sabotagekommandos eine Wache getötet hatte, die eine Frau war; eine Großmutter ist ermordet worden; im väterlichen und im mütterlichen Teil der Familie gab es schweren Alkoholismus … In der Tat gibt es oft mehrere Geheimnisse gleichzeitig, wie bei meiner Patientin, Bernadette L., bei der nicht nur die Nazi-Verbrechen des Vaters von der Familie geheimgehalten worden waren, sondern auch ein Inzest-Verbrechen an der Toch
Erste Gruppe der Schuldgefühle: Basisschuldgefühl
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ter, der späteren Patientin. Die Partnerwahl führte sie in ein »Ehegefängnis«, als ob sie die Schuld des Vaters sühnen müsse, in das der jähzornig-brutale Ehemann sie einsperrte, der ihr die Kinder nahm, sodass sie aus Schwäche an ihnen schul dig wurde. Zwei verschiedene Therapiesituationen enthüllten nacheinander je ein Familiengeheimnis; die stationäre Therapie die Nazi-Verbrechen des Vaters, die anschließende Gruppenpsychotherapie den Inzest (s. Teil II, S. 264).
Inzestuöses Agieren, das die Geschwister trifft, kann bei einem nicht direkt beteiligten Kind Introjekte hervorrufen, die denen durch direk ten Inzest kaum nachstehen (vgl. Teil II, S. 271). Prostitution in der Familiengeschichte, Adoptionsfälle, uneheliche Kinder, Vergewalti gungen, Selbstmorde und kriminelles Verhalten sind typische Fami liengeheimnisse: Verena Q.-S. berichtet: »Der einzige Dorn im Auge scheint mir die Geheimnistue rei um meine Großmutter väterlicherseits zu sein … Was meine mir völlig unbe kannte Großmutter angeht, scheinen meine Eltern mehr zu wissen, als sie zugeben, und sie haben große Angst, ich könnte etwas über ihr Leben zum Beispiel als Pro stituierte oder ›Kupplerin‹, wie es in den vorhandenen Gerichtsunterlagen heißt, in Erfahrung bringen. Immerhin ist mein Vater lediglich Pflegekind und nicht Adop tivkind gewesen, sodass seine leibliche Mutter schon aufgrund dieser Situation rechtlich mehr Zugriff auf ihr Kind gehabt haben könnte, als es mein Vater zugibt. Andererseits haben die Pflegeeltern wohl Geld bekommen für die Übernahme des ›Waisenkindes‹, also meines Vaters, sodass eine Adoption vielleicht gar nicht erwünscht war, jedenfalls hat mein Vater in dieser Kindheit lernen müssen, wie unendlich dankbar er doch zu sein hat, von diesem Schicksal des Hurensohns errettet worden zu sein und die Gnade zu erfahren, von anständigen Leuten aufgezogen werden zu dürfen.«
Von Ahlheim (1985) gibt es einen Bericht über eine Kindertherapie eines Mädchens, das als Überlebende des KZ-Terrors der Nazis in der dritten Generation bezeichnet werden kann. Der Kern der Dynamik war, dass die Eltern aufgrund ihrer Ängste das Kind vor Schäden bewahren wollten, durch ihre Überfürsorglichkeit aber, etwa durch übermäßige Eingriffe in die Körperfunktionen schon des Säuglings, den Schaden, den sie vermeiden wollten, gerade hervorriefen. Das scheint mir auch das Prinzip der Familiengeheimnisse zu sein (wenn die Motivation, das Geheimnis aufrechtzuerhalten, nicht einfach egoistisch die ist, die Eltern vor Scham- und Schuldgefühl zu bewahren): Das Kind soll nicht mit etwas als schädigend Angesehenem konfrontiert werden, aber dadurch, dass es geheimgehalten wird, entsteht – über die Introjektbildung – gerade der Schaden.
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Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität »Das Phantasma, eine eigene Haut zu besitzen …, bleibt grundsätzlich schuldbesetzt. Dies ist eine Folge der vorher entstandenen Phantasie, daß man, um die eigene Haut zu besitzen, sie dem anderen vorher rauben muß.« Anzieu 1985, S. 148
Wie soll man sich ein Schuldgefühl aus Vitalität allein vorstellen; wie immer müssen eine Instanz oder ihre Vertreter die Folgen der vitalen Bestrebungen und damit diese auch selbst beurteilen und eben auch verurteilen. Nicht die Vitalität selbst, denke ich, sondern der Gedanke oder die Erfahrung, dass jemand Schaden nehmen könnte, wenn man sie auslebt, dass die mit ihr notwendigerweise verbundene, an sich kon struktive Aggression zerstören könnte, ist das Verbotene, ist hier das, was Schuldgefühle macht. Vitalität bedeutet Haben-Wollen; frühe orale Gier kann sehr zerstö rerisch erlebt werden, wie wir gesehen haben; die Brust zu zerstören, indem man sie haben will, ist das Urbild der Ambivalenz. Neid ist eben falls mit Aggression verknüpft und gibt daher Grund für Schuldgefühl. Haben-Wollen, also Leben-Wollen gerät in Konflikt mit denselben Bestrebungen möglicher Rivalen, in der Familie den Bestrebungen der Geschwister, denen man von dem, was da ist, etwas wegnähme; dann auch im ödipalen Dreieck: Wieder ist das Haben-Wollen der Liebe mit der Aggression gegen den anderen verbunden. Bei einer Patien tin Modells (1965, S. 326; Übersetzung M. H.) wurde die Phantasie gefunden, »daß Mutterliebe eine Art Substanz sei, von der sie sich das Beste genommen hatte, dadurch die Mutter ausgesaugt und die Geschwister ihrer Geburtsrechte beraubt habe. Sie war überzeugt, daß der Besitz irgendeiner Sache bedeutete, daß jemand anders beraubt wor den sei.« Das entspräche einem Bild von kommunizierenden Röhren, als wären die Familienmitglieder durch ein solches System verbunden, und wenn der eine etwas von der »Liebesflüssigkeit« entnähme, würde es gerade wegen der Verbindung unweigerlich ein anderer verlieren. Ausgehend vom Schuldgefühl der Überlebenden bei Unfällen, Kata strophen, besonders aber von massenhafter Vernichtung durch poli tischen Terror, wie sie die KZ-Maschinerie bedeutete, hat Modell
Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität
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(1971) den Begriff des Überlebendenschuldgefühls auf die vitalen Bestrebungen bezogen, die ein Liebesobjekt zu sehr berauben oder in der Rivalität ein anderes übertreffen könnten. Er spricht hier ebenfalls von Überlebendenschuldgefühl (»survivor guilt«). So wurde der Be griff auch von Weiss und Sampson (1986; vgl. Engel u. Ferguson 1990) übernommen. Ich möchte dieser Auffassung nicht folgen, son dern vielmehr vorschlagen, den Begriff des Überlebens nicht zu weit zu fassen, sondern auf ein tatsächliches Überleben zu beschränken; ein Schuldgefühl, überlebt zu haben, während ein anderer sterben musste, sollte Überlebendenschuldgefühl (nicht Überlebens-Schuldgefühl) genannt werden. Denn ein Schuldgefühl, das daraus entstammt, dass man besser leben möchte (Modell 1971; hier geht es um ein besseres Leben im Vergleich zu anderen; 1965 hat Modell erst einmal vom »eigenen« Leben, dem Leben im eigenen Recht gesprochen) als ein anderer oder auf seine Kosten, müsste »Lebens-Schuld« heißen; ich halte »Schuldgefühl aus Vitalität« für den besseren Oberbegriff. Wohl als Erster hat Modell (1971) Schuldgefühle aufgrund vitaler Bestrebungen unabhängig vom Ödipus-Komplex beschrieben, Schuld gefühle aufgrund des Bewusstseins, dass man mehr hat als der andere, aufgrund des Neids auf andere, Schuldgefühl, zuviel zu haben im Ver gleich zum anderen. Zwar würden diese Bestrebungen mit den ödi palen zusammenfließen können (Modell 1971, S. 339 f.), aber man könne doch eine Form präödipaler Schuldgefühle abgrenzen. Diese Arbeit Modells steht sozusagen im Zentrum dieses Abschnitts, in dem es um die Durchsetzung vitaler Bedürfnisse im Vergleich zum Liebes objekt geht, während seine Arbeit über »das Recht, ein eigenes Leben zu haben« (Modell 1965) das Trennungsschuldgefühl einführte, die deshalb im Zentrum des Abschnitts über Arbeitsstörung und Prüfungs angst im Zusammenhang mit Trennungsschuldgefühl stehen wird.
Ödipales Schuldgefühl Im theoretischen Teil ist so viel vom ödipalen Schuldgefühl die Rede gewesen, weil die »Mainstream-Psychoanalyse« bis 1965 (Modell) dieses praktisch als einziges gelten ließ, während allerdings die Kleinianische Schule bereits Schuldgefühl als eines der depressiven Phase zugehörendes konzipierte. Erikson (1950, S. 84 f.) hat eine schöne Formulierung gefunden für den Zusammenhang zwischen ödipalen Bestrebungen und Schuld gefühl:
178 Schuldgefühl »Die ödipalen Wünsche … führen zu vagen Phantasien, die an Mord und Verge waltigung rühren. Die Konsequenz ist ein tiefes Schuldgefühl, ein merkwürdiges Gefühl, insofern es für immer anzudeuten scheint, daß das Individuum ein Ver brechen begangen habe – was ja schließlich tatsächlich nie geschehen ist und auch biologisch ganz ausgeschlossen war. Diese geheimnisvolle Schuld trägt aber dazu bei, das ganze Gewicht der Initiative auf sozial wünschenswerte Ideale und unmit telbare, praktische Ziele hinzulenken.«
Aber heute würde man meines Erachtens gleich nach den tatsächlichen Beziehungen fragen, innerhalb derer das Kind seine ödipalen Wünsche erlebt und ausdrückt; wie ist die (sexuelle!) Beziehung der Eltern, wie wohlwollend oder feindlich stehen sie nicht nur den sexuellen, sondern allen Bestrebungen des Kindes, seiner Vitalität eben, gegenüber, wie werden ihre latenten oder gar offenen inzestuösen Wünsche an das Kind herangetragen? Bereits 1959 hat Searles die erotische Bezie hung zwischen Therapeut und Analysand(in) als gegenseitige beschrie ben, in der durchaus die Initiative vom Therapeuten ausgehen kann, und auf die Eltern-Kind-Beziehung übertragen. Das heißt, auch dort können die inzestuösen Wünsche erst einmal von den Eltern kommen; sind die Eltern aber nicht in der Lage, genügend angstfrei, also freund lich-spielerisch damit umzugehen, wird das verheerende Wirkungen haben. Im Zusammenhang mit Schuldgefühl würde dies bedeuten, dass die Abwehr der eigenen inzestuösen Wünsche der Eltern im Kind über haupt erst ein »ödipales« Schuldgefühl erzeugt. Ebenso der Umgang mit dem Ausdruck der kindlichen inzestuösen Tendenzen: man muss doch fragen, was Eltern eigentlich bewegt, harmlose kindliche Sexua lität und ödipales Spiel (denn das Verbrechen wird nie begangen, wie Erikson sagt) derart streng zu ahnden, Schuldgefühle machend. Folgendes Beispiel mag den schillernden Zwischenbereich zwi schen ödipalen Wünschen einer Tochter und den inzestuösen Tenden zen des Vaters (und ihrer Abwehr!) sowie der Rivalität der Mutter (und der mit der Mutter) illustrieren: Lisa M., das »Herzkind«, denkt in einer Phase der Analyse, die von einer positiven, »ödipalen« Beziehungsqualität bestimmt ist, an den Tod der Mutter. »Meine Mut ter kam ja auch von mir nicht los; ich wollte sie ja auch pflegen …« Die getrock neten Heidelbeeren, die die Mutter kurz vor ihrem Tod wegen ihres Durchfalls haben wollte, hat sie allerdings nicht besorgt. Sie macht sich Vorwürfe, weil das eine eigenmächtige Entscheidung war, sie hat also eine Macht ausgeübt über die Schwache, Sterbende, also hat sie sich schuldig gemacht. – Nach einigem Schwei gen denkt sie an ihre Menarche; die Mutter war damals fürsorglich, als ob sie nun eine Leidensgenossin hätte. Der Vater aber reagierte abschätzig: »Fängst du jetzt auch schon damit an …« Seitdem habe die Beziehung zum Vater einen Knacks bekommen. – Sie hat die Phantasie, dass sie, wenn ihre Freundin stirbt (sie hat einen Knoten in der Brust), ihre Stelle einnehmen könnte (die Freundin würde Mann und Kinder hinterlassen). – Als die Mutter einmal im Krankenhaus war
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(die Patientin war rund 13 Jahre alt), hatte sie ähnliche Gedanken, schrecklich, die Kleider der Mutter auftragen zu müssen … Sie denkt, es hätte ein »neues Paar« gegeben, nämlich Vater und Tochter. Es hätte ihr gefallen, wenn der Vater gesagt hätte: »Du wirst mal eine hübsche Frau.« Vater hat aber ständig an ihr etwas auszu setzen gehabt, zum Beispiel wenn sie sich geschminkt hat. Andererseits hat sie mit dem Vater ihr Konfirmationskleid gekauft, weil die Mutter im Krankenhaus war, ein sehr schönes Kleid mit durchsichtigen Ärmeln, das hätte die Mutter nie gekauft. Die Mutter bringt sie eher mit dem Kauf einer Kittelschürze für sich in Verbindung. Die hat sie mit der Mutter in einem Kaufhaus gekauft; sie entdeckte dort auf der Toilette, dass sie erstmalig ihre Blutungen hatte. Das Konfirmationskleid war das teuerste überhaupt, es hatte einen ganz kurzen Rock … Gleich darauf hat der Vater zwei schicke Nachthemden für die Mutter gekauft. Die Mutter war zwar wieder zu Hause, ist aber nicht zur Konfirmation in die Kirche gegangen, als ob sie gekränkt gewesen sei, etwa: »Ihr habt das Kleid zusammen gekauft, jetzt könnt Ihr auch allein zur Konfirmation gehen!«
Ein kurzer Kommentar: Alles ließe sich auf die ödipalen Bestrebungen und die damit verbundene Ambivalenz hin interpretieren. Schuldge fühl wegen der Todeswünsche der Mutter gegenüber, die Phantasie, die Stelle der Freundin, auch die der Mutter einzunehmen. Aber es fällt auch auf, dass der Vater offenbar Angst bekam vor der Weiblichkeit seiner Tochter: Er reagierte abschätzig auf die Menarche, auf ein erstes Schminken. Gleichwohl kaufte er ihr ein Konfirmationskleid, wie es die Mutter (die Rivalin) nie gekauft hätte, zur Feier des Erwachsenwer dens (Konfirmation). Das Bild von der Kittelschürze, in die die Mutter sie wie ein Aschenputtel gern gesteckt hätte, mag ja noch eine Quelle in der Haltung der Mutter haben, aber dass sie gekränkt (nicht krank) die Konfirmationsfeier versäumte, ist wohl eher der Phantasie der Pati entin zugehörig. Und ein »ödipaler Traum« wie der folgende ist sicher aus den Wünschen und Ängsten der Patientin entstanden: Sie träumt, die Therapie sei durch mich, den Therapeuten, beendet worden, weil ich mich in sie verliebt hätte. Frau Mitscherlich, das war meine Frau, hätte mit ihr gesprochen: So gehe das nicht! Dann sei sie von der Mafia verfolgt worden, die ihr nach dem Leben trachtete, sie war schutzlos; mit Angst wachte sie auf. Sie hat nach dem Traum gedacht, die Mafia ist alles das, was sie schon lange verfolgt (die Erinnyen, die Vertreter des Schuldgefühls). Das könne sie nicht aus halten, dann gebe sie lieber die Therapie auf, das heißt die Beziehung zu mir. Dabei tut ihr die Beziehung doch gut; sie hätte eine solche Beziehung zum Vater so gewünscht.
180 Schuldgefühl
Sexualität und Schuldgefühl I Dieser Abschnitt wird mehr Fragen aufwerfen, als er Antworten geben kann. Ich denke, die Frage, warum sexuelles Begehren und sexuelle Befriedigung Schuldgefühle erzeugen können, wenn sie nicht in ihrem Wesen sogar mit Schuldgefühl verbunden sind, führt an den Kern des Mensch-Seins. Denn der Mythos vom »Sündenfall« ist mit dem Wis sen von Sein und Tod, ist mit Arbeit und Sexualität und mit Scham und Schuld verbunden, darüber hinaus mit Trennung, vom Paradies näm lich. Sexualität wird hier als vitaler Trieb, der Schuldgefühle macht, behandelt. Sexualität ist aber immer auch mit Trennung verbunden, da sie sich wegen des Inzestverbots an außerfamiliäre Objekte rich ten muss. Der damit verknüpfte Schuldgefühlsanteil, ein Trennungsschuldgefühl, wird an entsprechender Stelle bearbeitet werden (Teil II, S. 219). Wieder können wir die Schuld, die der Mythos darstellt, mit dem Schuldgefühl des individuellen Menschen (des Kindes) gleichset zen. Ödipus lädt Schuld auf sich; das Kind hat wegen seiner ödipalen Wünsche Schuldgefühle. In »Das Unbehagen in der Kultur« hat Freud (1930a) brillant den Gegensatz von »Kultur« und »Liebe«, die ursprünglich immer eine »vollsinnliche« (S. 462) ist, dargestellt. Kultur ist in diesem Zusam menhang wohl die Gesamtheit dessen, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Kurz gesagt, die libidinösen Triebe auszuleben, wider strebt den Interessen der »Kultur«, die darauf aus ist, immer größere Ansammlungen von Menschen zu schaffen, um das Überleben immer gesicherter zu machen. Das erinnert an die Begründungen für das Inzest-Verbot und das damit einhergehende Exogamie-Gebot. Wirt schaftliche Expansion würde vermindert, wenn Sexualität und Fort pflanzung allein in der Familie stattfänden. Ähnlich ist menschliche Kultur vielleicht mit einem eintretenden Chaos, ließen die Menschen ihren Trieben freien Lauf, nicht zu vereinbaren. Und in der Tat gibt es einen solchen Gegensatz; in Zeiten der Partnersuche oder der heftigen Verliebtheit muss manches andere liegenbleiben, und von irgendeinem Punkt an wird die Angst zu groß, dass die materiellen und gesellschaft lichen Bedingungen, die dem Individuum Sicherheit geben, zusam menbrechen könnten, gäbe man dem weiter nach, wozu man Lust hat. Auch das Familienleben, die Ehe, die sich mit mäßigem Erfolg alle Mühe gibt, Sexualität und materielle sowie gesellschaftliche Sicherheit zu vereinbaren, stellt sich in Gegensatz zu einer sexuellen Freiheit, die allzu leicht eine doch auch gewünschte familiäre Sicherheit in Frage stellt. Resigniert konstatiert der alte Freud (1930a, S. 465):
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»Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mit unter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen. Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat.«
Und das regulierende Gefühl ist neben der Angst, in solches Chaos zu geraten, das Schuldgefühl. Da aber die Ermahnungen der »Kultur« beim Erwachsenen kaum Aussicht auf Erfolg hätten, muss die Unter drückung bei den »Äußerungen des kindlichen Sexuallebens« (S. 464) anfangen. Die »Kultur«, möchte ich ergänzen, schränkt ja auch andere vitale Regungen des Kindes ein, erzieht es zur »Sauberkeit«, dämpft seinen Bewegungsdrang, zwingt es, bestimmte Dinge zu bestimmten Zeiten zu essen, stellt früh auch einen Gegensatz von Pflicht (Arbeit) und Spiel (Lust) her (siehe auch Fromm 1976, S. 123). Aber ist es nur der Einfluss der »Kultur«, der sozialen Umwelt, der restriktiv mit den Triebäußerungen umgeht? Selbst Freud (1930a, S. 465) hat leise Zweifel daran: »Manchmal glaubt man zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der Funktion selbst versage uns die volle Befriedigung und dränge uns auf andere Wege. Es mag ein Irrtum sein, es ist schwer zu entscheiden.« Róheim (1950, S. 271) fragt sich, warum eigentlich das harmlose Spiel kindlicher Sexualität unterdrückt werden soll: »Weshalb aber sollten die Väter sich den sexuellen Spielen der Kleinkinder widerset zen? Gibt es dazu irgendeinen praktischen Grund? Oder ›Clan-Inter esse‹? Das ist schon in der Formulierung widersinnig.« Róheim weist auf Fenichel (1945, Bd. I, S. 79 f.) hin, der in die Faktoren, die Triebeinschränkung bewirken, ein System brachte, in das innere und äußere Einflüsse eingehen: »Die biologische Tatsache, daß der Säugling nicht in der Lage ist, seinen motori schen Apparat zu kontrollieren, und daß er daher äußere Hilfe benötigt, um seine Triebansprüche zu befriedigen, hat zur Folge, daß er in traumatische Situationen gerät, da Personen der Außenwelt nicht stets unmittelbar zugegen sein können … Die Erinnerung an schmerzhafte Erfahrungen dieser Art führen zu dem ersten Ein druck, daß Trieberregungen eine Quelle von Gefahr sein können.«
Dann treten die Verbote und Einschränkungen der Erziehung hinzu – diese können realistisch oder auch irrational sein; schließlich könnten reale Gefahren vom Kind völlig verzerrt verstanden werden aufgrund »projektiver Miß ver ständ nisse«; man sieht den Ein fluss Melanie Kleins. Später übernimmt das Über-Ich die Funktionen der regulie renden Außenwelt, Angst verwandele sich in Schuldgefühl.
182 Schuldgefühl
Scheitern am Erfolg I – Erfolg bedeutet Übertreffen Erfolgreich zu sein macht innerhalb bestehender Beziehungen ge fühle, wenn man glaubt, dass das vitale Bedürf nis nach Schuld Erfolg einen anderen zurücksetzt oder behindert. In diesem Bereich entsteht ein Teil der Arbeitsstörungen und Prüfungsängste aus dem Schuldgefühl, den anderen zu übertreffen, während ein anderer, wie ich meine bedeutenderer und auch, was die Häufigkeit betrifft, mehr relevanter Bereich der des Trennungsschuldgefühls ist. Aus Grün den der Systematik möchte ich aber wie bei der Sexualität versuchen, beide Bereiche zu trennen, allerdings in dem Bewusstsein, dass sie sich überschneiden werden und eine solche Trennung künstlich ist. In diesem Abschnitt wird die Aufmerksamkeit mehr auf die Arbeitsstörung gerichtet, die eher mit dem Schuldgefühl aus Vitalität zu tun zu haben scheint als die Prüfungsangst, bei der die befürchtete Trennung und das mit ihr verbundene Schuldgefühl im Vordergrund steht. Aber Arbeit gehört stets zum Vorfeld einer Prüfung, wenn diese auch eher eine Schwellensituation zu einem neuen Lebensabschnitt und damit die Trennung von einem zurückliegenden bezeichnet. (»Scheitern am Erfolg« aus Trennungsschuldgefühl wird in Teil II, S. 223, behandelt.) Beim Schuldgefühl aus Vitalität, welches Arbeitsstörung verur sacht, treffen verschiedene ursächliche Komponenten zusammen, um eine Behinderung an sich legitimer expansiver Kräfte zu bewirken: Einflüsse des rivalisierenden Objekts wie Gekränktsein, Liebesentzug, Androhung von Sanktionen, dann der irrationale Glaube, der eigene Erfolg gehe mit der Schädigung des anderen einher, als ob nur ein bestimmter Betrag an Erfolg zur Verfügung stehe. Das Irrationale leitet sich her aus der Verknüpfung der Bedeutung des Erfolgs mit anderen – verbotenen – Bereichen, zum Beispiel oraler Gier, Aggression oder sexuellen Bedürfnissen. Deshalb treten Arbeitsstörungen in manchen Fällen nicht auf, solange der betreffende für jemanden arbeitet, hier kann er brillieren, während die Leistung auf eigene Rechnung unmög lich ist. Es lassen sich grob auch zwei Arten der Arbeit unterscheiden: Einmal hat sie den Charakter der Routine, sie wird nicht in eigener Verantwortung, sondern in der des Arbeitgebers oder einer Institution erledigt, ihr Ablauf ist vorgegeben und der Arbeitende hat nichts zu tun, als seiner Pflicht nachzukommen. Hier werden Arbeitsstörungen seltener sein. Anders bei schöpferischer Arbeit, bei der etwas Neues entstehen soll, Rivalität und Konkurrenz gefährlicher sein können; der Arbeitende übernimmt die Verantwortung selbst, kann sich nicht auf einen Mächtigeren berufen. Hier sind Arbeitsstörungen in stärkerem
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Maße zu erwarten, eine solche kreative Arbeit hat aber auch schon viel mehr mit Trennung, Loslösung vom Üblichen, zu tun; ich erinnere an das mythologische Vorbild Prometheus, der Schuld auf sich lud, weil er den Menschen das Neue, Fortschrittbringende verschafft hatte. Die Beziehungen, in denen sich derartige Behinderungen bzw. ent sprechende Phantasien ereignen, lassen sich auf ein ödipales Muster oder auf Geschwisterrivalität zurückführen. »Die psychoanalytische Arbeit lehrt, daß die Gewissenskräfte, welche am Erfolg erkranken lassen, anstatt wie sonst an der Versagung, in intimer Weise mit dem Ödipus-Komplex zusammenhängen, mit dem Verhältnis zu Vater und Mutter, wie vielleicht unser Schuldbewußtsein überhaupt« (Freud 1916d, S. 389).
Der sexuelle »Erfolg« bei dem begehrten ödipalen Elternteil macht schuldig am anderen, den man beseitigen müsste, was offenbar in der Phantasie bereits durch das Übertreffen oder Überrunden auf anderen Gebieten erreicht wäre, sodass ein Erfolg scheitern muss. Es geht hier also um den Aspekt von Arbeitsstörung und Prüfungs angst, der von Modell (1971) zuerst – für meine Begriffe unglücklich – als Überlebenden-Schuld (»survivor guilt«) bezeichnet wurde – bes ser (erfolgreicher) leben auf Kosten anderer, von denen man abhängig ist und deren Liebe man sich erhalten möchte. Gemeint ist das Über treffen oder Überrunden des Liebesobjekts (Engel u. Ferguson 1990, S. 53). Die frühe Psychoanalyse hat Arbeitsstörung und Prüfungsangst stets auf die ödipale Rivalität und ihre Hemmung bezogen – wie bei spielsweise Sadger (1920, S. 150): »Die Prüfungsangst ist Kastra tionsangst.« Melanie Klein (1940, S. 105) weitet die Dynamik über den Ödipus-Komplex hinaus auf den von Kindern ersehnten Triumph aus, eines Tages stärker und mächtiger als die Eltern zu sein: »Der Triumph über die Eltern in solchen Phantasien lähmt wegen der Schuldge fühle, die sich daraus ergeben, oft Anstrengungen aller Art. Manche Menschen sind gezwungen, erfolglos zu bleiben, weil Erfolg für sie immer die Erniedrigung oder gar den Schaden an einer anderen Person, besonders den Triumph über die Eltern und Geschwister, bedeutet.«
Aber ein solch einfacher Mechanismus der Hemmung des Erfolgs wird dem Umstand nicht gerecht, dass die Eltern immer (bewusst jeden falls) auch wollen, dass das Kind etwas leistet und Erfolg hat. Dieses Doppelte von Forderung und Hemmung wurde schon früh gesehen; Sadger (1920, S. 143) schildert das Dilemma eines fast psychotischen Schülers, der Angst hat, eine Prüfungsfrage des Lehrers bedeute eigent lich die, ob er mit der Mutter geschlafen habe: »Gebe ich dem Lehrer die Antwort, so springt er auf mich los, packt mich und mir geschieht etwas, natürlich die Kastration. Antworte ich aber nicht, so komme ich ewig nicht vom Fleck. Es gibt also keinen Ausweg.« »Nicht vom
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Fleck« bedeutet, er macht keine Fortschritte, und das enttäuscht den Vater wiederum: »Nun fällt mir ein, dass gerade mein Vater auf die Noten der Zeugnisse, überhaupt auf das Lernen und die Fortschritte in der Schule sehr großen Wert legte« (S. 145). Die widersprüchlichen Forderungen können auch auf beide Eltern teile verteilt sein bzw. je einem Elternteil zugeschrieben werden: Ein Patient Fenichels (1945, Bd. III, S. 77), den er einen »Don Juan des Erfolgs« nennt, war gezwungen, geschäftlichen und sexuellen Erfolgen nachzujagen, wobei er trotz aller oberflächlichen Erfolge nie auch nur eine gewisse Zufriedenheit erreichen konnte: »Einige Personen zollen ihrem Über-Ich nicht durch Leiden, sondern durch Erfolg Tribut … Da nun aber kein Erfolg eine unbewußte Schuld wirklich ungeschehen machen kann, sind diese Personen gezwungen, von einem Erfolg zum nächsten zu hetzen, ohne je mit sich zufrieden zu sein.«
In Fenichels Fall nun ist es leicht möglich, das Über-Ich auf real handelnde Personen zu beziehen: Die sehr viel ältere Ehefrau, die ihn behandelt wie eine Mutter ihr Kind, stachelt ihn zu Höchstleistun gen an, genau wie schon damals die leibliche Mutter: »Die Analyse deckte auf, daß die Mutter den Vater … von Grund auf verachtete. Sie hatte dem Jungen eingeschärft, daß er tüchtiger werden müsse als sein Vater« (S. 78). Es stellte sich auch heraus, dass der Junge bereits mit sechs Jahren – noch auf der Höhe des Ödipus-Komplexes wohl – im Laden des Vaters aushalf und über den Vater triumphierte, da die Kunden gerne bei dem kleinen Jungen kauften. Über einen ähnlichen Fall pseudo-ödipalen Agierens seitens der Eltern habe ich berichtet (Hirsch 1988 ; vgl. auch 2016); auch hier hatte der Junge (in der Ado leszenz) zusammen mit der Mutter großen geschäftlichen Erfolg, der Vater spielte nun keine Rolle, wenn er auch zeitweise als übermäch tiger Kastrator gefürchtet gewesen war. Kein Wunder, dass jeder tat sächliche Erfolg im eigenen Recht – ohne die mächtige Mutter, die die Penisse der Männer verwaltete, an der Seite – wegen schwerer ödipal erscheinender Schuldgefühle unmöglich war. Eine Hemmung, Erfolg zu haben, kann auch mit konfliktuöser Geschwisterrivalität zusammenhängen. Wir haben gesehen, wie sehr die Identität Vincent van Goghs als »Ersatzkind« seinen Lebens lauf beeinträchtigte; er musste scheitern in jeder beruflichen Laufbahn, einzig beim Malen hatte er wahrlich keine Arbeitsstörungen, einem Erfolg in den Augen der Menschen jedoch musste er sich entziehen: Nagera (1967) führt van Goghs Selbstmord auf seinen beginnen den Erfolg zurück. In diesem Fall herrscht nicht die ödipale Kompo nente, sondern die Hemmung, dem durch die Eltern idealisierten Bild
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des toten Bruders nahezukommen, als Ursache für die Erfolglosigkeit vor. »Unbewußt muß er gefühlt haben, daß sein Erfolg ein Angriff auf den toten Vincent war, ein Versuch, seinen Platz in der Zuneigung der Eltern zu gewinnen« (Nagera 1967, S. 157). Andererseits hät ten die Eltern, Nagera zufolge, auch das Idealbild des toten Bruders auf van Gogh selbst übertragen, was zu seinem extrem übersteigerten Ideal-Ich geführt habe, dem nahezukommen er sich gezwungen fühlte. Nagera sieht das Malen für van Gogh als Ausweg aus diesem Kon flikt an, »denn Vincent wußte und äußerte sehr oft selbst, daß Malen ein Beruf sei, in dem man bei Lebzeiten als Versager angesehen wird und erst nach dem Tode berühmt wird« (S. 158). Man kann aber auch umgekehrt denken, dass ein Erfolg für van Gogh bedeutete, sich dem Auftrag, den toten Bruder zu ersetzen, zu entziehen und den Erfolg für sich selbst zu verbuchen, was er sich nicht gestatten konnte. Ein anderer Aspekt bei Lernstörungen besonders im Kindesalter hat weniger mit ödipalen Konflikten zu tun als mit narzisstischer Versor gung durch eine Elternfigur bzw. mit ihrem Versagen in dieser Hin sicht. Lernen bedeutet dann ein In-sich-Aufnehmen, Lernstörung kann die Dynamik der Anorexie annehmen. Nora A. berichtet, dass sie am Wochenende Lust hatte zu malen, sie malte ein Bild von Matisse ab und fühlte sich gut dabei. Sie dachte aber: Darf ich das denn? Einfach etwas kopieren? – Die Arbeitsstörungen auf dem Abendgymnasium nehmen zu, sie kann nicht folgen; einerseits ist sie froh, dass die Ferien bevorstehen, ande rerseits hat sie aber Angst vor dem Alleinsein. Das Lernen bedeutet für sie, etwas von anderen in sich aufnehmen. Dazu muss sie aber die Erlaubnis von den Eltern bekommen, denn sonst bedeutet Lernen, die Liebe der Eltern zu verlieren. Als Kind hatte sie große Freude am Flötenunterricht, den sie aber eines Tages abrupt aufgab: Sie hatte zu Hause niemanden, dem sie hätte vorspielen können (das erinnert an den Gedanken Garbers [1988, S. 122], dass das Kind den »Glanz im Auge der Mutter« braucht, Freude und Stolz über sein Wachstum, und dass dessen Fehlen eine Quelle von Lernbehinderung sein kann.) Für Frau A. bedeutet Lernen also, allein zu sein, nichts zu bekommen. Also bleibt sie zu Hause und wartet, ob sie da etwas bekommen könne. Sie denkt daran, dass der Stoff für die Prüfung etwas Gutes sei, er komme aus der Welt, verhelfe zu Freiheit und Autonomie, wenn man ihn sich einverleibe, erweitere er das Selbst. Wie bei der Nahrung soll er etwas Gutes sein, aber manchmal entpuppt er sich als etwas Böses – Frau A. hatte jah relang an extremer Bulimie gelitten –, deshalb muss es wieder hinausbefördert werden. Wenn man sich den Stoff für die Prüfung nicht aneignen kann, bleibt man auch zu Hause. Frau A. fällt ein, dass ihre Mutter nach der Geburt zu schwach war, »sie hatte ja auch schon sechs Kinder«, sie wollte nachts nicht aufstehen, um den Säugling zu stillen. Die Mutter habe stolz erzählt, wie selbstständig sie, Frau A., gewesen sei, dass sie sich nachts selbst die Brust gesucht habe, die Mutter nicht einmal aufwachen musste. »Dableiben« bedeutet erzwingen, vielleicht doch noch etwas zu bekommen, anstatt es sich selbst von anderen zu nehmen, denn dafür gibt es keine Anerkennung; Lernen würde bedeuten, auf die elterliche Zuwendung zu
186 Schuldgefühl verzichten. Wenn Frau A. ein Bild kopiert, bedeutet das, von Matisse etwas zu bekommen. Aber sie bleibt allein damit: Der Freund kommt vorbei und sagt nicht etwa: »Das hast du aber schön gemalt«, sondern: »Darfst du denn deinen Namen darunter setzen, es ist doch gar nicht von dir …« – Nach den Ferien kommt Frau A. in guter Stimmung zur Therapie. Sie kann kaum glauben, dass sie in den Ferien so gut gelebt hat. Sie kann nicht fassen, dass sie auf dem Zeugnis keine Fünf hatte: Als ob ihr etwas Vertrautes fehle, als ob sie etwas verloren habe. Sie denkt daran, dass sie von den Eltern zwar einerseits nie Anerkennung für etwas bekommen hat, wenn sie aber schlechte Leistungen hatte, wurde sie hart bestraft, die Eltern meinten, sie arbeite absichtlich nicht, und versuchten, ihr den Stoff einzutrichtern.
Der Ambivalenzkonflikt, der oft genug von den Eltern ausgeht, die einerseits wollen, dass die Kinder den Erfolg haben, den sie ande rerseits zu verhindern suchen, führt bei der Arbeitsstörung zu einem furchtbaren Kampf verschiedener gegensätzlicher Über-Ich-Anteile, der nicht so kreativ entschieden oder vielmehr umgangen wer den kann, wie es für van Gogh möglich war. Es entsteht ein starker Druck, etwas zu tun, aber die Gegenkraft nutzt alle Tricks, es hinaus zuschieben: Bevor man mit der Arbeit beginnen kann, muss erst noch der Arbeitsplatz aufgeräumt, müssen die Bleistifte gespitzt, schnell noch etwas nachgelesen werden, aber das Buch ist natürlich verlegt, man muss es nun unbedingt erst einmal finden. Dann ruft vielleicht jemand an, den man nicht gut abwimmeln kann, die Blumen müssen nun wirklich gegossen und der Hund schnell ausgeführt werden. Auch geht es keinesfalls ohne den Tee, der eben schnell gebrüht werden muss, inzwischen ist der Hunger da, und die Tagesschau kann man auch nicht versäumen, man muss doch auf dem Laufenden bleiben. Und dass gleich darauf ein hochinteressanter Film kommt, konnte man doch nicht ahnen, und man wollte doch nur eben mal reinschauen … Bis zum Eintritt einer bleiernen Müdigkeit, gegen die kein Mittel hilft, bleibt nicht mehr viel Zeit zu arbeiten. Loewald (1979) berichtet über den Fall eines Studenten, der ein Jahr nach dem Tod des Vaters mit seiner Dissertation nicht weiterkam. Es waren deutlich zwei Über-Ich-Anteile festzustellen, einer trieb mit heftigen Vorwürfen zur Arbeit an, der andere sabotierte den Fortschritt mit bohrenden Selbstzweifeln. In der analytischen Bearbeitung tauchte der Begriff der Verantwortung auf: »Wenn er von Verantwortung sprach, meinte er vielleicht unterschwellig nicht nur die Verantwortung sich selbst gegenüber, seine Selbständigkeit, sondern auch die Verantwortung für ein Verbrechen. Es wäre ein Verbrechen, das er aufschieben, vermeiden oder ungeschehen machen wollte« (Loewald 1979, S. 382).
Ein Weiterverfolgen dieses Gedankens führte zu Mordimpulsen und -phantasien seinem Vater gegenüber, »seinen Ambitionen und Befürch tungen, ihn zu übertreffen, zu seinen Schuldgefühlen wegen dieser
Zweite Gruppe der Schuldgefühle: Schuldgefühl aus Vitalität
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Ambitionen … und wegen des Todes seines Vaters« (S. 382). Aber nicht nur diese ödipalen, vitalen Bestrebungen, die natürlich Schuld gefühle machten, lagen in dem Begriff »Verantwortung«, sondern auch die Autonomiebestrebungen, durch die »wichtige emotionale Bindun gen an die Eltern gelöst« (S. 382) werden. Meines Erachtens verbindet Loewald hier die ödipale Dynamik mit der von Loslösung und Individuation, die bereits vor der ödi palen Auseinandersetzung beginnt und sich durch die verschiede nen Entwicklungsalter zieht (Loewalds Beschreibung scheint eher zur Adoleszenz als zum ödipalen Alter zu gehören). Und wegen der kaum trennbaren Verbindung dieser beiden Bereiche denke ich auch, dass ein Schuldgefühl aus vitalen ödipalen und anderen Rivalitätsbestrebungen immer mehr oder weniger mit Autonomiewünschen ver mischt ist.
»Terrorismus des Leidens« Als neben körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch drit ten Bereich der traumatisierenden Einwirkung auf das Kind in der Familie hat Ferenczi (1933) den Terror beschrieben, den ein chro nisch kranker Elternteil auf ein Kind ausüben kann, auch in Form von hypochondrischen Ängsten oder ständigen Suiziddrohungen (vgl. z. B. Sachsse 1987). Diese Dynamik ist so häufig, dass es erstaunt, wie sel ten sie in der Literatur geschildert wird. Vielleicht neigt man in einer komplementären Identifikation in der Gegenübertragung dazu, es zu übersehen: Denn wer krank ist, genießt in unserer Gesellschaft einen besonderen Schutz, quasi automatische Fürsorge und eine Absolution von jeder Verantwortung (vgl. Simmel 1932, S. 65). Das ist auch die Situation eines Kindes: Auf ein »Sei still, Vater geht es wieder nicht gut!« kann es nicht anders reagieren, als sich zu unterwerfen und seine Vitalität so zu unterdrücken, dass »Vater« sich nicht aufregen muss, wodurch er noch kränker werden, womöglich sterben könnte. Die Wut, die als Reaktion auf eine solche Einschränkung nur zu verständlich wäre, auch in Form von Todeswünschen, kann sich aber gerade nicht äußern, weil durch sie eine Verschlimmerung des Leidens eintreten könnte. Das Kind schafft sich zwei Methoden der Bewältigung seines Dilemmas: 1. Identifikation – es wird ebenfalls krank oder hypochon drisch, und 2. Anpassung – es entwickelt sich nicht nur zur »lebens länglichen Pflegerin« (Ferenczi 1933, S. 312), sondern tut alles, um seinerseits »pflegeleicht« zu sein.
188 Schuldgefühl
In seinem »Klinischen Tagebuch« (Ferenczi 1985, S. 276; Hervor hebung original) heißt es stichwortartig über die Reaktion auf die Krank heit: »Schreck: Ein Teil gerät außer sich, Spaltung. Der leer gewordene Platz wird vom Aggressor eingenommen. Identification.« Und in der Tat, es scheinen besonders anfallsartige Krankheitssymptome zu sein, die den »Terror« auf das Kind ausüben. Weidenhammer (1986, S. 64) berichtet: »Patienten … schildern außerordentlich häufig, daß Vater oder Mutter oder eine andere nahestehende Bezugsperson körperlich leidend war, und zwar auf eine erschreckende, besorgniserregende Art (Anfallsleiden).« Diese Patienten müssen Weidenhammer zufolge Beziehungen ver sachlichen, denn ihre Objekte sind »ganz und gar brüchig« (S. 64), verletzbar und unvorhersehbar zerstörbar. Stellt man sich die Vitalität des Kindes als Lebensenergie vor, die zu äußern es gehindert wird, liegt der Schluss nicht fern, dass sie, die Energie, mithilfe der Identi fizierung gegen das eigene Selbst in Form eben der Krankheit gewen det wird, unter deren ständiger Demonstration es gelitten hatte. Für Mütter hypochondrischer Patienten habe ich zwei Typen beschrieben (Hirsch 1989a), von denen die Mütter des Typs I selbst ständig mit hypochondrischen Ängsten und chronischen Krankheiten laborierten (Typ II: Die Mütter waren ständig besorgt um die Gesundheit des Kin des), wie Richter (1970, S. 76) eine Anpassung einer ganzen Familie an die »frisch erkrankte Herzneurotikerin« beschreibt, die nach einer Zeit des Wehrens gegen die Anklammerungstendenzen der erkrankten Mutter eintritt, und zwar aus Schuldgefühl. Die Familie gestalte sich »zu einer Art Kuranstalt« (S. 77) um, und es nimmt nicht wunder, dass »die Kinder solcher Familien zwangsweise ebenfalls meist zu höchst risikoscheuen, hyponchrondrischen und für Herzneurosen anfälligen Wesen heranwachsen« (S. 78). Die Identifikation wird zum Teil auch ins Karikaturhafte gesteigert, was Ferenczi (1985, S. 276; Hervorhebung original) andeutet: »Dar stellung des Kindes: ›Ihr seid verrückt‹ durch Imitierung (Unsinnig keit).« Eine Patientin, Zilly C., hatte als Kind ständig Unfälle. Einmal, mit vielleicht acht Jahren, brach es sich den Arm, und die Mutter sagte: »Du weißt ja, wo Dr. X. seine Praxis hat.« Das Mädchen ging brav zum Arzt (»Na, was haben wir denn heute wieder?«), der hatte gerade keine Gipsbinden zur Hand und schickte das Kind in die Apotheke, welche zu holen. Auf dem Rückweg zur Praxis fiel es wieder hin und verstauchte sich die andere Hand …
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Das »Herzkind« Ein Beispiel von weitgehender Identifikation mit der ständig kranken Mutter gibt Lisa M., die ich schon als »Herzkind« vorgestellt habe; sie ist Ersatzkind für den acht Jahre älteren, vor ihrer Geburt verstorbenen Bruder und noch dazu von einem Familiengeheimnis umgeben: Prosti tution in der Familie, die fragliche Vaterschaft des Vaters für den Bru der, kompliziert durch das Inzest-Agieren des Vaters mit der Patientin. Die Sorge um das eigene Herz verband die Patientin mit der Mutter; das Herz als eine »Art von Partner« (Fürstenau et al. 1964, S. 184). Die Mutter habe immer an Herzbeschwerden gelitten, war ständig krank; die Pati entin kam in die Therapie genau ein Jahr nach dem Tod der Mutter. Sie habe Angst und Herzanfälle, Todesangst. Vor einem Jahr habe sie gedacht, sie sei wirk lich herzkrank, habe auch einen Arzt gefunden, der eine Herzschwäche diagno stiziert und ihr Herzmedikamente gegeben habe, die sie noch heute nehme. Eine Kur wurde jedoch abgelehnt. Sie habe auch die »depressive Lebensunlust« der Mutter an sich festgestellt. Sie habe Albträume, meist von Gestorbenen, wache nassgeschwitzt auf, habe das Gefühl, innerlich tot, nur noch eine äußere Schale zu sein. Sie träume, dass sie die Mutter in Krankenhäusern suche, um sich küm mern zu können. Dabei habe sie im Traum Schuldgefühle. Sie war immer sehr abhängig von der Mutter, das war ihr größtes Problem. Früher hatte sie Todeswün sche gegen die Mutter, wenn sie wieder krank war, und schlimme Schuldgefühle danach. Die ganze Kindheit sei überschattet gewesen von Krankheit und Hass. Der Vater habe heimlich Alkohol getrunken, sei abhängig gewesen, habe sich aber möglichst nichts anmerken lassen. »Meine Mutter ist ihr ganzes Leben gestorben, sie war immer auf meine Hilfe angewiesen.« Sie habe das Gefühl, kein Recht mehr zu haben, nach dem Tod der Mutter zu leben. Gleichzeitig habe sie das Gefühl, als ob sie ein Teil der Mutter wäre, nach ihrem Tod immer mehr wie sie zu werden und sich zurückzuziehen, sie habe Angst, ihre Wut immer mehr gegen die acht jährige Tochter zu richten, mit der sie allein lebe. Die Wut gegen die Tochter sei andererseits wie die Wut auf ihre Mutter, denn die Tochter hindere sie auch wieder am Leben. Ihre Großmutter habe ihr damals eine Geschichte aus der Zeitung vor gelesen, wie eine Oma von einem Hund zu Tode gebissen wurde, als sie versuchte, ihre Enkelkinder zu retten. Sie wollte die Geschichte nicht hören, sie empfand sie als einen Vorwurf, den sie auf sich und die Mutter bezog: Ihre Mutter, die sich aufopfere, würde sterben müssen, und sie, das Kind, hätte Schuld. Vor dem Tod der Mutter habe sie alles mit ihr besprechen können, sie war wie eine Freundin, »wir waren ein Herz und eine Seele«, sie war die ideale Mutter. »Ich habe meine Mutter, mich und meine Tochter immer als Einheit gesehen.« Eine vollkommene Einheit, in der kein Mann erforderlich war. Später berichtete sie von einem schlimmen Unfall, den sie nach dem Tod (Herztod?) der Mutter hatte: Ein Küchengerät war defekt, ein Kabel durchge scheu ert, sie wollte jeman dem den Defekt zei gen, machte das Gehäuse auf, obwohl der Stecker in der Steckdose war, und erlitt einen elektrischen Schlag; der Elektriker, der zur Reparatur des Geräts geholt wurde, meinte: Wenn sie nicht ein so starkes Herz gehabt hätte, wäre sie gestorben. Sie hat immer gedacht, sie habe ein schwaches Herz. Wenn es so klopfte, hatte sie Angst, dass sie sterben
190 Schuldgefühl könnte, es war aber auch irgendwie ein Zeichen, dass sie lebte. Sie trägt ständig ein kleines goldenes Herz als Schmuck, ein Geschenk von der Mutter ihres ersten Freundes. In der Zeit der Bearbeitung der Trennung aus der Beziehung zur Mutter hat Frau M. einen Traum: In der Küche zerschneidet sie mit einem scharfen Messer ein großes Herz. Sie ekelt sich einerseits, ist andererseits traurig. – Sie hat früher für ihre Katze frisches Herz gekauft, hat es zerschnitten, sich gar nicht geekelt. Weiter denkt sie daran, dass das Herz im Traum tot ist, sie muss die Verbindung zur Mut ter zerschneiden. Das Zerschneiden bedeutet etwas Positives: Sie zerschneidet die zu enge Bindung an die Mutter. Das Herz für die Katze damals bedeutete ja auch ein Lebensmittel. Am Anfang der ersten größeren Therapiepause hat sie einen »Herzanfall«, einen Angstanfall. Sie hat große Angst und Schuldgefühle, dass sie etwas falsch gemacht hat: Sie hat sich vorgenommen, eine Fastenkur (also eine alternative Therapie) zu machen, hat dazu ein Buch »eines anderen Arztes« gelesen, hat jetzt große Angst, ich sei gekränkt und würde ihr Vorwürfe machen. Anstatt wütend zu sein, dass ich sie allein lasse in den Ferien, stellt sie es in ihrer Phantasie so her, dass sie mich verlässt und sich einem anderen Objekt zuwendet, hat dann wegen dieser Eigenmächtigkeit aber große Schuldgefühle, ich wäre so aggressiv auf sie, wie sie eigentlich auf mich sein müsste. – Einmal sagt sie, sie habe etwas auf dem Herzen: Sie denke, ich hätte etwas dagegen, wenn sie sich mit dem Freund wieder trifft und sexuelle Bedürfnisse ihm gegenüber äußert, von dem sie sich eigentlich schon getrennt hatte. Als würde sie mich auch dadurch verlassen. Ein anderer Traum zeigt die andere, aggressive Seite der Ambivalenz in der Mutterbeziehung: Sie kämpft mit einem jungen Mann, schlägt mit einem Spaten zu, da verwandelt der sich in eine Milchtüte, die das Gesicht der Schauspielerin Inge Meysel hat, die »als Mutter der Nation« gefeiert worden ist. Sie wollte sie totschlagen, konnte sie aber nicht mehr sehen, sie habe aufgehört, auf sie einzu schlagen, kurz bevor sie starb, weil sie nicht schuld sein wollte am Tod. Sie wurde aber ihre Wut los, das Gesicht auf der Milchtüte war schmerzverzogen, aber sie lebte noch. – Sie hasse Milchtüten, es seien unzerstörbare Tüten, in denen die Milch nicht arbeiten könne, die Milch sei tot, konserviert. Die Tüte sei nicht kaputt zu kriegen wie das Bild von einer Mutter, das die Deutschen von der Mutter haben! In der weiteren Bearbeitung stellt sich die Verdichtung von »jungem Mann« und »Mutter der Nation« als Ergebnis der entsprechenden Übertragung auf mich heraus. Zum Tod der Mutter: Sie hat zum Schluss so darum gekämpft, dass die Mutter überlebt. Die Mutter hat die ärztlichen Anordnungen gar nicht mehr befolgt. Die Patientin war fast immer bei ihr, als der Tod sich näherte, die Mutter konnte aber nicht sterben. Sie hatte das Gefühl, die Mutter könne nicht loslassen, wenn sie bei ihr war. Das hat sie ihr gesagt und ist gegangen, und dann erst ist die Mutter gestor ben. Dadurch hat die Mutter selbst sabotiert, was sie immer haben wollte: Dass die Patientin im Sterben bei ihr sein sollte. Selbst da noch war Hass und Kampf, die Mutter hat sich so verhalten, dass sie, Frau M., auf jeden Fall schuldig wurde. Wäre sie geblieben, hätte sie eine Erlösung verhindert, da sie gegangen ist, habe sie zum Tod beigetragen. Es wäre ein Akt der Gnade gewesen, wenn die Mutter in ihrer Gegenwart hätte sterben können. Das Ende der Therapie naht, der Termin ist in vier Wochen. Sie könnte nur weinen: »Auf dem Weg hierhin habe ich gedacht, am liebsten würde ich mir das Herz herausreißen, um den Schmerz nicht zu spüren!« Ständig verwendet sie das Wort »Herz«. »Als ich letzte Woche Ihnen mein Herz vor die Füße geworfen habe,
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tat es mir nicht mehr weh!« Oder: »Ich habe Herzschmerzen, wenn ich zu Ihnen komme!« Als Jugendliche hat sie Jungen, die sich für sie interessierten, gesagt, sie habe einen Herzfehler, um sich interessant zu machen. Herzbeklemmungen hatte sie schon als Vorschulkind, wenn die Mutter an ihre eigene Mutter geschrieben hat, aber auch die Mutter die Hand des Kindes damals geführt hat. Sie schrieb, dass es ihnen »leidlich« gehe, traurige, lange Briefe. Das Kind war dann eingeklemmt zwi schen Mutter und Küchentisch, konnte sich nicht rühren, die Mutter hielt die Hand mit eisernem Griff. (Das ist eine andere Version des »Anna-selbdritt-Motivs«.) Die Herzbeschwerden versteht sie jetzt auch wie ein Andenken, eine Verbindung zu mir angesichts der nahe bevorstehenden Trennung. Als Jugendliche habe ein Arzt festgestellt, dass sie keine Stirnhöhlen habe. Sie ging damals wütend zu ihrer Mut ter und warf ihr vor, dass sie ihr keine Stirnhöhlen mitgegeben habe! Jetzt sagt sie: Die Mutter habe ihr auch den Herzfehler vererbt! Und äußert noch zu der Phantasie, sie habe mir das Herz vor die Füße geworfen: »Ich habe es mir richtig vorgestellt, wie es da blau und zuckend vor mir lag!«
Kein Wunder, dass trotz der Selbstaufgabe in der Verpflichtung, den kranken Elternteil zu pflegen und zu retten, ein starkes Trennungsschuldgefühl auftritt, das das Schuldgefühl, in der Pflegeaufgabe zu versagen, potenziert. Aber die Aggression ist, auch wenn sie so unter drückt und verdrängt ist, dass man nichts von ihr spürt, eine mäch tige Quelle des Schuldgefühls – wie überhaupt alle Lebensäußerungen (»Schuldgefühl aus Vitalität«). Dazu gehört offenbar auch das eigene Kind, das eine weitgehende Loslösung von der Mutter bedeuten könnte, das aber im Falle von Frau M. wiederum Wut auslöst, weil sie sich um das Kind kümmern muss und so an die Bedürftigkeit der Mutter erin nert wird.
Der Pelikan Während Lisa M. im Traum das Herz zerschneidet, um die Trennung von der Mutter darzustellen, verwendet Strindberg das Bild vom zer hackten Herzen, um die Ambivalenz einer Mutter auszudrücken, die sich für ihre Kinder aufopfert und sie nicht gehen lassen kann, weil sie die Versorgung der Kinder als ihren einzigen Lebensinhalt empfindet. In der Erzählung »Das ist nicht genug!« wird eine Witwe, die eine kleine Pension betreibt, von ihrem jüngsten Sohn verlassen.
»Alle Jungen sind ausgeflogen, und das Nest ist verlassen. Wofür soll sie jetzt leben, wer soll jetzt ihre Brust zerhacken …? ›Das ist die Ordnung der Natur, beste Frau St. Brie‹, sagt der Gast. ›Wir dürfen unsere Kinder nicht für uns selber aufziehen. So wie wir von unseren Eltern weggeflogen sind, so fliegen auch die unseren von uns weg. Wir begehren zu viel vom Leben, das uns so wenig gibt.‹ ›Aber was soll man denn tun, wenn einen alle verlassen?« wendet die verlassene Mutter ein. [Sie findet wieder zu sich, indem sie nun ihre Fürsorge an die Gäste ihrer Pension richtet.] Aber ihr Herz ist wie die Leber des Prometheus: Nachdem
192 Schuldgefühl der Adler zugehackt hat, wächst sie nach. Und später kommt ein anderer Gast … Und er trifft auf das zerhackte Mutterherz. Auch er bekommt sein Stück ab, das er nun seinerseits zerhackt, und dann nimmt er eine Droschke und fährt zu gegebener Zeit seines Weges, gibt jedem Dienstmädchen einen Louis d’or für das Herz, das er benagt hat. Der Witwe aber gibt er nichts, denn das schickt sich nicht. Ja, es ist wahr, er hat ihr sein Herz ausgeschüttet und ihr als Souvenir ein Stück seines Leides geschenkt, und sie hat es entgegengenommen und zu ihren Ersparnissen gelegt« (Strindberg 1987, S. 226 f.).
Die von Strindberg etwas ironisch entworfene Mutter erlebt ihr Herz von den undankbaren Kindern zerhackt. Der »Physiologus« überliefert uns die Fabel vom Pelikan, der sich die Brust selbst aufhackt, um die Kinder zu nähren. Dieses Bild wurde vom frühen Christentum auf genommen, um die Rettung der Menschen durch das Blut Christi zu illustrieren. Schuldgefühl verursacht beides: Es kommt aufs gleiche hinaus, ob die Mutter den Vorwurf macht, die Kinder hackten ihr das Herz, oder ob sie sich selbst hackt; wie beim »Terrorismus« sind die Kinder schuld am aufopfernden Leiden der Mutter. Vom Pelikan »Der selige Prophet David sagte in seinem Psalter: Ich bin gleich einem Pelikan in der Wüste. Der Physiologus hat von dem Pelikan gesagt, er gehe völlig auf in der Liebe zu seinen Kindern. Wenn er die Jungen hervorgebracht hat, dann picken diese, sobald sie nur ein wenig zunehmen, ihren Eltern ins Gesicht. Die Eltern aber hacken zurück und töten sie. Nachher jedoch tut es ihnen leid. Drei Tage trauern sie dann um die Kinder, die sie getötet haben. Nach dem dritten Tag aber geht ihre Mutter hin und reißt sich selber die Flanke auf, und ihr Blut troff auf die toten Lei ber der Jungen und erweckt sie. So auch spricht unser Herr im Buche des Propheten Jesaja: Ich habe Kinder aufgezogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen. Der Meister hat uns hervorgebracht, und wir haben ihn geschlagen. Wir haben gedient der Schöpfung wider den Schöpfer. Er aber kam zur Erhöhung des Kreu zes, und aus seiner geöffneten Seite troff Blut und Wasser, zu Heil und eigenem Leben: Das Blut darum, daß gesagt ist: Er nahm den Kelch und dankte; das Wasser aber um der Taufe willen zur Buße« (Seel 1960, S. 10).
Die armen Pelikan-Kinder müssen denken: »Die Mutter opfert sich für uns, sie leidet, hat Schmerzen, weil sie uns mit ihrem eigenen Blut ernährt, sie schenkt uns das Leben und gibt uns ihres …« Und sie müs sen Schuldgefühle haben, weil sie die Ursache sind, dass die Mutter so leiden muss. Der tatsächliche Ablauf aber war ein anderer: Die Peli kan-Eltern waren nicht in der Lage, das »Picken« der Kinder, kaum dass sie etwas zugenommen hatten, zu ertragen. Offenbar fühlten sie sich überfordert, der sich regenden vitalen Aggression der Spröss linge adäquat zu begegnen, sondern waren gekränkt – hatten sie ihnen doch das Leben gegeben – und fühlten sich zurückgewiesen, sodass sie die Kontrolle verloren und zurückschlugen. Wir erinnern uns, dass
Zweite ZweiteGruppe Gruppeder derSchuldgefühle: Schuldgefühle:Schuldgefühl Schuldgefühlaus ausVitalität Vitalität
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die Phase hat vonuns Abraham (1924) eine rezep ive und eine len.orale Der Meister hervorgebracht, undinwir haben ihntgeschlagen. Wiroralhaben gedient der Schöpfung Er wurde, aber kamgenau zur Erhöhung deserste Kreustische, kannibaliswider tischeden difSchöpfer. ferenziert um diese sadi zes, und ausdes seiner geöffneten Seite Blutdie unddie Wasser, Heil und Aggres sion Säug lings han delttroff es sich, Elternzunicht verkeigenem raftet Leben: Das Blut darum, daß gesagt ist: Er nahm den Kelch und dankte; das Waskan-Eltern offen bar S. ein10). Schuldbewusstsein, haben. haben Pelizur ser aberZwar um der Taufedie willen Buße« (Seel 1960, das zu einer Wiedergutmachung führt, aber die Kinder sehen nur: Die opfertPelikan-Kinder sich auf, sie lei det unse retweg»Die en – Mutter weil sieopfert die Vor Mut Dieter armen müssen denken: sichge für schichte, ersten des Mythos, lieeigenen ngeheimnBlut is uns, sie den leidet, hat Teil Schmerzen, weil der sie wie uns ein mit Fami ihrem wirkt, nicht nen. uns das Leben und gibt uns ihres …« Und sie müsernährt, sieken schenkt essanterweisehaben, gibt es EntUrsache sprechung in daß dendie Frucht barso Inter sen Schuldgefühle weileine sie die sind, Mutter keits riten der Der Dakota, die Erikson mit teiltanderer: und imDie Sinne der leiden muß. tatsächliche Ablauf(1950) aber war ein PelikanBewäl ung eines gefühls der der oralKinder, en Aggres siondaß ver Elterntigwaren nichtSchuld in der Lage, daswegen »Picken« kaum sie steht. nimmthatten, auch an, dass der Offenbar Übergangfühlten von einem »para etwasErikson zugenommen zu ertragen. sie sich überdie sischen« dium der Entw icklung in ein nachpara diesisches »in der fordert, derSta sich regenden vitalen Aggression des Sprößlings adäquat Wut der Beißperiode« (1950, S. 144; wie bei Abraham, s. o.) anzu s zu begegnen, sondern waren gekränkt – hatten sie ihnen doch ie das deln ist und dass hier der »Ursprung des tiefen Schlechtigkeitsgefühls« Leben gegeben – und fühlten sich zurückgewiesen, so daß sie die Konliegt, derund Grund der »Ursünde«,Wir die die Religio nendaß postu lierorale en. (S. 144) trolle verloren zurückschlugen. erinnern uns, die Des halbvon ist es notwend(1924) ig, von in Zeit zurezeptive Zeit durch Gebet Sühne »der Phase Abraham eine und eineund oral-sadistische, allzu heftigen Begierde nach ›der Welt‹« abzuum schwören und Aggression Kleinheit, kannibalistische differenziert wurde, genau diese erste sigkeit und freiwilligeresein Lei den zu demonstrierhat) en. handelt es sich, Hilf desloSäuglings (nachdem wenig zugenommen die die Eltern nicht verkraftet haben. Zwar haben die Pelikan-Eltern
Abbildung 5: Ewald Mataré (1887–1965), Pelikan, Mosaik, 1949; Südportal Kölner Dom
194 Schuldgefühl
Bei den Dakota wurde nach einer Zeit der rituellen Ausschweifung »der Höhepunkt des Festes … mit der Begehung von Selbstfolterungen erreicht …, am letzten Tage unterwarfen sich die ›Kandidaten des vierten Tanzes‹ der höchsten Form der Selbsttortur, indem sie sich durch Brust- und Rückenmuskeln Holzstäbe trieben, die durch lange Riemen am Sonnenpfahl befestigt waren. Direkt in die Sonne blickend und langsam rückwärts tanzend, konnten sie sich losreißen, indem sie das Muskelfleisch ihrer Brust aufrissen. So wurden sie zur geistigen Elite des Jahres, die durch ihre Leiden das fortdauernde Wohlwollen der Sonne und des Büffelgeistes, des Spenders von Zeugung und Fruchtbarkeit sicherstellten« (Erikson 1950, S. 144 f.).
Erikson nimmt an, »daß die Zeremonie den Höhepunkt all der verschiedenartigen Äußerungen absichtsvoll provozierter Wut an der Mutterbrust während der Beißperiode dar stellt, die mit der langen Sauglizenz in Widerstreit liegt. Die Gläubigen wenden die daraus erwachsenden sadistischen Wünsche, der Mutterbrust zu schaden, gegen sich selbst und nehmen ihre eigene Brust zum besonderen Ziel der Selbsttortur« (S. 145).
Das heißt, die Schuldgefühlsdynamik wegen der kannibalistischen Aggression des Säuglings ist im kollektiven Menschheitserleben so niedergelegt, dass es sich von Zeit zu Zeit als Sühne und Selbstkastei ung entäußern muss.
»Es fällt unserem rationellen Denken schwer, einzusehen, … daß versagte Wün sche, und besonders frühe, präverbale und völlig vage Wünsche einen Bodensatz an Sünde zurücklassen können, der tiefer reicht als alle Schuldgefühle über tatsäch lich begangene und erinnerte Taten« (Erikson 1950, S. 145).
Man kann aber auch die andere Seite an die erste Stelle setzen: Die Überforderung, Kränkung, auch Angst und Wut der Eltern angesichts der ihnen unmäßig erscheinenden Ansprüche des Kindes, wie es im ersten Teil des Pelikan-Mythos ausgedrückt ist. Es gibt eine Arbeit von Göppel (1990), die eine verblüffende These vertritt: Melanie Klein habe die Phantasien des Säuglings von den archaischen Angriffen auf die Brust und das Aushöhlen, Ausleeren des mütterlichen Körpers so detailliert schildern können, weil es in Wirklichkeit die Gefühle und Ängste der stillenden Mutter sind, die in den Säugling projiziert wer den! Die Pelikan-Mutter fühlt sich vom Kind attackiert, sie schlägt zurück, »opfert« sich dann und macht dem Kind Schuldgefühle, wenn sie nicht die ganze Geschichte erzählt. Dem würde entsprechen, dass die ständig kranke Mutter ihrem Kind – statt »terroristisch« Schuldge fühle zu machen – sagen müsste: »Du bist nicht schuld, dass ich dau ernd kränkele und den Eindruck mache, ich opferte mich auf, damit du leben kannst. Nein, ich habe die Schwierigkeit, mich überfordert und ungesichert in meiner Identität als Mutter zu fühlen – und ich
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habe ja auch von Vater keine Unterstützung, wie du sicher merkst –, sodass ich leider nicht anders kann, als dauernd krank zu werden.« Aber diese Schuldanerkennung oder Übernahme der Verantwortung zu leisten ist den meisten Menschen nicht so leicht möglich. King Lear, der seine große narzisstische Bedürftigkeit – resultierend aus der im Alter nachlassenden Macht (Shengold 1989b) – auf seine Lieblingstochter, die er dann aber am meisten hasste, projiziert, spricht vorwurfsvoll von »Pelikan-Töchtern«, die ihn zerstört, die ihn ausge saugt hätten (s. o. Teil II, S. 148). Strindberg (1919) hat in seinem Stück »Der Pelikan« (auch »Der Scheiterhaufen«) mit einer gewissen boshaften Ironie die ganze Heuchelei einer – ihrerseits absolut oral bedürftigen – Mutter gezeichnet, die über Jahre das Geld der Familie für Nahrung und Feuerung gestohlen hatte, während die Kinder hun gerten und froren, die die Sahne heimlich abschöpfte, während die Kin der die blaue Magermilch bekamen. Auf der Hochzeit der Tochter (mit einem Mann, mit dem die Mutter zuvor eine Beziehung angefangen hatte) wird ihr noch gehuldigt (Strindberg 1919, S. 171): Die Mutter: »Die Verse an mich, meinst du? Ja, solche Verse hat wohl noch nie eine Schwiegermutter auf der Hochzeit ihrer Tochter bekommen … Erinnerst du dich des Pelikans, der sein Blut den Jungen gibt, weißt du, ich habe geweint …«
Hier wird also der zweite Teil des Mythos heraufbeschworen, das vor gebliche Opfer der Mutter. Aber dieses Bild bröckelt das ganze Stück hindurch ab:
Die Mutter: »… und [ich] habe doch immer ein arbeitsames Leben geführt, habe mich für meine Kinder und mein Haus geplagt und abgemüht, hab’ ich das nicht getan? Der Sohn: Ach was! – Der Pelikan hat ja nie sein Herzblut hingegeben; in dem zoologischen Lehrbuch steht, daß es Lüge ist« (S. 196).
Die Gier der Mutter wird immer deutlicher, der Sohn klagt sie an:
»Sieh mich an, Pelikan, sieh Gerda an, die keinen Brustkasten hat! – Wie du meinen Vater gemordet hast, das weißt du selbst; du hast ihn zur Verzweiflung getrieben …« (S. 198).
Noch einmal versucht es die Mutter der Tochter gegenüber: »Du bist ja noch nicht erwachsen, aber ich bin deine Mutter und habe dich mit meinem Blute genährt … Gerda: Nein, du hast mir eine Glasflasche mit einem Gummisauger in den Mund gesteckt, und später mußte ich ans Büfett und stehlen, aber da war nur hartes Rog genbrot, das ich mit Senf gegessen habe …« (S. 204 f.).
Mit einem gewissen Recht beschwört die Mutter dann die Entbehrun gen ihrer eigenen Kindheit:
196 Schuldgefühl »Kennst du meine Kindheit? Ahnst du, was für ein schlimmes Elternhaus ich gehabt, wieviel Böses ich dort gelernt habe? Das scheint sich zu vererben, aber von wem?« (S. 206).
Aber es gibt kein Entrinnen, alle Beteiligten tragen das Leid in sich, ohne Möglichkeit, es loszuwerden, alle gehen durch ein Feuer zu grunde. In einem Fall in meiner Praxis (Melanie B.) ergab sich eine »Peli kan«-Dynamik dadurch, dass die Patientin ihr acht Monate altes Kind weiter stillen wollte. Aber es war ein Myom nach der Schwangerschaft gewachsen, das zu ständigen Blutungen führte. Um es operieren zu kön nen, hätte sie eine Hormonbehandlung machen müssen, die Hormone hätten dem Kind aber geschadet, also hätte sie abstillen müssen. Sie wollte es aber unbedingt mindestens ein Jahr lang stillen, sodass sie weiter blutete und sehr viel Blut verlor, als ob sie das Kind mit ihrem Blut ernährte. Die Anämie erreichte trotz der Bearbeitung ihres Kon flikts bedrohliche Werte, sodass tatsächlich die Alternative sehr kon kret wurde: Entweder kann das Kind leben oder die Mutter. Der weiter reichende Hintergrund ihrer Opferhaltung als Identitätsersatz ergibt sich aus der folgenden Sequenz einer Gruppensitzung, nicht aber ihre tief sitzende Identifikation mit ihrer Mutter, die eine »Berufsmutter« mit ihren fünf Kindern geworden war, von der sie sich längst nicht befreit hatte:
Es fällt in der Gruppe auf, dass Frau B. schlecht aussieht, blass und ausgezehrt. Sie sagt, die Ursache sei Eisenmangel, einerseits bedingt durch das Stillen, andererseits durch das Myom, das auch immer wieder blutet. Einem anderen Gruppenmitglied fällt dazu sofort eine Spinnenart ein, bei der die Jungen ihre Mütter von innen auf fressen. Die Haltung von Frau B. wird als Opferhaltung verstanden. Sie selbst sieht ihr Ausgezehrtsein als Symbol dafür an, dass sie zu Hause bei sich noch zu kurz kommt, noch nicht so ganz sieht, wo ihre eigentlichen Bedürfnisse sind. Sie ärgert sich, dass ihr Mann viel besser weiß, was er will. Im Vergleich zu früher findet er seinen Beruf jetzt immer interessanter, macht jetzt Überstunden, er arbeitet durchaus nicht nur fürs Geld. Obendrein hat sie ihn dazu ermuntert, diese Stelle anzuneh men, sodass sie nun das Gefühl hat, er profitiere von ihr und ihren Ideen, dass sie also Opfer für zwei Menschen bringe. Und obwohl sie darauf achtet, dass er auch im Haushalt Pflichten übernimmt, fühlt sie sich gedrängt, doch immer mehr zu machen als er. Die Gruppe arbeitet dazu aus, dass ihr das Abgeben ihrer häuslichen Pflichten schwerfallen müsste, wenn sie keine andere Möglichkeit gefunden hat, sie noch gar nicht weiß, wie sie den dann leeren Raum füllen sollte. Eine andere Patientin erzählt, dass sie ihre Freiräume auch nicht nutzen kann; wenn sie einmal zu Hause ist, putze sie »die ganze Bude wie eine Verrückte, genau wie meine Mut ter«, und kann auch nicht das machen, was sie eigentlich gern machen möchte. Was also wie ein altruistisches Opfer aussieht, entpuppt sich als Identitätsersatz mit selbstdestruktivem Charakter, für das die Mutter die Verantwortung hat, nicht aber das Kind »schuld« ist.
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Eine ähnliche Alternative: Ein Leben für die Mutter oder das Kind ist auch in dem Beispiel deutlich, das Anzieu (1985, S. 157) schildert: Eine Patientin, die ein schweres Asthma hatte, wird schwanger und erleidet einen Rückfall während einer Reise. »Zu der Angst, keine Luft zu bekommen, kam die Angst hinzu, eine Entscheidung zu treffen: Ihr wurde von den Medikamenten, die sie üblicherweise in diesem Fall einnahm, abgeraten, da sie für die Gesundheit, ja sogar für das Leben des Babys ein Risiko darstellten; nahm sie sie jedoch nicht, war ihr eigenes Leben bedroht: Sie würde ersticken.« Die Patientin ruft den Analytiker an. »Dann deutete ich die Situation des Dilemmas: ›Entweder die Mutter oder das Kind, entweder sie überlebt und der andere stirbt, oder der andere lebt und sie ist diejenige, die stirbt‹ und stellte die Verbindung zu der Beziehung her, die sie als Kind zu ihrer Mutter gehabt hatte: ›Wenn ich lebe, bewirke ich den Tod meiner Mutter.‹ Pandora (die Patientin) berichtigt: ›Es war umgekehrt. Jahrelang habe ich den Wunsch gehabt, an der Stelle meiner Mutter zu stehen, die ständig davon sprach, zu sterben. Ich dachte, wenn jemand sterben muß, dann will ich es sein, und daß ich zu sterben hatte, damit sie leben konnte.‹ Nicht zu atmen [das Asthma] bedeutete also, ihrer Mutter die Luft zu lassen.«
Man sieht, worum es geht: Zwei bedürftige Menschen, Mutter und Kind, versuchen sich gegenseitig zu nähren oder sich das wenige, was da ist, zu nehmen, sie opfern sich oder berauben den anderen: Beide jedenfalls haben Schuldgefühle wegen ihrer vitalen Bedürfnisse.
Geschwisterrivalität Mit der Geschwisterrivalität scheint es wie mit dem Geschwister-Inzest zu sein: Sie ist zwar am häufigsten, wird aber am wenigsten beachtet. Denn es muss schon eine Komplikation vorliegen, damit sie schwerere Beeinträchtigung oder pathologische Veränderung hervorruft. Solche Komplikationen sind besonders Krankheit oder Behinderungen eines Geschwisters, die zu einem Schuldgefühl führen, einen Schwächeren übervorteilen zu wollen (und ihn damit krank oder kränker gemacht zu haben, wenn Wunsch und Ursache unbewusst gleichgesetzt werden). Zwillinge werden wohl immer in Gefahr sein, eine besonders starke Ambivalenz auszubilden, denn einerseits müssen sie sich die zur Ver fügung stehende elterliche Liebe von Anfang an teilen (um Modells [1971] Bild der Vorstellung eines bestimmten Betrages an Liebe zu verwenden, um den rivalisiert wird), andererseits sind sie oft emotional besonders aneinander gebunden, »ein Herz und eine Seele«. Eine Patientin aus meiner Praxis, Henrike S., die ihrer Mutter bei der Geburt die Niere »zerdrückt« hatte, litt unter einer schweren bulimischen Symptomatik, die aus einer ein Jahr dauernden Anorexie mit starker Gewichtsabnahme hervorgegan
198 Schuldgefühl gen war. Sie habe angefangen zu erbrechen, als ihr späterer Mann und ihre Familie Druck auf sie ausübten, sie solle essen, »um die Familie glücklich zu machen«. Sie habe eine genau um ein Jahr ältere Schwester, die unerwünscht gewesen war, weil die Eltern aufgrund der Schwangerschaft »heiraten mussten«, obwohl eigentlich zuwenig Geld zur Verfügung stand. Die Patientin dagegen war erwünscht, so hieß es, obwohl sie so kurz nach der Schwester geboren wurde. Die ältere Schwester erkrankte im Alter von drei Jahren an Kinderlähmung und musste ein halbes Jahr in einer Klinik behandelt werden. Sie galt fortan als zurückgeblieben; sie wurde nicht rechtzeitig, sondern mit der Patientin zusammen eingeschult, schon die Eignungs tests hatte die Patientin besser bestanden. Von der ersten bis zur zehnten Klasse war sie immer mit der Schwester in einer Klasse, die Schwester hatte wenig Kontakt, die Patientin war aufgeschlossen, die Schwester erbrachte meistens schlechte Lei stungen, die Patientin immer gute. Die Mutter ging wieder arbeiten, als die Patien tin sieben Jahre alt war, diese hat dann für das Mittagessen gesorgt, die »eigentliche Hausarbeit ging immer schnell, aber ich habe lange mit der Schwester gesessen, weil sie bei den Hausaufgaben so schwer von Begriff war«. Damit die Schwestern zusammenbleiben konnten, gingen beide auf die Hauptschule, obwohl die Patientin hier nicht ausreichend gefordert wurde. Später hat die Schwester durch sadistisches Verhalten eine Art Rache dafür ausgeübt, dass die Patientin immer die Überlegene war. Sie hat beispielsweise das Schutzgitter des Hochbettes heimlich weggenommen, sodass die Patientin nachts herunterfiel, wofür sie obendrein von der Mutter geschlagen wurde; hat sie zur gegenseitigen Masturbation gezwungen, hat die Patientin zur Verzweif lung getrieben durch die Behauptung, sie (die Patientin) wäre im Krankenhaus vertauscht worden … – Die Träume der Patientin, die anfangs nicht in der Lage war, irgendeine aggressive Regung zu äußern, handelten sehr häufig von Kranken hausaufenthalten der Mutter und der Chefin und auch der Patientin selbst wegen hoffnungsloser todbringender Krankheiten oder schwerstem psychischen Verfall. Auch wegen ihrer Träume hatte die Patientin Schuldgefühle, und es war, als ob diese furchtbare Realität würden, als die Schwester in einem Streit mit dem Ehe mann derartig verletzt wurde, dass sie wegen eines Schädel-Hirn-Traumas starb. Die Patientin machte sich heftige Vorwürfe, da sie damals die Schwester und ihren Mann miteinander bekannt gemacht hatte …
Die Dynamik ist bestimmt von einem Schuldgefühl, die Schwester über troffen zu haben. Die Rivalität der Patientin hat durch die frühe Krank heit der Schwester eine so übermächtige Dimension bekommen, dass die massiven Schuldgefühle nur durch eine Art Aufopferung, die die Eltern in die Wege leiteten, zu kompensieren waren. Die Identifikation mit der Mutterrolle für die älteste Schwester sollte das Schuldgefühl beruhigen, denn sie konnte denken, dass es legitim sei, die Schwester überholt zu haben und ihr überlegen zu sein, da sie ihre Kenntnisse und ihr Wissen mit ihr teilte. Die Schwester teilte diese Auffassung aber nicht, sondern agierte die Rivalität mit ihren Waffen, den sadistischen Quälereien. Das übermäßige Schuldgefühl hinderte die Patientin, sich zu wehren, darüber hinaus sich in der Adoleszenz von der Familie abzu grenzen. Sie passte sich vielmehr an den Wunsch der Familie an, nicht allzuviel mit ihren Schwierigkeiten konfrontiert zu werden, und wählte das bulimische Symptom, um heimlich zu rebellieren.
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Überlebendenschuldgefühl »Wünscht mir nicht Glück zu diesem Glück daß ich lebe Was ist Leben nach so viel Tod? Warum trägt es die Schuld der Unschuld? die Gegenschuld die wiegt so schwer wie die Schuld der Töter wie ihre Blutschuld die entschuldigte abgewälzte Wie oft muß ich sterben dafür daß ich dort nicht gestorben bin?« Erich Fried 1981; zit. bei Baumann u. Kuschel 1990, S. 31
Der Begriff sollte meines Erachtens für die Schuldgefühlentwicklung tatsächlich Überlebender, nicht aber für die, die im Vergleich zu ande ren leben wollen und sie vielleicht überrunden und meinen, ihnen etwas genommen zu haben. Der Name Niederland (1961; 1966; 1981) ist mit dem Begriff des Überlebendenschuldgefühls (»survivor guilt«) untrennbar verbunden, das er als Grundlage für das Überle benden-Syndrom ansieht, eine Krankheitseinheit, die geprägt ist von Apathie, Depression, Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen sowie viel facher Somatisierung. Depersonalisationsgefühle (»eine andere Per son …; keine Person mehr …« [Niederland 1981, S. 417]), para noid gefärbte Ängste und geringe psychische Belastbarkeit gehören zum Überlebenden-Syndrom. Es ist die Folge eines Zusammentreffens einerseits des Überlebens des unaussprechlichen Terrors selbst und andererseits des Weiterlebens angesichts des Todes so vieler gelieb ter Angehöriger. Niederland (1981) wehrt sich vehement gegen eine Vorstellung, die eine Präexistenz von Aggression und Todeswünschen gegen die verlorenen Angehörigen, die überlebt wurden, voraussetzen, damit eine pathologische Entwicklung einsetzen könne, denn der Ver lust unter diesen die Identität zerstörenden Umständen allein bewirke das Schuldgefühl. Niederland (1966, S. 468; Hervorhebung original) schreibt,
200 Schuldgefühl »daß die Gedanken- und die Gefühlswelt zahlreicher Verfolgter seit der Befrei ung schuldbesetzt geblieben ist, da die Tatsache des Überlebens bei gleichzeitig totalem oder nahezu totalem Familienverlust vielfach genügt, den Schatten unaus löschlicher persönlicher Schuld auf alle weitere Existenz des Überlebenden zu werfen – worin vielleicht die bitterste Ironie des verfolgten Schicksals und dessen ganze Tragik enthalten ist, daß nämlich nicht die Täter, sondern die O p f e r der unmenschlichen Verbrechen sich fortan schuldig und gebrandmarkt fühlen.«
Meines Erachtens ist diese Formulierung ein Beispiel für die trauma tische Internalisierung (Implantation, Introjektion, Identifikation), wie sie von Ferenczi (1933) zuerst konzipiert wurde. Das traumatische Introjekt lässt das überlebende Opfer sich oft bewusst schuldig füh len, obwohl die Begründung rationaler Überprüfung nicht standhalten kann. Ein Beispiel: »Die damals 24jährige Frau wurde dann zusammen mit ihrem jüngeren Bruder, 15 Jahre alt, an dem sie nach dem Verfolgungstod der Eltern im Ghetto die Mutter stelle zu vertreten übernommen hatte, in das genannte Lager eingeliefert, wo sie in der Schneiderwerkstatt arbeitete und sich dadurch am Leben erhalten konnte. Der halbwüchsige Bruder wurde bald zusehends elender und erkrankte mit mäßigem Fieber. Sie fühlte sich für ihn verantwortlich und bestand darauf, daß er am Mor gen das Krankenrevier des KZ aufsuchen sollte. Dort wurde er scheinbar prompt als arbeitsuntauglich befunden und … noch am gleichen Tage getötet. Jedenfalls sah sie seine Leiche zusammen mit vielen anderen Toten auf dem Hauptplatz des Lagers aufgestapelt und mußte zusehen, wie die zusammengeschrumpfte Masse des toten Bruders vor ihren Augen im Schutt verkohlte. In dem genannten KZ gab es damals noch keine Gaskammern, die aufgeschichteten Leichen wurden in Anwe senheit der lebenden Mithäftlinge verbrannt, und es war ihnen keine Schmerz äußerung, keine Träne im Angesicht des grausigen Geschehens erlaubt. So hat die Patientin stumm und tränenlos das Ende des jungen Bruders über sich ergehen lassen müssen. Heute klagt sie sich an, daß sie dessen Tod verschuldet habe; sie habe ihn ins Krankenrevier geschickt, sie hätte wissen sollen, daß er von dort nicht wieder lebend zurückkommen würde. So schreit sie während der psychia trischen Exploration: ›Es ist meine Schuld, ich tötete ihn, er war so jung, erst 15 Jahre alt …‹ Gewöhnlich aber brütet sie nur stumm vor sich hin, sitzt stundenlang regungslos am Fenster oder am Küchenherd und verbrennt sich unbemerkt an der Heizung bzw. am Herd die Hände, Arme und Füße« (Niederland 1966, S. 469; Hervorhebung original).
Die Überlebenden klagen sich an für ihr »Versagen«, die Familie nicht gerettet zu haben, obwohl absolut keine Möglichkeit auch nur der geringsten Beeinflussung gegeben war. Oder sie beschuldigen sich, die Mutter verlassen zu haben, obwohl beide, Mutter und Tochter, gleicher maßen ohnmächtige Opfer der Selektion gewesen waren (Beispiel bei Niederland 1981, S. 420). Auf die Spitze getrieben hat den Konflikt, überleben zu müssen und andererseits den Schicksalsgenossen scho nen zu wollen, die Perfidie derjenigen SS-Schergen, die sich makabre Wettkämpfe zwischen dem gefangenen jüdischen Boxsportler Salamo Arouch und anderen Gefangenen ausdachten: Wer gewann, bekam
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ein Brot, wer verlor, kam in die Gaskammer! (»Triumph des Geistes«, Film von R. M. Young, 1989). Obwohl es in völliger Ohnmacht keinerlei Entscheidungsmöglich keit gab, wurde das, was getan wurde (der Boxer musste kämpfen, die Schwester des Ermordeten schickte den Bruder ins Krankenrevier) als Begründung für das Schuldgefühl verwendet. Das Schuldgefühl ver stärkt sich, wenn etwas gewünscht oder tatsächlich getan wurde, was dem Überlebenden real einen Vorteil verschafft hätte oder verschafft hat. Der 15jährige Elie Wiesel (1960, S. 142) hat im KZ wegen eines Fliegeralarms seinen Vater stehengelassen; als er wieder zu sich kommt, denkt er an seinen Vor teil: »›Wenn ich ihn nicht finde! Wenn ich dieses tote Gewicht los würde, damit ich mit allen Kräften für mein eigenes Überleben kämpfen könnte und mich nur noch um mich zu kümmern brauchte!‹ Und schon empfand ich Scham, Scham für das Leben, Scham um meinetwillen.« Der Vater ist schwer krank und wird sterben: »›Zu spät, deinen alten Vater zu retten‹, sagte ich mir. ›Statt dessen könntest du zwei Rationen Brot, zwei Teller Suppe haben …‹ Ich dachte es nur den Bruchteil einer Sekunde, und doch fühlte ich mich schuldig« (S. 148).
Modell (1971, S. 341) schildert das Beispiel eines Mannes, der als Jugendlicher das KZ überlebt und eine schwere Depression sowie schwere hypochondrische Symptome entwickelt hatte.
Er war im KZ nicht an der Seite des Vaters geblieben, darauf führte er zurück, daß der Lebenswille des Vaters abnahm, was wiederum dazu beitrug, daß er starb. Diese Vorstellungen waren, wie der Patient selbst wußte, irreal, abgesehen davon, daß er keinerlei Entscheidungsfreiheit gehabt hatte. Aber Realität war, daß er es mehrfach schaffte, sich beim »Appell«, bei dem täglich eine bestimmte Anzahl Gefangener selektiert wurde, zu verbergen: Da immer eine bestimmte Zahl von Gefangenen ausgewählt wurde, mußte jemand anders in den Tod gehen, wenn er nicht ausgewählt wurde. Die hypochondrischen Beschwerden traten auf, als er die »Früchte seines Fleißes«, seines beruflichen Erfolgs, hätte ernten können, die für ihn das Überleben-Wollen symbolisierten.
Auch hier wieder ist es nicht tatsächliche Schuld, vielmehr sucht sich das Opfer einen Grund für das von innen andrängende Schuldgefühl. Ein Motiv dafür ist sicher, eine Einheit des Selbstgefühls zu bewah ren, eine Integration zu versuchen, wenn das Erleben der Spaltung von Selbstanteilen zu stark werden könnte. Ruth Klüger (1992, S. 183) gibt ein Beispiel für die unverbundene Spaltung zwischen Schuldigund Nicht-schuldig-Fühlen:
»Die Schuldgefühle der Überlebenden sind ja nicht etwa so, daß wir uns einbilden, wir hätten kein Recht aufs Leben …. Ich hatte ja nichts angestellt, wofür sollte ich büßen? Ein ›Schulden‹gefühl sollte man sagen können. Man bleibt verpflichtet auf eigentümliche Weise, man weiß nicht wem und weiß nicht wie. Man ist gleichzei tig Schuldner und Gläubiger und begeht Ersatzhandlungen im Geben und Fordern, die sinnlos sind im Lichte der Vernunft.«
202 Schuldgefühl
Die Entwicklung des Schuldgefühls könnte also auch konstruktive Anteile haben, so zerstörerisch es auch ist. Winnicott (1958) wurde bereits angeführt, der die Fähigkeit zur Entwicklung von Schuldgefühl immer auch als Zeichen einer gewissen Reife sah (depressive versus paranoid-schizoide Position). Györi (1969, S. 529) sagt im selben Sinne: »Unrealistische Schuldgefühle, die fast allen Überlebenden der Verfolgung gemeinsam sind, haben nicht nur einen regressiven pathologischen Charakter, son dern können auch etwas Positives beinhalten. Gegen die vernichtende Erkenntnis des völligen Fehlens von Gerechtigkeit und moralischer Ordnung sowie gegen das Gefühl äußerster Hilflosigkeit können Schuldgefühle eine Bejahung der Fähigkeit des Menschen bedeuten, Einfluß auf sein eigenes Leben und auf den Lauf der Ereignisse auszuüben. Wer an seine eigene Schuld und Verantwortlichkeit glaubt, bejaht seine aktive Teilnahme am Leben, erfüllt es mit einem Zweck und weist so die geistige Vernichtung ab.«
Eine weitere positive Sicht des Überlebendenschuldgefühls vertritt Hillel Klein (1973), wie ihn Judith und Milton Kestenberg (1982, S. 53 f.) würdigen: »Klein lenkte die Aufmerksamkeit auf die fatale Tendenz, ›Überlebensschuld‹ im pathologischen Sinn zu benutzen und ihm somit eine deutlich pejorative Bedeutung beizumessen, die auf etwas Ungesundes verweist. Demgegenüber vertrat Klein die Ansicht, dass es auch eine gesunde Überlebensschud gebe, die den Überlebenden und seine Nachkommen mit der Vergangenheit, mit jenen, die gestorben sind, verbindet […]. Die Überzeugung, den Toten etwas schuldig zu sein, ist nicht zwangsläufig pathologisch und lebenshinderlich.« Man kann für den Fall der Extremtraumatisierung auch sagen, dass die Schuldgefühlsentwicklung ein Versuch ist, das Unbegreifliche, ebenso Unvorhersagbare, Unbegründbare (das Kausalitätsprinzip wurde von den KZ-Schergen außer Kraft gesetzt; Niederland 1961) in einen begreifbaren Zusammenhang zu stellen, denn wenn jemand schuld ist, hätte es vielleicht auch in seiner Macht gestanden, Schuld zu vermeiden und sich anders zu verhalten, etwas zu bewirken oder zu verhin dern durch eine Schuldzuweisung an sich selbst (vgl. Teil I, S. 58 ff.). Darüber hinaus kann man im Überlebenden-Schuldgefühl den Versuch sehen, sich als wenigstens Handelnder eine Würde zu erhalten, die ihm als ohnmächtiges, entmenschlichtes Opfer genommen wäre. Das Überlebendenschuldgefühl ist mehrfach determiniert. Einmal lässt es sich auf ein menschliches Grundrecht, leben zu wollen (Vitali tät), auf einen Selbsterhaltungstrieb also, zurückführen, der in Konflikt gerät mit dem notwendigen Wunsch, sich das Liebesobjekt zu erhal ten. Eine andere Wurzel könnte auf einer noch elementareren Ebene nach dem Prinzip der Internalisierung von schwerer Gewalt (Ferenczi 1933) vor sich gehen. Die Implantation der extremen Gewalt
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bewirkt eine primäre verschmelzende Identifikation mit dem Introjekt, der Aggressor ist »intrapsychisch statt extra«(-psychisch) (Ferenczi 1933, S. 308), dieses Introjekt ist für die Ausbildung massiver Schuld gefühle verantwortlich, die das Selbst sozusagen von innen verfolgen und nachträglich zerstören. Das Introjekt wirkt wie der Mörder damals, macht das Selbst »lebensunwert« und schuldig. Eine Patientin Niederlands (1961, S. 17), von Schuldgefühl und Verfolgungsideen gejagt, verlangte geradezu, getötet und zu Tode gebissen zu werden (vgl. Teil II, S. 85). In dieser elementaren Identifikation mit dem Aggressor kann meines Erachtens auch ein kaum denkbarer Anteil verborgen sein, dass der Überlebende sich besser wähnt als das zu Tode gebrachte Opfer, da der Aggressor ihn verschonte. Dieser Faktor könnte das sonst kaum nachvollziehbare Ausmaß der Schuldgefühle erklären. Wieweit die Identifikationsvorgänge gehen können, hat Bettelheim (1943) schon früh mitgeteilt; die Imitation der Grausamkeiten durch die Kapos, ihrer Körperhaltungen, das Sammeln ihrer Attribute wie zum Beispiel Uniformteile, war sehr häufig. Eine weitere Diskussion des Überlebendenschuldgefühls wird in Teil III (S. 287) geführt, da wegen der tragischen Identifikation eine Überschneidung von Schuldgefühl und Schuld ent stehen kann. Meines Erachtens ist die globale oder primäre Identifikation auch für die tiefe Scham verantwortlich, eine Überlebens-Scham, von der Niederland (1981, S. 420) spricht. Wenn Ornstein (1986, S. 185; Übersetzung M. H.) das Schuldgefühl der Überlebenden eher auf »die Schwierigkeit der Überlebenden, während des Holocaust ihr Verhal ten und moralische Führung mit ihrem Verhalten unter zivilisierten Umständen zu vereinbaren«, als auf die Tatsache, die Toten überlebt zu haben, bezieht, meine ich, dass der Begriff der Scham hier angemesse ner wäre, da er sich auf das Sein, wie es ein Ideal-Ich fordert, bezieht und nicht auf ein Tun. Auch Amati (1990, S. 737) vermutet aufgrund der in der Gegenübertragung bei der Therapie von Extremtraumatisierten auftretenden Scham, »daß sich zu seinem guten Teil der Scham zurechnen läßt, was man gemeinhin das Schuldgefühl der Überlebenden nennt … Wenn sich das vom Analytiker empfun dene Schamgefühl als ein Gegenübertragungsphänomen deuten läßt, so weist es auf das intensive Spaltungs- und Schamgefühl hin, das der Patient in bezug auf die ihn ›in Besitz nehmende‹ traumatische Erfahrung einerseits und die aktuelle Reali tät andererseits erlebt, wobei er sich hin und hergerissen fühlt zwischen dem, was er von sich selbst im Augenblick des Erlebens noch wahrnehmen konnte, und dem, was er vorher als Vorstellung von sich selbst besaß.«
Elie Wiesel (1960, S. 303) sagt: »So ist die Welt: Die Scham plagt nicht die Henker, sondern die Opfer.«
204 Schuldgefühl
Die Abwehr der unerträglichen Realisierung der globalen Identifi kation mit der unaussprechlichen Aggression verstärkt das Schuldge fühl durch die Erhöhung der Spannung zwischen den Selbstanteilen. Auch eine Identifikation mit den Ermordeten mildert das Schuldgefühl: Nicht leben können wie diese, tote Lebende zu sein. Deshalb auch der Wunsch, bei ihnen zu sein: »Der Holocaust-Überlebende identifiziert sich selbst mit dem geliebten Toten, indem er fühlt, daß er mit ihm im Tod verbunden sein sollte« (Niederland 1981, S. 421). Der Überle bende empfindet eine Solidarität mit den Toten, er hat das Gefühl, sie durch sein Überleben verraten zu haben.
Totes Geschwister II – Verlust eines Geschwisters Hier soll es um den Verlust eines Geschwisters gehen, das überlebt wurde und zu dem schon eine Beziehung bestanden hatte. Vieles ist schon in Teil II (S. 156 f.) über den Tod eines Geschwisters, das das überlebende gar nicht kennenlernen konnte, gesagt worden. Ein Geschwister aber, welches man über Jahre real erlebt hat und zu dem man eine Beziehung gestalten konnte, kann man im allgemeinen besser betrauern, als eines, dessen »Geist« man kaum merklich implantiert bekommen hat. Entscheidend wichtig für die Möglichkeit zu trauern und damit für die Vermeidung von permanenten Schuldgefühlen ist wieder die Reaktion der Umgebung – denn wie soll ein Kind trauern, wenn die Erwachsenen es nicht können? Es würde in gewisser Weise obendrein auch diese verlieren, also passt es sich an die Reaktion der Eltern an. Stolorow und Stolorow (1989) haben ein extremes Beispiel der Verleugnung des Todes eines Geschwisters geschildert; weil das über lebende Kind ein direkter Ersatz für das verstorbene sein sollte, durfte es den Tod in keiner Weise realisieren. Die Idealisierung des toten Geschwisters durch die Eltern verhindert sowohl ihre Trauerarbeit (bzw. ist eine Abwehr ihres Schmerzes) als auch die des Kindes (vgl. Pollock 1978). Die Qualität der vorher bestehenden Beziehung ist hier von größe rer Relevanz als bei Verlusten durch extreme terroristische Gewalt, angesichts derer die vorher bestehende Beziehung, verbunden mit Aggression oder Ambivalenz dem verlorenen Liebesobjekt gegen über, weniger ins Gewicht fällt (s. o.). Ich denke, dass das Ausmaß des Schuldgefühls im Falle des Verlusts eines Geschwisters nicht zuletzt auch davon abhängig ist, wie groß vorher Aggression, Neid, Eifersucht und Todeswünsche Teil der Beziehung waren.
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Hier wird auch ein Mechanismus relevant, der sich auf Melanie Klein (1940) zurückführen lässt. Es handelt sich um ein Triumph gefühl, das Melanie Klein innerhalb der Trauer um ein verlorenes Liebesobjekt postuliert, ein Symptom der manischen Position. Das Gefühl, über das verlorene Objekt triumphiert zu haben, macht Schuld gefühle, und diese verhindern, dass es in einer Wiedergutmachung als gutes inneres Objekt aufgerichtet wird, wodurch die Schuldgefühle abnehmen würden. »Die größte Gefahr für den Trauernden besteht darin, daß sich sein Haß gegen die verlorene geliebte Person wendet. Eine der Formen, in der sich der Haß in der Trauersituation darstellt, ist das Gefühl des Triumphes über die verstorbene Person … Infantile Todeswünsche gegen Eltern, Brüder und Schwestern werden als tatsächlich erfüllt empfunden … So wird der Tod, wie sehr er auch aus ande ren Gründen erschütternd sein mag, zu einem gewissen Grad ein Sieg und bringt deshalb Triumph- und gleichzeitig Schuldgefühle mit sich« (Klein 1940, S. 109).
Triumphgefühl bewirkt starkes Schuldgefühl, das wiederum die Trauer arbeit, die die Schuldgefühle verringern würde, behindert (Grinberg 1992, S. 272). Die Beziehungen der Eltern jeweils zum verlorenen und zum überle benden Kind werden für das Trauer- und damit Schuldgefühlsschicksal eine große Rolle spielen. War das tote Kind das bevorzugte, werden frühere Aggressionen und Neid, Eifersucht und entsprechende Todes wünsche das Schuldgefühl verstärken. War schon immer das über lebende Kind das »auserwählte«, wird der Tod des benachteiligten Geschwisters Anlass für Schuldgefühle eben wegen der Bevorzugung sein. Die über die mit einem normalen Trauerprozess verbundenen Schuldgefühle hinausgehenden müssen durch Verdrängung, Verleug nung, Identifikation und durch Symptome wie Depression und Somatisierung abgewehrt werden. Engel (1975) hat ein eindrucksvolles Bei spiel seiner eigenen Reaktionen auf den Tod seines Zwillingsbruders im Erwachsenenalter gegeben. Der plötzliche Herztod des Zwillings führte zu einer Jahrestagsreaktion: Fast genau ein Jahr später kam es zu einem Herzinfarkt des Überlebenden (des Autors), der mit großer Erleichterung erlebt wurde, verminderte er doch Schuldgefühl und ver band in gewisser Weise die beiden Zwillinge wieder. Zwei Beispiele aus meiner Praxis sollen das Ungeschehen-Machen des Todes eines Geschwisters in der Psychose bzw. im Traum illu strieren: Birgit L. hat nach langem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wieder zu arbeiten begonnen. Die von ihr betreuten Kinder sind etwa in dem Alter, in dem
206 Schuldgefühl ihre vor Jahren verstorbene Schwester jetzt wäre. Die Kinder mögen sie, sie haben sich sehr gefreut, dass sie wieder da ist. Dabei ist sie so traurig geworden, sie hat sich »vor die Entscheidung gestellt, zu leben oder zu sterben«. Ich sage etwas über das Überlebendenschuldgefühl. Frau L.: »Ja, in der Psychose habe ich gedacht, meine Schwester lebte und sei mit den anderen Kindern in der Schule eingeschlos sen. Ich wollte sie befreien, wollte sie da rausholen und retten, ich bin wirklich spätabends zur Schule gegangen, habe aber die Tür nicht aufschließen können. Dann kam ich nicht vom Schulhof runter auf die Straße, weil ich dachte, jemand hätte die Tür hinter mir abgeschlossen, dabei war sie nur angelehnt …« Frau L. möchte also entweder die Schwester wieder zum Leben erwecken, »da rausholen«; wenn sie damit scheitert, vereinigt sie sich mit der Schwester, indem sie sich durch die Fehlleistung (mit ihr) einschließt. Henrike S., die wir schon kennengelernt haben (Teil II, S. 197 f.), träumt nach dem gewaltsamen Tod ihrer Schwester: Sie hat Leukämie, liegt mit der Schwester zusammen in der Klinik. Zwischen den Chemotherapien gehen sie gemeinsam aus, gehen in die Stadt, ins Kino, fahren mit dem Aufzug in den zwölften Stock und wieder hinunter. Wie früher, als alles gemeinsam gemacht wurde, wie die Schwester es bestimmt hatte, ob die Patientin wollte oder nicht. Real ist ihre Chefin seit zwei Wochen mit Brustkrebs in der Klinik und hat vor gestern mit einer Chemotherapie angefangen. Mit dieser Chefin hatte sie zuletzt heftige Auseinandersetzungen. Sie war so wütend auf sie, aber das, die tödliche Krankheit, wollte sie nun doch nicht. – Ich sage: Im Traum hat sie die Schwester wieder lebendig gemacht, sich selbst aber todkrank, die Schwester und sie selbst sind auch in der genau gleichen Krankheit wieder vereinigt. Als ob sie durch ihre Krankheit der Schwester ein Opfer gebracht und ihre Aggression (dargestellt in der Verdichtung der Schwester mit der Chefin) gegen sie gesühnt hätte.
Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl
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Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl »Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr …« Kinderlied »Und wenn dir einst von Sohnes pflicht, mein Sohn, dein alter Vater spricht, gehorch’ ihm nicht, gehorch’ ihm nicht!« Dehmel »Aljoscha muß nicht nur lernen, seine Mutter zu verlassen, son dern, mehr als das, sie ohne einen Bodensatz von Schuldgefühl zu verlassen, das eine wandernde Seele reuevoll an Muttersymbolen haften läßt: Als habe der Schei dende, als er sich losriß, die Mutter zerstört.« Erikson 1950, S. 361
In der Entwicklung der Psychoanalyse trat die Bedeutung des Ödipuskomplexes zurück, die Ich-Psychologie und die psychoanalytischen Entwicklungstheorien mit ihrem Zentrum der Separation und Indivi duation gewannen an Bedeutung. Jetzt konnte gedacht werden, dass Schuldgefühl nicht mehr nur auf aggressiven oder sexuellen Trieb äußerungen beruhte, sondern auch durch Ich-Bestrebungen verursacht werden konnte. Eine erste Formulierung eines Schuldgefühls aufgrund von Autonomiebestrebung gelang Modell (1965), der es als Ausdruck eines Versagens der Selbst-Objekt-Differenzierung verstand. Dem Trennungsschuldgefühl liegt die Annahme zugrunde, kein Recht auf ein eigenes, selbstbestimmtes (getrenntes) Leben zu haben, da Tren nung die Schädigung oder Zerstörung der »Mutter« bedeute. Heute wird man auch die Objekterfahrungen berücksichtigen, die zu Autono mie verbietenden Über-Ich-Introjekten führen.
208 Schuldgefühl
Trennungsschuldgefühl Der Kern des Trennungsschuldgefühls liegt in der (unbewussten) Überzeugung (Weiss 1986a, 1986b: »pathologic belief«), dass die Loslösung von den Liebesobjekten zerstörerisch und deshalb mit Schuld verknüpft ist. Man kann sagen, dass das mit der Lösung verbundene Schuldgefühl das zentrale Thema der Schöpfungsgeschichte anklingen lässt – wir erinnern uns, die Schuld in den Mythen entspricht dem Schuldgefühl des Individuums –, denn dort liegt ein Trennungsbestreben vonseiten der ersten Menschen bereits in dem Wissen-Wollen. Da das aber verboten ist, folgt wie eine befürchtete und nun eintretende Strafe die tatsächliche Trennung durch Vertreibung dann auch auf dem Fuße. Transponiert man den Mythos auf die ontogenetische Entwicklung des Kindes, könnte man annehmen, dass Neugier, also Wissen-Wollen, und Autonomiebestrebung Schuldgefühle hervorrufen, wenn die elterliche Autorität sie nicht genügend fördert, vielmehr dagegen arbeitet – denn jemand muss die Maßstäbe setzen, was erlaubt und was verboten ist. Ein eineinhalbjähriger Junge, den zu beobachten ich Gelegenheit hatte, ging in der Wohnung auf Entdeckungsreise, während die Mutter anwesend, aber beschäftigt war. Er interessierte sich für die nach oben führende Treppe, und offenbar mit Empfindungen von Neugier und Entdeckertrieb, Ängstlichkeit und wohl einem rudimentären Gefühl von Schuld (im Sinne von Frage, ob es wohl erlaubt oder verboten sei) setzte er einen Fuß auf die erste Stufe. Dann aber hielt er inne, drehte den Kopf zurück zur Mutter und nahm Kontakt auf, offenbar um sich die Erlaubnis zu holen, weiter voranzuschreiten.
Es ist klar, dass an diesem Punkt die tatsächliche Reaktion der Mutter – freundlich gewährend oder Grenzen setzend, erklärend, Ersatz für zu gefährliche Aktivitäten anbietend oder ängstlich, aggressiv einschrän kend, auf Ordnung und Sauberkeit bedacht, vielleicht neidisch – einen Einfluss auf die Schuldgefühlsentwicklung haben wird. Rank, der von Zottl (1982, S. 208; Hervorhebung original) referiert wird, beschrieb den Zwiespalt als allgemein menschliches »ethische[s] Problem von Geben und Nehmen, von Schaffen und Geschaffenwerden, von Trennung und Schuld. Das ethische Problem faßt den Weg zur Selb ständigkeit und Individualität als einen Weg der fortgesetzten Trennung auf, bei welchem das Individuum – bis hin zur letzten Trennung im Tode – immer wieder bestimmte Entwicklungsphasen des eigenen Ich verlassen und aufgeben muß … Selbstverständlich will das Individuum ja eigentlich beides: Behalten und tren nen zugleich. Es will auf der einen Seite durchaus die Trennung und Absetzung (Widerspruch) von allem Vergleichbaren, um sich darin eine unvergleichliche Ein zigartigkeit zu erkämpfen. Andrerseits gerät es durch diese Bemühung in einen Willens- und Bewußtseinskonflikt, der sich als Schuldgefühl ausdrückt.«
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Hier ist also von Rank ein Basiskonflikt aufgezeigt, ein AutonomieAbhängigkeits-Konflikt, der eine allgemein menschliche Dimension wiedergibt. Interessanterweise findet man dasselbe Konfliktpoten zial, wenn man sich die fünf »motivational-funktionalen Systeme«, die Lichtenberg (1988, S. 88) aufgrund neuerer Säuglingsforschung aufgestellt hat, ansieht:
»1. 2. 3. 4. 5.
Notwendigkeit, die physiologischen Bedürfnisse zu befriedigen; Bedürfnis nach Bindung und (in späterem Alter) Verbundenheit; Bedürfnis nach Selbstbehauptung (assertion) und Exploration; Bedürfnis, aversiv zu reagieren durch Widerspruch und/oder Rückzug; Bedürfnis nach sinnlichem Vergnügen und sexueller Erregung.«
Es fällt auf, dass alle Qualitäten auf Selbsterhaltung, Wachstum und Autonomie abzielen bis auf die zweite, die das Bedürfnis nach Bindung ausdrückt. Eine Aufgabe wird es also besonders in der Separations-Individuationsphase, besonders auch wieder in der Adoleszenz, aber eigentlich überhaupt in allen Lebensphasen sein, die beiden Bestrebun gen in Einklang zu bringen, und ein (mäßiges) Schuldgefühl wird dabei Regulationsdienste leisten können. Auch Erikson (1950) hatte für die Schwellensituationen der verschiedenen Lebensalter ein Gegensatz paar aufgestellt: »Initiative gegen Schuldgefühl«, sodass auch er als einer der Väter des Trennungsschuldgefühls zu sehen ist. Wir werden auch sehen, dass alle vier Motivationen, die entsprechend der Lichtenbergschen Liste nicht den Bindungswunsch bezeichnen, Anlass zu Trennungsschuldgefühl geben können. Als Kern des Konzepts des Trennungsschuldgefühls kann man die Entdeckung ansehen, die zuerst Modell (1965) formuliert hat, dass auch Ich-Bestrebungen Schuldgefühle machen können, nämlich sol che, die doch in der Regel positiv bewertet werden wie Selbststän digkeit und Erfolg. Modell (1965, S. 324) bemerkt, dass einige Pati enten aufgrund eines unbewussten Schuldgefühls eine grundlegende Annahme (»basic belief«) in sich tragen, »dass sie kein Recht zu einem besseren Leben haben«. Sharpe (1931, S. 81) hat bereits psychische Gesundheit mit dem Recht zu leben in Verbindung gebracht: »Die Menschen, die den größten Seelenfrieden genießen und die durch Arbeit und die Bedingungen des Lebens die größte innere Befriedigung bekommen, sind sol che, die ihre Existenz sich selbst gegenüber gutheißen. Sie haben sich ein Recht zu leben erworben, und ein Recht zu leben bedeutet ein Leben, in dem körperliche und geistige Kräfte verwendet werden können für den Fortschritt des eigenen Ichs und das Gedeihen der Gemeinschaft …« (Übersetzung M. H., zit. bei Modell 1965, S. 324).
Auch Freud hat in seinen letzten Arbeiten Schuldgefühl keineswegs nur in Verbindung mit verbotenen Wünschen nach Triebbefriedigung
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gesehen, vielmehr konnte er zeigen, dass die Abhängigkeit von den Eltern es notwendig macht, die Beziehung zu ihnen und ihr Wohlwol len zu erhalten. Das aber ist, wie Weiss (1986a, S. 48) betont, ein IchWunsch; das Ich hat die Aufgabe, für Sicherheit und Selbsterhaltung zu sorgen (Freud 1940a). Wenn Guntrip (1970, S. 62) schreibt: »Neu rotisch bedingte Schuldgefühle wurzeln in einem Gefühlszustand, den der Psychologe als ›Trennungsangst‹ bezeichnet«, meint er sicher den Zusammenhang von Schuldgefühl und Verlust der Liebe der Eltern, also Trennung von ihnen. In einer ersten Falldarstellung berichtet Modell (1965) von einem Mann, der keine sexuelle Beziehung haben konnte, seine Ausbildung weit unter seinem Niveau erhalten hatte und einen geringen Ausbil dungsabschluss mit einer Panikreaktion und einer hypochondrischen Herzattacke quittierte, die ihn ins Krankenhaus brachte. Als Kleinkind war er jede Nacht von seiner Mutter zur Toilette gebracht worden, wo zuerst er, dann die Mutter urinierte, wobei er sexuell erregt war. Der Junge erlebte eine Art Verschmelzung mit der Mutter (die mit der inze stuösen Erfahrung zusammenhängen dürfte, wie ich ergänzen möchte), »›als ob sie und ich eins wären‹« (Modell 1965, S. 325). In einem zweiten Fall geht es um eine Patientin, die sich nicht gestatten konnte, etwas zu besitzen, die das Gefühl hatte, kein Recht auf ein besseres Leben als das der Mutter zu haben, welches sie als ein Leben wahr nahm, das von Leiden und Erniedrigung bestimmt wurde. »Die Patientin hatte die Vorstellung, daß Mutterliebe eine Art Substanz sei, von der sie sich das Beste genommen hatte, dadurch die Mutter ausgesaugt und die Geschwister ihrer Geburtsrechte beraubt habe. Sie war überzeugt, daß der Besitz irgendeiner Sache bedeutete, daß jemand anders beraubt worden sei« (Modell 1965, S. 326; Übersetzung M. H.).
Eine solche Dynamik entspricht eher einem Schuldgefühl aus Vitali tät, aber auch die Patientin Modells hatte nicht das Gefühl, von der Mutter getrennt zu sein; in beiden Fällen bewegte sich der Vater am Rande der Familie. Modell (1965, S. 342) führt die Unfähigkeit, ein eigenes Leben zu führen, auf »frühe Identifikationen als archaische Elemente des Über-Ich« gemäß A. Reich (1954) zurück. Nicht sadistische Impulse, sondern ein Ausbleiben der Selbst-Objekt-Differenzierung führe zu der Annahme, dass man kein Recht auf eine separate Existenz habe und dass aufgrund des Trennungsschuldgefühls »Trennung unbewußt wahrgenommen [perceived] wird als im Tod des Objekts endend« (Modell 1965, S. 328; Übersetzung M. H.). Den Zusammenhang des Trennungsschuldgefühls mit einer miss lungenen oder arretierten Bildung einer Selbst-Objekt-Differenzierung
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hat Modell (1965; 1971) aufgezeigt, aber er gibt uns keinen Hinweis, wie es denn zu einer derartigen Phantasiebildung, dass die Trennung von der Elternperson diese verletzen oder gar töten könnte, kommt. Es kann in den geschilderten Fällen keineswegs ein irgendwie übersteiger tes egoistisches Bemächtigungs- oder Beraubungsbestreben vonseiten des Kindes gesehen werden, die Wünsche, sich ein eigenes Leben ein zurichten, erscheinen für den Betrachter durchschnittlich und legitim. Ähnlich übrigens geht Loewald (1979) vor, der das Loslösungsdrama auf der ödipalen Ebene abhandelt und den Untergang des Ödipus-Kom plexes, also das Aufgeben der ödipalen Wünsche zugunsten größerer Individualität, als »Elternmord« bezeichnet, der Schuld erzeuge, die zu verantworten ist. Das Ausweichen vor dieser Tat und ihrer Sühne (die im Über-Ich enthalten sei) entspräche dem zunehmenden Dahin schwinden des Ödipus-Komplexes heutzutage; seine Verdrängung sei die Vermeidung des Elternmords. Loewald vermeidet allerdings eine Differenzierung von durchschnittlicher »Schuld« bei diesem ödipalen Loslösungsunternehmen und pathologisch übertriebenem Schuldge fühl. Das aber tut Modell, der sich auf der Separations-Individuations-Ebene des zweiten und dritten Lebensjahres bewegt, allerdings sieht er nur die Seite der Lösungsbestrebungen des Kindes, nicht die der (re-)agierenden Erwachsenen und die ihrer Einstellung zu seiner zunehmenden Autonomie. Das Zustandekommen der pathologisch übertriebenen Schuldge fühle legen nun Weiss (1986a) und seine Mitarbeiter (Weiss u. Sampson 1986; auch Engel u. Ferguson 1990) in die Interaktion zwi schen realen Eltern und Kindern. Die Aufgabe der Eltern wäre, die Entwicklung der Kinder zu fördern und sie ihren jeweiligen Bedürf nissen entsprechend loszulassen, außerdem sich selbst jeweils neu zu defnieren, um nicht ihrerseits abhängig zu sein, was eine Lösung behindern würde (»Individuation« auch der Eltern, wie hinzuzufügen wäre; vgl. die »Entwöhnung der Mutter vom Kind«, Khan 1969, S. 108). Es wird von Weiss (1986a) sehr deutlich gemacht, dass das Trennungsschuldgefühl auf einer Annahme beruht, die das Kind »aufgrund von Erfahrungen bildet, dass es den Elternteil verletzen wird, wenn es von ihm unabhängiger wird« (S. 50; Hervorhebung u. Übersetzung M. H.). Denn Weiss fragt sich, warum Kinder, deren Mütter sichtbar mehr Druck auf sie ausüben und selbst an Depressionen leiden, weit häufiger Trennungsschuldgefühle entwickeln als die Kinder zufriedenerer Müt ter. Gerade im Hinblick auf die Separations-Individuations-Phase muss es eine große Bedeutung haben, wie sehr das Kind durch die Eltern gefördert oder behindert wird. Ich möchte ein Bild dafür entwerfen: Man stelle sich eine junge Mut
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ter und ein vielleicht zweijähriges Kind auf einer Sommerwiese vor. Das Kind hat sich entfernt und rennt wieder freudig auf die Mutter zu, die erwartungsvoll die Arme ausbreitet. Kurz vor Erreichen der Mutter aber biegt das Kind plötzlich ab und entfernt sich erneut, voller Freude und geradezu körperlicher Lust, zu einer solchen Entscheidung, einem eigenmächtigen Nein, zu derartiger Selbstständigkeit in der Lage zu sein. Nun werden sich Charakter und wohl der ganze Lebenslauf des Kindes völlig verschieden entwickeln, je nachdem, ob die Eltern Men schen sind, die die Autonomiebedürfnisse des Kindes anerkennen, oder sogar selbst mit Stolz quittieren, oder ob sie gekränkt sind, sich betro gen und beraubt fühlen. Auf der sommerlichen Wiese wird sich das am Verhalten der Mutter zeigen; entweder lacht sie und freut sich mit dem Kind über die neu gewonnenen Fähigkeiten, und die Situation entbehrt ja auch nicht einer gewissen Komik, oder ihr Gesicht verfällt vor Kränkung, vor Verletzung und Schmerz, sie lässt die Arme sinken und wendet den Blick. Im weiteren wird sie dann Wiederannäherung nur zögernd oder überhaupt nicht zulassen, um das Kind die Kränkung spüren zu lassen, gerade wenn es jetzt den Kontakt wieder braucht. Informationen über das reale Verhalten der Bezugspersonen fin den sich bei Asch (1976). In einem seiner Fälle wurde das einzige Kind, ein Junge, alleinverantwortlich für das Wohlergehen der Mut ter gemacht, »ihr emotionales Wohlbefinden war weitgehend abhän gig von den Selbstaufopferungen (self-sacrifices), die er für sie (die Mutter) machte. Der Vater war für die Familie nebensächlich (indiffe rent)« (Asch 1976, S. 389). Die Mutter warf dem Jungen vor, er würde nicht an sie glauben. Darüber hinaus sei er schuld, dass sie keine wei teren Kinder bekommen habe, »weil seine Geburt sie fast umgebracht« (S. 389) habe. Hier kann man deutlich sehen, dass ein ursprüngliches Basisschuldgefühl, auch mit einer Rollenumkehrdynamik verbunden, eine Trennung erschwert; wer grundlegend schlecht ist, hat kein Recht auf ein eigenes, getrenntes Leben, müsste vorher seine »Schuld« abtragen, was zu erreichen aber unmöglich ist. Die Mutter eines anderen Patienten, über den Asch berichtet, hatte sich tatsächlich umgebracht, und der Patient beschuldigte sich, für die Mutter keinen besseren Psychiater gefunden zu haben. (Natürlich konnte er selbst keine Fortschritte machen, denn das wäre der Beweis gewesen, dass er einen besseren Arzt hatte als die Mutter.) Phantasien, ungeborene Geschwister getötet, die Mutter bei der Geburt beschä digt zu haben, für ihre Penislosigkeit verantwortlich zu sein und die sen Schaden nicht repariert zu haben, sind Asch (1976, S. 391 f.) zufolge durchaus häufig; aber Mütter, die selbst die Separation von ihren Müttern nicht bewältigt hätten, würden Schwierigkeiten haben,
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die Lösungsbestrebungen ihrer »neuen Symbiosepartner«, ihrer eige nen Kinder also, zu tolerieren. Verführerisches Verhalten suggeriere, die Kinder seien auserwählte (pseudo-ödipal, d. h. die Mutter zieht den Jungen vor und schaltet den Vater aus; vgl. Hirsch 1988; 2016), dadurch entstünden enttäuschte Erwartungen, die große Wut erzeug ten, die aber nicht ausgelebt werden können, sondern durch Identifika tion mit dem Opfer abgewehrt werden müssen. Hier von »Identifikation mit dem Opfer« zu lesen und zu begreifen, dass die Mutter das Opfer (der Wut des Kindes, seiner Loslösungsbestrebungen) sein soll, mag befremden, wenn man, Ferenczi folgend, gewohnt ist, das Kind als Opfer des erwachsenen Aggressors anzu sehen (vgl. Teil II, S. 116). Aber es ist wohl eine primäre Identifika tion gemeint, die eben zu der Selbst-Grenzen-Schwäche führt, die dem Kind die Unterscheidung zwischen den Bedürfnissen der Erwachsenen und den eigenen, auch zwischen Täter und Opfer sowie die Lokalisa tion der Aggression und der Bedürftigkeit so schwer macht. Rosemarie J., das »Hormonkind« (vgl. Teil II, S. 135), das die Mutter »fürchter lich bei der Geburt zugerichtet« und ihr »da unten alles kaputtgemacht« hatte, entwickelte wegen dieser beiden Momente nicht nur ein Basisschuldgefühl, son dern hatte auch große Schwierigkeiten, sich »schuldlos« von der Mutter zu lösen. »Und als ich vier Jahre alt war, kam mein Bruder, und sie war nach seiner Geburt schwer depressiv, hat nur noch im Bett gelegen und gar nicht mehr richtig gelebt. Sie erzählt jetzt gern, dass ich ihr damals immer die Medikamente gebracht habe, um ihr zu helfen …« In der Adoleszenz war die Mutter völlig fixiert an das »da unten« der Patientin: Weil die Menstruationsblutungen nicht einsetzten (bis sie 16 Jahre alt war), ging die Mutter mit dem Mädchen sehr häufig von einem Gynäko logen zum andern. – Kürzlich rief die Mutter an und fragte: »Wie geht’s dir?« – »Gut.« – »Wenn du gut sagst, stimmt doch sicher was nicht, also sag schon, was du auf dem Herzen hast!« Ein Basisschuldgefühl (verbunden mit Rollenumkehr) geht also einher mit dem Gefühl symbiotischer Verbundenheit von Mutter und Tochter, aus der eine Ablösung sehr schwer zu erreichen ist. Inzwischen kann sich die Patientin abgrenzen, sie sagt sinngemäß, die Mutter müsse jetzt einfach akzeptieren, dass da eine Grenze sei, die sie nicht mehr übergriffartig überschreiten könne! Darauf sagt die Mutter: »Aber du bist doch mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut!« Die Patientin darauf: »Ich bin nicht dein Fleisch! Ich bin deine Tochter!« Die Abgrenzung ist jetzt zwar möglich, aber es stellt sich keine Wut, auch keine Trauer ein, dafür ein Leeregefühl. Gegen Ende der Sitzung sagt sie unvermittelt: Das gehöre sicher auch hierher, ihre Blutungen seien immer unregelmäßig gewesen, seit sie ihren ersten Freund gehabt hatte. Jetzt nach der Trennung vom Ehemann habe sie sie regelmäßig, aber alle 14 Tage. Der Gynä kologe nannte als Ursache eine psychohormonelle Störung. Mir fällt ein, dass sie ein »Hormonkind« ist, die Mutter demnach schon ähnliche Probleme gehabt haben dürfte, die Verbundenheit zur Mutter also durch Identifizierung hergestellt wird. Anlässlich der »Leere«, die sie anstelle von Wut und Trauer empfindet, kommt sie wieder auf die Zeit, als die Mutter so schwer depressiv gewesen war. Das Leben der Familie erstarb, es gibt keine Erinnerungen, keine Fotos aus dieser Zeit. Es
214 Schuldgefühl erstarb in dem Moment, als neues Leben, der Bruder, in die Familie kam. Unver mittelt erzählt nun die Patientin ohne jeden Affekt, dass sie Anästhesien beider Beine hätte. Die Gruppenmitglieder reagieren mit mehr Affekten von Schreck und Angst als sie selbst, denn das bedeutet, kein Leben in den Beinen, kein Fortschritt, gerade jetzt, wo sie mit einer neuen Stelle beruflichen Erfolg hat. Die Patientin dagegen geht völlig nachlässig mit ihrer Krankheit um, deren Ursache noch unbe kannt ist.
Wenn es auch überwiegend um Mütter geht, von denen sich abzulösen so schwer ist, gibt es auch bestimmte Väter, die es den Kindern nicht leichtmachen. An dem Tag, als eine andere Patientin, Benigna U., ihre erste Menstruationsblutung hatte, kam der Vater auf die Idee, mit ihr feierlich essen zu gehen. Die Patientin hat das schon damals als unpassend und peinlich empfunden, sie hat gedacht, das sei eigentlich etwas, was nur ihr gehöre. Als sie mit 15 Jahren zum ersten Mal einen Jungen küsste, wurde sie von Vater und Mutter schwer bestraft, die Mutter sprach wochenlang nicht mit ihr, der Vater machte ihr heftige Vorhaltungen. Vollends an das Agieren eines an »ambulatorischer Psychose« (Fliess 1973) Erkrankten lässt folgendes Verhalten dieses Vaters denken: Er gab jedem seiner Kinder an ihrem 18. Geburtstag eine heftige Ohrfeige mit den Worten: »Du bist jetzt zwar volljährig, aber ich bleibe immer dein Vater!«
Die Phantasien und Ängste des Kindes im Zusammenhang mit seinen Loslösungsbestrebungen werden sich mit den realen Einwirkungen der Eltern mischen und sich gegenseitig verstärken, wenn sie gleichsin nig sind. Konflikte mit derartig übertriebenen Loyalitätsforderungen in Familien betreffen Kontakte des Kindes mit Menschen außerhalb der Familie (»Das ist kein guter Umgang für dich!«), Erfolg und berufliche Fortschritte (»Was brauchst du ein Studium …«), natürlich Sexualität, deren eine charakteristische Eigenschaft ist, dass ihre Objekte außer halb der Familie liegen müssen (vgl. Hirsch 1993c: »Latenter Inzest«), räumliche Trennung (»Du hast doch hier alles!«), natürlich Heirat (»Ich wünsche dir alles Gute, aber so eine gute Ehe wie Vater und ich haben, wirst du nicht führen!«) und Schwangerschaft (»Du hast es zwar nicht leicht jetzt, mein Kind, aber das ist gar nichts gegen die Beschwerden, die ich hatte, als ich mit dir schwanger war!«). In Therapien gelangt man logischerweise oft an eine Art Weichen stel lung: Kann der Pati ent, das (erwach sene) Kind, das zwi schen Abhängigkeitswunsch, eigener Trennungsangst und übermäßiger Loyalitätsforderung mit entsprechenden Schuldgefühlen einerseits und Autonomiewünschen andererseits hin und hergerissen ist, sich weiter mit den Zielen der Therapie verbünden, die immer Emanzipation und Autonomie bedeuten, oder ist er gezwungen, zurückzukehren zum alten Objekt (das können Partner sein oder die realen Eltern, auf die frühe
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Abhängigkeiten noch immer projiziert werden oder die noch immer im selben Sinne agieren), weil Angst und Schuldgefühle zu stark werden. Ein solcher Konflikt steht im Zentrum der »negativen therapeutischen Reaktion«, die einen Therapiefortschritt mit einem Rückschritt durch Verstärkung der Symptomatik bezeichnet (Hirsch 2013). Die Beispiele von übermäßiger Abhängigkeit und Trennungsschuldgefühl, die Weiss (1986a) mitteilt, belegen die gegenseitigen Einflüsse von Mutter und Kind; der Vater, wie auch in Modells Fällen, ist abwe send, indifferent oder in je einem Fall von Modell und von Weiss sexuell missbrauchend, das heißt, er nimmt sich eher von der Tochter für sich, als dass er für sie da wäre. Natürlich wäre in derartigen Abhängigkeitsbeziehungen ein triangulierender Vater, der die Autonomiebestrebungen unterstützt und sich zur Identifikation mit einer unabhän gigen und doch beziehungsfähigen Figur anbietet (vgl. Hirsch 1988; 2016), hoch willkommen. In zwei Beispielen (Weiss 1986a, S. 57 u. 59) werden dem Kind doppelte Botschaften vermittelt, die sich widersprechen, weil mit ihnen gleichzeitig Abhängigkeit und Unabhängigkeit gefordert wird. Waren die Patienten erfolgreich, befürchteten sie, es würde als Tren nung erlebt, die Mütter wurden depressiv; versagten sie, waren sie in Sorge, die Mutter zu enttäuschen. Eine solche Doppelbotschaft ist für die Entstehung von Arbeitsstörungen und Prüfungsangst typisch, wie wir gesehen haben (vgl. Teil II, S. 182 ff.) und sehen werden (S. 223 f.). Die durchgehende Formel der Mütter lautete, ausgedrückt in den teils unbewussten Befürchtungen und Erwartungen, teils aber auch in ihren entsprechenden Interventionen der Mütter: »Ich lebe nur für dich, und du sollst auch nur für mich leben« (Weiss 1986a, S. 60). An sich könnte man diese Formel auch wohlwollend verstehen im Sinne der Mutualität in der Beziehung von Mutter (und Vater bzw. anderen Autoritätsper sonen) und Kind, die notwendig ist, ein Geben und Nehmen, wie es A. Balint (1939) und später Stierlin (1971) ausdrücken, in der auch ein gewisses Maß an Egoismus nicht nur des Kindes, sondern durchaus auch der Eltern enthalten sein kann. Aber es geht hier um ein pathologisches Maß an Schuldgefühl aufgrund der Unfähigkeit des Erwachsenen, die berechtigten Autonomiewünsche des Kindes anzuerkennen und zu tole rieren. Dadurch dass sich das Kind an die Wünsche der Mutter anpassen muss, um sie sich »als Objekt zu erhalten«, entsteht eine »aus der Bahn geworfene Dialektik von Subjekt und Objekt … [als] eine folgenreiche Form der negativen Gegenseitigkeit« (Stierlin 1971, S. 99). »Nur wenn die Eltern durch die zunehmende Reife und Autonomie verletzt und verraten wirken, stellen sich Schuldgefühle ein. Wenn die Eltern ihr eigenes Selbst wertgefühl vom Kind abhängig machen und ohne es zutiefst unglücklich wären,
216 Schuld fühlt es sich unbewußt des eingebildeten Verbrechens des Verlassens schuldig. Wenn die Eltern die Tatsache nicht akzeptieren können, daß das Kind andere Mei nungen, Vorlieben, religiöse Anschauungen oder politische Einstellungen hat, fühlt es sich des eingebildeten Verbrechens der Illoyalität schuldig« (Engel u. Ferguson 1990, S. 78).
Familiendynamisch kann eine solche Konstellation als überzogener »Bindungsmodus« (Stierlin et al. 1977) begriffen werden. Die Geburt eines eigenen Kindes kann schuldhaft wie ein Verrat an der Mutter erlebt und auch von dieser voller Vorwurf quittiert wer den. Eine treffende Darstellung einer sich über mehrere Generatio nen erstreckenden Abhängigkeitsdynamik gibt Halberstadt-Freud (1993, S. 1046): »Meine Patientin fühlt sich sehr schuldig und sieht sich dem Zwang von Phantasien ausgesetzt, daß ihre Mutter sterben werde, weil sie nun selbst ein Baby hat.« Ich habe über eine Patientin, Martha, berichtet (Hirsch 2010, S. 279 f.), die als werdende Mutter hin- und hergerissen war zwischen der Identifikation mit den Forderungen ihrer Mutter und entsprechenden Schuldgefühlen, sie nicht zu erfüllen, und andererseits der Solidarität mit dem eigenen Kind. Marthas Mutter war dagegen, dass Martha, unverheiratet, ein Kind bekam, und agierte offen eifersüchtig und feindselig ihrem ungeborenen Enkelkind gegenüber. Martha hatte das geahnt und es nicht geschafft, der Mutter zu sagen, dass sie schwanger war. Der Vater war sehr krank, er starb, als Martha im sechsten Monat war. Bei der Beerdigung würdigte der Pfarrer das Leben des Verstorbenen und wandte sich dann den Hinterbliebenen zu: Wie müsse der Verlust für die Tochter doch schwer zu ertragen sein, gerade wo jetzt unter ihrem Herzen neues Leben wachse … Der Pfarrer hatte die Schwangerschaft wohl bemerkt, nicht aber die Mutter, die kreidebleich wurde, sich gerade noch zusammenreißen konnte, bis es dann beim Leichenschmaus aus ihr herausbrach: »Wie kannst du es wagen, mir (!) gerade jetzt mit einem Bastard zu kommen! Gerade jetzt, wo Vater tot ist und ich dich bitter nötig brauche, hängst du dir ein Kind an den Hals!« In einem Fall, den Weiss (1986a) beschreibt, und auch in zwei Fällen aus meiner Praxis (Melanie B. und Fanny G.-L.; vgl. Teil III, S. 276), wurde das Kind der Patientin, die sich von den Ansprüchen der eigenen Mutter nicht abgrenzen konnte, der Mutter zur Pflege übergeben, wie ein Opfer, damit die bedürftige Mutter Ersatz bekäme für ein verlore nes Kind (die Patientin), und in dem neuen Kind im Sinne der Rollen umkehr aber auch ein neues Mutter-Objekt, das sie nicht allein lässt. Melanie B. kämpft um die Abgrenzung von der eigenen Mutter. Trotz aller bes serer Einsicht hat sie immer noch Bedürfnisse ihr gegenüber wie ein Kind. Sie ist
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gar nicht damit einverstanden, wie die Mutter mit ihrem Kind umgeht, an diesem Punkt rivalisiert sie ganz bewusst, wer die bessere Mutter ist. Aber gleichzeitig verspürt sie auch eine Art Verpflichtung, ihr Kind auch mal zur »Omi« zu bringen, um diese eine gute Mutter sein zu lassen, also ihre (»Omis«) Mutter-Identität anzu erkennen bzw. zu erhalten. Das lässt sich zurückführen auf ein Basisschuldgefühl von Frau B., die Mutter als ältestes Kind schließlich zur Mutter gemacht zu haben, denn die Mutter konnte damals ihre Ausbildung nicht abschließen und auch spä ter nicht wieder in den Beruf, was allerdings auch an den vier folgenden weiteren Geschwistern lag.
Wenn das Kind die Mutter zur Mutter gemacht hat, lädt sie darüber hin aus Schuld auf sich, wenn sie sich trennt, denn was ist eine Mutter ohne Kind? Sie ist keine Mutter mehr, es wäre eine Art Mord an der Mut ter, der Schuldgefühle macht (Trennungsschuldgefühl), und das eigene Kind der Mutter zu geben, würde dieses Schuldgefühl vermindern. Zwar ist von den meisten Autoren (Modell 1965; 1971; Asch 1976; Weiss 1986a; Halberstadt-Freud 1993) die Separations-Individuationsphase als charakteristische Zeit der Zuspitzung dieses Konflikts angesehen worden, aber eine Aktualisierung findet sich in allen Lebensabschnitten. Und auch in jedem Lebensalter werden von den Eltern Botschaften bzw. Aktivitäten ausgehen, die eine Los lösung des Kindes behindern und Schuldgefühle machen sollen. Die Grundlage eines solchen Festhaltens formuliert Halberstadt-Freud (1993, S. 1048) prägnant, indem sie das Kind, das nicht gehen darf, als Selbstergänzung der Mutter bezeichnet. Fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende Identitätsbereiche, am besten ablesbar in beruflichen Fähig keiten, die den Eltern nicht zur Verfügung stehen, sollen vom Kind abgedeckt werden, aber nicht im eigenen Recht, sondern als Ergänzung der Eltern-Identität.
Räumliche Trennung Ein Beispiel für ein hartnäckiges Bindungsagieren vonseiten der Eltern ihrer erwachsenen Tochter gegenüber berichtet Henrike S. am Anfang ihrer Therapie, die sie wegen ihrer starken bulimischen Symptomatik begonnen hatte. Die Eltern planen mit ihr einen gemeinsamen Urlaub, sie stimmt aber nicht zu, weil sie gerade mit der Therapie begonnen hat (analytische Psychotherapie hat einen emanzipatorischen Anspruch und kann deshalb leicht von Eltern oder Partnern als Trennungsbedrohung aufgefasst werden), schließlich sei sie auch verheiratet. Sie denkt mit Schrecken daran, wie es die Eltern geschafft hatten, sie auf der Hoch zeitsreise zu begleiten, und welch furchtbare Auseinandersetzung es mit dem Mann gegeben hat, obwohl dieser zugestimmt hatte. Trotzdem schenken ihr die Eltern
218 Schuldgefühl jetzt einen viertägigen Urlaub mit ihnen, in einem Zimmer, gebucht unter ihrem Mädchennamen. Jetzt kann sie sich nicht mehr wehren; würde sie etwas dagegen sagen, verstummte der Vater und wäre traurig, die Mutter weinte und bekäme ihren Herzanfall oder wieder Luftnot. Die Mutter ruft sie oft nachts an, wird während des Telefongesprächs ohnmächtig, sodass die Patientin hinfahren muss. Der Vater sagt: »Komm doch mit uns in den Urlaub, du tust Mutter sonst so weh …« Oder der Vater ruft an, sie solle doch zum Essen vorbeikommen. Sie lehnt ab, aber der Vater ruft wieder an: Er habe Kartoffeln aufgesetzt, sie solle den Herd ausstellen, wenn sie fertig seien, denn er müsse eben weg. Die Patientin muss also doch hin gehen, isst dann doch bei den Eltern; als sie wieder zu Hause ist, muss sie alles erbrechen. Die Mutter ist nierenkrank, hat auch Lähmungen und Herzbeschwerden ohne eindeutigen organischen Befund. Jeden Abend ruft sie an, jedesmal fragt sie, warum die Tochter nicht vorbeikomme, sie wohne doch so nahe, die Mutter macht Vorwürfe, dass sie am Wochenende alleingelassen wird.
Das Aufrechnen von Geben und Nehmen, von Berauben und Schuldigsein eines Betrages an Liebe meint wohl die Mutter einer 32jährigen Patientin, Dorothea L., die erst einmal jeden Kontakt zu den Eltern ver weigerte, nachdem sie mit der Therapie begonnen hatte, weil der Vater sein sexualisiertes intrusives Verhalten ihr gegenüber nicht aufgeben konnte. Die Mutter schreibt kurz vor Weihnachten (Hervorhebung ori ginal): »Liebe Dorothea! Nicht nur in dieser Zeit muss ich viel an Dich denken. In Gedanken bist Du immer bei mir. Es ist sehr schmerzlich für mich, nichts von Dir zu hören und zu sehen, obwohl Du räumlich sehr nah bist. Nun habe ich vor einiger Zeit etwas gelesen, was mir aus dem Herzen spricht, weil ich es besser nicht sagen könnte. Von Karin [der Schwester der Patientin] weiß ich, dass es Dir gutgeht, das wünsche ich Dir auch weiterhin. In diesem Sinne in Liebe Deine Mutter! Für Dorothea! Ich tat nichts als aus Sorge, nur für Dich, meine Tochter, die unbekannt ist mit sich selbst, nicht wissend: Woher ich bin! Gedanken! Man hat leider kein kluges Buch in der Hand, in dem man nach schlagen kann, dass ein Kind sich selbst schadet. Kinder stehlen einem mehr als das Herz, sie stehlen einem das Leben. Sie holen das Beste, aber auch Schlechteste aus einem heraus, und schenken uns dafür ihr Vertrauen! Der Preis ist hoch, der Lohn gering, und es dauert lange, bis man es ernten kann. – Am Ende, wenn man sich darauf vorbereitet hat, das Kind ins Erwachsensein zu entlassen, tut man es in der Hoffnung, dass das, was zurückbleibt, größer und mehr sein kann oder wird, als die leeren Hände einer Mutter! Alles Liebe – Mama.«
Auch die Mutter einer anderen Patientin, Barbara K., die auf ihrem Bauernhof mit der Tochter, als sie acht bis elf Jahre alt war, eine regel rechte Kinderprostitution betrieben hatte (Hirsch 2001), konnte es nicht ertragen, dass die Patientin erst einmal jeden Kontaktversuch der Mutter zurückwies. Die Tochter hatte aber trotzdem zu Weihnachten geschrieben, die Mutter antwortet:
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»Danke für die Zeilen! Aber wir sind sehr traurig geworden. Wir hatten doch ver einbart, auf ein kurzes Wiedersehen, ein liebes Wort nach Weihnachten. [»Das stimmt nicht!«, sagt die Patientin dazu.] Du hattest uns doch versprochen, mal einzuladen. Aber wie ich lese, ist Dir das schon wieder zuviel. Kannst Du denn nicht begreifen, dass Du eine alte Mutter vor Dir hast, die mit einem Fuß schon im Grabe steht. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod … Du bist alles, was ich habe, und ich liebe Dich von Herzen, egal was auch passiert ist [!]. Vielleicht denkst Du mal an mich. Ich hoffe auf ein Wiedersehen. Deine Mama.«
Ein anderes Mal schrieb die Mutter (Hervorhebung original): »Liebe Barbara! Wie stellst Du Dir das vor, soll es noch länger so still um uns bleiben, oder möchtest Du mich ins Grab zwingen. Es ist doch sehr hart, und dass Du Dich nicht schämst, so lange kein Wort von Dir hören zu lassen. Nach diesem allen bin ich sehr krank geworden, stand vor 14 Tagen vor einem leichten Herz infarkt. Ich meine, das braucht doch alles nicht zu sein, man kann doch mal in Ruhe über alles sprechen, wenn es auch noch so hart ist, und man muss auch mal vergessen können. Wir haben doch auch so vieles getan, und gerne getan. Wird das alles in den Wind geschlagen, und wir sind auf die Straße gesetzt worden. Oder habt Ihr jetzt alles, und braucht uns nicht mehr. Es grüßt Euch beide – die Mama.«
Ich habe den Eindruck, dass die Therapien heute im Vergleich zu einer Zeit der »Studentenbewegung«, das heißt des Bewusstseins der Rebel lion und der Betonung der Autonomie in der jungen Generation, immer mehr von den Ablösungsproblemen von den realen Eltern und damit von entsprechenden Trennungsschuldgefühlen, aber auch Trennungsängsten, bestimmt werden.
Sexualität und Schuldgefühl II – Sexualität bedeutet Trennung Sexualität ist ein vitales, geradezu biologisches Bedürfnis, und des halb lässt sich ein mit ihr zusammenhängendes Schuldgefühl durchaus als Schuldgefühl aus Vitalität verstehen, wie ich es bereits beschrieben habe. Es wurde auch schon erwähnt, dass Sexualität aber auch immer Trennung bedeutet, Trennung von den ersten Objekten, sei es bereits im masturbatorischen Akt, in dem sich schon das Kleinkind mit sich allein vollständig fühlt und auf die Eltern verzichtet, oder noch deutli cher durch die Wahl eines Partners. Denn Sexualität findet mit einem Partner außerhalb der Familie statt – es herrscht das Inzestverbot und damit das Exogamiegebot – und ist deshalb immer mit Trennung verbunden. Schließlich fließen die Tränen auf Hochzeiten, weil die Eltern ihr Kind verlieren, und ein erstes zaghaftes Interesse an mög
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lichen Partnern in der Adoleszenz führt oft zu heftigster, irrational aggressiver Auseinandersetzung zwischen Eltern und Jugendlichen (vgl. Hirsch 1993c). Für das Mädchen scheint innerhalb des traditionellen Geschlechtsrollenverhaltens ein häufig gewählter Ausweg zur Vermeidung eines Trennungsschuldgefühls eine Unterordnung unter die Forderung der sexuellen Passivität zu sein, das Aufgeben eigener sexueller Initiative, die dem Mann überlassen bleibt. Das kann so weit gehen, dass sozusa gen »den Eltern zuliebe« eine inzestuöse Partnerwahl leichter möglich ist als eine, die eine größere Trennung von den Eltern, insbesondere von ihrem Lebensstil bedeuten würde. Die Eltern einer Jugendlichen, Verena Q.-S., hatten an allen ihren Freunden immer etwas auszusetzen, bis sie sich mit 19 Jahren in einen 13 Jahre älteren Nachbarn verliebte – der Vater war hoch e rfreut, denn er verstand sich sehr gut mit ihm, auch die Mutter empfand die neue Beziehung der Tochter als Bereicherung ihres eigenen gesellschaftlichen Lebens.
In einem anderen Fall hatte sich die Jugendliche bereits einer Art Exogamie-Verbot unterworfen und es internalisiert: Sie geriet in Panik, als ein wenig älterer Schulfreund, der gerade den Führerschein gemacht hatte, sie laut hupend mit dem Auto abholen wollte. Eher konnte sie sich die sexuelle Beziehung zu einem ihrer Lehrer gestatten, die sie während des Abiturs begann. Die spätere Patientin spaltete ihre Beziehungen fortan in aufregende, stürmische, aber »unmögliche«, nicht zu realisierende mit altersentsprechenden Partnern und solche mit älteren Männern, die langweilig und sexuell bald wenig befriedigend waren. Es stellte sich in der Analyse heraus, dass eine derartige Kon stellation einem Gebot der Eltern entsprach, sich in ihrem Lebensstil nicht von dem der Eltern zu entfernen. Die Patientin fühlte sich in der Ehe auch bald, als wäre sie nach Hause zurückgekehrt.
Während sich bei Mädchen eher »masochistische« Charaktere ent wickeln (»lebenslängliche Pflegerin«) und Eigeninitiative zurücktritt, ist bei Jungen »die beschriebene Familienkonstellation … typisch für die Homosexualität und die Perversionen« (Halberstadt-Freud 1993, S. 1049). Der männliche Jugendliche ist in dem Dilemma gefan gen, einerseits den Inzest mit der Mutter vermeiden zu müssen, sich andererseits aber wegen eines Trennungsverbots nicht anderen Frauen zuwenden zu können. Ein Ausweg wäre die sexuelle Perversion, mit der sowohl ein archaisches Mutterbild in Schach gehalten, als auch eine Trennung vermieden würde. Wurmser (1990) beschreibt ausführlich den Fall eines männlichen Patienten, der eine manifeste masochistische Perversion entwickelt hatte, in dem es um die Phantasie ging, für die Penislosigkeit der Mutter verantwortlich zu sein. Den eigenen der Mut
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ter zu geben oder selbst für sie als solcher zu fungieren, bedeutete eine Rettung für die Mutter. Eine Trennung wurde auch hier wie ein Mord erlebt; ein Ausweg lag in der Selbsterschaffung eines leblosen Liebesobjekts, eines Fetischs, mit dem einerseits die instrumentalisierte Mutter-Kind-Beziehung wiederhergestellt wurde, nun aber unter der Regie, der Beherrschung durch den Patienten, der dadurch nicht mehr Opfer war. Insofern war es aber auch eine Kompromissbildung durch das Symptom, wie ich ergänzen möchte, weil eine wirkliche Lösung von der Mutter und eine Hinbewegung zu anderen Frauen vermieden werden konnte. Auch ohne manifeste sexuelle Perversion scheint es eine Scheinlö sung des Dilemmas zu geben, in dem die eigene Sexualität symbolisch in den Dienst der Mutter, später der Partnerin gestellt wird (Hirsch 1988; 1989d; 2016). Solche Männer haben das Gefühl, Sexualität sei losgelöst von zärtlichen Affekten und isoliert von Beziehungen, die Partnerin wird in ihren Bedürfnissen stets befriedigt, wenn sie es wünscht, ohne dass ein gegenseitiger Austausch bestünde. Ich habe dazu das Muster einer entsprechenden Phantasie beschrieben: »Die Mutter verwaltet den Penis ihres Sohnes« (Hirsch 1988; 2016). Für derartige enge Mutter-Sohn-Beziehungen, die gekennzeichnet sind von einem Gefühl mangelhafter Identität bei der Mutter, nimmt Racamier (1980, S. 98 f.) eine Dynamik an, »das das Kind sie (die Mutter) weiter hin vervollständigt«, dass das Kind »mit der Mutter zusammen ein all mächtiges Eins« bildet, verbunden mit der »Phantasie der gegenseiti gen Erschaffung«. Auch Olivier (1980, S. 72) zog ähnliche Schlüsse: »In ihrem Sohn hat die Mutter nämlich die einzigartige Gelegenheit, sich in männlicher Gestalt zu sehen«. Und: »Die Frau hat unbewußt Schwierigkeiten, auf das einzige männliche Wesen zu verzichten, das sie je bei sich gehabt hat; denn der Vater war nicht für sie da, und ihr Mann ist meistens abwesend« (S. 74). Auch im Falle derartiger Mut ter-Sohn-Bindungen steht also der Vater für eine triangulierende Rela tivierung nicht zur Verfügung. Loslösungsbestrebungen werden hier deshalb Schuldgefühle machen, da sie das Gefühl der Vollständigkeit der Mutter gefährden. Eine solche Dynamik findet sich auch bei Män nern, die zwar über keinerlei Störung ihres Sexuallebens klagen, denen es aber nicht gelingt, Beziehungen so zu gestalten bzw. durchzuhalten, dass sie eine eigene Familie gründen können. In dem Fall eines beamteten Psychiaters, der seit vielen Jahren einer Tätigkeit in einer großen psychiatrischen Landesklinik nachging, wurde deutlich, dass die Unfähigkeit, sich von einer engen Mutterbindung zu befreien, parallel ging mit der Unfähigkeit, sich von der »Mutter-Klinik« zu trennen, um einer mehr eigen verantwortlichen, kreativen Tätigkeit nachzugehen. Er empfand die Klinik wie ein
222 Schuldgefühl Kloster, in dem er sich eingerichtet hatte und das er nicht mehr verlassen konnte (musste). Die Beziehung zur Mutter beschrieb er als innig und liebevoll, er war immer ihr »einziger Junge«, für den sie alles tat. Die latent inzestuöse Qualität der Mutterbeziehung gestattete es in diesem Falle zwar, dass er immer befriedi gende Sexualität mit Partnerinnen haben konnte, dass aber die Endgültigkeit einer Beziehung gefürchtet wurde. Als einmal eine Freundin schwanger wurde, geriet er in Panik und bestand auf einer Abtreibung; eine Ehe wurde nach wenigen Mona ten wieder beendet. Es konnte ein Schuldgefühl herausgearbeitet werden, die vor handenen beruflichen Fähigkeiten wie die sexuellen Möglichkeiten für die eigene Identitätsentwicklung zu verwenden, während sie für die jeweilige Mutterreprä sentanz, Klinik oder Partnerin, durchaus zur Verfügung standen.
Sicher kann ähnlich auch die Wahl des Priesterberufs, wenn er mit einem Verzicht auf Sexualität verbunden ist, auf unbewussten Schuld gefühlen beruhen: Eine äußere Ablösung ist zwar möglich, aber im Grunde bleibt der Sohn der Mutter treu, da er sich keiner anderen Frau zuwendet. Und in manchen Fällen scheint der Mutter die Homosexua lität ihres Sohnes seltsam willkommen zu sein, als Ausdruck seiner Treue verstanden zu werden, gerade wenn Homosexualität wenigstens teilweise als eine Abwehr eines gefürchteten mütterlichen Inzests ver standen werden kann.
Onanieverbot Wie gesagt, Sexualität hat immer mit Trennung zu tun. Und zwar auch die autoerotische Sexualität, denn sie macht für den Augenblick völ lig unabhängig von den versorgenden Elternpersonen, so abhängig das Kind von ihnen auch sonst sein mag. Man stelle sich nur ein selig lächelndes, angestrengt mit einem Kissen zwischen den Beinen mastur bierendes Kleinkind vor – es braucht in diesem Zustand keine Mutter. Und später, in der Adoleszenz, ist Sexualität wegen des Inzestverbots zwingend mit der Hinwendung zu außerfamiliären Objekten, das heißt mit der Entfernung von den familiären verbunden. Welche psychosenahen Reaktionen extremer narzisstischer Wut kann man bei den Eltern sehen, die mit allen Mitteln und Drohungen diesen Schritt ihres »Kindes« verhindern wollen (vgl. Hirsch 1993c). Ähnlich wird auch die Masturbation, so könnte ich mir denken, von Eltern unter anderem deshalb empfindlich sanktioniert, weil sie eine Ahnung haben, dass mit ihr eine Unabhängigkeit verbunden ist, die sie als Zurückweisung und damit kränkend erleben. In zwei Fällen von Borderline-Perversion habe ich Schuldgefühle bei der Masturbation sehen können (Hirsch 1988; 1989e), die auf ein Verpflichtungsgefühl zurückgingen, Sexuali tät nur für die (pseudo-ödipale) Mutter zu haben; lustvolles Masturbie ren wurde als eigenmächtige Lösung aus dieser Verpflichtung erlebt.
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Eine solche Dynamik würde auch den Widerspruch auflösen, der darin zu liegen scheint, dass Eltern die harmlose kindliche Masturbation emp findlich bestrafen, während sie sich ohne weiteres (d. h. ohne Schuldge fühl) ein inzestuöses Agieren mit eben demselben Kind herausnehmen (vgl. Hirsch 1987; schon Simmel 1990, S. 96). Es wäre dann nicht eigentlich die Sexualität, die verfolgt würde, sondern das eigenmächtige Sich-Entfernen durch die Masturbation (von späteren Partnerbeziehun gen ganz zu schweigen!), während der Inzest eben keine Trennung, sondern geradezu ein Extremfall des In-Besitz-Nehmens eines Kindes ist. Die Feindseligkeit sexuellen Bedürfnissen der jugendlichen Kinder gegenüber und ihre Behinderung werden dementsprechend ein starkes Trennungsschuldgefühl erzeugen.
Scheitern am Erfolg II – Erfolg bedeutet Trennung Arbeitsstörung und Prüfungsangst haben einen seltsamen Doppelcharakter. Jeder wird auf den ersten Blick meinen, man habe Angst, die Prüfung nicht zu schaffen, was Zeitverlust zumindest, vielleicht sogar das Aufgeben aller Karrierepläne bedeuten würde, aber auch Scham, da man als Versager in den Augen der anderen und vor sich selbst daste hen würde. Soweit ist eine Komponente korrekt beschrieben. Aber was soll man davon denken, wenn die Angst am größten ist vor der Prüfung, die als die leichteste gilt? Zumindest vor Jahren noch war im Medizin studium das Physikum die schwerste Prüfung mit einer Durchfallquote von rund 40 Prozent, während das Staatsexamen zwar langwierig und anstrengend, aber kaum real gefährlich war: Nur etwa drei Prozent fielen durch. Trotzdem war bei manchen Kommilitonen die Angst hier ungleich größer, erreichte Dimensionen der Panik und führte unter Umständen zu medikamentösen oder gar psychiatrischen Klinikbehandlungen. Sollte das Ausmaß der Angst, da es nicht mit der realen Schwierigkeit erklärbar war, mit dem Zeitpunkt und der Bedeutung zu tun haben, nämlich damit, dass es die letzte Prüfung war und deshalb die, die den Medizinstudenten zum Arzt und überhaupt den Studenten als – gesellschaftlich gesehen – ältesten Vertreter der Adoleszenz end gültig zum Erwachsenen machen würde? Das würde auch erklären, warum gerade manche Studenten, die vor der Prüfung extreme Angst hatten, nach gut bestandener Prüfung in ein tiefes Loch von Depression fallen, obwohl sie doch allen Grund zur Erleichterung hätten. Oder der paradox erscheinende Widerspruch würde verständlicher: dass jemand, der vor der Prüfung Angst hatte, ein Nichtbestehen würde seine Exi
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stenz ruinieren, sich nach dem sehr gut bestandenen Examen suizidiert! Ein Patient, Felix R., der Studienrat, der selbst unter schwerer Prüfungs- und Versagens-(Erfolgs-!)Angst litt, berichtete über seine Erschütterung, als sich ein Kommilitone nach einem mit Auszeichnung bestandenen Examen während der Examensfeier erhängte. Einfühlsam bemerkte er, der Kommilitone wäre vielleicht noch am Leben, wenn er ein nur mittelmäßiges Ergebnis erzielt hätte.
Erfolg durch befriedigende Arbeit und noch sinnfälliger durch bestan dene Prüfung bedeutet Trennung vom vorherigen Zustand – ein Werk stück, auch ein Schriftstück, gab es vor seiner Vollendung noch nicht, der Arbeiter und Autor ist nicht mehr derselbe, er ist vielmehr verän dert durch die Aufnahme neuer Informationen und die Erschaffung neuer Gedanken während der Arbeit. Jedes Vollenden eines bestimm ten Werkstücks bedeutet aber auch, alle anderen möglichen Formen auszuschließen, von ihnen endgültig Abschied zu nehmen, sozusagen deren Tod. Jedes endgültig niedergeschriebene Wort schließt die Exis tenz aller anderen möglichen Wörter aus, tötet sie sozusagen. Und eine Prüfung befördert jemanden augenfällig von einem Identitätszustand in einen anderen, das Abitur (ab-ire bedeutet weggehen!) macht in unse rer Gesellschaft den Jugendlichen zum jungen Erwachsenen (auch für Abitur: »Matura«, Reifeprüfung), trennt ihn für immer von der Kind heit wie die Geburt eine Trennung vom Fetalzustand bedeutet, ebenso wie sie (jedenfalls eine erste) eine Nichtmutter zur Mutter macht. Jede Prüfung bedeutet aber auch, zum Beispiel jeder Studienabschluss, dass die durch sie erreichte Identität jede andere Identität ausschließt und unmöglich macht. Der Gedanke an die Geburt, die Kind und Mutter betrifft, weist auf ein weiteres Moment hin: Der Kreative oder der Prüfling trennt sich nicht nur von seiner vorherigen Identität, vielmehr trennt er sich in gewisser Weise von den Menschen, zu denen er eine Beziehung hat. »Der Wunsch, etwas Originelles beizutragen, wird zur Hybris und zur schuld haften Tat. Denn widerspreche ich damit nicht und wende ich mich nicht ab von verehrten Lehrern und Freunden, denen ich zu tiefem Dank verpflichtet bin – mir in den Rätseln dieser Welt … Weg und Orientierung gewiesen zu haben?« (Stork 1988a, S. 26).
Jede kreative Arbeit und jede Prüfung aktualisiert offenbar den mei nes Erachtens allgemeinsten Konflikt des Menschen, den Ambivalenzkonflikt zwischen Autonomiebestreben und Abhängigkeitsbedürfnis, kurz gesagt: zwischen Freiheit und Geborgenheit. Fortschritte machen, vorankommen wollen macht deshalb immer Angst, das Bestehende zu
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verlieren oder es zu verlassen bzw. verlassen zu werden, und es macht Schuldgefühl, den anderen zu verlassen, hinter sich zu lassen oder wenigstens die Beziehung zu ihm zu verändern, indem man sich selbst verändert. Natürlich geht es mit einer Therapie, die Entwicklung und Unabhängigkeit zum Ziel hat, ähnlich: Die Veränderung der Patientin wird ihre Beziehung auf eine Zerreißprobe stellen; um sie zu erhalten, müsste der Partner sich mitentwickeln. Ein Trennungsschuldgefühl ist zuerst von Modell (1965) ausdrück lich beschrieben worden, das Schuldgefühl, die Mutter zu töten (in der Phantasie), wenn das Kind sich von ihr trennen würde. Loewald (1979) hat dieselbe Phantasie auf der ödipalen Ebene beschrieben (auch Erikson [1950, S. 361] und Wurmser [1990, S. 191]). Im Zusammenhang mit der Rollenumkehr – hier kann das Kind sich nicht trennen, weil es Mutter für die Mutter sein muss – habe ich eine Patientin McDougalls (1989a, S. 160) zitiert, die im Traum der Mutter die Brust gab – eine Trennung wäre der (Hunger-)Tod der Mutter. Es handelt sich um eine Störung der Selbst-Objekt-Differenzierung (Modell 1965), die Grenze zwischen Mutter und Kind und ihren Interessen ist unbestimmt oder aufgehoben; eine Trennung aus einer solchen wörtlich genommenen Symbiose bedeutet den Tod sowohl des einen wie des anderen Symbiosepartners. »Jeder Erfolg würde, neben dem oberflächlicheren Triumph im Eifersuchtskonflikt und der Beseitigung des Rivalen, die Trennung von der Mutter und damit nicht nur ihre zürnende Zurückziehung von ihm bedeuten, sondern auch die mörderische Gleichsetzung von Trennung und Tod« (Wurmser 1987, S. 145; Hervorhebung original).
Damit erweitert auch Wurmser den Bereich des Schuldgefühls wegen ödipaler Rivalität auf den des Trennungsschuldgefühls. Moeller (1969a, S. 200) hat auf einen Doppelaspekt bei der Prü fungsangst hingewiesen: Der Student möchte die Abhängigkeitssituation aufrechterhalten (von der »Alma mater«), eine phantasierte Mut ter wolle ihn wegschicken, was Aggressionen erzeuge, die gegen das eigene Selbst gerichtet werden müssten und »Schuldangst« erzeugten, »zugleich wird die Trennung als unbewusstes Verlassen der Eltern und damit als ein aggressiver Akt gegen diese erlebt«. Die eigene Ambiva lenz, das Liebesobjekt zu verlieren (Trennungsangst) oder es zu verlas sen (Trennungsschuldgefühl) korrespondiert mit der Ambivalenz des Objekts, also ursprünglich der realen Beziehungsperson. In einem Fall beispiel Modells (1965) unternimmt die Mutter einen Suizidversuch, als der Patient Fortschritte in der Analyse macht. Es ist klar, dass die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, Erfolg zu haben, sich auch auf die
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Therapie erstreckt, denn ein Erfolg dort würde ebenfalls eine Trennung von den (inneren) Objekten bedeuten. Eine Patientin in meiner Praxis, Sigrid V., hatte unter großen Mühen und extre mer Prüfungsangst endlich das juristische Staatsexamen bestanden und begann mit dem Referendariat. Die Mutter hatte ihr während des Studiums regelmäßig einen gewissen Geldbetrag überwiesen, die Patientin wollte sich nun aber so unabhän gig von der Mutter fühlen, wie es inzwischen ihrer beruflichen Realität entsprach. Sie hatte große Schuldgefühle, die Mutter auf das Geld anzusprechen; schließlich fasste sie sich ein Herz und rief die Mutter an, die aber wie selbstverständlich darauf bestand, das Geld weiter zu überweisen. Die Patientin schickte es zurück, prompt kam es wieder auf ihr Konto. Wieder schickte sie es zurück – ein wahrer Ablösungskampf –, da rief die Mutter an, ganz außer Fassung, weinte, und es brach aus ihr heraus: »Wenn ich dir das Geld nicht mehr schicken kann, hat mein Leben keinen Sinn mehr, dann bringe ich mich um!«
Aber selbst eine solche Mutter will andererseits auch den Fortschritt ihrer Kinder. Das Doppelte, das kaum noch mit dem Begriff Ambi valenz zu bezeichnen ist, findet sich in der Haltung eines Vaters, der, als das Kind freudig mit einer »Zwei plus« in der Mathematikarbeit nach Hause kommt, muffig ausruft: »Das hätte ja auch eine Eins wer den können!« Indem der Vater einerseits eine noch bessere Leistung wünscht, entwertet und negiert er andererseits die Leistung, die das Kind nun gerade erzielen konnte, sein So-Sein, das heißt auch sein So-getrennt-Sein. Wenn ein solches Kind eine Lern- und Arbeitsstörung entwickelt, kann man darin nur eine komplementäre Anpassung an das Doppelte des Vaters erkennen: Das Kind gibt dem Vater recht, jetzt hat er Grund zu schimpfen, das Kind bleibt, was es ist, ein abhän giges, dem Vater unterlegenes Kind, und gleichzeitig protestiert es durch die Verweigerung gegen die Nichtanerkennung seiner Selbst, lebt eine Aggression im Symptom aus, die allerdings wieder auf es selbst zurückfällt. Obendrein kann dadurch, dass es nun tatsächlich »schlecht« ist, das Schuldgefühl besänftigt werden, das daraus ent springt, dass das Kind anders sein will, als die Eltern es wollen, und überdies noch beansprucht, genau so von ihnen akzeptiert zu werden. Schon der prüfungsängstliche Patient in Sadgers (1920) Beispiel war in solchen Schwierigkeiten: Beantwortete er die Frage, drohte die Kastration, beantwortete er sie nicht, arbeitsgestört und neurotisch dumm, wie er war, kam er »nicht vom Fleck«, und das war dem Vater auch wieder nicht recht. Es ist klar, dass die Ambivalenz der Eltern sich in einem ebenso doppelsinnigen Über-Ich niederschlägt.
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Arbeitsstörung Manchmal findet sich auch eine eindeutige Ablehnung des Fortschritts des Kindes durch die Eltern: Eine Patientin mit schwersten Arbeitsstörungen, Olivia L., saß wieder einmal über ihrer Diplomarbeit, die Arbeit ging nicht voran, sie war verzweifelt. Da rief die Mutter an, dem Vater ginge es so schlecht, er sei ganz verwirrt, er habe einen Scheck über einen hohen Betrag ausgestellt und wisse nicht, für wen, er lasse sich gehen, sitze nur noch vor dem Fernseher … Vor nicht allzu langer Zeit noch wäre die Patientin gleich hingefahren, um der Mutter zu helfen, jetzt ist sie durch die Therapie immerhin so weit, sich am Telefon abgrenzen zu können. Aber arbeiten kann sie jetzt überhaupt nicht mehr: »Das Muttergift lähmt mich!«
Interessanterweise aber, und das ist auch die Regel, sind die Eltern und korrespondierend die Über-Ich-Anteile widersprüchlich, sie wollen sowohl den Erfolg als sie ihn auch sabotieren. Wurmser (1987; 1990, S. 191) spricht vom Konflikt zweier Über-Ich-Anteile, von denen der eine Unabhängigkeit fordert und im Falle des Versagens, wie bei der Arbeitsstörung, Scham, das heißt Abhängigkeitsscham hervorruft, und der andere Loyalität und Verbundenheit mit dem Mutter-Objekt ver langt und Trennungswünsche mit Schuldgefühl quittiert. Die Mutter einer Patientin, die auf das Gymnasium wollte, beschimpfte sie: »Du hältst dich wohl für was Besseres!« Das ist ein Verbot, anders oder »besser« zu sein als die Mutter, ein Trennungsverbot. Gleichzeitig wollte die Mutter aber, das das Kind gute Zensuren brachte; aus einem solchen double-bind-artigen Widerspruch entsteht Arbeitsstörung. Der Freund (als externalisiertes Über-Ich) der Patientin (Olivia L.), deren Mutter eine Störung ihrer Arbeit (»Arbeitsstörung«) durch die Klage über den senilen Vater verursacht hatte, beklagt sich, dass sie sich zurückzieht und wegen ihrer Arbeit dauernd vor dem Computer sitzt. Gleichzeitig wirft er ihr aber vor, nicht genug für die Arbeit zu tun … Die Über-Ich-Anteile gelangen auch in die Über tragung: Der Therapeut gebe vor, wie sie meint, dass er sie unterstütze und wolle, dass sie die Arbeit schaffe, gleichzeitig aber nehme er Zeit und Geld von ihr; bei des aber brauche sie für ihre Unabhängigkeit – und um die Arbeit fertigzukriegen! Die beiden Über-Ich-Anteile, die einmal Fortschritt, zum anderen Rückschritt und Abhängigkeit repräsentieren, werden durch einen Traum dargestellt, in dem die beiden Bewegungen auf zwei Personen verteilt werden: Sie steht mit einer Freun din in der Flughafenhalle, sie wollen eine Zeitreise machen. Die Freundin will in die Zukunft, die Patientin dagegen in die Vergangenheit. Eine andere Patientin (Lydia S.) dachte anfangs, sie müsse für die Therapie »arbei ten«, das heißt, die ganze Woche zwischen den Sitzungen über psychologische Probleme nachdenken, gleichzeitig muss sie sich aber für ihre Prüfung vorberei ten, und auch das würde ich von ihr fordern! Ihr Über-Ich funktioniert genauso: Es
228 Schuldgefühl fordert, aus fünf Lehrbüchern gleichzeitig zu lernen. Weil sie dann aber den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, kann sie einfache Fragen nicht beantworten und gefährdet dadurch die Prüfung.
Eine Möglichkeit der Erklärung für die doppelte und widersprüchliche Haltung der Eltern den Fortschritten der Kinder gegenüber ist darin gegeben, dass ein Erfolg zwar erwünscht ist, aber unter der Bedin gung, dass das Kind ihn nicht für sich, die eigene Identität und damit zur fortschreitenden Trennung verwendet, sondern dass der Erfolg auf das Konto der Eltern gebucht wird. Dem Kind gegenüber wird die Leistung entwertet, während sie Außenstehenden mit Stolz vorgeführt wird: »Mein Sohn …, meine Tochter …!« Die Mutter einer Patientin, eine Bäuerin, sagte immer zu ihrer Tochter: »Du brauchst nicht zu studieren, du heiratest ja doch …« Als die Tochter das Studium fertig hatte und der Mutter die Diplomarbeit brachte, würdigte die Mutter die Arbeit mit keinem Blick, sondern fragte: »Hat sich denn nun all die Mühe gelohnt, und all das Geld während des Studiums?« Die Patientin war enttäuscht, denn sie hatte erwartet, dass wenigstens jetzt die Mutter die große Mühe anerkennen würde, da das Ergebnis vorlag. Später erfuhr sie, dass die Mutter die Diplomarbeit aufrecht in die Glasvitrine (mit dem guten Geschirr) gestellt hatte und immer, wenn Besuch kam, die Arbeit herausnahm und stolz vom Erfolg ihrer Tochter erzählte.
Die Dynamik erinnert an Hänsel und Gretel: Die Hexe gibt zwar dem eingesperrten Hänsel, der gemästet werden soll, zu essen, ist am »Erfolg« interessiert, erkundigt sich auch immer wieder nach den Fort schritten (prüft den Umfang des Fingers), ob ein Erfolg eingetreten ist, will ihn aber nicht für das Kind, sondern für sich selbst, will das Kind verschlingen. Das Kind solcher Eltern steckt in einem Dilemma: Was es auch tut, es ist der Verlierer. Hat es keinen Erfolg, bleibt es bei der Mutter, hat es aber Erfolg, kann es ihn nicht genießen, da ihn die Eltern für sich beanspruchen. In einem Fall, über den Bohleber (1987) berichtet, konnte ein Jugendlicher nur entweder der Beste sein oder ganz aufgeben: In jedem Fall aber blieb er der Liebling der Mutter! Ich würde ergänzen, dass es ihm nicht erlaubt und möglich war, wirklich er selbst zu sein, mit seinen Leistungen also irgendwo in der Mitte zu liegen, denn das bedeutete Trennung. »Diese Mütter haben ihre Kin der narzisstisch hoch besetzt, können aber deren Autonomiebestrebungen nicht zulassen« (Bohleber 1987, S. 75). Dieses »aber« ist meines Erachtens nicht logisch, ein »und« passte für diese die Trennung behin dernden Mütter besser, es sei denn, man ergänzt folgendermaßen: Die Mütter wollen ihre Kinder großartig, aber das soll für sie selbst sein, das Kind soll es nicht für sich verwenden können. Philip Roth (1967; Hervorhebung original) lässt seinen Helden Portnoy zu seinem Analytiker sagen:
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»Doktor Spielvogel, nichts wird dadurch leichter, daß man jemandem die Schuld in die Schuhe schiebt – andere anschuldigen ist ein Krankheitssymptom, ich weiß, ich weiß, – aber trotzdem: Was ist es denn bloß, was, das diese jüdischen Eltern dazu befähigt, uns kleine jüdische Jungen einerseits glauben zu machen, wir seien Prin zen, einmalig wie Einhörner, Genies, die Retter und Erlöser der Welt, die personi fizierte Perfektion, und so schön und klug wie nie Kinder zuvor, und andererseits unzulängliche, rücksichtslose, böse, hirnlose, überhebliche kleine Hosenscheißer, die keinen Dank kennen.«
Lösungsversuche Es sind manchmal Tricks zu beobachten, die entwickelt werden, um dem Widersprüchlichen der Über-Ich-Anteile: »Du sollst Bestleistun gen bringen!«, und: »Du sollst bei Vater und Mutter bleiben!« (natür lich nicht nur räumlich, sondern sie auch nicht durch größere Bildung etc. hinter sich lassen!) auszuweichen. Lea G., eine erfolgreiche Wirtschaftsprüferin, arbeitete zwar sehr effektiv, sie hatte aber immer zwei Akten unbearbeitet auf dem Schreibtisch, schob deren Bearbei tung irrationalerweise vor sich her. Nachts wachte sie mit der Angst auf, jemand könnte ihr vorwerfen, unfähig zu sein, schlechte Arbeit zu leisten. Ich sage ihr, sie dürfe nicht zu gut sein im Vergleich zu den männlichen Kollegen. Sie überträgt das auf die Psychotherapie: Sie macht sich Vorwürfe, dass sie privilegiert ist, weil sie neben der Gruppe noch Einzeltherapie hat. Gemessen daran arbeite sie nicht effek tiv genug. In der Therapie also dieselbe Dynamik: Sie befürchtet einen Vorwurf, es zu gut zu haben, schöpft einen Vorteil (im Beruf: erfolgreich sein) nicht aus, um einem Vorwurf des einen Über-Ich-Anteils zuvorzukommen. Dass sie dann aber nicht optimal arbeitet, macht sie sich wiederum zum Vorwurf, sie sei zu faul (das ist der andere Über-Ich-Anteil). – Früher hatte ihr die Mutter nie etwas zugetraut, auch nichts erwartet, auch etwa in dem Sinne: »Du heiratest ja doch.« Und das, obwohl sie stets gute Schulleistungen vorzuweisen hatte. Der Bruder dagegen war immer schlecht in der Schule, in den Augen der Eltern würde aber selbstverständ lich einmal etwas aus ihm werden. Heute sagt die Mutter über ihn stolz: »Mein Sohn, der Landesrat!«, während sie gar nicht begreifen kann, dass die Tochter viel erfolgreicher und die Tochter diejenige ist, die ihre Familie ernährt.
Die zwei unbearbeiteten Akten dieser Patientin scheinen etwas Magi sches zu haben, sie scheinen dieselbe Funktion zu besitzen wie die Fehler, die manche Moslems absichtlich in das Muster ihrer Teppiche knüpfen, denn nur Allah stehe es zu, etwas vollständig Perfektes zu schaffen. Frau G. könnte ihrem entsprechenden Über-Ich sagen: »Ich bin doch gar nicht perfekt, ich habe da noch unbewältigte Akten!« Andererseits verfolgt sie ein anderes Über-Ich im Traum, das uner bittlich Höchstleistungen fordert. Ähnlich empfindet Olivia L., deren Mutter sie mit der Senilität des Vaters gestört hatte, alle Lebensberei che wie Beziehung, ihren Job, die Diplomarbeit und auch die Thera pie als nur vorläufig, sie könnte jederzeit der terroristisch Hilfe for dernden Mutter sagen: »Beruhige dich, alle diese Bereiche sind doch
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nur vorläufig, nichts ist das Eigentliche, ich bleib’ doch bei dir und Papa.« So kann man auch eine Schreibhemmung aus Arbeitsstörung überwinden, indem man sich sagt: »Ich schreib’ es erst mal hin, es muss ja doch noch verändert werden.« In diesem Sinne hatte sich ein Doktorand ein Schild über den Schreibtisch gehängt mit dem Satz: »Schreib! Egal was!« Da ist der Computer hilfreich, nie konnte man sich so leicht sagen: »Fang einfach an, man kann es ja leicht löschen oder verändern.« Einmal hingeschrieben, sieht es am nächsten Tag vielleicht gar nicht so schlecht aus. Ähnlich gibt es Menschen, die am besten in der Bahn lesen können, als sei es gar kein richtiges Lesen, als sei das Eigentliche die Bahnfahrt. Vor einiger Zeit erzählte man sich in Berlin von einem Psychologiepro fessor gerüchteweise, er habe eine beträchtliche Bibliothek in der Toi lette seiner Wohnung eingerichtet, weil er dort am besten lesen könne, zwei Dinge gleichzeitig erledigend. Und manche Psychotherapeuten überwinden ihren Widerstand gegen das Anfertigen von Krankenkassenanträgen am besten, indem sie sie in unverhofft ausgefallenen Sit zungen schreiben.
Prüfungsangst Um zur Prüfungsangst überzuleiten, möchte ich zwei Typen von Gym nasiasten vorschlagen, den des arbeitsgestörten und den des prüfungsängstlichen. Der Arbeitsgestörte leidet während der ganzen Schulzeit, denn er kann keine Hausaufgaben machen. Wenn er Glück hat, kann er sie schnell vor dem Unterricht von jemandem abschreiben, voller Angst, erwischt zu werden. Überhaupt hat er ständig Angst, vor den Lehrern, vor den Klassenarbeiten, vielleicht am meisten vor umfangreichen Hausaufsätzen, die er hasst. Die Angst hängt nur zum Teil mit der stän dig bewusst erwarteten Bloßstellung und Bestrafung zusammen, viel mehr auch besonders mit der unbewussten Wut, derart fremdbestimmt, wie er es erlebt, das tun zu müssen, was die Erwachsenen von ihm for dern. Mit Ach und Krach übersteht der Arme die Jahre, vor dem Abitur wiegen die Lehrer bedenklich den Kopf, ob er es denn schaffe, wun dern sich aber sehr, dass er in den Abiturklausuren um durchschnitt lich eine Note besser abschneidet, als man aufgrund seiner bisherigen Leistungen erwarten konnte. Es ist, als ob sein Unbewusstes ihn zu Höchstleistungen anspornt, etwa in dem Tenor: »Bloß nicht noch ein Jahr in dieser Strafanstalt, tu alles, um hier herauszukommen!« Ganz anders der prüfungsängstliche Gymnasiast. Er erfreut sich
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bester Beliebtheit während der ganzen Schulzeit, hat immer Zensuren weit oberhalb des Durchschnitts, jeder kennt ihn, er ist stets bereit, Ämter und zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, zumal ihm die Haus aufgaben leicht von der Hand gehen. Ohne Angst kann er auch stets freundlich und heiter sein – bis das Abitur naht; die Stimmung ver fällt, ungewohnte Furcht entsteht, die Leistungen fallen leicht ab, die Lehrer wundern sich, denn die Abiturklausuren liegen im Durchschnitt im Ergebnis eine Note schlechter, als man erwartet hatte. Wenn unser bisheriger Musterschüler nicht schon vorher unter einem Vorwand die Schule verlassen hat, besteht er das Abitur mit für seine Verhältnisse mäßigen Ergebnissen. Man versteht leicht, dass bei diesem Typ die guten Leistungen vor her eine Verbindung mit den Erwachsenen herstellten, während gute Leistungen im Abitur gerade eine Trennung von ihnen bewirken wür den. Umge kehrt waren für den arbeitsgestörten Gym na sia sten die schlechten Noten ein Protest, eine Opposition gegen die Erwachsenen (allerdings auch eine Verbindung!), während die guten im Abitur eine Befreiung von ihnen bedeuteten. Sieht man sich das weitere Schicksal unserer beiden Gymnasia sten an, so kehren sich die Verhältnisse geradezu um. Der vordem Arbeitsgestörte stürzt sich in sein selbstgewähltes Studium – falls der Numerus clausus ihn nicht zu längerer Wartezeit verurteilt – mit dem Gefühl, endlich frei und selbstbestimmt zu sein. Ohne Mühe ist es nun an ihm, Bestleistungen zu bringen; wo andere sich mithilfe eines schmalen Kompendiums zur Prüfung vorbereiten, studiert er mehrere dicke Wälzer, nicht um für die Prüfung und die Prüfer, sondern endlich für sich selbst zu arbeiten. Das Studium schließt er ab, sobald das möglich ist. Der damalige Musterschüler dagegen ist nun weniger glücklich, zwar bekommt er gleich einen Studienplatz, ist aber unsicher, ob es das richtige Fach ist, wechselt es vielleicht nach zwei Semestern, kann sein Studium nicht organisieren und schiebt die Prüfungen endlos auf, er entwickelt sich zu einem »ewigen Studenten«, der sich scheut, selbst ständig und erwachsen zu werden. Moeller (1969b, S. 727) spricht in diesem Zusammenhang vom »Sozialadoleszenten«, der aus Angst vor Verantwortung keinen Abschluss machen kann. Es geht also um den Unterschied zwischen »Schule« als Ausdruck der Identität als Kind, das mit den Erwachsenen konform geht, und »Leben«, das Autonomie fordert. (»Non scholae sed vitae discimus.«) Auch Stengel (1938, S. 104) spricht über die Beziehung zwischen Prüfung und Leben:
232 Schuldgefühl »Der Durchgefallene sagt von sich: ›Es kommt nicht auf die Prüfung an, son dern auf das, was man im Leben leistet.‹ Von manchem Musterstudenten sagt man geringschätzig: ›Na ja, bei der Prüfung geht es tadellos, aber ob es im Leben drau ßen gehen wird, wird sich erst zeigen.‹ … Wenn ein oftmals Durchgefallener im Leben draußen erfolgreich ist, dann redet er gern und oft davon, wie sehr er sich in der Prüfung blamiert hat. Und man zeigt mit Fingern auf den ehemaligen Studen ten, der jede Prüfung bestanden, aber im Leben versagt hat.«
Eine gewisse Parallele zu meinen beiden Typen fand ich auch bei Erikson (1958, S. 43), der »Menschen, die sich ziemlich schmerzlos in das Ideengut ihrer Zeit fügen und keinen Widerspruch sehen zwischen dessen Formulierung von Vergangenheit und Zukunft und der tägli chen Gegenwart ihrer Umwelt«, anderen gegenüberstellt, »kranke[n] Seelen und zwiespältige[n] Persönlichkeiten …, die nach einer zweiten Geburt verlangen, nach einer Wachstumskrise, die sie im bisherigen Zentrum ihrer persönlichen Kraft verwandelt«. Die so stabil erschei nenden Menschen dürften eine Art Rückhalt im sozialen und gesell schaftlichen System haben, mit dem sie sich identifizieren und in das sie sich eingebettet fühlen, während die anderen sich auflehnen und noch auf der Suche sind, bis sie ihr System, ihren Ort gefunden haben. Für den Fall des Jugendlichen, also auch des Gymnasiasten, halte ich den ruhigen, glücklich erscheinenden Typ eher für fragwürdig als den um seine Identität und seinen sozialen Ort ringenden, denn wie sich bereits im Studium zeigt, ist dieser eher in der Lage, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, während jener die Sicherheit und den Halt, die ihm die Erwachsenenwelt gegeben hatte, in die er sich rei bungslos hatte einfügen können, verloren hat. Kommen wir nun zur Prüfung selbst, der wiederum Eltern, Partner und der Prüfling selbst bzw. seine Über-Ich-Anteile zwiespältig gegen überstehen. Eine Musikstudentin, Lucia F., kaum fähig zu üben (Arbeitsstörung) oder Prüfun gen zu absolvieren, hat folgenden Traum: Sie ist zu Hause bei den Eltern und macht sich auf den Weg zu einem Konzert, das sie geben soll. Sie ist schon spät dran, die Eltern wollen mitkommen, sie ziehen sich noch um und werden und werden damit nicht fertig. Sie ist in höchsten Nöten, weil sie die Eltern mitnehmen soll und nicht loskommt. Dann geht sie trotzdem allein, die Familie schimpft heftig. Sie fährt mit dem Auto auf einer breiten, vierspurigen Straße ziemlich schnell zum Konzert. Plötzlich ist ein Polizeiwagen hinter ihr, und sie denkt: »Um Gottes wil len, die können mich festnehmen!« – Ein Konzert ist für eine Musikstudentin wie eine Prüfung; die Eltern im Traum scheinen zwar einverstanden mit dem Erfolg der Tochter, ziehen dann aber doch nicht mit, sodass sie allein gehen muss. Das aber ist verboten und steht unter Strafe, die Über-Ich-Polizei will verhindern, dass sie ihr Konzert gibt, also als selbstständige, erwachsene Musikerin an die Öffent lichkeit tritt.
Dritte Gruppe der Schuldgefühle: Trennungsschuldgefühl
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Andere Elternfiguren sind wiederum, wie bei den Arbeitsstörungen, zwiespältig. Als Lydia S. vor dem Abitur stand, machte ihr die Mutter ständig heftige Vorwürfe, tobte und schrie, sie arbeite zuwenig, sie habe doch eine Verantwortung, die Fami lie könne nicht noch ein weiteres Jahr für sie aufkommen. Kurz vor den Prüfungen aber kam die Mutter ständig in ihr Zimmer und erzählte endlos, was sie gerade Interessantes im Radio gehört habe. Die Patientin hat es auch nicht ausgehalten, etwas Neues zu lernen, ohne die Mutter daran teilhaben zu lassen. Sie hat ihr das gerade Gelernte berichtet, damit sie etwas Gemeinsames haben würden und nicht zu sehr getrennt wären.
Es war also deutlich eine beidseitige Schwächung der Selbst-ObjektGrenzen erkennbar; angesichts der bevorstehenden Prüfung konnten weder Mutter noch Tochter ihre Bereiche voneinander abgegrenzt hal ten.
Ähnlich schimpfte die Mutter einer jugendlichen essgestörten Patientin, die Toch ter täte nicht genug für das Abitur, um aber bei jeder Gelegenheit die Tochter bei den Vorbereitungen zu stören, indem sie sie zu Hausarbeiten anhielt: »Ich denk’ doch nicht daran, deinen Dreck wegzuräumen …!« – Ein sehr schizoider Medizin student erinnerte sich in der Therapie, dass er eines Abends über der Vorbereitung für die mündliche Abiturprüfung saß, als plötzlich das Licht erlosch. Irritiert ver ließ er sein Zimmer, um auf die heimgekehrten, tobenden Eltern zu treffen, die die Sicherungen herausgedreht hatten und ihn anschrien, wie er das Licht im Wohn zimmer habe brennen lassen können, er müsse es ja nicht bezahlen …
Einerseits fordern die Eltern Leistungen, andererseits sabotieren sie sie. Manchmal mit verteilten Rollen, wie eine Patientin (Regine G.) es im Traum darstellt: Die Familie muss eine hohe Mauer überwinden, die anderen trauen sich nicht hin über, die Patientin geht voran. Die Mauer ist sehr hoch, es ist schwierig hinüber zukommen. Die Patientin muss Rücksicht auf die Mutter nehmen. Der Vater steht dabei und stoppt ihre Zeit; mäkelt herum, sie würden angeblich zu lange brauchen. Der Bruder sitzt auf der Mauer.
Eine Szene aus einer anderen Therapie (Lara C.): Die Mutter erkundigt sich nach dem Studium der Tochter: »Hast du den Anatomieschein?« – »Ja.« – »Auch den Chemieschein etwa?« – »Ja, ich hab’ mich zum Physikum angemeldet.« – »Ach, wirklich?« – Vorher hat die Mutter zu Bekannten gesagt: »Nein, meine Tochter meldet sich nicht an, nein, das schafft sie nicht.« Sie hat auch etwas gegen den Freund der Tochter, sie meint, sie könne nichts lernen, wenn sie mit ihm zusammen sei. Tatsächlich erlebt die Mutter die Beziehung der Tochter und den Fortschritt im Studium als einen feindlichen Akt, sie will, dass die Tochter bei ihr bleibt, denn die Kinder sind doch ihr Lebenswerk! Deshalb ist die Prüfungsangst hier auch eine Angst, gegen die Mutter derart aggressiv zu sein,
234 Schuldgefühl wie es die Mutter ja tatsächlich erlebt. Die Mutter hat immer Streit angefangen, wenn die Patientin vor einer Prüfung stand, ausgerechnet in dem Moment hat sie gedroht, ihr das Geld für die Miete nicht weiter zu zahlen.
Die Ambivalenz einer Mutter zeigt sich auch im folgenden Beispiel: Lisbetta V., eine Kunststudentin, weint und weint am Anfang einer Sitzung – die Eröffnung einer Ausstellung, auf der ihre Bilder gezeigt wurden, ist sehr gut verlaufen. Sie hatte der Mutter eine Einladung geschickt; und die Mutter rief an und fragte, ob die Tochter da überhaupt mitmache – obwohl deren Name auf der Einladung groß abgedruckt ist. Dann sagt die Mutter, es wäre so aufwendig, da hinzukommen; ein Bekannter könne sie zwar mit dem Auto hinbringen, aber die »jungen Leute« würden so riskant fahren, das sei zu gefährlich, sie käme dann lie ber ein andermal zu der Ausstellung … Die Mutter hat also Schwierigkeiten, den Erfolg der Tochter wahrzuhaben, obwohl sie gerade in den letzten Monaten stän dig gesagt hat: »Wann erreichst du denn mal was, du arbeitest soviel, und nie sieht man einen Erfolg …« Jetzt ruft sie nach der Ausstellungseröffnung wieder an: »War’s denn ein Erfolg, hat es sich denn nun gelohnt? Vielleicht wär’ ich doch besser gekommen, aber ich wollte die jungen Leute nicht stören …« Dabei waren rund 300 Besucher verschiedensten Alters zur Eröffnung gekommen, das Fernse hen war dabei, Kunsthistoriker kamen angereist … Die Mutter ist offenbar aggres siv und neidisch auf den Erfolg der »jungen Leute«, die ihr die Tochter wegneh men.
Da die Prüfung soviel offene Angst – und weniger sichtbare Schuldge fühle – hervorruft, sind auch hier wie bei der Arbeitsstörung Ausweich manöver zu beobachten. Die Musikstudentin, Lucia F., von der bereits die Rede war, kam einmal (nach langer Zeit) in ihre Hochschule, um etwas im Sekretariat zu erledigen, und sah zufällig einen Aushang, dass gleich eine Prüfung abgehalten würde. Sie nahm kurz ent schlos sen daran teil, ohne sich im gering sten vor be rei tet zu haben, und bestand sie. Sie triumphierte, als ob sie ein verbietendes Über-Ich überlistet hätte. Einem Patienten, Felix R., wurde während des Studiums bei jedem Examen und später jedem Vortrag extrem schwindlig, oft wurde er auch ohnmächtig. Der Beste zu sein, ehrgeizig zu sein war einerseits sehr wichtig; es zu erreichen, war ihm andererseits verboten. Als Ausweg legte er sich zurecht: Nicht sein Ehrgeiz, seine Fähigkeiten und Anstrengungen, sondern die Götter sind verantwortlich für sei nen Erfolg. »Unverschuldet bin ich Liebling der Götter.« Oder er stellte sich vor, er sei eine Art Hofnarr, der alles sagen kann, weil er keine Verantwortung hat. Er weicht aus in eine liebenswerte Verantwortungslosigkeit, ist auch manchmal etwas rebellisch; er begreift gar nicht richtig, dass er schon Anfang vierzig ist und bereits Studienrat …
Die Prüfung selbst macht Angst, durchzufallen natürlich; aber auch, sie zu bestehen, das heißt, sich von der vorigen Identität zu trennen und
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die Zeit danach, die Veränderung zu einer unbekannten Identität, ist das Ängstigende. Aus einer therapeutischen Gruppe, deren Teilnehmer überwiegend Studenten waren: Diana J. weint, sie wisse nicht, wie sie nach dem 6. Januar leben solle, dem Tag der Abgabe ihrer Diplomarbeit. Sie bekomme totale Panik, wenn sie daran denke, ein Gefühl von Leere, dann nichts mit sich anfangen zu können. Sie quäle sich jetzt jeden Tag, schaffe aber doch immer etwas, sodass es durchaus noch möglich sei, die Arbeit zu beenden. Könnte sie jetzt alles hinschmeißen, wäre sie ganz ruhig. Natürlich habe sie auch etwas Angst, durchzufallen, aber eigentlich sei sie sicher, dass sie mindestens eine Vier bekommt. Darauf sagt Renate A.: Sie habe auch gerade eine Prüfung gemacht, wann war es doch gleich, ach ja, gerade gestern, es käme ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie hatte sich intensiv vorbereitet, damit sie recht zeitig fertig würde, nur die Überarbeitung und den Schluss hatte sie fast zu lange aufgeschoben, sie musste dann voller Panik in der Nacht vor der Prüfung alles fertig machen. In der Prüfung selbst konnte sie gut und frei reden, der Prüfer fragte nicht viel; sie konnte es gar nicht fassen, dass sie bestanden hatte. Sie irrte danach durch die leeren Flure der Hochschule. Wenn sie an die allerletzte Prüfung des Studiums denke, werde ihr ganz schlecht, sie könne sich das Leben danach, »das Leben nach dem Tode«(!), wie sie sagt, nicht vorstellen. In der Nacht nach der Prüfung sei sie aus einem Traum aufgeschreckt und habe hemmungslos geweint. Im Traum sollte sie einen neuen Personalausweis bekommen (wie man ihn jetzt hat, fälschungssicher, in dem das Lichtbild real so mit Einschnitten versehen wird, dass man es zur Fälschung nicht verwenden kann), sie wehrte sich mit allen Kräften dagegen. Denn ihr Passbild wurde verändert, in einzelne Segmente zerschnitten, das fände sie furchtbar, als ob man sie zerstören, sie auflösen würde. – Die Prüfung, die eine neue Identität verleiht, wird als Bedrohung, Tod und Auflösung erlebt; nach der Prüfung bleibe nichts als die Leere.
Manchmal taucht die Idee auf, nach dem Abschluss einfach noch ein Studium dranzuhängen, so wird aus einem Sozialarbeiter ein Philo sophie- oder Kunststudent. Oder jemand denkt daran, den Abschluss gar nicht zu machen, er habe dann zwar keinen Schein, aber doch die Fähigkeiten …
Prüfung als Tod und Geburt Die Prüfung lässt die Identität, die vorher bestand, untergehen. Eine Abschlussprüfung lässt das Kind, den Studenten sterben. Gleichzeitig entsteht aber eine neue Identität bzw. wird der Weg freigegeben zu ihrer Entwicklung. (Das gilt übrigens auch für die Eltern, die ihr Leben und ihr Identitätsgefühl neu entwickeln müssen, wenn die erwachse nen Kinder das Haus verlassen.) Dadurch erhält eine solche Prüfung den Charakter der Initiation – in unserer ent-ritualisierten Gesellschaft scheinen mir die Prüfungen auf dem Wege der beruflichen Entwick
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lung inzwischen die wichtigsten Initiationsriten zu sein. In diesem Zusammenhang kommt dem Prüfer als Vaterfigur, der einerseits mit Kastration droht, andererseits ein Begleiter, ein Beschützer auf dem Weg, dem Übergang der Initiation sein soll, eine besondere Bedeutung zu. (Die Figur Sarastros in Mozarts Zauberflöte ist eine solche dop pelt charakterisierte Vaterfigur.) Der Psychologie des Prüfers ist übri gens Stengel (1938) nachgegangen, der sowohl die Prüfung mit den »Pubertätsriten« der Naturvölker als auch die Prüfer mit den Vätern eines solchen Stammes verglichen hat. Letztere zeichnen sich aus durch eine »Mischung von Feindseligkeits- und Freundschaftsbewei sen« (Stengel 1938, S. 92). Eine Ambivalenz der heranwachsenden konkurrierenden Generation gegenüber jedenfalls attestiert Stengel sowohl den Vätern bei den Naturvölkern als auch den Prüfern in unse ren Breiten. Reste derartiger durchaus schmerzhafter Initiationsriten, die oft genug auch symbolisch für eine Kastration stehen, finden sich im Ritterschlag und in der Ohrfeige, die den Lehrling zum Gesellen macht (zu entsprechenden noch weitverbreiteten akademischen Riten vgl. Prahl 1974). Übrigens fordert die Trennung der Jugendlichen auch von den Eltern eine (oft gefürchtete) Veränderung. »Denn jeder Trennungsschritt des Kindes bringt auch die Eltern einen Schritt voran auf dem Weg zum Ende ihres Lebens. In diesem Zusammenhang fand ich es sehr interessant, dass der Schritt zum Erwachsenwerden unter Umständen die ritualisierte Einwilligung der Eltern voraussetzt, wie van Gennep (1909/1999, S. 87) berichtet: ›Bei den Massai in Kenia aber kann ein Junge bzw. ein Mädchen erst dann beschnitten werden, wenn sein Vater die Zeremonie »Überschreiten des Zaunes« vollzogen hat, durch die er zum Ausdruck bringt, dass er den neuen Status eines alten Mannes akzeptiert, der von nun an »Vater von … (Name des Kindes)« genannt wird,‹ d. h. einen neuen Namen als Ausdruck einer neuen Identität bekommen hat« (Hirsch 2004, S. 374). Manche Jugendliche sind seltsam begierig, Kleidungsstücke ihrer Eltern oder ande rer Erwach se ner anzu zie hen, offen bar soll magisch-identifikatorisch ein Erwachsenen-Stoff auf sie übergehen. Eine Patientin erinnerte sich, während sämtlicher schriftlicher und mündlicher Abiturprüfungen die Pudelmütze ihres Vaters auf dem Kopf getragen zu haben; die verständigen Lehrer ließen sie gewähren. Andererseits kann der Prüfer als eine rächende Vaterfigur erlebt werden, wie auch die Prüfung als feindlicher Unterwerfungsritus. Für Zilly C. bedeutet die Prüfung etwas Doppeltes, sie scheint eine For derung zu sein, sich noch einmal zu unterwerfen unter die Universität als Autorität, wie ein Initiationsritus, eine symbolische Kastration, um
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sich dann sowohl vom Kindsein lösen zu können als auch als Erwach sene in eben dieselbe Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Frau C. will die Unterwerfung nicht, aber gerade dadurch bleibt sie weiter abhängig. (Übrigens erfordert der Ödipus-Komplex ebenso eine identifikatorische Unterwerfung unter das väterliche Gebot, damit danach erst eine relativ größere individuelle Unabhängigkeit erreicht wer den kann. Unterwirft man sich nicht, als »Anti-Ödipus«, bleibt man [gegen-] abhängig.) Die Angst vor der Prüfung kann schließlich auch als Angst vor dem Prüfer erlebt werden. Wenn jemand seine Prüfung oder die Abschluss arbeit lange hinausgeschoben hat, entwickelt er eine Angst vor dem Prüfer. Es ist die Angst, dass er sagen könnte: »Was fällt Ihnen ein, nach so vielen Semestern wagen Sie es noch herzukommen?« Das heißt aber, dass die Angst dazu führt, dass es noch mehr Semester werden. Scheinbar will der phantasierte Professor, dass der Kandidat die Prü fung schnell macht, schon längst gemacht haben sollte; in Wirklich keit verhindert dieses Phantasiebild aber durch die mit ihm verbun dene Feindseligkeit, dass die Prüfung überhaupt gemacht wird bzw. die Arbeit vorangeht, sodass es an die Stelle entsprechend ambivalenter Eltern tritt.
Das hypochondrische Prinzip »Ich hab’ schon gedacht mit dem Krebs, daß, wenn ich ihn hätte, ich wenigstens wüßte, woran ich bin!« Bianca H., 21.12.95, vor der Weihnachtspause
Die Hypochondrie tritt stets in Schwellensituationen auf (Hirsch 1989a), die immer auch Trennungssituationen sind. Man kann das hypochondrische Symptom als Ausweg verstehen aus einem Kon flikt gegensätzlicher Bestrebungen, die unvereinbar sind: die Schwelle überschreiten und gleichzeitig zurückbleiben wollen. Da dieser Auto nomie-Abhängigkeitskonflikt bewusstseinsunfähig ist, kann er nicht gelöst werden; der Hypochonder braucht das Bewusstsein von sich, dass er Fortschritte will, die neue Identität begrüßen würde, gesund sein will. Dass er sie nicht erreichen kann, hat in seinem Bewusstsein nichts mit Trennungsangst und -schuldgefühl zu tun, sondern liegt einzig und allein an der für ernsthaft, oft lebensbedrohlich gehaltenen Krankheit. Er braucht die Krankheit, um seinem Ideal-Ich, das Fortschritte fordert, treu zu bleiben, deshalb sagt er: »Ich könnte ja (z. B. die neue Stelle
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annehmen, das Haus bauen), aber die Krankheit …« Oder typischer weise: »Gerade jetzt, wo alles so gut laufen könnte, habe ich Krebs …« Wegen der Krankheit muss der Hypochonder »dableiben«, wäre diese nicht, könnte er selbstverständlich »gehen«. Schuldgefühle wegen des Gehen-Wollens werden im gleichen Atemzug durch die Krankheit bestraft. Hypochondrische Ängste stellen sich dementsprechend häu fig in Prüfungssituationen ein. Olivia L. hat sexuellen Kontakt mit einem Mann, den sie gerade kennengelernt hat. Es entsteht die Angst, HIV-infiziert sein zu können, diese Angst macht sie jetzt natürlich völlig arbeitsunfähig. Sicherheit durch einen Test zu erlangen ist erst in zwei Monaten möglich, die Abschlussarbeit muss sie aber in drei Wochen abgeben. Fast bewusst setzt Frau L. die hypochondrische Angst ein, um ihre Arbeitsstörung zu begründen. Im Beispiel von Lisbetta V., der Kunststudentin, stellen die »jungen Leute«, die mit dem Erfolg der Tochter verbunden sind, eine »Lebensgefahr« für die Mutter dar. Als ob die Tochter ihren Erfolg unbewusst als Mord an der Mutter bzw. an sich selbst als Kind der Mutter verstand, entwickelte sie hypochondrische Phantasien, die sich gegen ihren Körper und ihr Leben richteten: Sie entwickelte eine Panik, dass sich durch einen Mückenstich »Killerbakterien« Zugang in ihr Körperinneres verschafft hätten, sie würde in zehn Tagen sterben. Ein Kribbeln im Zeh interpre tierte sie als Symptomatik von multipler Sklerose … »Ich habe gedacht, ich hätte so viel für die Ausstellung geackert, dass die Bakterien ein leichtes Spiel mit mir hätten …« Eine Patientin, Thekla J., besucht das Abendgymnasium und hat leider dort die gleichen großen Schwierigkeiten wie auf dem Gymnasium damals, das sie abge brochen hatte. Es geht ihr schlecht wie lange nicht mehr. Sie hat Adern auf der Brust, woraus sie die Überzeugung ableitet, sie habe Brustkrebs. Sie hat jetzt das erste Schuljahr mit Erfolg hinter sich gebracht und ist trotz aller Schwierigkeiten versetzt worden. Ich warte auf den typischen Satz, und er kommt prompt: »Jetzt, wo ich den ganzen Schulstress hinter mir habe, muss es mir so schlecht gehen!« Sie weint; da entsteht ein Satz in ihrem Kopf: »Die bringen mich um!« Sie weiß nicht, woher der Satz kommt, sie hat ihn schon als Kind zwanghaft denken müs sen.
Wieder geht es um den Tod – Brustkrebs und Mord, als ob ein feind liches Introjekt den schulischen Erfolg rächen und bestrafen wollte. Nicht nur Krankheit wird im Sinne der Hypochondrie als Bollwerk gegen Identitätsveränderung verwendet, nach demselben Prinzip fun gieren beispielsweise auch Schwangerschaftsängste: Zilly C. wundert sich über ihre Arbeitsstörung bei der Diplomarbeit: »Wer hätte gedacht, dass mir der Abschluss so schwer fällt, wo ich doch das Studium so gewollt habe!« Dann sagt sie unvermittelt: »Mein Bauch wird immer dicker …« Sie denkt, sie könnte schwanger sein. Ich sage etwas über die Schwangerschaft,
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die erst einmal die Identität einer Frau weitgehend bestimmt, da sagt Frau C.: »Aber meine Mutter wollte doch, dass ich was werde!« Genau wie sie einerseits ja selbst auch das Studium wollte. Die Mutter war beruflich erfolgreich gewesen, auch noch nach der Heirat, erst mit der Schwangerschaft mit der Patientin hat sie ihren Beruf aufgegeben.
Die Patientin identifiziert sich mit dem Schicksal der Mutter, anstatt ihr eigenes in die Hand zu nehmen. Eine Schwangerschaft würde erst einmal den Abschluss des Studiums verhindern. Eine andere Patientin hatte ein ganzes Arsenal von Phantasiebereichen zur Verfügung, die sie wie ein hypochondrisches Symptom ein setzen konnte: Babette K. war ihre Arbeitsstelle gekündigt worden, und sie verbrachte ein halbes Jahr der Analyse mit einem ständigen zwanghaften Grübeln über die Arbeitslo sigkeit, die sie verunsicherte; sie kümmerte sich aber keineswegs um eine neue Stelle. Dann war es wieder die Kinderlosigkeit, die all ihr Denken ausfüllte (als dann eine Schwangerschaft eintrat, kam sie zur unpassenden Zeit und wurde abge brochen …), dann war es das Körpergewicht, um das alle Gedanken kreisten. Als sie endlich eine passende, noch dazu hochdotierte Stelle bekam, entwickelte sie die Befürchtung, dass sie nicht qualifiziert genug sei, die Stelle wieder verlieren würde und endgültig verarmen müsste – auch ein Thema, an dem sie sich festbiss. In einer Sitzung jammerte sie: »Mein Kater ist krank, auch die Oma ist im Kranken haus, wie können die sterben wollen! Gerade jetzt, wo sich alles so gut entwickeln könnte mit der neuen Arbeit!« Es stellt sich heraus, dass sie panische Angst hat, durch den Tod von allen verlassen zu werden, vom Kater, der Großmutter, vom Partner, und sie nichts dagegen tun könne. »Nur wenn ich mich selbst umbringe, kann ich was machen!«
Im Grunde beantwortet die Patientin die Übernahme der neuen, einer seits ersehnten, optimalen Arbeitsstelle mit der Angst, zu verarmen und von den Liebesobjekten (zur Strafe für das eigene Fortbewegen entsprechend eines Trennungsschuldgefühls) verlassen zu werden, und gelangt schließlich zu der Idee, sich selbst umzubringen: genau wie der Suizidant, der scheinbar paradox gerade nach der sehr gut bestandenen Prüfung seinem Leben ein Ende macht. Ebenso paradox erscheint es auch, dass der Hypochonder auf die Botschaft des Arztes: »Sie können ganz beruhigt sein, Sie sind kerngesund!« nicht mit Erleichterung, son dern mit ärgerlichem Unglauben reagiert, sicher sei etwas falsch unter sucht worden, da müsse doch was sein. Frau K. hat ihre Hypochondrie auf den Kater ausgedehnt. Als sich kein pathologischer Befund ergab, sagte sie: »Eigentlich müsste ich froh sein, aber vielleicht ist es ein Irr tum, der Test könnte irgendwie schiefgelaufen sein!« Auch die Zweifel an der geschlechtlichen Identität können im Sinne der Hypochondrie eingesetzt werden, um Identitätsschritte zu verhin dern.
240 Schuldgefühl Die Musikstudentin, Lucie F., hatte große Probleme, längere Beziehungen ein zugehen. Sie verbrachte viel Zeit mit Überlegungen, ob sie homo- oder hetero sexuell sei. Nach jeweils langem Grübeln ging sie in entsprechende Szenelokale oder setzte Kontaktanzeigen in die Zeitung, ging zu den nachfolgenden Verab redungen oder auch nicht – anstatt sich um ihre Prüfungen zu kümmern und um Kontakte zu Menschen welchen Geschlechts auch immer. Während all der Jahre der Therapie hatte sie sich dreimal verliebt, in einen älteren verheirateten Mann, den sie auf einer Reise kennengelernt hatte, dann heftig und unglücklich in ihren idealisierten Lehrer und schließlich in einen Kommilitonen, der an ihr nicht inter essiert war.
Hypochondrie und Prüfungsangst folgen demselben Gesetz: Sie ver hindern einen Fortschritt und lassen den Betroffenen doch den Glau ben, dass er liebend gern weiterkommen möchte. Der Hypochonder denkt: »Es könnte alles so schön sein, wenn ich gesund wäre!« Der Prüfungsängstliche: »Wenn ich doch nur erst die Prüfung bestanden hätte!« Beide übersehen, da sie die Symptome brauchen, dass sie die Freiheit gerade fürchten, die Gesundheit und bestandene Prüfung bie ten. Man kann übrigens leicht entsprechend widersprüchliche Einstel lungen der dazugehörenden Eltern konstruieren. Die Mutter des Hypo chonders sagt: »Ich will doch nur, dass du gesund bist!« Und reguliert ständig intrusiv mit dem Klistier die Verdauungsfunktionen des Kin des. Der Vater des arbeitsgestörten Kindes sagt: »Ich will nur dein Bestes, dass aus dir was wird!«, und versucht, ihm den Stoff mit dem Rohrstock einzutrichtern.
Autofahren und Führerschein Für viele Jugendliche ist wohl noch immer das Autofahren das Symbol schlechthin für selbstbestimmtes Fortbewegen, für Freiheit und Unge bundenheit. Und deshalb wird es auch zuweilen mit Angst und Schuld gefühl verbunden sein; das Fortbewegen wird als Gefahr gesehen wie bei den Verkehrsmittelphobien im allgemeinen; die Angst, Auto zu fahren, enthält die Angst, dann grenzenlos so weit fahren zu können, dass man alle Menschen hinter sich lassen würde. Im Rheinland unter scheidet man streng zwischen links- und rechtsrheinisch, und besonders für den, der linksrheinisch aufgewachsen ist, hat die Rheinüberquerung einen hohen Symbolwert, der sich gegebenenfalls auch auf die Therapie erstreckt, wenn die Praxis des Therapeuten auf der anderen Rheinseite liegt. Eine Patientin träumte einmal, sie sei auf dem Weg zur Therapie, habe aber vor der Rheinbrücke endlos warten müssen, da eine Ampel auf Rot geschaltet war. – Eine andere Patientin träumte, sie sei im Auto über
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den Rhein gefahren, mitten auf der Brücke sei das Auto explodiert … Felix R., der Studienrat, nannte einmal die Angst vor dem Leben, Prüfungsangst und die Angst vor dem Autofahren in einem Atemzug. Ich verdichtete diese For men der Angst: Als ob man mit dem Auto zur Prüfung fahren würde und einen tödlichen Unfall erlitte. Da entgegnet er: »Im Grunde ist es die Angst, erwachsen zu werden. Früher habe ich oft zu mir gesagt, du bleibst besser ein Kind. Eigentlich geht es um die Angst, allein zu sein und sterben zu müssen.«
Aber es geht nicht nur um das Wegfahren-Können, es geht wieder um etwas Doppeltes. Nicht aus reiner Uneigennützigkeit bezahlen Eltern ihren gerade erwachsenen Kindern den Führerschein oder schenken ihnen ein Auto, sondern weil sie damit rechnen, dass die Kinder um so eher einmal wieder zu Besuch kommen werden. Eine Jugendliche, Kerstin, hat gerade ihr Abitur gemacht, sie berichtet, sie wolle eventuell studieren und dann ein kleines Auto haben. Die Eltern wollten die Hälfte dazugeben. Ich sage: »Du bezahlst die Hälfte, mit der du von ihnen wegfährst, die Eltern bezahlen die Hälfte, mit der du zu ihnen hinfährst!«
Ein anderes kleines Beispiel zeigt, dass der Führerschein allein keines wegs Freiheit bedeutet: Britta G.-S. hatte in drei Jahren Gruppenpsychotherapie einige Symptome in den Griff bekommen und vor allem die Ehe sozusagen retten können. Nur den Füh rerschein habe sie nicht geschafft, wie sie in der letzten Sitzung sagte. Auch das gelang ihr noch, wie die Gruppe nach einigen Monaten durch eine Postkarte – ver bunden mit Dank – erfuhr. Nach ein paar weiteren Monaten kam die Patientin wieder, recht verzweifelt, denn ihre Pläne, aufs Land zu ziehen, drohten daran zu scheitern, dass sie trotz des Führerscheins nicht Auto fahren könne, denn ab und zu gerate sie in Panikzustände, lasse dann das Auto mitten auf der Kreuzung stehen und ergreife die Flucht. Noch schlimmer sei, dass sie praktisch keine Verkehrszei chen sehen könne, sie übersehe sie einfach. In einer Kurztherapie von 25 Stunden, die sich jetzt anschloss, stellte sich folgender Konflikt heraus: Frau G.-S. hatte nicht nur Angst, wegzugehen, die Eltern zu verlassen, was sie in der Phantasie am Autofahren festmachte, sie hatte im Gegenteil gleichzeitig beträchtliche Aversio nen, mithilfe des Autos zu ihnen hinfahren zu können und zu müssen.
Die Durcharbeitung dieses Konflikts zwischen ihrer Bedürftigkeit, die immer noch an die Eltern gerichtet war, und ihrer wütenden Aufleh nung gegen die von den Eltern (noch immer) geforderte Versorgung im Sinne der Rollenumkehr befreite die Patientin von ihrer dramatischen Hemmung, Auto zu fahren. Das Auto ist eben nicht nur, wie schon Alexander (1931) entdeckt hatte, ein exzellentes Mittel zur Flucht vor der Mutter, sondern auch ein Brückenobjekt, eine Verbindung zwi schen Mutter und Kind, und befördert einen unter Umständen genauso schnell zu dieser wieder zurück.
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Vierte Gruppe der Schuldgefühle: Traumatisches Schuldgefühl Das Paradox, dass das primär unschuldige Opfer – ein Kind oder ein bloß wegen seiner politischen oder religiösen Einstellung oder ethni schen Herkunft Gefangener – unter schweren Schuldgefühlen leidet, während der Täter weder Schuldgefühle hat noch irgendeine Schuld anerkennt, kann eigentlich nur mit der Tatsache aufgelöst werden, dass das Opfer den Täter lebensnotwendig braucht: das Kind seine Eltern, auch wenn sie es misshandeln und missbrauchen, und sogar – in einer archaischen Regression (Eissler 1968, S. 457) – das politische Opfer den Folterer, die erwachsene Frau den Vergewaltiger, denn die Peiniger sind die einzig Mächtigen, von denen (ausgerechnet!) eine Rettung zu erhoffen ist (s. auch S. 277). Das Opfer nimmt die Schuld auf sich – das ist sein Schuldgefühl –, um sich den Täter als Liebesobjekt zu erhalten (vgl. Teil II, S. 100 f.). Für die Extremtraumatisierung durch KZ-Haft hat Grubrich-Simitis (1979, S. 997 f.) einen regressiven Mechanismus beschrieben, der durch Rückzug auf eine orale Stufe der bloßen Selbsterhaltung und die Wendung der Libido von den äußeren Objekten auf die Selbst- und besonders Körperrepräsentanzen einen Reizschutz errichtet, sodass die ungeheure, überwältigende Gewalt das Ich nicht wirklich erreicht. Ähnlich spricht Ferenczi (1933) als Erster von einem Abschalten, einem Paralysieren des Opfers während des Akts der Gewalt. Die Gewalt kann gerade wegen ihres extremen Ausmaßes nicht realisiert und psychisch repräsentiert werden, und doch wird sie eine abgespal tene psychische Realität – sie ist lebendig tot, wird zum Introjekt. Es zu assimilieren, hieße das ganze Ausmaß zum Beispiel des KZ-Ter rors, der Folter, die Ungeheuerlichkeit des inzestuösen Missbrauchs im nachhinein zu realisieren, es an sich heranzulassen, mit Affekten von Angst und extremer Wut (Grubrich-Simitis 1979; Shengold 1979) zu verbinden, die später ebensowenig zu ertragen wären wie im Augenblick des Gewalt-Erleidens selbst. Die befürchtete Heftigkeit würde auch wiederum jede Objektbeziehung zerstören. Das Introjekt und damit die Verbindung zum Täter aufzugeben aber würde bedeu ten, das einzige (wenn auch illusionär) verfügbare Objekt zu verlieren.
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Familiäre Traumata Bei familiärer Gewalt wird besonders deutlich, dass das Realisieren der physischen oder sexuellen Vergewaltigung zwangsläufig den Verlust des notwendig benötigten positiven Elternbildes zur Folge hätte, denn die Täter sind mit den Familienobjekten identisch. Ferenczi (1933) hat aus der Notwendigkeit des Festhaltens an einem Bild der »guten« Eltern, der Täter nämlich, die charakteristische Abwehrform der Identi fikation mit dem Aggressor entwickelt (vgl. Teil II, S. 107 f.). Darüber hinaus introjiziert scheinbar paradoxerweise das Opfer die Schuldge fühle, die der Täter doch haben müsste, wie es Ferenczi (1933) ent deckt hat, oder besser, es introjiziert die Schuld des Täters, die zum Schuldgefühl des Opfers wird. Dabei ist regelmäßig eine mehrfache Traumatisierung eines in einer entsprechenden Familie aufwachsen den Kindes anzunehmen, ein zumindest zweizeitiges Trauma liegt bei einem unwillkommenen oder abgelehnten Kind (eher Vernachlässi gung) vor, das in einem späteren Kindesalter missbraucht oder miss handelt wird (vgl. Hirsch 1989b). Allgemein entsprechen oft frühere (negative und auch positive) Erfahrungen ähnlichen in späteren Ent wicklungsstufen, sodass Traumata oder auch konstruktive Beziehungs erfahrungen sich verstärkend aufeinander aufbauen; man spricht vom »telescoping« der Erfahrungen (A. Freud 1951; Kris 1956; Kohut 1971; Faimberg 1987). Eben diesen Überlagerungen entsprechen die Schichtungen verschiedener Schuldgefühlsqualitäten, einem Basisschuldgefühl (entsprechend basaler Ablehnung) wird ein traumatisches aufgepfropft (einem späteren Missbrauchstrauma entsprechend). Das folgende Fallbeispiel soll die starken Kräfte aufzeigen, die das Opfer an den Täter und seine Nachfolger in den später gewählten Part nerbeziehungen bindet, sowie die geringen Chancen einer Therapie, eine Beziehungsalternative darzustellen, wie es schon Freud (1923b) skizziert hat. Eine dreißigjährige Patientin, Franziska I., begann eine psychoanalytische Thera pie, weil sie es in der Ehe nicht aushielt, ihr Mann sei nie da, spreche kaum, sorge zwar materiell für die Familie, nehme aber keinen Kontakt mehr auf, außer dass er ständig sexuellen Verkehr fordere, zu dem sie sich verpflichtet fühle, obwohl sie es nicht wolle. Sie wisse nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen solle; die Aus bildung als Altenpflegerin habe sie abgebrochen, da sie sich für unfähig gehalten habe. Mit den beiden Kindern komme sie nicht zurecht, sie könne nicht richtig für sie da sein (wie der Ehemann für sie), sei häufig in Gedanken wie abwesend. Wenn sie dann die Kinder forderten, schlage sie auch schon einmal zu. Die Kinder seien schon in psychotherapeutischer Behandlung gewesen, aber es habe sich nichts an ihrem undisziplinierten, aggressiven Verhalten geändert. (Die Mutter schlägt; die Kinder sind aggressiv.) Das einzige, was sie wisse, sei, dass sie sich von ihrem
244 Schuldgefühl Mann trennen werde. – Die Patientin war seit der Grundschulzeit vom Vater sexuell missbraucht worden, über Jahre hinweg kam es regelmäßig zum Beischlaf, den der Vater stumm forderte; das Kind wehrte sich nicht, denn der Vater schlug bei anderen Gelegenheiten schnell einmal zu. (Der Vater schlug, die Patientin schlägt, die Kinder sind aggressiv.) Als die Patientin 16 Jahre alt war, konnte sie sich dem Vater entziehen, der sexuelle Missbrauch hörte auf. Ein Jahr später kam die Mutter bei einem Elektrounfall, der auf einer nicht fachgerecht ausgeführten Installation einer Heizung im Bad durch den Vater beruhte, ums Leben. In der Nacht nach dem Tod der Mutter hatten Vater und Tochter wieder sexuellen Ver kehr. – Die Therapie dauerte zwei Jahre. Die Patientin erwartete anfangs Hilfe bei der Trennung vom Ehemann und hoffte, dass die Symptome der Kinder – ihr Bett nässen und ihre Unangepasstheit – besser würden. In den zwei Jahren wurden alle Tatsachen bekannt, die zur Inzest-Familie und zur desolaten Ehe gehörten. Jedoch weinte die Patientin nicht ein einziges Mal. Sie sprach monoton, affektleer, sah keine Perspektive. Nach einer anfänglichen Zeit des Gefühls der Solidarität mit dem Opfer meinerseits fühlte ich mich immer wieder verraten, weil die Patientin unerwartete Aktionen inszenierte, die mich brüskierten und einen Rückschritt in die alten Verhältnisse bedeuteten. Sie schlief wieder mit ihrem Mann, obwohl sie sich vergewaltigt fühlte, sie brachte die Kinder – an ihrer Stelle sozusagen – zu einem weiteren Kindertherapeuten, ohne es mir mitzuteilen, kaufte schließlich mit ihrem Mann und den Schwiegereltern – der Vater des Ehemannes hatte übrigens seine eigene Tochter sexuell missbraucht – zusammen ein Haus. Ich selbst wurde zunehmend zu einem feindlichen Objekt, als ob ich von der Patientin fordern würde, etwas aufzugeben, was sie notwendig brauchte. Sie beendete die Therapie mit der Mitteilung, dass sie nun allein zurechtkommen wolle und mich dazu nicht brauche.
Ich denke, die Patientin hat nichts mehr gefürchtet, als das introjizierte Inzestfamilien-Objekt zu verlieren, das sie sich in ihrer Ehe externalisiert wiedergeschaffen hatte. Der Teil ihres Selbst, der sich befreien wollte, der der Weigerung der Jugendlichen entsprach, weiter mit dem Vater zu schlafen, war zu schwach. Das Aufgeben ihrer Ehe war für sie, als ob ein Kind seine Familie verlieren müsste, für die ein Ersatz nicht denkbar wäre. Stellvertretend für sich selbst brachte sie die Kin der immer wieder zum Therapeuten, als wären die Chancen, das Böse loszuwerden, in der zweiten Generation größer. Es war, als ob das Geheimnis des Inzests nicht wirklich – nämlich emotional und nicht nur als Faktum – gelüftet werden dürfte. Die Schuldgefühle der Patien tin konnten nicht bearbeitet werden, geschweige denn ihre reale Schuld wegen der mit zunehmendem Alter größer werdenden kollusiven Mit beteiligung am Inzest damals – bzw. später wegen ihres Anteils an der Ehedynamik und ihres Verhaltens den Kindern gegenüber. Da die Patientin früher in ihrer Familie nie jemanden gehabt hatte, der Zeuge des inzestuösen Traumas war, dem sie sich hätte anvertrauen können, war die Chance gering, dass die Therapie diese Funktion übernehmen würde.
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Schuldgefühlskomponenten des Inzest-Opfers Wie komplex die Schuldgefühlsdynamik des Opfers familiären sexu ellen Missbrauchs zusammengesetzt sein kann, habe ich ausführlich beschrieben (Hirsch 1987, 3. Aufl., S. 92–105). Ich möchte hier einen kurzen Überblick geben: 1. Die umfangreichste Schuldgefühlskomponente beruht auf der Intro jektion der Schuld des Täters, wie wir mehrfach ausführlich gesehen haben. Hier ist die Paradoxie begründet, dass das primärunschuldige Opfer sich schuldig fühlt, wertlos, oft lebenslang die Opferrolle perpetuiert. 2. Darüber hinaus finden sich regelrechte, einer Gehirnwäsche ähnliche Vorgehensweisen des Täters, der dem Opfer obendrein Schuldge fühle macht, seine Persönlichkeit und Körperlichkeit entwertet und sein Selbstwertgefühl aktiv erniedrigt. Man kann hier geradezu von Implantation des Schuldgefühls (nicht Implantation der Gewalt) sprechen. 3. Die eigene Sexualität wird schuldhaft erlebt, besonders wenn sie schon längst mit Strafen belegt war; die Verwirrung ist beträchtlich, wenn die Verfolgung der kindlichen Sexualität vom späteren Inzesttäter ausging. 4. Schwere Schuld ge fühle machen die eigenen Lustempfindungen bereits des Kindes bei den Missbrauchshandlungen. Da sich das Kind den eigenen Körperempfindungen ohnmächtig ausgeliefert fühlt, etwas will, das seinem Ideal-Ich zuwiderläuft, entstehen auch starke Schamgefühle. Wird der eigenen Lust nachgegeben, muss man auch von einem Anteil realer Mitschuld, einer Kollaboration sprechen, wenn auch in tragischer Verstrickung; ebenso, wenn nun in sekundärer Identifikation sexuelle missbräuchliche Handlungen Schwächeren gegenüber ausgeübt werden (vgl. Teil III, S. 277 f.). 5. Schuldgefühle entstehen durch die ödipale Komponente: Trotz des Missbrauchscharakters wird sich innerhalb der typischen InzestFamilie immer ein Bündnis von Vater und Tochter gegen die Mutter herstellen. 6. Die Rollenumkehranforderung, die für die Inzest-Familie typisch ist, macht immer Schuldgefühle, da die vom Kind übernommene Elternrolle nie ausgefüllt wird. Das erlebte Versagen (potenziert durch entsprechende Vorwürfe) macht Schuldgefühl (vgl. Teil II, S. 141 f.). 7. Das Bestre ben des Opfers, das Inzestgeschehen öffent lich zu machen, es aufzudecken, macht schwere Schuldgefühle, die teils einem Trennungsschuldgefühl entsprechen, teils aber auch – ziem lich realistisch in der Regel – auf einer vorweggenommenen Schuld
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beruhen, die Familie zu zerstören, den Vater ins Gefängnis zu brin gen. 8. Mit zunehmendem Alter kann ein Bewusstsein der adoleszenten Tochter entstehen, nun ihrerseits Macht über den (schwachen) Vater zu haben. Aggressionen, Todeswünsche können mit einem Triumph über ihn verbunden sein, gleichwohl entstehen schwere Schuldge fühle.
Verluste Verluste von Liebesobjekten können Introjekte verursachen, die Schuld gefühl erzeugen; damit wird sozusagen das verlorene Objekt, wenn auch mit negativer, vorwurfsvoller Konnotation, psychisch erhalten, das Introjekt ist ein Objektersatz. Über diesen Anteil des traumatischen Schuldgefühls hinaus lässt sich immer ein Überlebendenschuldgefühl finden. Das Überlebendenschuldgefühl haben wir eher bei Verlust von Geschwistern behandelt, da sich Geschwister sozusagen auf einer Ebene, gleichberechtigt befinden; ähnlich auch, wenn es sich um Mit gefangene handelt, die in derselben Situation sind. Zwar gibt es auch einen Überlebendenschuldgefühlsanteil beim Verlust von Eltern, zum Beispiel ödipaler Qualität, aber da es sich bei Eltern um derart eminent wichtige Beziehungspersonen handelt, scheinen mir Trennung und Verlust in ihrer traumatischen Wirkung weit zu überwiegen, sodass das resultierende Schuldgefühl überwiegend ein traumatisches ist. Aber die Trennung zwischen einer Geschwister- und der Eltern ebene bleibt künstlich. Auch Geschwister sind ja Liebes-, nicht nur Rivalitätsobjekte. Auch verlorene Geschwister müssen betrauert werden, aber noch vielmehr gilt das für die Eltern, damit sie nicht als »untote« Introjekte tot-lebendig bleiben müssen. In einer Unter suchung haben Schepker, Scherbaum und Bergmann (1995) einen Überblick gegeben über die Ansichten der Kinderanalytiker in bezug auf die Fähigkeit des Kindes in verschiedenen Entwicklungsaltern, Verluste eines Elternteils zu betrauern. Sie zitieren die klassische Arbeit von Furman (1964), der Kri te rien der opti ma len Umweltreaktionen aufstellte, die es dem Kind ermöglichen, sich seinerseits genügend zu lösen. Dazu gehören besonders das »Mit er le ben von Schmerzreaktionen der Erwach se nen im Sinne einer Identifikationsmöglichkeit …, Tole ranz der Umwelt für Aggressionsäußerungen und das Ernst neh men aller affektiven Äußerun gen« (Schepker et al. 1995, S. 264) sowie eine Begrenzung der
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durch den Verlust hervorgerufenen Angst des Kin des. Sind diese Bedingungen gegeben, nimmt Furmann an, dass ein dreieinhalbbis vierjähriges Kind in der Lage ist, adäquat und ausreichend zu trau ern. Der bemerkenswerteste Befund aus der Untersuchung von Schepker und Mitarbeitern (1995) scheint mir zu sein, dass es die Kinder, die vor dem Verlust misshandelt oder missbraucht worden waren – sei es von dem verlorenen Elternteil oder von einer anderen Bezugsperson –, um ein Vielfaches schwerer hatten zu trauern: »Die Patienten, die … Todeswünsche gegenüber dem verstorbenen Elternteil erinnern konn ten, waren alle als Kinder misshandelt worden« (S. 276). Die Autoren sehen auch den Introjekt-Aspekt durch unbetrauerten Verlust und for mulieren ihn auf ihre Weise: »Massiv traumatisierte und mißhandelte Kinder haben es per se schwer, heftige Liebes- und Haßaffekte in ihre Objektrepräsentanz eines verstorbenen Elternteils zu integrieren … Die Über-Ich-Entwicklung war bei allen unseren Patienten mit pathologischer Trauer dadurch erschwert, daß eine Identifizierung mit dem Bild eines liebevollen Elternteils kaum gelang« (S. 277).
Ein Verlust, der nicht betrauert werden kann, bewirkt also die For mierung eines Introjekts, das seinerseits nicht verlassen werden kann. Derrida (1976, S. 20) beschreibt das Paradox, dass das Tote dadurch bewahrt wird, dass es nicht assimiliert wird, und dass es lebendig bleibt, indem es tot ist. Die Trauerarbeit müsste es, um im Bild zu bleiben, wieder lebendig machen, damit es endgültig sterben kann. Die Trauer arbeit befreit Freud (1917e) zufolge den Trauernden durch schrittwei ses Überbesetzen und Wiedererinnern der Anteile des Objekts und der Beziehung zu ihm, verbunden mit dem affektiven Ausdruck der Trauer, von den Bindungen an das verlorene Objekt und macht das Ich frei für neue Objektbeziehungen. Der Melancholiker schafft das nicht, er trägt das Introjekt in sich und meint eigentlich dieses, wenn er sich voller Schuldgefühl an die Brust schlägt. Freud hat aber noch zwischen der normalen Trauer und der Melancholie eine Form der pathologischen Trauer beschrie ben, die durch den zu star ken Ambivalenzkonflikt hervorgerufen wird und die Trauerarbeit behindert. Laplanche und Pontalis (1967, S. 513) referieren für die pathologische Trauer: »Das Objekt hält sich für schuldig an dem eingetretenen Tod, verneint die sen, glaubt sich beeinflusst oder besessen von dem Verstorbenen, von einer Krankheit befallen, die dessen Tod nach sich gezogen hat etc.« Dieses »besessen von dem Verstorbenen« ist in Freuds Text nicht zu finden, passt aber vollständig zum Konzept des zurückbleibenden Introjekts als Rest des nicht aufgegebenen Objekts. Neben der Ambi valenz – die zu starke Aggression enthält – kann Torok (1968) zufolge
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auch ein unerfülltes libidinöses Verlangen verantwortlich sein für das »Aufrichten des Objekts« und die Unmöglichkeit, es aufzugeben – als müsste noch etwas an Liebe erhalten werden, bevor eine Trennung möglich ist, wie ich ergänzen möchte. Die andere Seite der Ambivalenz – übermäßige Wut – war der Grund für zwei von Giovacchini (1967) beschriebene Patienten, adäquate Trauerarbeit nicht leisten zu können, denn die freiwerdende Wut wäre überwältigend gewesen. So kam es zu einem »Einfrieren« des Introjekts, die Entwicklung stagnierte, die Patienten konnten nicht vor (das bedeutete Trennung) und nicht zurück (das hieße Auslieferung an eine feindliche Mutter-Imago).
Verlust eines Elternteils Es wer den ähn liche Zusam men hänge wie bei dem Ver lust eines Geschwisters (oder eines anderen nahen Angehörigen, zu dem eine Bezie hung bereits bestan den hatte) anzu tref fen sein, wie bereits erwähnt, aber der Unterschied liegt doch in der viel größeren Bedeu tung von Mutter oder Vater für ein Kind. Und auf den Tod von Groß eltern ist man wohl in der Regel viel besser vorbereitet, weil sie zu der Generation gehören, die dem Tod natürlicherweise näher ist. Noch einen weiteren Aspekt möchte ich vorschlagen: Das Schuld gefühl, das von dem durch ungenügende Trauer entstandenen Intro jekt hervorgerufen wird, muss irgendwie begründet werden. Die Ent wicklung des Schuldgefühls hat hier besonders eine Komponente, das Unfassbare als von jemandem (auch von demjenigen selbst) schuldhaft verursacht zu verstehen, als ob es so in seiner oder der Macht von irgend jemandem gelegen hätte, es zu vermeiden (vgl. Überlebendenschuldgefühl, Teil II, S. 201). Dazu entstehen manchmal bizarre phantasmatische Konstruktionen: Eine Patientin, Zita V., leitete ihre Schuldgefühle von folgendem Geschehen ab: Zwei Tage, bevor die schwere Krankheit begann, an der der Vater viel später dann schließlich starb, sei ihr, als sie sechs Jahre alt war, ein Feuersalamander entlaufen. Der Vater suchte ihn lange draußen und holte sich eine »Erkältung«, wie die Mutter so oft erzählt hatte. Als Kind dachte sich die Patientin, hätte sie besser auf ihren Salamander achtgegeben, wäre der Vater noch am Leben.
Auch in einem ähnlichen Beispiel Winnicotts (1958, S. 25) schiebt sich das Kind die Schuld am Tod des Vaters zu: »Ein kleines Mädchen von fünf Jahren reagierte mit einer tiefen Depression auf den Tod seines Vaters, der unter ungewöhnlichen Umständen eintrat. Der Vater hatte
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zu einer Zeit ein Auto gekauft, als das kleine Mädchen eine Phase durchmachte, in der es seinen Vater sowohl haßte als auch liebte. Es hatte tatsächlich von seinem Tod geträumt, und als der Vater einen Autoausflug vorschlug, flehte es ihn an, nicht zu fahren. Er bestand darauf, was nur natürlich war, da Kinder ja zu dieser Art von Albträumen neigen. Die Familie machte also einen Autoausflug, und sie hatten tatsächlich einen Unfall; das Auto überschlug sich, und nur das kleine Mädchen blieb unverletzt. Es ging zu seinem Vater, der auf der Straße lag und stieß ihn mit dem Fuß an, um ihn zu wecken. Aber er war tot. Ich konnte dieses Kind während seiner schweren Depression beobachten … Es stand stundenlang in meinem Zimmer … Eines Tages stieß es ganz leicht mit dem gleichen Fuß an die Wand, mit dem es den toten Vater angestoßen hatte, um ihn aufzuwecken. Ich konnte den Wunsch … in Worte fassen, ihren Vater aufzuwecken, den sie liebte, wenn sie auch dadurch, daß sie ihn mit dem Fuß stieß, zugleich Wut ausdrückte.« In einem Fall, Bianca H., war es die enttäuschte Vatersehnsucht, die die Wut des Kindes verursachte. Aber die Aggression konnte erst nach Jahren der analytischen Therapie als solche erkannt und retrospektiv erlebt werden. Die Patientin hatte gedacht, ihre Wut hätte auf magische Weise den Vater getötet, der sich getötet hatte, als sie sieben Jahre alt war. Im Grunde war es umgekehrt; sie war wütend, weil er schon vor dem Selbstmord weite Strecken psychisch tot war, für das Kind nicht zur Verfügung stand. – Eine andere Patientin, Olga N., hatte ein großes Maß an Wut auf den Vater wegen seines Alkoholismus anwachsen lassen; als er sich suizidierte, war die Patientin 15 Jahre alt.
Die Fähigkeit der umgebenden Erwachsenen, ihrerseits zu trauern, ist für die Trauerarbeit des Kindes besonders wichtig. McDougall (1989b, S. 208; Übersetzung M. H.) schreibt: »Es muß nichtsdestoweniger betont werden, daß das Ausmaß der traumatischen Langzeitwirkung eines katastrophalen Ereignisses in großem Maße von den elter lichen Reaktionen auf das Trauma abhängt … Die Art und Weise, in der das poten tielle Trauma von der Umgebung gehandhabt wird, ist deshalb ein bedeutender Faktor, der das Ausmaß bestimmt, in dem das Kind zukünftige pathologische Kon sequenzen entwickelt … Was den frühen Verlust eines Elternteils betrifft, sollte ebenso betont werden, daß ein Vater, der gestorben ist, in der Psyche des Kindes als eine sehr lebendige Figur erhalten bleiben kann, was davon abhängt, wie die Mutter über den Vater spricht, und auch von der Natur seiner eigenen früheren Beziehung zu dem Kind.«
Die Unfähigkeit des verbliebenen Elternteils zu trauern zeigt sich an dessen Festhalten an idealisierten oder entwerteten Bildern des Gestor benen. Gefühle können nicht erlebt werden – Trauer, Angst, Wut – oder werden vor dem Kind verborgen. Das Kind wird gehindert, zu trauern, indem es »zu seinem Schutz« davor bewahrt wird, den Leich nam noch einmal zu sehen oder an der Bestattungszeremonie teilzu nehmen. Je weniger aber die wahren Eigenschaften der Verstorbenen gesehen und genannt werden dürfen, je weniger auch sein Tod mate
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riell in Augenschein genommen werden kann, desto eher bleibt ein Geist, ein Phantom, von dem eine innere Trennung sehr schwer werden kann. Das gleiche Problem entsteht übrigens noch einmal in der Ado leszenz, in der es ein Jugendlicher leichter hat, sich von real anwesen den Eltern abzugrenzen und zu sich selbst zu finden als lediglich von einem inneren Bild, wenn Vater oder Mutter real nicht mehr für eine Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. Ebenso werden manchmal die Umstände, die zum Tode führten, verheimlicht, insbesondere bei Suizid oder wenn der Tod im Zusammenhang mit Verbrechen eintrat; man denke an die Nazi-Täter, deren Tod mit unbenannten Greueltaten bzw. deren Ahndung, zum Beispiel durch Todesstrafe, in Zusammen hang stand. Die Mutter von Bianca H. verheimlichte der Tochter, dass es sich um einen Suizid des Vaters handelte, und behauptete, er sei von der Leiter gefallen. Das Kind wird sich den Zusammenhang zwischen den Depressionen des Vaters und seinem Tod unbewusst hergestellt haben, aber es hat nicht trauern können, da es dadurch das Geheimnis des Sui zids (und dahinter noch weitere mögliche: Wie war die Beziehung der Eltern? Wie weit waren die Wut und die ödipale Liebe des Mädchens verantwortlich?) aufgedeckt hätte. Oft werden die phantasmatischen Erklärungen des Verlusts eines Elternteils vom Kind mit seinen ödipalen Phantasien oder aber auch mit dem pseudo-ödipalen Partnerersatzagieren des verbleibenden Eltern teils verschmolzen. Ein junger Mann, Martin Z., kam in die Therapie, weil er in seiner Not, sich nicht eindeutig für eine Frau entscheiden zu können, mit 24 Jahren eine Frau, die ein Kind hatte, geheiratet hatte, um die Unentschiedenheit endlich zu beenden. Nun hatte er aber große Verlassenheitsängste, verbunden mit starken Bestrebungen, sich anderen Frauen zuzuwenden. Herr Z., dem von seinem Vater immer vorge worfen worden war, er sei schuld am Asthma seiner Mutter, da dieses mit sei ner Geburt aufgetreten sei (s. o. Teil II, S. 137) berichtet: »An jenem Abend gab es wieder Streit zwischen meinen Eltern, viel Schreierei und ein leichtes Hand gemenge. Meine Mutter las mir an diesem Abend eine Geschichte im Bett vor. Danach ging sie nach unten, und wenige Augenblicke später fand sie meinen Vater, der sich, wie ich aber erst Jahre später erfuhr, im Keller erhängt hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie immer wieder den Namen meines Vaters schrie, und ich, in meinem Bett liegend, nicht wusste, wie ich das Ganze einordnen sollte, aber auch vor Angst wie gelähmt war und mich nicht traute, nach unten zu gehen. Ich hörte dann kurze Zeit später viele fremde Stimmen im Haus, wohl Polizei und Ärzte, für deren Existenz ich natürlich keine Erklärung finden konnte, und irgendwann schlief ich darüber auch ein … Ich war zu diesem Zeit punkt ungefähr fünf Jahre alt.«
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Eine Komplikation lag in der pseudo-ödipalen Beziehung zur Mut ter, die den Jungen in den Streitereien mit dem Vater stets auf ihre Seite gezogen hatte, was Wut auf den Vater, aber auch unbewusste Schuldgefühle verursacht hatte. Andererseits rief auch das Abgrenzungsbedürfnis der Mutter gegenüber (Trennungs-)Schuldgefühle her vor. Diesem Doppelten entsprach sein späteres Agieren der Heirat, mit der er sozusagen mit Gewalt sein Schwanken beenden wollte. Nun war er zwar ein Ehemann, verlor aber jedes sexuelle Interesse an seiner Frau, und es stellte sich zudem heraus, dass er zeugungsunfähig war. Eine entsprechende Behandlung schob er hinaus, weil er »diese Unsi cherheit« keinem Kind zumuten wollte. Beides machte Schuldgefühle: geheiratet zu haben – die Strafe dafür ist eine Art doppelter Kastration – und sich anderen Frauen zuwenden zu wollen – die Strafe sind die extremen Verlustängste. Die pseudo-ödipale Verführungssituation entspricht einer Rollen umkehr im Sinne eines Partnerersatzes. Einerseits stellt eine solche Konstellation eine Quelle eines (manischen) Triumphs dar, den Vater in der Gunst der Mutter überrundet zu haben (vgl. Hirsch 1988; 2016), andererseits aber auch die Quelle eines starken Schuldgefühls (Depres sion). Beides, Triumph und Schuldgefühl, muss durch den Tod des Vaters für einen solchen von der Mutter »ausgewählten« oder einzigen Sohn auf die Spitze getrieben werden. In einem anderen Fall bat der schwer depressive Vater seinen einzigen, 15jährigen Sohn, den späteren Patienten (Ingmar A.), er möge für die Mutter sorgen – und brachte sich in der folgenden Nacht um. Der Widerstreit zwischen manischem Hochgefühl, an die Stelle des Vaters zu treten, und der maßlosen Wut, benutzt, in der Identitätsentwicklung behindert und in unpassender Loyalität gebunden zu sein, führte viel später zu einer psychotischen Reaktion, als es zum Streit mit den Schwestern kam, wer die pflegebedürftige Mutter aufnehmen und wer das Haus der Eltern übernehmen solle.
Die Phantasien über die Ursachen der Beziehungsprobleme der Eltern (Aggression und Sexualität) haben, wie auch in diesem Fall, gravie rende Störungen der Entwicklung der Geschlechtsidentität zur Folge (McDougall 1989b); die Scheinlösung des pseudo-ödipalen Dilemmas liegt darin, den Partnerersatzauftrag zu erfüllen, aber auf Sexuali tät zu verzichten (bzw. auch diese in den Dienst der Mutter oder ihrer Nachfolgerinnen zu stellen; vgl. Hirsch 1988; auch Teil II, S. 220). Aber das Schuldgefühl wird nicht besänftigt, denn die Loslösungsbestrebungen bleiben bestehen und die Anforderungen des Ersatzpartners kann ein Kind nicht erfüllen, auch wenn es sich nicht trennt. In einem Fall konnte ich die Unmöglichkeit der Lösung von einem verlorenen Objekt neben dem Ambivalenzkonflikt auf verbotene ödi
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pale Wünsche zurückführen, die später bei der erwachsenen Patientin zu einer fortwährenden Suche nach einem Vaterobjekt mithilfe promiskuösen Agierens führte, das sicher auch durch einen einmaligen außerfamiliären sexuellen Missbrauch determiniert war.
Die Patentin, Beatrice A., als einziges Mädchen vom Vater sehr geliebt, sah ihn zuletzt mit zweieinhalb Jahren, als er von der Front auf Heimaturlaub war. Als der Vater wieder an die Front musste, verabschiedete sie sich von ihm, natürlich ohne zu wissen, dass er nicht wiederkehren würde. Es gab auch keinerlei Nach richt von seinem Tode, sodass Mutter und Tochter zehn Jahre lang immer wieder hoffend annahmen, dass er aus der Gefangenschaft zurückkehren würde: Mutter und Tochter trauerten nicht, sie hatten den Toten, den Leichnam nicht gesehen. Als die Patientin 13 Jahre alt war, ließ die Mutter den Vater für tot erklären – Grund genug für die Entwicklung des Schuldgefühls, ihn getötet zu haben. In der Patien tin muss eine eigenartige phantasmatische Verbindung von Beziehung zum Vater, Sexualität, Verbot und Strafe, und zwar Todesstrafe, entstanden sein. Als sie sechs Jahre alt war, wurde sie von einem Nachbarn sexuell missbraucht, zwar ohne grobe Gewaltanwendung, jedoch voller Angst und Verwirrung, hervorgerufen aber erst durch die Reaktion der Mutter, die angesichts der von Sperma befleckten Kleidung des Mädchens in Panik geriet. Wieder ein Beispiel verbotener Liebe – das Kind hatte das Gefühl, die Liebe der Mutter verloren zu haben. Nachdem der Vater für tot erklärt worden war, hatte die Mutter einen Freund; sie ließ die Kinder nun jedes Wochenende allein, hinterließ lediglich eine Telefonnummer. Die Patientin nahm später an, die Mutter hätte zunächst den Freund gehabt und habe dann erst den Vater für tot erklären lassen. Der Bruder der Patientin war zwei Jahre jünger als sie – es entstand die Phantasie, die Sexualität der Eltern, die zur Schwangerschaft mit dem Bruder geführt hatte, hänge mit dem Tod des Vaters zusammen, ebenso ihre eigenen sexuellen Wün sche ihm gegenüber. Wenige Jahre später, die Patientin war 18 Jahre alt, erschoss sich der Freund der Mutter, weil er an Darmkrebs erkrankt war. Auf Drängen der Mutter heiratete sie mit 21 Jahren einen beträchtlich älteren Mann und bekam zwei Kinder; der Mann starb an Krebs, als sie 35 Jahre alt war und kurz nachdem sie die große Liebe ihres Lebens gefunden hatte. Fünf Jahre später wollte sie zum ersten Mal eine Therapie beginnen, nachdem bei diesem geliebten Freund eine Leukämie diagnostiziert worden war, sie eine heftige unrealistische Eifersucht entwickelt hatte – die als Ausdruck von Trennungsangst verstanden werden konnte – und sui zidal war: Weiter gab sie an, dass sie nicht wisse, wer sie sei und was sie wolle; sie sagte selbst, sie spreche von sich wie von jemand anderem, vielleicht wolle sie sich schon seit sehr langer Zeit umbringen. Die Therapie begann sie erst, nachdem der Freund drei Jahre später gestorben war. Als Zeichen der Nichttrennung hielt sie ein Haus im Ausland, das der Freund ihr vererbt hatte, das sie aber nur wenige Wochen im Jahr bewohnen konnte, unverändert wie eine Gedenkstätte, ein Mausoleum. Gleichzeitig war sie getrieben von der Suche nach Männern, die sie lieben konnte, unter der Vorstellung, sie brauche Sexualität, es sei nicht normal, auch nur kurze Zeit ohne sexuelle Beziehung zu leben. Es gelang in den anderthalb Jahren, bis sie die Therapie abbrach, nicht, sie zu einer emotionalen Bewältigung all ihrer Verluste, auch nicht zu einem tieferen Verständnis ihres Phantasmas von der Verbindung von Sexualität und Tod zu kommen. Es entstand der Eindruck – und das ist ein immer wiederkehrendes Phänomen bei der Behandlung von »Introjekt-Patienten« –, dass die Rekonstruktion von verborgenen Tatsachen und von unbewussten Konflik ten trotz der Konstruktion einer schlüssigen Psychodynamik keine Veränderung
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bewirkte. Zweieinhalb Jahre später kam sie wieder und wollte Therapie – gleich nach dem Therapieabbruch damals habe sie eine Beziehung zu einem viel jüngeren Mann angefangen, den sie aber nicht wirklich wollte. Wenn er da war, fühlte sie sich optimistisch, wenn nicht, lebensüberdrüssig. Sie wisse nicht, wo die Lähmung herkomme, sie sitze stundenlang vor einem Buch, regungslos. Als der Mann noch da war, der sich jetzt zurückgezogen hat, habe sie wie mit dem verstorbenen Freund dieselben »Glücksgefühle, als ob ich von innen strahlen würde«, gehabt. Sie habe den einen durch den anderen ersetzt. Jetzt sei sie leer. Einem Therapiebeginn stand sie sehr ambivalent gegenüber. Nach dem zweiten Vorgespräch rief sie an, sie müsse wegen Darmkrebs operiert werden, sie würde sich bestimmt wieder melden, wenn das vorbei sei – was nicht geschehen ist.
Auch ein starker Kinderwunsch kann wie ein Ausfüllen der Leere und auch als Wiedergutmachungsversuch verstanden werden. Zefira V., die ihren Vater im Alter von eineinhalb Jahren durch Selbstmord verlo ren hatte, heiratete mit 20 Jahren einen Mann, den sie nicht besonders liebte. Sie war von der Idee beherrscht, Kinder haben zu wollen; obwohl ihr Sexualität mit ihrem Mann nichts bedeutete, unternahm sie große Anstrengungen, schwanger zu werden, indem sie ihn drängte, zum Beispiel morgens um fünf Uhr weckte, wenn der günstigste Zeitpunkt für eine Konzeption gekommen war. Sie bekam drei Kin der, die sie aber voller Schuldgefühle abrupt verließ, als sie sich von dem autori tären, sadistischen und paranoiden Mann trennte. Zu diesem Zeitpunkt waren sie zehn Jahre verheiratet – die Ehe der Eltern dauerte auch zehn Jahre, bis sie durch den Suizid des Vaters beendet wurde.
Das Ausfüllen der durch den unbewältigten Verlust entstandenen emotionalen Leere wird durch verschiedene Mittel zu erreichen ver sucht, die entweder auf Identifikation beruhen oder die Schaffung eines Objektersatzes – wie bei der Sexualisierung – bedeuten. Zur ersten Gruppe gehört die Hypochondrie. Auch die Rollenumkehr hat Anteile von Identifikation (mit der Partner- bzw. Elternrolle): Bianca H. war nach dem Selbstmord des Vaters ein Partnerersatz für die Mut ter, die alle Sorgen mit ihr teilen wollte (bis sie, die Mutter, einen Freund hatte), sodass die Patientin in der Identifikation mit dem Vater an seine Stelle trat und dadurch gewissermaßen partiell den Verlust für sich selbst rückgängig machen konnte. Später war es ihr ausschließlich möglich, für ältere Männer, die sie idealisierte und die in der Regel mit dem Gebiet des Vaters beruflich zu tun hatten – er war Schriftsteller gewesen –, als brillante Sekretärin zu arbeiten. Als ob sie den Vater dadurch am Leben hielt, dass er in ihren Männern wieder auferstand. Sie betreute die Werke ihres Vaters, verhandelte mit Verlegern, organisierte Veranstaltungen; für die eigene berufliche Identität etwas zu tun, war ihr jedoch absolut unmöglich. Allerdings kam sie sich mit fortschreitender Therapie zunehmend fremd vor, wenn sie für andere arbeitete. Jetzt will sie die Trennung von ihrem Freund betreiben, obwohl es ihr schwerfällt und sie ihn immer wieder sieht. »Wenn ich mit meinem Freund zusammensitze, habe ich das Gefühl, als ob mich was aus meinem Körper herauszieht, dann krieg’ ich eiskalte Füße.« Sie ist aber in einem Dilemma: Je mehr
254 Schuldgefühl sie sich trennt, desto stärker werden ihre körperlich-hypochrondrischen Beschwer den: Ein entsetzlicher Druck im Kopf, ein starker Nackenschmerz, als säße ihr »etwas [jemand!] im Nacken«, der sie keinen klaren Gedanken fassen lässt und sie von Arzt zu Arzt treibt. Es ist, als ob sie den Freund durch eine identifikatorische Verbindung zum Vater ersetzen würde, der mit den schweren Depressionen schließlich »am Kopf« erkrankt war: Sie hatte als Kind die Erwachsenen reden hören, die überlegten, ob die schwere Depression des Vaters durch einen Hirntu mor oder etwas ähnliches verursacht worden sein könnte.
Da das Introjekt, das der Verlust geschaffen hat, Schuldgefühle und drängende Unruhe verursacht, gibt es auch noch im Erwachsenenal ter das Bedürfnis, den unruhigen Geist im eigenen Selbst zur Ruhe zu bringen, indem durch eine nachholende Trauerarbeit eine weitgehende innere Trennung erreicht werden soll. Um aber Konkretes über die Umstände des Verlusts und über die Persönlichkeit des Verlorenen zu bekommen, sind oft schwierige Nachforschungen nötig, denn sichere Informationen hat der überlebende Elternteil oft völlig vorenthalten – durch Idealisieren oder gänzliches Verschweigen. Barbara K. unternimmt große Anstrengungen, um Informationen über den Tod ihres Vaters zu bekommen, der im Krieg vermisst wurde, als sie noch ein Säugling war. Sie war zum ersten Mal überhaupt allein auf einem Friedhof, sie hat das Grab von Nachbarn gesucht, die sie nur flüchtig gekannt hatte und die kürzlich gestorben waren. Sie hat sich überlegt, dass sie in das Land, wo ihr Vater vermisst wurde, fahren und sich von dort Erde holen möchte. Die würde sie auf das Grab der Nach barn streuen, dann hätte sie etwas von ihrem Vater in der Nähe. Sie könnte dann dort hingehen und die Hand auf dieses Grab legen. Sie habe das Gefühl, sie könne sich nicht von ihm verabschieden, wenn sie nicht etwas anfassen könne. Das dürfe natürlich keiner wissen. Wenn sie in das Land fahre, in dem der Vater wohl gestor ben ist, wolle sie niemanden mitnehmen, schon gar nicht ihre Mutter, denn es gäbe keine Chance, dass sie sie verstehen würde. Die Mutter habe immer alle Gefühle abgelehnt, sie habe der Patientin irgendwann ihren Ehering und alle Papiere des Vaters gegeben, wolle mit diesem vergangenen Lebensabschnitt offenbar nichts zu tun haben. Noch nie wollte sie etwas damit zu tun haben! Sie denkt an einen Ham burger Friedhof, auf dem die Toten in einem bestimmten Bereich anonym begraben werden. Die Angehörigen, die doch anfangs die anonyme Bestattung gewollt hat ten, kommen trotzdem nach einiger Zeit und suchen den Ort, wo der Tote begraben liegen könnte, sie zanken sich auch mit anderen Hinterbliebenen, wessen Toter wo liege. Man wolle eben etwas zum Anfassen haben. Im Urlaub wolle sie nach Israel fahren, um dort Nachforschungen anzustellen, ob ihr Vater vielleicht an der Ver folgung und Ermordung von Juden beteiligt gewesen sei. Sie habe jetzt von sich aus Angehörige des Vaters aufgesucht, nach denen sie geforscht hatte, und habe sich gewundert, dass sie von ihrer Existenz wussten und wie herzlich sie aufge nommen wurde.
Zefira V., deren Vater sich suizidierte, als sie eineinhalb Jahre alt war, unterzog sich während der laufenden analytischen Therapie einer Hyp nose (ohne vorher etwas davon mitzuteilen), um auf diese Weise etwas über den Tod des Vaters zu erfahren:
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Zuerst habe sie in der Hypnose ihre eigene Geburt gesehen, dann den Vater, der sich von ihr verabschiedete, indem er in ihr Zimmer gekommen sei und ihr freund lich zugewunken habe, sie habe auch seinen Tod gesehen. Jetzt habe sie Ruhe, sie könne ihn sterben lassen und auch ein neutraleres Verhältnis zur Mutter bekom men. Es war ihr sehr wichtig, dass der Vater sich von ihr verabschiedet habe. Später fügt sie hinzu, sie habe in der Hypnose die Mutter wiedererlebt, wie sie dem Vater Vorhaltungen gemacht habe, wozu denn die Existenz des Kindes (der Patientin) gut sei, der Vater habe für sie, die Mutter, nun überhaupt keine Zeit mehr. Das wird alles völlig neutral und ohne jede Emotion vorgetragen. Auch in diesem Fall hatte die Mutter nie über den Vater gesprochen, der Selbst mord war ein Tabu. Die Patientin hatte ein dumpfes Schuldgefühl wegen ihrer blo ßen Existenz, hatte schon längst die Verzweiflung des Vaters mit ihrer Existenz in Verbindung gebracht, nämlich dass er der Mutter ausgeliefert blieb, weil er wegen des Kindes nicht gehen konnte.
Vielleicht ging es in dem vorigen Abschnitt so häufig um den Verlust eines Elternteils durch Selbstmord, weil er nicht schicksalhaft, son dern durch selbstdestruktive Gewalt hervorgerufen wird, die immer mit Geheimnis, Partnerersatzansprüchen, Schuldgefühlen des über lebenden Elternteils und dem Gefühl, Vater oder Mutter nicht geret tet zu haben, einhergeht und so die Schuldgefühle potenziert werden. Auch scheint mir die Fähigkeit des überlebenden Elternteils zu trau ern im Falle eines Selbstmords in der Regel verringert zu sein, sodass auch das Kind ohne Vorbild und Unterstützung in seiner Trauerarbeit bleibt.
Folter und KZ-Haft Schwere Traumatisierung bedeutet massive Grenzüberschreitung, ein Einreißen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Täter und Opfer. Das Gewaltsystem dringt in das Opfer ein, nimmt von ihm Besitz; in einer elementaren Regression ist der Täter für das Opfer das einzig erreichbare, narzisstisch stützende Objekt (Eissler 1968). Für die erwachsenen Opfer massiver traumatischer Gewalt, intensiver Folter, Vergewaltigung oder KZ-Haft gibt es eine Fülle von Mitteilungen über das Zusammenspiel von äußerer und innerer Realität, das zur Zerstörung der Identität des Opfers führt (z. B. Amati 1977; 1990; Amigorena u. Vignar 1977; Bettelheim 1979; Ehlert u. Lorke 1988, Becker 1990). Die Implantation des Bösen durch den Folterer – Amati (1990) nennt es »Durchtränkung« –, gefolgt von der Introjektion, dem Errich ten einer entsprechenden inneren Instanz, beschreiben Amigorena und Vignar (1977, S. 610) folgendermaßen: »Das totalitäre Regime …
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dringt gewaltsam in die psychische Welt ein …, etabliert sich als inne res System, … als Struktur des Subjekts.« So wird den Autoren zufolge die äußere Gewalt zur »tyrannischen Instanz« im Opfer selbst. Es ist inzwischen unzweifelhaft, dass Extremtraumatisierung jeden durchschnittlich psychisch Gesunden derart zu erschüttern vermag, dass er lebenslang mit mehr oder weniger unspezifischen, immer gra vierenden psychischen und physischen Symptomen zu kämpfen hat (Eissler 1963; Eitinger 1990). So ist heute gut belegt,
»daß die prämorbide Persönlichkeit fast ohne Bedeutung ist, wenn der Streß so überwältigende Formen annimmt. Fast jeder, der solchem Streß ausgesetzt wird, muß pathologisch reagieren … Die Probanden der KZ-Gruppe sind häufiger krank, ihre Krankheiten dauern länger, sie umfassen alle Diagnosegruppen, führen häu figer zu Krankenhauseinlieferungen, die stationären Behandlungen dauern länger.
Menschen sind zu kaum vorstellbaren Greueltaten in der Lage.
»Es erscheint fast unmöglich, jemanden zu einem Verständnis dessen zu bringen, was die Nazi-Konzentrationslager wirklich waren. Wer kann die Angst vor einer Selektion durch den SS-Arzt in einer Krankenbaracke nachempfinden oder die Verzweiflung und die Leiden der Opfer, die nackt vor der Gaskammer standen? … Wer kann verstehen, was es bedeutet, buchstäblich im Schatten der Kamine der Krematorien zu leben … Wie kann man selbst begreifen und wie kann man dieses Begreifen irgend jemandem vermitteln, was die Überlebenden der Lager an Hun ger und Durst, an Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, an Leiden und Prüfungen, aber auch an Warten und Hoffen, an Sehnsüchten und Träumen gelitten haben?« (Eitinger 1991, S. 3 f.).
Für die Wirkung der Folter, die die Identität eines Menschen irrepara bel zerbrechen kann, sei hier nur Améry (1966, S. 38) angeführt: »Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.« Die Hauptsymptome, die der KZ-Haft folgen, fasst Eitinger (1990, S. 123) zusammen: »Chronische Angstzustände, Albträume, Schlafstörungen und Depressionen waren die wichtigsten psychischen Symptome.« Hinzuzufügen wäre ein chronisches Schmerzsyndrom verschiedenster Lokalisation (Krystal 1991). Krystal (1991, S. 239) referiert Chodoff (1980), der mit KZ-Überlebenden psychothe rapeutisch gearbeitet hat: »Chodoff … verwies … auf die anhaltende Freudlosigkeit der KZ-Überlebenden, die in unglücklichen Ehen leben, und beschrieb sie als Menschen, die ›zurückge zogen in einer depressiven Verfassung leben …‹ (S. 208). Zu den Nachwirkungen des Holocaust … zählen die Zerstörung ihres ›Urvertrauens‹, die Unfähigkeit, die schlimmen Erfahrungen wiederzuerleben und zu beschreiben, die nachträgliche Idealisierung ihrer Kindheit, hartnäckige Schuldgefühle … Weiterhin listet er die dauerhafte, in den Lagern durch Regression induzierte Störung des Körperbildes, Probleme der Aggressionsbewältigung, die Tendenz, die Aggression durch Eta blierung eines starren, religiösen Über-Ichs zu neutralisieren, auf …«
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Elie Wiesel (1960) gibt ein erschütterndes autobiografisches Beispiel von verlorener Liebesfähigkeit aufgrund der KZ-Erfahrung. Freud losigkeit, Anhedonie bis hin zur Alexithymie sind Krystal (1991) zufolge Nachwirkungen von Extremtraumatisierung; ihre extreme Form haben wir bereits als »Muselmann«-Syndrom kennengelernt auf grund eines chronisch gewordenen »closing off« (Lifton 1968), ein Phänomem, das Ferenczi (1933) erstmals beschrieben hat, der auch als Folge des Traumas die Ausbildung des »mechanisch-gehorsamen Wesens« (S. 309) bereits bemerkt hat; Krystal (1991, S. 243) spricht vom »psychischen Abschotten« und vom »automatenhaften Wesen«. Niederland (1968) zufolge ist das »Überlebenden-Syndrom« bestimmt von 1. einer durchgehenden depressiven Stimmung mit der Tendenz zu Rückzug, Apa thie, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Mangel an Initiative und Interesse. Gelegent lich erfolgen kurzzeitige Wutausbrüche; 2. einem ernsten und anhaltenden Schuldkomplex mit weitreichender pathologi scher Signifikanz; 3. verschiedensten Somatisierungen, psychosomatischen Krankheiten und hypo chondrischen Symptomen; 4. Zuständen von Angst und Erregtheit, die Schlaflosigkeit, Albträume, motori sche Unruhe und innere Spannung verursachen; 5. Persönlichkeitsveränderungen, Unterbrechung der ganzen Reifungsentwicklung (insbesondere bei Patienten, die in frühem Lebensalter in Konzentrations lager gebracht wurden); 6. psychotischen oder psychoseähnlichen Störungen mit Wahnsymptomatik, ins besondere paranoiden Zügen.
Für Niederland (1966, S. 469) ist das Überlebendenschuldgefühl (»survivor guilt«) ganz zentral, es liegt dem Überlebenden-Syndrom zugrunde (s. auch S. 215 ff.). Nach einem oft jahrelangen Intervall auf tretende Symptome seien dadurch zu erklären, dass das Schuldgefühl nicht mehr verdrängt werden kann; es verursacht sowohl die Depres sion (und alle entsprechenden Symptome) als auch die Verfolgungsvorstellungen. Auch später (1981) stellt Niederland das Überlebendenschuldgefühl zusammen mit der ungelösten Trauer (S. 420) in den Mittelpunkt; der KZ-Terror sei praktisch immer mit Verlusten vieler, manchmal aller Familienangehörigen verbunden. Die Überlebenden werfen sich vor, die Familien nicht gerettet zu haben, leiden darunter, den Ort nicht zu kennen, an dem sie begraben sind. Das Schuldge fühl beruhe keineswegs auf früherer Feindseligkeit und auf Todeswünschen den Angehörigen gegenüber (S. 421); sein Kern sei das Überle ben selbst, es entstamme keinesfalls einer alten Psychodynamik, die Überlebenden würden vielmehr eine »Hyperakusis für Schuld« entwickeln.
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Zusammen mit der schweren Schuldgefühlssymptomatik beobach tete Niederland (1968, S. 17) Identifikationsprozesse, die dazu füh ren, dass die Überlebenden mit eben den Mitteln bestraft würden, mit denen die Leidensgenossen damals verfolgt wurden. Als Beleg für die tiefgehende Regression der Terroropfer zitiert er Friedman (1949), der selbst ein Überlebender war: »Man kann nicht über Jahre in einer Welt leben, in der Kannibalismus Wirklich keit wird, in der man mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen wird, seine eigenen Faeces zu essen, ohne tiefe innere Anpassung, ohne zurückgebracht zu werden zu einem primitiven, narzißtischen Stadium der Entwicklung« (Übersetzung M. H.).
Die Möglichkeit der sekundären Identifikation mit dem traumatischen Introjekt ist für verschiedene Bereiche beschrieben worden (Bettelheim 1943; vgl. auch Teil II, S. 107 f.), für politischen Terror (»sekun däre Identifikation mit der verinnerlichten tyrannischen Instanz«, Parin 1990), für die Depression (Müller-Pozzi 1988) und für den sexuellen Missbrauch (Hirsch 1993a; 1996). Wie wir gesehen haben, werden Schuldgefühle, die durch den Druck eines Introjekts entstehen, durch die Identifizierung mit ihm gemildert. Die Verminderung von Schuld gefühl geht einher mit dem Anwachsen der Schuld, da die identifikatorische Billigung bzw. Nachahmung des Unrechts des Täters mit-schuldig macht. Ehlert und Lorke (1988, S. 520) formulieren im Zusammen hang mit dem Phänomen der Mitschuld des Opfers: »Indem das Opfer nun das Bild, das der Täter über die Tat von ihm konstituiert, als Selbstbild in sich aufnimmt, macht es sich in einem bestimmten Sinne tatsächlich zum ›Komplizen‹ des Täters, es unterschreibt sozusagen die eigene totale Entwer tung, die der Täter erzwungen hat.«
Mei nes Erach tens wird hier durch den Identifikationsprozess eine Veränderung der Selbstrepräsentanz bewirkt, die über das Schuldgefühle-Machen durch das Introjekt hinausgehend zu einem Schuldbewusstsein wegen des Mit-Machens, der Komplizenschaft, führt (vgl. Abschn. III, S. 277 f.). Es sollte aber daran gedacht werden, dass die sekundäre Identifika tion eine relativ »reife« Ich-Leistung darstellt, die das Ich stützt und die Ich-Grenzen festigt (vgl. Teil II, S. 113). Ein solcher Begriff scheint mir nicht zu den Vorgängen der »Durchtränkung«, des gewaltsamen Ein dringens einer »totalitären Instanz« zu passen. Denn in der Situation schwerer physisch-psychischer Traumatisierung erfolgen Verschmelzungsvorgänge, die die Grenzen zwischen Täter und Opfer, Recht und Unrecht verwischen, zumal archaische Regressionen auf die Stufe frü hen narzisstischen Angewiesen-Seins des Opfers eine illusionäre Hoff
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nung auf Rettung durch den Täter als einzigem narzisstische Gratifi kation gewährenden Liebesobjekt entstehen lassen (Eissler 1968). Es handelt sich also eher um Mechanismen einer primären oder globalen Identifikation (Müller-Pozzi 1988), die einer Aufhebung von Gren zen und damit einer Ich-Destabilisierung gleichkommt. Damit würden wir uns wieder Ferenczis Vorstellung der Unterwerfung durch Iden tifikation nähern (vgl. Teil II, S. 100). Ehlert und Lorke (1988, S. 508) sprechen für die Folter und andere extreme Traumata wie Vergewaltigung von einer erzwungenen Regres sion, die das Schutzbedürfnis an den einzig anwesenden »Erwachse nen«, den Täter, richten lässt. Auch Grubrich-Simitis (1979, S. 999) sieht die »Identifizierung mit dem als omnipotent erlebten Angreifer« als »ein Gegenmittel gegen die trotz noch so gesteigertem Narziss mus ständig drohende ›narzisstische Entleerung‹«. Die Identifizierung greife auch auf das Über-Ich, besonders auf seine archaischen Formen des Ideal-Selbst über: »Das vom Verfolger propagierte und auf die Verfolgten projizierte entwertete Feindbild setzte sich sozusagen subversiv allmählich in deren Ideal-Selbst fest, und zwar wiederum paradoxer- und tragischerweise sowohl nicht zuletzt mittels jenes Abwehrvorgangs, der Identifizierung mit dem Angreifer, der die narzißtische Entleerung gerade aufhalten sollte« (S. 999).
Eine weitere Folge sei die Unfähigkeit der Überlebenden, sich neuen Objekten zuzuwenden, da die »Besetzung von Repräsentanzen frühe rer Objekte« (S. 1000) aufrechterhalten bleiben müsse. Es »hat sich gezeigt, daß in deren Erleben die Verlorenen nur dann unwiderruflich und endgültig verloren gegeben werden, in der inneren Realität erst wirklich sterben, wenn neue Objekte Bedeutung gewinnen« (S. 1000). Das »hängt wiederum mit einem zentralen pathogenen Faktor der Lagersituation zusammen, der Erschwerung oder völligen Blockade des Trauerprozesses. Nicht zuletzt die zentrale schwere Aggressionsproblematik, die im »Zentrum des Überlebenden-Syndroms« (Grubrich-Simitis 1979, S. 1001) steht, verhindert die Trauerarbeit.
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Transgenerationale Weitergabe »Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen.« 2. Mose 20, 5
Bisher ging es um traumatische Gewalt und Verlust, die die Men schen selbst erlitten hatten; ebenso relevant, aber eher im verborgenen wirksam, sodass man der Wurzel des Fremdkörpers noch schwerer auf die Spur kommt, ist die Auswirkung der verdrängten, verleugne ten und verschwiegenen Verluste und Traumata, die die Liebesobjekte der vorangegangenen Generation getroffen haben. Wieder sind es unerträgliches Trauma oder unbewältigter Verlust, verbunden mit Schuld und Schuldgefühl oder unauflösbaren Widersprüchen, die die Eltern zwingen, die eigenen unbewältigten Komplexe den Kindern zu implantieren, wo sie als wahrlich Fremdes, also als Introjekt, wirksam werden. Die Weitergabe psychischer Inhalte auf identifikatorisch-introjektiven Wegen von einer Generation zur nächsten wurde besonders von Kestenberg (1974), Grubrich-Simitis (1979), Faimberg (1987), die von »telescoping« der Generationen spricht, Kogan (1990b), mit dem Begriff der transgenerationalen Transmission, und besonders von den französischen Autoren Abraham (1978), Torok (1968) und Cournut (1988) untersucht. Eickhoff (1989) bezeichnet das Überlagern der Schuld der ersten Generation durch die Symptomatik in der zweiten Generation als »Palimpsest« (vgl. Fußnote S. 95). Handelt es sich um einen unbewältigten Verlust in der Elterngene ration, so wird er – nicht etwa die Trauer, eher das Fehlende, das Loch – vom Kind introjiziert, welches die Trauer, die das Objekt zu leisten hätte (Abraham u. Torok 1976, S. 63), auch nicht leisten kann. Das Kind wird für die narzisstischen Bedürfnisse, als Ausfüllung der nar zisstischen Wunde der Eltern benutzt (Faimberg 1987), es darf das Verborgene, das Geheimnis aber an ihrer Statt nicht offen austragen, da es jene zu sehr bedrohen würde, wie wir es auch im Falle Jessicas (Stolorow u. Stolorow 1989; vgl. Teil II, S. 120) gesehen haben. Im Falle der KZ-Opfer in der zweiten Generation wird übereinstimmend (Grubrich-Simitis 1979; Kogan 1990b) berichtet, dass die Kinder versuchen, sich empathisch in die Eltern einzufühlen, in einer Art Rol lenumkehr sorgend einen Defekt der Eltern auszufüllen (Grubrich-Simitis 1979, S. 1006). Darüber hinaus sollen die Kinder
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»für die Eltern die Brücke zum Leben sein, ihnen nach jahrelanger Konfronta tion mit dem Tod, eigentlich wiederum in Verkehrung der natürlichen Folge, das psychische Leben schenken; sie sollen die verlorenen idealisierten Liebesobjekte ersetzen, gleichsam in deren abgebrochene Biographien schlüpfen und dort zu leben anfangen, wo diese zu leben aufhören mußten, also im Grunde die Ermor dung von Eltern, Geschwistern, Kindern, Verwandten, Freunden ungeschehen machen …« (Grubrich-Simitis 1979, S. 1008).
Es ist offensichtlich, dass die Kinder, mit diesen ungeheuren Aufgaben identifiziert, scheitern müssen und deshalb extreme Schuldgefühle entwickeln. Kogan (1990b) beschreibt ähnlich, dass die Kinder Ziele der Projektion von Trauer und Aggression der Eltern seien, dass sie in der Sorge mit den unzulänglichen Eltern symbiotisch verschmelzen, dass sie in der Phantasie das Trauma der Eltern wiederzubeleben trachten, um sie zu verstehen, und versuchen, die inneren Objekte der Eltern wiederherzustellen, was mit einer Selbstaufgabe einhergeht. Die Iden tifikation schließlich (ich würde Introjektion sagen) mit der Abspaltung der Affekte, mit dem »automatisierten Ich-Bereich« der Eltern führe zu den gleichen Symptomen in der zweiten Generation: sich nicht lebendig fühlen zu können (Grubrich-Simitis 1979, S. 1008). Diese Vorgänge erinnern an die Mechanismen des »Aussaugens« (Ferenczi 1933), der »Aneignung» (Faimberg 1987) und des »Stehlens« von Selbstanteilen (Bollas 1987) – wie es in Teil II (S. 121 f. u. S. 123 f.) beschrieben wurde. Über die große Schwierigkeit der Identitätsfindung von Nach kommen jüdischer Überlebender der Nazi-Verfolgung in Deutschland hat Grünberg (1987) berichtet; eine geforderte Identifikation mit den Eltern mache das Leben in der Bundesrepublik fast unmöglich (von Symptomen, die der Verfolgung der Eltern aufgrund des traumatischen Introjekts entstammen, zu schweigen, M. H.), eine »(relative) Identi fikation mit den Verhältnissen des Landes« (S. 492) erzeuge schwere Schuldgefühle den Eltern gegenüber (Trennungsschuldgefühl, M. H.). Es ist aber nicht nur ein Mangel, den das Kind ausgleichen soll und will, es ist gleichzeitig ein intrusives, bemächtigendes Benutzen, das allein durch die symbiotische Nähe entsteht, die sich durch die Bedürf tigkeit der Eltern herstellt. »Die dazu notwendige Nähe erfährt eine Intensivierung. Damit erhalten solche Beziehungen einen inzestuö sen Charakter« (Eckstaedt 1989, S. 20). Inzestuös meint in diesem Zusammenhang vereinnahmend, verschmelzend. Cournut (1988, S. 85) betont die Überstimulierung durch eine Mutter, die gleichzeitig mit der abweisenden Kälte »den Körper des Kindes ausbeutend in Beschlag nimmt«, die »sich mit dem Körper ihres Kindes als eines Teils ihrer selbst erregte«. Dementsprechend findet Cournut nicht nur den Typ, der an der »Öde«, der emotionalen Leere also, der Depression, lei
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det, sondern den Typ des »Bodenlosen«, der unersättlich Befriedigung sucht, also manisch ist. Auch Faimberg (1987, S. 12) sieht das Dop pelte von Aneignung des Kindes, es also aktiv für die eigenen Bedürf nisse benutzen, und Eindringen, die eigenen Defizite und Konflikte also intrusiv implantieren, wie wir es auch für die projektiv-identifikatorischen Grenzüberschreitungen gesehen haben. Bei Vertreibung oder Migration ist es oft nicht nur der Verlust der Heimat, der selbst erlitten wurde, sondern der, den die ältere Genera tion nicht genügend betrauern konnte, im Falle der deutschen Kriegs generation sicher auch als Wirkung eines verborgenen Schuldgefühls, die eigentlichen Ursachen der Vertreibung betreffend. Ein 20jähriger türkischer Student, der seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutsch land lebte und dessen Familie über die Generationen von Makedonien über die Türkei nach Deutschland gewandert war, verspürte immer wieder den Drang, weggehen, sein Studium verändern, ein besseres Studium beginnen zu müssen. Während der Therapie wollte er mehrfach in ein »besseres« Land gehen. War er mit der Familie zu Besuch in der Türkei, kam er sich besser vor als die Türken, nämlich als Türke, der in Deutschland aufgewachsen war. In Deutschland dage gen kam er sich klein im Vergleich zu den Deutschen vor, und er beneidete auch die Türken in der Türkei, die sich mit ihrem Land identisch fühlen konnten. Die Partnerwahl war bestimmt von der Sehnsucht nach Ausländerinnen – auch aus ödipalen Konflikten heraus, die das pseudo-ödipale Verhalten der verführerischen Mutter und des teils abwesenden, teils autoritären Vaters sehr gefördert hatte. Sie seien »besser«. Hatte er einen flüchtigen oder auch nur sehnsüchtigen Kontakt aus der Ferne mit einem Mädchen, lebte er in der ständigen Erwartung, dass sie wieder zurückgehen würde in ihr Land, um dort ihren Verlobten zu heiraten, ihn zurücklassend. Als Hauptgrund für die Unrast des Patienten konnte die nicht gelebte Trauer über die verlorene Heimat – und zwar sowohl die selbst verlorene als auch die von den Vorgenerationen verlorene – erkannt werden, die mit der Idealisierung des anderen, dann »Besseren« bewältigt werden sollte, das aber die guten Eigenschaf ten bald verlor, sodass Sehnsucht und mangelndes Selbstgefühl blieben.
Wieweit die introjektiven Programme auf oft unheimliche Weise auf die zweite Generation wirken können, ist auch an folgenden Beispielen zu sehen. Kestenberg (1974, S. 20) wurde auf die Kinder der Verfolg ten aufmerksam durch einen Jungen, der selbst nie einer Verfolgung ausgesetzt gewesen war (wohl aber waren seine Eltern Überlebende des Holocaust) und der »abgemagert und hohläugig – wie ein ›Musel mann‹ in einem Konzentrationslager – zu mir kam« und die Therapeu tin wie einen feindlichen Verfolger erlebte. Der Freund einer Patientin aus meiner Praxis, dessen Eltern beide Überlebende des KZs Auschwitz waren, entwickelte panische Ängste, auf ihn könnte durch das geschlossene Fenster geschossen werden, sodass er die Abende auf dem Boden liegend verbrachte in einer Zeit, in der eine rechtsradikale Gruppe in Deutschland
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Schlagzeilen machte. – Ein anderer Patient, Sohn einer Überlebenden aus Ausch witz und eines Vaters, der mit gefälschten Papieren, einer falschen, und zwar deut schen Identität also, den Deutschen entkommen war, entwickelte eine abgrundtiefe Depression, die durch den Auslöser, eine Frau hatte sich von ihm getrennt, nicht erklärt werden konnte.
Aufgrund des Introjekts entstehen oft auch in den folgenden Generatio nen Inszenierungen, die das ursprüngliche Trauma abbilden. Anna F. berichtet, sie könne nicht mehr mit dem Rauchen aufhören, sie rauche schon lange, seit dem Tod ihrer Mutter. Beide Eltern der Mutter seien in Ausch witz umgekommen, die Mutter habe ein abenteuerliches Leben geführt, als ob sie immer auf der Flucht gewesen sei, auch als der Krieg schon längst zu Ende war. Ihr Vater sei Deutscher gewesen; die Eltern hätten sich scheiden lassen, als sie ungefähr sieben Jahre alt war. Die Mutter sei nach Israel gegangen, wo die Patien tin dann aufgewachsen sei.Die Patientin habe dort einen Araber geheiratet, einen jähzornigen, gewalttätigen Mann, der das gemeinsame Kind so misshandelt hat, dass es im Alter von einem Jahr gestorben ist. Direkt danach begann die schwere Asthmaerkrankung der Patientin. Sie ging nach Deutschland zurück, lernte einen Mann kennen, und als sie wieder schwanger wurde, wurde das Asthma sehr viel besser. Als sie Heiratspläne machten, nahm die Symptomatik weiter ab, nach der Geburt ihres Kindes verschwand das Asthma ganz und ist seitdem nicht wieder auf getreten. Aber sie ließ sich scheiden, als das Kind sechs Jahre alt war. – Jetzt steht ihr eine Bandscheibenoperation bevor, um ihre Rückenschmerzen zu bekämpfen. Sie hat Angst, dabei zu sterben, weil sie jetzt so alt ist, wie die Mutter war, als sie starb. Sie hat einen neuen Freund, der ist Nichtraucher, der teilt ihr die Zigaretten zu: Wenn sie eine bekommt, legt sie sie vor sich auf den Tisch, sieht sie immer an, und nach drei Stunden bringt sie sie ihm mit den Worten: »Siehst du, ich habe nicht geraucht.«
Hier sind einige Wiederholungen in den Lebensläufen, die auf Intro jekte zurückgeführt werden können, festzustellen: Die Mutter heiratet einen Deutschen, obwohl ihre Eltern von Deutschen umgebracht wur den, die Patientin, eine Israeli, heiratet einen Araber. Die Großeltern werden von den Deutschen misshandelt und getötet, der erste Ehemann misshandelt ihr Kind, welches stirbt. Sie heiratet wieder und lässt sich scheiden, als ihr Sohn fast so alt ist, wie sie damals war, als ihre Eltern sich scheiden ließen. Und die Symptomatik bzw. die Suchtmittel sol len ihre Verluste kompensieren: das Asthma den Tod des Kindes, das Rauchen (trotz des Asthmas) verbindet sie mit der gestorbenen Mutter (die eine starke Raucherin war), das Asthma geht zurück, als ein neues Kind sich ankündigt; die Phantasie, wie die Mutter zu sterben, deutet eine Vereinigung im Tod an; der neue Freund aber, als ein alterna tives Objekt, hat gute Chancen, das Suchtmittel überflüssig zu machen. Bruggemann (1996) berichtet:
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Abraham (1978, S. 697) berichtet ähnliches von einem Patienten, dessen Vater im KZ umgekommen war. Es wurde erst in der Ana lyse bekannt, dass die Mutter der Mutter den Vater denunziert hatte, weil sie ihn als Schwiegersohn nicht akzeptieren konnte. Der Vater wurde damals erst zum Steineklopfen abkommandiert und kam dann in der Gaskammer um. Der Patient bewahrte das Geheimnis, wie er es gleichzeitig mitteilte – lebendig-tot –, indem er sich als Hobby-Geo loge (Steineklopfen) betätigte und Schmetterlinge sammelte, die er mit Zyankali-Gas tötete!
Reale Schuld in der Vorgeneration – Schuldgefühl in der zweiten Generation Auch die Kinder der Täter sind Opfer einer transgenerationalen Transmission, allerdings nicht eines Traumas, vielmehr einer Weitergabe der – nicht anerkannten – Schuld der Vorgeneration. Im zuletzt geschilderten Fallbeispiel bedeutete die Denunziation bereits reale Schuld in einer Vorgeneration, die dazu führte, dass das Familiengeheimnis, der unerträgliche Komplex, verborgen bleiben musste. Nicht anerkannte reale Schuld muss also als dritter Faktor neben Verlust und Gewalt in Betracht gezogen werden, für die Entste hung fremdkörperartiger Introjekte verantwortlich zu sein. Während in den bisher geschilderten Konstellationen auch die Eltern Opfer waren und dieselben Schuldgefühle und Symptome entwickelten, wie sie sie an die Kinder delegierten, weist hier der Täter alle Schuld weit von sich, implantiert sie vielmehr seinen Kindern projektiv, sodass er selbst nicht unter einem Schuldgefühl leiden muss, ebensoweinig ein Schuld bewusstsein entwickelt. Das Introjekt, das Schuldgefühl macht, wird also erst in der zweiten (und auch Enkel-)Generation virulent. Hier ein Beispiel für eine solche Schuldübernahme: Bernadette L. unterzog sich wegen »grundlosen Weinens« einer Psychotherapie in der Klinik, in der sie von der Therapeutin gefragt wurde, ob sie aus Liebe zu ihrem Vater einmal gelitten habe. Sie habe nichts sagen können, weil sie ein Leben lang unter dem Schweigegebot des Vaters gestanden habe; der Vater sei Nazi gewesen, nach dem Krieg sollte er verhaftet werden. In der Klinik sah sie sich als kleines Mädchen im Bett, weinend, voller Angst. Damals hörte sie marschierende Solda
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ten, Russen, vor denen man sie gewarnt hatte; der Vater war nicht da, man hatte ihn versteckt. Viele Leute sind damals geflohen, einer wurde aufgehängt … Der Vater ist später wiedergekommen, hat die Kommunisten als schreckliche Menschen dar gestellt und ihr drohend eingeschärft, sie solle nie, nie etwas sagen! Das habe sie in der Klinik in der Einzeltherapie erinnert, habe es aber in der Gruppe nicht sagen können, von Weinen und Bauchkrämpfen geschüttelt. – Seit der Adoleszenz habe sie an heftigen Bauchschmerzen gelitten, habe sich nie etwas zugetraut, obwohl sie zwei Berufe – den der Altenpflegerin und der medizinisch-technischen Assisten tin – erlernt habe. Sie habe früh einen Mann geheiratet, der sie extrem terrorisiert, aus Eifersucht bewacht und eingesperrt und sie einmal mit dem Messer bedroht habe. Daraufhin habe sie sich trennen wollen, sei von ihm verfolgt worden, musste ihm sogar die drei Kinder lassen! Sie habe nicht genug um sie kämpfen können, das sei ihre Schuld. Immer noch habe sie Schuldgefühle, sei depressiv, könne ihre Kinder nicht sehen, traue sich nicht zu, wieder zu arbeiten. – In der anschließenden Gruppenpsychotherapie entstand der Eindruck, dass Frau L. noch immer von etwas Unbekanntem bedrückt war. Sie begann, sich mit der Familiengeschichte auseinan derzusetzen, insbesondere, was es bedeutete, dass der Vater Nazi war. Die Mutter stellte sie als ängstliche, unselbstständige Frau dar, die nicht nein sagen konnte und dem Vater ganz unterworfen war. Die Patientin hatte keinen Kontakt mehr zu den Eltern gehabt, bis der Vater kürzlich erkrankt war und sie sich entschloss, ihn im Krankenhaus zu besuchen. Sie konnte ihr Entsetzen kaum beschreiben, als der alte Mann, dem es so schlecht nicht ging, mit großer Selbstverständlichkeit verlangte, sie solle sich zu ihm legen, und ihr in eindeutiger Weise körperlich nahe kom men wollte. Anlässlich dieses Vorfalls konnte rekonstruiert werden, dass sie als Kind vom Vater sexuell missbraucht wurde, was ebenso wie die Nazi-Identität des Vaters ein Geheimnis war und bisher verdrängt bleiben musste. Das Schweigege bot des Vaters, an das sie sich erinnert hatte, konnte ebensogut auf den Inzest bezo gen werden. In der Übertragung kam es nach einer Zeit der solidarischen Zusam menarbeit in der Rekonstruktion der traumatischen Ereignisse immer wieder zu aggressiven Ausbrüchen, die mit dem Gefühl der Patientin erklärt werden konnten, durch die Therapie – durch die Verpflichtung, sich an den Rahmen der Therapie zu halten – in ihrer Freiheit behindert zu sein. Sie fühlte sich eingesperrt, wie sie sich vom Ehemann jahrelang hatte einsperren lassen, als ob sie das Gefängnis auf sich nehmen müsste, das der Vater – aus zwei Gründen – verdient hatte. Die Durchar beitung führte zu einem befriedigenden Ergebnis – die Patientin nahm Kontakt zu ihren Kindern auf, ordnete ihre berufliche Situation und konnte sich auch wieder an eine Partnerbeziehung heranwagen. Ein Versuch, beide Eltern mit dem Inzest zu konfrontieren, scheiterte allerdings an der vollständigen Leugnung vonseiten der Eltern und brachte der Patientin von den Geschwistern den Vorwurf ein, ein unverschämtes Attentat auf die alten Eltern verübt zu haben. Aber sie nahm die Schuld diesmal nicht auf sich, sie konnte sie vielmehr da lassen, wo sie hingehörte.
Wie in diesem Fall sind unassimilierte Introjekte häufig mehrfach determiniert. Während es hier mehrfache traumatisierende Familien geheimnisse waren, sind es oft Verluste in beiden Eltern und Großelterngenerationen, die sich häufen und sich im Introjekt des Patienten potenzieren. Die uneingestandene Schuld der Eltern bildet im Selbst des Kindes ein Introjekt, von dem Schuldgefühle ausgehen – nicht nur die Opfer haben die Schuldgefühle und empfinden die Scham, die die Täter nicht
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haben können oder wollen, auch deren Kindern wird das Unausgesprochene implantiert (vgl. Teil II, S. 191 f.), sodass diese eher Schuld und Scham empfinden als die Eltern, die der Tätergeneration angehören. Die Nachgeborenen schämen sich, Deutsche zu sein, können mit Juden nicht unbefangen umgehen, fühlen sich verantwortlich für etwas, was vor ihrer Geburt geschah. Und zwar gerade dann, wenn die Eltern eben diese Gefühle nicht haben können, da sie sich mit ihrer Verantwortung und ihrer Schuld nicht auseinandergesetzt hatten. Wenn sie es konnten, waren sie auch in der Lage, mit ihren Kindern darüber zu sprechen – und mit ihnen zu trauern. Das Muster der so weitergegebenen Schuld scheint allzu menschlich zu sein, denn es ist in Mythen niedergelegt, dem Ödipus-Mythos zum Beispiel: Laios’ Schuld, den Jüngling Chrysippos vergewaltigt zu haben, soll nach einigen Versionen der Sage Hera veranlasst haben, Laios’ Sohn Ödipus ein furchtbares Schicksal zu bestimmen (Deve reux 1953, S. 133). Und es ist natürlich auch die geheim gehaltene Schuld der Eltern, Ödipus ausgesetzt zu haben, die am Anfang der späteren Schuld Ödipus’ steht. Ödipus hätte nicht derartig schuldig werden müssen, hätte er die Schuld der Eltern gekannt und hätten sie sie auch anerkennen und bereuen können. Die Psychoanalyse Freuds hat den Ödipus-Komplex konzipiert, als gäbe es diesen ersten Teil des Mythos nicht, als begänne »Schuld« (Schuldgefühl) bei den ödipalen Bestrebungen des Kindes. Grot stein (1990) hat dieses »angeborene Schuldgefühl« im Konzept der frühen Psychoanalyse kritisiert; Devereux (1953, S. 139) bereits lässt den Ödipus-Komplex in der Elterngeneration beginnen: »Der ÖdipusKomplex scheint eine Konsequenz der Sensitivität des Kindes für die sexuellen und aggressiven Impulse seiner Eltern zu sein« (Übersetzung M. H.). Das heißt, wenigstens der pathologische Ödipus-Komplex wäre pseudo-ödipal, will sagen: von den inzestuösen Wünschen der Eltern hervorgerufen (vgl. Hirsch 1993c). Ebenso ist man lange mit dem realen Inzest, auch mit Vergewaltigungen, allgemein umgegangen: Allzuleicht wurde die Initiative der »verführerischen« Tochter bzw. der dann vergewaltigten Frau zugeschoben. Dabei wurde übersehen, dass, selbst wenn (aufgrund des entsprechenden Introjekts) ein Mädchen »verführerisch« (geworden) war, der Anfang des Geschehens bei einem erwachsenen Täter lag. Auch der »Pelikan«-Mythos des Physiologus (Seel 1960; vgl. Teil II, S. 191 f.) geht jedenfalls in seiner Verwendung der blutenden Brust der Pelikanmutter als Bild für die die Menschheit von ihrer Schuld befreienden Wunden Christi über den ersten Teil hinweg: Die Eltern versagen zuerst angesichts der Bedürfnisse der Kinder, lassen sie sterben, und
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dann erst retten sie sie durch das eigene Blut, von Schuldbewusstsein immerhin getrieben. Zum Abschluss ein klinisches Beispiel für die Erzeugung von Schuldgefühl im Kind durch Verleugnung der Verantwortung des Erwachsenen. Benigna U. hat sich von ihrem Mann getrennt und eine Woche Urlaub mit ihrem neuen Freund gemacht. Die Kinder ließ sie bei dem durch die Trennung chaotischen, unberechenbaren, sehr aggressiven Vater, ihrem Mann, der gleich nach ihrer Rückkehr ausziehen will. Die Patientin berichtet, ihr Sohn (vier Jahre alt) wolle nicht in den Kindergarten; die Tochter (sechs Jahre alt) habe gesagt, sie wolle auch Therapie haben … Die Patientin fragt mich naiv, was man denn mit solchen Problemen der Kinder machen könne. Es geht natürlich nicht darum, ihr zu raten, sondern auf ihr Schulddilemma hinzuweisen: Einerseits möchte sie ihr Leben endlich selbst gestalten, andererseits ist sie durch ihr Wegfahren verantwortlich für das Ausmaß der Angst der Kinder. Wenn sie das nicht sehen kann und den Kindern auch nicht mitteilen kann, bekommen die Kinder Schuldgefühle, dass sie selbst böse sind. Die Schuld anzuerkennen, auch gerade in der Therapie, ist peinlich, erzeugt Schamgefühle. Das Anerkennen der Schuld würde bedeuten: Klar, dass die Kinder so reagieren, wenn sie in dieser Situation für eine Woche verlassen werden … Es bedeutete, darüber zu trauern, dass die Ehe zu Ende geht: dann brauchen die Kinder nicht sich die Schuld zu geben, ein Schuldgefühl zu entwickeln, dass die Eltern nicht zusammenhalten konnten.
Reale Schuld aufgrund eines Introjekts Reale Schuld in der Vorgeneration kann nicht nur Schuldgefühl, son dern wiederum reale Schuld erzeugen. Einen solchen Fall von realer Schuld des Opfers, die es aufgrund eines Introjekts auf sich geladen hatte, beschreibt Kogan (1990a). Die geschil derte Pati en tin hatte zweifach die Aufgabe, elterliche Konflikte bzw. Verluste zu kompen sieren: Die Mutter der Patientin hatte nach Kriegsende erfahren, dass praktisch alle ihre Angehörigen im KZ ermordet worden waren. Bald darauf entstand die Schwangerschaft mit der Patientin, aber die leere Depression der Mutter hörte nicht auf, die Schwangerschaft und das dann geborene Kind konnten sie nicht füllen. Die Depression der Mut ter wurde dem Kind als Introjekt, wie ich es sehe, implantiert, im Sinne der »toten Mutter« (Green 1983), das die Leere, das Gefühl des Unge nügens nun in der Patientin bewirkte; sie konnte den Auftrag der Mut ter, alle erlittenen Verluste zu ersetzen, in keiner Weise erfüllen. Hinzu kam ein weiteres Moment des Ungenügens: »Sie war schuldig durch ihre bloße Existenz, da ihre Geburt die Verschlechterung des labilen Gesundheitszustandes der Mutter verursacht hatte« (Kogan 1990a, S. 76). Also eine weitere Komponente ihres Schuldgefühls im Sinne eines
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Basisschuldgefühls. Der Vater der Patientin in Kogans Fallbeschrei bung fühlte sich schuldig, weil er den eigenen Vater, den Großvater der Patientin also, verlassen hatte. Dieser war gestorben, nachdem der Vater der Patientin ausgewandert war. Deshalb, aus Schuldgefühl, den Vater alleingelassen zu haben, wollte er einen eigenen Sohn, der den Namen des Vaters tragen sollte; die Patientin war aber ein Mädchen (Basisschuldgefühl wegen des »falschen« Geschlechts); sie bekam den ins Weibliche verwandelten Namen des Vaters: Josepha. Später wollte der Vater dann, dass (wenigstens!) seine Tochter, die Patientin, einen Sohn bekäme. Kurz vor seinem Tod wurde sie schwanger, bekam aber wiederum eine Tochter. Als ob sie sich mit den Aufträgen der Eltern, ein Ersatz für die verlorenen Angehörigen und die ungeborenen Söhne zu sein, identifiziert hätte, verursachte sie den Tod ihrer Tochter durch einen selbstverschuldeten Unfall kurz vor dem Jahrestag des Todes des Vaters! Eine andere, eher »männliche« Form der introjektiven Übernahme realer Schuld aus der Vorgeneration resultiert in einer identifikatorischen Nachahmung, einer Art nicht gelingender Selbstrettungsversuch durch Schaffung neuer Opfer. Hier ein Beispiel aus der Kindertherapie für die Weitergabe destruktiver Aggression über drei Generationen, ein Fall, über den ich bereits berichtet habe (Hirsch 2000; auch 2004): Armin K. entwickelte im Alter von 12 Jahren derartig aggressive und antisoziale Verhaltensweisen, dass der Verweis von der Schule drohte. Armin lebte allein mit der Mutter, nachdem diese sich von Armins Vater getrennt hatte. Der Vater wurde als extrem aggressiv beschrieben, in jähen Stimmungsschwankungen habe er sowohl Armin als auch die Mutter häufig geprügelt, sei dann oft wieder weinerlich Mitleid heischend gewesen. Er hatte eine Firma in den Konkurs getrieben; die Schuldenlast musste Armins Mutter, die der Vater einmal zu einer Unterschrift gedrängt hatte, allein tragen. Die Familie war nach Übersee geflohen, dort verstärkte sich aber bald die Aggressivität des Vaters, sodass die Mutter mit Armin zurückkehrte, obwohl sie in Deutschland die immensen Schulden abtragen musste. In seiner extremen Kränkung versuchte der Vater, Armin zu entführen, was in letzter Minute mit Polizeigewalt verhindert werden konnte. – Von Armins Vater wurde bekannt, dass er der Sohn eines hohen Nazibeamten war, der von den Alliierten zum Tode verurteilt, am Tage vor der Vollstreckung aber begnadigt und schließlich entlassen worden war, als Armins Vater etwa neun Jahre alt war. Wegen der langen Haft kannte er den Vater gar nicht und war umso mehr entsetzt, als der unbelehrbare, extrem gekränkte Vater eine Schreckensherrschaft installierte, die durch folgendes Bild illustriert werden kann: Die Familie saß stumm am Mittagstisch, die Suppe war noch sehr heiß, sodass das Kind sie nicht essen konnte. Voll stummer Wut über den vermeintlichen Ungehorsam packte der Vater den Nacken des Jungen und drückte sein Gesicht in den Teller mit heißer Suppe … – Armins Aggressionsproblematik zeigte sich bereits in der anfänglichen Kontaktaufnahme, gute und böse Teilobjekte (ein Krokodil attackiert einen Mann, und ein anderer sonnt sich im Liegestuhl) trennte er im Sceno-Test sauber, die beiden männlichen Objekte wohl gleichzeitig er selbst und eine ambivalent ersehnte und gefürchtete
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Vaterfigur. Die in der Übertragung entstandene Aggression wurde bald in einer für einen Pubertierenden durchschnittlich zu erwartenden Form ausgedrückt (die beiden Therapeuten werden in Zeichnungen geradezu massakriert). Dann aber scheint sich, unheimlich genug, etwas Spezifisches abzubilden, das aus der Nazitradition stammen dürfte: Die Vernichtungsphantasie wird in Form von maschinellen Apparaten, die Menschen (die Therapeuten) zerkleinern, dargestellt, die von uns, den Therapeuten, durchaus als Äquivalent der Anlagen fabrikmäßiger Massenvernichtung aufgefasst wurden. Was ich damals so nicht sehen konnte, verstehe ich heute als unbewussten Integrationsversuch des ungeheuerlich Destruktiven der Großelterngeneration durch den Jugendlichen: Die Aggression konnte offenbar weitgehend durchgearbeitet, eher metabolisiert werden, sodass die Übertragungsbeziehung einen positiveren Charakter annahm. Er schrieb mir gegen Ende der Therapie eine Karte ausgerechnet aus Israel, wohin er mit seiner Mutter gefahren war: »Hallo Opa, ich schreibe aus dem fernen Orient. Aber nur, weil ich nicht wusste, an wen ich diese letzte Karte noch schicken sollte. Hier ist es mittags sehr sonnig und warm, morgens und abends allerdings wie im Himalaya eiskalt! Jetzt hab‘ ich aber keine Lust mehr zu schreiben, denn ich habe schon über 10 Karten bekritzelt. Bis Donnerstag dann! Tschüss Armin.« Sicher war seine Anrede »Opa« ironisch-abwertend gemeint, unbewusst meinte er sicher den Großvater, der ja der Nazi-Täter gewesen war. Der ganze Text klingt aber sehr ambivalent und kann die heimliche Sympathie kaum verbergen, als wollte er sich durch die Übertragung auf mich von diesem lösen.
Ungelöster Widerspruch in der Elterngeneration Introjekte entstehen auch, wenn ein Widerspruch zwischen dem nar zisstisch-inzestuösen Begehren des Elternteils und dessen verbietendem Über-Ich nicht gelöst ist. Wieder sind es subtile Formen der intrusiven, projektiv-identifikatorischen Weitergabe an die Kinder. Das Begehren ist zwar im Sinne des latenten Inzests (vgl. Hirsch 1993c) atmosphärisch vorhanden, eine bewusste Wahrnehmung und Einord nung oder gar eine Auseinandersetzung ist den Eltern aber nicht mög lich. Auch bei der nicht offen sexuellen Traumatisierung lässt sich eine gewisse Sexualisierung oft nicht übersehen, hervorgerufen durch eine subtile Überstimulierung und verbunden mit einem Defizit an Für sorge, wie es besonders Cournut (1988, S. 85 u. 92) beschrieben hat. Es wäre dann das verpönte, verbotene mütterliche inzestuöse Begeh ren, das gleichzeitig mit ihrem strengen Über-Ich introjiziert würde – wie in dem Fallbeispiel von Torok (1968, S. 511), in dem die Mutter das eigene Begehren dadurch abwertet, dass sie den erigierten Penis des Jungen aggressiv mit der Hand umfasste mit den Worten: »Siehst du, wenn man [nämlich die Mutter selbst] angegriffen wird, kann man einen Mann am Geschlecht erwischen!« Ähnlich ein Fall bei Zepf und Mitautoren (1986, S. 136), in dem die Mutter nach einem lustvol len Spiel im Bett mit dem Sohn entsetzt über seine Erektion mit ihm
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schimpfte. Ein anderer, ähnlicher Widerspruch in den Eltern verhindert die Entstehung eines Identitätsgefühls des Kindes: Ein Kind ist zwar gewollt, aber nicht »richtig« (vgl. Basisschuldgefühl, Teil II, S. 152). Die Eltern wollen gute Eltern sein (Über-Ich), lehnen das Kind aber ab: Es hat nicht das richtige Geschlecht oder ist ungenügend als Ersatz für ein verlorenes Objekt (ein totes Geschwister z. B.). In dem von Torok (1968, S. 512) beschriebenen Fall mussten Inzestwunsch und Inzestverbot der Mutter vom Sohn gleichermaßen introjiziert werden, der in der Analyse den verständlichen Wunsch entwickelte: »Ich meinerseits, ich möchte, dass meine Mutter ihr Begehren und Verlangen nach mir eingesteht« (Hervorhebung M. H.). Denn das sexuelle Begehren und, wie Ferenczi (vgl. Sabourin 1985, s. o.) es schon erfasste, noch viel mehr das gleichzeitige Verbot, das zu Schweigen und Verleugnung führt, verhinderten, dass Mutter und Sohn sich gegenseitig gut finden konnten. Es folgt ein Beispiel für die introjektive Übernahme der Identitäts probleme einer Mutter durch die Tochter, die sich unbewusst mit dem Mangel an Selbstwert der Mutter identifiziert; das Introjekt ist in der Phantasie verbunden mit und wird ausgedrückt durch ein perinatales körperliches Trauma: Eine Patientin berichtet in den Vorgesprächen, dass sie nach dem Tod des Vaters schwer depressiv geworden sei, eine Essstörung entwickelt habe sowie eine Gehstörung, für die kein organischer Befund erhoben werden konnte. Sie könne Trep pen nicht »fließend« steigen: »Als ob mein Leben aus dem Tritt gekommen wäre.« Sie könne Partnerbeziehungen nicht durchhalten: »Als ob ich einen richtigen Mann nicht verdient hätte.« Sie habe ihre Berufsausbildung abgebrochen, weil sie sich nichts zugetraut habe. Ihre Mutter war eine schweigsame Frau, sie habe nie gespro chen; im zweiten Vorgespräch sagt sie: »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …« Die Mutter frage zwar, wolle aber eigentlich gar nichts wissen. Die Mutter sei immer unzufrieden gewesen, habe keinen Beruf gehabt, habe sich in der Ehe unter geordnet, wisse jetzt nichts mit sich anzufangen. Sie habe eine ältere Schwester; als zweites Kind hätte sie ein Junge sein sollen. Als Kind sei sie auch wie ein Junge gewesen, dadurch war sie der Mutter aber zu unbequem, die Schwester dagegen sei vorgezogen, sicher mehr geliebt worden, sei »wie ein Mädchen« gewesen, habe sich nie schmutzig gemacht. Es ist, als habe die Mutter das erste Kind als Mädchen noch akzeptieren können, als weibliches Kind, das es einmal besser haben sollte als sie selbst. Die Geburt der Patientin war aber eine Enttäuschung, es war wieder kein Junge. Nun scheint es, als müsste die Patientin den negativen Selbstanteil der Mutter tragen: Sie kann nichts, wie die Mutter, sie spricht nichts, sie weiß nichts, wie die Mutter, hat das Gefühl, wie die Mutter zu sein: »Eine dumme, unselbststän dige Frau, nicht weitergebildet, kein Hobby, nichts!« Und auf der körperlichen Ebene gibt es eine Entsprechung der Wertlosigkeit, als ob ein körperliches Zeichen am Anfang ihres Lebens introjektartig sich fortgeführt hätte: Sie sei durch Kai serschnitt entbunden worden, und dabei sei in ihre Haut geschnitten worden, sie sei ohne Narkose, wie man ihr berichtet habe, genäht worden und habe furchtbar
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geschrien. Durch einen Unfall später habe sie Schnittverletzungen im Gesicht erlit ten – und wegen immer wiederkehrender Schweißdrüsenabszesse habe man sie immer wieder schneiden müssen …
Übernommene Inzesttraumata Inzestuöse Traumata sind prädestiniert, introjektiv eingekapselt zu werden: Sie sind traumatische Gewalt, die das Ich zu überrollen droht, verwirrend, da von einem geliebten Angehörigen verübt, mit Rede verbot belegt, und einen Zeugen gibt es nicht. Das Fremde ist hier die Sexualität des Erwachsenen. Aber besonders in Behandlungen, in denen das Inzest-Thema ständig in der Luft liegt und doch manchmal über Jahre der Analyse als reales Geschehen der Vergangenheit nicht verifiziert werden kann, andererseits auch die Analyse der Phantasien das Thema nicht erübrigt, muss man daran denken, dass nicht die Pati entin oder der Patient selbst das Opfer war, sondern das Inzest-Thema von einem anderen übernommen worden ist, von der Mutter etwa oder einem Geschwister, die Inzestopfer geworden waren. Eine Patientin kam in der langjährigen Therapie zu der festen Überzeugung, sexuell missbraucht worden zu sein, und zwar anhand von Träumen und ihren masochistischen Partnerbeziehungen. Sie tat alles, um den Missbrauch endlich als Realität nachweisen zu können, suchte die Eltern auf und konfrontierte sie. Sie konnte den Ort, an dem im Traum der Inzest stattgefunden hatte, wider Erwar ten nicht finden. Als ich vorsichtig ihre feste Überzeugung relativieren wollte, entwickelte sie heftige Aggressionen in der Übertragung. Schließlich verdich tete sich der Verdacht, dass nicht die Patientin, sondern ihre Schwester Opfer des sexuellen Missbrauchs durch den Vater geworden war. Es konnte nun eine komplizierte Rivalitätsbeziehung zur Schwester aufgedeckt werden, voller Ambi valenz, zwischen Abscheu und Eifersucht der geahnten Sexualität zwischen Vater und Schwester gegenüber.
Ähnlich haben Abraham und Torok (1976) minutiös nachgewiesen, dass der »Wolfsmann« Zeuge der inzestuösen Handlungen zwischen Vater und Schwester geworden war und fortan, hin und hergerissen zwi schen Inzestwunsch und Kastrationsangst, das Geheimnis und die eigene Beteiligung als kryptisches Introjekt zeitlebens verbergen musste.
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Verluste in der Elterngeneration Je früher Eltern Verluste erlitten haben und je weniger sie trauern konn ten, desto eher werden Introjekte hervorgerufen, die wiederum auf die Kinder introjektartig einwirken. Die Kinder werden mit der ihnen noch verbliebenen Vitalität versuchen, die Eltern lebendiger zu machen, in einer Art Rollenumkehr die Eltern zu bemuttern, wie das besonders für Überlebende des Nazi-Terrors beschrieben wurde (z. B. Grubrich-Simitis 1979; Faimberg 1987; Kogan 1990b; s. o.). Aber auch weniger unfassbare Schrecken und Verluste können Introjekte hinterlassen, die auf die folgenden Generationen wirken; die Kinder versuchen dann, der »Sonnenschein« für Vater oder Mutter zu sein, sie versuchen, von dumpfem Schuldgefühl getrieben, die depressiven Eltern zu retten, indem sie endlos weiter für sie sorgen, sich nicht trennen können, oder indem sie in ihren Partnern wiederum neue »Opfer« finden, die den Eltern entsprechen und die sie wiederum »retten« müssen, ohne sich trennen, das heißt immer auch, im eigenen Recht leben zu können. Lydia S., deren Vater Südamerikaner war, hatte eine Mutter, deren eigene Mutter während der Geburt ihres dritten Kindes bei einem Bombenangriff ums Leben kam, als sie (die Mutter der Patientin) neun Jahre alt war. Das Schuldgefühl des Kindes, der späteren Patientin, eine Mutter zu haben, während die Mutter selbst keine hatte, fand ihre komplementäre Entsprechung in dem Vorwurf gegen die Tochter (die Patientin) in der Adoleszenz: »Ich verstehe nicht, dass du es nicht bes ser nutzt, dass du eine Mutter hast, ich wäre froh gewesen …!« Aber darin ist ein projektiver Anteil enthalten, der auf eine unsichere Grenze zwischen Mutter und Tochter vonseiten der Mutter hinweist: Eigentlich möchte sie mehr von der Tochter haben wie von einer Mutter, die sie nicht hatte, während die Tochter sich aufmacht, selbstständig zu werden. Als die Tochter kleiner war, sagte die Mutter schon ein mal: »Wann bist du endlich groß genug, dass ich dir alles erzählen kann …«
Es sollen einige Beispiele folgen von introjektartigen Niederschlägen in der Kindergeneration aufgrund schwerer Verluste, die die Eltern erlitten hatten. Eine Patientin (Angelika A., die durch das Rauchen mit der Mutter verbunden war) klagt in der therapeutischen Gruppe, wie schlecht es ihr ginge, dass alles aus sichtslos sei, dabei habe sie doch eine glückliche Kindheit gehabt. – Ein Gruppen mitglied bemerkt, dass sie vor kurzem genau das Gegenteil berichtet habe, dass es ihr gutgehe und sie beruflich klarkomme. Eine andere Mitpatientin glaubt ihr die »glückliche Kindheit« nicht und sagt: »Du bist lieber traurig über deine verlorenge gangene Kindheit, als Leere zu empfinden, du baust dir das auf, um traurig sein zu können. Dann weißt du wenigstens, was los ist. Traurigkeit ist leichter auszuhalten als Leere.« – Darauf die Patientin: »Ja, wenn du Leere sagst, sehe ich Bilder, die mich bedrohen. Ich bin zum Beispiel in die Bahn eingestiegen und habe gedacht: Nun werde ich deportiert …« – Es stellt sich heraus, dass sie dieses Wort als Kind
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kennengelernt hatte, damals wurde damit die Flucht der Mutter bei Kriegsende bezeichnet. Die Mutter hatte eine »glückliche Kindheit« auf einem Bauernhof in Ostpreußen, die Mutter idealisierte ihre Kindheit, aus der sie durch die »Depor tation« herausgerissen worden war. Kürzlich hat die Mutter das Bild einer Land schaft mit wogenden gelben Weizenfeldern aus ihrer Heimat wieder aufgehängt. Wogende Weizenfelder bedeuten das Glück der Mutter; das Weserbergland dage gen bedeutet ihre eigene »glückliche Kindheit«. Ihr späteres Leben als Erwach sene, der berufliche Erfolg, die Freiheit aus der einengenden Partnerbeziehung erlebt sie als »Deportation«, ein aussichtsloses Unglück. Dabei war die Kindheit der Patientin überschattet von der Depression der Mutter, von ihrer Leere und Hilf losigkeit; voller Schuldgefühl musste man ihr alles abnehmen und recht zu machen versuchen. Die Patientin sagt jetzt: »Ja, ich habe eine Kinderwelt von Ostpreußen in mir.« Würde sie sich davon trennen, würde es die Mutter nicht aushalten. Sie würde Schuld auf sich laden, die Mutter noch einmal deportieren, also zieht sie es vor, ihr relativ akzeptables Leben, mit dem sie eigentlich zufrieden sein könnte, zu entwerten und als »Deportation« aus einer idealisierten Kindheit zu erleben. In derselben Gruppe wollen sich zwei Patientinnen – Melanie B. und Bettina B. – von ihren Ehemännern trennen. Melanie B. hat große Angst vor ihrer neuen Arbeitsstelle, sie will den Urlaub allein verbringen und hat mit ihrem Mann einen Termin bei einer Beratungsstelle vereinbart. Vor einer Woche hatte sie einen Traum: Sie ist bei ihren Eltern in der Garage und baut sich im Dunkeln und im Regen ein Fahrzeug zusammen, weil sie wegwill. Sie macht einen Schlauch von einem Brunnenmotor ab; die Garage der Eltern steht unter Wasser. Der Schlauch und die Dichtungen sind morsch. Sie muss das alles unbedingt verbergen. – Sie sagt gleich, dass sie sich schäme, einen »Ingenieurstraum« zu haben, denn ihr Vater war Ingenieur. (Sie schämt sich, weil sie mit dem Vater verbunden ist, das widerspricht ihrem Ideal-Ich; sie hat aber Schuldgefühle [»alles verbergen«], dass sie gehen will.) Es wird klar, dass sie ungeheure Schuldgefühle hat, sich von ihrem Mann zu trennen, ständig überlegt, wie es ihm geht, ob er suizidal ist, ob sie ihm das antun kann, ob sie das Recht dazu hat. Schon wenn sie einmal nachmittags mit Kollegen zusammentrifft, sogar wenn sie in ihr Zimmer geht und der Mann im Wohnzimmer bleibt, hat sie Schuldgefühle. Bettina B. berichtet, dass sie das Gefühl hat, als ob ein Geschwür in ihr sitze. Dieses Gefühl habe mit der Nähe zu ihrem Mann zu tun, die er immer wieder herstellen will, indem er dauernd versucht, sie zu überreden, wieder über ihre Beziehung zu sprechen. Sie hat extreme Schuldgefühle, diese Gesprächswünsche abzulehnen, sie bekommt Asthma und migräneartige Kopfschmerzen. Sie berich tet, dass sie »extrem blöde Träume« hat: Sie ist mit Freunden in Urlaub gefahren, wo sie aber nur abscheuliche Hotels und öde, leere Landschaften antreffen. Sie wechseln aber den Ort nicht, weil Frau B. es ihrem Mann, der ihnen nachgereist ist, und der sie im Traum an ihren Vater erinnert, nicht erklären könne, warum sie wegwolle.
Es wird klar, dass die unheimlichen Bindungen an die ungeliebten Män ner, die in der Trennungssituation und der bevorstehenden Urlaubszeit wieder verstärkt werden und verstärkt Schuldgefühle machen, mit den Vaterbindungen beider Patientinnen zu tun haben. Beide haben mutterlose Väter, die als Kinder weggegeben wurden: Die Mutter des Vaters von Melanie B. starb bei seiner Geburt, er wurde zu Verwandten in das Heimatland seines Vaters (dieser hatte durch Emigration die Heimat
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verloren …) gegeben, wo er eine fremde Sprache lernte. Als der Vater (Großvater der Patientin) wieder heiratete, wurde das Kind mit sechs Jahren zurückgeholt, verlor aber dadurch wiederum die neue Heimat. Der Vater von Bettina B. verlor seine Eltern, weil er in der Nazi-Zeit in eine Familie in Pflege gegeben wurde, um zu verbergen, dass seine Mutter Jüdin, er also Halbjude war. Es wird klar, dass beide Frauen noch immer ihre Väter retten, deren Leere ausfüllen müssen. Sie haben sich entsprechende narzisstisch bedürftige Partner gesucht, mit denen sie das alles wiederholen. Ihre eigene Bedürftigkeit darf nicht erlebt werden, keine Gefühle dazu dürfen herauskommen. Sie versuchen, sich selbst zu retten, indem sie ihre Väter retten, während das Schuldgefühl sie hindert, diese Aufgabe hinter sich zu lassen. Das Unheimliche des Introjekts, das immer wiederkehrt und an die folgenden Generationen weitergegeben wird, wurde an der Geschichte einer Patientin, Lisbetta V., besonders deutlich, deren Vater sowohl die Mutter als auch – schuldhaft? – die erste Ehefrau verloren hatte: In geradezu mystischer Weise erlangte das Lebensalter von neun Jahren eine Bedeutung. Als der Vater der Patientin seine Mutter durch Tod verlor, war er neun Jahre alt. Die Patientin hatte drei ältere Halbschwestern. Als die älteste Schwester neun Jahre alt war, bekam deren Mutter, die erste Frau des Vaters also, ihr drittes Kind, wodurch die Älteste sich völlig alleingelassen fühlte. Als die zweitälteste Halbschwester neun Jahre alt war, starb ihre Mutter nach einem Verkehrsunfall; der Vater hatte am Steuer gesessen und war selbst schwer verletzt worden. Der Vater hatte dann wieder geheiratet (die Mutter der Patientin); als die jüngste Halb schwester neun Jahre alt war, wurde die Patientin geboren, für die Stiefschwester blieb nun keine Zeit mehr. Als die Patientin selbst neun Jahre alt war, zog die Fami lie aus der dörflichen Umgebung in die Großstadt, die Patientin wehrte sich gegen diese Trennung, wollte nicht weg, konnte natürlich nichts ausrichten.
Es hat den Anschein, dass der Vater also aufgrund des eigenen Introjekts, das dem Verlust der Mutter entsprach, gezwungen war, jedem seiner Kinder ein Stück Mutter wegzunehmen, entweder durch die Geburt eines neuen Kindes oder gar durch Tod, und zwar im selben Alter, in dem er die eigene Mutter verloren hatte. Auch die Patientin selbst verlor noch etwas, als sie dieses Alter erreicht hatte, die Heimat – ein Stück Mutter sozusagen.
III. Schuld und Schuldgefühl
Das Schuldgefühl ist mehrfach determiniert In diesem Abschnitt soll es über die Mehrfach-Determiniertheit der Über-Ich-Anteile und damit der verschiedenen Schuldgefühl-Komponenten hinaus um das Zusammentreffen von Schuldgefühl und Schuld gehen, das heißt um das Aufzeigen und Bestimmen von Anteilen des Schulderlebens in einem Individuum, das teils verschiedenen Schuldgefühlsqualitäten, teils auch realer Schuld an einem bzw. Verantwor tung für einen Schaden entspricht, der einem anderen oder sich selbst angetan wurde. Derartige tragische Verknüpfungen, die aus einem lich unschul di gen Opfer einen schul di gen Täter machen, ursprüng beruhen auf komplizierten Internalisierungs- und Identifikationsprozessen (vgl. Teil II., S. 90 ff. u. S. 242 ff.). Ich erinnere an Zefira V., deren Existenz bereits unerwünscht war, denn sie sollte abgetrieben werden (Basisschuldgefühl), deren Vater sich suizidierte, als sie ein einhalb Jahre alt war (Schuldgefühl aufgrund frühen traumatischen Verlusts), die dann Partnerersatz für die Mutter sein musste (Rollen umkehr), selbstverständlich damit überfordert war und entsprechend Schuldgefühle entwickelte, dieser Aufgabe nicht genügend gerecht zu werden. Aufgrund mangelnden Selbstwertgefühls und mit ungelebter Aggression verbundener Vater-Sehnsucht erfolgte eine Partnerwahl, aus der eine derart unerträgliche Ehe resultierte, dass die Patientin ihre Kinder ebenso abrupt – schuldhaft – verließ, wie sie von ihrem Vater – ohne Abschied – verlassen worden war. Eine solche Abfolge ist ebenso tragisch wie alltäglich; die Frage aber, wo ein irrationa les Schuldgefühl aufhört und reale Schuld beginnt, ist hier bereits schwer zu beantworten. Natürlich gibt es keine Schuld des Feten an seiner beabsichtigten Abtreibung, eines Kleinkindes am Selbstmord eines Elternteils, am Tod eines Geschwisters, der eintrat, als man selbst noch gar nicht geboren war. Andererseits kann man eine Ver antwortung sowohl für die Partnerwahl als auch besonders für das Verlassen der Kinder nicht übersehen, und nicht wahrgenommene Verantwortung bedeutet Schuld, auch wenn die Schuld deshalb tra gisch zu nennen ist, weil sie unausweichlich aufgrund des introjekt-
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Schuld und Schuldgefühl
artigen Programms mehrfacher früher Traumatisierungen entstanden ist. In einem anderen Fall (Martin Z.) brachte sich der Vater um, als der Junge fünf Jahre alt war – auch hier war die Existenz ungewollt, ausge drückt durch die Familienlegende, nach der durch die Geburt des Kin des das schwere Asthma der Mutter ausgelöst worden war, auch hier entstand eine Partnerersatzdynamik, obendrein pseudo-ödipal sexuali siert, die schwere Schuldgefühle nach sich zog. Um letztlich die furcht baren Schuldgefühle zu vermeiden, Frauen immer wieder enttäuschen zu müssen, wenn er die Beziehung nicht mehr aushielt und sich trennen musste, heiratete er, machte damit aber – schuldhaft – ein Verspre chen, das er nicht halten konnte. Auch dem Kind seiner Frau, dem er ein Vater sein wollte, zum Teil als Wiedergutmachungsversuch seines eigenen Schicksals gedacht, konnte er das implizite Versprechen, eben falls verlässlich da zu sein, nicht halten. Sicher ist hier ebenfalls Schuld anderen Menschen gegenüber entstanden. Ein Beispiel vielfältiger Überlagerung und Bedingung von Schuld gefühl und Schuld findet sich in folgender Szene einer Gruppenpsychotherapiesitzung: Fanny G.-L. (vgl. Teil II, S. 216) ist zwar seit einigen Monaten in der Gruppe, hat sich aber bisher wenig einbringen können. Sie kommt wegen ihres Termindrucks oft zu spät zu den Sitzungen. Sie will es allen, das heißt dem Arbeitgeber und den Kollegen und der Gruppe, recht machen und versucht, sich durchzulavieren. Sie hat große Angst vor der Therapie, will aber nicht aufhören, weil sie meint, sie müsse sie durchhalten. Der Therapeut möchte ihre unrealistische Angst vor Strafe durch die Gruppe auf ihre Ursprünge zurückgeführt haben. Fanny G.-L. hat zwei Bilder von ihrer Herkunftsfamilie: Einmal die treusorgenden Eltern (»Wir tun alles für euch«), zum andern einen tobenden Vater, mit einem Schürhaken über den Bruder gebeugt, und eine Mutter, die psychisch zu dekompensieren drohte und aufgelöst mit Herzschmerzen und Körperzittern an ihre Umgebung um Hilfe appellierte, aber »Lass mich in Ruhe!« rief, wenn die Patientin damals herbeieilte, um ihr zu helfen. Der jähzornige Vater ließ keinen Raum für eine eigene Meinung, die Mutter brach bei Auseinandersetzungen zusammen, sie weinte immer gleich. Jetzt gibt es höchstens noch Krach, wenn Fannys achtjähriger Sohn, den sie jeden Tag zu ihren Eltern bringt, zu sehr tobt. Man dürfe die Mutter nicht zu sehr belasten. Obwohl die Patientin weiß, dass es für ihren Sohn nicht optimal ist, meint sie, ihn ihren Eltern nicht wegnehmen zu können: »Dann nehme ich mich lieber als Mutter zurück.« Sie fürchtet, dass ihre Eltern nur Kleinkrieg haben, wenn sie den Jungen nicht mehr hingibt und sie nicht sinnvoll beschäftigt sind, zumal der Vater inzwi schen pensioniert ist. Ein Gruppenmitglied ist entsetzt, dass sie von den Eltern so abhängig ist und sich noch immer sorgt und immer alles auf sich nimmt und alles entschuldigt, sogar ihren Sohn hingibt, damit die Eltern etwas davon haben. – Die Gruppe erarbeitet, dass der Sohn wie eine Nabelschnur eine Verbindung zu ihren Eltern herstellt, die abreißen würde, wenn sie ihn nicht mehr hinbrächte. Frau G.-L. hat Sorge, dass sich die Eltern dann abgeschoben fühlen würden; andererseits kann sie so ganztags
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arbeiten, hat also auch etwas davon. Es wird klar, dass sie auf diese Weise ihre Eltern auch täglich sieht, dass auch ein Wunsch dahintersteckt, noch immer etwas von ihnen zu bekommen. Ein Gruppenmitglied spürt eine tiefe Verpflichtung bei Frau G.-L., sich um ihre Eltern zu kümmern. Sie gibt ihnen ihren Sohn und will gleichzeitig von ihnen etwas haben.
An diesen Beispielen kann man deutlich sehen, dass aus irrationalen Schuldgefühlen, denen man nachzugeben gezwungen ist, reale Schuld entstehen kann: Aus Schuldgefühlen, für die Eltern nicht genug zu sorgen (aufgrund alter Rollenumkehrdynamik) wird in dem einen Fall eine Ehe eingegangen und einem Kind versprochen, Vater für es zu sein, im anderen Fall das eigene Kind sozusagen einer unrealistischen, aber natürlich auch nicht uneigennützigen Vorstellung von familiä rer Harmonie, die zu erhalten man sich verantwortlich fühlt, geopfert. Auch falsch verstandenes Mitleid – eine Art Schuldgefühl Bedürftigen und Leidenden gegenüber, besonders in helfenden Berufen – führt oft zu einem Versprechen zu helfen, das nicht eingehalten werden kann, sodass der Schaden und damit reale Schuld überhaupt erst dadurch entsteht, dass nicht von Anfang an eine realistische Grenze gezogen worden ist, zumal ähnlich wie im Beispiel der Fanny G.-L. oft nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Helfer sich gerade von den Bedürftigen selbst noch etwas holen möchte.
Die Schuld des Opfers Wenn der Umgang mit dem Begriff »Schuld« durch die Beschäfti gung mit der Existenzialphilosophie und den daseinsanalytischen Schulen sozusagen alltäglich geworden ist, weil man Schuld selbstverständlich als Teil der conditio humana begreift, verliert man leicht das Gefühl für die Bedeutung, die ihm im allgemeinen Sprachgebrauch anhaftet. Schuld wird allzu leicht in die Nähe von Sünde und damit in einen Zusammenhang einer buchstäblich Unmenschliches fordernden Moral gestellt, während der Begriff doch lediglich meint, dass Schuld bereits zum bloßen menschlichen Sein gehört und Handeln immer auch Schuldigwerden enthält. Über dieses Allgemeine hinaus definiert man besondere Schuld durch den konkreten Schaden, den ein anderer oder man selbst durch eine Tat erleidet. Auch kann man das Anteil mäßige durch den Begriff der Mitschuld oder Mitverantwortung aus drücken, das Opfer trägt einen Teil der Schuld oder Verantwortung, wenn es aufgrund von Identifikation zu schädigenden Handlungen kommt.
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Für das Opfer familiären sexuellen Missbrauchs ist die Anerken nung, ja das Denken überhaupt des Mitgemacht-Habens, des Auch-gewollt-Habens des doch schrecklichen Angriffs auf die körperlich-psy chische Integrität eines Kindes, die Anerkennung der Kollusion und der eigenen Lust am Inzest-Geschehen das Schwerste in der Therapie zu Entdeckende und zu Bearbeitende, verbunden mit größten Schuld- und Schamgefühlen. Ebenso bereitet es größte Schwierigkeiten, im Opfer entweder schwerer familiärer Gewalt oder oft unvorstellbarer Gewalteinwirkungen wie Folter oder KZ-Haft, Vergewaltigung und Kriegs einwirkung einen eigenen Anteil, eine Mitwirkung, also Schuld oder Mitschuld, Mitverantwortung zu sehen. Da man selbst auf der Seite des misshandelten und missbrauchten Kindes, des primär unschuldigen Opfers politischer oder rassistischer, kaum begreifbarer Verfolgung steht, ist es sehr schwer, einen Teil des Opfers anzuerkennen, der mit dem Täter identifiziert ist. Grubrich-Simitis (1979, S. 1016) spricht von »Kollaboration mit dem Täter«, ebenso Oliner (1995, S. 307). Es ist wie ein letztes Tabu, man wagt buchstäblich nicht, daran zu denken. Doch wir haben Mechanismen der Internalisierung von Gewalterfahrung kennengelernt, die zu massiven Identifikationen mit dem Täter und der Gewalt führen. Für die Opfer des Nazi-Terrors war oft die »Identifizierung mit der Nazi-Moral« (Bergmann 1995, S. 333) die einzige Möglichkeit zu überleben. Die beiden Formen der Identifika tion mit der verinnerlichten Gewalt (mit dem Aggressor, mit dem Intro jekt) äußern sich entweder darin, dass das Opfer eben dieselbe Gewaltform gegen sich selbst richtet, also oft lebenslang Opfer bleibt, oder aber dass in einer Opfer-Täter-Umkehr die erlittene Gewalt nach außen gegen Schwächere gerichtet wird. Meines Erachtens entsteht besonders im letzteren Fall Schuld, auch wenn das ursprüngliche Opfer keine Wahl hat. Überlebende von KZ-Haft externalisierten häufig in einer Art aggressiven Kontrollverlusts die internalisierte Gewalterfahrung, indem sie ihre Kinder – wegen deren selbstverständlicher Lebendig keit – als Terroristen erlebten, sie nannten sie wütend »kleiner Hitler«, wie berichtet wird (Bergmann 1995, S. 342). Bernhard Schlink (2002, S. 35) schreibt: »Dass die Opfer selber schuldig werden konnten, mag man kaum aussprechen. Die Furchtbarkeit ihres Leidens verschlägt einem die Feststellung ihrer Schuld. Aber in den Kindern wird die Wahrheit, die man nicht aussprechen mag, sichtbar.« Es liegt sicher eine Grenzverwischung von Täter und Opfer zugrunde – indem die Opfer des Terrors in ihren Kindern die Täter wiedererleben, machen sie diese zu Opfern, werden selbst zu Tätern. Auch wenn die Identifikation und die Wendung gegen Schwächere aus existenzieller Not, aus Gründen des bloßen Überlebens notwendig
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war, ist Schuld insofern gegeben, als ein anderer Schaden erleidet. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und auch dem Opfer eine Schuld zuschreiben, das ganz im Sinne des Täters, mit dem es sich identifiziert, das eigene Leben immer wieder zu zerstören sucht, eine Schuld aufgrund der Vernachlässigung der existenziellen Pflicht, auch das eigene Leben optimal und »lebenswert« zu gestalten. Die unbewusste Dynamik der Mittäterschaft wirft auch ein Licht auf das vielfach beschriebene Gefühl der Schuld am Tod so vieler Leidens genossen bei Überlebenden des Nazi-Terrors (vgl. Teil II, S. 199 f.). Die Identifikation mit dem Täter in Ferenczis Sinn führt nicht nur zu dem Gefühl des Opfers, selbst schlecht, sozusagen »zu Recht« Opfer zu sein, sondern erstreckt sich ebenso auch auf die Schicksalsgenossen, die unbewusst entsprechend ebenso »zu Recht« Opfer wären, da man sich mit dem Täter identifiziert, tragischerweise seine Tat anerkennt. Wie weit die Identifikation mit dem Aggressor auf einer intrapsychischen Ebene mit dem entsprechenden Introjekt gehen kann, hat Bettelheim (1979, S. 89 f.) eindrücklich beschrieben: »Die Art und Weise, wie diese Gefangenen von den alten Häftlingen manchmal tagelang mißhandelt und langsam umgebracht wurden, diese Methode stammte von der Gestapo … Die alten Gefangenen akzeptierten auch Wert- und Zielvorstel lungen der Nazis, und sie taten dies selbst dann, wenn es ihren eigenen Interessen zuwiderlief … Die Befriedigung, die manche alten Gefangenen bei der Tatsache empfanden, daß sie bei dem … Appell … wirklich mustergültig strammgestanden hatten, läßt sich nur durch die Tatsache erklären, daß sie die Wertvorstellungen der SS ganz und gar als ihre eigenen verinnerlicht hatten. Sie hatten versucht, Teile von alten SS-Uniformen zu erwerben, … ahmten sogar die Freizeitbetätigungen der SS nach.«
Ähnlich berichtet Améry (1966, S. 25):
»Unweigerlich stellte sich nach einer gewissen Zeit etwas ein, das mehr war als nur Resignation und das wir als Akzeptierung nicht nur der SS-Logik, sondern auch des SS-Wertsystems bezeichnen dürfen … Der Intellektuelle aber, der nach dem Zusammenbrechen des ersten inneren Widerstandes erkannt hatte, daß sehr wohl sein könne, was nicht sein darf, der die SS-Logik als stündlich sich erweisende Wirklichkeit erfuhr, ging nun im Denken ein paar verhängnisvolle Schritte weiter. Hatten jene, die ihn zu vernichten sich anschickten, nicht vielleicht recht gegen ihn, aufgrund des unbestreitbaren Faktums, daß sie die Stärkeren waren?«
In der Auseinandersetzung mit der Folter, der er unterworfen war, schreibt Améry (1966, S. 53): »Ich habe auch nicht vergessen, daß es Momente gab, wo ich der folternden Souve ränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegen brachte. Denn ist nicht, wer einen Menschen so ganz zum Körper und wimmernder Todesbeute machen darf, ein Gott oder zumindest ein Halbgott?«
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Keilson (1959, S. 113) beschreibt dichterisch die Einheit von Täter und Opfer aufgrund von Identifikation, wie ich meine: »Ohne Unterlaß erniedrigte ich mich, und dies mit einer beinahe selbstmörderi schen Freude am Erniedrigtsein. Jedesmal, wenn mich sein Schlag traf, dachte ich, daß es so sein müsse und daß es an mir liege. In allem, was er tat, schien mir ein Recht zu liegen und eine Berechtigung, die für mich ihre besondere Bedeutung beweisen konnte. Aber wer bricht die Gemeinschaft, die insgeheim zwischen Ver folgern und Verfolgten aufgerichtet ist?«
»Zwischen Unterdrückern und Unterdrückten bestehen keine Grenzen mehr«, wie es Amigorena und Vignar (1977, S. 614) ausdrücken. Bekannt wurde unter der Bezeichnung »Stockholm-Syndrom« eine mä ßige Soli da ri tät der Opfer des Über falls auf eine tiefe gefühls Stockholmer Bank durch Angehörige der Rote-Armee-Fraktion; die Geiseln identifizierten sich mit den Tätern und interessierten sich für ihre Motive. Wenn auch derartige furchtbare Unterwerfungsvorgänge aus dem Zwang zu überleben zu verstehen sind, aus der Notwendigkeit, sich ein narzisstisch gewährendes Objekt im Folterer zu schaffen, denn niemand sonst steht zur Verfügung (Eissler 1968; Ehlert u. Lorke 1988; Amati 1990), so macht die Identifikation schuldig, durch Billi gung und eventuell durch Mittäterschaft. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Schamgefühle der Fol teropfer unterscheidet Amati (1990, S. 738) in einem Nebensatz zwi schen Schuldgefühl und Schuld: »Eine meiner Patientinnen zeigte tiefe Scham …; nur unter großen Schwierigkei ten konnte sie sagen, was sie als ihre größte Schande empfand: die Beziehung mit einer der verantwortlichen Personen im Konzentrationslager. Es kam nacheinander zu Schuldgefühlen und dann zu Gefühlen der Scham im Bezug auf ihre Schuld.«
Auch Levi (1986) sieht eine enge Verbindung von Scham und Schuld gefühl des Überlebenden (siehe im Folgenden). Schamgefühle treten Amati (1990, S. 738) zufolge dann auf, wenn innerhalb des therapeu tischen Prozesses der Patient
»aus seiner Symbiose mit der Welt des Konzentrationslagers heraustritt und rea lisiert, daß er Dinge, die er nicht wollte, akzeptiert, sich an ›was auch immer‹ angepaßt hat. Oder sogar einer Faszination erlegen war …, sich für einen anderen entäußert, anderen zu deren Zwecken als Werkzeug gedient hat.«
Eine solche Scham, würde ich ergänzen, entsteht, wenn die Anerken nung der eigenen Identifikation mit der Gewalt und der damit verbun denen Schuld bevorsteht oder vollzogen ist. Ähnlich wie bei extremen Gewaltformen fällt es auch beim fami liären sexuellen Missbrauch besonders schwer, sich eine weitgehende Identifikation des Opfers mit dem Gewaltgeschehen, also eine Kolla
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boration vorzustellen, da es sich doch um ein bedürftiges Kind handelt. Brigitte O. war als Kleinkind ins Heim gegeben worden, die Mutter heiratete wie der, als das Kind sieben Jahre alt war, und sie wurde aus dem Heim zurückgeholt. Vom Stiefvater wurde sie dem Bruder vorgezogen, sie bekam Geschenke, wurde gelobt, nicht wie er geprügelt. Das habe sie genossen. Sie hatte Angst, in den Keller zu gehen. Die Mutter achtete nicht darauf und sagte: »Geh mal in den Keller, Koh len holen!« War der Stiefvater in der Nähe, sagte er schnell: »Ich begleite dich!« Sie war froh darüber, denn dann musste sie keine Angst haben, obwohl sie genau wusste, was geschehen würde. »Gib mir mal ’nen Kuss.« Na gut, warum nicht. Der Stiefvater drehte ihren Kopf so, dass Mund auf Mund traf, es wurde ein Zun genkuss, sie entwand sich, er lachte. Sie dachte damals, wenn sie das inzestuöse Agieren mitmachte: »Dann sieht der mich wenigstens!« Die Mutter hat den Körper des Kindes ständig schlecht gemacht, machte ruppige, entwertende Bemerkungen zum Beginn der Menstruation, mäkelte ständig an der Kleidung der Patientin: »Das ziehst du nicht an!« Die ersten schüchternen Kontakte zu Jungen wurden verspot tet, wenn Gleichaltrige zu Besuch kamen, wurden sie hinausgeworfen. Der Stief vater lauerte der Patientin zu dieser Zeit im Hausflur auf.
Wie soll ein solches Kind nicht vom Vater etwas haben wollen, da es doch sonst sowenig bekommt? Hier fällt es schwer, einen Schuldanteil aus Identifikation zu sehen und einem Kind eine Verantwortung für den Teil zuzuschreiben, der sich vom Missbrauch einen Vorteil verspricht, was zu unterscheiden und anzuerkennen aber in einer fortgeschrittenen Therapie wichtig wird. Als Frau O. elf Jahre alt war, hat sie der Stiefvater an ihren Brüsten »angepackt«, sie ist nicht weggegangen, hat es über sich ergehen lassen, auf die Uhr gestarrt … Das Schlimme: In der Nacht darauf hat sie dasselbe mit sich gemacht, hat Lust empfunden, hat sich selbst befriedigt … In der Adoleszenz aber hat sie sich eigene Lust verboten, als könne sie Täter und Opfer nicht mehr unterscheiden; wenn sie in die Nähe eines Jungen kam, konnte sie nur denken: »Hoffentlich missbraucht der mich nicht …«, eigene Wünsche hat sie nicht mehr zulassen können.
Das ist eine Abgrenzung an der falschen Stelle, als ob sie durch die Unter drückung der eige nen Bedürf nisse einen »Täter« abweh ren könnte. Einem tatsächlichen, äußeren Täter aber ging sie in der Ado leszenz in die Falle: Als sie 16 war, fuhr sie mit einer Freundin mit dem Rad auf den Rheinwiesen über lange Feldwege. Ein Mann fragte sie nach dem Weg und bestand darauf, die Mädchen sollten ihm nicht nur erklären, wo er langfahren müsse, sondern zeigen. Sie sind ein Stück mitgefahren, plötzlich hat er die Freundin weggeschickt (»Du fährst jetzt nach Hause!«). Die Patientin ist arglos weiter mitgefahren. Irgendwann verschwindet der Mann hinter einem Busch, er uriniert. Die Patientin bleibt in der Nähe. Der Mann kommt wieder mit offener Hose und erigiertem Glied: Einen
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Moment ist Frau O. erschrocken, sieht aber daran vorbei. Der Mann kommt auf sie zu, sie sieht sich die Landschaft an. Erst als er sie zu Boden geworfen hat, denkt sie: »Vergewaltigung!« Völlig zerstört kommt sie nach Hause, die Mutter schreit sie an: »Wie konntest du mir das antun!« Der Stiefvater aggressiv: »Hure!« In der weiteren Bearbeitung dieser Erinnerung erhärtet sich der Verdacht, dass eine orale Vergewaltigung durch den Stiefvater stattgefunden haben muss. Sie muss stän dig daran denken; sie träumt, dass etwas Schleimiges über ihr Gesicht läuft. Sie zwingt sich dazu, sich zu erinnern. Es dämmert ihr, dass der Stiefvater sie einmal mit dem Fahrrad abgeholt hat, worüber sie sich sehr gefreut hat. Sie sind an einer Wiese, einem Feld vorbeigefahren. Der Stiefvater hielt an, ging etwas beiseite, um zu urinieren. »Komm mal gucken!« Sie zögert, ist teils neugierig, teils ist sie sich bewusst, dass es etwas Schlechtes ist. Sie hat an seinem Glied vorbeigeguckt. Mit einem Handgriff hat er ihren Mund geöffnet und ihre Wangen zwischen die Zähne gedrückt, dann den Penis eingeführt. Sie erinnert sich an seine Augen, sie hat in seine Augen geblickt, eine einzige Frage: »Warum?« Hat sie etwas getan, dass er sie so behandelt?
Es finden sich genaue Parallelen zwischen der Vergewaltigung durch den Stiefvater und der zweiten in der Adoleszenz, die augenfällig zeigen, dass das traumatische Introjekt, das dem unschuldigen Kind implantiert worden war, sich in die schreckliche Realität hinein entäu ßert hatte. Aber während die Arglosigkeit des achtjährigen Kindes dem Stiefvater gegenüber völlig berechtigt erscheint, liegt bei der 16jähri gen doch eine Mitverantwortung dem Geschehen gegenüber vor, was ja nicht bedeutet, dass sie anders hätte handeln können, da sie ja in ihren Urteils- und Realitätsprüfungsfunktionen eben durch das verin nerlichte Trauma eingeschränkt war. Trotzdem hat sie durch die nun nicht mehr angebrachte Arglosigkeit (auch die Freundin hat ihr nicht helfen können) schuldlos-schuldig zu der tragischen Wiederholung des ursprünglichen Traumas beigetragen. Frau O. sagt selbst: »Ich komme mit meiner Schuld nicht klar!« Noch eher kann der Begriff der Schuld angewendet werden, wenn das ursprüngliche Opfer seinerseits zum Täter gegenüber Schwächeren wird. Ein Beispiel für eine Täter-Opfer-Umkehr aufgrund von Identifikation mit der selbst einmal erlittenen Gewalt, verbunden mit starken Schuld- und Schamgefühlen, aber auch des Bewusstseins tatsächlicher Schuld findet sich bei Niemann (1994, S. 184 f.): »Einen wichtigen Teil meiner Entwicklung hatte ich bei dieser Therapie außen vor gelassen. In einer der letzten Stunden vor den Ferien beklagte ich mich über die wieder stärker gewordenen Schmerzen … Entsetzliche Rückenschmerzen … ›Wozu brauchen Sie jetzt diese Schmerzen?‹ fragte Dr. F. damals. Ich ahnte, was sie bedeuteten, aber ich konnte es nicht sagen. Die Ursache war seit Jahren in meinem Kopf, aber ganz weit hinten, fast vergessen. Fast. Ich schämte mich so entsetzlich. Ich hatte schon einmal darüber gelesen. ES kam nicht selten vor, aber ich wollte nicht zugeben, daß auch ich ES getan hatte. Bestimmt war es nicht so schlimm, aber diese Erinnerung kam immer wieder. Ich wurde sie nicht
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mehr los. Sie wurde immer deutlicher, sie nahm immer klarere Formen an, bis sie mich eingeholt hatte – und ich Angst bekam. Angst vor den Folgen. Ich wollte es ungeschehen machen, die Erinnerung auslöschen, diesen Punkt in meinem Gehirn wegbrennen. Ich wollte alles leugnen, wenn ES herauskommt, sagen, daß das nicht wahr ist, daß es eine gemeine Verleumdung ist. In Grund und Boden wollte ich versinken, lieber auf der Stelle tot umfallen, als es zuzugeben, als zu sagen: ›Ich habe selbst ein Kind mißbraucht.‹ Ich merkte, wie froh ich war, daß er nicht gleich aufsprang, mir an die Kehle, um mich zu würgen, mich, die ich mich nun in die Reihe der Kinderschänder miteingereiht hatte … Ich erzählte, wie es dazu kam, daß ich mir nicht im klaren darüber war, was ich tat, und schon gar nicht darüber, welche Folgen es haben könnte, und daß ich eigentlich selbst noch ein Kind war, zu der Zeit. ›Aber ich habe es getan, und jetzt habe ich Angst. Ich habe Angst davor, daß er sich eines Tages daran erinnert, krank wird und mich für den Mord an seiner Seele verantwortlich macht.‹ Plötzlich sah ich den Mißbrauch aus der Perspektive des Täters und mußte entsetzt feststellen, daß ich ihr Leugnen verstehen konnte. Auch ich würde das tun, käme Jürgen heute als junger Mann von sechsundzwanzig Jahren auf mich zu und würde mich zur Verantwortung ziehen. Ich würde sagen, daß er sich da etwas einbildet, vielleicht schlecht geträumt hat, und daß er es einfach vergessen soll. ›Aber ich erinnere mich genau‹, würde er sagen. ›Du hast mich manchmal aus dem Kindergarten abgeholt und nachmittags auf mich aufgepaßt, wenn meine Eltern nicht da waren. Und manchmal, wenn du mich ins Bett gebracht hast, dann hast du dich neben mich gesetzt und gewartet, bis ich eingeschlafen bin. Und dann bist du mit deiner Hand unter die Bettdecke und hast meinen Penis angefaßt. Einmal bin ich davon wach geworden und hab’ dich gefragt, was du da machst, und du hast ›nichts‹ gesagt. Und dann habe ich manchmal nur so getan, als würde ich schlafen. Ich hatte Angst, dir zu sagen, daß du das nicht tun sollst, und da mein Penis manchmal steif wurde und ich manchmal ein schönes Gefühl dabei hatte, dachte ich, daß es nicht so schlimm sein kann, wenn ich auch schöne Gefühle dabei habe und daß ich vielleicht selbst Schuld daran habe …‹ So oder ähnlich würde es sich abspielen, und ich begriff für einen kurzen Moment die Situation des Täters. Dann fiel mir glücklicherweise ein, daß ich zu der Zeit selbst noch ein Kind war. Das würde für Jürgen keinen Unterschied machen, aber mir half es erst einmal, meinen Anteil an diesem Wahnsinn so klein wie möglich zu halten … Nachdem ich die Geschichte von Jürgen erzählt hatte, ging es mir deutlich besser. Die Schmerzen waren wie weggeblasen.«
Hier entsteht Schuld, auch wenn anzunehmen ist, dass ein solches Kind keine Steuerungsmöglichkeit hat, weil das Introjekt sich ohne Widerstand des Ich impulsartig entäußert aufgrund einer globalen, primären Identifikation mit dem Täter. In einem letzten Beispiel (Thekla R.) entstand eine ganze Kette von selbst- und fremddestruktiven Handlungen, mit denen das ursprüngliche langjährige inzestuöse Trauma agiert wurde, und die Frage mag offenbleiben, wo Schuld und Verantwortung beginnen:
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Entsetzliche Schuldgefühle hatte Frau R., als sie sich wieder erinnerte, dass sie sich mit ihrem Hund Orgasmen verschafft hatte, als sie vielleicht 14 Jahre alt war. Mit 18 Jahren, als Lehrling, wurde sie von dem Sohn des Lehrherrn schwanger. Sie war nicht in der Lage, sich adäquate Hilfe zu holen und wäre aufgrund eines dilettantischen Abtreibungsversuchs fast gestorben. Wegen ihres chronischen Schmerzsyndroms ließ sie im Laufe der Zeit sechs gynäkologische Operationen bis hin zur Totaloperation über sich ergehen, ohne an einen Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in der Kindheit denken zu können. In der Ehe waren ihr sexuelle Gefühle nur im Zusammenhang mit sadistischer Gewalt möglich; große Scham und Schuldgefühle, im Laufe der Therapie auch Schuldanerkennung und Reue begleiteten die Erinnerung an einen aggressiven Kontrollverlust, indem sie einmal ihren kleinen Sohn, der nackt vor ihr auf dem Wickeltisch lag, einen Schlüsselbund ins Gesicht geschlagen hatte, sodass der Säugling einen Zahn verlor … (vgl. S. 114).
Überschneidung von Schuld und Schuldgefühl Es ist bereits angeklungen, dass mit der »Schuld des Opfers« ein Grenzgebiet betreten wurde, das eher einer Grauzone entspricht als einer scharfen Markierung. Und im folgenden Abschnitt soll aufgezeigt werden, dass es in diesem Bereich der Überschneidung oft unbeantwortet bleiben muss, wo das Schuldgefühl aufhört und reale Schuld (und damit Schuldbewusstsein) anfängt. Trotzdem ist es besonders auch für therapeutische Belange wichtig, Schuldqualitäten zu differenzieren und sich klarzumachen, dass in einem bestimmten Fall eine klare Differenzierung eben nicht möglich ist. Eine Patientin, Birgit L., die mehrfach psychotisch reagiert hatte, fühlt sich schuldig, dass sie ihre jüngere Schwester, mit der sie damals zusammen wohnte, in der Psychose hatte töten wollen, sie habe schon mit dem Messer in der Hand vor ihrem Bett gestanden. Dann aber sei sie weggelaufen und wurde von der Polizei aufgegriffen. Als die Schwester sie vom Revier habe abholen wollen, habe sie sie geohrfeigt. – Die Schwester hat ein angeborenes Hüftleiden (die Patientin sagt: »Ich aber nicht!«, d. h. sie war gesund – Schuldgefühl aus Vitalität), sie war als Kleinkind häufig im Krankenhaus. – Ist sie schuldig? Der Kontrollverlust in der Psychose ist eigentlich entschuldigend. Ab wann aber tritt Schuld ein? Der Hinweis auf das Leiden der kleinen Schwester und die Betonung, dass sie selbst gesund gewesen sei, lässt die Vermutung zu, dass die Patientin damals Schuldgefühle hatte, gesünder und bevorzugt zu sein. Ist sie jetzt schuldig, da sie doch zur Tat schritt? Eine juristische Schuld käme nicht in Frage wegen des psychotischen Zustands, in dem sie sich befand. Ist ihr Schuldgefühl nicht doch ein Schuldbewusstsein? Die Psychose ist wie ein Traum, und für Traum, Phantasie und Wunsch kann der Schuldbegriff nicht passen, kann hier nur der des Schuldgefühls gelten. Ein Todeswunsch ist kein tatsächlicher Mord. Aber das gilt nicht überall: Die christliche Moral erklärt schon das Begehren seines Nächsten Weib und Hab und Gut zur Sünde.
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Das Spektrum zwischen Traum und wirklicher Tat wird in einem mittleren Bereich noch ergänzt durch Fehlleistungen, die »unbeabsichtigt« doch unbewussten Intentionen entspringen. Ist ein Schulderleben aufgrund einer Fehlleistung, die einen anderen schädigt, nun ein irrationales Schuldgefühl, oder entspricht es realer Schuld? Ich würde meinen, beides ist gegeben, es liegt eben eine Überschneidung vor, die jeweiligen Anteile können dabei einen verschiedenen Raum e innehmen. Ein neurotisches Schuldgefühl kann das Schuldbewusstsein übersteigen, wenn der reale Schuldanteil gering ist; die reale Schuld kann geleugnet, abgewehrt werden durch den Hinweis auf das gleichzeitig vorliegende Schuldgefühl, wie wir im Folgenden sehen werden. Noch ein kleines Beispiel: Einer Jugendlichen, Opfer des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater, fiel nach drei Jahren analytischer The rapie einmal auf, dass die Männer auf der Straße, Bauarbeiter zum Beispiel, nicht mehr anzüglich hinter ihr herpfiffen, was früher zu ihrem Ärger ständig passiert sei. Wer ist nun schuldig? Natürlich die Bauarbeiter, die ja etwas taten; aber wer ist dafür verantwortlich, dass sie es nun nicht mehr tun? Ist es die Jugendliche, die sich verändert hat war sie dann aber nicht auch dafür (mit-)verantwortlich, dass die Männer es vorher taten? Benigna U. sollte immer ein Junge sein. Die ältere Schwester hieß in der Familie »Königin«, die Patientin »Prinz«. (Eine andere Patientin, Zilly C., die sich auf dem Weg von der Apotheke zur Arztpraxis auch noch den anderen Arm verletzt hatte [siehe Teil II, S. 188], wurde bis weit ins Erwachsenenalter von ihrem Vater »Junge« genannt; auch Landauer [1930a, S. 183] berichtet, dass ein Vater seine Tochter stets mit »mein großer Junge« ansprach.) Sie hatte immer ganz kurze Haare, obwohl sie ihre dünnen Haare doch lang haben wollte. »Da wächst ja doch nichts!« sagte die Mutter, und ratsch, ratsch wurden sie auf zwei Zentimeter gekürzt. Und »Rein in die Hosen!« sagte die Mutter. Einmal hat sie eine Glasscheibe zerschlagen (wie ein Junge das nun einmal tut!) und sich tief in die Hand geschnitten, die Wunde heilte nicht, da sagte die Mutter: »Da kannst du mal sehen, dass dein Jähzorn bestraft wird, du bist selber schuld!« Wer ist schuld?
Wenn im englischen Sprachgebrauch »guilt« sowohl Schuld wie Schuldgefühl bedeutet, dann spiegelt das vielleicht den Umstand wider, dass sich beide in bestimmten Bereichen überschneiden und kaum zu trennen sind. Es gibt zum Beispiel ein Spektrum geschwisterlichen Hasses und entsprechender Schuld: Ganz sicher gibt es keinen Anteil realer Schuld, wenn das Geschwister vor der Geburt desjenigen starb, der gleichwohl heftige Schuldgefühle des Überlebens hat. Eine Krankheit eines Geschwisters kann Ursache eines Schuldgefühls, aber wohl kaum Grund für tatsächliche Schuld sein, auch der bloße Todeswunsch enthält keine Schuld, wohl aber manche entsprechenden Handlungen
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wie ein Erstickungsversuch oder das Umstürzenlassen eines Kinderwagens durch das ältere Geschwister. Aber auch da, besonders wenn es sich um ein Kind handelt, wird man fragen: Was hat das Kind dazu gebracht, was hat man ihm selbst angetan? Simmel (1990) hat ein ungewöhnliches Beispiel der Verstrickung von Schuld und Schuldgefühl gegeben. Eine Patientin, eine verhinderte »Lustmörderin«, litt unter dem Impuls, Mädchen sexuell zu attackieren und schließlich zu töten, war aber in der Lage, eine Therapie aufzusuchen, bevor sie ihren Drang realisierte. Auf die Frage, warum sie so etwas Entsetzliches tun müsse, antwortete die Patientin unter Tränen: »Ich muß es tun, weil ich Kinder so lieb habe« (Simmel 1990, S. 83). Simmel schreibt dazu: »Das Entwicklungsschicksal ihrer Objektbeziehungen hatte dazu geführt, daß sie lieben wollte, aber ihre Liebe sich als Haß entpuppte – ohne daß sie es wußte« (S. 83). Das mehrfach mißhandelte und sexuell mißbrauchte Kind »liebte es, die Spielsachen ihrer älteren Schwester zu zerstören, vor allem die Bäuche von deren Puppen aufzuschlitzen. Als ihr kleiner Bruder geboren wurde …, bekam Anna den Auftrag, auf ihr Brüderchen aufzupassen. Sie entledigte sich dieser Aufgabe mehrfach in der Form, daß sie ihn aus dem Kinderwagen zu werfen versuchte« (S. 84).
Die Analyse entwirrte eine vielfältige Verbindung zwischen einer Täter-Opfer-Gleichsetzung, in der das ursprüngliche Opfer, die Patientin, Täterin wurde an ihren Geschwistern, weiterhin durch Somatisierung sozusagen Täterin an ihren Körperorganen, die die Opferstelle einnahmen, bis sie schließlich ihre destruktiven Impulse gegen Mäd chen richtete, mit denen sie offenbar identifiziert war. Aber das Schuld thema setzte sich noch weiter fort:
»Eines der überraschendsten und erstaunlichsten Ergebnisse dieser Analyse war die Entdeckung, daß Anna eigentlich nicht davor floh, einen Mord zu begehen, sondern nur davor, ein solches Verbrechen zu wiederholen. Sie war tatsächlich eine Kindsmörderin, was ihr jedoch verborgen war … [Es] wurde ihr bewußt, daß es … noch einen anderen Bruder gab, der wenige Wochen nach der Geburt gestorben war. Anna war für den Tod dieses Kindes verantwortlich. Eines Tages fand sie den Säugling nackt und allein vor, worauf sie seinen Penis in den Mund nahm und daran saugte. Als er schrie, erschrak sie und tötete ihn, um sein Schreien zu ersticken« (S. 88).
Simmel stellt fest, dass sich in der »Figur des kleinen Bruders mehrere Bedeutungen verdichteten. Er stellte nicht nur ihr Wunschkind dar, sondern auch den Penis ihres Vaters; außerdem repräsentierte er die Brust der Mutter …« (S. 89). Die Verschmelzung von oralem und phallischem Objekt wurde aber durch frühere Traumatisierung bewirkt, welche als Introjekt zur schuldhaften Tat eines Kindes führte, für das man ihm wiederum eine Schuld nehmen muss: »Schon als Kind war Anna das Opfer einiger sexueller Verführungen … durch ihren eige-
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nen Vater. Dieser … hatte sie mehrfach gezwungen, seinen Penis zu berühren, zu masturbieren und auch in den Mund zu nehmen« (S. 88 f.). Ein letztes Beispiel enthält auch ein Spektrum zwischen irrationalem, teils ins Übergroße gesteigertem Schuldgefühl und einem zunehmenden Anteil realer Schuld: Es geht noch einmal um das Überlebendenschuldgefühl. Der Begriff des Schuldgefühls, überlebt zu haben, während so viele Angehörige oder Schicksalsgenossen sterben mussten, hat Primo Levi (1986) in die Nähe einer Scham gerückt, an der Stelle eines anderen, vielleicht Besseren zu leben, einer Scham auch, ein Mensch zu sein und als solcher fähig zu dem undenkbar Grausamen, dessen Opfer die KZ-Gefangenen waren (die Täter kannten diese Scham nicht, wie auch Améry [1966] bemerkt; vgl. auch Wiesel 1960, S. 142; s. Teil II, S. 203). Eine zweite Komponente des Überlebendenschuldgefühls nehme ich an aufgrund der Kenntnisse der globalen Identifikationsprozesse, die als Folge schwerster Gewalteinwirkung bekannt sind – bei aller Vorsicht der Mahnung Levis (1986, S. 85) eingedenk, dass die Phänomene »innen«, also im Lager, nicht von den Psychoanalytikern »draußen« ergründet werden können. Die Identifikation übernimmt die Meinung des Foltersystems: »Nun wurde zwar die Härte der Gefangenschaft als Strafe empfunden und das Schuldgefühl (wenn es eine Strafe gibt, muß es vorher eine Schuld gegeben haben) in den Hintergrund abgedrängt, aber nach der Befreiung tauchte es wieder auf« (S. 75). – Dass der Häftling schlecht und schuldig ist – und der Getötete muss dann »schlechter«, der Gerettete, sozusagen Auserwählte, »besser« sein –, ist eine mögliche Komponente des Überlebendenschuldgefühls (vgl. Teil II, S. 202 f.). Eine dritte Komponente scheint mir durch den Überlebenskampf bedingt – jeder musste an sich selbst zuerst denken (Levi 1986, S. 78), die moralischen Maßstäbe waren außer Kraft gesetzt: »Zudem hatten wir alle gestohlen: In den Küchen, in der Fabrik, im Lager, kurzum ›bei den anderen‹, bei der Gegenpartei, aber es blieb trotzdem Diebstahl. Einige (wenige) waren so gesunken, dass sie den eigenen Leidensgenossen das Brot wegstahlen« (S. 74). Ich möchte zu bedenken geben, ob nicht in diesem Überlebenskampf – so schuldlos er notwendig wurde – eine Möglichkeit realen Schuldigwerdens enthalten ist, die von den irrealen Anteilen abgetrennt werden sollte. Modell (1971) hat aus der Therapie eines KZ-Überlebenden berichtet, der zusammen mit seinem Vater gefangengehalten wurde und das irrationale Schuldgefühl entwickelt hatte, den Vater nicht gerettet zu haben – er hätte real in keiner Weise die Macht gehabt, etwas für seine Rettung zu tun. Aber es gab in diesem Fall noch eine andere Quelle des
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Schuldgefühls – jeden Tag wurde beim Appell eine bestimmte Zahl von Gefangenen selektiert, die ermordet werden sollten, und der spätere Patient verbarg sich jedesmal, sodass er nicht ausgewählt werden konnte, wodurch sich jedoch die Wahrscheinlichkeit für einen anderen vergrößerte, getötet zu werden. Meines Erachtens ist die Schuldgefühlsqualität hier eine andere als die dem Vater gegenüber, da etwas Reales geschah, das indirekt einem anderen Schaden zufügte – wenn auch aus unausweichlicher Notwendigkeit, das eigene Leben zu retten zu versuchen. In einem anderen Beispiel der unglaublichen Perfidie deutscher KZ-Schergen entstand eine ungeheuerliche Steigerung des Zwanges, aus Überlebensgründen schuldig werden zu müssen: Es wurden Boxwettkämpfe der Gefangenen zur Unterhaltung der Wächter organisiert nach wahrhaft zynischen Regeln: Wer gewann, bekam ein Brot – wer verlor, wurde ermordet … (von Young 1989 verfilmt). Die Entscheidung, wo Schuld und inwieweit Schuldgefühl vorliegen, bedarf eines Dritten, einer äußeren Instanz – der Moral, des Gesetzes, Gottes – oder einer inneren – des Gewissens oder Über-Ich. Innere und äußere Instanzen brauchen keineswegs übereinzustimmen – wie im KZ kann die Ordnung der Menschen pervertiert sein –, die innere Instanz kann fehlen, wie bei der Delinquenz, oder unerbittlich als feindliches Introjekt wirken. In der Therapie schwer Traumatisierter kann die Abstinenz nicht so weit gehen, dass sich einer Stellungnahme und Bewertung gänzlich enthalten wird, manchmal muss der Therapeut eine solche Instanz sein (vgl. Teil III, S. 303).
Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl Es gibt einige Autoren, denen die Möglichkeit der Abwehr von realer Schuld und Verantwortung durch ein überbetontes Schuldgefühl aufgefallen ist. Das ist nicht zu verwechseln mit Freuds (zuerst 1906c) Entdeckung des »Verbrechens aus Schuldgefühl«, bei dem ein Unschuldi ger sich seiner Schuldgefühle wegen schuldig macht, weil er sie nicht aushalten kann. Hier dagegen gibt es umgekehrt einen Schuldigen, der sich hinter einem Schuldgefühl zu verstecken sucht, das Schuldgefühl wird also als Abwehrmechanismus verwendet. Horney (1936, S. 173) hat das so ausgedrückt: »Es ist peinlich, ehrliches Bedauern oder Scham über etwas zu empfinden, und noch peinlicher, dieses Gefühl einem anderen gegenüber auszudrücken. In der Tat wird sich ein Neurotiker sogar noch mehr als jeder andere Mensch davor hüten,
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weil er eine solche Furcht vor Mißbilligung hat. Jedoch äußert er das, was wir Schuldgefühle nennen, sehr bereitwillig.«
Sandler und Sandler (1987) sprechen vom »kleineren Übel«, ein Schuldgefühl einzugestehen, und ähnlich andere Autoren (Condrau 1962, S. 122; Winnicott 1958, S. 25; Engel u. Ferguson 1990, S. 178; Hubbertz 1992, S. 23 u. 75 f.). Eine Formulierung von Fingarette (1962): »Erleichterung dadurch erreichen zu wollen, dass man sich einredet, es handele sich lediglich um irrationale neurotische Schuld, ist sowohl eine therapeutische als auch eine geistige Ausflucht. Dies stellt eine Abwehr gegen wirkliche Einsicht dar. Jede Therapie, die Einsicht erstrebt, besitzt eine moralische Dimension.«
Ein 35jähriger Patient, Anton V., beklagt sich, dass seine Frau, von der er sich von einem Tag auf den anderen getrennt hatte (nämlich vier Wochen, nachdem er eine andere Frau kennengelernt hatte), ihm ständig Vorwürfe mache, was er ihr und den beiden Kindern, die jetzt zwei und vier Jahre alt sind, angetan habe. Es tue ihm ja leid mit den Kindern, aber was seine Frau so aufbausche, sei doch nicht mehr als eine kleine Erschütterung ihrer Entwicklung, denn sie hätten ja keine Symptome entwickelt und er sehe sie regelmäßig. Ich war nicht in der Lage, das so stehenzulassen, und meinte, die Bezeichnung »Trauma« wäre wohl angemessener für das, was die Kinder erlebt hätten. Es fiel dem etwas zwanghaften, überangepassten Patienten sehr schwer, anzuerkennen, dass er tatsächlich den Kindern einen Schaden zugefügt hatte. Sein Selbstbild war von der Vorstellung bestimmt, dass er alle Probleme weit überdurchschnittlich gründlich durchdenke und optimal löse. Denn er habe ja doch stets Schuldgefühle entwickelt, wenn er nicht so gründlich abwäge, ob er etwa jemandem zu nahe trete oder ihn verletze. Stets habe man ihm gedroht, besonders die Mutter, die oft auch den Vater zu Hilfe geholt habe, ihm Schuldgefühle gemacht, wenn er als Kind etwas Eigenes unternehmen wollte. Deshalb lehne er es ab, wenn seine Frau ihm jetzt Schuldgefühle machen wolle, weil er sich getrennt habe. Seine Herkunftsfamilie behandle ihn jetzt genauso missbilligend, man akzeptiere die Trennung in keiner Weise, stehe auf der Seite seiner Frau, man lade ihn nicht einmal mehr zu Familienfesten ein. – Natürlich überlagern sich Schuld und Schuldgefühl hier; indem Herr V. sich trotzig gegen die Schuldgefühle wehrt, die ihm immer und auch jetzt gemacht werden, wehrt er im gleichen Atemzug auch die Schuld ab, die er zwar tatsächlich auf sich geladen hat, deren Anerkennung ihm aber zu viel Schamgefühle bereiten würde.
Buchholz (1990) unterscheidet selbstverständlich Schuldgefühl und Schuld und kritisiert in Paartherapien die Ideologisierung des Schuldgefühls zu Abwehrzwecken. In manchen Kreisen scheint es verbreitet zu sein, allzuschnell ein Schuldgefühl zu reklamieren, hier »trifft man gelegentlich auf eine Tendenz, die Wahrnehmung der eigenen Schuld Kindern oder Partnern gegenüber in ein Schuldgefühl umzudeuten und vom professionellen Therapeuten zu erwarten, dass er mit Hilfe therapeutischer Technik von solchen ›Restneurosen‹ befreit« (Buchholz 1990, S. 50; Hervorhebung original). In einem Fallbeispiel von Buch-
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holz geht es um die Auseinandersetzung eines Paares, nachdem die Partnerin eine Verabredung nicht eingehalten und darüber hinaus das gemeinsame kleine Kind durch eine Fehlleistung real verletzt hatte. Die Partnerin wehrt sich. »Sie sagt, sie möchte nicht durch ihn immer in ›die Position der Schuldigen‹ gebracht werden; sie wisse, wie leicht sie sich ›Schuldgefühle‹ machen ließe, und das wolle sie nicht« (Buchholz 1990, S. 380). Buchholz fasst zusammen: »Die eingetretene Schuld gegenüber den Kindern muss dann als ›Schuldgefühl‹ umgedeutet werden. Da das etwas Neurotisches sei, braucht man sich nicht länger damit zu beschäftigen« (S. 380). Manchmal beruht die Vertauschung von Schuld und Schuldgefühl auf Projektion des eigenen Über-Ich, das man im Partner lokalisiert glaubt; man tut alles, damit man seinen vermuteten Forderungen gerecht wird, anderenfalls befürchtet man heftige Vorwürfe und Liebesentzug. Dabei bestimmt das eigene Über-Ich das Verhalten, und die Beziehung bleibt im Gleichgewicht, solange der andere keine eigenen Forderungen stellt. Wenn aber nun der Partner Kritik äußert, weil er ein Verhalten, das ihn stört, nicht akzeptieren kann, also aus diesem System aussteigt, wird er plötzlich zum verfolgenden, undankbaren Objekt, das vehement bekämpft werden muss. Es entsteht eine Art Rollenumkehr; jetzt geht man mit dem Aggressor (repräsentiert durch den Partner) genauso gnadenlos um, wie man es von ihm erwartet hatte für den Fall, dass die Spielregeln übertreten würden. Nun hat der Aggressor die Spielregeln übertreten und ihm wird ungefähr nach dem Motto vorgeworfen: »Ich habe doch sowieso ständig Schuldgefühle (habe die Spielregeln befolgt), wie kannst du es wagen, mich jetzt zusätzlich zu beschuldigen!« Der Vorwurf entspricht einer vollständigen Umkehr von Subjekt und Objekt: »Wie kannst du nur …« bedeutet, dass das Objekt, das in der Phantasie bzw. in der Übertragung vorher immer moralischen Druck ausüben und Vorwürfe machen würde, wenn das Subjekt nicht »fügsam« wäre, jetzt ebenso strengen moralischen Vorwürfen ausgesetzt ist. Dadurch entsteht eine seltsame Aufrechterhaltung einer komplementären Subjekt-Objekt-Beziehung, allerdings mit vertauschten Rollen. Als ob um alles in der Welt eine Anerkennung sowohl des anderen als Kritiker als auch des Subjekts als real Verantwortlichem bzw. Schuldigem vermieden werden müsste, weil das eine unerträgliche Trennung bedeuten würde. Was erhalten bleiben muss, ist das internalisierte Schuldgefühlssystem, sodass reale Schuld, realistische Übernahme von Verantwortung, keinen Platz haben. Die Unterwerfung (unter die verinnerlichten Über-Ich-Forderungen) garantiert das Wohlwollen des anderen (des inneren Objekts wie des außen durch
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den Partner repräsentierten). Die Identifikation mit dem Über-IchObjekt, also das Zurückholen von dessen Projektion, schafft wieder die Verbindung (allerdings müsste der andere mitspielen und seinerseits schuldbewusst seine Kritik zurückziehen, also in das System der Schuldgefühlsverpflichtung zurückkehren). Der »Vorwurf« des äußeren Objekts muss immer latent bleiben. Wird er real, hört die Unterwerfung sofort auf; es erfolgt eine Subjekt-Objekt-Umkehr wie bereits geschildert. Der reale andere erlebt nun den Vorwurf des Subjekts, wie er denn nur Kritik üben könne, als Machtausübung; das Subjekt will bestimmen, was richtig ist und was verpönt. Dazu passt sehr gut ein Gedanke Wurmsers (1987, S. 13): »Dieses Durchdrungensein des inneren Richters von dem Geiste des Ressentiments läßt sich bei sehr vielen Patienten beobachten. Das ist eine Seite. Die andere, noch virulentere Form stellt sich jedoch dann ein, wenn die Selbstverurteilung, ganz besonders die Tiefe der Scham, zum brennenden Ressentiment und dieses seinerseits zur Auflehnung gegen alle menschlichen Bindungen und Verpflichtungen führt. Es besteht in der selbstgerechten Identifizierung mit dem eigenen, kategorisch verurteilenden Über-Ich und der Verkehrung der Anklage ins Gegenteil: Das Ich wandelt sich vom Opfer der Selbstanklage zum brutalen Richter und Rächer; der andere wird nun zum radikal Angeklagten, zum Verworfenen und zu Vernichtenden.«
Wiederum gilt, dass eine übertriebene therapeutische Abstinenz, die nicht Stellung bezieht, die Identifikation mit dem Über-Ich-Introjekt aufrechterhält, anstatt eine Lösung von ihm zu fordern.
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Zur Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl in der analytischen Psychotherapie »Der Psychotherapeut, der die Schuldgefühle eines einsamen Menschen behandelt, muß unterscheiden zwischen den Wunden und Narben eines verwundeten Narzißmus und realistischer existentieller Schuld.« Edith Weigert 1960/61, S. 543
Es gibt keine »Therapie des Schuldgefühls« und schon gar nicht eine der Schuld, trotz der Befürchtungen der Vertreter mancher daseinsanalytischer psychotherapeutischer Schulen. Aber es gibt gewisse Prinzipien der Therapie von schwer traumatisierten Patienten, die unter der Wirkung von zerstörerischen Introjekten leiden, zu denen ebenso irrationale wie starke Schuldgefühle gehören, das Schuldgefühl des Opfers nämlich, das eigentlich der Täter haben müsste. Von diesen sind andere Schuldgefühle zu differenzieren, zum Beispiel der Vitalität oder des Autonomiebestrebens, die der frühen Lebensgeschichte angehören. Für ganz besonders wichtig halte ich es, von Schuldgefühlen reale Schuldanteile zu unterscheiden, verursacht von realen Taten, seien sie nun durch freie Entscheidung oder unentrinnbare Wirkungen der Introjektions- und Identifikationsvorgänge zustande gekommen.
»Unschuldsvermutung« Als allgemeines Therapieziel lässt sich formulieren, dass internalisierte Objekterfahrungen in der Übertragung externalisiert immer wieder durchgearbeitet werden sollen, damit eine relative Freiheit von ihnen, das Leben und Beziehungen neu und selbstbestimmter einzurichten, erreicht wird. (»Ein Rest, der verbindet« [Cournut 1988], nämlich mit den alten Objekten, wird allerdings immer bleiben, es fragt sich nur, wie groß er ist.) Es ist aber, als ob die traumatisierten Patienten eine Ahnung davon hätten, dass in der Therapie die mit dem Trauma verbundenen Affekte von ungeheurer Angst (Shengold 1989), extremer Wut (Shengold 1989; Becker 1990), auch Scham (Amati 1990) und Trauer wieder auferstehen oder, da sie damals gar nicht in vollem Ausmaß erlebt werden konnten, erstmals in vollem Umfang zu entste-
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hen drohen. Eine Befreiung vom Introjekt und damit vom Schuldgefühl kommt einer ebenso schmerzhaften Trennung gleich, als wollte man einem – wenn auch traumatisierten – Kind die – wenn auch misshandelnden und missbrauchenden – Eltern wegnehmen. Kein Wunder, dass an der Weichenstellung – schmerzhafte Fortschritte oder erleichternde Rückkehr – oft genug letzteres gewählt wird, Schuldgefühl und altbekannte Symptomatik in Kauf nehmend. Aber soweit ist es noch nicht. Eben wegen des großen Bedürfnisses der Traumaopfer, Beziehungen und also auch die therapeutische Beziehung selbst zu steuern, muss die erste Phase von einem grundlegenden Gewährenlassen und größter Vorsicht des Intervenierens bestimmt sein. Schon ein Interview eines Überlebenden kann als Katastrophe erlebt werden (Niederland 1961, S. 17); bei aller Mühe, die man sich gibt, kann ein Versuch des Einfühlens schon als Verfolgung und Eindringen erlebt werden (Ahlheim 1985, S. 335 u. 339; Hirsch 1995b), die Aufforderung zur freien Assoziation wirkt manchmal bereits als Übergriff. In einer Zeit, als sexueller Missbrauch keineswegs im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent war, kam eine Patientin zu Vorgesprächen nach einem langen Klinik aufenthalt wegen einer psychotischen Reaktion. Sie war wieder psychosenah, die Stimmen sagten ihr, sie müsse beten, um sich zu reinigen. Die Patientin berichtete einen Traum: Eine behaarte Hand nähert sich ihr, legt sich auf ihre Brust, ein riesiges Wesen mit glattem, traurigem Gesicht legt sich mit aller Schwere auf sie. Sie denkt, es ist der Teufel. Dreimalige Gebete nützen nichts, erst als sie sagt: »Im Namen der Dreieinigkeit, hebe dich hinweg!«, verschwindet er. – Eine Bekannte, der sie den Traum erzählt hatte, sagte ihr, es müsse sich um eine »arme Seele« handeln. Jetzt betet sie teilweise die ganze Nacht für die armen Seelen. – Ich interpretiere vorsichtig, wie es mir vorkam, heute würde ich ein solches Vorgehen als sehr riskant ansehen, dass ein Vater, der es nötig hat, die eigene kleine Tochter sexuell zu missbrauchen, tatsächlich eine »arme Seele« sein dürfte. Trotzdem sei es furchtbar, was dem Kind damit angetan würde. Die Patientin schien erleichtert, schien zu verstehen. Nach der Sitzung ruft der Ehemann an: Sie sei noch nicht zu Hause angekommen. Vor der nächsten Sitzung wieder ein Anruf: Sie sei wieder in die Klinik eingewiesen worden. Implizit habe ich wohl im Erleben der Patientin mit meiner Intervention den Vater exkulpiert, ihr vielleicht gar die Schuld zugeschoben, und sie damit allein gelassen.
Im Fall der Patientin (Brigitte O.), die als Kind auf einem Fahrradausflug vom Stiefvater und als Jugendliche ebenfalls auf einem Fahrradausflug von einem Fremden vergewaltigt worden war, versuchte ich mit der Bemerkung, es sei tragisch, dass die Menschen die ihnen einmal angetane Gewalt gezwungen seien, immer wieder zu erleben, empathisch zu sein. Aber die Patientin entnahm meinen Worten den Vorwurf, sie habe die Vergewaltigung im Jugendlichenalter provoziert (wie die Mutter ausrief, als sie von der Vergewaltigung hörte: »Wie
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konntest du uns das antun!«), sei also schuld daran, und reagierte mit so heftiger Wut, dass die Therapie fast abgebrochen worden wäre. Die erste Therapiephase muss also von einem unterstützenden Begleiten und vorwiegendem Bestätigen von Erinnerung und Wahrnehmung bestimmt sein, und zwar in allen Bereichen wie Kindheit, heutige Beziehung zu den realen Eltern und aktuelle Partnerbeziehungen. Amati (1990, S. 731) spricht von der »Unschuldsvermutung«, mit der der Patient ohne Reserve angenommen und angehört werden muss. Heigl-Evers und Ott (1997) sprechen in diesem Zusammenhang von »Schicksalsrespekt«. Dadurch können in einer ersten Öffnung Erinnerungen mitgeteilt werden, und in dem Gefühl, solidarisch gestützt zu sein, wird eine erste Äußerung von Wut und eine erste Verminderung von Schuldgefühl möglich. Amati (1990, S. 731) drückt es für die Therapie von Folteropfern so aus: »Die Verfügbarkeit des Therapeuten, der meines Erachtens am Anfang der Kur eher Depositar (Verwahrungsnehmer) und alternatives Identifizierungsobjekt als Übertragungsobjekt ist, scheint von wesentlicher Bedeutung zu sein.« Dementsprechend sollten Übertragungsdeutungen hier vermieden werden (Amati 1990). Denn Übertragung bedeutete, dass der Ursprung des interpersonellen Geschehens im Patienten liegt, dass er also die Verantwortung für sein Erleben (z. B. von Missverständnis, Affektlosigkeit, Hilflosigkeit) zugeschrieben bekäme, die er noch längst nicht tragen kann. Geradezu paradox erscheint die Notwendigkeit, dem Patienten nicht gleich alle Schuldgefühle zu nehmen, ein Gedanke, der auf Fairbairn (1952, S. 69; s. nächstes Kapitel) zurückgeht. Aber Schuldgefühle sind Ausdruck der Anwesenheit der (wenn auch traumatischen) vertrauten inneren Objekte, und Fairbairn zufolge würde »die Welt um den Patienten mit Teufeln bevölkert« (S. 69; Übersetzung M. H.), wenn man sie ihnen zu schnell wegnähme.
Durcharbeiten Mit fortschreitender Belastbarkeit der Beziehung und größer werdendem Vertrauen können zunehmend negative Qualitäten in die therapeutische Beziehung gelangen, und zwar entweder durch äußere Ereignisse wie besonders Trennungssituationen, zum Beispiel erste Praxisferien, oder dadurch, dass zunehmend eine Konfrontation mit den destruktiven Anteilen des Patienten erfolgt. Insbesondere autoaggressives Agieren, in Beziehungen oder gegen den eigenen Körper, hat immer auch einen Selbstbestrafungsaspekt und soll Schuldgefühle mindern.
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Durch die Konfrontation werden nun Therapeut und Therapie als böse Objekte erlebt, paranoide Ängste gegen sie gerichtet und sozusagen Gegenmaßnahmen ergriffen: Alte Objekte, etwa Partner aus destruk tiven, eigentlich beendeten Beziehungen, werden wieder aufgesucht, die Symptomatik von Depression, Suizidalität, Angst und Suchtmittelmissbrauch flammt wieder auf. Auch die Weigerung des Therapeuten, die bisher notwendige Idealisierung von Objekten der Vergangenheit oder Gegenwart weiter mitzuvollziehen, erzeugt Wut, da sie einer Trennungsaufforderung bzw. -bedrohung entspricht. Wer die Verleugnung nicht teilt, macht sich zum Verfolger (vgl. Ahlheim 1985, S. 342). Das Schuldgefühle machende Introjekt wird nun im Therapeuten wiedererlebt. Deshalb entstehen wie an einer Nahtstelle zwischen alten und Übertragungsobjekten Vorwürfe, die wir bereits kennengelernt haben: »Ich habe doch selbst ständig Schuldgefühle, und jetzt machen Sie mir auch noch Vorwürfe!« Hier entsteht die Notwendigkeit, an der Unterscheidungsfähigkeit von innen und außen zu arbeiten und sie zu stärken (Amati 1990; Becker 1990). Die Aggression, der Hass auch anderen Objekten gegenüber muss nun auf die Übertragung bezogen werden, denn wenn sie gegen den Täter gerichtet bleibt in einer Solidarität mit dem Patienten gegen den Täter, bleibt das Introjekt erhalten, und es erfolgt keine Trennung des Patienten von der Identität eines Opfers. Ein Beispiel: Veronika A. war am Wochenende allein gewesen, ihr Mann war weggefahren. Sie hatte eigentlich vor, sich Pornovideos zu holen, hat sich das aber nicht getraut, sondern schließlich zwei sentimentale Liebesfilme ausgeliehen. Sie hat das Wochenende also nur zu Hause verbracht und versucht, die Depression mit Alkohol zu bekämpfen. Sie will bedauert und getröstet sein. Ich sage aber: Das sei ein schwaches Bild, sie hätte aus dem Wochenende doch etwas Konstruktives machen können … Sie wehrt sich heftig, das hätte sie nicht von mir erwartet, gerade von mir nicht! Immer hat sie Vorwürfe gehört, ihr ganzes Leben Vorwürfe, hat sie sich auch selbst gemacht, sie will sie nicht auch noch von mir hören! Ich sage, sie wolle von ihren Schuldgefühlen wegen des Wochenendes entlastet werden. Als ob sie es absichtlich missversteht, fragt sie: »Wieso Schuld – sind denn alle Kinder schuldig?« Ich fühle mich gedrängt, eine rechtfertigende Erklärung abzugeben, und schweige. – »Warum sagen Sie nichts?!« – Ich erkläre, dass ich das Gefühl habe, sie wolle mich zwingen, einen Vortrag zu halten, damit sie von sich abgelenkt ist, sich nicht allein und abgelehnt fühlen muss und damit sie wenigstens etwas bekomme. – »Ja«, schreit sie, »ich will allerdings was haben, alle haben mich immer allein gelassen, auch Sie, ich hasse Sie!« Darüber ist sie erschrocken, sie habe nie einen derartigen Wutausbruch gehabt, fühle sich aber erleichtert. Wäre es nach der Patientin gegangen, hätte ich sie in ihrer Zerknirschung – Vorwürfe mache sie sich schon allein – bestätigen und trösten sollen; ich hätte sie in ihrer Opferrolle bestärkt. Da ich aber ihre Täter- und Schuldseite konfrontatorisch akzentuierte, konnte sie (endlich) die Wut empfinden, die sie bisher stets unterdrückt oder gegen sich selbst gerichtet hatte.
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Man kann zwar meines Erachtens nicht erwarten, dass das ganze Ausmaß an Aggression, das dem ursprünglichen Trauma entspricht, immer in die therapeutische Beziehung gelangen wird. Wie soll ein Analytiker im ganzen Umfang als Folterer erlebt werden können, ohne dass die Beziehung zerstört würde. Aber wenigstens theoretisch würde ich meinen, dass nach und nach, womöglich in verschiedenen therapeutischen Beziehungen oder fraktionierten Therapieabschnitten das Trauma in der Übertragung wiedererlebt werden muss. Dieser Gedanke geht auf Ferenczi zurück (Haynal 1989, S. 324), der allerdings meinte, das Traumaerleben allein sei nicht heilend (Ferenczi 1985, S. 257), man würde das Erleben einer gleichzeitig vorliegenden positiven Beziehungsqualität (also eine Art therapeutische Ich-Spaltung des Patienten) fordern müssen. Aber auch die in der Gegenübertragung auftretenden Gefühle von Wut, Angst, Scham und Schuldgefühl müssen ausgehalten und im rechten Maß und zur rechten Zeit auch kommuniziert werden. Becker (1990) folgt hier Winnicott (1947), der annahm, dass der schwergestörte Patient den eigenen Hass auf den Analytiker nur dann ertragen kann, wenn dieser den seinen erlebt, mitteilt und aushält. Wenn die Angst jedoch zu groß zu werden droht, sieht sich der Patient vor der Entscheidung, ob er weiter fortschreiten oder nicht lieber zu den alten Objekten und ihren Vertretern zurückkehren soll. Meines Erachtens ist die negative therapeutische Reaktion, also das Phänomen, dass sich trotz oder vielmehr gerade wegen einer treffenden Deutung die Symptomatik verschlechtert (Freud 1923b), zu einem guten Teil auf diese Rückkehr zurückzuführen (Hirsch 1994; 2013). So ist Fairbairns (1952, S. 69) Beobachtung zu verstehen, dass die negative therapeutische Reaktion auftritt, wenn die Analyse den Patienten zu früh von Schuldgefühlen entlastet, das heißt, die Verbindung zum inneren Objekt schwächt oder wegnimmt. Und auch Green (referiert in Kittler 1991, S. 134) zufolge äußert sich »das beharrliche Festhalten an einem schlechten inneren Objekt in einer negativen therapeutischen Reaktion«. Shengold (1989a, S. 321) nennt dieses Problem eine Herausforderung für das Opfer, das »das Gefühl erfahren hat, daß es unmöglich ist, ohne die innere Anwesenheit des Aggressors zu existieren, des Seelenmörders, mit dem das Opfer sich identifiziert hat … Im Bedürfnis nach der Bindung an die Eltern liegt der Kern des Widerstands gegen Veränderung.« Am folgenden Beispiel soll gezeigt werden, wie das Introjekt, das in die realen Beziehungen externalisiert wurde, als Alternative zum therapeutischen Objekt bzw. zum Fortschritt in der Therapie fungieren kann.
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Über die gesamte Dauer der bisher zweijährigen Therapie von Regine G. war das Inzestthema ständig präsent, ohne dass ein reales Inzesttrauma verifiziert werden konnte. Jetzt hat sie einen neuen Freund, einen Vater von zwei Kindern, bei denen der Verdacht, dass sie sexuell missbraucht worden seien, dadurch aufgetaucht ist, dass der sechsjährige Sohn ein extrem sexualisiertes Verhalten zeigte. Der Freund der Patientin will das Sorgerecht beantragen; am liebsten möchte sie nicht mit diesem Thema in Berührung kommen. Aber dann müsste sie sich von ihm trennen, das wolle sie auch nicht. – Schweigen. – Ich sage: »Wie ein fremder Brocken, dessen Verdauung angst macht. Entweder ist eine Trennung notwendig, oder es entsteht eine noch größere Angst, dass das Thema auch Ihres ist, es aus Ihnen verstärkt herauskommt, indem es an Sie herangetragen wird.« – Daraufhin sagt sie: Vor ein paar Tagen habe sie der Junge so manipulieren wollen, dass sie, hätte sie ihm nachgegeben, zusammen geschlafen hätten. Sie habe sich gewehrt, aber trotzdem Schuldgefühle gehabt, als hätte sie es getan, nämlich das Sexuelle zugelassen. Dann entstand Wut auf den Jungen, als wolle er sie fertigmachen, die Wut mache auch wieder Schuldgefühle, sie könnte ihm den Hals umdrehen, ihn an die Wand klatschen! – Ich sage: Sie könne weder vor noch zurück, sie sei von Schuld umkreist – als ob der Junge sie prüfen wolle, sie könne aber die Prüfung nicht bestehen, was sie auch tue, erzeuge Schuldgefühle. Sie entgegnet, das habe so viel in ihr ausgelöst, dass sie es nicht ertragen könne. Manchmal könne sie nicht schlafen, aus Angst, er könne zu ihr kommen.
Das Introjekt der Patientin äußert sich als in der äußeren Realität auftauchendes Inzestthema. Dadurch, dass sie es aber so hoch besetzt, ihm keine Grenze entgegensetzen kann, nimmt es den ganzen Raum der Therapie ein und wirkt so als Widerstand. Denn die Patientin braucht so nicht über die Beziehung zum neuen Partner zu sprechen, weil alles Negative im Problem des »übergriffigen« Kindes gebunden ist, als wäre alles gut, wenn das gelöst wäre. Kein Gedanke, dass das Böse im Partner oder in ihr selbst stecken könnte. Sie braucht nicht zu fragen, wer er ist, auch nicht, wer sie ist, die sie ihn gefunden hat, und wie die Beziehung ist. Tatsächlich vermied die Patientin nun das Thema »sexueller Missbrauch« weitgehend, sprach nicht mehr über ihre Beziehung und brach die Therapie nicht lange danach ab. Stagniert die analytische Therapie hartnäckig, sollte man als Ursache des Widerstands ein zähes Festhalten an einem traumatischen Introjekt in Betracht ziehen, das eben auch Schuldgefühl wegen der Versuche, sich von ihm zu trennen, macht. In einem von Modell (1965, S. 328) vorgestellten Fall, in dem die Analyse stagnierte, bedeutete ein Fortschritt in der Phantasie des Patienten, dass sich die Mutter umbringen würde. Es ist zu überlegen, ob nicht ein aktives therapeutisches Vorgehen die Externalisierung fördern kann, indem auf Initiative des Therapeuten Abhängigkeiten und lebensgeschichtliche Daten eindringlich konfrontierend geschildert werden, auch Bilder entworfen werden, die der Patient zu denken nicht in der Lage ist. Eine Patientin, Angelika A., von der ich wusste, dass ihre Mutter die ostpreußische Heimat verloren
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hatte, brach in Tränen aus, als ich in der therapeutischen Gruppe ein Bild von endlosen wogenden Weizenfeldern rings um das unwiederbringlich verlorene Gut der Familie der Mutter entwarf (vgl. Teil II, S. 272 f.); bei einer anderen Patientin, die ratlos vor der Nazi-Vergangenheit ihres Vaters stand, kamen verborgene Affekte ans Licht, als ich die Vorstellung einer Gerichtsverhandlung im besetzten Deutschland nach dem Krieg durch die Alliierten und die Möglichkeit der Todesstrafe drastisch schilderte. Konfrontationen mit Charakter- und Körpergewohnheiten zog bereits Reich (1933) in Betracht, in neuerer Zeit fordern Gedo (1993) und Moser (1996) ein unter Umständen affektiv-aktives psychodramatisches Vorgehen vonseiten des Therapeuten.
Trennung Es ist hier eine Trennung vom verinnerlichten Gewaltsystem gemeint, die ein Aufgeben der Opfer-Identität bedeutet. Das ist aber die Identität, in der man sich eingerichtet hatte; eine Trennung macht unter Umständen extreme Angst und große Schuldgefühle, wie bereits beschrieben. Es erscheint wieder paradox, dass dazu die Schuldzuweisung an den Täter aufhören soll; diese behält zwar ihre Berechtigung, der Patient aber darf dabei nicht stehenbleiben, da das Festhalten am »blaming« verhindert, dass sowohl die eigenen Schuldanteile wie auch eine zukünftige Identitätsentwicklung frei von der Verbundenheit mit der Vergangenheit und ihren traumatischen Introjekten gesehen werden kann. Ebenso muss auch einmal das dem Trauma entsprechende Introjekt als zum Selbst zugehörig anerkannt werden, es wird also zunehmend um die Anteile des Patienten und seine Verantwortung für sein Leben gehen und nicht so sehr um das, was ihm einmal angetan wurde und entsprechend seinen internalisierten Erfahrungen noch aktuell angetan wird. Hier entsteht nun die zentrale Aufgabe der Therapie, Schuldgefühlsund Schuldbereiche zu differenzieren. Dabei nehme ich drei große Gruppen an: 1. Das Schuldgefühl, das vom Introjekt verursacht wird, das einer glo balen identifikatorischen Übernahme der Schuld des Täters oder der Vertreter des Gewaltsystems (des familiären oder gesellschaftlichen) entspricht. Hier sind wiederum Abteilungen zu differenzieren wie Basisschuldgefühl (z. B. Unerwünschtsein, Rollenumkehr), Schuldgefühl aus Vitalitätsgründen, traumatisches Schuldgefühl. 2. Das Schuldgefühl aufgrund der Trennungsbestrebungen. Das Opfer
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erfüllt für das Gewaltsystem eine wichtige Funktion, wie es auch selbst nicht auf die Zugehörigkeit zu ihm verzichten kann. (Das ist für den Fall der familiären Gewalt unmittelbar einleuchtend; für den Fall von anderen Gewalteinwirkungen wie Folter insofern, als im Gewaltakt selbst eine regressive symbiotische Täter-Opfer-Verschmelzung eintritt.) 3. Die reale Schuld und Verantwortung aufgrund der Identifikation mit der Gewalt und ihrem Introjekt, der einmal die Vernachlässigung der eigenen Lebensverwirklichung entspricht, das Festhalten an der Opfer-Identität (primäre Identifikation), zum anderen die Wendung der einmal selbst erlittenen Aggression nach außen gegen Schwä chere (sekundäre Identifikation). Ich möchte auch an die vielfältige Determinierung der Schuldgefühle und der Schuld des weiblichen Inzestopfers erinnern (s. S. 262). Eine Aufgabe jeder psychoanalytischen oder psychodynamischen Therapie ist es ja, Unbewusstes und auch das »ungedacht Bekannte« (Bollas 1987) nicht nur bewusst zu machen, sondern auch die Fragmente zu ordnen und die Vorstellungen von der Lebensgeschichte des Patienten und seine Beziehungsschicksale konkreter, sozusagen anfassbarer werden zu lassen. Denn nur von dem, was man sicher kennt, kann man sich trennen, und Psychotherapie ist Trennungs- und Trauerarbeit. Wie kompliziert eine derartige Differenzierung sein kann, soll das Beispiel einer Gruppenpsychotherapie-Sitzung illustrieren: Benigna U. klagt, sie könne nicht selbstständig sein. Sie habe sich zwar getrennt, aber ihr Mann habe ihr kein Auto gekauft, worum sie ihn gebeten hatte, sie wisse nicht, wie man das mache. Es stellt sich heraus, dass sie nicht weiß, dass Stellenanzeigen mittwochs und samstags in der Zeitung erscheinen, wie man Schecks ausfüllt und so weiter, kurz, sie hängt an ihrer Unselbstständigkeit. Bärbel S., die selbst große Autonomieprobleme hat, auch besonders als Frau, äußert, dass sie ziemlich entsetzt sei, dass Frau U., Anfang 30 und mit zwei Kindern, so unselbst ständig sei. Daraufhin reagiert Frau U. sehr wütend, Frau S. sei absolut brutal! Sie springt in ihrer Erregung auf, verlässt den Raum – auf die Frage, wohin sie gehe: »Aufs Klo …« Nun beginnt Frau S. zu weinen, sie fühle sich schuldig, wie immer, wenn sie mal aggressiv sei. Frau U. kehrt zurück, sie ist immer noch empört, fühlt sich völlig blockiert, denn das sei es, was man immer aus ihr gemacht habe, nämlich eine Täterin, obwohl sie doch Opfer sei. Es sei immer dasselbe; wenn beispielsweise der Vater sie am Hintern angepackt und sie sich dagegen verwahrt habe, habe er geantwortet: »Du bist aber komisch, was stellst du dich so an!« Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, zu intervenieren, und meine, einen Ansatzpunkt gefunden zu haben: Die Reaktion von Frau S. sei nicht so sehr brutal gewesen, meine ich, Frau U. habe sicher vielmehr das Gefühl gehabt, dass es brutal gewesen sei. Während nun Frau S. sich sehr (von ihrem Schuldgefühl) entlastet fühlt, fühlt sich Frau U. missverstanden und weiter in eine Täterecke gedrängt, aus der sie jedenfalls in dieser Sitzung nicht mehr herauskommt.
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Schuld und Schuldgefühl
Für meine Begriffe ist Frau S. mehr in der Lage, Schuldgefühl und Verantwortung zu trennen. Sie spricht mehr über sich, hat weniger Schuldzuweisung nötig. Frau U. dagegen kann Schuld und Schuldgefühl nicht trennen, kann die Verantwortung für eine gegenwärtige Handlung von einer Schuldzuweisung damals, deren Opfer sie war, nicht auseinanderhalten (ähnlich Anton V., s. S. 305). Es folgt nun ein Beispiel aus einer analytischen Einzeltherapie unter meiner Supervision11, in dem reale Schuld auf ein habituelles Schuldge fühl aufgepfropft wird. In der Therapie entstand die Aufgabe, beide voneinander zu differenzieren. Es handelt sich um eine Patientin, die hatte Suizid begehen und ihre Tochter mit in den Tod nehmen wollen, sie selbst wurde gerettet, während die Tochter starb. Trotz ihres Alkoholismus hat sie ihre Arbeitsstelle in einem privaten Krankenhaus bisher behalten können. Die Patientin differenziert zwei Über-Ich-Stimmen: Patientin: ’ne ganze Zeit lang war das mal so, das ist aber nicht mehr, dass die eine Stimme gesagt hat, ich wär’schuldig und die andere Stimme hat immer gesagt, ich wär’ das gar nicht in schuld. Therapeut: Jetzt Moment: Was hat die andere Stimme gesagt? Patientin: Ich wär’s nicht in schuld. Therapeut: Sie wären es nicht in schuld? Patientin: Ja … Das war dann mit der Ulla [der Tochter der Patientin] aber … Therapeut: … also das heißt, verstehe ich das richtig, Frau H., dass dieses ›Ich bin schuldig‹, das und auch dies ›ich wär’s nicht in schuld‹ bezieht sich auf die Ulla. Patientin: … dass sie gestorben ist.
Nun versucht die Patientin eine Schuldentlastung, indem sie darauf hinweist, dass die Tochter hätte gerettet werden können, wenn das Telefon nicht defekt gewesen wäre. Der Therapeut greift das Bild vom gestörten Kontakt metaphorisch auf und entlastet sie von dem Schuldgefühl, zu den Menschen keinen Kontakt finden zu können, was wohl zur Suizidalität beigetragen habe. Therapeut: … in diesem Sinne sind Sie nicht schuldig, weil Sie es nicht in der Hand hatten, den Kontakt zu verbessern zwischen sich und den andern Menschen …, die Sie damals umgeben haben.
Die Patientin geht zu ihrer Schuld zurück, als sie sich fragt, ob sie überhaupt hätte telefonieren wollen, und macht sich weiter Vorwürfe.
11 Ich danke der Patientin und Johannes Pfäfflin für das Einverständnis, das Fallmaterial zu verwenden.
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Patientin: Läuft mir denn das das ganze Leben nach? Dass ich deswegen überhaupt mich nicht mehr richtig freuen kann, obwohl ich mich manchmal richtig freuen möchte … Und die sind alle nett. Ich hab’ soviel nette Erlebnisse da auch im Büro und … die mögen mich alle.
Nun geht es darum, dass die Kontakte zu anderen Menschen behindert werden durch das Schuldgefühl und die Vorstellung der Patientin, dass sie mit einer Krebserkrankung leichter leben könne. Therapeut: Ja, mit Krebs zu leben und mit einem zerstörten Körper, als die Schuld zu tragen, die Sie auf sich geladen haben. Patientin: Wahrscheinlich … und das kommt mir immer so stark zu Bewusstsein, wenn es mir eben so gut ging, wie jetzt in den letzten 14 Tagen.
Es geht jetzt um einen Rückfall in den Alkoholmissbrauch und darum, dass der Chefarzt, mit dem sie gesprochen hatte, sie gedeckt hat. Therapeut: Also in dem Punkt, wo es um diesen Rückfall geht … hat der Chefarzt sie entschuldigt. Patientin: Na, ich weiß nicht, ob er das – entschuldigt. Wahrscheinlich nicht, der das … Therapeut: … Sie sprechen jetzt über sich wie jemand, der kein Verständnis für sich hat. Patientin: Ne, dafür hab’ ich auch kein Verständnis. Für manche Dinge hab’ ich ja auch kein Verständnis, echt nicht … Therapeut: Ja, zum Beispiel auch dafür kein Verständnis, dass Sie Schuld mit daran tragen könnten, dass Ulla nicht mehr lebt. Patientin: Natürlich, ich hab’ sie gesucht, die ganze Schuld, das ist es ja. Es sind ja nur Ausweichmanöver, die ich da so an den Tage leg’.
Die Patientin möchte also nicht einfach von der realen Schuld, wegen des Alkoholismus und wegen des Todes der Tochter, freigesprochen werden. Patientin: Ich kann ja gar nichts abgeben [von der Schuld], das ist ja das Schlimme. Wenn ich was abgeben könnte, dann ging’s mir besser. Therapeut: Wenn Sie sich verstehen lernen könnten, kann ich mir vorstellen, dass es Sie auch ein bisschen entlasten könnte. Patientin: Ja, aber es ist immer schon so gewesen, immer schon, immer wenn irgend etwas war, ich war immer schuld, oder ich hab’ das immer gemeint. Ich hab’ immer gemeint, ich habe jetzt die ganze Situation vermasselt. Wenn Streit war, war ich immer diejenige, die sich gleich den ganzen Streit anzog, immer ich. Wenn’s Missverständnisse waren, immer ich war’s. Hab’ ich immer gemeint. Mein’ ich auch heute noch. Therapeut: Also schon früher … Patientin: Wenn einer nicht mehr mit mir sprach, egal, ob ich was gemacht hatte oder nicht, ich bin immer hingegangen und hab’ gesagt: ›Man, sprich’ wieder mit mir.‹ Und ich hab’ gar nichts gemacht. Nur damit ich nicht diese Gefühle hatte, jetzt hab’ ich wieder alles, bin ich wieder alles schuld. Das muss so tief in mir drin
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Schuld und Schuldgefühl
sitzen, das ist ja auch, wenn mal jemand frech zu mir ist, dann mein’ ich immer, ich hätt’ jetzt wieder was gemacht.
In der letzten Passage nun ging es um das althergebrachte Schuldgefühl der Patientin, hier wäre eine analytische Bearbeitung angebracht, während die Patientin selbst deutlich zu erkennen gegeben hat, dass sie an ihrer realen Schuld tragen möchte, sie anerkannt haben möchte, worin sie zu bestärken wäre. Wie man sieht, geht es ohne Stellungnahme des Therapeuten nicht, denn ohne die Schiedsrichterfunktion eines Dritten würde der Zirkel von Schuldgefühl und Schuldvorwurf endlos gehen (vgl. auch den Abschnitt »Abwehr von Schuld durch Schuldgefühl«, S. 288 f.). Die Differenzierung der verschiedenen Schuldgefühlsanteile voneinander einerseits und des realen Schuldanteils von ihnen andererseits ist die Voraussetzung ihrer Bearbeitung. Kurz gesagt, soll das Schuldgefühl »weganalysiert« werden, muss es auf seine Ursprünge, auf die dahinterliegenden Traumata, Defizite und Konflikte, die das Opfer nicht zu verantworten hat, zurückgeführt werden, mit dem Ziel, dass es von ihnen befreit wird. Davon sorgfältig zu trennen ist das Schuldbewusst sein, das der realen Schuld aufgrund der Identifikation mit dem Introjekt und der daraus entstehenden Komplizenschaft entspricht. Dieses soll nicht »weganalysiert«, sondern im Gegenteil zunehmend benannt und anerkannt werden. Eine Patientin Nedelmanns (1996) hat die Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl, das auf der traumatischen Tat eines anderen beruhen würde, kreativ im Traum ausgedrückt: »Julia fühlte sich von einer Professorin unfair geprüft. Viele Menschen waren Zeugen und diskutierten heftig die Schuldfrage. Schließlich äußerte Julia sich selbst und sprach zu der Professorin: ›Ich gelte als ein höfliches Mädchen. Soweit ich die Schuld trage, nehme ich sie auf mich. Aber was Sie angerichtet haben, dafür kann ich nicht aufkommen.‹«
Die Lösung von der Opfer-Identität bedeutet sowohl Auflösung irra tionaler Schuldgefühle als auch Anerkennung eigenen Schuldanteils. Die Daseinsanalytiker haben die Notwendigkeit, Schuld und Verantwortung für sich zu übernehmen, als Befreiung von Fremdbestimmtheit, das heißt von Schuldgefühl, erkannt. Psychotherapie muss dem Menschen auch helfen, »seine Schuld zu erkennen und auszutragen« (Condrau 1962, S. 150). »Erst die beharrlich wiederholte Zurückweisung auf sich selbst, die ständige Frage, warum er denn ›jetzt‹ noch an diesem oder jenem Einfluß seines Vaters festhalten müsse und was ein solches Verhalten in bezug auf seine eigene Reifungsmöglichkeit bedeute, eröffnete ihm die Möglichkeit zur Übernahme eigener Verantwortlichkeit und damit auch der Schuld« (Condrau 1962, S. 164).
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Während die Daseinsanalytiker eher die Verantwortung für und Schuld an der eigenen Existenz meinen, gibt es meiner Meinung nach auch die Notwendigkeit der Anerkennung der realen Schuld durch die Tat aufgrund der Identifikation. Diesen Anteil zu erkennen und auszuhalten bedeutet, ein oft großes Maß von Scham zuzulassen und nicht abzuwehren, Scham, sich etwas Fremdem derart weitgehend unterworfen zu haben (Amati 1990). Und den Schuldanteil anzuerkennen bedeutet auch, Trauer zu empfinden, dass man selbst nicht anders war, neben der Trauer, dass das Schicksal und die Menschen, mit denen man zusammenlebte und -lebt, so und nicht anders, nämlich liebevoller, akzeptierender, glücklicher sein konnten. »Introjekttherapie« ist meines Erachtens deshalb auch immer Trauerarbeit entsprechend Freuds Gedanken in »Trauer und Melancholie« (1917e). Immer wieder müssen das verinnerlichte Objekt und die Erfahrungen mit ihm »besetzt«, also vergegenwärtigt werden; unter Schmerzen, Angst und Wut, auch Schuldgefühl wiederbelebt und angesehen, erkannt werden als das, was sie waren, was das Objekt getan hat und wie man – schuldlos – gezwungen war, es in sich hineinzunehmen, um tragischerweise wieder schuldig zu werden.
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Filme
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Register
Abitur 224, 230–233, 241 »Abschalten« der Affekte 103 Abstillen 196 Abstinenz 10, 288, 291 Abtreibung 136, 140–141, 169, 222, 275 Adoleszenz 25, 34, 107, 118, 139–140, 154, 184, 187, 198, 209, 213, 220, 222–223, 250, 265, 272, 281–282 Adoption 137, 172–173, 175 Aggression – kannibalistische- 24, 46, 58, 68–70, 73, 75–78, 80, 83–84, 88–89, 94, 97, 99, 102, 107, 109–116, 136, 156, 176, 182, 191–194, 199, 204, 206, 213, 226, 247, 249, 251, 256, 261, 268–269, 275, 295–296, 299 Ambivalenz 12, 23, 68, 70, 75, 79, 80, 88, 108, 152–154, 171, 176, 179, 190–191, 197, 204, 225–226, 234, 236, 247–248, 271 – orale 24 Angst 15, 31, 33–34, 38, 57–61, 64, 69–72, 76, 79–80, 83, 85, 96, 100–101, 105, 108–109, 111, 115, 121–123, 134, 137, 156, 158, 167, 175, 179–181, 183, 185, 189–190, 194, 197, 214–215, 223–224, 229–231, 233–235, 237–242, 247, 249–250, 252, 256–257, 263–264, 267, 273, 276, 281, 283, 292, 295–298, 303 – Existenz- 57 »Anna-selbdritt 152, 191 Anorexie 185, 197 »Anti-Ödipus« 237 antisozialen Tendenzen 71 Arbeit 10, 39, 50–51, 64, 71–72, 74, 78, 87, 92, 94–95, 101, 105, 109, 118, 124, 127, 130, 139, 157, 172, 177, 180–183, 186, 194, 209, 224, 227–229, 235, 237, 239, 246
Arbeitsstörung 74, 82, 134, 177, 182–186, 215, 223, 226–227, 230, 232–234, 238 Assimilierung von inneren Objekten 107 »Auschwitz-Ich« 58 Ausstoßungsmodus 133 Autofahren 240–241 Automatisieren 103 Autonomie 12–13, 15, 74, 79, 130, 185, 207, 211, 214–215, 219, 231 – Abhängigkeits-Konflikt 209, 237 – streben 23, 47, 73, 74 Beichte 45, 54 »Besorgnis« 71 Bindung 4, 45, 84, 157, 168, 190, 209, 296 »Bindungsmodus« 216 Borderline-Persönlichkeitsstörung 91 Brückenobjekt 123, 241 Bulimie 123, 185 Buße 52, 54 »caritas humana« 148, 150, 152 »container« 121 culpa 30 Daseinsanalyse 11, 31, 37 debitum 30 Delegation 101, 142 Depersonalisation 172 Dissoziation 90, 105 Doppelbotschaft 215 »Dopplung« 58, 125 double-bind 227 Dysmorphophobie 25 Einzelkind 156 »Elternmord« 211 Entschuldigung 29 »Entwöhnung der Mutter vom Kind« 211 Erbsünde 13, 30, 38, 44–45 Erfolg 13, 21, 55, 74, 82, 88, 180–186, 209, 214, 223–228, 232, 234, 238, 273 – »Don Juan des Erfolgs« 184 Ersatzkind 156, 157, 164–167, 184, 189
320 Register Externalisierung 86, 94, 112, 297 Extremtraumatisierung 65, 103, 202, 242, 256, 257 Familiengeheimnis 65, 175, 189, 193, 264 »Familienscham« 174 Folter 72, 85, 95, 103, 105, 124, 242, 255–256, 259, 278–279, 299 freie Assoziation 293 Führerschein 240–241 Geburt 21, 27, 37, 63, 74, 128–130, 133– 135, 137–138, 154, 157–160, 164–165, 167–168, 170, 172, 185, 189, 197, 212– 213, 216, 224, 232, 235, 250, 255, 263, 266–267, 270, 272–274, 276, 285–286 – Fehl- 136 – »Gnade der späten Geburt« 40 Gegenübertragung 64, 99, 169, 173, 187, 203, 296 Gewissen 28–29, 31–34, 38–40, 47, 49, 51, 53, 57, 67–69, 76, 81, 94–95, 115, 137 – autochthones 12, 36, 86 – autoritäres 33, 58 – personales 34, 36 – »Tabu-« 50, 75 – Vulgär- 33, 38 Grenzüberschreitung 16, 20, 22, 91, 122, 255 »guilt« 285 Gymnasiasten 230 – zwei Typen 246 »Herzkind« 138, 167, 178, 189 Herzneurosen 188 Homosexualität 220, 222 »Hormonkind« 213 Hypochondrie 25, 237–240, 253 Hysterie 105, 124 Ich-Bestrebungen 78, 79, 207, 209 Ich-Ideal 75, 91 Ideal-Ich 29, 52, 57, 133, 185, 203, 237, 245, 273 Ideal-Selbst 52, 259 Identifikation 12, 14, 22, 34–35, 43, 63, 65, 69–70, 72, 75, 85, 91, 93, 95, 98, 102–119, 121–122, 126, 132, 138–139, 165, 169, 171, 187–189, 196, 198, 200, 203–205, 213, 215–216, 243, 245, 253, 258–259, 261, 277–283, 287, 291, 299, 302–303 – Assimilation durch 82, 90
– »globale« 117, 204, 259, 283, 298 – kryptische 98, 103 – melancholische 95, 105 – mit dem Aggressor 12, 77, 102, 107, 111, 114–118, 203, 243, 278–279, 290 – mit dem Introjekt 70, 106–107, 203, 278, 302 – mit dem Opfer 116–117, 213, 244 – mit der Mutter 198 – mit der Nazi-Moral« 278 – primäre 117, 203, 213, 299 – Projektiv 121 – sekundäre 116, 258, 299 – tragische 203 – Über- 61 – Über-Ich- 76, 107 – Unterwerfung durch 259 Identität 15, 22, 25–26, 30, 34, 39, 47, 61, 86, 105, 113, 122, 133, 135–136, 140, 146, 154, 156, 158–159, 161–163, 165–166, 168, 172, 174, 184, 194, 199, 217, 221, 224, 228, 231–232, 234–237, 239, 253, 255–256, 263, 265, 295, 298–299, 302 – -sangst 38 – -sersatz 196 – geschlechtliche 25, 239 – primäre 113 – Zerstörung der 255 Implantation 72–74, 101–102, 113, 118, 124, 139, 162, 200, 202, 245, 255 Individuation 15, 22–23, 27, 187, 207, 211 Initiation 26, 235–236 Inkorporation 97, 103–104 Internalisierung 36, 70, 75, 89, 93, 104, 108, 117, 200, 202, 278 Introjekt 12–13, 70, 72, 83, 88, 91, 94, 96–99, 102, 104–107, 114–115, 117, 119–120, 123–126, 156–157, 163, 165–166, 172, 174, 200, 203, 238, 242, 246–248, 252, 254, 258, 260, 264–265, 267, 270–271, 278–279, 282–283, 286, 288, 291, 293, 295–299, 302 – als Objektersatz 246 Introjektion 68, 70, 72, 74–75, 77, 82, 87, 90–95, 97, 99, 101–105, 107–109, 111, 113, 115, 117, 119–121, 123, 125, 139, 166, 200, 245, 255, 261 – extraktive 119
Register 321
– der Schuld des Täters 245 Intrusion 101, 119, 136 Inzest 25, 94, 123, 144, 174–175, 180, 189, 197, 220, 223, 244, 265–266, 271, 278 – -Familie 245 – latenter 214 – -schranke 173 – -Vater 61 – -verbot 219, 270 – -wunsch 270 inzestuöse Partnerwahl 220 Kastration 111, 183, 226, 251 – -sangst 271 – -sdrohung 236 Kind als Opfer 213 Kinderprostitution 148, 218 Kinderwunsch 136, 253 Kindesmisshandlung 105 Konkretisierung 97, 106 KZ-Haft 72, 85, 103, 167, 242, 255–256, 278 KZ-Opfer in der zweiten Generation 260 Leere 99, 120, 168–171, 213, 235, 253, 261, 267, 272–274 Lernstörung 185 Loyalität 227, 251 Masochismus 78, 87 Masturbation 111, 198, 222–223 Melancholie 52, 67–68, 77, 87–89, 93, 100, 104, 247, 303 Menstruation 212 Metaphysische Schuld 28 Migration 105, 262 Mitleid 277 Moral 16, 31, 34, 36–37, 55, 277–278, 284, 288 motivational-funktionalen Systeme 23, 209 »Muselmann«-Syndrom 257 Nacktheit 22, 24–25, 27 Namensgebung 22, 24, 26–27, 39, 160–161 Nebenbemerkungen Freuds 93 negative therapeutische Reaktion 92, 215, 296 Neid 156, 176–177 Neubeginn 26 Objektbeziehungstheorie 100 Ödipus-Drama 172 Ödipus-Komplex 21, 79, 86–89, 177, 183, 237, 266
– früher 77 Ödipus-Mythos 266 Opfer-Identität 61, 298–299, 302 Paargespräche 62 »Palimpsest« 95, 260 Parentifizierung 142 Partnerersatz 144, 253, 275 »Pelikan« 149, 191–196, 266 Penisneid 153 Priesterberuf 222 Projektion 50, 85, 90–91, 94, 110, 112–113, 121, 149, 155–156, 171, 261, 290–291 Prüfer – Angst vor dem Prüfer 237 – Psychologie des 236 Prüfungsangst 74, 177, 182–183, 215, 223, 225–226, 230, 233, 240–241 pseudo-ödipal 213, 266, 276 Ressentiment 291 Reue 12, 14, 29–30, 45, 48–49, 55, 62, 71, 284 Rollenumkehr 73, 75, 130, 135, 141–146, 148, 171, 213, 216, 225, 241, 251, 253, 260, 272, 275, 290, 298 Sadismus 77, 81–82, 94 Scham 14–16, 22, 24–26, 29, 40, 52, 57–58, 123, 133, 139, 174–175, 180, 201, 223, 265–266, 280, 284, 287–288, 291–292, 296, 303 – Abhängigkeits- 227 – Überlebens- 203 – Verbrechen aus 86 Schmerz 15, 18, 59–60, 85, 101, 118–119, 125, 132, 160, 190, 212 Schöpfungsmythen 15–16, 39 Schreibhemmung 230 Schuld – All- 37 – -angst 69, 225 – -anerkennung 29, 42, 47–48, 52–53, 55, 195, 284 – Basis- 38 – -bewältigung 30, 47, 49, 51–53, 55 – -bewusstsein 29, 35, 37, 47–52, 56, 58, 62, 67–69, 84, 193, 258, 264, 267, 284–285, 302 – -dialektik 46 – Differenzierung von Schuld und Schuldgefühl 292
322 Register – -dilemma 46–47, 267 – durch Identifikation 303 – -erfahrung 29, 48, 54 – -erleben 14–15, 29–30, 48, 51, 285 – Existential- 31 – existentielle 31 – Existenzs- 30, 34, 46, 56 – -fähigkeit 15, 22, 30, 43 – und Freiheit 43 – Kollektiv- 40–42 – kriminelle 28 – metaphysische 28 – – Mit- 278 – moralische 28, 52 – »- der Mütter« 60 – - des Opfers 267, 277, 279, 281, 283–284 – politische 28 – Tat- 38 – tragische 43, 46 – Überlebens- 40 – -vorwurf 61 – -zuweisung 46, 58–59, 61, 110, 157, 202, 298, 300 Schuldgefühl – Abwehr von – 84–85, 87, 89 –Angst und 64, 85, 240 – Basis- 13, 72–75, 127, 129–131, 133, 135, 137–139, 141, 143, 145, 147, 149, 151, 153, 155, 157, 159, 161, 163, 165, 167, 169, 171, 173–175, 212–213, 217, 243, 268, 270, 275, 298 – Differenzierung von Schuldgefühl und Schuld 292 – »entlehntes« 68, 106 – normales 49 – ödipales 21, 73 – präödipales 177 – traumatisches 13, 74, 242–243, 245, 247, 249, 251, 253, 255, 257, 259, 261, 263, 265, 267, 269, 271, 273 – Trennungs- 12, 13, 18, 73, 79, 130, 167, 177, 180, 182, 191, 207–209, 211, 213, 215, 217, 219, 221, 223, 225, 227, 229, 231, 233, 235, 237, 239, 241, 245, 261 – unbewusstes 93 – Überlebenden- 12, 40, 73–74, 166–167, 177, 199, 202, 206, 246, 248, 257, 287 – »Verbrechen aus -« 86, 89 – aus Vitalität 13, 73, 75, 79, 176–177, 179,
181–183, 185, 187, 189, 191, 193, 195, 197, 199, 201, 203, 205, 210, 219, 284 Schwangerschaft 74, 87, 96, 117, 128–129, 132–136, 139–141, 154–155, 159, 167, 196, 198, 214, 216, 238–239, 252, 267 – -ssängste 238 »Seelenmord« 105 Selbstbeschädigung 62, 92, 124 Selbstbestrafung 88 Selbstdestruktion 68, 115, 125 Selbst-Objekt-Differenzierung 207, 210, 225 Separation-Individuation 207–211 Sexualisierung 123–124, 253, 269 Sexualität 13, 15, 24–25, 46, 73, 77, 101, 123–124, 131, 146–147, 178, 180–182, 214, 219, 221–223, 245, 251–253, 271 – bedeutet Trennung 219 sexueller Missbrauch 95, 118, 293, 297 sexuelle Perversion 220–221 Somatisierung 199, 205, 286 Spaltung 23, 58, 80, 90, 103, 107, 125, 165, 172, 188, 201, 296 – vertikale 103 »Sprachverwirrung« 77, 100–101, 108, 113 »Stockholm-Syndrom« 280 Strafbedürfnis 86, 92, 94, 107, 156 Sublimierung 162 Sünde 18, 28, 36–37, 45, 55, 127, 137, 194, 277, 284 – Ur- 193 Sündenbock 58–59 Sündenfall 16, 21, 25, 27, 45, 180 Suizidalität 84, 111, 127, 131, 295, 300 »Superego-Intropression« 78, 101 Täter-Opfer-Gleichsetzung 286 Täter-Opfer-Umkehr 286 Teilobjekte 23, 268 »telescoping« – der Erfahrungen 243 – der Generationen 260 »Terrorismus des Leidens« 73, 111, 118, 138, 143, 187 Therapie 14, 57, 61, 93, 96, 99, 106, 120, 122–123, 135, 139, 142, 146, 154–155, 157–158, 163, 166, 170, 173, 175, 179, 186, 189–190, 203, 214, 217–218, 225–227, 229, 233, 240, 243–244, 249–250, 252–254, 262, 265, 267, 269,
Register 323
271, 276, 278, 281–282, 284, 286–289, 292, 294–300 – erste Phase 293 –»Introjekt« 295 – als Trennungsbedrohung 217 therapeutisches Objekt 296 Tod 15–16, 20, 24, 34, 37, 39, 51, 77, 94–95, 98, 105, 120, 138–139, 144, 156–160, 162, 164–168, 170–171, 178, 180, 186, 189–190, 197, 199–201, 204–206, 210, 219, 224–225, 235, 238–239, 244, 247–252, 254–255, 261, 263, 268, 270, 274–275, 279, 286, 300 – Angst vor dem 34 – Gleichsetzung mit Trennung 225 Todestrieb 12, 70, 77, 80–81, 83, 124, 130–131 Todeswunsch 284–285 »tote Mutter« 95, 169 Totgeburt 159 »tragischer Mensch« 64 transgenerationale Transmission 95, 260, 264 Trauer 29, 52, 54, 61, 87, 89, 93, 105, 124, 164, 166, 205, 213, 247–249, 257, 260–262, 292, 303 – arbeit 90, 105, 125, 156, 158, 204–205, 247–249, 254–255, 259, 299, 303 – pathologische Trauer 247 Trauma 21, 97, 100, 102, 130, 249, 260– 261, 263, 270, 282–283, 289, 292, 296, 298 – familiäres 243 – kumulative 106 – subtiles 120 – zweizeitiges 243 Traumatisierung 37, 74, 84–85, 90, 100, 102, 106, 112–113, 117, 122–123, 126, 243, 255, 258, 269, 286 Trennung 13, 15, 18, 23, 25, 74, 90, 92, 98, 107, 135, 166, 172, 180, 182–183, 190– 191, 207–208, 210–215, 217, 219–226, 228, 231, 236, 244, 246, 248, 250, 253– 254, 267, 274, 289–290, 293, 295, 297–298 – -sangst 143, 210, 214, 225, 237, 252 – -bedrohung 217 – über das verlorene Objekt 205 Triumph 89, 183, 201, 205, 225, 246, 251
– masochistischer Triumph 62 »Tun und Sein« 65 Über-Ich 29–32, 34–36, 49, 57, 68–69, 72–73, 75–80, 85–91, 94, 100–102, 107–108, 110, 113, 123–125, 133, 181, 184, 207, 210–211, 226, 234, 247, 259, 269–270, 288, 290–291, 300 – -Ich-Anteile 81, 186, 227, 229, 232, 275 – frühes 70 – reifes 82–83 – Suspendierung des 84 – Vorstufe des 33, 115 Überlebenden-Syndrom 199, 257 Überlebenskampf 287 Überstimulierung 91–92, 261, 269 Übertragung 64, 89, 91, 124, 146, 173, 190, 227, 265, 269, 271, 290, 292, 295–296 – sdeutung 65, 294 Umwelteinfluss 88 Ungeschehen-Machen 57, 205 Unschuldsvermutung 292, 294 Vaterfigur – Prüfer als 236 Vater-Sehnsucht 275 Vater-Tochter-Bündnis 245 Verantwortung 28, 30, 33, 34, 38–42, 44, 47, 52–56, 58, 61–62, 65–66, 71, 88, 112, 131, 132, 135, 142, 171, 182, 186–187, 195–196, 224, 231, 233–234, 266–267, 275, 277, 281, 283, 288, 290, 294, 298–300, 302–303 – Mit- 13, 28, 277–278, 282 Vergebung 53 Vergewaltigung 59, 95, 98, 102–103, 115, 139, 178, 243, 255, 259, 278, 282, 293 Verführungstheorie 21, 62–63, 72, 100 Verleugnung 24, 57, 102, 130, 167, 204–205, 267, 270, 295 Verluste 72, 95, 105, 107, 118, 123, 169– 170, 246, 252, 260, 263, 265, 267, 272 Verschmelzung 126, 171, 210, 286, 299 Versöhnung 29, 42, 47, 53, 131 Vertreibung 13, 17, 20, 105, 208, 262 Verwerfung 95 Verzeihung 29, 51–52 Wendung gegen das eigene Selbst 115 Wendung von der Passivität zur Aktivität 108–109 Wendung gegen Schwächere 278
324 Register »Wiedehopf« 145 Wiederannäherung 212 Wiedergutmachung 29, 52–53, 55, 70–72, 128, 131, 162, 193, 205 Wiederholungszwang 59, 90, 97, 99, 124, 126 Zwillinge 197, 205
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014738 — ISBN E-Book: 9783647014739