Bindung, Trauma und soziale Gewalt: Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog 9783666451775, 3525451776, 9783525451779

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Bindung, Trauma und soziale Gewalt: Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog
 9783666451775, 3525451776, 9783525451779

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Schriften des Sigmund-Freud-Institus

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl, Stephan Hau Band 3 Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog

Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl, Micha Brumlik (Hg.)

Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog

Mit 5 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 10: 3-525-45177-6 ISBN 13: 978-3-525-45177-9 Umschlagabbildung: Ernst Ludwig Kirchner, Eisenbahnüberführung Dresden-Löbtau, 1910/1926, Öl auf Leinwand, 68 x 89 cm (Ausschnitt). © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Marianne Leuzinger-Bohleber Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der neuronale Mensch Micha Brumlik Einführung in das Denken von Antonio R. Damasio . . . . . .

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Antonio R. Damasio Das Empfinden von Gefühlen und das Selbst . . . . . . . . . . . . .

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Michael Hampe Wahrhaftigkeit und Erinnerung. Philosophische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Lück, Daniel Strüber und Gerhard Roth Neurobiologische und entwicklungspsychologische Grundlagen gewalttätigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Leuschner Neurowissenschaft und ihre Unsterblichkeitsvision – die Enteignung der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

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Inhalt

Selbstentwicklung, Integration und Desintegration in der Adoleszenz Werner Bohleber Adoleszente Gewaltphänomene. Trauma, Krisen und Sackgassen in der jugendlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 121 Rolf Haubl Gewalt in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Thomas von Freyberg und Angelika Wolff Trauma, Angst und Destruktivität in Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Dirk Fabricius Jugend. Gewalt. Strafe – Ungerechtigkeit schützt vor Strafe nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Tradierung von Trauma und Gewalt Sverre Varvin und Folkert Beenen Trauma und Dissoziation. Manifestationen in der Übertragung und Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Kurt Grünberg Erinnerung und Rekonstruktion. Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung und Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland . . . 221 Ilka Lennertz Bindungsmuster bei Flüchtlingskindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Karolina Solojed, Ingrid Kerz-Rühling und Marianne Leuzinger-Bohleber Psychische Folgen des stalinistischen Terrors in Russland . . . 264

Inhalt

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Ingrid Kerz-Rühling Einführender Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Karolina Solojed Charakterzüge der Repression in Russland in den 1930er bis 1950er Jahren. Ein historischer Exkurs . . . 268 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

■ Marianne Leuzinger-Bohleber

Einführung

Immer wieder schrecken Medienberichte auf, die eine Zunahme der Gewalt in Schulen, gegen Ausländer oder Randgruppen sowie eine neue Bindungslosigkeit unter der nachwachsenden Generation vermelden. Daher beschäftigen sich seit Jahren erziehungswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Studien mit der Analyse solcher Phänomene und ihrer möglichen Ursachen. Auch von psychoanalytischen Autoren sowie von neurobiologisch orientierten Traumaforschern liegen interessante Untersuchungen und darauf basierende Erklärungsmodelle zum Zusammenhang von Bindung, Trauma und sozialer Gewalt vor. Obschon immer wieder geäußert wird, dass das Wissen, das in den verschiedenen Disziplinen zu diesem gesellschaftlich hoch relevanten Thema gesammelt wurde, miteinander in Beziehung gesetzt und gemeinsam reflektiert werden sollte, sind konkrete Versuche eines interdisziplinären Dialogs zu diesen komplexen Problembereichen immer noch eher selten. Dies war ein Grund, warum das SigmundFreud-Institut zusammen mit den Fachbereichen Erziehungswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt vom 3. bis 5. Dezember 2004 eine internationale Tagung »Bindung, Trauma und soziale Gewalt« durchführten. In aller Vorläufigkeit sollte darin das Thema gleichzeitig von Psychoanalytikern, Erziehungs- und Sozialwissenschaftlern und Neurowissenschaftlern in Blick genommen werden. Dieser Versuch einer Brückenbildung zwischen den Disziplinen stieß bei den fast 600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf so großes Interesse, dass wir uns entschlossen, die verschiedenen Beiträge in dieser Publikation einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. In dieser Einführung möchte ich einige unserer Überlegungen

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skizzieren, warum wir uns gemeinsam an dieses komplexe und gesellschaftlich sich aufdrängende Tagungsthema herangewagt haben und warum wir davon überzeugt sind, dass ein Dialog zwischen den erwähnten Disziplinen zu dessen vertieftem Verständnis beitragen kann, auch wenn er mit vielerlei Klippen und Hürden verbunden ist. Die Wahl des Themas hat außerdem eine besondere Bedeutung für das Sigmund-Freud-Institut (SFI), das seit dem institutionellen Neubeginn vor zwei Jahren nach einer zehnjährigen Übergangszeit unter der Leitung von Horst-Eberhard Richter versucht, die spezifische Tradition dieser besonderen Institution aufzunehmen und mit heutigen Anforderungen an ein interdisziplinäres und international vernetztes psychoanalytisches Forschungsinstitut zu verbinden. Seine Geschichte ist eng mit den Namen Alexander und Margarete Mitscherlich verbunden, die wesentlich dazu beitrugen, dass die Psychoanalyse nach ihrer Vertreibung durch die Nationalsozialisten und der Ermordung jüdischer Analytiker1 und ihrer Familien im Holocaust in das Land der Täter zurückkehrten. Das war nur möglich, weil sie mit ihren wichtigen Studien einen entscheidenden Beitrag zu einer kritischen Auseinandersetzung der Langzeitfolgen des Nationalsozialismus sowohl in deutschen Familien als auch in der politischen Kultur des Nachkriegsdeutschlands geleistet hatten. Es übersteigt den Rahmen dieser Einführung, auf die geschichtliche Kontinuität am SFI näher einzugehen. Ich muss mich damit begnügen anzudeuten, welche Fäden wir derzeit aufnehmen, wenn wir, wie bei der erwähnten Tagung, psychoanalytische Aspekte bei interdisziplinären Analysen komplexer und drängender gesellschaftlicher Fragestellungen einbringen und dadurch versuchen, uns auf neue Weise in der aktuellen Forschungslandschaft in Frankfurt zu verorten.

1 Dazu gehört auch Karl Landauer, Psychoanalytiker und Mitglied des ersten Frankfurter Psychoanalytischen Instituts der 1920er Jahre in Frankfurt, der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen zu Tode kam.

Einführung

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■ Zur Trias Bindung, Trauma, soziale Gewalt

Abbildung 1: Jossi – Selbstbild vor der Therapie (Cohen 2004)

Das Bild des fünfjährigen Jossi illustriert die unauflösbare Trias von Bindung, Trauma und sozialer Gewalt, die den Fokus des interdisziplinären Dialogs in diesem Band bildet. Mit seiner Zeichnung teilt uns Jossi seinen inneren Zustand mit; Verzweiflung, Gewalt und entsetzliche Angst – ein kindliches Selbst in Not. Das Selbst befindet sich in einem fast psychotischen Zustand: Nase, Mund und Augen der Figur sind verwischt, es gibt keine klare Körpergrenzen. Das Selbst ist bedroht von Fragmentierung, Deanimierung und Zerstörung. Wir können Jossis Notschrei spontan verstehen, obschon dieses Kind aus einem anderen Kulturkreis stammt und eine andere Sprache spricht. Yecheziel Cohen, der jahrzehntelang als Psychoanalytiker in Jerusalem das Heim leitete, in dem ursprünglich 2000 Waisen des Holocaust aufgenommen worden waren, berichtet in seinem Buch, das auch auf deutsch erschienen ist, von seiner psychoanalytischen Arbeit mit Kindern wie Jossi (Cohen 2004). Sie alle reagierten mit extremer Gewalt auf kaum vorstellbare Traumatisierungen, die ihnen die Chance zer-

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störten, einigermaßen stabile Bindungen und ein kohärentes Selbst zu entwickeln. Die erlebten Traumatisierungen überstiegen die seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten des kindlichen Ich und zerschlugen seinen psychischen Schutzschild. Dadurch zerbrach nicht nur das basale Vertrauen in die Fähigkeiten des Selbst, sondern auch in einen helfenden Anderen, ein »gutes Objekt«, und eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft. Durch die traumatischen Erfahrungen blieb die Zeit stehen, der Sinn der eigenen Existenz ging verloren. Gewalt gegen das eigene Selbst und Andere gehörten zu ihren Folgen (vgl. dazu Bohleber, Lennertz, Varvin und Beenen in diesem Band). Trauma, soziale Gewalt und das Fehlen sicherer Bindungen bei Aufwachsenden beschränken sich leider schon längst nicht mehr auf gesellschaftliche Krisengebiete. Auch in vielen Schulen und Kindergärten bei uns ist der Umgang mit Aggression und Gewalt zu einem dominanten Problem geworden. Die Frage, ob dies einer Zunahme der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft oder einer veränderten Wahrnehmung solcher Phänomene zuzuschreiben ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Doch muss bei der Suche nach möglichen Ursachen ein komplexes Ineinanderwirken von gesellschaftlichen, institutionellen, familiären, entwicklungspsychologischen, individuellen und biologischen Faktoren angenommen werden, sodass es sich als unverzichtbar erweist, gemeinsam, in interdisziplinären Analysen und Forschungskooperationen, nach den vielfältigen Ursachen von Gewalt einerseits und Präventionsund Interventionsmöglichkeiten andererseits zu suchen. Dazu einige Schlaglichter: Psychoanalytische, erziehungs- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen von so genannten »highrisk-families« haben gezeigt, dass chronische Erfahrungen von Gewalt und Verwahrlosung (z. B. gewalttätige Väter, Missbraucherfahrungen, Zeugenschaft häuslicher Gewaltszenen) zu einer asozialen Entwicklung bei den Aufwachsenden führen, was einmal mehr auf die Bedeutung früher Sozialisationsfaktoren verweist. In vielen empirischen Studien hat sich herausgestellt, dass Säuglinge in diesen Familien nur in ungenügender Weise Erfahrungen einer empathischen, liebevollen und verlässlichen Zuwendung und Fürsorge machen können – unabdingbare Voraussetzungen für die Entwicklung einer sicheren Bindung, eines »Urvertrauens«

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(Erikson) im ersten Lebensjahr. Erweisen sich Eltern als nur ungenügend in der Lage, die Gefühle ihres Kindes zu erkennen und auf sie angemessen zu reagieren, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung aggressiven Verhaltens. Daher verdient die beunruhigende Beobachtung von Lehrern und Erziehern unsere Aufmerksamkeit, dass die Entwicklung von Gewaltbereitschaft und -handlungen zwar auch heute noch gehäuft bei Kinder aus diesen High-Risk-Milieus festzustellen ist, aber nicht mehr auf diese Gruppe beschränkt werden kann. In beunruhigender Weise sind sie auch bei Kindern aus so genannten normalen Verhältnissen beziehungsweise bei anderen »Risikogruppen« (bei Scheidungskindern, Kindern aus multikulturellen Familien oder von psychisch kranken oder arbeitslosen Eltern, in Armut lebend etc.) zu beobachten. Eine weitere irritierende Beobachtung von Praktikern ist, dass immer jüngere Kinder bereit scheinen, ihre Konflikte gewaltsam auszutragen und sich dabei gegenseitig ernsthaft zu verletzen. Dies ist auch deshalb alarmierend, weil verschiedene Studien vor allem aus dem Bereich der empirischen Bindungsforschung darauf hingewiesen haben, dass die Wahrscheinlichkeit, antisoziales Verhalten beizubehalten, umso größer ist, je jünger die Kinder sind, bei denen Verhaltensauffälligkeiten auftreten (vgl. dazu u. a. Fonagy et al. 1993; Papousek 2004; Spangler et al. 2002). Schließlich beschäftigen uns die beunruhigenden Befunde der PISA Studien I und II, dass die soziale Integration von Randgruppen und Benachteiligten in Deutschland weit weniger gut gelingt, als wir bisher angenommen haben, möglicherweise eine wichtige Quelle des Versagens individueller und institutioneller Bindungsangebote und daher von sozialer Gewalt. Dies alles waren Gründe, warum wir die »Frankfurter Präventions- und Interventionsstudie zur Verhinderung psychosozialer Desintegration« (insbesondere von ADHS) im Vorschulalter ansiedeln (Leuzinger-Bohleber et al. 2006; s. a. Leuzinger-Bohleber et al. 2005). Da wir eine repräsentative, randomisierte Studie mit 500 Kindern in 14 Städtischen Kindertagesstätten durchführen, bekommen wir einen Einblick in ein breites Spektrum heutiger Kindheiten. In manchen Kindertagesstätten finden wir fast ausschließlich deutsche Kinder aus Mittelschichts- und Akademikerfamilien. In anderen Einrichtungen haben wir Kinder aus bis zu 27

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Nationen. Doch in allen Kindertagesstätten finden wir neben Kindern, denen es gut geht und die mit viel Zuversicht und Lebensfreude ihrer Zukunft entgegenblicken, einzelne Kinder, die durch Krankheit, Verlust von nahen Bezugspersonen oder aber durch familiäre Gewalt, dramatisch verlaufende Scheidungen, Flucht und Emigration in ihren ersten drei Lebensjahren schwere Traumatisierungen erlebt haben und daher schon in diesem frühen Alter keine sicheren Bindungsmuster aufbauen konnten. Die empirische Bindungsforschung rechnet mit circa acht bis zehn Prozent solcher Kinder. Diese so genannten desorganisiert gebundenen Kinder fallen meist durch psychosoziale Probleme auf, durch aggressive Verhaltensweisen, Kontaktstörungen, eine Unfähigkeit sich zu konzentrieren oder überhaupt zu spielen und sich am Leben zu freuen. Papousek und ihrer Mitarbeiter (2004) stellten in ihrer Stichprobe im Kinderzentrum München bei etwa 18 Prozent der zwei- bis vierjährigen Kinder aggressiv-oppositionelles Verhalten aufgrund von Regulationsstörungen fest, die von circa drei Prozent im zweiten Lebensjahr auf fast 46 Prozent im dritten Lebensjahr anstiegen. Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig pädagogische und therapeutische Korrektiverfahrungen für Kinder mit Regulationsstörungen in diesem frühen Alter sind. Daher kommt den Kindertagesstätten eine zentrale Aufgabe zu. Gut ausgebildete, empathische Erzieherinnen haben zusammen mit den Eltern in diesem frühen Alter noch viele Möglichkeiten, frühe Wunden zu heilen und die Entwicklung des Kindes positiv zu beeinflussen. So sind wir, das heißt die erfahrenen Supervisorinnen und Supervisoren des Instituts für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und das Team unserer jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Kindertagesstätten im Rahmen unserer Studie arbeiten, beeindruckt von der hohen Professionalität vieler Leiterinnen und Erzieherinnen der Kindertagesstätten, die oft – wenig beachtet von der Öffentlichkeit – im Stillen eine Integrationsarbeit schwieriger Kinder leisten, die sowohl für diese Kinder und ihre Familien als auch für die Bildungsinstitutionen und die Öffentlichkeit ganz allgemein von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Eines der Hauptziele unserer Studie ist es, diese professionelle Arbeit durch unsere Studie zusätzlich zu unterstützen, auch weil,

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wie wir alle wissen, die staatlichen Mittel auch in diesem Bereich leider knapp geworden und daher die alltäglichen Belastungen für die Erzieherinnen oft enorm angestiegen sind. In besonders schwierigen Einzelfällen, die die Erzieherinnen meist irgendwann mit ihren Grenzen beziehungsweise den Grenzen ihrer Einrichtung konfrontieren, können wir analytische Kindertherapien in den Einrichtungen selbst anbieten. Dabei war eine der offenen Fragen unserer Studie, ob wir Kinder, die wirklich dringend professionelle Hilfe benötigen, schon in diesem frühen Alter erreichen und ob ihre Familien bereit sein werden, entsprechende Hilfe anzunehmen. In guter Zusammenarbeit mit dem Team der Kindestagesstätten, der Familienhilfe, dem Sozial- und Schulamt, sowie Kinderärzten und Kinderpsychiatern ist es uns gelungen, einigen Kindern und ihren Familien professionelle Unterstützung anzubieten, Kindern, die schon mit vier oder fünf Jahren ausdrückten »dass sie eigentlich nicht mehr leben wollten …«. Die seelischen Belastungen dieser Kinder äußern sich in verschiedener Weise, bei den Mädchen oft eher in einem depressiven Rückzug, bei Jungs häufiger in aggressivem Verhalten. Oft wirken diese nicht offensichtlich depressiv, sondern erweisen sich wegen ihres aggressiven beziehungsweise hyperaktiven Verhaltens für die Gruppen in den Kindertagesstätten als kaum tragbar. Obschon alle diese Jungen bei der Einschulung höchstwahrscheinlich unter die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) fallen werden, hat jedes von ihnen ein ganz eigenes Kinderschicksal: Um nur drei (verschlüsselt) hier zu erwähnen: Peter lebt mit einer Mutter, die mehrmals psychiatrisch hospitalisiert worden war, die Familie immer wieder verlässt und unfähig ist, ihn körperlich zu berühren. Sein Vater ist soeben arbeitslos geworden und körperlich schwer krank. Er kämpft verzweifelt darum, dass nicht auch noch sein viertes und letztes Kind in einem Heim untergebracht werden muss. Ali hingegen, der ebenfalls wegen seiner aggressiven Attacken kaum für die Gruppe tragbar ist (er schlägt, spuckt und beißt), lebte anderthalb Jahre auf der Straße in einem Kriegsgebiet und spricht, wie seine vermutlich depressive Mutter, kein Wort deutsch. Sebastian, der fünfjährige Sohn einer 19jährigen, allein erziehenden und alkoholkranken Mutter, ist für sie

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das »Ein und Alles«. Im Kindergarten hingegen ist er kaum in der Lage, sich in die Kindergruppe einzugliedern. Er schlägt oft wild um sich, verletzt andere in unberechenbaren, plötzlichen Wutanfällen und kann sich auf kein Spiel mit ihnen einlassen. Solche Kinder leben in der gleichen Stadt mit Kindern ihres Alters, die es wohl so gut haben, wie noch kaum eine Kindergeneration vor ihnen: hoch geliebt und gefördert von empathischen, verständnisvollen Eltern, die ihnen eine sichere, geborgene und heitere Kindheit bieten können. Ein paar wenige dieser Kinder, wiederum besonders die Jungen, gelten als hochbegabt und können ebenfalls unter das Etikett »ADHS« fallen: Sie sind temperamentvoll, quirlig, sprühend vor Neugier und Lebensfreude – und daher oft nicht einfach pädagogisch zu handhaben. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit möglicher psychischer und psychosozialer Faktoren sorgfältig zu dokumentieren, die unter die Modediagnose ADHS fallen, ist eines der Ziele der Frankfurter Präventionsstudie. Wir problematisieren damit eine zurzeit fast epidemieartige Ausbreitung der so diagnostizierten Kinder hier in Deutschland und weltweit. 10 bis 15 Prozent aller Kinder entwickeln, so Experten, diese Verhaltensauffälligkeit. In Deutschland sind circa 500.000 Kinder davon betroffen. Verschiedene Forschergruppen und Praktiker befassen sich mit unterschiedlichen Erklärungskonzepten der Entstehung, zur Diagnostik sowie zur Prävention und Intervention von Kindern mit psychosozialen Integrationsproblemen (vgl. dazu die Beiträge von Amft, Gerspach, Mattner, Dammasch, Bürgin, Grothe u. Horlbeck; Henke; Lehmkuhl u. Döpfner in dem Band »ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung«, Leuzinger-Bohleber, Brandl u. Hüther 2006). Bindung, Trauma und soziale Gewalt betreffen aber nicht nur Vorschul- und Grundschulkinder, sondern auch Jugendliche. Die meisten offenen Gewalttaten, vor allem gegen Randgruppen, werden in unstrukturierten Freizeitsituationen durch männliche Jugendliche in Gruppen ausgeführt. Zudem müssen uns neue und irritierende Formen der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen beschäftigen, wie sie unter anderem im Roman »Spieltrieb« von Juli Zeh literarisch gestaltet sind. Die Protagonisten des Romans, zwei Gymnasiasten, quälen ihren Lehrer nicht aus Verzweiflung, Wut und Ohnmacht, sondern aus kalter Berechnung – und, was fast

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noch beunruhigender erscheint, aus Langeweile und innerer Leere. In verschiedenen Beiträgen in diesem Band werden mögliche Hintergründe für solche beängstigenden und befremdlichen Verhaltensweisen diskutiert. Aus psychoanalytischer Sicht sind es oft Sackgassen der adoleszenten Entwicklung, die in destruktives Verhalten gegen sich selbst und andere münden (vgl. Bohleber in diesem Band). Daher kann vermehrtes Wissen zu diesen Klippen jugendlicher Entwicklung beitragen, die Ängste vor gewaltbereiten Jugendlichen zu verringern, die, wie ich aus vielen Gesprächen mit meinen Studierenden weiß, bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern besonders von Haupt- und Realschulen weit verbreitet sind. Thomas von Freyberg und Angelika Wolff fassen in ihrem Beitrag (in diesem Band) einige Ergebnisse einer Studie zusammen, die sich mit Einzelschicksalen von Jugendlichen befasst, die alle, ohne Ausnahme, auf schwere Traumatisierungen mit extremer Destruktion und Gewalt reagiert hatten, dass sie sich schließlich in keiner schulischen Institution mehr als tragbar erwiesen und schon mit 13–15 Jahren ausgeschult wurden. Die Fallbeispiele dieser Studien illustrieren die These von Dirk Fabricius in diesem Band: »Ungerechtigkeit schützt vor Strafe nicht«. Die Ausschulung als »Strafe« für aggressives Verhalten wirkt wie eine Kapitulationserklärung der Bildungsinstitutionen in unserer Gesellschaft: Die betroffenen Jugendlichen stößt sie endgültig ins soziale Abseits, in Kriminalität, Drogenkarrieren oder psychische und psychosomatische Erkrankungen. Die Adoleszenz ist eine Phase, die für die Entwicklung eines stabilen Selbst und Kernidentitätsgefühls in den so genannten heißen Gesellschaften (Lévy Strauss) von entscheidender Bedeutung ist. Diese Prozesse wurden sowohl von Erziehungswissenschaftler als auch von Psychoanalytikern detailliert beschrieben (vgl. u. a. Bohleber in diesem Band). In neuester Zeit befassen sich auch namhafte Neurowissenschaftler wie Antonio R. Damasio mit der Entwicklung des Selbst und stützen sich dabei auf neuere Erkenntnisse aus der Hirnforschung und der Neurobiologie. Können ihre neurowissenschaftlichen Modelle das Verständnis der komplexen und störungsanfälligen adoleszenten Selbstfindungsprozesse vertiefen? Bieten sie zusätzliche Erkenntnisse zu der entscheidenden Frage an, wie die integrativen psychischen und psy-

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chosozialen Prozesse in dieser kritischen Entwicklungsphase gestützt und gefördert werden können, um Desintegrationen, die oft in Gewalt gegen die eigene Person oder den Anderen münden, zu verhindern (vgl. Brumlik und Damasio in diesem Band)? Oder ist die Zeit für solche Anwendungen grundlagenwissenschaftlicher Forschung auf pädagogische und therapeutische Problemstellungen im Umgang mit jugendlicher Gewalt noch verfrüht oder sogar prinzipiell bedenklich?

■ Zur individuellen und kollektiven Verleugnung des Zusammenbrechens von Bindung, von Trauma und Gewalt Eine spontane Reaktion auf erschreckende Wahrnehmungen des Zusammenbrechens menschlicher Bindungen, von Trauma und sozialer Gewalt ist bei uns allen zuerst einmal das Wegschauen: die Verleugnung, eine ubiquitäre Reaktion mit fatalen Folgen für das Individuum und die Kultur, wie schon Alexander und Margarete Mitscherlich (z. B. 1967) bezogen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus gezeigt haben. Wie erwähnt fühlen wir uns dieser Tradition am Sigmund-Freud-Institut (SFI) verpflichtet, wenn wir uns an der interdisziplinären Erforschung von Bindung, Trauma und soziale Gewalt beteiligen. Die Psychoanalyse, als Wissenschaft des Unbewussten, kann dabei einen spezifischen Beitrag zum Erkennen der individuellen und kollektiven Abwehr solch belastender Themen sowie von unbewussten Quellen von Beziehungsfähigkeit, aber auch von Trauma und Gewalt leisten und dadurch interdisziplinäre Analysen um eine weitere Perspektive ergänzen. Die spezifisch psychoanalytischen Erkenntnisse beruhen immer auf der intensiven klinischen Arbeit mit einzelnen (traumatisierten) Patienten, wie wir sie in unseren Privatpraxen, aber auch im Rahmen unserer Ambulanz (Leitung: Ingrid Kerz-Rühling und Heinrich Deserno) oder des jüdischen Beratungszentrums (Leitung: Detlev Michaelis und Kurt Grünberg) durchführen. Wenn wir aber, wie dies in den meisten Beiträgen in diesem Band der Fall ist, auch nach den institutionellen und gesellschaftlichen De-

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terminanten von individuellem Leiden fragen, erweist sich der interdisziplinäre Dialog mit Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften als unverzichtbar (vgl. Beiträge von Grünberg; Haubl; Solojed, Kerz-Rühling u. Leuzinger-Bohleber in diesem Band). Der Dialog mit den Sozial- und Geisteswissenschaften wurde immer schon am SFI gepflegt und wird im Forschungsschwerpunkt »Psychoanalytische Sozialpsychologie« (Leitung: Rolf Haubl) weitergeführt. Historisch weniger bekannt ist der Versuch, auch nach den biologischen und neurophysiologischen Determinanten von psychischen und psychosozialen Prozessen zu fragen, ein wenig beachtetes Forschungsthema am SFI, das wir zurzeit in einer Research Unit der Society for Neuropsychoanalysis2 der Grundlagenabteilung (Leitung: Marianne Leuzinger-Bohleber) aufnehmen und weiterführen. Die dabei intendierte Brückenbildung zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften erweist sich als große Herausforderung, wie im Folgenden kurz aufgezeigt werden soll.

■ Psychoanalyse im Spannungsfeld zwischen Biologie und Soziologie, Trieb und Kultur Lange vor dem »Jahrzehnt des Gehirns« erkannte Alfred Lorenzer als Wissenschaftler am SFI die Relevanz des interdisziplinären Dialogs mit den Neurowissenschaften für die Psychoanalyse. Dies ist umso erstaunlicher, da damals, bedingt durch den Zeitgeist der Sechziger- und Siebzigerjahre, der Dialog von Psychoanalytikern mit Naturwissenschaftlern kritisch beäugt wurde. So bezeichnete zum Beispiel Jürgen Habermas (1968) in seinen einflussreichen Schriften Freuds lebenslange Sehnsucht, psychoanalytische Erkenntnisse auch naturwissenschaftlich zu belegen, als szientistisches Selbstmissverständnis der Psychoanalyse. Lorenzer ließ sich von diesem Argwohn nicht beirren, sondern formulierte eine eigenständige, innovative wissenschaftstheoretische Position, die ge2 Die Research Unit wurde im Rahmen der internationalen Tagung offiziell eröffnet.

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rade heute – in Zeiten, in denen in oft naiver Weise von den Naturwissenschaften die Lösung aller ungelösten wissenschaftlichen Fragen der Humanwissenschaften erwartet wird – ausgesprochen interessant ist. Alfred Lorenzer nahm viele der Thesen von Mark Solms (1999) und anderen Autoren (vgl. z. B. Starobinski et al. 1999) vorweg, indem er betonte, dass die Wurzeln der Psychoanalyse nicht von der neurophysiologischen Forschungstätigkeit von Freud getrennt werden können. Wie Solms hebt Lorenzer hervor, dass es die Kritik an der Lokalisationsthese und den methodischen Begrenztheiten der neurologischen Forschung seiner Zeit waren, die Freud dazu bewogen, sich von der Neurologie abzuwenden und die Psychoanalyse als »reine Psychologie« zu definieren. Freud hielt – im Gegensatz zu den vorherrschenden Auffassungen von vielen Neurologen seiner Zeit – an einer holistischen Auffassung des Gehirns und seiner Funktionsweise fest. Lorenzer schreibt dazu: »Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die neuere Neurophysiologie (die in den letzten Jahrzehnten einen so enormen Aufschwung genommen hat) diese ›holistisch-funktionelle‹ Sicht vollauf bestätigte, ja verschärfte. Den einzelnen Zentren [des Gehirns] wird dabei keineswegs eine funktionsspezifische Bedeutung für die Sprachmotorik oder für das Sprachverständnis bestritten. Nur: Die Einbettung in den Gesamtzusammenhang muss subtiler gesehen werden als dies damals [d. h. von Freud] zunächst geschah. Die Verbindungsbahnen sind nicht bloße Leitungen; sie erbringen eigene Leistungen, die zu der Leistung der Zentren in einem Wechselverhältnis stehen. Der Gesichtspunkt eines ›Verhältnisses‹ bestimmt die Gesamtsicht. Denn es steht alles mit allem in Verbindung, es ist jeder einzelne Schritt von den anderen Schritten des Funktionsprozesses abhängig. Diese Abhängigkeit aber erbringt nicht nur eine eventuelle ›Mitbetroffenheit‹ auch unverletzter Teile bei einer Läsion, sie ermöglicht auch ein Kompensationsvermögen auf dem Weg einer funktionellen Ergänzung« (Lorenzer 2002, S. 93f.). Lorenzer stimmt in dieser Auffassung nicht nur mit den Interpretationen der Ergebnisse überein, die Kaplan-Solms und Solms (2000) mithilfe der so genannten klinisch-neuroanatomischen Forschungsmethode bei Patienten mit lokalisierbaren Hirnläsionen formuliert haben, sondern mit der heute vorherrschenden Sicht

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des Gehirns als eines holistischen Systems komplexer Informationsverarbeitungsprozesse (vgl. dazu u. a. Singer 1994; Roth 1997; Beiträge in der Zeitschrift »Neuro-Psychoanalysis«).3

■ »Verleiblichung früher Interaktionsformen« und Embodied Cognitive Science Alfred Lorenzer nahm zudem einen Paradigmenwechsel vorweg, der sich seit einigen Jahren in der Cognitive Science vollzieht (vgl. dazu Pfeifer u. Scheier 1999; Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer 1998, 2002): der Wechsel von einer kognitivistischen Auffassung menschlicher Problemlösungsprozesse in der »Klassischen« hin zu einer biologisch orientierten, konstruktivistischen »Embodied« Cognitive Science. Hier verkürzt zusammengefasst: Es war vor allem die Auseinandersetzung mit der biologisch orientierten Gedächtnisund Hirnforschung, die bei Cognitive Scientists zur Einsicht führte, dass das menschliche Gedächtnis nicht analog zu einem Computer funktioniert (vgl. dazu u. a. Brooks 1991; Clancey 1991; Edelman 1992, 2004; Rosenfield 1988, 1992; Pfeifer u. Scheier 1999). Stattdessen wird nun Gedächtnis, den adaptiven Prozessen biologischer Systeme entsprechend, als Fähigkeit definiert, neurologische Prozesse so zu organisieren, dass sie Wahrnehmungen und Bewegungen in analoger Weise miteinander in Beziehung setzen, das heißt diese koordinieren und dadurch kategorisieren, wie dies in früheren Situationen geschah (vgl. dazu Clancey 1991; Rusch 1987). Gedächtnis wird daher in der Embodied Cognitive Science als ein aktiver Vorgang des gesamten Orga3 Mithilfe der oben genannten klinisch-neuroanatomischen Forschungsmethode versucht die Forschungsgruppe Neuropsychoanalysis FrankfurtKöln (Franz Dick, Rosemarie Kennel, Vivane Strauß, Klaus Röckerat, Joachim Rothe, Herrmann Schultz und Marianne Leuzinger-Bohleber) seit sechs Jahren, die komplexe Wechselwirkung von Gehirn und Geist in der therapeutischen Interaktion mit Neglectpatienten mit umschriebenen Läsionen psychoanalytisch zu untersuchen. Die Ergebnisse dieser klinischen Untersuchungen sehen wir als einen genuin psychoanalytischen Beitrag zur aktuellen Debatte des Leib-Seele-Problems.

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nismus verstanden, der auf sensomotorisch-affektiven Koordinationsprozessen und damit in Zusammenhang stehenden »automatischen«, sich ständig adaptierenden Rekategorisierungsprozessen beruht. Es ist bemerkenswert, dass Lorenzer schon in den Achtzigerjahren postulierte, dass sich Interaktionserfahrungen während der Embryonalzeit und den ersten Lebensmonaten »verleiblichen«, das heißt in sensomotorische Reaktionsweisen des Körpers einprägen und – unbewusst – spätere Informationsverarbeitungsprozesse in adäquater oder inadäquater (»neurotischer«) Weise determinieren. Er schreibt: »So stellt sich uns die Alternative ›anlagebestimmt oder sozial bestimmt‹ längst nicht mehr. Die Gleichsetzung von ›vererbt und angeboren‹ ist angesichts der sozialen Prozesse, die erkennbar in der intrauterinen Entwicklung schon sich abzeichnen, nicht mehr haltbar. Andererseits ist auch in unserer Sicht der Leib keine bloße Wachstafel, der sich die sozialen Figuren einschreiben. Unsere Rede von der Einzeichnung der Szenen in Erinnerungsspuren, die sich im Körper niederschlagen, war stets zu ergänzen um den Zusatz: die soziale Einwirkung verläuft als Wechselspiel zwischen leiblicher und sozialer Einwirkung, zwischen der Körperlichkeit und der Sozialität des Menschen« (Lorenzer 2002, S. 131). Diese Auffassung entspricht en détail der Charakterisierung der Wechselwirkung biologischer und sozialer Faktoren (d. h. von Umgebungseinflüssen), die Edelman (1992, S. 126ff.) als primäres und sekundäres Repertoire bei der Ausbildung des neuronalen Netzwerkes beschreibt. Auch Antonio Damasio und Gerhard Roth (in diesem Band) teilen dieses Verständnis der Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionsweise im Spannungsfeld zwischen Biologie und genetischer Anlage einerseits und frühen Umweltund Beziehungserfahrungen andererseits. Die Dialektik zwischen den in den Körper eingeschriebenen frühen Interaktionsmustern und den durch Sprache vermittelten diskursiven Ansprüchen der sozialen Umgebung und der Kultur haben einige Autoren dieser Publikation im Auge, wenn sie sowohl nach biologischen als auch gesellschaftlichen Ursachen von Bindung, Trauma und sozialer Gewalt suchen.

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■ Offene wissenschaftstheoretische und methodische Fragen Im Gegensatz zu Lorenzers Zeiten am SFI scheint es heute unbestritten, dass der Austausch zwischen der Psychoanalyse, den Sozial- und den Neurowissenschaften für alle Beteiligten viel versprechend ist, wie etwa vom Nobelpreisträger Eric Kandel (1998) postuliert wird.4 Die Neurowissenschaften verfügen inzwischen über objektivierende und exakte Methoden zur Untersuchung von neurobiologischen Prozessen im lebenden Gehirn, während die Psychoanalyse aufgrund ihrer reichen Erfahrung mit Patienten 4 Durch dieses veränderte Interesse an diesem Dialog erfuhren sowohl die experimentellen Studien, die während mehr als zehn Jahren im Schlaf- und Traumlabor an der Grundlagenabteilung des SFI vor allem von Wolfgang Leuschner, Stephan Hau und Tamara Fischmann durchgeführt wurden, als auch die interdisziplinären Studien, die ich zusammen mit dem Experten in Modellbildungen, dem Professor für Cognitive Science an der Universität Zürich, Rolf Pfeifer, zu Traum, Gedächtnis und Erinnern vorgelegt habe, eine vermehrte nationale und internationale Beachtung. Daher wurden wir von der Society for Neuropsychoanalysis dazu ermuntert, am SFI eine Associated Research Unit zu eröffnen in Kooperation mit entsprechenden Forschungszentren am Anna Freud Center in London und in Cape Town (Mark Solms), in Michigan (Howard Shevrin) und in Stockholm (Irene Matthis). Durch dieses internationale Forschungsnetzwerk und die offizielle Eröffnung der Research Unit an der erwähnten Tagung rückten wir einen seit Jahrzehnten bestehenden Dialog mit den Neurowissenschaften, der am SFI so quasi im Stillen aufgebaut und gepflegt wurde, ins Licht der Öffentlichkeit. Die Society for Neuropsychoanalysis wurde Ende der Neunzigerjahre gegründet. Die erste gleichnamige Zeitschrift, als ihr offizielles Publikationsorgan, erschien 1999. In ihrem Board sind namhafte Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker versammelt, darunter auch Antonio Damasio. Doch was steckt wirklich hinter der etwas provokativen und sicher auch missverständlichen Bezeichnung »Neuropsychoanalysis«? Es ist ein Versuch, an die oben erwähnte freudsche Tradition anzuknüpfen und die Psychoanalyse – als spezifische, klinische Wissenschaft des individuellen und kollektiven Unbewussten – an interdisziplinären Studien neurowissenschaftlicher Fragestellungen zu beteiligen, etwa zum Trauma, Traum, Gedächtnis, Affekt, zur normalen und abweichenden neuronalen und psychischen Entwicklung sowie zu damit verbundenen, immer neu auftauchenden wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Reflexionen des altbekannten Leib-Seele-Problems.

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differenzierte Erklärungsansätze entwickelt hat, um die intensiven, oft jahrelangen Beobachtungen mit einzelnen Patienten in der psychoanalytischen Situation zu konzeptualisieren, Erklärungsansätze, die eine andere Perspektive auf seelische Prozesse werfen als neurobiologische Modelle. Beide Perspektiven können sich ergänzen und gegenseitig befruchten. Gerade im Bereich der Bindungsund Traumaforschung findet zurzeit ein interessanter Austausch zwischen neurobiologischen und psychoanalytischen Studien statt (vgl. dazu u. a. Bohleber u. Drews 2001; Sachsse et al. 1997; Leuzinger-Bohleber u. Zwiebel 2003). Dennoch scheint wichtig zu betonen, dass dieser Dialog kein Anlass zu Euphorie bietet, worauf übrigens auch das eben publizierte, viel beachtete Manifest von renommierten Hirnforschern (vgl. Elger et al. 2004) in der Zeitschrift »Gehirn und Geist« verweist. Einer der Hauptinitiatoren des Manifests, Gerhard Roth, ist mit einem Beitrag in diesem Band vertreten. An der Tagung konnten wir mit ihm unsere Vermutung diskutieren, dass die Bezeichnung »Manifest« parallel zu dieser Mitteilung eine zweite, latente Botschaft vermitteln könnte, nämlich dass die Neurowissenschaften trotz aller deklarierten Bescheidenheit in Wirklichkeit – mit einem Manifest – eine Revolution beziehungsweise ein neues Zeitalter des »homme neuronal« (des neuronalen Menschen) in unserer Gesellschaft einläuten und damit implizit den Anspruch einer neuen Leit- und Metawissenschaft erheben. Dagegen stellt der Dialog der Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften, wie wir schon 1992–1998 in einem interdisziplinären Kolloquium zwischen 20 Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern (gefördert durch die Köhler Stiftung GmbH, Darmstadt) zum Teil schmerzlich erfahren mussten, die Beteiligten vor hohe persönliche und fachliche Anforderungen (vgl. dazu Koukkou et al. 1998; Leuzinger-Bohleber et al. 1998). Beim genauen Hinsehen sprechen wir oft nicht die gleiche Sprache, verwenden unterschiedliche Konzepte trotz analoger Begriffe, fühlen uns divergierenden wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Traditionen verbunden und brauchen einen langen Atem, ja viel Toleranz, um wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen und dadurch unsere bisherigen Denkweisen in Frage zu stellen, was eine Voraussetzung darstellt, um wirklich zu einer Vertiefung der

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disziplinären Erkenntnisse vorzustoßen. Zudem führt der Vergleich der Modelle, die in den beiden Disziplinen aufgrund unterschiedlicher Forschungsmethoden und Daten entwickelt wurden, zu anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen und -methodischen Problemstellungen, denken wir hier nur an die viel diskutierte Gefahr des eliminativen Reduktionismus psychischer Prozesse auf neurobiologische Vorgänge oder an die Folgen einer unreflektierten Übertragung von Konzepten, Methoden und Interpretationen von einer wissenschaftlichen Disziplin auf die andere (vgl. dazu Brothers 2002; Hagner 2004; Hampe 2003 und in diesem Band; Hau 2004; Leuschner in diesem Band; Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer 2001).5 Für unsere Forschungseinheit am SFI ist es daher ein großes Privileg, diese anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Fragen in Kooperation mit dem Forschungszentrum von Michael Hampe an der ETH Zürich weiter zu vertiefen (vgl. dazu seinen Beitrag in diesem Band). In dieser Einführung soll nur ein Aspekt dieses Diskurses bezugnehmend auf eine neuere Arbeit seines Kollegen, des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner (1996), herausgegriffen werden. Hagner untersucht detailliert und überzeugend, wie sehr die Visualisierung von Prozessen, die bisher im Verborgenen unseres Körpers, im Gehirn abliefen, unser Denken und Fühlen, aber auch Wissenschaft und Kultur ganz allgemein, unbemerkt beeinflussen. Die neuen bildgebenden Verfahren können die Erwartungen wecken, verborgene Schichten psychischer Prozesse »objektiv zu visualisieren«. Verborgene Phantasien und Konflikte werden »sichtbar gemacht«, und zwar scheinbar ohne »Verfälschung« durch den Betroffenen. Hagner vergleicht diese Visualisierungsmöglichkeiten mit dem 5 Daher setzt ein produktiver Austausch mit den Neurowissenschaften auf der psychoanalytischen Seite so genannte interdisziplinäre psychoanalytische Konzeptforschung voraus, die zurzeit in dem Research Subcommittee for Conceptual Research der International Psychoanalytical Association weiterentwickelt wird. Einige Mitglieder des Research Committees for Conceptual Research, Folkert Beenen aus Amsterdam, Ricardo Bernardi aus Montevideo, Jorge Canestri aus Rom, Sverre Varvin aus Oslo sowie Anna Ursula Dreher und Ilse Grubrich-Simitis aus Frankfurt, haben das Programm der internationalen Tagung aktiv mitgestaltet.

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Versuch der Psychoanalyse, Unbewusstes bewusst (»sichtbar«) zu machen. Die Psychoanalyse versucht bekanntlich, unbewusste seelische Prozesse in Träumen, Fehlleistungen und Fehlhandlungen sowie psychopathologischen Symptomen zu entdecken, indem sie – zusammen mit dem Analysanden – seine Assoziationen verfolgt und sich mit ihm gemeinsam versteckten Bedeutungen annähert. Dies braucht Zeit, Sorgfalt und den Mut, auch Unbequemem, Kränkendem und Tabuisiertem ins Auge zu sehen.6 Das alles steht, so Hagner, im Gegensatz zu den neuen Visualisierungsmöglichkeiten der Neurowissenschaften. Mit den neuen bildgebenden Verfahren bestehe ebenfalls die Aussicht, ein geistiges diagnostisches oder evaluierendes Profil zu erstellen. So könne man zum Beispiel differenziert ungeordnetes Denken von mathematischen Problemlösungen, die Erinnerungen an die ersten Kindheitserlebnisse, an den letzten Krach mit dem Lebenspartner oder an die Konflikte mit den Eltern, von den erotischen Träumen an die aufregendste Liebesbeziehung unterscheiden. »Im 20. Jahrhundert sind solche Aushebungen bekanntlich zuvörderst von der Psychoanalyse gemacht worden. Was sie an biographischen Details, Intimitäten und verborgenen Schichten hervorholt, wird vermutlich keine Durchleuchtung des Gehirns jemals erreichen« (Hagner 1996, S. 278). Entscheidend sei jedoch ein anderer Punkt. Die Psychoanalyse habe zweifelsohne vieles ausgelöst und bewirkt, doch eine Standardmethode für eine Bio-Psycho-Politik sei sie nicht geworden. Das habe vermutlich weniger damit zu tun, dass die Annahmen der Psychoanalyse abwegig wären oder dass das Unbewusste und die Begierden kein willkommener Gegenstand für ein solches social engineering wären. Vielmehr erscheine die Psychoanalyse als 6 Hagner (1996, S. 263) geht dabei von folgenden wissenschaftshistorischen Fragen aus: »Wenn Registriergeräte im 19. Jahrhundert körperliche Organsysteme neu definiert haben, sind die Visualisierungsapparaturen des späten 20. Jahrhunderts dann eher im Sinne einer Kontinuität von verschiedenen Varianten von Einschreibesystemen aufzufassen, oder zeichnet sich eine neue Psycho-Bio-Politik ab, die auf technologischem Wege festlegt, was Leben, Mensch oder Geist sei? Gewiss dürfte es niemanden geben, der die medizinische und kulturelle Autorität der Bilder völlig bestreitet; aber worin besteht ihr Potential für den Diskurs über den Menschen?«

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zu kompliziert, zu unpraktikabel, langwierig und sperrig. Doch gerade diese Widerspenstigkeit – Marcuse (1965) sprach von ihrer »Antiquiertheit« – schützt sie vor einer schnellen und in der Tendenz gefährlichen Vermarktung von Einsichten in seelische Prozesse einzelner Menschen, die durch die psychoanalytische Forschungsmethode gewonnen wurden. Nach Hagner könnte die Verschiebung von der Psychoanalyse hin zu den Hirnbildern dagegen dazu führen, dass die Vielfalt und Relevanz des geistigen Lebens hauptsächlich an seiner Visualisierung gemessen werde, die mit einer einheitlichen, »objektiven« und schnell zu erzielende Sicht verschiedener Individuen verbunden werden kann. Der Preis für eine solche Entwicklung bestehe unter anderem darin, dass »das Erforschen der tieferen Zusammenhänge, das Erklären, Aufzählen, Erzählen, Berechnen, kurz das historische, wissenschaftliche, textuell lineare Denken von einer neuen, einbildenden, ›oberflächlichen‹ Denkart verdrängt wird […] In Bezug auf die Wissenschaften vom Menschen bedeutet dies, dass die Tiefenbohrungen des alten Denkens, für welches die Psychoanalyse […] stellvertretend angesehen werden kann, durch den oberflächlichen Einblick der Hirnbilder abgelöst werden. Damit gerät das Verständnis des Menschen zur Ausstülpung materieller Repräsentationsformen. Es geht nicht darum, dass das Subjekt abgeschafft wird, sondern dass eine andere Anthropologie in Anschlag gebracht wird, die tatsächlich nur noch – im doppelten Wortsinn – Oberflächenstruktur hervorbringt« (Hagner 1996, S. 278f.). Die weniger komplexen Aspekte der Persönlichkeit, die durch bildgebende Verfahren »objektiv und rasch« abgebildet und diagnostiziert werden können, seien brauchbarer für eine Bio-Politik »die ganz im Sinne Foucaults diszipliniert, normiert, überwacht und kontrolliert und damit den Rahmen für Selbsteinschätzungen und Aktivitätsentfaltungen festlegt« (Hagner 1996, S. 278f.). Diese Überlegungen und Prognosen stimmen viele der in diesem Band vertretenen Autoren nachdenklich. Für Mark Solms und seine Mitarbeiter ist Neuropsychoanalysis auch ein Versuch, das »Tiefendenken« der Psychoanalyse einer drohenden Oberflächeninterpretation visualisierter Prozesse, die seelisches Erleben im Gehirn indizieren, entgegenzustellen und dadurch zu einem verantwortlichen, kritischen Dialog zwischen den Disziplinen bei-

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zutragen, der einen behutsamen Umgang mit psychischen Prozessen einschließt. Weder Psychoanalytiker noch Erziehungs- und Sozialwissenschaftler können, nach Auffassung der Autoren dieses Bandes, die Verantwortung für die Untersuchung psychischer Vorgänge und deren Bedeutung für gesellschaftliche Prozesse an die Neurowissenschaften allein delegieren, obschon ihr von manchen gesellschaftlichen Gruppe, wie schon kurz erwähnt, die Funktion einer neuen »Leit- oder Metawissenschaften« zugedacht wird. Bindung, Trauma und soziale Gewalt sind zu komplexe und für unsere Gesellschaft zu relevante Themen, als dass wir ihre Untersuchung einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin überlassen können. Der begonnene interdisziplinäre Dialog, der in diesem Band dokumentiert wird, zeugt von einem gemeinsamen, alternativen Versuch in dieser Richtung.

■ Fachliche Bereicherung und gegenseitige Anerkennung: eine neue Chance der interdisziplinären Zusammenarbeit? Psychoanalyse, Erziehungs-, Sozial- und Neurowissenschaften haben inzwischen ein reiches Wissen zu Determinanten und Folgen von Bindung, Trauma und sozialer Gewalt gesammelt. Dieses Wissen gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen, in ihrer Spezifität und Besonderheit zu würdigen, als mögliche Ergänzung des Eigenen zu sehen, aber auch gleichzeitig kritisch und selbstkritisch gemeinsam zu diskutieren, erscheint als eine Chance der disziplinären Horizonterweiterung und des vertieften Verstehens in Sinne der eben erwähnten »Tiefenbohrung« bezogen auf die hier diskutierte komplexe und gesellschaftlich relevante Thematik. Diese These wird in diesem Band nicht nur theoretisch, sondern auch exemplarisch anhand der konkreten Zusammenarbeit im Rahmen der erwähnten, noch laufenden Frankfurter Präventionsstudie illustriert. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologe und Mitleiter der Studie, zeigt in seinem Beitrag in diesem Band, dass sein Verständnis der Funktionsweise des Gehirns viele Parallelen aufweist, sowohl zu den erwähnten Konzepten der Embodied

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Cognitive Science als auch zur Psychoanalyse. Hier nochmals kurz zusammengefasst: Als gemeinsame Auffassung wird postuliert, dass die Computermetapher der »klassischen Cognitive Science« oder manche Verkürzungen des klassischen psychoanalytischen Repräsentanzenmodells sowie immer noch verbreiteter Gedächtnismodelle in der akademischen Psychologie falsch sind: Das Gehirn funktioniert nicht wie eine Maschine, deren Defekte sinnvoll durch »Tricks« oder durch ein Medikament funktional auszugleichen sind. Vielmehr ist das Gehirn ein lebendiges, biologisches System, das sich nur in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt weiterentwickelt und, wie Gerald D. Edelman (1989, 1992, 2004) oder auch Antonio R. Damasio (1994, 1999, 2003) und viele andere Forschergruppen in ihren beeindruckenden Arbeiten gezeigt haben (vgl. dazu auch den Beitrag von Lück, Strüber u. Roth in diesem Band). Das Gehirn ist ohne interagierende, sensomotorisch- affektive Koordinationen nicht dazu in der Lage ist, Kategorien zu entwickeln, das heißt sich selbst und die Umwelt inmitten aller Veränderungen zu verstehen. In diesem Sinne gibt es auch kein vom Körper losgelöstes Denken und Fühlen: Alle seelischen und geistigen Prozesse sind »embodied«, das heißt an Informationsaufnahme und -verarbeitungsprozesse des gesamten Körpers gebunden (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer 2002). Diese Konzeptualisierungen führen einmal zu spannenden theoretischen Debatten. Micha Brumlik wird in seiner Einführung zum Beitrag von Antonio Damasio einige solche Diskurse erwähnen. So postuliert Damasio unter anderem, dass der klassische Descartsche Dualismus: hier Körper – da Seele in dem eben skizzierten Sinne überholt ist: Körper und Seele bilden eine untrennbare Einheit. Das Selbst konstituiert sich »embodied« in ständigen sensomotorisch-affektiven Austausch mit seiner Umgebung. Diese Konzeptualisierungen sind aber nicht nur theoretisch relevant, sondern auch für den praktischen Umgang mit Kindern als Eltern, Erzieher und Therapeuten entscheidend. Dazu lediglich ein Beispiel: Die Forschungsgruppe von Hüther, Darwis, Moll et al. konnte zeigen, dass die Ausreifung der dopaminergen Projektionen im sich entwickelnden Gehirn bis zur Pubertät nicht abgeschlossen sind (Moll et al. 2000), das heißt durch psychosoziale, pädagogische und therapeutische Einwirkungen bis zu dieser Zeit

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relativ gut beeinflussbar bleiben. Mit anderen Worten: Es können fehlgelaufene Entwicklungen – neurobiologisch und psychisch – durch geeignete, adäquatere Beziehungs- und Umwelterfahrungen noch weitgehend korrigiert oder wenigstens abgemildert werden. Diese Chance wird durch eine medikamentöse Behandlung, die einen postulierten Defekt pharmakologisch auszugleichen versucht, weitgehend vergeben. Für Jossi kam eine medikamentöse Behandlung allerdings aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Doch half ihm eine intensive psychosoziale und therapeutische Betreuung, um die erlittenen Traumatisierungen zu mildern und seinen seelischen Zustand zu verändern. Er zeichnet sich selbst nach vier Jahren wie folgt:

Abbildung 2: Jossi – Selbstbild nach der Therapie (Cohen 2004)

Er externalisiert in seiner Zeichnung sein unbewusstes Selbstbild, das uns nun deutlich konturierter, angstfreier, gebundener und weniger gewalttätig entgegenblickt. – Auch in dieser Visualisierung wird, wie bei Hirnbildern, bisher Unsichtbares sichtbar gemacht (vgl. dazu auch Hau 2004).

Abbildung 3: fMRI-Bilder – einige Beispiele

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So faszinierend und wissenschaftlich aufschlussreich solche fMRIBilder ins lebende Gehirn auch sein mögen: Trotz aller Möglichkeit zur schnellen, »objektiven« Diagnostik prozesshafter Vorgänge im Gehirn sollten wir uns kreative Bilder wie die Selbstbildnisse von Jossi als Fenster zum seelischen Zustand unserer Kinder erhalten, die gestalthaft psychische Zustände und deren Veränderungen ausdrücken können. Allerdings scheinen uns solche Bilder weit mehr als die Produkte bildgebender Verfahren direkt auf unsere individuelle und soziale Verantwortung zu verweisen. Sie enthalten wahrscheinlich vor allem die unbequeme Wahrheit, dass Entwicklungen und seelische Heilungen (oder wenigstens Milderungen) von Traumata bei der uns anvertrauten nächsten Generation auch weiterhin Zeit, Empathie, verstehende Zuwendung und professionelles Handeln – im Sinne von »Tiefenbohrungen« – einfordern, wenn wir individuelle und soziale Gewalt nicht verleugnen, sondern ihr gemeinsam entgegenwirken wollen. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, dass sie unser Experiment der interdisziplinären Brückenbildung mit uns gewagt haben, und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom SFI, vor allem Renate Stebahne, Marion Ebert-Saleh, Herbert Bareuther und Dietmar Wetzel, aber auch allen andern, ganz herzlich für die vielen Stunden, die sie der Tagung und dieser Publikation gewidmet haben. Zudem wäre ohne die finanzielle Unterstützung durch die Hertie Stiftung und des Research Committees der International Psychoanalytical Association (IPA) die Einladung der internationalen Gäste nicht möglich gewesen. Der Universität Frankfurt danken wir, dass wir die beeindruckenden Räume des Campus West für die Tagung benutzen konnten.

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■ Der neuronale Mensch

■ Micha Brumlik

Einführung in das Denken von Antonio R. Damasio Dass Gefühle sehr wesentlich an den menschlichen Leib geknüpft sind und sich in dessen Emotionen ausdrücken, war in der Geschichte sowohl der Philosophie als auch der Anthropologie eigentlich nie umstritten. Umstritten und bis heute ungeklärt aber ist die Frage, welcher Art das menschliche Selbstbewusstsein, genauer der menschliche Geist ist und auf welche Weise dieser Geist mit seinem Körper verbunden ist. Die neuzeitliche Philosophie begann mit einer Unabhängigkeitserklärung des Geistes gegenüber dem Körper; in René Descartes allen Zweifel widerlegen sollenden Satz »Cogito ergo sum« schien sich das – noch sprachunabhängig verstandene – menschliche Denken seiner selbst nicht nur versichern zu wollen, sondern auch zu können. Aber worum – diese Frage brach bald auf – handelt es sich bei dieser vermeintlichen unbezweifelbaren Selbstgenügsamkeit des Denkens – um ein Wissen oder um ein Gefühl? Ohne ausführlich auf die auf Descartes folgende philosophische Diskussion einzugehen zu können, sei kurz angemerkt, dass eine genauere Betrachtung der Selbstbewusstseinstheorien etwa des Deutschen Idealismus schließlich ergeben hat, dass die Art und Weise, wie menschliche Individuen auf sich selbst Bezug nehmen, am besten als eine Art des »Mit-sichselbst-Vertrautseins« – so hat Dieter Henrich es ausgedrückt – beschrieben werden kann, also als eine Einstellung, bei der nicht mehr eindeutig zu unterscheiden ist, ob sie Wissen oder Gefühl ist.

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Der neuronale Mensch

Etwas genau zu kennen, heißt noch lange nicht, mit dem Gegenstand oder der Person, auf die sich diese Kenntnis bezieht, vertraut zu sein – im Gegenteil: Genaue Kenntnis kann durchaus mit einem tiefen Gefühl des Misstrauens verbunden sein, während umgekehrt die Unterstellung von Verlässlichkeit – etwa einer Maschine – keineswegs mit einer genauen Kenntnis ihres Funktionierens verbunden sein muss. Antonio R. Damasio, M.D. Van Allen Professor und Vorstand der Neurologischen Abteilung der University of Iowa, hat als Mediziner an der Universität Lissabon promoviert und ist Träger vieler wissenschaftlicher Preise sowie Herausgeber und Mitherausgeber einer Reihe bedeutender wissenschaftlicher Zeitschriften. Seine wissenschaftliche Leidenschaft und seine zu Bestsellern gewordenen Bücher befassen sich in immer neuen Anläufen mit dem Verhältnis von Bewusstsein, Sprache und Leib – anders als die Philosophie jedoch, die diesen Fragen seit ihren Anfängen nachgeht, entwickelt Damasio seine bahnbrechenden Einsichten jedoch nicht durch Spekulation, sondern durch präzise empirische Erforschung neurologischer, ja neuropathischer Phänomene. In Deutschland sind es gegenwärtig drei Bücher Damasios, die die Debatte bestimmen: »Descartes’ Irrtum«, 1994; »Ich fühle, also bin ich«, 2000 und zuletzt »Der Spinoza-Effekt« aus dem Jahr 2003. Es ist mehr als nur eine Laune des Autors, dass sich Damasios Arbeiten an den bedeutenden, gern als rationalistisch bezeichneten Philosophen des 17. Jahrhunderts, an Descartes und Spinoza, orientieren – waren sie es doch, die die Problemstellung des Verhältnisses von Körper und Geist bis heute bestimmen. Gegen Descartes erwägt Damasio die Möglichkeit, dass jener Teil unseres Geistes, den wir als »Selbst« bestimmen, »biologisch gesprochen in einer Reihe von unbewussten neuronalen Mustern wurzelt, die wir den Körper im engeren Sinne nennen«; mit Descartes Zeitgenossen Spinoza glaubt er, dass das Bewusstsein im Sinne des Selbsterhaltungstriebs steht, im Dienste eines Organismus, »dessen Reaktionen von der geistigen Sorge um das eigene Leben bestimmt sind«. Der Bezug auf Spinoza, der einem ontologischen Monismus das Wort redete, bei dem die Frage von Gott oder Natur, von Geist oder Materie insofern beantwortet wurde, als die Natürlichkeit des Absoluten oder auch des Geistes zu kei-

M. Brumlik · Einführung in das Denken von Antonio R. Damasio

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nen Abstrichen an seiner Göttlichkeit führen würde, eröffnet Damasio den Weg zu einer auch politisch und sozial verantwortlichen Lehre vom Menschen. Dabei nimmt diese Theorie Spinozas die später von Darwin erkannte Neigung biologischer Individuen, sich selbst zu erhalten und für ihre Nachkommenschaft Sorge zu tragen, vorweg. »Keine Tugend« so heißt es in Spinozas »Ethik«, Viertes Buch, Lehrsatz 22 »kann vor dieser Tugend des Strebens sich selbst zu erhalten, verstanden werden.« Daran wird deutlich, dass bereits die klassische europäische Philosophie das, was wir heute in Bezug auf das menschliche Bewusstsein als Naturalismus bezeichnen und evolutionstheoretisch zu erklären suchen, im Ansatz enthalten hat. Im Unterschied zu einem allgemeinen Trend der gegenwärtigen Gehirnforschung, zumal in ihrer radikal konstruktivistischen Lesart, betont Damasio jedoch – mit dem, was in Deutschland als philosophische Anthropologie bekannt ist und das wir vor allem mit den Namen von Helmut Plessner und Arnold Gehlen verbinden (was Damasio aber nicht erwähnt) –, dass dieses Gehirn nicht unabhängig von jenem Organismus, zu dem es gehört, nämlich dem menschlichen Leib, verstanden werden kann. Das von nicht wenigen zeitgenössischen Philosophen immer wieder angestellte Gedankenexperiment eines einsamen Hirns in der Nährlösung, das sogar noch Produkten der populären Kultur, vor allem dem Film »Matrix« die Story gegeben hat, wird hier – weil evolutionsbiologisch gesehen sinnlos – erst gar nicht widerlegt. Bei alledem gelingt es Damasio nicht nur, die lange als metaphysisch verschrienen Fragestellungen der Bewusstseinsphilosophie – nach dem »Wesen des Geistes« in der Sache zu rehabilitieren und empirisch einer Lösung zuzuführen, sondern auch die Gültigkeit und Stimmigkeit der noch stärker mit dem Rubrum der Unwissenschaftlichkeit belegte Psychoanalyse Sigmund Freuds einzulösen. Es war Sigmund Freud, der sich in seinem 1895 verfassten »Entwurf einer Psychologie« immerhin vornahm, »eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d. h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile […] [sie] damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen«. Was soll hier nach Freuds Meinung »widerspruchsfrei« gemacht

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werden? Nun – dabei kann es sich nur um die Theorie psychischer Vorgänge handeln, nicht um deren Gegenstand, das menschliche Selbstverhältnis, das unwiderruflich, allem Streben nach Harmonie zum Trotz – das war Freud von allem Anfang an klar – widersprüchlich bleiben wird. Aber – und auch das kann man von Damasio, aber nicht nur von ihm lernen – es ist weniger der Geist als die Gefühle, etwa Wut und Hass, die diese Widersprüchlichkeit ausdrücken. Auch in dieser Hinsicht forscht und argumentiert Damasio parallel zur aktuellen philosophischen Debatte. In ihrem im Jahr 2001 erschienen Buch »Upheavals of thought. The intelleigence of emotions« hat Martha Nussbaum eine neuartige Theorie der Gefühle und – auf dieser Basis – eine Theorie der Liebe als demokratischer Tugend vorgelegt. Nußbaum, die ihre systematischen Einsichten der antiken Tradition entnimmt, bezeichnet ihren eigenen Ansatz als »neo-stoisch«. Die Stoiker, bekanntlich die am meisten verbreitete Schule der nachplatonischen Philosophie, vertraten demnach zwei wesentliche Positionen. Zum einen waren sie davon überzeugt, dass Gefühle nicht bloße, blinde Affektäußerungen sind, sondern dass Menschen in ihren Gefühlen stets und notwendigerweise eine Bewertung von Objekten ihrer Umgebung abgeben – wobei es ich um Dinge, Handlungszusammenhänge, Personen oder auch soziale Prozesse oder Strukturen handeln kann. Indem Gefühle immer auch einen Urteilsaspekt beinhalten, sind sie begründbar oder verwerflich, auf jeden Fall einer rationalen Analyse ihres Geltungsanspruchs fähig. Zum andern aber waren die meisten – keineswegs alle – Stoiker der Auffassung, dass Gefühle, die bewertend auf Objekte reagieren, die innere Freiheit des Subjekts beeinträchtigen. Wahrhaft frei wäre demnach nur, wer sich von der Bedeutung aller möglichen äußeren Objekte und damit von den meisten Gefühlen weitgehend befreit hat und seine Freiheit im Sinne einer weitgehenden Autarkie genießen kann. Diesen Teil der stoischen Lehre lehnt Nußbaum aus grundsätzlichen anthropologischen Erwägungen heraus ab: Überzeugt von fundamentalen, durch das Faktum der Geburtlichkeit, der Kindlichkeit und zwischenmenschlichen Abhängigkeit geprägten Existenzweise der menschlichen Gattung, kann sie zu keinem anderen Schluss kommen, als dass das stoische Ideal sinnlos, da unter kei-

M. Brumlik · Einführung in das Denken von Antonio R. Damasio

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nen Umständen zu verwirklichen ist. Vor diesem Hintergrund wird der Sinn der Gefühle umso deutlicher: Während sich im reinen, theoretischen Denken der erwachsen gewordene Geist selbst zu genießen vermeint, erweisen sich alle Gefühle als in der Kindheit begründete Reaktionen oder Bestrebungen im Hinblick auf Personen oder Objekte, die der Kontrolle unseres Denkens nicht unterliegen. Indem Menschen – in einer ungeheueren Mannigfaltigkeit von Reaktionsweisen – verschiedenste Gefühle wie Liebe, Hass, Scham, Schuld, Peinlichkeit, Vergnügtheit, Gelassenheit, Melancholie, Heiterkeit, Stolz leben – geben sie damit einander zu verstehen, in welcher spezifischen Position sie sich jeweils zu bestimmten Objekten sehen und wie sie diese Objekte selbst und ihre Beziehung zu ihnen bewerten. Gefühle fungieren – anders als das analytische Denken – vorgängig sowie spontan und erfüllen damit eine unersetzbare, überlebensnotwendige Funktion: Sie sparen Zeit, ermöglichen schnelles und ökonomisches Reagieren und sind damit im Grundsatz – keineswegs in jedem Einzelfall – rational. Wenn jede Handlung als Reaktion auf eine noch nicht erfahrene Herausforderung erst umständlich begründet werden müsste, wäre das Überleben von Tier und Mensch in vielen Fällen gefährdet. Damit ist der stoische Einwand, dass fehlgeleitete Gefühle, Leidenschaften, eine oftmals freiheitsgefährdende Rolle spielen, noch keineswegs vom Tisch, sondern lediglich – gegen die klassischen Stoiker, die an die Beherrschung aller Gefühle glaubten – das theoretische und vor allem praktische Dilemma umso schärfer gekennzeichnet. Es besteht darin, dass fehlgeleitete Emotionen allemal zu persönlichen und politischen Katastrophen führen können, Menschen aber ohne Emotionen noch nicht einmal anfangen könnten zu handeln und dass es letztlich keinen von allem Emotionen restlos abgeschnittenen Verstand gibt, der sie kontrollieren könnte. Das hat allemal politische Folgen. In seinem letzten, anfangs erwähnten Buch, es trägt in der englischen Originalfassung den bezeichnenden Titel »Looking für Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain« bekennt sich Damasio emphatisch, wenn auch mit deutlichem Unbehagen, zu dem von ihm vor allem aus systematischen Gründen geschätzten Denker der politischen Freiheit, Spinoza, und steht damit angesichts der heutigen Weltprobleme für die Tugenden kämpferischen Muts

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Der neuronale Mensch

und spiritueller Aufgeschlossenheit ein. Dazu ist nach seiner Auffassung »Hoffnung« – ebenfalls eine klassische Tugend – unerlässlich. Spinoza aber hält die Hoffnung nicht so hoch, wie – so Damasio – wir gewöhnlichen Sterblichen das tun sollten. Spinoza selbst definierte diese eigentümliche Tugend, von der man kaum glauben mag, dass sie eingeübt werden kann, folgendermaßen: »Hoffnung ist eine unbeständige Freude, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über dessen Ausgang wir in gewisser Hinsicht zweifelhaft sind.« Am Ende – aber damit wären wir wieder bei einem Kapitel evolutionärer Psychologie – ist es die Möglichkeit der Freiheit, die Erfahrung, sich nicht instinktgesteuert verhalten zu müssen, sondern sich abwägend entscheidend zu können, die jene Gefühle freudiger oder verzweifelter Selbstbewusstheit beziehungsweise jenes Selbstbewusstsein in Freude und Verzweiflung entstehen lässt. Eine Neurophysiologie der Gefühle, das zeigt Damasio überzeugend, muss einer begründeten Theorie menschlicher Freiheit und Verantwortung jedenfalls nicht notwendig entgegenstehen.

■ Antonio R. Damasio

Das Empfinden von Gefühlen und das Selbst1

Es gibt unterschiedliche Perspektiven auf das Selbst, verschiedene mögliche Definitionen und mit jeder neuen Perspektive und Definition geht natürlich eine neue Erklärung einher. Dennoch kann wahrscheinlich so etwas wie eine Essenz des Selbst hinter der Vielzahl von Sichtweisen entdeckt werden. In diesem Artikel schlage ich vor, dass eine neurobiologische Darstellung dazu beitragen kann, eine solche Essenz ausfindig zu machen. Im Titel dieses Artikels sind die Begriffe »Gefühle« und »Selbst« enthalten, weil ich der Ansicht bin, dass die neuronale Basis von Gefühlen sowie des Selbst einen gemeinsamen neurobiologischen Ursprung besitzt. 1 Wenn wir das Wort Selbst verwenden, denken wir an etwas, das Individualität erkennen lässt. Das Wort Selbst bezeichnet häufig ein Individuum – Körper oder Geist, oder beide als Einheit. Darüber hinaus denken wir an etwas, das sowohl Stabilität und Kontinuität über die Zeit hinweg als auch Einzigartigkeit bedeutet. Tatsächlich wird Einzigartigkeit so stark mit der Vorstellung des Selbst verknüpft, dass der Befund eines multiplen Selbst als pathologisch betrachtet wird. Die Vorstellung vom Selbst ist ein Synonym für das Menschsein und ungeachtet der begrifflichen Verknüpfung bezieht sich das Selbst immer auf etwas Bestimmtes, beispielsweise auf einen Organismus, auf sein Verhalten oder sein Bewusstsein. Wenn man nach dem Selbst sucht, muss man auch nach dem Bewusstsein fragen. Wenn ich Ihnen sage, dass ich Kopfschmerzen habe, muss ich unterhalb der Ebene der Sprache und dem Perso1 Unter dem Titel »Feelings of emotion and the self« zuerst erschienen in Annals of the New York Academy of Sciences 1001, 2003, S. 253-261.

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nalpronomen »Ich« auf der Ebene des Selbst in meinem Bewusstsein suchen. Wenn ich mir der Kopfschmerzen nicht bewusst wäre, das heißt, wenn ich nicht über Denkvermögen, Bewusstsein und ein Selbst verfügte, hätte ich zwar die Kopfschmerzen immer noch, würde jedoch nicht wissen, dass ich es bin, der Kopfschmerzen hat. Das Selbst stattet uns mit einer subjektiven Perspektive aus. Das minimale Niveau des Selbst, welches für das Vorhandensein von Bewusstsein notwendig ist, ist als mentale Repräsentation festgelegt. Dies bedeutet übrigens nicht, dass das Selbst eine Art mentaler Homunkulus darstellt. Es gibt gute Gründe, das Konzept des Homunkulus abzulehnen. So wurde klar gezeigt, dass wir auf der Suche nach dem Selbst nicht nach einem allwissenden Wesen forschen sollten, das für sich denkt und uns mit dem Wissen darüber ausstattet, wer wir sind. Wir sollten ebenfalls nicht nach irgendeinem speziellen Zentrum im Gehirn Ausschau halten, in dem das Selbst zu finden sein könnte. Einer ersten Annäherung zufolge handelt es sich beim Selbst um eine stabile Repräsentation individueller Kontinuität, die als mentale Referenz für den Organismus innerhalb des Bewusstseins dient. (Diese erste Annäherung entspricht meinem Konzept des Kernselbst. Zur Bedeutung des Konzepts des Selbst, das sich mit der Identität und der Persönlichkeit deckt, verweise ich auf das autobiografische Selbst oder das erweiterte Selbst. Das autobiografische Selbst basiert physiologisch auf dem einfacheren Kernselbst; die Diskussion des Konzepts sprengt jedoch den Rahmen dieser kurzen Darstellung. Vgl. Damasio [1999] zur Behandlung dieser verschiedenen Konzepte.)

■ Auf dem Weg zu einem neuronalen Korrelat des Selbst Wie im Allgemeinen beim Bewusstsein der Fall, denke ich, dass das Selbst ebenfalls auf einem neurobiologischen Prozess basiert. Ich bin zudem der Ansicht, dass der Schlüssel zum Selbst in der Repräsentation der Kontinuität des Organismus liegt. Wie ich anderweitig postuliert (Damasio 1999, 2003a) habe, wird die Repräsentation der organismischen Kontinuität höchstwahrscheinlich

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durch das neuronale System unterstützt, das für die Repräsentation unseres eigenen Körpers verantwortlich ist. An diesem Punkt sollten wir dies als Intuition betrachten. Es handelt sich jedoch um eine plausible Intuition, die wertvolle Hypothesen unterstützt und die nicht nur von mir vertreten wird. Es gibt eine altehrwürdige Tradition, das Selbst als mit der Repräsentation des Körpers verknüpft zu betrachten. Man stößt auf die Vorstellung in den Philosophien Spinozas, Nietzsches, William James’, Husserls, Heideggers und Merleau-Pontys, und man findet sie sogar bei den Hohepriestern der Neurowissenschaften, wie in den frühen Werken des Neurophysiologen Charles Sherrington. Diese Ansicht kann durch ein simples Experiment verdeutlicht werden, das der Leser selbst vornehmen kann, indem er den Blick nur für wenige Sekunden von diesem Buch auf eine Wand richtet und danach wieder zurück auf das Buch schaut. Die visuellen Repräsentationen der Buchseite, bei der der Leser anfing, wurden im visuellen Kortex registriert; als der Leser jedoch den Blick auf die Wand richtete, ließ die Repräsentation in exakt denselben Bereichen zugunsten der Repräsentation der Wand vollständig nach; danach wich sie wieder der Repräsentation der Buchseite. Während sich all diese Veränderungen ereigneten, wissen wir jedoch genau, dass etwas unverändert blieb: Die Repräsentationen des Körpers blieben innerhalb der für somatische Messungen relevanten Kortexbereiche fortwährend in Gang. Es gab keine Veränderung der Art von Inhalt, die in diesen Strukturen vorhanden ist. Dieses Ungleichgewicht deutet auf eine seltsame Situation hin. Einige unserer Sinne sind den Bewegungen des Körpers ausgeliefert. Die Bilder, die wir auf der Basis dieser Sinne hervorbringen, werden von dem bestimmt, was zufällig in unseren sensorischen Feldern, besonders den telerezeptiven Feldern, passiert. Andere Sinne sind jedoch sozusagen dazu verdammt, ständig exakt die gleichen Inhalte zu betrachten, das heißt den Organismus als Ganzes. Es ist diese kontinuierliche Repräsentation des Organismus, des Körpers, die ich, um es nur kurz zu erklären, als das Rückgrat des Selbst, wie es uns bekannt ist, betrachte. Es handelt sich um eine fortwährende, zusammengesetzte Repräsentation einer größeren Anzahl von körperlichen Aktivitäten, die in einer größeren Menge von Gehirnstrukturen – nicht weniger als einem Dutzend –

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auftauchen und auf Signalen basieren, die vom Körper an das Gehirn weitergeleitet werden – von diesen Signalen sind einige rein chemisch und andere neuronal, das heißt, sie sind neurochemisch. Diese Repräsentationen besitzen eine gewisse Eintönigkeit, eine Art von Stabilität, die im Kontrast zu der Vielfalt und Diskontinuität von externen sensorischen Repräsentationen steht. Der Inhalt bleibt derselbe, stabil und kontinuierlich, es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass auch die Repräsentationen des Organismus variieren. Doch diese Varianz bewegt sich innerhalb eines sehr engen Bereichs, was für das Überleben auch notwendig ist; falls die Varianz exzessiv ausfällt, stirbt man oder man wird krank. Die minimale Varianz tritt als Teil der konstanten Anpassung und Ausbalancierung auf, die für die Homöostase, also für das Leben selbst, gebraucht wird. Die Varianten bewegen sich innerhalb strikter Grenzen und stehen in starkem Kontrast zu der unendlichen Wechselhaftigkeit externer Sensationen beziehungsweise der Wechselhaftigkeit unseres Gedankenflusses. Die bisherigen Überlegungen stellen den Kontext für die Idee eines möglichen neuronalen Korrelats des Selbst dar. Sie reichen jedoch nicht aus. Wir müssen darüber hinaus verstehen, wie das somatosensorische System wirklich aussieht. Dies ist eine Aufgabe, die sich schon seit langem nicht richtig fassen lässt. Ein Grund, aus dem wir dieses System nicht vollständig verstehen, ist, dass wir das somatosensorische System bisher auf eine viel zu eng gefasste Weise betrachtet haben. Einige Wissenschaftler denken bei dem Konzept des Somatosensorischen lediglich an das muskuloskeletale System, bei anderen, zum Beispiel William James, beschwört das Konzept hauptsächlich das viszerale System herauf. Diese Ansichten sind komplett unvollständig. Wir können uns dem System nur annähern, wenn wir seine ganze Reichweite und Tiefe verstehen. Der erste Schritt zum erwünschten Verständnis stellt die Überwindung der Tendenz dar, die Anzahl unserer Sinne auf die traditionellen fünf zu reduzieren: Sehen, Hören, Berührung, Geschmack und Geruch. Durch eine solche Reduktion werden die Kinästhesie (der Sinn für Bewegung, der von der Propriozeption durch das muskuloskeletale System abgeleitet wird) genau wie der vestibuläre Sinn und – ebenso wichtig – die Sensibilität der inneren Organe sowie des inneren Milieus ignoriert. Wenn man sich

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an das 19. Jahrhundert erinnert, stößt man interessanterweise auf Denker wie Weber, die von einem Gemeingefühl als übergeordnetem, unseren Körper betreffenden Sinn sprachen – dieses Gemeingefühl beinhaltete auch Signale aus dem inneren Milieu – und gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf Sherrington, der von »Enterozeption« sprach, dem Sinn des materiellen »Ich« beziehungsweise des physischen Selbst. Seltsamerweise äußerte sich Sherrington in späteren Ausgaben seines berühmten Lehrbuchs nicht mehr in gleicher Weise. Die Enterozeption, die sehr stark den Prozess beschreibt, den ich als höchst entscheidend für die Bildung des Selbst betrachte, wurde fallen gelassen (vgl. Damasio 2003b und Craig 2002). Ich verstehe das, was die »Sinne« leisten müssen, anders. Wie bereits erwähnt gibt es natürlich exterozeptive Sinne: das Sehen, Riechen, Hören, Schmecken und der mechanische Kontakt; es existiert jedoch auch eine separate und sehr interessante Anordnung von enterozeptiven neuronalen Sinnesmodalitäten, welche die propriozeptiven und vestibulären Sinne ebenso beinhalten wie den viszeralen Sinn sowie auf das innere Milieu gerichtete Sinnesmodalitäten, zu der auch Schmerz und Temperaturempfindung gezählt werden können. Auch sollten wir nicht vergessen, dass der gesamte Organismus aus evolutionärer Perspektive vor der Entwicklung dieser neuronalen Sinne einem Chemosensor glich, dessen Fähigkeiten und Reste im Menschen und anderen höher entwickelten Lebewesen immer noch vorhanden sind. Dieses chemische Empfinden taucht in Form von Signalen auf, die mit »offenen« Arealen des Nervensystems Kontakt aufnehmen – Arealen ohne Blut-Hirn-Schranke, wie die Area postrema oder die subfornikalen Organe, wo chemische Moleküle direkt den Zustand des Nervengewebes beeinflussen können und unzählige Ereignisse innerhalb des zentralen Nervensystems produzieren. Es ist also wichtig, sich klarzumachen, dass Nervenfasern nicht unbedingt benötigt werden, um zu bemerken, dass es Veränderungen innerhalb des Körpers gibt. Diese Veränderungen können auch durch chemische Aktivitäten im Nervengewebe empfunden werden. Einhergehend mit diesem chemorezeptiven System existiert ein weiterer Hauptbestandteil des neuronalen Selbst, das C- und A-

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delta-Fasersystem, das aus Nervenendungen besteht, die frei zur Aktion bleiben und praktisch in jedem Winkel unseres Körpers, in jedem Typ von Gewebe, liegen. Sie zeigen sich auch in dem spezifischeren System des Vagusnervs. Dieses System unterscheidet sich stark von dem System, das durch A-alpha- und A-beta-Fasern gebildet wird. Das C- und A-delta-System ist evolutionär älter, besteht aus dünnen und hauptsächlich unmyelinisierten Fasern, die Signale in geringer Geschwindigkeit, zwischen ein und zwei Metern pro Sekunde, weiterleiten. Im Gegensatz dazu übertragen die A-alpha und A-beta-Fasern Signale mit 60 Metern pro Sekunde sehr schnell. Dieses schnellere System ist an die Signale der externen Welt gut angepasst. Das ältere, langsamere System ist an das Empfinden der inneren Umgebung des Organismus jedoch ebenso gut angepasst. Die Variationsbreite der Sensibilität des C- und A-delta-Fasersystems ist sehr ausgeprägt. Es reagiert auch auf lokale pH, Teildruck und CO2, den Glukoselevel und Milchsäurelevel, Glutamat, Histamin, Serotonin et cetera. Weiter beinhaltet es die lokale Einschätzung der Temperatur sowie von mechanischem Stress und registriert Prozesse wie die Rötung der Haut, Jucken, Kitzeln, sinnliche Berührungen und Erregung im Genitalbereich. Ich vermute, dass das Fundament für die Wahrnehmung unseres eigenen Seins, und zwar in jedem neuen Moment, durch dieses allgemeine System übermittelt wird, das seinen Ursprung in Sensoren hat, die überall in der Struktur unseres Körpers liegen. Das System kann sowohl Aktivitäten wie extremen und mechanischen Stress, aber auch einen so subtilen Moment wie den genetisch programmierten Zelltod beziehungsweise Apoptose registrieren. Wenn eine Zelle beispielsweise durch Ischämie verletzt wird, reagiert das System. Diese Fasern signalisieren kontinuierlich, ob wir sie wollen oder nicht; dabei ist es uns nicht möglich, die Kontrolle darüber zu behalten (Abb. 1).

A. R. Damasio · Das Empfinden von Gefühlen und das Selbst

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Quelle

Strecke humoral

U

U

inneres Milieu

(Blutkreislauf) dem Gehirn zur Verfügung stehende sensorische Signale neuronal

inneres Milieu (incl. Schmerz Temperatur) innere Organe gestreifte Muskulatur vestibuläres System mechanischer Kontakt (Berührung) chemischer Kontakt (Geruch, Berührung) Telesensibilität (Sehen, Hören)

interozeptiv

exterozeptiv

Abbildung 1: Die verschiedenen Arten sensorischer Signale, die vom Gehirn aufgenommen werden. Es gibt zwei Wege der Übermittlung: humoral (hier aktivieren die durch den Blutkreislauf weitergeleiteten chemischen Moleküle direkt die neuronalen Sensoren im Hypothalamus oder in zirkumventrikulären Organen wie z. B. der Area postrema) und neuronal (hier werden elektrochemische Signale in neuronalen Bahnen weitergeleitet). Es gibt zwei Ursprungsquellen für all diese Signale: die externe Welt (exterozeptive Signale) und die innere Welt des Körpers (enterozeptive Signale). Der hauptsächliche Ursprung des Letzteren sind die inneren Organe und das innere Milieu, jedoch sind auch Signale beteiligt, die für den Zustand des muskuloskeletalen und vestibulären Systems spezifisch sind.

■ Ein spezifisch zugeordnetes System Innerhalb des zentralen Nervensystems werden diese Signale durch eine in einem spezifischen Sinn arbeitende Gruppe von Bahnen und Nuclei weitergeleitet. Im Rückenmark verknüpft sich das System der Gewebsschicht Lamina I aus dem posterioren Horn, der Region, in die die C- und A-delta-Fasern münden. Diese Fasern reichen weder in die anderen Laminae des posterioren Horns noch in die weiße Substanz. Sie münden lediglich in diese spezielle Region. Über dem Bereich des Rückenmarks, im Hirnstamm, erreichen sie den trigeminalen Nucleus, besonders das

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Segment, das als pars caudalis bekannt ist und welches das exakte Gegenstück von Lamina I im Rückenmark ist. Diese Fasern leiten im Hirnstamm Signale aus den Körperstrukturen des Kopfes, der Mundhöhle, der Haut, des Gesichts und der Kopfhaut sowie der Gesichtsmuskeln, die Emotionen und Kieferbewegungen regulieren, weiter. Andere interessante Aspekte dieses Systems spiegeln wider, wie spezialisiert es arbeitet. Im posterioren Horn des Rückenmarks können wir erkennen, dass die Neuronen, die aus diesen Fasern entstehen, innerhalb der grauen Substanz von einer Seite des Rückenmarks zur anderen wandern, um dann über den Hirnstamm in Richtung des Endhirns aufzusteigen. Neuronen, die Signale aus den Muskeln und aus der Außenwelt des Körpers weiterleiten, nehmen einen anderen Weg: Sie treten in die weiße Substanz anstatt in die graue Substanz des posterioren Horns und steigen dann in Richtung des Endhirns auf. Dabei bilden sie keine Synapsen, bis der Hirnstamm erreicht ist. Die C- und A-delta-Faser-Bahn, das System, das uns eine allgemeines Gefühl über das Körperinnere verleiht, erlaubt Intervention im Sinne einer »TopDown«-Kontrolle, die in den Nuclei des periaqueduktalen Grau und des Hypothalamus, besonders dem periventrikulären Nucleus stattfindet. Diese Regionen des Gehirns können die Signale, die aus dem Körperinneren kommen, beeinflussen. Wie arbeitet dieses System bei der Bildung der maps des Körperzustands, den ich als Schlüsselkorrelat für das Bewusstsein des Selbst ansehe? Die Antwort lautet, dass die Signale, die in das Rückenmark und den trigeminalen Nucleus eintreten (s. o.), schließlich zu einem ebenso spezifischen Nucleus des Thalamus aufsteigen, dem VMpo-Nucleus (ventromedialer Nucleus, posteriorer Teil). Bis vor kurzem dachte man, dass die Signale in die VP-Nuclei des Thalamus (ventroposterior) projiziert werden. Die Arbeiten von A. D. Craig (z. B. Craig 2002) zeigen jedoch, dass der VMpo die letzte Region für diese Signale darstellt. Ausgehend von VMpo finden weiterhin Projektionen auf die dorsale und anteriore Insula statt. Die insulären Regionen empfangen unterwegs andere wichtige Körpersignale, nämlich diejenigen, die vom parabrachialen Nucleus aus in den Hirnstamm wandern. Darüber hinaus werden aus

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dem Nucleus tractus solitarius, der durch den Vagusnerv Informationen aus den inneren Organen empfängt, Signale erhalten. Zudem gibt es ein weiteres Abtasten von Informationen aus den zirkumventrikulären Organen, die Informationen direkt durch das Abtasten der chemischen Umgebung im Gehirn sammeln. Alle diese anderen Strukturen verwenden einen weiteren Nucleus im Thalamus, der Informationen weiterleitet, nämlich den VMb-Nucleus (ventromedial, basaler Teil), der dann auf die dorsale Insula projiziert. Dies bedeutet, dass Signale aus dem Körperinneren schließlich kontinuierlich in der Insula zusammenfließen. Die Organisation der Insula scheint sogar in Unterbereiche gestuft zu sein – in einer Weise, die der Einteilung in den visuellen Regionen innerhalb des visuellen Kortex ähnelt. Das Körperinnere ist von vorn bis hinten neuronal vernetzt. Es ist sogar möglich, wie auch nach Ansicht von Craig, dass das höchste Level dieser Repräsentation hauptsächlich in die rechte anteriore Insula integriert ist. Signale aus der Insula werden dann dem anterioren Cingulum und dem orbitofrontalen Kortex zur Verfügung gestellt (Abb. 2).

Abbildung 2: Signalgebung vom Körper zum Gehirn. Ein Diagramm der entscheidenden Strukturen, die an der Weiterleitung von Signalen des inneren Milieus und den inneren Organen zum Gehirn beteiligt sind. Ein erheblicher

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Teil der entscheidenden Signalgebung wird durch Bahnen des Rückenmarks und des trigeminalen Nucleus im Hirnstamm übermittelt. Auf jeder Ebene des Rückenmarks, in einer Region, die als »Lamina I« bekannt ist (im posterioren Horn der grauen Substanz des Rückenmarks und im caudalen Teil des trigeminalen Nucleus) wird die Information, die durch die peripheralen Nervenfasern der C- und A-delta-Typen (dünn, unmyelinisiert und langsam verlaufend) übermittelt wird, zum zentralen Nervensystem geleitet. Diese Informationen kommen von praktisch überall in unserem gesamten Körper und beziehen sich auf Parameter, die so verschieden sind wie die Kontraktion der glatten Muskeln in den Arterien, die Menge des lokalen Blutflusses, die lokale Temperatur, das Vorhandensein von Stoffen, die dem lokalen Gewebe eine Verletzung anzeigen, der Level von pH, O2 und CO2. All diese Informationen werden an einen spezifischen Nucleus des Thalamus (VMpo) übermittelt und danach zu den neuronalen maps in der posterioren und anterioren Insula weitergeleitet. Anschließend kann die Insula Signale an Regionen wie den ventromedialen präfrontalen Kortex und den anterioren cingulären Kortex geben. Auf dem Weg zum Thalamus werden diese Informationen auch dem Nucleus tractus solitarius (NTS), der Signale vom Vagusnerv erhält (ein Hauptweg von Informationen, der von den inneren Organen aus das Rückenmark umgeht) dem parabrachialen Nucleus (PB) und dem Hpothalamus (hypothal) zur Verfügung gestellt. Zusätzlich zu ihrer Funktion als wichtige Rezipienten und Prozessoren dieser Informationen (es ist vorstellbar, dass das Empfinden irgendeiner Form des Selbst aus einer Aktivität auf genau dieser Ebene stammen könnte), leiten der PB und der NTS auch Signale durch einen weiteren thalamischen Nucleus (VMb) an die Insula weiter. Es ist faszinierend, dass die Bahnen, die mit den Bewegungen des Körpers und seiner Position im Raum zusammenhängen, einen vollkommen anderen Weiterleitungskanal benutzen. Die peripheralen Nervenfasern, die diese Signale (A-beta) transportieren, sind stark ausgebildet und leiten mit hoher Geschwindigkeit. Die Teile des Rückenmarks und des trigeminalen Nervennucleus, die für die Signalgebung von Körperbewegungen verwendet werden, unterscheiden sich ebenfalls. Dies gilt auch für die thalamischen Relais-Kerne und das endgültige kortikale Ziel (den somatosensorischen Kortex I).

■ Körperrepräsentationen, Gefühle und das Selbst Es ist faszinierend zu sehen, wie diese Teile der Insula systematisch am Empfinden von Gefühlen beteiligt sind. Wie in fMRI-Studien erkennbar, wird das Empfinden von Gefühlen wie Glück, Ärger, Furcht und Traurigkeit von verschiedenen Aktivitätsmustern in den Strukturen der Insula und anderen Regionen des zentralen

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Nervensystems im Hirnstamm und Diencephalon begleitet (Damasio et al. 2000). Das Empfinden von Kälte und Hitze, verschiedener Arten von Schmerz, Sensationen, die mit der Atmung sowie mit Bewegung, Juckreiz, Ekel, sexueller Erregung zusammenhängen, die Glücksgefühle, die durch Drogen wie Ecstasy und Morphium verursacht werden, und sogar das Verlangen nach diesen Drogen; all diese Empfindungen beanspruchen den insulären Kortex, wodurch das Argument, dass diese Region sich ganz grundsätzlich auf den Zustand des Körpers bezieht, gestärkt wird (vgl. Craig 2002 und Damasio 2003b). Teile dieses widerstandsfähigen Systems wurden auch in nichtmenschlichen Arten gefunden. Dieses elementare System kann durch den Hirnstamm und Hypothalamus in den meisten Säugetieren lokalisiert werden. Jedoch scheint die endgültige Ausprägung des Systems, von der VMpo zur Insula, lediglich in Primaten zu existieren. Dies weist darauf hin, dass – obgleich viele Arten eine kontinuierliche Repräsentation des Körpers besitzen, die zur Unterstützung des Empfindens von Gefühlen sowie dem Gefühl, ein Selbst zu haben, befähigt – möglicherweise lediglich Primaten durch den Zusatz von Strukturen, die eine Konvergenz auf höchster Ebene fördern, die Art von hochorganisierten maps erzeugen können, welche das Gefühl des Selbst so umfassend werden lassen. Die Vorstellung, dass durch den rechten Teil der Insula die höchste Ebene der Integration gewährleistet wird, deckt sich mit diesem möglichen evolutionären Fortschritt. Wir besitzen eine vorläufige Ahnung dieser Möglichkeit, wenn wir Ergebnisse betrachten, zu denen wir durch das Studium von Gehirnverletzungen bei Menschen gelangt sind. Gehirnverletzungen, welche die Fähigkeit zum Erleben emotionaler Empfindungen und zum Fühlen des Körpers beeinträchtigen, befinden sich häufig auf der rechten Seite des somatosensorischen Komplexes und betreffen besonders den rechten insulären Kortex. Die betroffenen Patienten verfügen auch nur über ein eingeschränktes Gefühl ihres Selbst. Wir beginnen also mit einer Verbindung von Signalen auf mehreren Ebenen, die aus einer riesigen Anzahl von Ursprungsquellen stammen: die chemisch basierten zirkumventrikulären Organe und der Hypothalamus, das C- und A-delta-Fasersystem und das

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Vagussystem. Diese Signale werden auf speziellen thalamischen Bahnen zur Insula übertragen. Andere Regionen des somatosensorischen Systems, namentlich die Kortexbereiche des SI und SII (somatosensorischer Kortex I und somatosensorischer Kortex II) in den beiden Hemisphären nehmen, gemeinsam mit ihren jeweils dazugehörigen Assoziationskortizes, die Signale auf, die im muskuloskeletalen System und dem vestibulären System entstehen. Diese Kortexbereiche sind mit den insulären Kortexbereichen auf vielfältige Weise verbunden. Das hieraus folgende sich überkreuzende Signal stellt sowohl eine zusammengesetzte sowie eine kontinuierliche Kartierung des Körperstatus zur Verfügung. Die Zusammensetzung vereint das innere Milieu und die inneren Organe – die sich auf ihrer kontinuierlichen Suche nach einer Homöostase mühsam verändern – mit den unveränderlichen Aspekten des muskuloskeletalen Systems. Meiner Meinung nach bilden diese miteinander zusammenspielenden Strukturen die neuronale Grundlage des Selbst, das Fundament des materiellen »Ich« (Damasio 2003a). Diese Überlegungen sind natürlich nur der Anfang der Annäherung an die Prozesse, die an der Bildung des Selbst beteiligt sind. Um die Art des Selbst zu konstruieren, die wir mit dem Menschsein verbinden, bedarf es einer Fülle persönlicher Erinnerungen, und um ein Gefühl für die Identität und persönliche Autobiografie, zu der die Komplexität des Menschen gehört, zu schaffen, bedarf es auch der Sprache. Aus dem Englischen von Gerlinde Göppel.

■ Literatur Craig, A. D. (2002): How do you feel? Interoception: The sense of the physiological condition of the body. Nature Reviews Neuroscience 3: 655-666. Damasio, A. R. (1999): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München, 2002. Damasio, A. R. (2003a): The person within. Nature 423: 227. Damasio, A. R. (2003b): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. München. Damasio, A. R.; Grabowski, T. J.; Bechara, A. et al. (2000): Subcortical and cortical brain activity during the feeling of self-generated emotions. Nature Neuroscience 3: 1049-1056.

■ Michael Hampe

Wahrhaftigkeit und Erinnerung Philosophische Anmerkungen

■ Tod, Gewalt und Subjektivität Es ist eine alte Vorstellung, dass die Wahrheit frei mache, dass richtiges Denken zu Gesundheit führe. Wer die Fähigkeit besitzt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, ist nicht darauf angewiesen, sich in Abhängigkeit von Täuschungssystemen zu begeben, deren Aufrechterhaltung Kraft kostet, die zur Bewältigung der Widrigkeiten nicht mehr zur Verfügung steht, die die Dinge, so wie sie sind, nun einmal aufwerfen. Diese Rede von den Dingen, so wie sie sind, ist eine verführerische. Sie suggeriert, dass die Tatsachen feststehen. Das ist in vielerlei Hinsicht wohl richtig, stimmt aber nicht für menschliche Verhältnisse. Die Abgrenzung zwischen den Tatsachen, die Menschen hinzunehmen haben, und den Möglichkeiten, die sie ändern, ausschlagen oder realisieren können, ist schwer zu treffen, und zwar sowohl aus moralischen wie erkenntnisphilosophischen Gründen. Gewalt ist eine Realität im menschlichen Leben. Doch kaum jemand wird sie zu den Tatsachen zählen, die hinzunehmen sind. Eher wird Gewalttätigkeit als eine Möglichkeit menschlicher Verhältnisse beschrieben, die es zu vermeiden gilt. Sie stellt eine Widrigkeit dar, die sich manchmal einstellt, doch deren Realität kaum jemand für eine Notwendigkeit hält. Nicht alle Widrigkeiten können von Menschen vermieden werden. Denn letztlich entstehen für jedes lebende Wesen einmal unüberwindliche Hindernisse. Die Tatsache, dass alle Menschen sterblich sind, der jeweilige Tod jedoch durch kaum prognostizierbare Kontingenzen eintritt, das heißt als partikulares Ereignis keine Notwendigkeit darstellt, sondern im Prinzip meist jeweils hätte verhindert werden können,

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dies scheint die unakzeptabelste Tatsache menschlicher Verhältnisse zu sein. Freud hielt sie für grundsätzlich nicht annehmbar, wenn ich sein Diktum richtig verstehe, dass sich das Unbewusste für unsterblich hält.1 Im Folgenden wird das philosophisch schwierige Problem, was Tatsachen für Menschen sind, thematisch im Hinblick auf das so genannte posttraumatische Stress-Syndrom behandelt, wie es bei einigen Kriegsteilnehmern auftritt. Dabei spreche ich nicht mit der Autorität des Therapeuten, der ich nicht bin, sondern als jemand, der sich philosophisch für die Erkenntnisprobleme der Wissenschaften vom Menschen interessiert.2 Methodisch wird es dabei vor allem um den altehrwürdigen Begriff der Wahrheit gehen. Denn Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, die Wahrheit zu akzeptieren. Die Wahrheit der Sterblichkeit zu akzeptieren beispielsweise scheint in einem konkreten Sinne, wenn man Freud folgt, unmöglich. Liegt es mit den Wahrheiten über Erlebnisse und Taten der Gewalt ähnlich? Diese Einsicht, dass die Wahrheitsfähigkeit von Menschen ebenso begrenzt ist wie ihre Überlebensmöglichkeiten, ändert nichts daran, dass seit Sokrates über Spinoza und bis Freud die Überzeugung existiert, es ginge Personen besser, wenn sie die Wahrheit zu ertragen lernten. In der Tradition der arabischen Ärztephilosophen und auch bei Spinoza geht dieser Gedanke so weit, dass der Körper eines Menschen, der wahre Überzeugungen hat und logisch richtig schließt, ein anderer ist als der einer Person, die sich täuscht und in Fehlschlüssen denkt. Umgekehrt gibt es sowohl im islamischen wie im indischen Kulturbereich die Vorstellung, es existierten körperliche Dispositionen, die die Fähigkeit zu hohen geistigen Leistungen anzeigten. Je nach medizinischem Hintergrund sahen diese Körpervorstellungen anders aus, wurden beispielsweise als Säfteverhältnisse oder auch als Bewegungsproportionen von Korpuskeln gedacht. Heute sind es in dem von westlicher Wissenschaft bestimmten Denken vor allem 1 »Der eigene Tod ist […] unvorstellbar […] So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt« (Freud 1915b, S. 341). 2 Zur Symptomatik und Therapie des Psychotraumas vgl. Fischer u. Riedesser (2003).

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Hirnstrukturen und Neurotransmitter, die als somatische Pendants zu bestimmten emotionalen und kognitiven Möglichkeiten und Einschränkungen genannt werden. Schon seit der Antike fungiert der Verweis auf somatische Phänomene und Strukturen aber als Realitätsgarant: als Indiz dafür, dass man es bei der Einschätzung der entsprechenden seelischen Zustände der Person nicht mit Fiktionen zu tun hat. Die moderne medizinische Forschung, die mit einem szientifischen Naturalismus als Hintergrundideologie einen allgemeinen Naturalismus fortsetzt (vgl. Hampe 2003), bedient sich, vor allem in den bildgebenden Verfahren, die in den Neurowissenschaften zur Anwendung kommen, raffinierter technischer Methoden, um die Vorstellung zu prüfen und zu belegen, dass zu geistigen und emotionalen Zuständen und Dispositionen somatische Äquivalenzen existieren. Sie ist in dieser Hinsicht in den letzten Jahren enorm erfolgreich gewesen. Deshalb gibt es die Tendenz, die Neurowissenschaften zur Königsdisziplin der Humanwissenschaften zu erklären, als sei das Gehirn die menschliche Wirklichkeit an sich. Die Vorstellung selbst und die hinter ihr stehende Überzeugung, dass der Körper, im Unterschied zu einer Person, nicht lügen könne, ist jedoch uralt und relativ verbreitet über Kulturgrenzen hinweg. Mögen auch gegenwärtig viele Gründe dafür sprechen, an die Plausibilität des Gedankens zu glauben, in Hirnstrukturen einen Realitätsgaranten für die Identifikation psychischer Zustände vorliegen zu haben, so muss das historische Bewusstsein von der langen Reihe solcher Überzeugungen, die sich nie endgültig haben halten können, der Selbstgewissheit der Hirnforschung eine Prise Skepsis hinzufügen. Psychisches ist offensichtlich in seiner Ätiologie und Phänomenologie von einer menschliche Einsichtsfähigkeiten notorisch überfordernden Komplexität. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass bei drei gravitierenden Körpern chaotische Zustände in der Physik entstehen, die unsere Prognosekompetenzen zu Schanden werden lassen. Die Komplexität des Gehirns übertrifft die von drei sich in einem Gravitationsfeld beeinflussenden Körpern um ein vielfaches. Dieses Gehirn befindet sich in einem ebenso komplexen Körper und macht als plastisches Gebilde eine Geschichte durch, die Menschen gegenwärtig nur mit relativ vagen Begrifflichkeiten über individuelle Lebensschicksale und die

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Welt des Sozialen und Kulturellen beschreiben können. Dass angesichts dieser Unübersichtlichkeit und Mischung von Terminologien Freud es vor hundert Jahren nicht nur wagte, eine Theorie mit einer kohärenten Terminologie zu entwickeln, sondern ihm das sogar ziemlich gut gelang, weil seine Begrifflichkeit für die Bereiche der Individual- und Entwicklungspsychologie wie die Sozialund Kulturwissenschaften gleichermaßen anregend wirkte, scheint ein ungeheuerlicher Glücksfall. Diese Anschlüsse, die andere an die Psychoanalyse gefunden haben, sind von Freud vorbereitet worden, denn er selbst handelt ja schon sowohl von der innerpsychischen Phänomenologie, der Entwicklung des Psychischen und bettet seine diesbezüglichen Theorien in die »kleinen« sozialen Komplexitäten der Familie und die »großen« der Kultur ein. Dass Freuds Theorie angesichts der Breite der Phänomene und Determinanten des Psychischen, die sie abzudecken versuchte, die Zusammenhänge zwischen den hier relevanten Tatsachen nicht angemessen zu erfassen vermochte, kann niemanden in Erstaunen versetzen. Genauso wenig kann es verwundern, dass jede Theorie, die hinsichtlich der zu berücksichtigen Daten in diesem Feld des Humanen von geringerer Komprehensionskraft ist, auf ihrem eingeschränkteren Gebiet vermutlich zutreffender ist. Erstaunlich ist allerdings, dass die Hirnforschung ein wissenschaftliches Unternehmen ist, das im Grunde ohne jede Theorie abläuft, aber gleichzeitig mit dem Anspruch auftritt, den Bereich des Humanen in toto erfassen zu können. Welche zentrale theoretische Aussage der Hirnforschung gibt es, die empirisch widerlegbar wäre und nach dem Kriterium des Falsifikationismus ihren eigentlichen Gehalt ausmacht? Die Hirnforschung stellt sich wissenschaftsphilosophisch im Wesentlichen als ein Sammelsurium von anatomischen und physiologischen Beobachtungen und Korrelationsfeststellungen zu psychischen Ausfallserscheinungen und Hirnläsionen dar. Alles, was heute an Theorie in ihr eine Rolle spielt, ist aus der allgemeinen Evolutionstheorie und der Genetik geborgt. Eher formale Theorieansätze wie die von David Marr (Marr 1970, 1982) haben keine Fortsetzung gefunden. Das Interesse an transparenten begrifflichen und formalen Strukturen scheint in diesem Gebiet gering. Trotz des ungeheuren finanziellen und personellen Aufwandes dieses Wissenschaftsfeldes bleibt unklar, auf was die

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Wissenschaftsgemeinschaft theoretisch, über die oben genannte Behauptung, dass im Hirn die Realität des Psychischen zu finden sei, hier eigentlich seine Hoffnungen setzt. Unabhängig von der theoretischen Dürftigkeit der Annahme, im Körper die Realität des Psychischen fixieren und studieren zu können, ist psychoanalytisch die Überzeugung, der Körper könne nicht lügen, man finde in ihm den Zugang zum menschlichen Wesen, eine, milde gesprochen, mindestens zu relativierende Behauptung, wenn man sich etwa vor Augen führt, wie jemand mit einer hysterischen Lähmung vor sich selbst durch einen Körperzustand einen Affekt, etwa die Abneigung gegenüber dem Vater, zu verbergen vermag. Sicher lügt der Körper nicht in dem Sinne, in dem eine Person eine andere anlügt. Doch ist der Leib hier Teil eines Täuschungszusammenhangs, der sowohl die Person betrifft, die diesen Körper hat, wie auch andere. Im Fall der hysterischen Lähmung liegt wohl einerseits die Schwäche vor, die eigenen Affekte zu akzeptieren, und andererseits ein unbewusster Täuschungsprozess, der über ein körperliches Symptom diesen Affekt und die Schwäche, ihn zu akzeptieren, vor der Person selbst und anderen verbirgt. Philosophen wie Spinoza und Nietzsche und die Psychoanalyse Freuds haben gerade hinsichtlich des Affektlebens der Menschen ihre Realitäts- und Wahrheitsfähigkeit in Frage gestellt. Täuschung ist für sie nicht lediglich ein kommunikatives Problem zwischen zwei Menschen, das als Unfall oder Regelverletzung in der Verständigung eine Ausnahme darstellt, sondern ein grundsätzlicher Zustand, der, so hat Nietzsche vermutet, vielleicht sogar dem Überleben dienlich sein könnte. Diese Behauptung, dass Wahrhaftigkeit, auch sich selbst gegenüber, hinsichtlich der eigenen Zustände, Neigungen und Abneigungen, unter Menschen äußerst selten ist, relativiert nicht nur den Glauben an die Verbundenheit von Wahrhaftigkeit und Gesundheit zu einem selten verwirklichten Ideal. Diese Einsicht wurde auch selbst mit dem Pathos der Wahrhaftigkeit vorgetragen, vor allem bei Nietzsche. Dass die Lüge und die Neurose in der Lebensnot eventuell der einzige Ausweg sein können im Versuch, zu überleben oder die bisherige Identität zu bewahren, die Lebensnot jedoch etwas ist, von dem niemand verschont bleibt, diese Einsicht haben Nietzsche und Freud nicht wiederum als eine mögliche

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Täuschung oder ein neurotisches Symptom betrachtet, sondern als eine wahre, schwer errungene Erkenntnis. Relativistische Postmodernismen, die sich auf Nietzsche berufen, oder Psychoanalytiker, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben möchten, sondern technisch realisierte Leidfreiheit als ihr einziges Ziel betrachten, beide können sich nicht zurecht auf Nietzsche und Freud berufen.3 Denn kaum ein Philosoph hat ein solches Pathos der Wahrhaftigkeit entwickelt wie Nietzsche (vgl. Williams 2002, S. 12f.), und Freud hat in seiner Vorstellung eines Junktims von Therapie und Erkenntnis Heilung und wissenschaftliche Wahrheit miteinander verbunden. Krankheit und Lüge als Überlebensmöglichkeit in der Schwäche wurden von keinem der bisher genannten Autoren also überhaupt und grundsätzlich als Notwendigkeiten der menschlichen Existenz angesehen, geschweige denn in Selbstanwendung zur Paradoxalisierung ihrer eigenen Theorien verwendet. Vielmehr sahen sie alle unterschiedlich schwer zu realisierende Gesundheitszustände ebenfalls als menschliche Möglichkeiten an, betrachteten also weder ihre eigenen Einsichten als bloße Fiktion noch die Vorstellung, ohne Krankheit und Lüge zu existieren, als Phantasie oder Konstrukt. Warum ist der Zusammenhang von Gesundheit und Wahrheit, von Leid und Täuschung für die Wissenschaften vom Menschen und die Philosophie interessant? Dass alle Lebewesen Leid, gewaltsame Identitätstransformation und Tod zu vermeiden suchen, entweder durch körperlich sichtbare Handlungen oder durch eventuell nur im Innenleben existierende Selbsttäuschungsstrategien, ist ein in der philosophischen Theorie der Subjektivität und auch in der Hirnforschung wenig berücksichtigtes Faktum. Ob in den Neurowissenschaften der Unterschied zwischen Wahrhaftigkeit und Täuschung überhaupt nur thematisierbar ist, ist mir unklar. Er ist jedoch für das menschliche Selbstverständnis zentral. Ferner werden Subjekte fast immer als eine Erkenntnis und Handlungen konstituierende, als eine aktive Instanz zitiert und kritisiert. In der Kritik wird auf die soziale und biologische Bedingtheit der Zustände eines Menschen verwiesen, auf die für einzelne Personen nicht 3 Zu diesem Gedankengang, sofern er Nietzsche betrifft, vgl. Williams (2002).

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verfügbare Sprache und andere Zeichensysteme, die Erkenntnisund Handlungsprozesse mitbestimmen. Bei Berücksichtigung dieser Bedingtheiten löse sich das Subjekt als autonome aktive Instanz auf und es verschwinde die Vorstellung von festen Tatsachen, an denen sich das Subjekt zu orientieren habe. Kaum thematisiert wird dagegen das passive Subjekt als ein Wesen, das von Gewalt, Leid und Tod betroffen ist. Dass Glück und Leid nicht, wie die utilitaristische Ethik glaubte, über die menschlichen Individuen hinweg »aufsummiert« werden können, weil es kein Kollektivwesen gibt, das Glück- und Leidzustände empfindet, diese Zustände also nur in der Empfindung von Einzelwesen ihre Wirklichkeit haben, diese Einsicht spricht gegen eine allgemein deflationäre Strategie im Umgang mit Subjektivität und Faktizität. Leid und Schmerz sind Tatsachen für ein ihnen ausgeliefertes Subjekt. Wenn ein Mensch am Arm oder Bein verletzt wird und starke Schmerzen empfindet, so leidet weder sein Arm oder Bein noch sein Hirn oder die Gesellschaft, sondern es leidet eine Person als passives Subjekt. Der Schmerz ist mein Schmerz, etwas, was mich als Person betrifft und nicht lediglich einen Körperteil oder eine soziale Rolle. Die Negativerfahrungen von Gewalt, Verletzung und Schmerz individuieren Personen offenbar auf eine emphatischere Weise als die Leistungserfahrungen der Erkenntnisproduktion und des Handelns. Für traumatische Erfahrung gilt dies, wie noch zu zeigen sein wird, auf besondere Weise. Das körperliche Leiden an einer Krankheit und die schwere, vielleicht unmöglich akzeptable Tatsache des Todes scheinen – wittgensteinisch gesprochen – die Felsen zu sein, an denen sich die Spaten der relativistischen Totengräber der Wahrheit zurückbiegen. Dass alles Konstrukt und Täuschung sein könnte, einschließlich der Subjekte, die konstruieren und sich täuschen, diese Behauptung ist aus vielen Gründen unsinnig. Sie widerlegt sich nicht nur als performativer Selbstwiderspruch. Am unsinnigsten scheint sie angesichts der Leidenszustände und der Sterblichkeit von Personen, den Subjekten, die fürchten, beschädigt zu werden, sich bemühen, eine Beschädigung zu überwinden, oder fürchten unterzugehen. Trotz dieser allgemeinen und evidenten Einsichten sind die Verhältnisse von Wahrheit, Gesundheit, Leiden und Irrtum kompli-

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ziert. Davon kann sich jeder leicht überzeugen, der sich aus einer erkenntnisphilosophischen Perspektive mit dem Thema Gewalt und Trauma befasst.

■ Willkürlichkeit und Unwillkürlichkeit Das Erste, was in diesem Zusammenhang auffällt, ist, dass der Prozess der traumatischen Erinnerung, die flashbacks, die das traumatisierende Ereignis immer wieder vor das Bewusstsein bringen, die Assoziationen zu gegenwärtigen Wahrnehmungen, die immer wieder zu traumatischen Situationen zurückführen, die ganze Idee, Wahrheit sei etwas Hergestelltes, konterkarieren. Es mag sehr wohl sein, dass Menschen, die aktiv etwas erinnern, viel konstruieren, indem sie, vielleicht ohne es bewusst zu merken, etwas dazuerfinden und etwas Erlebtes weglassen. Zwar ist auch das unwillkürliche Erinnern nicht immer wahrheitsgetreu und Schematisierungen unterworfen, auch wenn die sich erinnernden Subjekte bei flashbacks das Gefühl haben, sich besonders detailliert und mit großer Gewissheit der Dinge, so wie sie waren, zu erinnern (vgl. dazu Schacter 1999, Kap. 7). Aktives Erinnern, das vor dem Hintergrund bestimmter Vorgaben abläuft, ist jedoch, so konnte in empirischen Studien gezeigt werden, unzuverlässiger als unfreiwilliges Erinnern (vgl. Habermas 2005, Kap. 3 u. 4 und dort die Hinweise Barclay u. Subramaniam 1987 und Cornway u. Pleydall-Pearce 2000). Deshalb sind Autobiografien, die das Ergebnis von Erinnerungsprozessen darstellen, die mit dem Bedürfnis zur Herstellung identitätsstabilisierender Selbstbilder verbunden sind, notorisch unzuverlässige historische Dokumente. Doch die Erinnerung ist nur sehr eingeschränkt etwas, was Kontrolle und persönlicher Verfügung unterliegt. Sie hat für das sich erinnernde Subjekt passive Aspekte. In dieser Ambivalenz ähnelt die Erinnerung dem Atem. Menschen können die Luft anhalten und sie können absichtlich hyperventilieren. Doch irgendwann muss jeder Luft holen und irgendwann fällt der Hyperventilierende in Ohnmacht. Rennen wir, so beschleunigt sich der Atem von selbst, legen wir uns hin, wird er von selbst ruhiger. So wie der Atem von

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selbst kommt, seinen eigenen Rhythmus hat und gleichzeitig durch absichtvolles Verhalten beeinflusst werden kann, ebenso scheint die Erinnerung ambivalent hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit für den Willen. Menschen können sich absichtlich erinnern, Techniken des Erinnerns ausbilden, und trotzdem behält die Erinnerung eine gleichsam natürliche Autonomie, wenn etwa entgegen dem Wunsch, sich eines Namens zu erinnern, dieser einem einfach nicht einfällt oder wenn sich ein Kriegsveteran nicht an die Leichen der asiatischen Personen, die er erschossen hat, erinnern will, aber nicht anders kann, sobald er ein asiatisches Gesicht oder asiatische Schriftzeichen erblickt. Hier funktioniert ein Vergessen nicht. Das aktive Bemühen zu vergessen, wird von einer Tätigkeit durchkreuzt, die das betreffende Subjekt nicht als seine eigene Tätigkeit ansehen kann und die es in den Zustand der Passivität, des erleidenden Erinnerns versetzt. Das traumatische Ereignis ist geschehen. Ist es eine unakzeptable Wahrheit, dass es geschehen ist? Handelt es sich um eine Realität in der Erinnerung einer Person, die sich immer wieder gegen die Selbsttäuschungsversuche der Traumatisierten von selbst meldet? Wohl kaum. Denn der oben erwähnte Vietnam-Veteran leugnet ja nicht, die Menschen, an die er sich erinnert, erschossen zu haben. Eine Deutung des traumatischen Erinnerns, die Allan Young zitiert, besagt, dass das traumatische Ereignis einen Bruch in der Biografie eines Menschen herbeiführe, die die betreffende Person zu einer anderen Person mache. Sie selbst sei jedoch nicht in der Lage, diese Veränderung zu akzeptieren, und versuche weiterhin, als die Person zu leben, die sie vor der Traumatisierung war. Es ist dann nicht die Wahrheit, dass eine Gewalttat geschehen ist, die nicht akzeptiert werden kann, sondern die, dass ich eine Person bin, der diese Gewalttat widerfahren ist oder die sie ausgeführt hat, die im Fall einer Traumatisierung unakzeptabel bleibt. Dies ist kein Leiden »infolge von«, sondern »an« Reminiszenzen, die als zum eigenen Leben, zur notwendigerweise »geschichtlichen Individualität« eines Menschen gehörend, nicht akzeptiert werden können, wie Alice Holzhey-Kunz jüngst hervorgehoben hat (Holzhey-Kunz 2002, S. 225). Denken wir uns Personen als Prozesse, als Kontinua von Erinnerungen, die eine Lebensgeschichte ergeben, die gewissen narrativen und moralischen Plausibilitäten

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folgt, dann ist in dieser Deutung das traumatische Ereignis eines, das nicht in die Erinnerungsgeschichte integrierbar ist, sondern einen »Fremdkörper« darstellt, der aus dem leib-seelischen Haushalt einer Person nicht entfernt, jedoch auch nicht als Teil der Lebensgeschichte in sie hinein genommen werden kann. Dass dieser »Fremdkörper« immer wieder auftaucht, ist nur erklärbar, wenn entweder der psychische Apparat und seine Geschichte oder der neurologische Apparat und seine Geschichte oder beides Bestandteile enthalten, die nicht zu dem zu rechnen sind, was die betreffende Person ausmacht. Die Psychoanalyse würde hier wahrscheinlich nicht von »Person«, sondern von »Ich«, »Bewusstsein« und Selbst sprechen. Was zu diesen Instanzen gerechnet wird, hängt davon ab, über was eine Person absichtlich verfügen kann. Arme, Beine, Hände und Finger, Lunge und Lippen sind von erwachsenen Menschen willentlich bewegbar. Ohne spezielles autogenes Training hat jedoch niemand Gewalt über seinen Herzrhythmus oder die Muskulatur, die die Venen in den Gliedmaßen öffnet und kontrahiert. Ein Mensch, der erkrankt und seinen Arm oder sein Bein nicht mehr spürt, etwa nach einem Schlaganfall, kann diese Gliedmaßen wie fremde Körper betrachten, die mit seinem Leib zwar verbunden sind, aber doch nicht zu ihm gehören, weil sie seinem Willen nicht mehr folgen. Ein durch entsprechende Praktiken Trainierter mag dagegen den Durchblutungszustand seiner Glieder kontrollieren, indem er willentlich Muskeln bewegt, die normalerweise nur unwillkürlich innerviert werden. Bei unserem Körper ist die Grenze, was an ihm zum willentlich beherrschbaren Leib gehört und was eine natürliche Autonomie behält, fließend. Tatsachen, die hinzunehmen sind und Möglichkeiten, zu denen man sich verhalten kann, sind hier nicht scharf voneinander abgrenzbar. Bei der Erinnerung scheint es ebenfalls eine verschiebbare Grenze zwischen willentlich verfügender und unwillkürlicher Erinnerung zu geben. Erinnerungskünstler und Hypnotisierte können den Rahmen der ihnen erinnerbaren Erlebnisse, der zu ihnen gehörenden Erfahrungen, dehnen. Das traumatische Ereignis verschiebt dagegen umgekehrt die Erinnerung in Richtung Unwillkürlichkeit. Ähnliche Verschiebungen finden sich bei Verletzungen von Sinnesorganen. Die tastende Hand empfindet auf Grund der willentlichen Aktivität der tasten-

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den Person. Ich kann die Hand zurückziehen, das Fühlen ist eine Möglichkeit, zu der ich mich verhalten kann. Die verbrannte Hand ist dagegen überempfindlich geworden und »produziert« ständig nicht intendierte Wahrnehmungen, die nur als Faktum hinzunehmen sind, es sei denn, die Person schluckt ein Schmerzmittel. Das hörende Ohr, das einer Person zum absichtlich aufmerksamen Lauschen dient, erzeugt einen Piepton, der die akustische Aufmerksamkeit stört, wenn es durch zu laute Ereignisse erregt wurde. Das traumatisierende Erlebnis kann mit einer solchen Übererregung, die zu einer nicht intendierten Selbsttätigkeit der Erinnerung führt, verglichen werden. Pittman und Orr benutzen für diesen Vorgang des autonomen Tätigseins der Erinnerung, die das betreffende Subjekt zu einem machen, das seine Erinnerungen erleidet, die Metapher des schwarzen Lochs: »Eines der auffälligen Charakteristika des Post-Traumatischen-Stress-Syndroms ist der Grad, in welchem das vergangene Ereignis die Assoziation des Patienten zu dominieren beginnt […] Ein uns bekannter Kriegs-Veteran konnte den nackten Leib seiner Ehefrau nicht ansehen, ohne sich mit einem heftigen Gefühlsumschlag der nackten Körper zu erinnern, die er in einer Grube in Vietnam gesehen hatte, er konnte den Anblick der Puppen seiner Kinder nicht ertragen, weil deren Augen ihn an die starrenden Augen der Kriegstoten erinnerten, er konnte nicht auf seinem Grundstück spazieren gehen, ohne die Baumreihe nach Eindringlingen abzusuchen […] Der allerletzte Anziehungspunkt der Gravitation wird im physikalischen Universum durch das schwarze Loch dargestellt, einem Ort in der Raum-Zeit mit einer solchen Gravitation, dass nicht einmal das Licht an ihm vorbei kann, ohne in es hineingezogen zu werden […] Patienten mit Post-Traumatischem-Stress-Syndrom kämpfen darum, Gedanken, Tätigkeiten oder Situationen, die mit dem Trauma verbunden sind, zu vermeiden […], nicht allein, weil sie so schmerzhaft, sondern weil sie so absorbierend sind« (Pittman u. Orr 1990, S. 469f.).

Das traumatische Ereignis hebt offenbar die Willkürlichkeit des Denkens und Erinnerns auf eine Weise auf, dass aus dem gesteuerten Denken und Erinnern ein unwillkürliches und zwanghaftes wird. Assoziationspfade erhalten eine Trajektorie, die letztlich fast immer in der traumatisierenden Situation zu enden scheint. Darin könnte eine grundsätzliche Störung der Assoziationsvorgänge beim Denken und Erinnern gesehen werden, wenn man Steuerbarkeit durch Absichten zu einem Kriterium für Störungsfreiheit macht. Sofern die Psychoanalyse jedoch der Willkürlichkeit als

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einem Mechanismus der Selbsttäuschung auch ganz unabhängig von Traumatisierungen misstraut – benutzt sie doch in der freien Assoziation und der Traumdeutung genau solche unwillkürlichen Gedankenverbindungen und Erinnerungen als Mittel, die Selbsttäuschungssysteme einer Person zu untergraben – insofern kann hier nicht von einer klar disjunktiven Differenz von so genannt gesundem und vermeintlich krankem Assoziieren im Denken und Erinnern gesprochen werden. Die Tatsache, dass Absichten verwirklicht werden können, ist für die Psychoanalyse alles andere als ein Kriterium für Gesundheit, Wahrhaftigkeit und Störungsfreiheit. Guggenheim und Schneider haben deshalb die freie Assoziation mit der traumatischen Erinnerung nicht nur in Zusammenhang gebracht, sondern beide in ein Kontinuum gestellt (Guggenheim u. Schneider 2000). Die Wahrscheinlichkeit, selbsttäuschenden Mechanismen zu entgehen, ist da größer, wo die Willkürlichkeit im psychischen Apparat gesenkt ist. Insofern scheint sowohl die freie Assoziation wie die traumatische Erinnerung ein wahrscheinlicherer Zugang zur Wahrhaftigkeit als die aktiv intendierte Erinnerung. Ist das plausibel? Die Lebensgeschichte einer Person als bewusst von ihr selbst nachvollziehbarer Zusammenhang von Erfahrung ist etwas Plastisches. Vergessen und Erinnern scheinen unter anderem daran gebunden zu sein, inwiefern der Nachvollzug von neuen Erlebnissen vor dem Hintergrund von alten Erfahrungen und den sie organisierenden Mustern möglich ist. Ein neues Erlebnis ist hinsichtlich seiner Integrierbarkeit oder Nichtintegrierbarkeit in die bisherige Lebensgeschichte im Moment seines ersten Vollzugs offenbar nicht bewertet. Sonst wäre die Latenz, mit der die Traumatisierung auftrifft, schwer nachvollziehbar. Offenbar wird ein Erlebnis zuerst durchlebt und dann lebenshistorisch als eine Erfahrung angeeignet, die diese Person gemacht hat. Die Differenz von »durchlebtem Erlebnis« und »gemachter Erfahrung« ist in der Philosophie keine terminologisch fixierte. Gadamer hat festgestellt, dass »Erlebnis« durch Dilthey am Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Begriff für elementare Bewusstseinseinheiten an die Stelle der Empfindung und der empiristischen »sensation« tritt (Gadamer 1886, S. 71f.). Freud benutzt in dem energetischen Modell seines »Entwurfs einer Psychologie«

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von 1895 ebenfalls den Begriff des Erlebnisses neben dem des Eindrucks, wenn er etwa schreibt: »Nach der psychologischen Erfahrung hängt das Gedächtnis, das heißt die fortwirkende Macht eines Erlebnisses, ab von einem Faktor, den man ›die Größe des Eindrucks‹ nennt« (Freud 1950a, S. 393). Und schließlich hat Walter Benjamin (1980, S. 444) den Kontrast von Information und Erfahrung als einen, der dem von Erlebnis und Erfahrung vergleichbar erscheint, in seinem Essay »Der Erzähler« über Nikloai Lesskow thematisiert, in dem er die Fähigkeit zur Erfahrung an die Fähigkeit zur Erzählung gebunden sieht (und beide Kompetenzen als kulturell bedroht betrachtet).4 Vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen wäre die Differenz von Erlebnis und Erfahrung so zu bestimmen: »Erlebnisse« sind Widerfahrnisse, die noch nicht einem Langzeitgedächtnis, einem aktiven Erinnerungsvermögen verfügbar sind. Aus ihnen werden Erfahrungen gemacht, also hergestellt, indem Erlebnisse durch Deutungen in den Korpus der aktiv zugänglichen Erinnerungen integriert werden, der die bewusste Lebenserfahrung einer Person ausmacht. Wo das nicht gelingt, müssen die Erlebnisse entweder vergessen oder in passiver Erinnerung immer wieder durchlebt werden, gehören jedoch nicht zur verfügbaren Erfahrung der Person. Sie bleiben dann im psychischen Apparat präsent, doch als eine Art Information, die bereitliegt oder wie ein Virus im Speicher eins Rechners zu Störfällen führt, und nicht als integraler Bestandteil der Erfahrung der betreffenden Person. Die Fähigkeit willkürlicher Erinnerung scheint von der Möglichkeit abzuhängen, die lebensgeschichtliche Aneignung eines Erlebnisses zu einer gemachten Erfahrung erfolgreich vollziehen zu können (vgl. dazu Habermas 2005, Kap. 1 über Butler, Erikson und Janet). Erst im Lauf einer gewissen Zeit, bei Traumatisierungen der Latenzzeit, stellt sich heraus, ob diese Integration gelingt oder nicht, wie etwa das Beispiel eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zeigt, der einen Feind mit Bajonettstößen in den Bauch getötet hatte, aber erst die Symptome eines SchuldTraumas zeigte, als seine beiden Kameraden, mit denen er zuerst über den Tod des Feindes gelacht hatte, gefallen waren (Young 1995, S. 126). 4 Ich danke Rolf Haubl für den Hinweis auf diesen Text.

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Philosophisch ist unklar, nach welchen Kriterien die Integration eines Erlebnisses oder das Machen einer Erfahrung gelingt oder misslingt. Das Herstellen von Zusammenhängen als mnemotechnisches Instrument lässt an bisherige Erfahrungen anschlussfähige Wahrnehmungen und Erlebnisse erinnerbarer erscheinen als isolierte. Doch was bedeutet »anschlussfähig«? Bewegt man sich nicht in einem Zirkel: Erinnerung ist ja ein Fall des Angeschlossenseins einer vergangenen Erfahrung an eine Gegenwart. Ist die Existenz einer identischen Person hier die Bedingung oder nicht vielmehr das Resultat des Anschlusses einer Erfahrung an eine andere? Die heute eher plausiblen, nicht substantialistischen Theorien der Person, die davon ausgehen, dass es kein individuelles Wesen von Personen gibt, das unabhängig von der Geschichte ihrer Erfahrungen ist, müssen Personen als Produkte des Erinnerungszusammenhangs annehmen und können Personen als solche nicht zum Kriterium des Anschlusses einer Erfahrung an die nächste machen. Personen, die eine Lebenserfahrung haben, machen ihre Erinnerungen, indem sie weitere Erinnerungen aus ihren Erlebnissen herstellen. Doch machen sie sich dabei auch selbst, denn sie sind ihre Lebenserfahrung, wenn auch nicht nur, wie das traumatisch Erinnerte zeigt, das irgendwie zur Person dazugehört, aber sie doch als etwas Fremdes in einen Leidenszustand versetzt. Die traumatische Erinnerung kann als ein In-Frage-Stellen der Einheit der Person begriffen werden, die aus einem Erinnerungszusammenhang entsteht. »Da ist etwas geschehen, das ich wahrgenommen oder selbst getan habe, doch das ich mit mir, so wie ich mich kenne, gar nicht verbinden kann«, scheint die traumatisierte Person denken zu müssen. Auch dies mag ein Gedanke sein, der in jeder erfolgreichen Psychoanalyse auftaucht, dort aber durch die spezifischen Techniken der Analyse und die Deutungen des Analytikers evoziert wird. Beim Trauma scheint dieser Gedanke, diese In-Frage-Stellung der personalen Identität durch das Erlebnis selbst erzeugt zu werden. Hier scheint ein Konflikt zu entstehen zwischen der narrativen Plausibilität einer Erinnerung vor dem Hintergrund eines bestimmten Selbstkonzepts einer Person auf der einen und der historischen Wahrheit eines Erlebnisses der anderen Seite, wie man im Anschluss an Tilman Habermas formulieren kann (vgl. Habermas 2005, Einleitung).

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Hier entsteht ein schwerwiegendes Problem der Einheitsbildung von Erinnerungszusammenhängen, das auch für die Frage nach der Einheit der Person bedeutsam ist. Würde eine vollständige und wahrhaftige Erinnerung die psychische Struktur einer lebenden Person eher stabil oder instabil machen? Ist die Herstellung von Zusammenhängen in der Erinnerung eventuell an die Ausblendung beziehungsweise Umdeutung von Erlebnissen in der Erfahrungsbildung gebunden? Ist das traumatische Erlebnis, die Gewalt, die einer Person angetan wird oder die sie selbst verübt, unter Umständen etwas, das auf fundamentale Weise die Fähigkeit einer Person, Erlebnisse in Erfahrungen zu verwandeln, stört und so ihre selbsterzeugte Einheit bedroht? Zeigen neurologische Befunde bei Traumatisierten, dass hier eine Veränderung mit einer Person geschehen ist, die schnell, durch Prozesse der Bewusstmachung oder Stärkung der emotionalen Fähigkeit, etwas als zum eigenen Leben gehörend akzeptieren zu können, nicht behoben, aber auch nicht rückgängig gemacht werden kann, weil Veränderungen in der neurologischen Struktur eines Menschen wenn überhaupt, dann nur langsam revidierbar sind? Eine Antwort auf diese Fragen wäre eine ausgewachsene Theorie der Erinnerung, der Personalität und der Plastizität von Menschen angesichts der differierenden Geschwindigkeiten, mit der soziale, psychische und biologische Prozesse ablaufen.

■ Geschichtlichkeit des posttraumatischen Stress-Syndroms Die miteinander verbundenen Erfahrungen eines Lebenslaufs werden, so viel lässt sich auch ohne eine solche Theorie sagen, vermutlich nach erworbenen Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns geordnet und bewertet. Diese Musterbildungen und Bewertungen entstehen aus Lebensgewohnheiten, die eine Person in ihrem sozialen Umfeld erwirbt. Jonathan Shay bringt deshalb in seinem Buch »Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character« das Trauma mit fatalen Kontingenzen in der direkten sozialen und moralischen Umgebung eines Menschen

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in Zusammenhang. Diese spezifischen Kontingenzen werden von Shay mit den Termini des »moral luck« und des »bad moral luck« gedeutet, wie sie die Philosophen Bernard Williams und Martha Nussbaum verwendet haben (Williams 1982; Nussbaum 2001). Die soziale und moralische Umgebung, die Shay in seinem Buch vor allem betrachtet, ist die Armee. An einer Stelle vergleicht er sie mit der Familie. Shay schreibt: »Das verletzbare Verhältnis zwischen Kind und Eltern ist eine Metapher für das Verhältnis eines Soldaten zu seiner Armee. Es ist mehr als eine Metapher, sofern wir die Bildung und Erhaltung eines [so genannten] guten Charakters betrachten. Die elterliche Verletzung der themis, der moralischen Konvention, durch Inzest, Missbrauch oder Vernachlässigung, bringt das Kind in tödliche Gefahr. Trotz der intellektuellen Einschränkung erfasst das kleine Kind gewöhnlich die Gefahr, obwohl die geistige Repräsentation [des Vorgangs] von der der Erwachsenen abweichen mag. Das kindliche innere Sicherheitsgefühl in der Welt entsteht aus Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und einfacher Handlungskompetenz der Familie. Auf ähnliche Weise hängt der Erwerb von Selbstkontrolle, Selbstachtung und Rücksichtsnahme auf andere von der Familie ab« (Shay 1994, S. 329).

Kommt es zu einer existenziellen Bedrohung durch Missbrauch oder Verletzung grundlegender moralischer Gewohnheiten, so schrumpft nach Shay der soziale und moralische Horizont zusammen, auf den sich eine Person bezieht. In der Armee schrumpft bei Versagen oder gravierender Regelverletzung durch Vorgesetzte der Horizont auf die unmittelbaren Mitstreiter. In der Familie ist das Kind eventuell ganz auf sich zurückgeworfen. Misslingt auch in diesem eingeschränkten sozialen und moralischen Rahmen die Handlungsorientierung, so setzt nach Shay eine Charakterzerstörung ein, in der die erworbenen Muster der Selbstkontrolle, die Selbstachtung und die Regeln der Rücksichtnahme auf andere verschwinden. Im Fall des Soldaten bedeutet dies blinde und gnadenlose Gewalttätigkeit, Berserkertum, wie es Shay bei einer Reihe von Vietnam-Veteranen der US-Armee wahrgenommen hat und das er auch in der Hybris des Achill in Homers »Ilias« glaubt erkennen zu können. Betrachten wir Shays Konstellationsbeschreibung der Entstehungsbedingung einer Traumatisierung abstrakt, unabhängig von den Beispielen der Familie und der Armee, so haben wir erstens ei-

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ne Person, die ihre charakterliche Stabilität durch Bezug auf einen festen sozialen und moralischen Horizont gewinnt. Zweitens tritt eine Verletzung grundsätzlicher Regeln der Erfahrungsgenerierung und des Verhaltens durch eine wichtige Person in diesem Horizont auf, die als »Betrug« perzipiert wird. Drittens gelingt eine Re-Orientierung innerhalb des reduzierten sozialen und moralischen Horizonts nicht, worauf viertens ein Zerfall der moralischen und sozialen Gewohnheiten der Person erfolgt. Die Traumatisierung tritt in der Phase der Desorientierung im geschrumpften moralischen Umfeld auf. Die Regelverletzung stellt eine Sensibilisierung für die Traumatisierung dar. Im Fall von Achill ist Agamemnons Raub der Briseis die Sensibilisierung. Der Tod des Patroklos ist die Traumatisierung von Achill. Im Fall des kindlichen Missbrauchs wäre der erste Missbrauch die Sensibilisierung, der fortgesetzte, nach Rückzugsversuchen des Kindes, die Traumatisierung. Weil niemand die Zerstörung der moralischen Orientierung einer Person in diesem Prozess direkt intendiert, sondern die Regelverletzung durch eine wichtige moralische Orientierungsperson ebenso wie das Scheitern einer Reorientierung in eingeschränktem sozialen und moralischen Horizont ohne eine gegen die betreffende Person unmittelbar gerichtete Absicht erfolgt – es sei denn, es handelt sich um einen Fall von ausgesprochener Bösartigkeit –, nennt Shay diesen Vorgang katastrophales moralisches Unglück, »catastrophically bad moral luck«. Diese Wortwahl knüpft an die ursprüngliche Redeweise Freuds an, der bei der »traumatischen Hysterie« vom »Unfall« und dem »akzidentellen Moment« in der Ätiologie spricht (Freud 1895d, S. 82). In unserer Terminologie führt moralisches Unglück dazu, dass Muster, nach denen eine Person Erlebnisse in Erfahrungen zu verwandeln gelernt hat, beschädigt oder zerstört werden und dadurch die Fähigkeit, Erfahrungen herzustellen, grundlegend in Frage gestellt wird. Obwohl sie die Muster der Erfahrungsbildung noch kennt, vertraut die traumatisierte Person ihnen nicht mehr. Damit ist sie zwar nicht in den Zustand eines weitgehend nur erlebenden und noch nicht strukturiert, das heißt aktiv Erinnerung bildenden Kleinkindes zurückgeworfen, aber doch in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt mehr erleidend und erlebend als aktiv erfahrend. Wichtig ist

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in diesem Zusammenhang, dass Shay glaubt, diese Konstellation sei spätestens seit den Schilderungen der Ereignisse um Achill in Homers »Ilias« immer wieder in der Geschichte des Krieges (aber auch der Familie) aufgetreten und habe die entsprechenden Folgen in einem posttraumatischen Stress-Syndrom gezeitigt. Allen Young bestreitet in seinem Buch »The Harmony of Illusions. Inventing Post-Traumatic Stress Disorder« genau diese überhistorische Existenz des posttraumatischen Stress-Syndroms und betont auf unterschiedlichen Ebenen die Relativität der traumatisierenden Konstellation und des ihr eventuell folgenden Syndroms. Allen hebt erstens hervor, dass Vergewaltigungen und Erschießungen von Zivilisten nur dort für Soldaten der US-Armee in Vietnam traumatisierend waren, wo diese Handlungen nicht zum Repertoire dessen gehörten, was »man gewöhnlich« in dieser Einheit tat. Das Gewaltverhalten habe von Einheit zu Einheit variiert. Nun variieren die moralischen und sozialen Konventionen nicht nur innerhalb einer Armee von Einheit zu Einheit, sondern vor allem kulturell und historisch. Schon auf der Grundlage dieser Beobachtung ist schwer zu sagen, ob Achill in Homers »Ilias», nachdem er von Agamemnon betrogen worden ist und den Tod seines Freundes Patroklos erleben musste, zum Berserker im Sinne der später traumatisierten Vietnam-Soldaten wurde. Zweitens behauptet Young, das Erinnerungs- und Selbstkonzept, das im posttraumatischen Stress-Syndrom zur Anwendung komme, sei erst im 19. Jahrhundert erfunden worden. Traumatische Erinnerung ist für Young kein »vorfindbares Objekt«, das in einem Prozess der Entdeckung »gefunden« werden kann, sondern etwas von Menschen »Erfundenes« (Young 1995, S. 141). Vor dieser Erfindung gab es »Unglücklichsein, Verzweiflung und verstörende Erinnerung«, schreibt Young, »aber keine traumatischen Erinnerungen, in dem Sinne wie wir sie heute kennen« (Young 1995, S. 141). Für diese Behauptung stützt sich Young auf Überlegungen von Ian Hacking, der im Anschluss an Michel Foucault in seinem historischen Nominalismus eine ganze Reihe von anthropologischen Kategorisierungen als Konstrukte und nicht als realistisch zu deutende humane Universalien beschrieben hat, unter anderem die so genannte »multiple Persönlichkeit« (vgl. Hacking 1995). Hacking

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geht von der existenzialistischen Voraussetzung aus, dass menschliche Personen nicht allein durch das festgelegt werden, was sie getan haben, gerade tun, unterlassen oder tun werden, sondern auch durch Möglichkeiten, die sie haben. Die Möglichkeiten, die Personen haben, variieren historisch. »Wie bei jeder anderen Weise, in der es möglich ist, eine Person zu sein«, schreibt Hacking beispielsweise, »ebenso ist es auch nur in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten sozialen Umgebung möglich, ein garçon de café zu sein« (Hacking 2002, S. 109). Menschliche Möglichkeiten variieren also einerseits mit den konkreten sozialen Gegebenheiten, aber auch durch die Wandlungen der Beschreibung menschlicher Handlungen und menschlichen Leidens. Diese Beschreibungen unterliegen besonders radikalen Veränderungen. Die Beschreibung menschlichen Erlebens und Leidens durch ein Diagnose-Manual eröffnet Menschen ebenfalls Möglichkeiten, das, was ihnen zustößt, zu interpretieren. Das gilt nach Young auch für das posttraumatische Stress-Syndrom. Es gibt nach Young den »typischen Fall« eines Vietnam-Veterans, der nie in Kampfhandlungen verwickelt war, aber eine gewisse Therapiegeschichte auf Grund seiner psychischen Probleme hinter sich hat und in eine Veteranen-Selbsthilfegruppe geht. In dieser Gruppe erwirbt er Gewohnheiten von traumatisierten Veteranen und schließlich seine eigene Traumatisierungsgeschichte und entsprechende Symptome. Er wird dadurch, schreibt Young, fähig, seine Enttäuschung und Fehler als Soldat umzudeuten, und erhält Zugang zu einem Behandlungsprogramm, in dem er seine Phantasien über das Leben eines Soldaten an der Front ausleben kann (vgl. Young 1995, S. 136). Solche Fälle können vermutlich nicht vollständig analogisiert werden mit eingebildetem kindlichen Missbrauch oder auch mit erfundenen Eisenbahn- und Bombardierungs-Traumata zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Erschleichung einer Entschädigung. Denn der Grad der Bewusstheit, mit dem eine Traumatisierung fingiert wird, mag in verschiedenen Fällen stark variieren. Aber jede definierte Krankheit und auch jede Klassifikation psychischer Störungen stellt Menschen ein Möglichkeitsfeld bereit, eine bestimmte Person zu sein. Die Vorstellung, es gebe eine authentische

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Basis des Erlebens, die unabhängig von den begrifflichen Schemata in einer Gesellschaft, einschließlich ihrer medizinischen Kategorisierungen, greifbar wäre, ist eine Illusion. Vielleicht, könnte man heute glauben, helfen Betrachtungen des menschlichen Körpers, der Hirnstruktur, um Traumatisierungen, die auf Erlebnisse zurückgehen, von fingierten oder eingebildeten zu unterscheiden. Versicherungstechnisch vereinfachte das sicher die Angelegenheiten, therapeutisch nicht. Denn man hat es weiterhin mit zwei Formen der Unfähigkeit zu tun, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Weil es sich um zwei unterschiedliche Unfähigkeiten handelt, einmal um die Inkompetenz, aus einem Erlebnis eine Erfahrung zu machen, das andere Mal um die Flucht vor den tatsächlichen existenziellen Schwierigkeiten in der Erzeugung einer Fiktion, dürften sich therapeutisch die Dinge hier eher komplizierter darstellen.

■ Achills Gehirn In der griechischen Antike war die Hybris eine Möglichkeit der religiösen Entwicklung, vielleicht auch der existenziellen Problembewältigung einer Person, nicht aber das Kriegstrauma. Sollen wir sagen, dass die Hybris des Achill eigentlich und in Wirklichkeit ein Kriegstrauma war? Würde es uns helfen, wir erführen etwas über die Hirnstruktur des Achill? Nehmen wir an, wir würden in seinem Hirn eine Struktur finden können, die genau analog der ist, die traumatisierte Vietnam-Veteranen haben. Das ist nicht unwahrscheinlich, denn zweifellos ist Achill, ebenso wie vielen Vietnam-Veteranen, eine schwere Enttäuschung über einen militärischen Vorgesetzten und der Tod eines befreundeten Mitstreiters widerfahren. Aber er konnte in seinem kulturellen Kontext sich selbst als Halbgott und sein Berserkertum als Hybris, als Verlassen der menschlichen Konventionen und Eintritt in den für Menschen oft grausamen und unverständlichen Bereich der Götter deuten. Es war ihm nicht möglich, sich selbst als traumatisiert zu beschreiben. Und umgekehrt stand keinem Vietnam-Veteran die Möglichkeit offen, sich als ein Halbgott zu beschreiben, der der Hybris verfällt. An diesen kulturellen Epochendifferenzen könnte auch eine

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neurologische Diagnose nichts ändern. Das Wissen über den Körper würde hier nicht über die Realität der Traumatisierung entscheiden können. Die neuere Hirnforschung hat jedoch die Tendenz entwickelt, ihre Einsichten in die kausalen Verhältnisse zwischen Umwelt, Leib und Gehirn und ihre Fähigkeit, Hirnstrukturen zu visualisieren, als Wesenserkenntnisse zu deuten. Doch so wenig das Wesen eines Menschen in seiner Schädelform oder den Basentripletts seiner DNS zu erkennen ist, ebenso wenig wird es in seinen Hirnstrukturen sichtbar. Seit Galilei ist in der modernen Wissenschaft die Wesenserkenntnis verpönt. Die Absage an Wesenheiten, vor allem an ein Wesen des Menschen, ist die wichtigste Lehre, die aus der modernen Wissenschaft zu ziehen ist. In den Humanwissenschaften stellt der Rückfall in eine essentialistische Metaphysik jedoch mehr dar als einen Verrat am Geist moderner Naturwissenschaft. Denn vermeintliche Erkenntnisse über das Wesen des Menschen überhaupt sind bisher immer auch der erste Schritt zu Sortierungen und Bewertungen einzelner Menschen und Gruppen gewesen mit den bekannten katastrophalen Folgen. Dass uns Einsichten in das Hirn des Achill keine Auskunft über sein »wahres Wesen« geben würden, liegt auf der Hand. Denn die Beschreibung, die Achill von seinem Zustand gegeben hat oder die Homer über ihn gab und in der Termini wie »Halbgott« und »Hybris« eine wichtige Rolle spielen, behielte ihre Relevanz zur Deutung seiner Affekte und seines Verhaltens, weil sie eine ebensolche soziale oder religiöse Wirklichkeit seiner Zeit war wie der Betrug seines Heerführer, der grausame Tod seines Freundes und seine Hirnstruktur, die eine Achill unbekannte somatische Wirklichkeit seiner Person darstellte. Dass wir heute mit den Termini »Halbgott« und »Hybris« außerhalb von historischen Kontexten nichts mehr anfangen, ändert nichts an der Tatsache, dass sie innerhalb der Innenperspektive des Achill eine Realität sind.5 Young nimmt solche Überlegungen zum Anlass, über das posttraumatische Stress-Syndrom Folgendes zu sagen: »Das Leiden ist wirklich; das Post-Traumatische-Stress-Syndrom ist wirklich. Aber kann man ebenso sagen, dass die Tatsachen, die jetzt mit dem Post-traumatischen Stress Syndrom verbunden werden (zeitlos) wahr sind, ebenso wie 5 Zur Geschichte der Hybris vgl. Fisher (1992) und Ferla (1996).

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sie wirklich sind? Können Fragen über Wahrheit getrennt werden von den sozialen, kognitiven und technologischen Bedingungen, durch die Forscher und Kliniker ihre Fakten und deren Bedeutung als etwas Faktisches kennen lernen? Meine Antwort ist nein. Aber ist das wichtig? Die Aufgabe des Ethnographen ist es, sich an die Wirklichkeit zu halten, ihre Quellen und Genealogien; das sollte ausreichen« (Young 1995, S. 10).

Was versucht Young hier festzustellen? Können Tatsachen etwas anderes sein als wirklich? Sind nicht nur unsere Aussagen über sie wahr oder falsch? Nehmen wir an, das Leiden des Achill war wirklich, so wie das Leiden der Vietnam-Veteranen. Einmal wird es als Hybris beschrieben, das andere Mal als posttraumatisches StressSyndrom. Die alles entscheidende Frage ist dann, was die unterschiedlichen Beschreibungen für eine Auswirkung auf das Leiden, also für die leidenden Menschen selbst in ihrer Innenperspektive haben. Beschreiben wir die Sonne einmal als Gott und einmal als brennendes Gas, so hat diese Beschreibungsdifferenz keine Folge für das, was die Sonne ist. Denn die Sonne hat keine Innenperspektive auf ihre eigene Existenz. Was über die Sonne gesagt wird, stellt für die Sonne selbst keine Möglichkeit der Selbstbeschreibung dar. Alle Wahrheiten über Menschen sind jedoch auch Wirklichkeiten und Möglichkeiten für Menschen, zu denen sie sich verhalten. Je nachdem, wie Menschen von außen beschrieben werden und wie sich selbst beschreiben, ergeht es ihnen anders, weil unterschiedliche Beschreibungen ihrer selbst ihnen unterschiedliche Formen zu existieren geben. Die Möglichkeiten eines Menschen, der sich als religiös Entrückten oder Besessenen versteht, sind andere als die eines Menschen, der sich als krank begreift. Es hat keinen Sinn, die somatischen Wirklichkeiten eines Menschen als Determinanten seiner Existenz gegen die sozialen oder symbolischen auszuspielen, die im Medium von Beschreibungen existieren. Es kann sehr wohl sein, dass differierende Selbstbeschreibungen zu differierenden Hirnstrukturen führen oder dass Personen mit differierenden Hirnstrukturen zu bestimmten Varianten der Selbstbeschreibung neigen. Die Hoffnung, im Somatischen, heute vor allem in Gehirn, ein festes Fundament der Bedingungen menschlicher Existenz zu finden, ist jedoch eine trügerische. Sie ist motiviert durch den Versuch, die Diskrepanzen zwischen dem, was für eine bestimmte Person wahr ist und der Wahrheit für die Wissen-

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schaftsgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit, zugunsten der kollektiv akzeptierten wissenschaftlichen Wahrheit aufzulösen. Doch Wahrheiten, die für eine bestimmte Person existieren, können in einer Theorie des Psychischen gerade nicht eliminiert werden, ohne das Psychische selbst zum Verschwinden zu bringen. Die Bezüge auf körperliche Evidenzen des Psychischen tragen immer diese Gefahr der Elimination der Innenperspektive in sich, weil für Körperstrukturen nie etwas wahr ist, sie nicht als etwas mit einer Innenperspektive thematisiert werden können. So wurde beispielsweise im jüngsten »Manifest« der »führenden Neurowissenschaftler« zwar die Irreduzibilität der Innenperspektive betont, gleichzeitig, im selben Satz, jedoch davon gesprochen, dass es Hirnstrukturen sind, die Phänomenen wie »Mitgefühl« oder »Verliebtsein« »zugrunde liegen«.6 In welchem Sinne die architektonische Metapher des »Zugrunde-Liegens« hier gemeint ist und warum nicht soziale Verhältnisse den Phänomenen des Mitgefühls, Verliebtseins und der moralischen Verantwortung »zugrunde liegen« sollen und dann ihren Ausdruck in Hirnstrukturen finden, bleibt unklar. Der Versuchung, die Innenperspektive von Personen in der Erforschung des Psychischen auch nur um der zeitweiligen Reduktion der Komplexität willen kurzeitig auszublenden, bedeutet, genau die Verwicklungen – phänomenologisch gesprochen – abzuschatten, in denen menschliches Leid und menschliches Glück entsteht. Was für eine praktisch bedeutsame Betrachtung des Psychischen könnte nach einer solchen Elimination noch möglich sein? Beschrieben wir uns ab morgen alle nur noch als Hirne, weil wir die Wahrheiten der Hirnforschung für die wesentliche Wahrheit über uns selbst hielten und begännen wir zu glauben, die Wahrheiten für uns, die nicht mit den wissenschaftlichen übereinstimmen, fallen lassen zu können, so würden wir schlagartig den Bereich der menschlichen Möglichkeiten enorm verringern. Alle 6 »Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zugrunde liegen, so bleibt doch die Eigenständigkeit dieser ›Innenperspektive‹ dennoch erhalten« (Elger et al. 2004, S. 31).

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Wahrheiten, die für Menschen auf der individuell epistemisch bewertenden, der moralischen, der sozialen und vielleicht der religiösen Ebene existierten, würden zweitrangig oder gar verschwinden. Auch für den, der seine Traumatisierung fingiert, ist diese Fiktion eine spezifische Wirklichkeit, die ihm Möglichkeiten eröffnet. Young distanziert sich von dem, was in einer Innenperspektive für eine bestimmte Person wahr ist und dadurch relevant für ihre psychische Entwicklung wird, nicht über die im Wissenschaftskollektiv etablierten Wahrheiten der Hirnforschung, sondern über die Außenperspektive des Ethnographen. Dadurch wird deutlich, dass das Problem der Anerkennung partikularer subjektiver Wahrheiten keines ist, das an eine naturwissenschaftliche »Außensicht« des Menschen gebunden ist. Es tritt ebenso in sozialwissenschaftlichen Betrachtungen wie denen der Ethnologie auf. So richtig Youngs Beobachtungen hinsichtlich der differierenden Kontexte des Entstehens von und des Umgangs mit nicht aus der Erinnerung zu tilgender Gewalt sind, so abwegig ist sein Versuch, das Wirkliche und das Wahre im Bereich des Menschlichen in einer ethnologischen Außenperspektive voneinander trennen zu wollen.

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■ Monika Lück, Daniel Strüber und Gerhard Roth

Neurobiologische und entwicklungspsychologische Grundlagen gewalttätigen Verhaltens

Zur Frage nach den Ursachen gewalttätigen Verhaltens liegen umfangreiche Untersuchungen in den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der (Neuro-)Biologie sowie Physiologie vor, ohne dass die jeweiligen Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse zusammengeführt und zu einem Gesamtbild vereinigt worden wären. Vielmehr herrscht die Meinung vor, man könne das Phänomen Gewalt, auch wenn man es auf individuelle körperliche Gewalt einschränkt, rein sozialwissenschaftlich oder rein psychologisch oder rein biologisch-physiologisch erklären. Dem steht die fundamentale Erkenntnis gegenüber, dass bei individueller körperlicher Gewalt genetische, physiologische, entwicklungs- und persönlichkeitspsychologische und soziale Faktoren ineinander greifen. Dies soll im Folgenden in der gebotenen Kürze dargestellt werden.

■ Schwangerschaft und Geburt Die starke Betonung der Umwelt des Kindes und der Jugendlichen hat in der Forschung lange die Frage nach der Bedeutung von Komplikationen während der Schwangerschaft und bei der Geburt zurückgedrängt. Welche Rolle diese Komplikationen bei der Ausprägung von Verhaltensstörungen spielen können, wird aber deutlich, wenn man berücksichtigt, dass wichtige Schritte der Gehirnentwicklung schon sehr früh in der Schwangerschaft stattfinden. Der während der Schwangerschaft ablaufende Prozess der neuronalen Entwicklung ist sehr umfangreich; entsprechend ist der Em-

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bryo schon in den frühen Schwangerschaftsmonaten anfällig für Störungen aus der Umwelt. Medizinische Komplikationen, emotionale Belastungen der Mutter, Nikotin- und Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft und andere Stressfaktoren wirken sich auf die neuronale Entwicklung des Fötus aus (Monk 2001). So fanden sich in verschiedenen Untersuchungen Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeit und Impulsivität der Säuglinge durch Nikotinmissbrauch der Mütter, und für den weiteren Entwicklungsverlauf ergaben sich Zusammenhänge mit externalisierenden Verhaltensstörungen (Brennan et al. 1999; Wakschlag et al. 1997). Jedoch fällt dieser Zusammenhang deutlicher bei männlichen Babys aus, was die Allgemeingültigkeit der Aussagen nach bisherigem Kenntnisstand einschränkt. Räsänen und Mitarbeiter (1999) fanden, dass bei Jungen das Rauchen der Mütter in der Schwangerschaft das Risiko erhöht, später gewalttätiges delinquentes Verhalten zu zeigen. Allerdings konnten Maughan und Mitarbeiter in der Stichprobe der Environmental Risk Longitudinal Twin Study zeigen, dass Nikotinmissbrauch in der Schwangerschaft häufig mit anderen Risikofaktoren wie antisozialem Verhalten der Eltern, niedrigem sozioökonomischen Status und einer erhöhten Auftrittsrate von Depression korreliert (Maughan et al. 2004). Die Autoren konnten keinen Effekt von Rauchen in der Schwangerschaft auf den Grad an Störungen des Sozialverhaltens bei fünf- und siebenjährigen Kindern finden, wenn die Effekte für die anderen Variablen kontrolliert wurden. Aufgrund dieser Befunde müssen die Ergebnisse der Studie von Räsänen und Mitarbeitern mit Vorsicht betrachtet werden. Die Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht et al. 2000b) gibt ebenfalls Aufschluss über die Folgen prä- und perinataler Belastungen. Die Autoren (Laucht et al. 2000a, 2002) konnten für Kinder mit prä- und perinatalen Auffälligkeiten (z. B. medizinische Komplikationen während der Schwangerschaft, der Geburtsphase und der Neonatalzeit) im Alter von elf Jahren ein erhöhtes Risiko für kognitive und motorische Entwicklungsdefizite feststellen. Sie beobachteten allerdings keine Auffälligkeiten hinsichtlich des Sozialverhaltens. Huizink und Mitarbeiter (2003) untersuchten den Einfluss von Stress in der Schwangerschaft auf die Entwicklung des Kindes und fanden hingegen im Alter von acht Monaten sowohl

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motorische als auch mentale Entwicklungsverzögerungen. Als besonders kritisch für späteres gewalttätiges Verhalten konnten Raine und Mitarbeiter (1997) ein Zusammentreffen von pränatalen Störungen und Geburtskomplikationen mit ablehnendem mütterlichen Verhalten beobachten. Zweifellos sind weitere Untersuchungen mit methodisch weiterentwickelten Verfahren notwendig, um den Zusammenhang zwischen pränatalen Risikofaktoren und späterem aggressiven Verhalten des Kindes eindeutig zu klären. Was das methodische Vorgehen betrifft, so müssen laut Kofman (2002) bei der Untersuchung pränataler Einflüsse auf die spätere Entwicklung des Kindes die Belastungen der Mutter genauer untersucht werden. Menschen werden durch Ereignisse wie Scheidung oder Tod eines Familienangehörigen unterschiedlich stark belastet. Deshalb sollte die Messung mütterlicher Belastung wie auch die Messung des Verhaltens der Kinder mit möglichst unterschiedlichen Methoden erfolgen und sowohl eine subjektive Einschätzung der Mütter als auch eine objektive Erfassung der Ereignisse einschließen. Außerdem unterscheiden einige Studien nicht zwischen den einzelnen Schwangerschaftsstadien. Es ist also notwendig, kontrollierte Untersuchungen über die Auswirkungen von Stressoren während der unterschiedlichen Phasen der Embryonal- beziehungsweise Fötalentwicklung durchzuführen. Tremblay und Mitarbeiter (2001) konnten nachweisen, dass das Alter der Mutter bei der Geburt ihres ersten Kindes einen wichtigen Risikofaktor darstellt. Die Autoren beobachteten bei Kindern von Teenager-Müttern ein erhöhtes Risiko für aggressives Verhalten, verglichen mit Kindern von Müttern, die ihr erstes Kind erst nach ihrem 20. Geburtstag zur Welt gebracht hatten. Faktoren wie mangelnde psychische Reife, schlechte Schulausbildung und defizitäre Erziehungskompetenz der Mütter – was sich in einem zu strengen oder inkonsistenten Umgang mit ihren Kindern, Schwierigkeiten im sozialen Umfeld, die unter Umständen durch die frühe Geburt verursacht werden, und ähnlichem widerspiegelt – spielen dabei allerdings eine größere Rolle als das körperliche Alter der Frauen.

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■ Frühe Interaktion, Erziehungsverhalten und familiäre Situation Familiäre Belastungen wie der Zerfall der Familie, Delinquenz des Vaters, fortgesetzte Streitereien innerhalb der Familie und psychische Auffälligkeiten der Eltern haben einen Einfluss auf die Entstehung von externalisierenden Verhaltensstörungen im Jugendalter (Laucht et al. 2000a). Wie schon im letzten Abschnitt angedeutet, scheint dabei den frühen Interaktionen zwischen Kind und Bezugspersonen ein großes Gewicht zuzukommen. Zentral ist hier die Bindungsqualität der Kinder zu ihren Bezugspersonen. Unter Bindung versteht man dabei »… die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen. Sie ist in den Emotionen verankert und verbindet das Individuum mit anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg« (zitiert nach Grossmann u. Grossmann 2004, S. 29). Das Bindungssystem wird vor allem dann aktiviert, wenn sich ein Individuum bedroht fühlt oder verunsichert ist und wenn es diese Situation nicht aus eigenem Vermögen zu bewältigen vermag (Köhler 2002). Die Bindung wird vom Kind und seinen Bezugspersonen bestimmt und kann unterschiedliche Qualitäten annehmen. Mithilfe diagnostischer Verfahren können zunächst drei Bindungsstile unterschieden werden, nämlich das unsicher-vermeidende Bindungsmuster (A), das sichere Bindungsmuster (B) und das unsicher-ambivalente Bindungsmuster (C). Kinder mit einem sicheren Bindungsmuster zeigen bei Belastung eine aktive Suche nach Nähe. In der »fremden Situation« spiegelt sich dies in einem starken Drängen nach Nähe und Kontakt zur Bindungsperson nach deren Rückkehr in den Raum. Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster lenken sich bei Belastung eher ab und wenden sich dem Spielzeug zu. Solche Kinder ignorieren ihre Bezugsperson, wenn diese in den Raum zurückkehrt. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder geraten in Panik, wenn sie Belastungen ausgesetzt sind. Bei Rückkehr der Bezugsperson in den Raum reagieren sie mit verzweifeltem Drängen zur Bezugsperson, oder sie sind hilflos und passiv und zu keiner anderen Äußerung als Weinen fähig.

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Man spricht bei diesen drei Bindungsmustern auch von organisierten Bindungsstrategien. Diese Kinder haben durch die frühe Interaktion mit ihren Bezugspersonen eine für sie passende Strategie entwickelt, um mit Verunsicherung umzugehen. Im Hinblick auf die Entstehung oder Aufrechterhaltung von aggressivem Verhalten scheinen hingegen die so genannten desorganisierten Bindungsstrategien (D) eine wichtige Rolle zu spielen. Desorganisierte Bindung kann auf der Basis aller drei Formen entstehen, also des A-, des Bwie auch des C-Bindungsstils. Wenn die Bindung zwischen Kind und Bezugspersonen noch stärker gestört ist, spricht man von klinisch diagnostizierbaren Bindungsstörungen (Zimmermann 2002). Papousek (2004) zufolge findet sich eine deutliche Verbindung zu aggressivem Verhalten vor allem bei den Kindern, die nach der Klassifikation von Bindungsstörungen nach Zeanah (2000) eine Störung der Sicherheitsbasis (Secure Base Distortions) in Verbindung mit selbstgefährdendem Verhalten aufweisen. Sie haben eine tiefgreifende Störung der emotionalen Sicherheit. Ihr Verhalten ist durch ein Explorations- und Erkundungsverhalten in unbekannten Situationen ohne Rückversicherung charakterisiert. Die Kinder sind umtriebig und ruhelos und zeigen vor allem in Gegenwart der Bindungsperson aggressives oder autoaggressives Verhalten beim Suchen nach Nähe sowie provokatives Verhalten, um Aufmerksamkeit und Schutz der sonst unverfügbaren Bindungsperson zu gewinnen. Trotz des gestörten Bindungsverhaltens haben sie aber eine klare Vorliebe für die Bezugsperson. Auffällig ist allerdings, dass die Suche nach Nähe häufig mit Ärger durchsetzt ist. Auch bei geringer Frustration kommt es bei diesen Kindern zu schweren und anhaltenden Wutanfällen. Solche hochproblematischen Interaktionsmuster häufen sich in Familien mit Gewalterfahrung, körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, inkonsistentem Grenzensetzen kombiniert mit extremer Straftendenz, Misshandlung und inkonsistenter Betreuung (Zeanah et al. 2000). In Bezug auf Bindungsstörungen als Risikofaktor für externalisierende Verhaltensstörungen stellt sich die Frage, inwieweit das kindliche Temperament Einfluss auf die Interaktion nimmt. So weisen vor allem solche Kinder externalisierende Verhaltensstörungen auf, die sich eher impulsiv verhalten und unsicher gebunden sind

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(Burgess et al. 2003; Constantino 1995). Auch das Fehlen einer liebevollen Interaktion im frühen Säuglingsalter und eine verminderte mütterliche Verhaltensflexibilität gegenüber negativen Stimmungen des Säuglings korrelieren mit vermehrten externalisierenden Störungen im Schulalter (Laucht et al. 2000a). Ebenso wie das kindliche Temperament spielen andere Faktoren, darunter das Temperament der Mutter und die Qualität der Paarbeziehung der Eltern, in die Ausgestaltung der frühen Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson hinein. Papousek und Mitarbeiter (2004) fanden bei den von ihnen im Kinderzentrum München untersuchten Kindern mit Regulationsstörungen im Alter zwischen zwei und vier Jahren einen Anteil von rund 18 Prozent aggressiv-oppositioneller Kinder. Aufgeteilt nach Altersgruppen stellten sie einen Anstieg dieses Verhaltens von rund drei Prozent im zweiten Lebensjahr auf rund 46 Prozent im dritten Lebensjahr fest. Die Mütter dieser Kinder unterschieden sich in wichtigen Temperamentsmaßen von den Müttern anderer regulationsgestörter Kinder. So zeigten sich extrem stark ausgeprägte Werte im Fragebogen zu Einstellungen von Müttern zu Kindern im Kleinstkindalter (EMKK) von Engfer (1986) für die Merkmale »Chronische Überforderung«, »Depressivität«, »Ängstliche Überfürsorge«, »Frustration« und »Straftendenz«. Außerdem fanden sich massive Störungen der Mutter-Kind-Beziehung, bei den Müttern eine überdurchschnittlich große Erfahrung mit Gewalt und intergenerationalen Konflikten sowie eine erhöhte Zahl von Paarkonflikten, die direkt vor dem Kind ausgetragen wurden. Dies alles deutet darauf hin, dass bei diesen Kindern eine massive Belastung der frühkindlichen Interaktionen vorliegt, ausgelöst sowohl durch ein erhöhtes Maß von schweren psychischen Belastungen der Mütter als auch durch erhebliche Störungen in den elterlichen Beziehungen. Tremblay und Mitarbeiter (2004) stellten in ihrer Längsschnittstudie für »normale« Jungen ein Maximum des physisch aggressiven Verhaltens mit zwei Jahren und eine allmähliche Reduktion dieser Verhaltensweise bis zum elften Lebensjahr fest. Nach Meinung der Autoren wird im Normalfall, das heißt ohne Störung frühkindlicher Interaktionen, frühes aggressives Verhalten mit der Zeit zunehmend gehemmt und durch alternative Verhaltensmus-

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ter ersetzt. Eine Störung frühkindlicher Interaktionen kann hingegen zur Persistenz des aggressiven Verhaltens beitragen. So beobachteten Haapasalo und Tremblay (1994) für Jungen im Vorschulalter, dass das Fehlen von elterlicher Aufmerksamkeit und Aufsicht häufig mit einer Zunahme von Aggression und Delinquenz im Schulalter einhergeht. Zusammengefasst zeigt sich, dass die Unfähigkeit der Eltern, die Gefühle ihres Kindes zu erkennen und sie aufzufangen, große Strenge, inkonsistente Bestrafung, sexueller und körperlicher Missbrauch und Geringschätzung erhebliche Risikofaktoren für die Entstehung von aggressivem Verhalten darstellen. Dies gilt vor allem dann, wenn man diese Faktoren vor dem Hintergrund der Entstehung von sich selbst stabilisierenden negativen Kreisläufen und deren Einfluss auf die emotionale Entwicklung des Kindes betrachtet. Demgegenüber stellen Faktoren wie elterliches Engagement, Aufmerksamkeit, emotionale Wärme und ein Interesse am Kind Schutzfaktoren dar, durch die Eltern in die Lage versetzt werden, kindliche Risikofaktoren, wie zum Beispiel mangelnde Selbstregulationsfähigkeit, aufzufangen und die positive Emotionsentwicklung ihres Kindes zu fördern.

■ Sozial-emotionale und kognitive Faktoren beim Kind Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson haben große Bedeutung für die kindliche Emotionsentwicklung. Im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten berichten Moffitt und Caspi (2001) für die Gruppe der Life Course Persisters, also diejenigen Kinder und Jugendlichen, deren antisoziales Verhalten früh einsetzt und über die gesamte Lebensspanne persistiert, ein vermehrtes Auftreten emotionaler Risikofaktoren wie Hyperaktivität und schwieriges Temperament. Letzteres ist durch eine hohe Irritierbarkeit, häufige Wutanfälle, geringe Verhaltensflexibilität und eine ärgerlich-gereizte Grundstimmung des Kindes gekennzeichnet. Darüber hinaus zeigen sich auch Defizite in neurokognitiven

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Faktoren wie verbalem Intelligenzquotient, Gedächtnisleistung und Aufmerksamkeit. Die Rolle des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) als möglichem Risikofaktor für antisoziales Verhalten ist noch nicht eindeutig geklärt. Vorliegende Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ADHS nur dann mit antisozialem Verhalten korreliert, wenn es in Verbindung mit oppositionellem Trotzverhalten (häufig aufsässiges, streitsüchtiges und feindseliges Verhalten) auftritt (Lahey et al. 2000). Möglicherweise ist die Diagnose ADHS bislang zu ungenau, um eindeutige Aussagen über Zusammenhänge mit antisozialem Verhalten zu erlauben. In weiteren Studien (Eisenberg et al. 2000; Schmeck u. Poustka 2001) wird hervorgehoben, wie bedeutsam die Kombination verschiedener emotionaler Defizite (beispielsweise eines schwierigen Temperaments mit leichter Erregbarkeit und oppositionellem Verhalten) als Risikofaktor für externalisierende Verhaltensstörungen ist. Es ist aber klar, dass die Entstehung aggressiven Verhaltens nicht allein durch emotionale Defizite erklärt werden kann. Die Vermutung, das Kind werde später ein ausgeprägt aggressives Verhalten an den Tag legen, erhält zusätzliche Nahrung, wenn emotionale Defizite beim Kind mit überharten oder inkonsistenten Erziehungsmaßnahmen der Eltern zusammentreffen (Maziade et al. 1990; Trautmann-Villalba et al. 2001).

■ Defizite in der Verarbeitung sozialer Signale Für das Auftreten aggressiven Verhaltens spielt die Verarbeitung sozialer Informationen offenbar eine große Rolle. Bei aggressiven Kindern ließen sich durchweg Defizite in der sozialen Wahrnehmung finden, vor allem ein Mangel an Empathiefähigkeit (Carlo et al. 1999) sowie eine verzerrte soziale Wahrnehmung der Intentionen ihres Interaktionspartners, bis zu dem Punkt, ihnen feindselige Absichten zu unterstellen, die tatsächlich nicht vorhanden waren (Dodge et al. 2003; Lemerise u. Arsenio 2000). Dodge und Mitarbeiter (2003) untersuchten bei 259 Kindern die Frage, wie gut diese soziale Informationen wahrnehmen und interpretieren

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konnten und wie sie in entsprechenden Situationen reagieren. Den Kindern wurden zu diesem Zweck zwölf unterschiedliche Szenarien dargeboten. Dabei zeigte sich: Kinder mit aggressivem Verhalten sind unfähig, der jeweiligen sozialen Situation wichtige Informationen zu entnehmen. Sie interpretieren eine uneindeutige Situation signifikant häufiger als Angriff und zeigen eine deutlich höhere Neigung, in einer solchen Situation mit aggressivem Verhalten zu reagieren, als Kinder ohne aggressive Verhaltenstendenzen. MacBrayer und Mitarbeiter (2003) untersuchten aggressive Kinder und deren Mütter und konnten die Ergebnisse anderer Untersuchungen mit aggressiven Kindern replizieren. Auch die von ihnen untersuchten Kinder schätzten die von ihnen nicht klar erkennbaren Situationen als bedrohlich ein. Die Mütter der aggressiven Kinder zeigten allerdings ebenfalls diese Neigung. Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Dodge (1995) fanden einen Zusammenhang zwischen physischer Misshandlung des Kindes und Defiziten in seiner sozialen Wahrnehmung. Diese Befunde deuten darauf hin, dass negative Interaktionserfahrungen des Kindes mit seinen Bezugspersonen erhebliche Auswirkungen auf das Entstehen aggressiven Verhaltens haben. Dies schlägt sich in einer fehlgeleiteten, das heißt zu negativen Interpretation sozialer Situationen sowie in unangepassten, das heißt aggressiven Handlungen nieder.

■ Neurobiologische Faktoren während der kindlichen Entwicklung Das letzte Schwangerschaftsdrittel und die postnatale Periode bis zum vierten, fünften oder sechsten Lebensjahr gilt beim Menschen als die Lebensphase mit der höchsten Hirnwachstumsgeschwindigkeit (Braus 2004). Das Kind verfügt in dieser Zeit über den stärksten Grad an Vernetzungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns, der rund dreimal höher ist als beim Erwachsenen. In der weiteren Hirnentwicklung wird das Gehirn in einigen Bereichen mithilfe von »Pruning«, das heißt durch einen Abbau synaptischer Verbindungen, verändert. Dieser Prozess dauert vor allem in sol-

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chen Hirnbereichen, die wie der präfrontale und orbitofrontale Kortex mit moralischem und sozialem Handeln in Verbindung gebracht werden, bis nach der Pubertät fort. Die Plastizität des kindlichen Gehirns dient unter anderem dazu, dass sich ein Individuum an seine soziale Umwelt anpasst. Die Hirnentwicklung wird neben genetischen Faktoren durch Erfahrungen bestimmt (für eine ausführlichere Darstellung vgl. Cicchetti 2002) und wird dadurch vulnerabel gegenüber negativen Umwelteinflüssen. Teicher und Mitarbeiter (2002, 2003) versuchten diejenigen Hirnregionen zu bestimmen, die auf Stress in der Kindheit besonders empfindlich reagieren, sei es, weil sie sich postnatal weiterentwickeln, sei es, weil sie über eine hohe Konzentration von Glukokortikoid-Rezeptoren verfügen und deshalb besonders in die kortisol-vermittelte Stress-Antwort eingebunden sind, oder sei es, weil in ihnen in einem gewissen Umfang postnatale Neurogenese (das heißt das Entstehen neuer Neurone) stattfindet. Besonders vulnerabel sind nach Teicher der Hippokampus, die Amygdala und der präfrontale Kortex. Dies sind Strukturen, die bei aggressiven Erwachsenen im Vergleich zu nicht-aggressiven Erwachsenen deutliche Auffälligkeiten aufweisen. In den bisherigen Längsschnittstudien wurden selten neuroanatomische oder neurophysiologische Parameter erhoben, was vor allem an der Schwierigkeit der Methodik und den ethischen Grenzen liegt, die der Forschung an Kindern gesetzt sind. In der Vergangenheit waren hirnanatomische Untersuchungen bei Kindern meist nur möglich, wenn sie eine klinische Relevanz hatten. Dies hatte zur Folge, dass die Mehrzahl der neuroanatomischen Studien mit psychisch oder physisch kranken Kindern durchgeführt wurde, es aber kaum gesunde Kontrollgruppen gab, was die Aussagekraft der Ergebnisse stark einschränkt. Eine Studie von Sterzer und Mitarbeitern (2005) fand bei Kindern zwischen neun und fünfzehn Jahren, die eine Störung des Sozialverhaltens (Sass et al. 1996) und aggressives Verhalten aufwiesen, deutliche Defizite bei der Verarbeitung negativer Reize. Bei diesen Kindern war – verglichen mit Kontrollkindern gleichen Alters – die linke Amygdala schwächer aktiviert. Dies ist interessant, da viele bildgebenden Studien der linken Amygdala eine besondere Rolle bei der Verarbeitung positiver Reize zusprechen.

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Einen relativ stabilen Befund zum Zusammenhang zwischen psychophysiologischen Maßen und antisozialem Verhalten berichten Raine und seine Mitarbeiter (1997). Sie fanden bei Jungen einen Zusammenhang zwischen (gegenüber Kontrollgruppen) erniedrigter Herzfrequenz, geringerem hautelektrischen Widerstand und zukünftigem antisozialen Verhalten. Der Ansatz, längsschnittliche Verhaltensmaße und neurophysiologische Maße zu kombinieren, wird zurzeit in der bereits erwähnten Mannheimer Risikokinderstudie verfolgt. Hier wurde mit acht, elf und 14 Jahren das externalisierende Verhalten von 87 Kindern (36 Jungen, 49 Mädchen) erfasst; im Alter von 14 Jahren wurden zusätzlich die Plasmaspiegel des Sexualhormons Testosteron und seiner aktiven Form 5α-Dihydro-Testosteron (DHT) bestimmt. Ein hoher Testosteronspiegel wird seit längerem mit erhöhter Aggression und Gewaltbereitschaft in Verbindung gebracht. Bei Jungen bestand eine positive Korrelation zwischen den Spiegeln von Testosteron und DHT einerseits und externalisierendem Verhalten andererseits. Bei Mädchen zeigte sich hingegen kein derartiger Zusammenhang. Die höchsten Werte von Testosteron und DHT wiesen Jungen auf, die über die drei Messzeitpunkte hinweg durch ein verstärktes externalisierendes Verhalten aufgefallen waren (Maras et al. 2003a; Maras et al. 2003b). Die Rolle von Serotonin bei aggressivem Verhalten wird in der Literatur über Erwachsene stark diskutiert (siehe unten); ein niedriger Serotoninspiegel korreliert bei männlichen Erwachsenen deutlich mit einer erhöhten Aggressivität. Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) gehört zu den vornehmlich hemmenden Neurotransmittern. Seine Wirkung ist jedoch »modulatorisch«, das heißt Serotonin beeinflusst – ebenso wie Dopamin, Noradrenalin und Azetylcholin – im Gehirn die Wirkung der »schnellen« Neurotransmitter Glutamat, Glyzin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Insofern besteht die primäre Funktion des SerotoninSystems sowohl in der Begrenzung als auch in der Stabilisierung des Informationsflusses, sodass ein Organismus in der Lage ist, auf veränderte Umweltbedingungen mit kontrolliertem kognitiven und affektiven Verhalten zu antworten. Entsprechend kann ein Defekt in diesem System zu unkontrolliertem und überschießendem Verhalten führen und sich zum Beispiel in Form von über-

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steigerter Aggression, Suizid oder Alkoholismus äußern (Berman et al. 1997). Für klare Aussagen über den Zusammenhang zwischen Serotonin und Aggression bei Kindern fehlt allerdings bisher eine eindeutige Datenbasis. In letzter Zeit werden jedoch verstärkt Versuche unternommen, solche Zusammenhänge auch in der Kindheit aufzudecken. Halperin und Mitarbeiter (2003) untersuchten den Zusammenhang zwischen Serotonin-Stoffwechsel, Aggressivität der Kinder und dem Auftreten von aggressiven oder antisozialen Verhaltensstörungen in der Familie. Als Maß für die Serotonin-Funktion verwendeten sie einen Test, der die Prolaktin-Antwort auf die Gabe von dl-Fenfluramin ermittelt (dl-Fenfluramin löst die Ausschüttung von Serotonin aus, blockiert gleichzeitig dessen Wiederaufnahme im synaptischen Spalt und stimuliert direkt und indirekt postsynaptisch die Serotonin-Rezeptoren). Der erhöhte Serotonin-Spiegel bewirkt eine Steigerung des Prolaktin-Spiegels im Plasma. Die Autoren fanden bei aggressiven Kindern eine Korrelation zwischen niedriger Prolaktin-Antwort und gehäuften aggressiven oder antisozialen Verhaltensweisen in der Verwandtschaft ersten beziehungsweise zweiten Grades. Dies bestätigt die bereits erwähnten Befunde an männlichen Erwachsenen. Des Weiteren liegen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten bei Kindern und deren KortisolSpiegel vor. Dieser Vorgang stellt eine neurohormonale Reaktion des Organismus auf Stress dar. Die Kortisol-Ausschüttung aufgrund von Stress wird im Rahmen von Tests durch eine Messung des Kortisols im Verlauf von standardisierten, das heißt für alle Probanden gleichen Stress-auslösenden Bedingungen ermittelt. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen verweisen auf einen Zusammenhang zwischen erhöhtem externalisierenden Verhalten einerseits und relativ niedrigen Ruhe-Kortisolwerten, jedoch erhöhter Kortisol-Ausschüttung aufgrund von Stress andererseits. Die Datenlage zum – relativ gesehen – niedrigeren Ruhe-Kortisolspiegel bei aggressiven im Vergleich zu nicht-aggressiven Kindern ist allerdings nicht eindeutig (für einen Überblick vgl. Connor 2002, S. 199f.). Hohe Kortisol-Antworten auf Stress bei

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Kindern werden in verschiedenen Untersuchungen mit unsicherer Bindung (Spangler et al. 2002), frühkindlicher Misshandlung und mütterlicher sozial-emotionaler Nichtverfügbarkeit (Bugental et al. 2003) in Verbindung gebracht. Die genannten Befunde zeigen, dass sich frühkindliche Interaktionen in neurophysiologischen Entwicklungsmerkmalen der Kinder niederschlagen können. Dabei geht es vor allem um eine Störung des Testosteron-, Serotonin- und Kortisol-Haushalts. Daraus lässt sich schließen, dass der für Erwachsene charakteristische enge Zusammenhang zwischen neurophysiologischen Störungen und aggressivem Verhalten bereits im Kindesalter angelegt ist. Die Entwicklung von neurobiologischen Störungen und Verhaltensstörungen geht hierbei Hand in Hand.

■ Neurobiologische Faktoren der Gewaltkriminalität bei Erwachsenen Bei kaum einer menschlichen Verhaltensweise scheinen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern so deutlich zu sein wie bei Aggression in ihrer schädlichsten Ausformung, der Gewalt. Das Ausmaß dieser Unterschiede lässt sich leicht an Kriminalstatistiken ablesen, die übereinstimmend zeigen, dass Gewaltdelikte überwiegend von männlichen Jugendlichen und jungen Männern begangen werden. Nach Angaben des »Statistischen Jahrbuchs 1999 für die Bundesrepublik Deutschland« (Statistisches Bundesamt 1999) waren unter den im Jahr 1997 wegen Gewaltdelikten Verurteilten 658.943 Männer und 121.587 Frauen. Noch dramatischer ist der Unterschied bei schweren Gewaltdelikten: Im Jahr 1997 wurden wegen Mordes und Totschlags 734 Männer und 70 Frauen verurteilt, wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung 16338 Männer und 1255 Frauen, wegen Vergewaltigung 1002 Männer und sieben Frauen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern 2179 Männer und 28 Frauen. Ähnliche Größenordnungen gelten auch für andere westeuropäische Länder und die USA. Neurobiologische Ansätze zur Erklärung antisozialen und gewalttätigen Verhaltens haben Befunde hervorgebracht, die Störun-

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gen der Funktionen des präfrontalen Kortex in den Vordergrund rücken. Auf eine Beteiligung des orbitofrontalen Kortex deutet eine Reihe von Läsionsstudien hin. Personen, die durch einen Unfall oder eine Verletzung Schädigungen des orbitofrontalen Kortex erlitten haben, zeigen charakteristische Verhaltensauffälligkeiten, die den antisozialen Verhaltensweisen von Psychopathen in vielen Aspekten sehr ähnlich sind: Ihr Verhalten ist enthemmt, sozial unangemessen und impulsiv. Sie interpretieren die Stimmungen anderer falsch, überschauen die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht, sind verantwortungslos, ihnen fehlt die Einsicht in ihre Verhaltensprobleme, sie haben wenig Eigeninitiative und zeigen emotionale Defizite (Hornak et al. 2003; Rolls et al. 1994; Rolls u. Kischka 2004). Das soziale und emotionale Verhalten dieser Patienten ist also schwer gestört, und es liegt eine Vielzahl von Symptomen vor, die bei der Diagnose einer »Antisozialen Persönlichkeitsstörung« zum Tragen kommen. In einer Studie von Raine und Mitarbeitern (2000) wurden mittels Kernspintomographie die Gehirne von 21 Männern vermessen, nachdem diese in Übereinstimmung mit DSM-IV-Kriterien die Diagnose »Antisoziale Persönlichkeitsstörung« erhalten hatten. Die Autoren fanden, dass Personen mit Antisozialer Persönlichkeitsstörung im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe ein um elf Prozent reduziertes Volumen der grauen Substanz des präfrontalen Kortex aufwiesen. Damit stellt diese Arbeit von Raine und Mitarbeitern den ersten und bisher einzigen Hinweis darauf dar, dass gewalttätige Personen mit einer diagnostizierten Antisozialen Persönlichkeitsstörung und psychopathie-ähnlichem Verhalten strukturelle Veränderungen im präfrontalen Kortex zeigen, die nicht auf eine klar abgrenzbare Hirnverletzung aufgrund einer Verletzung zurückzuführen sind, sondern möglicherweise eine frühkindlich eingeleitete neuronale »Fehlentwicklung« darstellen. In einer anderen Reihe von Untersuchungen führte die Arbeitsgruppe um Adrian Raine PET-Untersuchungen an zunächst 22 und später sogar 41 verurteilten Mördern durch, die sich im Grad der Impulsivität, mit der sie die Tat begangen haben, unterschieden. Die erste dieser durchgeführten Studien ergab, dass bei impulsiven Mördern gegenüber Kontrollpersonen der präfrontale

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Kortex schwächer aktiviert ist, während sie eine Aufgabe durchführen, die ständige Aufmerksamkeit erfordert (Raine et al. 1994). In einer weiteren Untersuchung (Raine et al. 1998) wurden aus dieser Stichprobe gezielt einerseits diejenigen Mörder herausgesucht, die besonders impulsiv und mit einem hohen Maß an Emotion getötet hatten, und andererseits diejenigen, die den Mord geplant und besonders »kaltblütig« ausgeführt hatten. Für die impulsiven Mörder bestätigte sich zum einen die geringere Frontalhirnaktivierung gegenüber gesunden Kontrollpersonen. Zum anderen zeigte sich in subkortikalen Strukturen der rechten Gehirnhälfte (einschließlich der Amygdala) eine Aktivitätserhöhung. Im Gegensatz dazu konnte für die planvollen und »kaltblütigen« Mörder keine Reduktion der präfrontalen Hirnaktivität gefunden werden, wenn man sie mit gesunden Personen verglich. Allerdings zeigte sich auch bei dieser Gruppe von Mördern eine deutlich erhöhte subkortikale Aktivität. Raine und Mitarbeiter interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass impulsive Mörder aufgrund ihrer defizitären präfrontalen Funktionen schlechter als »Normale« in der Lage sind, aggressive Impulse aus subkortikalen Gehirnbereichen zu regulieren und zu unterdrücken. Den planvollen, nicht-impulsiven Mördern gelingt das hingegen besser als den impulsiven Mördern, da ihr präfrontaler Kortex weitgehend intakt ist. Demnach besteht ein Unterschied in den neuronalen Korrelaten zwischen impulsiver und planvoller Gewalttätigkeit. Weiterhin bestehen Hinweise auf eine Beteiligung limbischer Regionen, die für die emotionale Verarbeitung wichtig sind, insbesondere der Amygdala, an gewalttätigem Verhalten. Mittels funktioneller Kernspintomographie wurde bei Psychopathen im Rahmen einer Gedächtnisaufgabe die Verarbeitung emotional negativ besetzter Worte (zum Beispiel das Wort »Hass«) im Vergleich zu neutralen Worten (zum Beispiel »Stuhl«) untersucht (Kiehl et al. 2001). Dabei wiesen die Psychopathen in ihrer Reaktion auf die negativen emotionalen Worte gegenüber einer Kontrollgruppe eine verringerte Aktivität subkortikaler Strukturen einschließlich der Amygdala auf. Zusätzlich fand sich allerdings bei den Psychopathen auch eine erhöhte Aktivierung frontaler Regionen, was von den Autoren aufgrund der gleichzeitig auftretenden Unterfunktion der

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Amygdala als kompensatorische Strategie zur Bearbeitung emotionaler Reize interpretiert wurde. In einer anderen Studie wurde allerdings eine erhöhte Amygdala-Aktivität bei Psychopathen im Vergleich zu Gesunden beschrieben (Schneider et al. 2000). Der Regensburger Neurowissenschaftler Jürgen Müller und seine Mitarbeiter untersuchten ebenfalls mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) die Hirnkorrelate emotionaler Verarbeitung bei Psychopathen (Müller et al. 2003). Sie fanden bei negativ emotionalen Bildinhalten eine erhöhte Aktivierung sowohl in orbitalen und dorsolateralen Regionen des präfrontalen Kortex als auch der rechten Amygdala. Die Autoren sehen in ihren Ergebnissen das neurobiologische Korrelat einer gestörten Verschaltung von emotionsregulierenden Gehirnbereichen. Insbesondere scheint die Regulation der Amygdala-Aktivität durch frontale Strukturen betroffen zu sein. Es ist demnach anzunehmen, dass Struktur- und Funktionsdefizite sowohl präfrontaler Hirnareale als auch der Amygdala und vermutlich noch weiterer limbischer Strukturen jeweils zum vielschichtigen Gesamtstörungsbild der Psychopathie beitragen. Dabei ist davon auszugehen, dass präfrontale Kortexbereiche eine hemmende beziehungsweise zügelnde Wirkung auf die Amygdala als Zentrum negativer Emotionen und aggressiver Impulse ausüben. Sind einzelne Strukturen dieses Netzwerks oder ihre Verbindungen untereinander beeinträchtigt, kann dies in gewalttätiges Verhalten münden (Davidson et al. 2000). Aus neuropharmakologischer Perspektive zeigt sich, dass der Neurotransmitter Serotonin eine entscheidende Rolle für die Impulskontrolle spielt und sein Mangel das Zustandekommen gewalttätigen Verhaltens begünstigt. Serotonin moduliert die Funktionen der genannten Hirnstrukturen und ist damit maßgeblich an der »Feinabstimmung« der neuronalen Kommunikation beteiligt. Generell scheint eine Verminderung von Serotonin beziehungsweise seines Abbauprodukts 5-HIAA mit Störungen der Impulskontrolle und impulsiver Gewalt zusammenzuhängen (Linnoila et al. 1983; Placidi et al. 2001). Diese Ergebnisse konnten auch in einer aktuellen Meta-Analyse bestätigt werden (Moore et al. 2002). Ähnliche Befunde zur Serotonin-Funktion finden sich auch bei psychiatrischen Störungen, die generell mit erhöhter Impulsivität einherge-

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hen, wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung, oder einer erhöhten Suizidneigung. Insofern werden Fehlfunktionen des Serotonin-Systems oft mit einer verminderten Impulskontrolle in Verbindung gebracht (Krakowski 2003; Lee u. Coccaro 2001). Ungeklärt bleibt dabei die Frage, wo im Gehirn sich die berichteten Effekte manifestieren. Zu dieser Frage liegen Studien vor, die mittels einer Kombination aus Anregung des serotonergen Systems und Verwendung bildgebender Methoden (Positron-Emissions-Tomographie, PET) verfolgen können, in welchem Bereich des Gehirns besonders viel beziehungsweise wenig Serotonin freigesetzt wird. Diese Arbeiten zeigen übereinstimmend, dass Patienten mit einer Impulskontrollstörung und dadurch bedingten unkontrollierbaren Wut- und Aggressionsausbrüchen eine verringerte serotonerge Aktivität speziell in orbitalen und medialen Bereichen des präfrontalen Kortex aufweisen (New et al. 2002; Siever et al. 1999; Soloff et al. 2000). Die Funktionsweise des Serotonin-Systems hängt zum Teil von der genetischen Ausstattung eines Individuums ab. Für zahlreiche Komponenten des serotonergen Systems werden unterschiedliche Genvarianten beschrieben, die – in Abhängigkeit von sozialen Umweltfaktoren – eine Prädisposition für antisoziales und gewalttätiges Verhalten darstellen können. Genetische Unterschiede wurden auf verschiedenen Regulationsebenen des Serotonin-Systems beschrieben und betreffen (1) zahlreiche Serotonin-Rezeptoren (zum Beispiel 5-HT1A, 5-HT1B), (2) für den Auf- und Abbau von Serotonin zuständige Enzyme (zum Beispiel Tryptophan-Hydroxylase, TPH; Monoamin-Oxidase A, MAOA) sowie (3) den für die Wiederaufnahme des freigesetzten Serotonins verantwortlichen Serotonin-Transporter (5-HTT). Dabei können die Gene, die für die Produktion der genannten Stoffe zuständig sind, in unterschiedlichen Varianten – so genannten Polymorphismen – vorliegen und dadurch die Funktionalität des Serotonin-Systems beeinflussen (Lesch u. Merschdorf 2000). Aus den zuletzt geschilderten Zusammenhängen lässt sich zumindest für Formen impulsiver Gewalt ein neurobiologisches Modell aufstellen, das mit verschiedenen Methoden überprüft wurde und neuroanatomische, neuropharmakologische sowie genetische Komponenten umfasst.

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Diese biologischen Faktoren treten in Wechselwirkung beziehungsweise sind bereits Folge einer Wechselwirkung mit psychosozialen, soziologischen und anderen Umweltfaktoren, die in ihrer Gesamtheit die Art und das Ausmaß impulsiv-aggressiven Verhaltens bestimmen (Caspi et al. 2002; Manuck et al. 2004; Barr et al. 2003).

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■ Wolfgang Leuschner

Neurowissenschaft und ihre Unsterblichkeitsvision – die Enteignung der Psychologie

Ihrem Selbstverständnis gemäß halten Hirnforscher ihre Methoden und ihre Theorien für objektiv und unideologisch. Seit man »die Umklammerung durch die psychisch bedingten Gedankenketten gesprengt hat, seit keine sexuellen Vorstellungen für chemische Vorgänge, keine menschlichen Bedeutungen für den Lauf der Gestirne angenommen werden« (Hopf 1928), spräche nur die nüchterne Wirklichkeit ihrer Substrate. Mit dieser Gewissheit im Gepäck sind heute viele Neurowissenschaftler der Ansicht, dass anatomisch-physiologische Gegebenheiten die Urheber komplexer menschlicher Psychologie sind. Gefühle werden dann vom Mandelkern »erzeugt«. Biografie, intrapsychische Konflikte und Traumen verstehen sie als Epiphänomene. Der Libetschen HirnstromZacke oder den auf Monitoren aufleuchtenden Hirnarealen entnehmen sie, dass es keinen freien Willen gibt. Das Verhältnis Seele – Leib ist für sie geklärt, Descartes und Freud haben sich demnach geirrt. Der Mensch sei ein Hirnwesen und seine Welt ein Hirnphänomen. Nichts davon ist jedoch durch ihre Befunde gesichert, solche Behauptungen sind Fehlschlüsse, solche Theorien bloß Übersetzungen von psychologisch entdeckten Abläufen in neurologische Sprache.1 Natürlich denken nicht alle Neurowissenschaftler so. Ich will im Folgenden aber zeigen, dass kruder Reduktionismus, die Fehlschlüsse, die Neurologisierung des Psychischen (und damit verbunden, die Infragestellung der Idee, dass der Mensch zuerst ein gesellschaftliches Wesen ist) mehr sind, als persönliche Übertreibungen oder Denkfehler. Vielmehr folgen solche Interpretationen einem dieser Disziplin eigentümlichen Drang, der ihre Methoden und Theorien beeinflusst, so wie ein unterirdischer Strom

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eine Landschaft fruchtbar werden lässt. Proklamierte Reinheit und wissenschaftliche Objektivität stellen Rationalisierungen dar. Meine These ist, dass die Neurowissenschaft unter ihrem rationalistischen Überbau einem kulturellen Mythos verpflichtet ist, einem säkularen Projekt zur Erlösung von körperlicher Unvollkommenheit und Tod. Ihre latente Vision ist gewissermaßen eschatologischer Natur. Als wissenschaftliche Disziplin hat sie sich vor langer Zeit aus Vorstellungen des frühen Protestantismus und der Alchemie herausgeschält. Neurowissenschaft wurzelt damit an ihrem historischen Ursprung in der Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Exkrement. Wie im Fall des latenten Traums, der zur Quelle des manifesten wird, geht es auch hier um eine latente psychologische Triebfeder, die nun allerdings auf paradoxe Weise darauf aus ist, alles Psychologische zu beseitigen. Angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes sind viele neurowissenschaftliche Behauptungen (gerade auch die aktuelle neurowissenschaftliche Infragestellung des freien Willens oder die Interpretation der »Welt als Hirnphänomen«) als törichte Überinterpretationen zu bewerten. Aber sie sind doch mehr als dies, nämlich Programm, die Tatsachen in Zukunft ihren Übertreibungen gemäß zu ändern.

1 Die bekannte Neurowissenschaftlerin K. Braun präsentierte bei einem Vortrag Monitorbilder der Gehirne von jungen Ratten. Um die Wirkung von Stress zu untersuchen, waren die Tiere von ihren Eltern getrennt und jeweils allein in engen Käfigen eingesperrt worden. Die Hirnschnitte dieser Tiere zeigten anschließend einen erheblichen Rückgang der kortikalen Hirnaktivität. Um die Relevanz ihres Befundes deutlich zu machen, präsentierte die Wissenschaftlerin nachfolgend das Monitorbild eines Menschen mit vergleichbarer Aktivitätsminderung, das von einem Verbrecher stammte. Sie bezeichnete es als »Mördergehirn«. Sie brachte damit eine kriminelle Tat mit neuronaler Aktivität in kausalen Zusammenhang. Menschliche Biografie, die möglichen einer Untat zugrunde liegenden psychischen und sozialen Konflikte blieben völlig außen vor, ebenso die Möglichkeit, sich zu ändern, was als gesellschaftlicher Grundkonsens seit der Zeit der Aufklärung allen Strafmaßnahmen zugrunde liegt. Schließlich schien der Wissenschaftlerin völlig entgangen zu sein, dass die Hirnveränderung eine Folge der Haft sein könnte, eine Folge, die sie doch unmittelbar zuvor bei ihren Ratten demonstriert hatte.

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■ Neurowissenschaft als Teil einer Allianz Die genannten untergründigen Einflüsse erschließen sich jedoch selbst dem kritischen Auge nicht leicht. Weil sie weitgehend unbewusst bleiben wollen, werden sie verschleiert. Im Fall der Neurowissenschaft gelingt die Entdeckung jenes subversiven bias auch erst, wenn man genauer betrachtet, welche Verbindungswege aus ihren klassischen medizinischen Forschungsbereichen nach Außen führen, mit wem sie kooperieren, was die Ziele und Resultate dieser Kooperation sind und wie ihre Erkenntnisse gesellschaftlich genutzt werden. Bis in die Gegenwart schienen Wissenschaft und Technik immer nur Teilfunktionen des menschlichen Körpers beeinflussen oder verändern zu können. Die Perfektionierung psychophysiologischer Eigenschaften gelang im Wesentlichen im Wahrnehmungsbereich, durch Entwicklung und Nutzung von Wahrnehmungsprothesen, wie es die optischen Geräte, Film, Fernsehen, Röntgen, Ultraschall, Computer-Spielen, Computeranimation, maschineller Bilderkennung und andere sind. Sie alle erweitern unser »Gesichtsfeld« um bisher Unsichtbares und verfremden es zugleich. Bei den nun neurowissenschaftlich entwickelten, genutzten und im Bau befindlichen Apparaten handelt es sich um ganz andere »Prothesen«: Diese betreffen nicht bloß den Umfang der Wahrnehmung, sondern zielen zuerst auf die direkte Umgestaltung der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns und seiner Funktionen. Speziell die Entdeckungen der herrschenden Neurowissenschaft ermöglichten, dass sich heute implantierte Elektrochips mit natürlichem Nervengewebe verbinden und interagieren lassen (brainmachine-interface), dass neue, den Neurotransmittern angeglichene chemische Substanzen in die organischen Regelkreise psychischer Vorgänge steuernd eingreifen. Die Entwicklung von Nanomaschinen, die in Ganglienzellen eingeschleust werden können, um auf molekularer Ebene das Zellgeschehen zu beeinflussen und zu verändern, ist weit fortgeschritten. Neue Biotechniken erlauben die Implantation fremden, zum Teil mutierten Nervengewebes. Das wohl ambitionierteste Unternehmen ist das Cyborg-Projekt, (das Kürzel steht für »kybernetische Organismen«) oder creature engineering. »Der gesamte Organismus soll verändert werden.

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Vielleicht sogar ganz ersetzt – durch künstliche Intelligenz (KI), künstliches Leben (KL) und Robotik« (Rötzer 1995). Verbunden wird dies mit einem Streben nach Unsterblichkeit, die durch eine Verschmelzung »von Gerät, Geist und vielleicht auch dem Körper«. »Früher war Unsterblichkeit nur ein Traum. Jetzt soll sie Wirklichkeit werden. Das ewige Leben wird nicht mehr nach dem Tod erwartet, sondern bereits auf Erden. Dem aber steht noch immer der biologische Körper entgegen. Der Gedanke liegt nahe, ihn umzuwandeln oder gleich einen neuen Körper als Hülle für den Geist zu schaffen« (Rötzer 1997). Kevin Warwick (2004), der Guru des Robotik-Projekts, erklärte, mit – analytisch betrachtet – ja bemerkenswerten Konnotationen: »wir lassen den Menschen hinter uns.« Deutlicher kann man nicht formulieren, wie radikal prometheisch in den Laboratorien gedacht und gearbeitet wird und welche Visionen hier am Werke sind. Die Manipulation von Hirnphysiologie, damit des Denkens, Erlebens und Handelns, zielt heute darauf, eine beeinflussbare Leib-Seele-Einheit zu zeugen. Dies wird schließlich eine radikale Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, von sozialen Prozessen und des Gefüges von Institutionen nach sich ziehen. Das alles stellen die Medien in ihren Wissenschaftspublikationen offen dar. Es spiegelt sich auch in kulturellen Erzeugnissen wieder, in Hollywood-Filmen wie »Matrix« oder »Terminator«. Solche Filme sind alles andere als bloß fiktional. Die hier visualisierten Phantasien beschreiben eine zukünftige Wirklichkeit. Sie sind Werbefilme für neurowissenschaftliche, aber auch der Genforschung zuzurechnende Laborforschungen. Sie propagieren und geben Vorlagen, wie die zukünftige Wirklichkeit tatsächlich aussehen soll. So wie schon in der Frühzeit Hollywoods »King Kong« den Al-Qaida-Angriff auf das World Trade Center vorprägte, indem er zeigte, wo und wie die USA symbolisch tief verletzbar sind. So wie »Der Krieg der Sterne« für militärische Forschung und die Installation von Raketenabwehrsystemen sogar von praktischer Bedeutung wurde, ein Film, der zudem zeigt, welche Chimärenwesen die Erde in Zukunft bevölkern könnten. Aber auch dabei ist eine Verhüllung am Werke. All diese Zeugnisse sind mit einer Aura von spekulativer Übertreibung und futuristischer Irrealität versehen, die ein Gefühl von Ungläubigkeit

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nicht aufzulösen vermögen, ja erzeugen wollen, wie bei »Biedermann und die Brandstifter«. Betrachten wir das Kooperationsgeflecht, in das die herrschende Neurowissenschaft eingebunden ist, so ist zu sehen, dass sie sich in einer Allianz vieler Disziplinen und Industriezweige organisiert hat. Zu dieser Allianz sind neben der Medizin, Biologie und den Ingenieurswissenschaften unter anderem die Computertechnologie zu rechnen, ferner die Robotik, militärische Institutionen, medizinische Geräte- und Informationsindustrie, Neuro-Marketing, Bildproduktions- und Nanotechnologie und schließlich die chemische Industrie. Ein mächtiger Verbund, in dem die Neurowissenschaft eine Vorrangstellung einnimmt! Sie ist dessen theoretisches Herzstück und Bindeglied. Für die jeweiligen Vorhaben der Kooperationspartner liefert speziell die Identifizierung von neuronalen Abläufen immer wieder die entscheidenden Modelle und Blaupausen. Wenn Elektrotechniker heute die Arbeitsweise der zentralen Schaltmodule ihrer Geräte beschreiben, dann sprechen sie nicht umsonst von »neuronalen Netzen«. Als medizinische Disziplin ist die Neurowissenschaft nur vordergründig unabhängig und offen für interdisziplinäre Dialoge. Im Zusammenhang des Ganzen tritt das in den Hintergrund, aus dem klassischen akademischen Wissenschaftskomplex ist sie de facto ausgeschert. Es bleiben medizinische Versprechen, Alzheimer- oder Parkinsonkrankheit zu heilen. Aber hinter den guten Ratschlägen für eine bessere Kindererziehung, hinter öffentlichen Memoranden voller Bescheidenheiten, hinter Aufklärungsbedürfnis und Hilfsbereitschaft bleiben ihr vorwissenschaftliche Prinzipien, magisches Denken, Animismus und Paranoia auf prinzipielle und zweideutige Weise wesentlich. Die »Umklammerung« durch das Prometheische ihrer Motive ist vielen ihrer Vertreter vielleicht auch nicht mehr unbekannt, aber sie tun alles, um es zu verschleiern, auch vor sich selbst.

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■ Zur Genese des Unsterblichkeitsphantasmas Freud hat immer darauf hingewiesen, dass solche untergründigen Konzepte von Anbeginn der Menschheitsgeschichte an unser Bild von der Welt, unsere Vorstellungen, Interessen und Verhaltensweisen prägten und leiteten. Die Naturmythen, die Religionen, Zukunftsvisionen, Philosophien und unsere Entdeckungen entwickelten sich aus Projektionen, aus psychischen Ausformungen unserer frühkindlichen Erfahrungen, aus phantastischen Ausgestaltungen unserer Objektbeziehungen. Alle Organisationsformen und Produktionsverhältnisse in der Gattungsgeschichte des Menschen sind von solchen Konzepten mit schweren Gewichten beladen worden. Von Bedeutung waren aber nicht allein psychische Ausformungen unserer frühkindlichen Objektbeziehungen. Als folgenreich erwiesen sich, wie vor allen Ferenczi (1924) nachwies, auch solche Ausgestaltungen, die sich aus der Anatomie des Leibes und seiner Funktionen ableiten. Wenn also, wie Rank oder Eliade zeigten, Moses nach seiner Geburt in einem Weidenkörbchen auf dem Nil der Lebensgefahr entkam, dann war dies eine Überschreibung von Mutterleibsanatomie und des Geburtsvorgangs in kollektive Visionen. Gleichwohl sind, wie Brown (1962) herausarbeitete, diese Leiberlebnisse hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Gestaltungsvermögens immer gering bewertet worden. Von vielen analytischen Schulen, etwa den Neo-Freudianern, wurden sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Im Fall der Oralität oder der Genitalität sind Leiberlebnisse immer mit Objektbeziehungserfahrungen verwoben, mit Erfahrungen mit der frühen Mutter, mit Inzest, der Urszene, dem Trauma und anderem. Frühe orale Bedürfnisse haben zum Beispiel die mütterliche Brust und die Muttermilch zum Objekt. Dies gilt mit dieser Eindeutigkeit für die Ausscheidungsfunktionen von Harn und Kot nicht. Sie haben primär kein unerlässliches, ihnen zugehöriges Gegenüber, zumindest anfangs keinen äußeren Anreger, kein Liebes- oder Hassobjekt, auf das sie sich beziehen, das sie sich auserwählen müssen, um Befriedigung zu erzielen. Urethral- und Analerotik sind demnach eher autonom. Erst sekundär – im Lauf der Ontogenese, wie Freud zeigte – beziehen sie sich auf die Ne-

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benmenschen. Dann wird das Ausgeschiedene zum Protz, zum Geschenk, zum schleimigen Gift, zum Vernichtungsmittel, zum Miserere. Die Lust, die uns beim Abscheiden von Urin und Kot befällt, ist also primär objektloser, leiblicher und narzisstisch. Lust entsteht primär dadurch, dass wir uns von diesen Stoffen zu lösen, zu befreien vermögen, weil sie ansonsten unserem organischen Wohlbefinden im Weg stehen. Brown (1962), auf dessen eindrucksvolle Überlegungen zur Analität ich mich hier immer wieder beziehe, erkannte, dass das den Ausscheidungsfunktionen nichts von ihrer psychischen und nichts von ihrer kulturellen Bedeutung nimmt.2 Im Gegenteil, wie schon Freud in seinem Spätwerk immer wieder betont hatte, spielten sie in der Phylogenese eine außerordentlich wichtige Ich- und kulturstiftende Rolle. Ja, mehr als alles andere waren die Ausscheidungsfunktionen für die Frage der Auseinandersetzung der Menschen mit ihrem eigenen Leib, dessen Beschaffenheit, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft und damit dem eigenen Tod bedeutsam. An einem bestimmten Punkt ihrer Gattungsgeschichte rückten die Menschen von einer selbstverständlichen Anerkennung ihrer Abscheidungen, also von Teilen ihres Inneren, immer weiter ab. Kulturgeschichtlich lokalisierte Freud den endgültigen Bruch einer solchermaßen friedlichen Koexistenz von Mensch und Kot an jener Stelle, an der die Tiermenschen sich streckten und zu ihrem aufrechten Gang fanden. »Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses stünde also die Aufrichtung des Menschen«, erklärte er in »Das Unbehagen in der Kultur« (1930a, S. 459). Diese Aufrichtung oder Vertikalisierung bewirkte eine äußerst folgenreiche innerpsychologische Wende. Vor allem führte das zur Geburt eines neuartigen psychischen Spaltungs- und Projektionssystems, das seinerseits eine umfassende Wandlung unseres Denkens in der weiteren Kulturgeschichte auslöste. Nach Brown (1962) zog es vor allem spezifische Erscheinungsformen von Lebens- und Todestrieb und ihres Verhältnisses zueinander nach sich. Unsere Vorfahren waren Riechwesen; somit führte die Aufrichtung, so möchte man Freud weiterführen, vor allem zu einer veränderten Wahrnehmung 2 Zu Unterschieden von Urethral- und Analerotik siehe auch Ferenczi (1924).

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nicht so sehr des visuellen, sondern vor allem des olfaktorischen Modus. Indem ihre Nasen nun in die reine Luft ragten, entdeckte ihr Riechsystem, dass ihre dem Unterleib entweichenden Exkremente stinken und faulen, aber auch, dass man sich diesen Geruch abspalten, vielleicht sogar ungeschehen machen kann. Projektiv teilten sie dann auch die Welt. Die entlang der Wirbelsäule aufgereihte Körperanatomie und Leibfunktionen wurden in Kosmologie und Metaphysik hineingedacht. Sie spalteten das All entlang einer vertikalen Achse in ein Oben und ein Unten und ließen Gott den Himmel und die Erde erschaffen.3 Damals entdeckten die Menschen auch die lineare Zeit, die Verneinung und die Notwendigkeit der Sublimation. Sie entdeckten Vergangenheit und Zukunft und verbanden damit die grandiose Hoffnung, dass es gelingen könnte, selbst unsterblich zu sein. Seither sind die Menschen die einzige Tiergattung, die sich dem Sterbenmüssen widersetzt. Daraus folgte notgedrungen ein Zwang zur Kontrolle und aktiven Steuerung der Defäkation. Diese selbst wurde eine Sache aktiver Bejahung und Verneinung. Und wenn die Trennung von den Exkrementen nicht vorgenommen wurde oder nicht gelang, wurden sie Quelle des Leidens; sie vergifteten den Körper, Kot wurde Autotoxin. Am Ende mussten die Menschen daran sterben, gerade auch dann, wenn ihnen ein Objekt fehlte, das sie aktiv an- und aufnahm, die Mutter, Gott oder sonst wer. Dann verfaulte der Körper und wurde dabei selbst zum Kot. Kot (anders als Urin) wurde so primordialer Verkünder unseres Untergangs, ein leibhaftiges memento mori, sichtbar gestorbenes Leben und zwar eigenes, im Sinne eines Selbstobjekts. Aus Kot-Verlustangst (die sich in der Ontogenese mit Kastrations- und Objektverlustangst vermischt) wurde Todesangst. Als Ausdruck eines sekundären Selbstberuhigungs- oder Rettungsgedankens mag sich eine orale Wiedereinverleibungstendenz bemerkbar gemacht haben, aber daraus resultierte, dass die Exkremente unseren Ekel und unseren Hass ernteten. 3 Freud selbst hat diese Achsenbildung in seinen Modellbildungen des Innerseelischen insofern wiederholt, als er vom Über-Ich spricht oder einem Unten, wenn er – mit dem Motto seiner Traumdeutung – den »Acheron bewegen will, wenn er die Oberen sich nicht geneigt machen kann« (Freud 1900a, S. 613).

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Dies war dann auch das Ende der friedlichen Koexistenz von Leben und Tod.4 Daraus folgte: Wenn sich die sinnlichen Erfahrungen des Leibes spalten ließen in gute und schlechte, dann mussten sich ewiges Leben und ewiges Sterben ebenfalls projizieren lassen. Bei der Projektion des toten Anteils in die Exkremente verendeten dann nur diese, und zwar anstelle der Körper, denen ein anderes Schicksal versprochen werden konnte. Die Erwartung des bedrohlichen Todes konnte also aktiv in Kot gepackt, an ihn gebunden werden. Als ob die Menschen Feuersalamander wären, die sich durch Abstoßung des Schwanzes (Autotomie) vor dem tödlichen Zugriff eines Feindes retten könnten.5 Die Sehnsucht unserer frühen Vorfahren nach Unversehrtheit und Unsterblichkeit hat sich demnach am Verhältnis zum Kot entwickelt, und das machte die Exkrementalfunktion für immer so unerhört bedeutsam. Gott wäre demnach nicht ein Glücksbringer, sondern ein Befreier gewesen. Aber wir wissen – und die Spiegelungen dieses möglichen Geschehens in Mythen und Religionen lassen erkennen –, dass hierbei Spaltung, Abscheidung und Projektion ihren Zweck nicht erfüllten. So wie sich der Wunsch nach Befreiung vom Sterben in einer göttlichen Figur personifizierte, so musste dies zwangsläufig – der Gewalt der Ambivalenz folgend (oder dies erst begründend?) – einen entgegengesetzten mythologischen Ausdruck in einer weiteren Verlängerung der vertikalen Weltachse (Eliade 1978) nach unten hin finden und zur Erschaffung der Person des Teufels und der Hölle führen.6 So wurde die Unterwelt dämonisiert. Sie wurde zum Orkus, zur Hölle und füllte sich mit Teufeln. Anders formuliert: Mit der Entwertung und Ab4 Brown behauptet, dass die Dämonisierung und Verhüllung des Todestriebs, seine Verwandlung zu einem »bösartigen« Gegenüber aus dieser Geschichte der Abgrenzung von den Exkrementen hervorging. 5 Nicht umsonst war der Feuersalamander der Alchemie heilig, ein Gegenstück ihres heiligsten Ringsymbols, der Schlange Ouroboros (wörtlich: der Schwanz, der Fraß), die den eigenen Schwanz verschlingt und sich so gegen den Selbstverlust sichert. Bekanntlich geht die Entdeckung des Benzolrings durch Kekulé auf einen Traum von dieser Schlange zurück. 6 Psychoanalytische Studien über den Teufel, so Brown, hätten immer zu sehr den ödipalen Aspekt des Teufels betont, seinen Status als Vaterersatz, die ambivalente Kombination von Eifersucht und Feindschaft gegen denVater im Teufel und die Identität von Gott und Teufel, die am Grunde ihrer

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grenzung des Kotes verbunden war zugleich eine projektive Revitalisierung des Ausgeschiedenen. Die Bewohner der Antipoden des Himmels, die Geister und Teufel wurden ebenfalls unsterblich und darin den Göttern gleich. Nehmen wir dies wieder als Darstellung von Vorstellungen auch über den menschlichen Körper und seine Funktionen, so bezeichnet diese Animation der Unterwelt eine Umdeutung der Exkremente, es ist ein Akt der Re-Verlebendigung des Kotes. Vielleicht gründete gerade diese Animation (genauer: Reanimation) des Kotes und seiner phantastischen Abkömmlinge auch wieder darin, dass wir primär Geruchswesen sind, Opfer eines archaischen Riechsystems, das sich nach der Aufrichtung des Körpers an den Gestank nicht mehr adaptieren konnte und so den Menschen immer wieder auf die Fährte des Exkrements lockte. Der von der stofflichen Materie sich ablösende, frei sich ausbreitende Geruch wurde zum Inbegriff dessen, was mit so großen Hoffnungen zuvor abgewiesen worden war. Dafür spricht zudem die eindrucksvolle Ähnlichkeit von Kot- und Leichengeruch und die Tatsache, dass die Dämonen und Teufel als Geisterwesen ausgemalt wurden, unkörperlich oder selbst verwest. Man könnte auch spekulieren, dass das magische Denken sich deswegen aus der Analorganisation ableitet, weil hier die Erfahrung gemacht wird, dass sich beim Kot die Verbindung von Fäulnisgestank und Materie zu lösen vermag, sodass die Trennung des Geruchs vom Stofflichen ein Vorbild für die Scheidung von Materie und Geist werden konnte. Jedenfalls erretteten diese aus der Destillation des Geruchs vom Stoff hervorgehenden Erlösungshoffnungen nicht von den Todesängsten. Die Fäulnis der eigenen Abscheidungen und des gestorbenen Körpers irritierte die Versprechen vom zukünftigen Paradies.

Gegensätzlichkeit liegt (Freuds Arbeit über die Teufelsneurose, Freud 1923d). Der durchgehend anale Charakter des Teufels sei nicht genügend herausgestellt worden.

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■ Luthers provokative Identifizierung des menschlichen Leibes mit dem Exkrement Zwei große menschheitsgeschichtlich bedeutsame Bewegungen möchte ich anführen, die von diesem Dilemma zu erlösen suchten: der frühe Protestantismus Luthers und die Alchemie. Vorstellungen Luthers und des frühen Protestantismus erweisen sich als zentral bedeutsam, denn hier wurde die Trennung in gute und schlechte Anteile aufgegeben. Das Gute und Unsterbliche wurde ganz in die Hände Gottes gelegt, die exkrementale Qualität des Menschen hingegen generalisiert. Luther sah, wie Brown (1962) nachweist, den menschlichen Körper zeitlebens nicht nur einfach vom Teufel besessen, also magisch in Besitz genommen, sondern direkt und unmittelbar nur noch als lebendiges Exkrement, mit diesem identisch, böse, verderbt, zur endgültigen Fäulnis verdammt.7 »Ich bin Scheißdreck«, erklärte damals ein protestantisch gewordener Mainzer Kardinal gegenüber Luther und ergänzte: »Ich weiß wohl, dass ohne die Gnade Gottes nichts Guts an mir ist, und sowohl ein unnützender stinkender Kot bin, als irgend ein ander, wo nicht mehr.« Luther, der – was kaum bekannt ist – seine Wandlung zum Protestanten auf einem Abtritt erlebte, äußerte über sich selbst kurz vor seinem Tod: »Ich bin der bereite Kot, und die Welt ist der geöffnete Anus« (Brown 1962, S. 282). Die Gleichung lebendiger Körper = Kot wurde damit der archimedische Punkt der protestantischen Religion, die die Rettung des Menschen von der Herrschaft des Todes im Leben allein in der »wahrhaftigen« Auferstehung des leiblichen Körpers von Jesus (»sein ganzer Leib, sein gleicher Leib, sein gesamter Leib«) erblickt und allein darin das Versprechen auf menschliche »Erlösung« überhaupt begründet sah. Über dem Portal des Hauptfriedhofs der Stadt Kirn steht geschrieben: »Der Ewigkeit Samen«. Diese Exkrementalphilosophie Luthers, die rücksichtslose Identifizierung des Körpers mit seinem Exkrement am Beginn der Neuzeit, beinhaltete eine enorme Provokation des Freudschen Eros und der Vernunft. Denn weil es immer die Körpererlebnisse und Stofferfahrungen waren und sind, die unser Streben und da7 Ganz ähnlich beschrieb Swift in Gullivers Reisen die Yahoo-Menschen.

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mit auch der Religiosität prägen, war Luthers »Verkotung des Menschen« (ja transzendentale Religionen überhaupt) eine demütigende Wahrheit. Eine derart radikale Entwertung des Leibes musste das Versprechen auf Unsterblichkeit auch im Jenseits untergraben. Ich will das ausdrücklich betonen, denn jetzt wird verständlich, warum sich jeder Unsterblichkeitsnachweis – wie ihn die herrschende Neurowissenschaft wieder zu erbringen sucht – gerade mit dem Exkrementalen auseinandersetzen muss und nicht etwa mit der Genitalität. Der Leib kann nicht lügen, und deshalb konnte und kann seither ein überzeugender Beweis allein vom Stoff erbracht werden.8 Weil es besonders das Exkrement war und ist – und Luther hatte das noch betont –, das das in Frage stellt, musste genau dies auch den Gegenbeweis liefern. Freud hatte zwar gemeint, dass sich wissenschaftliches Forschungsinteresse aus der Genitalität ableite, aus ödipaler Wissbegierde. Aber das konnte nicht für den Fall eines wissenschaftlichen Unsterblichkeitsbeweises gelten. Deshalb musste sich die Neugier der Forscher einem anderen Leibvorgang zuwenden. Zwar »beweist« auch die Genitalität die Unsterblichkeit des Menschen, aber nur durch Fortführung der Keimbahnlinie, nur indirekt von den gezeugten Nachkommen. Der spätere Protestantismus wandte sich von Luthers koprophiler Theologie ab. In der Zeit der aufblühenden Aufklärung wurde sie vielmehr zu einer Art paradoxer Intervention, zu einer Beschwörung des Gegenteils und damit ein Auftrag auch an die Wissenschaft, jene Gleichsetzung zu verneinen und in einer radikalen Abkehr zu widerlegen. Diese Abkehrtendenz schien dann in Form einer Säkularisierung des Unsterblichkeitsanspruchs in Alchemie und Naturwissenschaften zu gelingen.

8 Warum sonst weinen auch gläubige Menschen am Grab derjenigen, die sie lieben.

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■ Alchemie und die naturwissenschaftliche Wende Dass Gefechte gegen das Sterbenmüssen speziell auf analem Terrain geführt werden mussten und müssen, belegen Geschichte und Praxis der Alchemie besser als alles andere. Die Ursprünge der Alchemie reichen natürlich weit zurück »in die Periode der Kindheit aller Naturwissenschaft« (Schmieder 1927, S. 5). Aber eine in ihrem Wesen veränderte Alchemie stand eben auch am Anfang der Neuzeit. Eindeutig und unverhüllt war es ihr immer um die Verwandlung von Dreck und Abscheidungen zu tun. Genau daraus sollte auf physischem Weg Gold (und Silber) destilliert werden, um es zu beseelen. Es hieß hier, dass »das ohne Putrefaktion (Fäulnis) […] durchaus nicht wachse« (Schmieder 1927, S. 8). In völligem Gegensatz zu Luther ging die Vorstellung der Alchemie also dahin, das materielle Substrat »Exkrement« in sein Gegenteil zu verkehren und damit zu verewigen. Im Diesseits, in der Welt des Hier und Jetzt, in Gestalt ihrer Veredelung zu Gold/Geld sollten die Fäkalien selbst ihre zuvor religiös beschworene Bedeutung aufgeben und das endgültige Absterben des Leibes nicht mehr repräsentieren.9 (Mit seinem Kampf gegen den Ablass, der die Seele durch Geldzahlungen aus dem Fegefeuer in die Ewigkeit des Paradieses entlässt, hatte Luther dieser Idee – Geld verschafft ewiges Leben – schon entgegengearbeitet, was sich später in seinem Kampf gegen Geld- und Zinswirtschaft fortsetzte. Die Heftigkeit, mit der er Letzteres betrieb, kann man gut als eine Freud vorwegnehmende Anerkennung der Kot-Geld-Gleichung deuten.) Die Möglichkeit einer Einlösung des Unsterblichkeitsversprechens auf magischem Weg erwies sich natürlich als Irrweg. Unübersehbar ist, dass die Alchemie etwas von diesem Versprechen an Geldwesen und Reichtum weitergereicht und hier unterge9 Trotzdem war Luther selbst Befürworter der Alchemie »wegen der herrlichen schönen Gleichnis, die sie hat mit der Auferstehung der Toten am jüngsten Tage. Denn eben wie das Feuer aus einer jeden Materie das Beste auszieht und vom Bösen scheidet und also selbst den Geist aus dem Leibe in die Höhe führt […] also wird auch Gott […] gleichwie durch das Feuer die Gerechten und Frommen scheiden von der Ungerechten und Gottlosen« (Schmieder 1927, S. 262).

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bracht hat. Bis heute lebt deren Anziehung von jener Aufladung. Mehr noch hat die Alchimie die moderne Medizin beeinflusst und geprägt, die ihren therapeutischen Wert, vor allem ihr latentes Heilsversprechen vom Stein der Weisen und mehr noch dem von den Arabern stammenden Lebenselixier übernommen hat. Eliade (Bd. 3, S. 244) zitiert Roger Bacon, der von der von der Alchemie hervorgebrachten Heilkunde sagt, dass sie »die Unsauberkeiten und alle Fehler des hässlichen Metalls verschwinden lässt, das das menschliche Leben um viele Jahrhunderte verlängern kann«. Vom Stein der Weisen, erwähnt ergänzend Eliade, habe ein anderer Autor behauptet, dass er alle Leiden heile und aus Greisen junge Menschen mache. Die Erwartungen blieben also und suchten fortwährend nach neuem Ausdruck. Sie richteten sich schließlich endgültig an die Naturwissenschaften, speziell die naturwissenschaftliche Medizin. Chemie und Astronomie als Urdisziplinen der Naturwissenschaft formulierten zwar entschieden, offen und laut den Anspruch, die Eigenschaften des Stoffes von den Projektionen, von seinen dämonischen Qualitäten und die Untersuchung der Materie von der Zauberei befreien zu können, das auszutreiben, was Astrologie und Alchemie noch getan hatten (Brown 1972, S. 302). Aber das Abgewiesene lebte untergründig fort. Indem sich die Naturwissenschaften ganz auf den Stoff einließen, mussten sie manifest bescheiden werden und ernteten dennoch dessen psychische Aufladung aus der Vergangenheit. Diese verlangten, gerade im Stofflichen weiter nach Möglichkeiten des ewigen Lebens zu suchen. Bezeichnend ist, dass Isaac Newton zeitlebens ein Anhänger der Alchemie war, »dass der Gründer der modernen Mechanik die Auffassung einer geheimen Uroffenbarung nicht verwarf, wie er auch nicht das Prinzip der Transmutation aufgab«. Bemerkenswerterweise wurden Newtons Neigungen und seine alchimistischen Untersuchungen jedoch bis 1940 ignoriert (Eliade 1978, Bd. 3, S. 247). So »regressiv« die Alchemie immer gedacht hatte, ihre jahrtausendelang gepflegten Techniken zeichneten zudem die Methoden und Techniken vor, die später Prinzipien der Laborchemie wurden. Insbesondere die Anwendung von Wärme (aus Pferdemist, der eine für Synthesen nützliche Dauer-Temperatur von 60 Grad

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aufweist) und des Feuers sollte den Dreck so zerlegen, dass sich in dessen Exkrement, dem Exkrementexkrement, also der Asche das magische Gold oder der Stein der Weisen kristallisieren konnte. Dieses Feuer hatte immer noch – wenn auch säkularisierte – Aspekte des »Fegefeuers«. Die Kehrseite dieses Feuers aber war fortschrittlich: Mit der Destillation entdeckte die Alchemie die Möglichkeit der Fragmentierung eines Gemischs in Bruchstücke, aus denen ein neues Ganzes synthetisiert werden konnte. Es waren die Alchimisten, die damit dann auch auf den Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem stießen. Beide waren zuvor Eins, was den magischen Absichten der Experimentatoren lange Zeit entgegengekommen war. Mit all dem sei gesagt, dass die Natur- und damit auch Neurowissenschaft an ihrem Ursprung mit Alchemie auch technisch verbunden war und auch darin ihr Erbe ist. Für die Frage einer ideologischen Abgrenzung von der Alchemie wurden dann folgende Entdeckungen bedeutsam: die endgültige radikale Auflösung der ursprünglichen Verbundenheit von Geist und Stoff, was alchemistische Destillation nicht zustande gebracht hatte. Die Naturwissenschaften entdeckten, wie sich der Körper des Menschen über die Keimbahn reproduziert. Sie entdeckten die Bakterien im Kot und damit einen naturwissenschaftlichen Beleg für dessen Pathogenität, was zugleich dessen umfassende Bedrohlichkeit widerlegte. Sie entdeckten die Verdauungsorgane als Orte der »Verstoffwechselung« von Nahrung. Damit verlagerte sich ihr Untersuchungsbereich weg von Mund- und Afterzone in das Innere des Körpers. Sie reinigten damit ihren Gegenstand von Übertragungen auch insofern, als sie sich von den Orten der Objektbezogenheit, von den sexualisierten oder erogenen »Übergangszonen« abund dem nur dunkel fühlbaren Inneren des Bauchs zuwendeten. Die wohl folgenreichste Änderung gelang mithilfe der immer weiter entwickelten neuen Wahrnehmungsprothesen (Mikroskop, Röntgen usw.). Damit machten sie nun auch unsichtbar kleine Gegenstände sichtbar, nicht nur einzelne Zellen und intrazelluläre Vorgänge, sondern Mikroprozesse und ihre organischen und anorganischen Grundbausteine im Molekularbereich. Diese Untersuchungen zeigten immer genauer, wie diese Grundbausteine zu

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Organischem assoziiert und assimilatorisch »verkörperlicht« werden können. Auch das war alchimistisch bereits vorgedacht gewesen, das Konzept des Mikrokosmos hier schon entwickelt. Und doch fand hier der entscheidende, ja revolutionäre Sprung statt. Der Gegenstandsbereich konnte durch das Instrument seiner Entdeckung, das Mikroskop, ausgiebig erkundet und bestimmt werden und bekam folgerichtig den Namen dieses Instruments. Dies machte Einsichten in primär unsichtbare Qualität, Quantität und Zusammensetzung der stofflichen, schließlich anorganischen Bausteine, eben in die mikroskopische Welt des Körpers möglich. Anders als im Fall der Exkrementalfunktionen schien sich dieser Mikrometabolismus einer Polarisierung und Dämonisierung völlig zu versagen, zugleich schien der reale Kot nun völlig bedeutungslos zu sein. Aber – und dies ist eine weitere These – seine magische Funktion und damit seine kulturbildende oder religionstiftende Potenz ging nicht unter, sondern wurde auf die Elementarteilchen übertragen. Auf Objektträgern der Mikroskope oder in Reagenzgläsern konnte man den Schöpfungsprozess Gottes verfolgen: »Gott auf die Finger sehen«, das heißt direkt jene Stoffwechselkreisläufe beobachten, die zum Aufbau, zum Erhalt der Zelle und zur Rekonstruktion von Zelldefekten führen. Nicht die Philosophie, nicht Gott, sondern die Zelle und ihre Stoffwechselprozesse offenbarten den Wissenschaftlern und Laboranten, wie Leben erzeugt und erhalten werden könnte.

■ »Brain Engineering« Diese Linie wurde fortgeführt, mit der Absicht, Mikroprozesse und Nanoteilchen zu erfassen, nicht bloß um die Abläufe zu verstehen, sondern um diese real zu verändern, um aus den analysierten Fragmenten Neues zu synthetisieren und das Sterbliche auszumerzen. Es war diese Hinwendung zum praktischen Sezieren, Destillieren, Filtern, Erhitzen und so weiter, die einen Sprung von der bloß magischen Beschwörung des Stoffes, von der bloßen Ideologie zur substanziellen Veränderung des Leibes beinhaltete. Die entscheidende beispielgebende Zugriffsmöglichkeit verschaff-

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te hierbei die Entdeckung der Alpha-Helix mit ihrem Vermögen der Reduplikationen von Zellbausteinen. Dies war wohl der wichtigste Sieg im letzten Gefecht gegen die Religionen, die nur auf das Jenseits hatten vertrösten können. Denn von nun an war göttliches Handeln denkbar. Zuerst bestimmten die Wissenschaftler jene Elemente, aus denen sich die Zellbestandteile zusammensetzen, dann entzifferten sie ihre Anordnung, die Strukturen und Reihenfolgen, die sie bilden. Schließlich analysierten sie die Austauschprozesse, zum Beispiel wie die neuronalen Synapsen beschaffen sind und was hier wie hin und her transportiert wird. Damit war es möglich, den Stoffwechsel, der für den Erhalt und den natürlichen Abbau, das Sterben der organischen Mikrostrukturen verantwortlich ist, zu bestimmen und nachzuahmen. Und das heißt, es wurde möglich, sich in natürliche Abläufe einzuschleusen. Vor allem die Biochemie und die Genetik sind heute in der Lage, instabile, also endliche Transmitter oder Gene, die zum Altern oder zur Krankheit führen, auszuschalten oder zu umgehen, um an deren Stelle chemisches oder genetisches »Gold« zu transferieren. Es sind stabilere Ersatzteilchen, die den Stoffwechsel auch auf andere Wege führen können. Bestand der Monstersohn Victor Frankensteins noch aus Leichenteilen,10 die auf alchimistische Weise durch galvanische Elektrizität reanimiert wurden, so gelingt eine Verlebendigung heute tatsächlich und ungleich eleganter durch das Zusammenfügen von Miniprothesen, die molekularen Naturprozesse nachahmend. Das Ersetzte ist wieder Exkrement, die alchimistische Geschichte wiederholt sich am Gegenstand der Mikroelemente. Was früher der ganze Leib, der ganze Kot war, sind heute Moleküle. Es ist dies »Verschiebung auf ein Kleinstes«. Betrachtet man die Geschichte der Psychiatrie, so sind hier sogar deutlicher als anderswo die vorwissenschaftlichen Wurzeln ihrer frühen medizinischen Praktiken auszumachen. Heilverfahren etwa mit Elektrizität (Elektro-Schock) oder kontrollierter Vergif10 »Um dem Leben auf die Spur zu kommen, muss man sich zuerst dem Tod zuwenden«, lässt Shelley (1986, S. 67) ihren nekrophilen Helden sagen: »Ich sah zu, wie die schöne menschliche Gestalt verfault und zerfällt; ich beobachtete die Todesfäulnis, die das blühende Leben zerstört; ich sah zu, wie der Wurm sich der Wunder von Auge und Gehirn bemächtigt.«

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tung (Insulin-Schock) suchten die Einflussnahme von der Ebene der unmittelbaren körperlichen Gewalt (Ausgrenzung, Inhaftnahme) durch vermittelte Gewalt, durch grobe physikalische und chemische Maßnahmen zu ersetzen. Aber hierbei ging es bereits auch um die Einflussnahme auf ein den psychischen Krankheiten unterstelltes Stoffwechselgeschehen.11 Immer mehr zielten die nachfolgenden Theorien und die Behandlungstechniken genau darauf und profitierten von der Konvergenz mit den Denkweisen, Methoden und Entdeckungen der Naturwissenschaft. Das führte zur Vorherrschaft der Psychopharmakologie. Zunächst mit grober, zunehmend mit spezifischer chemischer Einflussnahme auf den zerebralen Stoffwechsel, insbesondere der Synapsen, gelingt es heute, psychische Vorgänge zu beeinflussen, Stichwort »Prozac und Ritalin®«. Die endgültige Erlösung von den Beschränkungen des Somatischen mithilfe weiterer Techniken wird in Aussicht gestellt. Krankheit, Altern, zerebraler Tod lassen sich demnach immer weiter ausradieren. Die Wirkung der gegenwärtig und der langfristig möglichen Einflussnahmen verschafft der Neurowissenschaft und ihren Bewunderern die Gewissheit, dass sich hinter die Trennung von Körper und Seele ein Schlusspunkt setzen lässt. Marcus (2002) hat in seinem Essay über Shelleys Frankenstein die These vertreten, dass das Ziel moderner Wissenschaftler die Bestrebung ist, sich »verbotenes Wissen« zu verschaffen. In einem »endless pursuit« dürste es sie danach, das Unerreichbare im Hier und Jetzt zu erreichen. Der Blick auf die Forschungsvorhaben und die Visionen der Neurowissenschaft und ihrer »Alliierten« (andere wissenschaftliche Disziplinen und verschiedene Industriezweige) scheint das also zu bestätigen. Unübersehbar behalten aber auch die modernen Kreaturen und Erzeugnisse, die die Erde demnächst bevölkern sollen, eine solche monströse Qualität. Sicher betrifft dies nicht mehr das äußere Erscheinungsbild. Es liegt nahe, darin das Werk der vermeintlich beseitigten ambivalenten Regungen zu sehen, die aus dem Zwang zur Erlösung des exkrementalen Stoffes stammen. Diese verneinte Regung setzte das fort, was zur Erfindung oder Erschaffung und Animation des Dämonischen, des 11 Auch wenn dies immer noch aus einem kaum verhüllten aggressiven Gegenübertragungsgeschehen hervorging.

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Teufels geführt hatte und oben dargestellt wurde. Als Antipode Gottes und Agent der Negation hatte er dessen Versprechen und Werk in Frage gestellt und in den Abgrund ziehen wollen. Dieser destruktive Anteil erzeugte heute das, was den Doppelcharakter vieler Entdeckungen ausmacht. Das wäre der Grund, warum in so viele wissenschaftliche und technische Errungenschaften wie unumgänglich oder notwendig das Risiko der Zerstörung eingeschleust worden ist, erinnert sei an die Kernspaltung oder die Genforschung. Entdeckungen werden gewünscht, gemacht und realisiert, weil sie versprechen, die Menschen von Not, Hunger, Kälte, Krankheit und so fort zu befreien. Aber gleichzeitig gebären sie erheblich größere Gefahren, die die Gewinne ins Destruktive wenden. Man möchte sagen: »in den Dreck ziehen«, so wie Frankensteins Sohn seinen Erzeuger in den Untergang gezogen hat. »Sieh Dich vor« hatte das Werk seinem Schöpfer gedroht, »denn ich bin furchtlos und deshalb mächtig […] ich bin Dein Herr; gehorche!« (Shelley 1986, S. 215). So verlangen die von den Entdeckungen selbst herbeigeführten Gefahren auf imperative Weise weitere Forschungen und Maßnahmen, die die Angst vor den Bedrohungen wieder mindern oder beheben sollen und die doch nur weiteres Unheil erzeugen. Eben dies verlangt jenes »endless pursuit«, das Marcus beschrieben hat. Dass sich das Unsterblichkeitsversprechen der neurowissenschaftlichen Allianz jemals einlösen ließe, ist nicht wirklich vorstellbar. Das nimmt ihren Heilsversprechen jedoch nichts von ihrer Anziehungskraft, macht die Vorhaben, einen neuen Menschen zu verwirklichen, nicht wert- und folgenlos. Auch die Götter und Teufel waren immer nur »Visionen«, aber auch als Bilder von Hoffnungen machten sie sich schließlich die Welt untertan. Auch lässt sich nicht genau sagen, worin die konkreten Gefahren speziell zukünftiger neurowissenschaftlicher Errungenschaften bestehen. Das ist, um es zu wiederholen, auch deswegen nicht anzugeben, weil die Ziele dieses Projekts durch Arbeitsteilung und Geheimhaltung unkenntlich sind. Ein Übriges zu dieser Verschleierung tut wohl das dazu, was Anders die »prometheische Scham« der Menschen genannt hat. Wenn wir uns eine Ahnung verschaffen wollen, was die Gefahren ungefähr sein könnten, ist es sinnvoll, sich an die Filme Hollywoods zu halten.

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Wie sehr neurowissenschaftliche Theorien und Entdeckungen chemischer und physikalischer Natur bereits heute das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen und die menschlichen Subjekte selbst beeinflussen und beschränken, zeigt unter anderem die ADHS-Geschichte. Hier hat die pharmazeutische Industrie die Pädagogik bereits in die Hand genommen. Unverkennbar ist auch, dass den wissenschaftlichen Disziplinen Psychologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse durch die Neurowissenschaft ein Ende bereitet werden soll. In aktuellen Debatten ist von einer »Cerebrologie« die Rede, die sie ersetzen soll. Die Frage ist, was in Zukunft aus dem menschlichen Wesen wird, das Gott und den Teufel brauchte, damit es mit seiner Natur leben konnte, wenn es diese Natur nicht mehr gibt.

■ Zusammenfassende Bemerkungen Der Reduktionismus der herrschenden Neurowissenschaft und ihre Absage an die kategoriale Eigenständigkeit des Psychischen ist nicht durch naturwissenschaftliche Erkenntnis gesichert, sondern Ausdruck einer verdeckten Agenda, die Beseitigung der Psychologie in Zukunft realisieren will, es ist Programm. Dieser Agenda liegt eine säkularisierte religiöse Tendenz zur Erlösung der Menschen von Krankheit, körperlicher Unvollkommenheit und Tod zugrunde. Die Verneinung des natürlichen körperlichen Verfalls und des Sterbenmüssens kann seit Beginn der Neuzeit nur noch von biologischem Stoff durchgesetzt werden; weil nur dadurch die tief verwurzelte ständige Belehrung durch die materiellen menschlichen Exkremente widerlegt wird. Die belehrende Kraft des Kotes, dass wir sterblich sind, stammt aus seiner gattungsgeschichtlichen Dämonisierung, die die moderne Naturwissenschaft von Alchemie und dem Frühprotestantismus Luthers geerbt hat und fortsetzt. Das Heilsversprechen der Neurowissenschaft wird arbeitsteilig von einer Allianz vieler Forschungsdisziplinen und Industrien ver-

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folgt und eingelöst. Durch diese Kooperation wird das Ziel vordergründig unkenntlich. Neurowissenschaftliche Techniken haben zum Ziel, sich des Stoffes dadurch zu bemächtigen, indem sie sich auf der Ebene zerebraler Mikroprozesse in die neuronalen Regelkreise einzuschleusen, hier Einfluss zu nehmen, unter anderem dadurch, instabile, sterbliche Elemente chemischer und physikalischer Natur durch stabile zu ersetzen suchen.

■ Literatur Brown, N. O. (1962): Zukunft im Zeichen des Eros. Pfullingen. Eliade, M. (1978): Geschichte der religiösen Ideen. 4. Aufl. Freiburg i. Br. Ferenczi, S. (1924): Versuch einer Genitaltheorie. Leipzig u. a. Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung. G. W. Bd. II/III. Freud, S. (1923d): Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. G. W. Bd. XIII, S. 317-353. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. G. W. Bd. XIV, S. 419-506. Hopf, L. (1928): Exakte Naturwissenschaft und Psychoanalyse. In: Prinzhorn, H. (Hg.): Auswirkungen der Psychoanalyse in Wissenschaft und Leben. Leipzig, S. 241-247. Marcus, S. (2002). Frankenstein: Myths of scientific and medical knowledge and stories of human relation. The Southern Review 38: 188-201. Rötzer, F. (1995): Die Cyborgs kommen. Die Woche vom 22.12.1995. Rötzer, F. (1997): Als Cyborg ewig leben. Spiegel Special 3/1997. Shelley, M. (1986): Frankenstein oder der moderne Prometheus. Stuttgart. Schmieder, K. C. (1927): Geschichte der Alchemie. München-Planegg. Warwick, K. (2004): Fernsehinterview am 6.7.04, 21 Uhr in 3 SAT.

■ Selbstentwicklung, Integration und Desintegration in der Adoleszenz

■ Werner Bohleber

Adoleszente Gewaltphänomene Trauma, Krisen und Sackgassen in der jugendlichen Entwicklung

■ Überblick über adoleszente Entwicklungsprozesse Durch die physische sexuelle Reifung, die plötzlich einsetzende und zunehmende Veränderung des Körpers und die dadurch erlangte Fähigkeit zur genital sexuellen Beziehung wird die seelische Organisation des Adoleszenten einer umfassenden Transformation unterworfen. Die Sexualität gilt es in das Körperbild, in die Selbstrepräsentanz und in die künftigen Objektbeziehungen zu integrieren, und der Jugendliche muss sich auf den Weg machen, neue Liebesobjekte zu finden. Voraussetzung dafür ist die Auflösung der infantilen seelischen Bindung an die Primärobjekte, worin auch eine Ablösung von der Autorität der Eltern und damit die Reorganisation von Über-Ich und Ich-Ideal eingeschlossen ist. Auf dem Weg zu einer zweiten Individuation werden die unterschiedlichen infantilen Identifizierungen auf neue Weise wahrgenommen, akzeptiert oder verdrängt und allmählich zu einer einigermaßen konfliktfreien Identität zusammengefügt und verschmolzen. Auf diesem Weg helfen die neuen sexuellen Triebenergien die Verdrän-

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Selbstentwicklung, Integration und Desintegration in der Adoleszenz

gungsschranke zu lockern und alte unbewusst gemachte präödipale und ödipale Wünsche und Phantasien wieder ins Bewusstsein zu bringen. In ähnlicher Weise werden durch den Wiederholungszwang alte traumatische Erfahrungen und Residuen aktualisiert und im Handeln ausgetragen. Aber nicht nur der sexuelle Körper ist es, der den Adoleszenten herausfordert und bedroht, wie vor allem Moses und Eglé Laufer (1984) betonen, sondern auch ein Körper, der in neuer Weise zur Ausübung von Aggression und Gewalt fähig geworden ist, worauf besonders Henri Parens (1986) hinweist. Nicht nur die Genitalien, sondern auch das Wachstum der Muskulatur haben den Körper zu einem Vehikel gemacht, der die eigenen ödipal-libidinösen, aber auch aggressiv-destruktiven Wünsche verfolgen kann. Er ist zu einer aktiven Kraft geworden, mit der sexuelle und aggressive Phantasien umgesetzt und entsprechende Handlungen ausgeführt werden können. Auf diese Weise kann die Reaktualisierung von Abkömmlingen infantiler unbewusster Phantasien das Ich des Adoleszenten bedrohen, vor allem wenn inzestuöse und aggressiv-mörderische Impulse ins Bewusstsein einbrechen. Gleichzeitig entsteht dadurch auch die Möglichkeit, bessere und andere Lösungsmöglichkeiten für infantile Konflikte und Traumatisierungen zu suchen und zu finden. Ein glückender adoleszenter Entwicklungsprozess ist ein komplexer Balanceakt. Der Jugendliche muss bei der Auseinandersetzung mit der genitalen Sexualität einen Weg finden, auf dem nur die inzestuösen Wünsche und Impulse wieder verdrängt werden, die Sexualität mit anderen Liebesobjekten aber lustvoll freigegeben wird. Ebenso muss er sich von der Autorität der Eltern ablösen, was bedeutet, die Elternbilder zu de-idealisieren, ohne sie aber ganz zu verwerfen. Sie müssen als Identifizierungsobjekte erhalten bleiben. Es darf, wenn man es so ausdrücken will, nur zu einem symbolischen partiellen Elternmord kommen. Auf diesem Weg zu einer gelingenden seelischen Integration ist die adoleszente Psyche vielen Risiken ausgesetzt, die in Sackgassen oder in Zusammenbrüche der Entwicklung mit selbst- und fremddestruktiven Handlungen führen können. Inwieweit der adoleszente Entwicklungsprozess in sich selbst pathogene Züge aufweist oder ob es ausschließlich die pathogenen Vorläufer sind, die dem

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Prozess einen pathologischen Verlauf geben können, ist ein komplexes Problem und letztlich eine Frage der Gewichtung. Dem aufmerksamen Beobachter zeigt das adoleszente Erleben und Verhalten häufig ein doppeltes Gesicht. Es hat sowohl eine progressive entwicklungsfördernde und stabilisierende Funktion als auch eine regressive und die Entwicklung fixierende Wirkung. Dieselbe seelische Erscheinung trägt zumeist Züge von beiden, was ihren spezifischen Charakter von Gefährdung ausmacht. Dies gilt insbesondere für den adoleszenten Narzissmus und für die adoleszente Gruppenbildung, mit denen ich mich etwas ausführlicher beschäftigen möchte. Narzisstisches Verhalten und vor allem Größenphantasien haben in der Adoleszenz eine wichtige Brückenfunktion. Löst sich der Jugendliche von seinen infantilen Bezugspersonen, entbehrt sein Ich die Unterstützung durch die Eltern, die bisher als HilfsIch fungierten. Die elterliche Stütze wird ersetzt durch den Rückhalt in Gruppen von Gleichaltrigen und durch Größenphantasien und Tagträume. Sie haben in dieser Zeit eine wichtige Überleitungsfunktion, bis das Selbstwertgefühl durch reale Gratifikationen und Beziehungen zunehmend gefestigt wird. Objektsuche und Einbindung in die Realität gesellschaftlicher Strukturen haben deshalb eine antinarzisstische Funktion. Metaphorisch gesprochen führen sie dazu, die Größenphantasien und Tagträume »abzuschleifen«. Sind aber die Entwicklungs- und Ablösungskonflikte für den Adoleszenten nicht lösbar und ist der infantile Narzissmus nicht durch eine adäquate Lösung des Ödipus-Konflikts gemildert worden, so kommt es oft zu einer kompensatorischen Fixierung auf die Tagträume und Größenphantasien. Vor allem wenn das voradoleszente Selbst durch Kränkungen, Missachtungen und andere traumatische Erfahrungen fragil geworden ist, kann die Brückenfunktion des Narzissmus überfordert sein. Der Stütz- und Fluchtpunkt des Narzissmus, der an sich einen Entwicklungsspielraum bedeutet, wird dann zu einer Sackgasse, die, wenn sie nicht mehr verlassen werden kann, sich zu einem psychopathologischen Erscheinungsbild auswächst. Zu beobachten ist dann vielfach die Ausbildung eines pathologischen Größenselbst, das sich keiner realen Bestätigung mehr aussetzen kann, sondern mehr und mehr durch archaisch-destruktive Affekte gesteuert

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wird. Ladame (1995) betont in diesem Zusammenhang, dass die Auflösung der alten inzestuös-libidinösen Bindungen und die in sich labile Re-Narzissisierung der adoleszenten Entwicklungsposition zu einer Verstärkung der Anteile des Todestriebs führe. Denn erst mit dem Beginn der Pubertät werde die freiwillige und systematische Selbstzerstörung zum Problem. Der Adoleszente benötigt die Zugehörigkeit zu Gruppen von Gleichaltrigen, um die seelischen Veränderungen durch sexuelle Triebreifung und Loslösung von den Eltern zu bewältigen und neue Ich-Fähigkeiten und Wertsetzungen entwickeln zu können und seine kulturelle Einbindung zu fördern. Subkulturelle Milieus werden so zu Experimentierfeldern, was zu rasch wechselnden Zugehörigkeiten und Identifizierungen mit den unterschiedlichsten Gruppen führen kann. Diese Gruppen entfalten ihre eigenen spezifischen Verhaltensnormen, zu denen oft eine aggressive Herausforderung der Erwachsenenwelt gehört. Die Grenzen zu Antisozialität und Delinquenz sind bekanntlich in der Adoleszenz fließend. Nicht erst jetzt, sondern schon vor längerer Zeit ist in der Literatur beschrieben worden (Buxbaum 1969), wie in adoleszenten Gruppen der Drang, etwas Aggressives zu tun, zu plötzlichen Ausbrüchen und Randalierereien führt, die ohne bewusste Zielsetzung ausagiert werden. Je nach Gruppe kann hier manches entgleisen. Die Wertschätzung von Gewalthandlungen und brutaler Männlichkeit wird dann zur Gruppennorm und dient der Schaffung von Macht und Ansehen. Jugendliche loten durch Grenzüberschreitungen und radikale Provokationen aus, wie weit sie gehen können, und fordern damit eine Begrenzung heraus, die sie auf die Dauer nicht umgehen können, sondern benötigen, um sich daran zu orientieren und sie dann zu verinnerlichen. In dieser Hinsicht kann man von einer Container-Funktion der Gesellschaft für die Entwicklung der Jugendlichen sprechen. Eine besondere Bedeutung kommt bei der Gruppenbildung den Gruppenideologien zu, mit denen ich mich im nächsten Kapitel beschäftigen möchte.

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■ Gewalttätige Ideologien als Sackgasse adoleszenter Entwicklung. Vorweg möchte ich einige Anmerkungen zur Entwicklung aggressiver Affekte machen. Nach Kernberg (1992) gründet die Entwicklung von Libido und Aggression in den lustvollen und unlustvollen frühen Erfahrungen, die sich jeweils aus Einheiten von Selbstund Objekt-Interaktionen unter Führung eines leitenden lustvollen oder unlustvollen Affekts ausbilden. Nach Parens (1991) haben wir von einer angeborenen Tendenz auszugehen, sich zu behaupten, ein Ziel zu erreichen, Widerstände zu überwinden und etwas unter Kontrolle zu bringen. Feindselige Destruktivität ist demnach nicht angeboren, sondern die selbstbehauptende Aggression wird durch exzessive unlustvolle Erfahrung in Destruktivität verwandelt, die sich zunächst beim Säugling als Irritabilität zeigt, dann zu Ärger und Feindseligkeit wird, um sich in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs in Hass zu transformieren, zu dem sich weitere destruktive Affekte wie Sadismus, Masochismus, Neid und Rache gesellen. Das Kleinkind kann sich von einem akuten affektiven Zustand noch nicht distanzieren, sodass ein gehasstes Objekt auch ein hassenswertes Objekt ist und nicht unabhängig von diesem Gefühl bewertet werden kann. Die Gefühle kleben sozusagen am Objekt und sind für das Kind nicht Ausdruck seines inneren Zustands. Die Reversibilität der Affekte wird erst später mit der Fähigkeit zum konkreten operationalen Denken erworben (Hauser u. Smith 1991). In der Adoleszenz wird mit dem Erwerb des abstrakten Denkens, der erweiterten Zeitperspektive und der größeren Fähigkeit zu reflektieren die Möglichkeit geschaffen, von seinen Gefühlen zurückzutreten, sich selbst und andere zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. Die so entstehende Reflexion führt zu einer Aneignung der eigenen Lebensgeschichte sowie von zentralen affektiven Erfahrungen. Mit diesen Fortschritten der kognitiven Entwicklung erhält der Affekt eine komplexere Bedeutung. Der Adoleszente ist in der Lage, scripts und Begründungen für Gefühle zu bilden. Nun kann sich Hass zum Ressentiment weiterentwickeln und ideologische Elemente mit einschließen. Mit dem abstrakten Denken wird auch die Fähigkeit zur Ausbildung einer Weltanschauung erworben. Weltanschauung und

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politische Ideologien haben eine besondere Bedeutung in der adoleszenten Identitätsbildung. Sie sind eine der Erweiterungen, deren Erwerb und Ausgestaltung den Jugendlichen über die Familie hinausführt und in das gesellschaftliche Leben integriert. Die Weltanschauung ist ein Amalgam von gesellschaftlich vorgegebenen Denk- und Urteilskategorien, kollektiv phantasmatischen Inhalten und den ganz persönlichen affektgeladenen Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte sowie deren unbewussten Anteilen. Der Jugendliche benötigt eine solche Verlagerung und Verschiebung seiner inneren konfliktgeladenen Auseinandersetzung mit den mächtigen Eltern-Bildern nach außen, um den Kreis der Familie und damit der infantilen Identifizierungen zu verlassen, eigenständige Lösungen zu finden und neue Identifizierungen in seine Identität zu integrieren. Nun eignen sich politische Ideologien in besonderer Weise zur Externalisierung von inneren unlösbaren Konflikten des Jugendlichen. Ein inneres Drama wird auf die äußere Bühne verlagert. Geeignet sind dafür vor allem Ideologien, die ein manichäisches Weltbild haben und ein Freund-Feind-Denken mit eindeutigen Gut- und Böse-Zuschreibungen aufweisen. Diese Weltbilder sind in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Jugendlichen doppeldeutig. Einerseits hilft die jugendliche Entschiedenheit, Kompromisslosigkeit und das Entweder-oder-Denken, sich loszureißen und eigene Standpunkte einnehmen zu können, andererseits besteht die Gefahr, daran fixiert zu bleiben. Dies droht vor allem, wenn massive Hass- und Enttäuschungsgefühle vorhanden sind, die soziale Einbindung nicht funktioniert und der Jugendliche sich entwertet fühlt. Dann liefern politische Ideologien der jugendlichen Persönlichkeit Denk- und Handlungswege, die ihm als Ausweg aus unlösbar erscheinenden Problemen imponieren, aber den Weg zu einer reifen Individuation abschneiden. Anstatt sich selbst daran abzuarbeiten, definiert nun die Ideologie beziehungsweise die Gruppe, die sie vertritt, was richtig und was gut oder böse ist. Die Gruppennormen treten an die Stelle eines individualisierten Über-Ich. Die adoleszente Entwicklung droht dadurch kurzgeschlossen zu werden und in eine Sackgasse zu geraten. Der schmerzhafte Weg zur Individuierung unterbleibt und reife seelische Kompromisslösungen, Amalgamierungen von Gut und Böse und das Ertragen von Ambivalenzen werden damit ver-

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hindert. Stattdessen unterliegt sowohl die innere als auch die äußere Welt einer Spaltung. Auf der einen Seite existieren ideale geliebte Objekte, zu denen man gehört und die man besitzen will, auf der anderen Seite befinden sich Hassobjekte, auf die schwache, ängstliche und verachtete Selbstanteile projiziert, verfolgt und zerstört werden können. Das gilt nicht nur für die Weltanschauung, sondern auch für gewaltbereite Cliquen und Jugendgangs. Hier wird eine inkonsistente und widersprüchliche Gruppenideologie häufig durch gewalttätiges Handeln in ihrer »Wahrheit« gesichert. Umwertungen finden statt, durch die sich Jugendliche, die sich als »Verlierer« empfinden, zu »Siegern« machen. Dabei werden unerträgliche Erfahrungen, Affekte und Ängste auf das äußere Objekt projiziert, um sie dort gewaltsam zu bekämpfen. So kann die jugendliche Gewalt dazu dienen, schwache, verachtete, hilflose und beschämende Selbstanteile in dem angegriffenen Opfer zu zerstören, um selbst frei davon zu werden und in sich nur noch ein starkes Selbstbild zu dulden. Wird diese Art der Selbstkonstituierung nicht aufgehalten, so ist der Adoleszente in Gefahr, den inneren Kontakt mit den projizierten, schwach, hilflos und beschämend erlebten Anteilen vollständig zu verlieren. Die entstehende innere Leere wird dann mit künstlichen Versatzstücken gefüllt, wozu sich Gruppenideologien, aber vor allem auch rechtsradikale politische Weltanschauungen hervorragend eignen. Der adoleszente Entwicklungsprozess gerät dadurch in eine Sackgasse oder wird abgebrochen. In der Vorgeschichte dieser Adoleszenten finden sich oft traumatische Kindheitserlebnisse, Verlassenheitserfahrungen, Vernachlässigung, Misshandlung, fehlende Väter und unlösbare sadomasochistisch strukturierte Beziehungen zu den Müttern.

■ Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Bewahrung des Selbst durch Gewalt Eben habe ich schon den Zusammenhang von projektiver Identifizierung, Gewalt und Selbstbehauptung angesprochen. Diese innere Dynamik von Selbstbewahrung und Gewalt möchte ich noch

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näher betrachten, beginne aber zunächst mit einigen empirischen Befunden. Neuere sozialwissenschaftliche Forschungen zeigen, dass viele Kinder schon früh Gewalterfahrungen machen mussten (Wetzels 1997). 75 Prozent der Befragten gaben an, dass sie als Kinder elterlicher Gewalt ausgesetzt waren, und 22 Prozent, dass sie Zeugen physischer Gewalt der Eltern untereinander wurden. Darunter befinden sich zehn Prozent Befragte, die von ihren Eltern nicht nur gezüchtigt, sondern regelrecht misshandelt worden waren. Kinder, die massiv und anhaltend Gewalt erfahren haben, lernen, sie als einen Weg zu nutzen, Konflikte zu lösen und den Gebrauch von Gewalt zu rationalisieren. Es gehört zu den gesicherten Ergebnissen der empirischen Forschung, dass durch Gewalt viktimisierte Kinder später als Jugendliche oder Erwachsene viel wahrscheinlicher gewalttätig werden als andere. Das heißt nicht, dass innerfamiliäre Gewalterfahrung in der Kindheit notwendig zu Gewalt in der Adoleszenz führen muss. Aber umgekehrt gibt es eine überwältigende empirische Evidenz: Jugendliche und junge Erwachsene, die andere gewalttätig misshandeln, waren sehr häufig bereits in der Kindheit direkte oder indirekte Opfer von Gewalt. Sozialwissenschaftler sprechen von einem »Kreislauf der Gewalt«, der sich vor allem auf zwei Wegen entfaltet: – Die von der Herkunftsfamilie erfahrene Gewalt wird auf die später gegründete eigene Familie intergenerationell übertragen. – Die Misshandlung im Kindesalter führt zu einer außerfamiliären Gewaltkriminalität im Jugend- und Erwachsenenalter. Unstrittig und statistisch nachgewiesen ist der Zusammenhang von erlittener Gewalt in der Kindheit mit der späteren Gewalttätigkeit, aber die Frage, wie es denn zur Übertragung der frühen erlittenen Gewalterfahrung auf spätere familiäre und außerfamiliäre Lebenszusammenhänge kommt, bleibt offen. Wie aus Opfern Täter werden ist sozialwissenschaftlich noch ungenügend erforscht. Bevor ich auf die Beiträge der Psychoanalyse zur Auswirkung von Misshandlung auf die sich entwickelnde Persönlichkeit eingehe, möchte ich eine wichtige sozialwissenschaftliche qualitative Studie von Ferdinand Sutterlüty (2002) vorstellen. Sutterlüty ging von dem irritierenden Phänomen aus, dass sich für gewalttätige Jugendliche mit der Gewaltausübung durchaus positive und sogar lustvolle Erleb-

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nisse verbinden. Die Taten versetzen sie in einen euphorischen Zustand. Sutterlüty hat nun mithilfe von Interviews die Erlebnisqualität der Gewalttat eingehend erforscht und deren Verständnis auf der Basis der lebensgeschichtlichen und familiären Vorerfahrungen dieser Jugendlichen erschlossen. So sind wesentliche Aspekte und Erscheinungsformen von Jugendgewalt nicht zu verstehen, wenn bestimmte subjektive Erfahrungen unberücksichtigt bleiben, die mit der Gewaltausübung selbst verbunden sind. Die Erfahrung des Triumphes der physischen Überlegenheit, das Genießen des Schmerzes des anderen und die euphorisierende Überschreitung des Alltäglichen bilden oftmals das entscheidende motivationale Agens des gewalttätigen Handelns der Jugendlichen. Diese sind ausnahmslos in Familienverhältnissen aufgewachsen, in denen ein dauerhafter Gewaltzusammenhang vorzufinden war. Nicht nur wurden diese Jugendlichen als Kinder geschlagen, sondern sie wurden auch häufig Zeugen von Gewalt gegen andere Familienmitglieder. Neben der unmittelbaren Gewalt sind es vor allem anhaltende Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen, die einen verheerenden Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Neben der physischen Wehrlosigkeit, den Angstzuständen und der moralischen Verletzung – nämlich ohnmächtig zuschauen zu müssen, ohne eingreifen zu können – verändern vor allem die seelischen Missachtungserfahrungen die Selbstbilder der betroffenen Kinder negativ und führen in einen Teufelskreis weiterer Missachtungserfahrungen in Familie und Schule. Auch enthalten der Hass und die Rachewünsche, die in die Zukunft projiziert werden, bereits Konturen eines Selbstbildes, künftig selbst zum Täter zu werden. Macht über andere zu erlangen und zu genießen, wird zu einer vorherrschenden Wunschvorstellung. Herangewachsen erleben diese Jugendlichen dann mit ihrer ersten Gewalttat ein bisher nicht gekanntes Gefühl der Selbstachtung, die in einem diametralen Gegensatz zu den erniedrigenden Gewalterfahrungen in der Familie stehen. Sutterlüty spricht hier von »turning point experiences«, bei denen diese Jugendlichen in der Art einer »epiphanischen Erfahrung des Rollentausches« vom Opfer zum Täter werden. In der ersten Gewalttat erleben sie schlagartig die Möglichkeit, ihre eigene kindliche Opfergeschichte zu beenden und zu einem neuen Verständnis ihrer selbst durchzubrechen. Auch entwickeln diese Jugendlichen eine

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extreme Sensibilität für Handlungen anderer, die sie aus ihrer Sicht wieder in eine ohnmächtige, ausgeschlossene oder erniedrigte Position zu bringen drohen. Oft genügt hier ein Blick des anderen, in den sie Verachtung oder Aggressionsbereitschaft hineinlesen, oder ein falsches Wort, um eine gewalttätige Reaktion hervorzurufen. In der Tiefe steckt die Furcht, wieder entwertet und verachtet zu werden, und deshalb lehren diese Jugendlichen in einer kontraphobischen Abwehr andere das Fürchten. Ihr aufkeimendes, auf Gewalt gründendes Selbstverständnis möchten sie nicht mehr missen und Gewalt wird damit auf Dauer gestellt und zu einer positiven Eigenschaft ihres Selbstbildes.

■ Psychoanalytisches Verständnis von Selbstbehauptung und Gewalt Was in diesen Fällen in den Blick kommt, sind schwere narzisstische Kränkungen und unerträgliche seelische Zustände, die durch Gewalt beendet werden. Der »Kreislauf der Gewalt« kann psychoanalytisch mit Anna Freud (1936) als eine Identifizierung mit dem Aggressor erklärt werden. Das Opfer identifiziert sich mit dem Aggressor, um auf diese Weise einem misshandelten verletzlichen Selbst zu entkommen, das dann in eine andere Person als künftiges Opfer projiziert wird. Ursprünglich von defensiver Qualität, wird die Identifizierung mit dem Aggressor dann in der Adoleszenz durch solche turning point experiences zu einem Teil der Struktur des Selbst. Die psychoanalytische Gewaltforschung hat sich in den letzten 10–20 Jahren wesentlich über diese Konzeption einer Identifizierung mit dem Aggressor hinaus entwickelt (vgl. dazu Cartwright 2002; Perelberg 1999). Vor allem die defensive Rolle von Aggression und Gewalt zum Schutz einer fragilen Selbstrepräsentanz und Identität steht dabei im Mittelpunkt unterschiedlicher theoretischer Ansätze. Unterscheidet man mit Glasser (1998) selbstbehauptende und sadomasochistische Gewalt, so werde ich mich auf erstere beschränken und drei zentrale Erklärungsmuster der gegenwärtigen psychoanalytischen Gewaltforschung darstellen.

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■ Objektrepräsentanzen, Identifizierung und Gewalt Einige der neueren Theorien zur Gewalt greifen auf Freuds erste Triebtheorie und die Selbsterhaltungstriebe zurück. Sie unterscheiden eine Gewalt, die der Selbsterhaltung dient, von einer erotisierten Aggression und dem Sadismus. Hat Letzterer ein Objekt im engeren Sinn, so fehlt dieses bei der selbsterhaltenden Gewalt. Das Objekt taucht dabei nur als »Nicht-Ich« auf (Bergeret 1996; Oliner 2001), und es herrscht eine Indifferenz gegenüber dem Schicksal des Objektes vor, auch fehlt jede sadistische Lust an der Zerstörung. Nach Melvin Glasser (1998) wird bei der selbstbehauptenden Gewalt ein biologisch vorprogrammiertes primitives Reaktionsmuster bei Gefahr für die narzisstisch-dynamische Balance und die Autonomie des Selbst ausgelöst. Zum Kernkomplex, der dieser Gewalt zugrunde liegt, gehören einerseits Sehnsüchte nach einer unauflösbaren Einheit mit dem Objekt und andererseits Ängste vor psychischer Überwältigung, Entwertung, Vernichtung und Verlassenheit. Gewalt taucht hier als Antwort auf eine zentrale Dynamik auf, in der das Selbst von einem primären Objekt überwältigt oder verschlungen zu werden droht. Sie ist ein verzweifelter Versuch, zwischen sich und dem Objekt Distanz zu schaffen. Deshalb wird von vielen Autoren auch das fehlende kohärente väterliche Objekt als eines der Hauptprobleme von gewalttätigen Individuen herausgearbeitet. Perelberg (1999) beobachtete schnell oszillierende Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Identifizierungen, was es schwer macht, eine einigermaßen kohäsive Identität zu erlangen. Identifizierung mit einem weiblichen Objekt und dessen Assoziierung mit Passivität bildete einen spezifischen Auslöser für Gewaltreaktionen bei manchen männlichen Patienten. Eine fragile männliche Identität wird durch wiederholte Gewalttätigkeit aufrechterhalten, womit eine bedrängende Identifizierung mit einem weiblichen Objekt abgebogen wird. In jedem dieser Fälle waren die Identifizierungen instabil und ließen die weiblichen Identifizierungen zur größeren Gefahr werden. Dies gilt insbesondere auch für die gewalttätigen Adoleszenten, bei denen das aggressive provozierende Auftreten häufig der Abwehr von intensivem Objekthunger und passiven libidinösen Bedürfnissen und Sehnsüchten nach Zuwendung dient.

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■ Mentalisierung und Gewalt Andere theoretische Ansätze nehmen ihren Ausgangspunkt bei Bion, der die Evakuierung, das heißt die Ausstoßung negativer seelischer Inhalte durch projektive Identifizierung, in die psychoanalytische Theorie eingeführt hat. Gewalt ist hier der Ausdruck eines nichtmentalisierten Drangs zu handeln, der auf einem Mangel an Fähigkeit zu symbolisieren beruht. Ein bedrohlich unerträgliches Erleben, das aber nicht als mentalisierter Gedanke oder als Phantasie vorhanden ist, wird aus der Psyche ausgestoßen, in einem anderen Menschen projektiv untergebracht, um dann dort bekämpft oder ausgeschaltet zu werden. Das der Gewalttat zugrunde liegende Empfinden ist insofern nicht als ein mentalisierter Gedanke im psychischen Raum repräsentiert, sondern die externe Realität wird sozusagen als Ersatz für den psychischen Raum genutzt. Das kann der eigene Körper oder der eines anderen sein. Die Forschungen zur Mentalisierung von Fonagy und Target (1995, 2000) zeigen, dass bestimmte Formen unvollständiger Integration des Selbst auf eine ungenügende Mentalisierung psychischer Realität zurückgehen. Sie unterscheiden ein »prereflective self« von einem »reflective« oder »psychological self«. Solchen Patienten fehlt ein verinnerlichter Dialog, der es ermöglicht, innere Erfahrungen als solche zu repräsentieren. Diese mentale Funktion entsteht dadurch, dass die Mutter den inneren Zustand des Kindes erfasst und ihn ausdrückt, das heißt mit Bedeutung versieht und dem Kind zurückspiegelt. Geschaffen wird damit eine Repräsentanz zweiter Ordnung, sozusagen eine Meta-Repräsentation der ersten unmittelbaren Erfahrung, sowie die Vorstellung eines intentionalen Selbst. Vor allem bei depressiven oder narzisstischen und misshandelnden Müttern oder Vätern misslingt dieser Spiegelprozess häufig. Dann wird nicht die eigene Erfahrung des Kindes, gespiegelt durch die Mutter, internalisiert, sondern der Zustand der Mutter oder des Vaters direkt. Das führt zu Fremdkörpern im Selbst, die nicht integrierbar sind und häufig wie eine fremde innere Stimme erlebt werden. Oft in einem dissoziierten Zustand, suchen solche Menschen verzweifelt danach, sich selbst zu spüren und zu finden und sich von den inneren Fremdkörpern zu befreien, indem sie diese externalisieren und mit Gewalt bekämpfen.

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Ich möchte diese komplexen Zusammenhänge mit ein paar Beispielen veranschaulichen. Selbstdestruktive Akte dienen zum einen dazu, sich von solchen fremden inneren Introjekten zu befreien, aber andererseits auch, um sich selbst zu spüren. Eine Patientin, die sich regelmäßig mit einer Spritze die Arme aufritzte, sprach davon, dass sie damit einen unerträglichen inneren Zustand loswerden wollte und sich dadurch von etwas Fremdem, Schmutzigem zu befreien suchte. Dieser Zustand war auch deshalb so unerträglich, weil er so diffus war und sie sich nicht als ein Selbst spürte. Indem sie sich schnitt und das Blut an den Armen herunterlief, kam das innere Spüren wieder in den seelischen Innenraum zurück. Da der mentale psychische Innenraum zum Spiegeln ihrer Erfahrung in einem inneren Dialog nicht zur Verfügung stand, diente dieser Patientin ihr Körper dazu, diese diffuse und unerträglich erscheinende Erfahrung auszudrücken und ihr damit eine konkrete Form zu geben. Eine andere spätadoleszente Patientin, die seit ihrer Kindheit an einer chronische Erkrankung litt, war ständig damit beschäftigt, dass sich ihre Mutter damit abquälen könnte, was sie für ein missratenes Kind habe. Die Mutter war nur sehr partiell in der Lage, dem Kind zu helfen, weil sie dessen Defekt nicht verarbeiten konnte und dem Kind kein positives Bild seiner selbst zurückspiegeln konnte, sondern die Patientin hatte als Kind Abneigung, Ekel und Unverständnis der Mutter internalisiert. Eine Folge dieser mangelhaften Mentalisierung beschrieb die Patientin sehr eindrücklich, dass nämlich andere Personen in sie reinmarschieren und dort groß in ihr sitzen können. Sie musste dann überlegen, ob sie etwas getan hat, was andere verstimmt hat. Dies führte zu stundenlangem Grübeln, mit dem sie darauf eine Antwort suchte, aber auch sich selbst zu verstehen hoffte. Reichte dies nicht aus, so musste sie sich schneiden, um auf diesem Weg ihr Selbst zu definieren. Das Bild der Mutter residierte auf diese Weise in ihrer Innenwelt und in ihrem Körper. Sich zu schneiden diente dann auch dem Versuch, diese Mutter anzugreifen und sich von ihr zu befreien. Vor Gewaltakten baut sich bei Menschen, bei denen wir es mit einer solchen psychischen Dynamik zu tun haben, zunächst eine unerklärliche Spannung und Wut auf. Unerträgliche Gedanken

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und Gefühle, vor allem aus dem Bereich von Scham und Demütigung, werden dabei wie eine physische Realität erlebt. Ein potenzielles Opfer ist dann derjenige, der irgendwie, oft nur durch einen Blick, eine Geste oder ein falsches Wort, Anlass bietet, diese unerträglichen Gefühle und Gedanken in ihn hineinzuprojizieren. Indem man ihn angreift, sucht man sie dort auszulöschen, um selbst frei davon zu werden. Theoretisch gesprochen heißt dies: Der mentale Innenraum dieser Menschen ist nicht genügend ausgebildet. Die eigene Erfahrung, nur diffus oder gar nicht als eigene begriffen, wird in den eigenen Körper oder in eine andere Person als Container hineinprojiziert, dort erfahren und angegriffen. Nun ist bei diesen Menschen in der Regel nicht die gesamte Innenwelt unzureichend mentalisiert und die Neigung zur Gewalt ist vom jeweiligen Grad seelischer Symbolisierung abhängig. Zumeist sind es ganz spezifische Teilbereiche der Persönlichkeit, die aus unterschiedlichen Gründen nicht symbolisch repräsentiert worden sind (Cartwright 2002). So kann es vor allem bei der Aktualisierung von bestimmten inneren Objektbeziehungen oder bei einer situationsbezogenen Reaktualisierung von traumatischen überwältigenden Erfahrungen, die durch das Symbolsystem nicht verarbeitet werden konnten und sozusagen »unverdaut« blieben, zu gewalttätigen Reaktionen kommen. Dies leitet über zur dritten Gruppe von Erklärungsansätzen

■ Trauma und Täter-Opfer-Strukturen Steht bei dem eben dargestellten Erklärungsansatz von Gewaltphänomenen eine ungenügende seelische Strukturierung im Sinne einer mangelnden Selbstreflexion im Mittelpunkt, so sind es bei einem anderen Erklärungsmuster traumatisch erfahrene gewalttätige Objektbeziehungen, die sich als Täter-Opfer-Identifizierungen niederschlagen. Das Problem bei allen Traumatisierungen besteht darin, dass die eigene Wut und Aggression durch die traumatische Situation der Hilflosigkeit und Ohnmacht keinen Ausdruck finden kann. Kernberg (2000) beschreibt die Auswirkung auf die unbewussten internalisierten Objektbeziehungen. Der Wutaffekt und der Schmerz,

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den das Selbst erfährt, wird mit der Objektrepräsentanz kontaminiert und dem äußeren Objekt, in diesem Fall dem Täter, zugeschrieben, der dadurch noch hassvoller und sadistischer erlebt wird. Diese dominierende internalisierte Beziehung tendiert später dazu, mit vertauschten Rollen in Handlung umgesetzt zu werden, das Opfer wird dann zum Täter. Krause (2001) spricht von Prozessen der Desidentifizierung, die häufig bei beschämten traumatisierten Opfern einsetzen und diese zu Tätern werden lassen. Ihr beschämtes Opfer-Selbst erscheint ihnen als unerträglich. Es wird dann in neue Opfer hinein externalisiert und dort in Identifizierung mit dem Täter bekämpft und vernichtet. Stephen Rush (2000) hat eine andere Sicht auf diese Identifizierungsprozesse entwickelt. Er versucht, bestimmte Formen von destruktivem Narzissmus als Notfallreaktion auf ein primäres traumatisches Desaster zu erklären. Im dem Augenblick, in dem die Misshandlung oder eine andere Form von schwerer Traumatisierung erfolgt, geht das Vertrauen und jedes Sicherheitsgefühl verloren. Um die Situation psychisch zu überleben, wird das traumatisierende Objekt an die Stelle eines guten beschützenden Primärobjekts gesetzt. Außerdem führt die Tendenz des Kindes zu anthropomorphisieren dazu, dass der Schmerz und alle alarmierenden Gefühle als innere Angreifer und als Feind erlebt werden. Das Kind forme daraus ein »feeling object«, das sich mit dem idealisierten Täterintrojekt zu einem destruktiven inneren Objekt verbinde, mit dem sich dann das kindliche Selbst identifiziere. So findet im Moment des Schmerzes, des Terrors und der Todesangst eine Verschmelzung des Selbst mit einer omnipotent erlebten Destruktivität statt. Auf der inneren Bühne agieren dann zwei Imagines: das hilflose Selbst, das verlassen worden ist, und die tödliche Figur, die das hilflose Selbst angreift und sich als Herrscherin über Schmerz und Schrecken geriert. Dieser Konzeption von traumatisch induzierter Gewalt liegen die neueren objektbeziehungstheoretischen Ansätze zum Verständnis des Traumas zugrunde. Ihnen zufolge zerbricht in der traumatischen Erfahrung die innere kommunikative Dyade zwischen den Selbstrepräsentanzen und den guten inneren Objekten, was eine absolute innere Einsamkeit auslöst. Das innere gute Objekt verstummt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt.

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Auf dieser Basis sucht Sue Grand (2000) den Kreislauf der Gewalt psychoanalytisch zu verstehen. Sie stützt sich dabei auf Material aus der psychoanalytischen Behandlung von Patienten, die zumeist als Kinder ein malignes Trauma mit schwerer und anhaltender Misshandlung erlitten hatten und später reviktimisiert wurden oder sich selbst in Gewalttäter verwandelten. Auch Grand geht davon aus, dass der Kern der traumatischen Erfahrung in einer katastrophischen Einsamkeit besteht, die mit dem Erleben einer Auslöschung des Selbst verbunden ist. Es entsteht eine tote, quasi autistische Zone eines Nicht-Selbst ohne empathischen Anderen. Dieser Bereich der Persönlichkeit ist nicht formulierbar und kann nicht in einem sprachlichen Narrativ kommuniziert werden. Verübt ein traumatisiertes Opfer, das später aufgrund anhaltend pathologisierender Bedingungen beziehungsweise einer unempathischen Umwelt zum Täter wird, eine Gewalttat, so versucht er dadurch – so Grand –, die innere Erfahrung der absoluten Einsamkeit und seines Nicht-Selbst in sein Opfer hineinzuverlagern, damit der es erlebt und beide darin verbunden sind, wobei der Täter in omnipotenter Verkennung hofft, es dadurch loszuwerden. Wie Grand beschreibt: »there is a meeting which is no meeting in the execution itself« (Grand 2000, S. 6). Gewaltphänomene ziehen Folgen in der sozialen Realität nach sich; insofern steht immer auch das Verhältnis von innerer und äußerer Realität im Fokus unserer Betrachtung. Nachdem ich bis jetzt die seelische Dynamik von Gewaltphänomenen dargestellt habe, möchte ich mich nun in meinem letzten Kapitel mit äußeren institutionellen Faktoren und mit deren protektiver Funktion beziehungsweise deren Versagen beschäftigen.

■ Die Bedeutung von sozialen Institutionen für die jugendliche Entwicklung Die psychoanalytische Untersuchung jugendlicher Entwicklungsverläufe zeigt, wie innere Probleme eine äußere Einbindung in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen verunmöglichen, aber auch, wie eine spezifische soziale Umwelt oder ein mangelnder

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Außenhalt eine seelische Regression auf archaische Befriedigungsund Funktionsweisen bewirkt. Massive anhaltende Enttäuschung von Lebensperspektiven sind im Jugendalter von verheerender Bedeutung für den Entwicklungsprozess, da sie das Ich des Jugendlichen hilflos und ohnmächtig machen, depressiven Sinnlosigkeitsgefühlen den Weg ebnen und Hass, Wut und Gewalttätigkeit erzeugen. Sozialwissenschaftlich ist vielfach die Zermürbung der klassischen Sozialisationsinstanzen, vor allem von Familie und Schule und die Zersetzung der traditionellen Moral festgestellt und als eine Folge die Rückkehr der Gewalt in den Alltag der zivilisierten Gesellschaft beschrieben worden. Etwas allgemeiner kann man psychoanalytisch davon sprechen, dass die Containerfunktion der Gesellschaft für Entwicklungsprozesse als löchrig und beschädigt anzusehen ist. Ich möchte ein kurzes Beispiel geben. Einer meiner jugendlichen Patienten schilderte, wie er als Schulanfänger aufgrund seiner schon damals bestehenden schweren neurotischen Problematik aufgedreht agierte, störte und sich nicht einordnen konnte und wie wichtig es ihm war, die Aufmerksamkeit seiner Lehrer zu erringen. Er wurde rasch zum Außenseiter und zum Objekt körperlicher Gewalt vor allem von ausländischen Mitschülern, die ihm in Pausen und nach Schulschluss auflauerten und ihn schlugen, traten oder auch zusammenschlugen, was sich ständig über mehrere Jahre wiederholte. Die Eltern waren hilflos, sie hatten selbst Schwierigkeiten, sich sozial zu integrieren, und ihre zaghaften Versuche, in der Schule zu intervenieren, halfen nichts. Die besondere Verzweiflung des Jungen daran, dass nie einer der Lehrer eingeschritten sei, ist noch heute von besonderer Valenz, wenn er sich immer wieder fragt: »Weshalb wurde das zugelassen, weshalb ist niemand eingeschritten?« Mit zehn Jahren machte er aus einem Gefühl der Sinnlosigkeit seines Lebens heraus einen ersten Suizidversuch. Er gab es auf, normal sein zu wollen und Anerkennung zu bekommen und schloss sich rechtsradikalen Gruppen an, die sich auch als Außenseiter fühlten und ihm ein Gemeinschaftsgefühl vermittelten. Wenig später begann er, Drogen zu nehmen. Jetzt war er jemand, der plötzlich zumindest von einigen Lehrern in der Schule Aufmerksamkeit und Zuwendung bekam. Ich kann seine weitere Entwicklung hier nicht schildern. Noch

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heute als über 20-Jähriger leidet er einerseits unter massivem Hass und mörderischen Gewaltphantasien gegenüber der Gruppe seiner ehemaligen Peiniger, andererseits unter einem masochistisch strukturierten Kreislaufdenken, in dem er all die Demütigungen von damals wieder durchspielt und regelmäßig mit einem phantasierten Suizid enden lässt, was ihn befriedigt. In einer eindrücklichen sozialwissenschaftlichen Einzelfallstudie beschrieben Bergmann und Leggewie (1993) zwei Jugendliche, die ein Asylbewerberheim anzünden wollten. Sie hatten Molotowcocktails geworfen, aber durch glückliche Umstände keinen großen Schaden angerichtet. Beide Jugendliche stammten aus einem geordneten kleinbürgerlichen Milieu, beide hatten einen Beruf. Sie berichteten, wie ihnen eigentlich niemand nach der Tat Vorhaltungen gemacht hatte. Nach der Entlassung aus der Haftzelle habe eine der Mütter zu ihrem Sohn gesagt: »Ich zahl dir den Rechtsanwalt.« Statt mit Strafe zu reagieren, habe sich der Vater mit psychosomatischen Beschwerden aus dem Staub gemacht. Befragt, äußerte sich der jugendliche Täter über seinen Vater: »Ich habe keinen Vater, der ist für mich gestorben.« Auch sonst schien niemand sie mit der Schwere der Tat konfrontiert zu haben. Schon vorher scherte sich niemand um ihr horrendes Outfit, um den mit Tätowierungen übersäten Körper, was als jugendliche Marotte abgetan worden war. In den Augen dieser Jugendlichen erschienen die 40- bis 50-Jährigen als eine geschwätzige Generation, die die Probleme nicht anpackt, sondern nur beredet. Als Vorbild erwählten sie sich eher den soldatischen Großvater und die »deutschen Arbeitnehmer«, bei denen Werte von Leistung, Disziplin und Nation hoch im Kurs stünden. Was wir hier neben anderen Problemen vorfinden, ist im Grunde eine tiefe Kommunikationsstörung zwischen den Generationen. Die Jugendlichen versuchen, die Erwachsenen mit ihrem Aussehen und ihrem Handeln zu schockieren und herauszufordern. Darauf zu reagieren und Grenzen zu setzen, ist auch ein Akt der Kommunikation, der den Jugendlichen ermöglicht, sich in Widerspruch oder Akzeptanz daran zu definieren. In einer detailgenauen Untersuchung des Schulmassakers von Littleton in Colorado im Jahr 1999 beschreibt Stuart Twemlow (2000), wie die beiden Täter bis circa ein Jahr vor der Tat sozial in-

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tegriert in vollständigen, kleinbürgerlichen Familien aufgewachsen waren. Nach einer narzisstischen Kränkung durch eine Zurückweisung beim Militär – einer der beiden wurde nicht bei den Marines aufgenommen – entwickelten diese Jugendlichen in dem Jahr vor der Tat extreme antiamerikanische und neonazistische Haltungen und idealisierten ihre Außenseiterrolle. Sie waren Teil einer Clique, die in dem Jahr vor der Tat zunehmend zur Zielscheibe einer anderen Gruppe von Schülern wurde, die – sehr sportlich – in der Schule ein hohes soziales Ansehen genossen und sich darauf fixierten, diese Clique zu schikanieren, mit allen möglichen Mitteln zu tyrannisieren und zu schlagen. Dies begünstigte bei den beiden späteren Tätern eine fortschreitende innere Desintegration und einen Rückzug in eine Welt mit brutalen VideoGames. Sie hantierten mit Waffen und Sprengstoff, idealisierten Tod und Töten. Weder die Eltern noch die Lehrer oder die Schulleitung nahmen diese Zeichen schwerer sozialer und seelischer Desintegration ernst, die Verleugnung erschien nachträglich gesehen kaum begreiflich. Mitschüler fühlten sich hilflos und hatten selbst Angst, Opfer zu werden. Twemlow zeigt, wie Täter, Opfer und Zuschauer dialektisch aufeinander bezogen waren, weil sie sich gegenseitig projektiv mit schlechten abgelehnten Selbst- und Objekt-Repräsentanzen identifizierten. Auch stachelte die Demütigung der Opfer die sadistische Erregung der Täter immer mehr an. Das ganze soziale System der Schule war zunehmend in einen unbewussten regressiven Abwehr-Prozess von Angst, Rationalisierung und Verleugnung geraten, der die schweren Viktimisierungsvorgänge möglich machte, die dann zu der tödlichen Gewalt führten. Auch Twemlow gebraucht Bions Container-Modell mit seiner Funktion, unerträgliche Affekte in sich aufzunehmen und dann gemildert und gefiltert zur Identifizierung wieder zurückzugeben. Psychoanalytisch kann damit die hohe Bedeutung beschrieben werden, die soziale Institutionen für die individuelle Entwicklung haben. Wenn eine soziale Gemeinschaft wie die Schule Aggression und Gewalt nicht aufnehmen, mildern und transformieren kann, die in den Interaktionen von Schülern untereinander und mit den Schulinstanzen ausagiert wird, so re-internalisieren sehr wahrscheinlich viele Schüler das Bild einer Furcht erregenden Umwelt,

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die bestimmt ist durch Sinnlosigkeit, sowie durch ein Fehlen von mitfühlender Gegenseitigkeit und Hilfsbereitschaft. Dies kann ein persistierendes Gefühl der Schutzlosigkeit nach sich ziehen, verbunden mit einem labilisierten inneren Zustand, in dem sich die Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe mit Täter-OpferStrukturen mischt und eine Präokkupation mit Gewaltphantasien zur Folge hat. Ich komme zum Schluss. Mit meinen letzten Ausführungen wollte ich noch einmal deutlich machen, dass wir bei turbulentem und auch gewaltbereitem Verhalten Jugendlicher uns weder von Gefühlen der Abneigung und Ablehnung noch von Gefühlen der Verleugnung leiten lassen dürfen. Weder sollten wir diese Jugendlichen zu kleinen Monstern machen noch ihre Taten verharmlosen. Beide Reaktionsweisen liegen nahe. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, die Komplexität adoleszenter Phänomene zu beleuchten und verständlich zu machen.

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■ Rolf Haubl

Gewalt in der Schule

Spätestens seit dem Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002, während dem der 19-jährigen Schüler Robert ein Massaker veranstaltet hat, das 17 seiner Mitschüler und Lehrer das Leben kostete (vgl. Eisenberg 2002), ist in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, die Gewalt in Schulen habe in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Man befürchtet US-amerikanische Verhältnisse, wo jährlich 3.000 Kinder und Jugendliche erschossen werden, davon etwa 50 in der Schule, weshalb es an den Toren vieler Schulen inzwischen Metalldetektoren gibt, die Waffen aufspüren, und eine Schulpolizei über das Gelände streift (Devine 2000). Aber nur ein Befund über das Ausmaß von Gewalt in deutschen Schulen ist bislang wirklich sicher: dass Gewalthandlungen nicht so zugenommen haben, wie es Medienberichte suggerieren. Denn aufgrund zahlreicher Methodenprobleme (Krumm 1997) bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, eine valide Diagnose zu stellen. Nicht nur, dass die meisten Untersuchungen keine Beobachtungsstudien sind, sondern auf Befragungen beruhen, in denen Schüler und Lehrer über bei anderen wahrgenommene und/oder selbst ausgeübte Gewalthandlungen Auskunft geben, es handelt sich auch in erster Linie um Querschnittsstudien, die keine Aussagen über zeitliche Verläufe erlauben. Zwar gibt es auch einige, allerdings regional begrenzte Längsschnittstudien, mit denen solche Aussagen möglich sind (Mansel u. Hurrelmann 1998; Tilmann et al. 1999; Fuchs et al. 2001), deren Ergebnisse lassen aber keine eindeutigen Schlüsse zu. Berücksichtigt man den internationalen Forschungsstand, so wird dort mit maximal 15 Prozent gewaltbereiter Schüler gerechnet, die geringfügigere, aber auch strafrechtlich relevante Delikte

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wie schwere Körperverletzungen oder Erpressungen begehen. Nimmt man ausschließlich Straftatbestände in den Blick, sind sie an deutschen Schulen nach wie vor eher die Ausnahme (Schäfer 1996). Insofern besteht kein Grund zur Panik. Allerdings ist die Frage, ob die Gewalt in Schulen zugenommen habe oder nicht, letztlich auch unerheblich, um die Relevanz des Themas und den daraus resultierenden Handlungsbedarf zu beurteilen. Das aktuelle Ausmaß der Gewalthandlungen weicht – und sei es nur in der Wahrnehmung der schulischen Akteure – so sehr von dem als notwendig erachteten Zivilisationsstandard ab, dass es dringend Not tut, zu untersuchen, welches die Bedingungen für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Gewalt in der Schule sind und wie sich ein friedliches Miteinander-Leben und Miteinander-Lernen in dieser Institution gewährleisten lässt. Die Gewalt in der Schule ist nur schwer von dem weiter gefassten Bereich der Jugendgewalt zu trennen. Da die Schule einen großen Teil des Alltags von Jugendlichen ausmacht, wird sie zwangsläufig zu einem Ort der Jugendgewalt. Über das Verhältnis von Gewalthandlungen in der Schule zu Gewalthandlungen, die an anderen Orten außerhalb der Familie begangen werden, ist kaum etwas bekannt. Allerdings dürfte es wohl keine Jugendlichen geben, die ausschließlich in der Schule gewalttätig sind, ebenso wenig wie es gewalttätige Jugendliche geben dürfte, die nicht auch in der Schule zu Gewalthandlungen neigen. Allerdings ist die Schule ein sozial kontrollierter Handlungsraum mit einer vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit, identifiziert und zur Verantwortung gezogen zu werden, weshalb schulische Gewalthandlungen weniger häufig vorkommen dürften als außerschulische. In der Tat: Wenn überhaupt, so hat Gewalt in der Schule nur leicht zugenommen. Für Jugendgewalt außerhalb der Schule ist dagegen eine deutliche Zunahme festzustellen. Und das europaweit (vgl. Mansel u. Hurrelmann 1997; Pfeiffer 1998; siehe aber auch Oswald 1999).

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■ Formen der Gewalt Viele Untersuchungen über Gewalt in der Schule schränken den Gewaltbegriff auf Handlungen ein, mit denen Schüler ihre Mitschüler, Lehrer oder anderes Schulpersonal in der Absicht körperlich angreifen, ihnen Schaden zuzufügen. Diese Einschränkung auf physische Gewalt, die auch Gewalt gegen Sachen (Klockhaus u. Habermann-Morbey 1986) umfasst, ist zu eng. Zwar darf der Gewaltbegriff nicht derart ausgeweitet und damit dramatisiert werden, dass letztlich alles Handeln als gewaltförmig erscheint, aber gleichzeitig besteht kein Zweifel daran, wie verletzend Worte sein können. Folglich bedarf der Gewaltbegriff einer Ausweitung, die zumindest verbale Gewalt, wenn nicht auch andere Formen psychischer Gewalt wie zum Beispiel verletzende Gesten einbezieht. Mit einer solchen Ausweitung werden allerdings auch die Beurteilungskriterien dafür, ob eine Handlung eine Gewalthandlung ist, diffuser und infolgedessen strittiger. Nach einem Faustschlag, durch dessen Einwirkung Blut fließt, lässt sich nur schwer behaupten, der Geschlagene sei zu empfindlich. Bei Worten oder Gesten ist das aber anders. Da wird oft darüber gestritten, wem denn nun die Definitionsmacht zukomme: demjenigen, der behauptet, er habe nicht die Absicht gehabt, mit seinen Worten oder Gesten zu verletzen, oder demjenigen, der sich dennoch verletzt fühlt. Je mehr man von der Intention als Beurteilungskriterium abrückt, desto mehr rückt die Frage legitimer Empfindlichkeiten in den Vordergrund und mit ihr das Problem einer möglichen kulturellen Relativität psychischer, vielleicht sogar physischer Gewaltakzeptanz. Immerhin zeigt die Geschichte der Zivilisation, dass sich die Empfindlichkeiten historisch in Richtung einer größeren Sensibilität verändert haben: Die Wahrnehmungsschwelle für die Gewaltförmigkeit von Handlungen ist gesunken, weshalb die Wahrscheinlichkeit steigt, dass mehr Handlungen in Verdacht stehen, gewalttätig zu sein, und deshalb rechtfertigungspflichtig werden. Man sollte sich das klar machen, weil das Ausmaß der Gewalt, die für die Schule oder das Jugendalter festgestellt wird, von der Gewaltdefinition abhängt (Imbusch 2002; Nunner-Winkler 2004). Es gibt Hinweise dafür, dass der Umgangston der Schüler un-

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tereinander, aber auch gegenüber Lehrern rauer geworden ist. Beleidigungen, Diskriminierungen, Beschimpfungen und Obszönitäten scheinen an der Tagesordnung zu sein (Schäfer 1996). Dabei gibt es unterschiedliche Empfindlichkeiten: Während Lehrer es als Gewalt betrachten, wenn jemand mit Worten oder Gesten angegriffen wird, halten die meisten der befragten Schüler solche Umgangsformen nicht für gewalttätig (z. B. Schwind et al. 1995; Felten 2000). Die Entzivilisierung der Kommunikation beunruhigt, weil sie befürchten lässt, dass sie physische Gewalthandlungen zur Folge hat. Das ist nicht unplausibel, darf aber auch nicht überbetont werden, da verletzende Worte nicht zwangsläufig in Faustschlägen gipfeln. So nennen auch Freunde einander »Penner« oder »Spasti«. Denn »coole« Sprüche gehören zu den probaten Mitteln im Kampf um Anerkennung (Krappmann 1993). Dabei sind die verbalen Verletzungsversuche nicht selten ritualisiert und stecken ein Experimentierfeld ganz eigener Art ab, auf dem – durchaus schmerzhaft – gelernt wird, eigene, vor allem von Gruppennormen abweichende Identitätsentwürfe gegen Angriffe zu behaupten. Eine zu große Empfindlichkeit von Lehrern verleitet in solchen Situationen zu einem verfrühten rigorosen Eingreifen in die Anerkennungskämpfe der Schüler. Zudem gilt, dass verletzende Worte durchaus auch Faustschläge ersparen können. Denn die Fähigkeit, Ärger und Wut sprachlich zu symbolisieren – und sei es zunächst über Schimpfworte –, verbessert die psychische Integration dieser Affekte. So erweist sich eine beeinträchtigte Sprachentwicklung bereits im Alter von drei Jahren als ein guter Prädiktor für die spätere Bereitschaft, physische Gewalt anzuwenden (Nagin u. Tremblay 1999). Verbalisierungsfähigkeit hemmt zwar nicht die physische Gewalt, die wohlüberlegt ausgeübt wird – und es wäre blauäugig zu glauben, dass es solche strategisch-taktische Gewalt in der Schule nicht geben würde –, aber sie verbessert die Selbstbeherrschung und beugt auf diese Weise impulsiven physischen Gewalthandlungen vor. Eine besondere Form von Gewalt in der Schule, in der psychische und physische Gewalthandlungen ineinander greifen, ist »Bullying« – schülerspezifisches »Mobbing« (Definition: z. B. Hanewinkel u. Knaak 1997, S. 34): Es zeichnet sich durch die Etablie-

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rung einer längerfristigen Täter-Opfer-Beziehung aus. Es gibt Schüler, die entweder Täter oder Opfer, aber auch Schüler, die in einer Beziehung Täter und in einer anderen Opfer sind. Die Verbreitung von »Bullying« (Smith et al. 1999) ist, zumindest bei den Opfern, altersabhängig. Für die Grundschule liegen die ermittelten Zahlen deutlich höher als für weiterführende Schulen; dort sind es um die vier Prozent der Schüler, die pro Woche wiederholt massiv schikaniert werden. Ein Rückgang der Täter mit zunehmendem Alter ist dagegen nicht eindeutig belegt. Auch scheint es mit um die sieben Prozent mehr Täter als Opfer zu geben, was – Methodenprobleme einmal ausgeklammert – dafür sprechen mag, dass einzelne Schüler das Opfer verschiedener Täter sind. Opfer werden vor allem Schüler, die auf Verletzungsversuche, die zumeist verbal beginnen, betroffen, ängstlich und hilflos reagieren, also – wenn man so will – unfreiwillig »mitspielen« (Lösel et al. 1997, S. 341), indem sie es ihrerseits versäumen, auch nur den Versuch zu machen, den Angreifer in die Schranken zu weisen (»gekonnte Aggression«: Mitscherlich 1983, S. 223). Opfer-Schüler haben ein deutlich geringeres Selbstwertgefühl als Täter-Schüler (Olweus 1999, S. 17). Freilich ist deren hohes Selbstwertgefühl nicht genuin, denn sie erhöhen es, indem sie Mitschüler erniedrigen (vgl. auch O'Moore u. Hillery 1991; Rigby u. Cox 1996). Eine Konzentration der Aufmerksamkeit von Lehrern (aber auch von Forschern) auf die Täter-Opfer-Dyade übersieht leicht, dass »Bullying« in der Hälfte aller Fälle gewalttätiges Handeln einer Gruppe ist (Whitney u. Smith 1993; Olweus 1995; Schäfer 1996). Täter und Opfer agieren als deren Protagonisten. Die übrigen Schüler übernehmen andere Rollen (Salmivalli et al. 1996), die eskalierend, aber auch de-eskalierend sein können. Diese Rollenverteilung bleibt unter Umständen über Jahre hinweg stabil, indem sie sich – wird nicht eingegriffen – mit jedem neuen Vorfall reproduziert (Salmivalli et al. 1998).

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■ Verteilung der Gewalt Auch wenn es nicht völlig geklärt sein mag, ob oder wie sehr die Gewalt in deutschen Schulen tatsächlich zugenommen hat, Gewalthandlungen sind unter den Schülern ungleich verteilt.

■ Alter Was das Alter betrifft, so stellen die Untersuchungen einen Häufigkeitsgipfel in der 8. und 9. Klasse fest, also bei den 13- bis 15Jährigen (Tillmann 1997). Das weist auf die Adoleszenz als eine besonders kritische Entwicklungsphase hin (vgl. Bohleber 2002).

■ Geschlecht Ein Großteil der Untersuchungen findet sowohl für schulische als auch für außerschulische Jugendgewalt einen deutlichen Geschlechtsunterschied: Vor allem an physischen Gewalthandlungen sind männliche Jugendliche drei- bis viermal so häufig beteiligt wie weibliche Jugendliche – und zwar sowohl als Täter als auch als Opfer (Euler 1999; Kassis 2003). Das heißt freilich nicht zwangsläufig, Mädchen seien friedfertiger als Jungen (vgl. Engel u. Menke 1995; Sturzenbecher 1997, S. 176ff.; Stenke et al. 1998; Möller 2001). Vielleicht bedienen sie sich lediglich anderer Gewaltformen (Björkqvist et al. 1992). Es lässt sich aber auch nicht von der Hand weisen, dass Gewalthandlungen bei Mädchen nicht nur von Lehrern, sondern auch von Forschern eher übersehen werden, da sie dem konventionellen Geschlechtsrollencharakter widersprechen, der ihnen zugeschrieben wird. Untersuchungen, die dies beachten, legen dann auch nahe, dass sich beide Geschlechter in ihrer Gewaltbereitschaft viel weniger stark unterscheiden, als es oft den Anschein hat. Oder: dass Mädchen in den letzten Jahren deutlich gewaltbereiter geworden sind (vgl. Pfeiffer 1998, S. 104ff.). Bislang kaum untersucht ist auch die Rolle, die Mädchen im Verlauf der gewalttätigen Auseinandersetzungen von Jungen spielen. Keinesfalls wirken sie nur befriedend. Im Gegenteil: Nicht selten ist ein

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Mädchen der »Preis« für den Sieger und fühlt sich dadurch geschmeichelt, weshalb es die männlichen Kontrahenten gewähren lässt oder sogar anfeuert.

■ Ethnische Herkunft Die Entstehung einer multikulturellen Schülerschaft in deutschen Schulen führt zu der Frage, wie sich Gewalthandlungen zwischen deutschen Schülern und Schülern mit einem Migrationshintergrund verteilen. Auch wenn das die regulative Idee einer wechselseitigen kulturellen Bereicherung trübt: Es ist festzuhalten, dass es eine erhebliche Bedrohung deutscher Schüler durch Migranten gibt (Pfeiffer u. Wetzels 2000); Buben werden geschlagen, Mädchen sexuell belästigt (Lubinski 1994, S. 198ff.). Diese Gewalthandlungen sind oft religiös motiviert, zumindest aber religiös rationalisiert, wobei vor allem der Anspruch einer moralischen Überlegenheit des Islams die Gewaltbereitschaft erhöht. Türkische Migranten mit solchen Vorstellungen kommen überwiegend aus den vormodernen Gebieten der Türkei. Die Gewaltbereitschaft, mit der sie ihr Weltbild verteidigen, zeigt, wie sehr es erschüttert ist und sie sich selbst von Anomie bedroht fühlen. Wenn festgestellt wird, dass türkische Jugendliche dreimal so häufig in Gewalthandlungen verstrickt sind wie ihre deutschen Altersgenossen (Pfeiffer u. Wetzels 1999), dann lässt sich nicht einfach der Schluss ziehen, sie seien gewaltbereiter, weil sie Türken sind. Die Unterschiede in der Gewalthäufigkeit werden tatsächlich geringer, wenn man nur deutsche und türkische Jugendliche vergleicht, die aus Familien mit gleichen soziodemographischen (Schicht, Bildung) und familiendynamischen (Erziehungsstil) Merkmalen stammen. Aber die Unterschiede verschwinden nicht völlig. Folglich müssen türkische männliche Jugendliche, die ein vormodernes Männlichkeitsideal und einen vormodernen Begriff von Ehre befolgen, als ein besonders gewaltbereites Segment der Bevölkerung und damit auch der Schülerschaft gelten (vgl. Heitmeyer et al. 1997).

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■ Gruppenzugehörigkeit Vermutet wird, dass die Zugehörigkeit zu Gleichaltrigengruppen, die sich gegen ihre Mitwelt abschließen, unabhängig davon, was sie im Einzelnen thematisch miteinander verbindet, die Gewaltbereitschaft von Schülern erhöht. Das ist nicht unplausibel, da die Mitglieder solcher geschlossenen (im Unterschied zu offenen) Gruppen die permanente Konfrontation mit den Mitgliedern »gegnerischer« oder gar »feindlicher« Gleichaltrigengruppen suchen, um ihre Gruppenidentität zu stabilisieren. Oft gibt es dabei die Gruppennorm, Mitglieder einer anderen Gruppe anzugreifen, um die eigene Gruppenloyalität unter Beweis zu stellen (vgl. Haubl 2000, S. 79ff.).

■ Rechtsradikalismus Da in Deutschland das Thema Gewalt in der Schule nicht zuletzt durch den Rechtsradikalismus, der im Zuge der Ost-West-Vereinigung auftrat, seine heutige Bedeutung gewonnen hat, bleibt es von Interesse, wie groß sein Anteil an den beobachteten Gewalthandlungen von Schülern ist. Über die Größe dieses Anteils wird gestritten. Das liegt auch an der Schwierigkeit, zwischen Provokationen, bei denen rechtsextreme Symbole eingesetzt werden, weil sie in Deutschland ein hohes Provokationspotenzial haben, und einer rechtsextremen Geisteshaltung trennscharf zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist jedoch erforderlich, weil pure Provokationen pädagogisch anders zu behandeln sind als die tatsächliche Zugehörigkeit zu einer (realen oder fiktiven) politischen Gruppe, die menschenverachtende Vorstellungen propagiert. Auch wenn gewalttätiger Rechtsextremismus, der über Provokationen hinausgeht, in deutschen Schulen insgesamt eher selten ist (vgl. Schubarth u. Melzer 1995), bedarf es – jenseits aller Unterschiede in der Empfindlichkeit – einer besonderen Wachsamkeit, da Fremdenfeindlichkeit und insbesondere Antisemitismus in Deutschland zu den historisch gebahnten Mustern aggressiver Konfliktverschiebung gehören.

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■ Mehr- und Vielfachtäter Schließlich zeigt die Forschung zu Jugendgewalt und Gewalt in der Schule, dass deutlich zwischen Jugendlichen, die gelegentlich gewalttätig werden, und chronischen jugendlichen Gewalttätern unterschieden werden muss. Es sind Mehr- und Vielfachtäter, die den Großteil der Gewalthandlungen begehen (Fuchs et al. 2001). Sie machen etwa fünf Prozent der Täter aus und sind für etwa 50 Prozent der Taten verantwortlich (Pfeiffer 1998). Lehrer fühlen sich durch sie überfordert, was zu dem Wunsch führt, sie so schnell wie möglich als »unbeschulbar« loszuwerden (vgl. Freyberg u. Wolff 2003).

■ Opfer in der Familie – Täter in der Schule Gerade die chronisch gewalttätigen Schüler öffnen aber den Blick für »Gewaltkarrieren« (Sutterlüty 2004), die nicht in der Schule, sondern in ihren Herkunftsfamilien beginnen. So haben diese Schüler nicht selten eine Geschichte als Opfer familialer Gewalt hinter sich. Freilich muss ein Jugendlicher nicht derart vorbelastet sein, um selbst gewalttätig zu werden. Jeder kann in bestimmten Situationen zu Gewalthandlungen greifen. Bei chronisch gewalttätigen Jugendlichen ist eine entsprechende Geschichte aber höchst wahrscheinlich. Umgekehrt gilt: Nicht jeder Jugendliche mit einer Geschichte als Opfer familialer Gewalt wird chronisch gewalttätig. Denn es gibt andere Formen, solche Erfahrungen zu verarbeiten: zum Beispiel Selbstverletzungen, Drogensucht, Depression oder auch »nur« Bindungsangst. Unwahrscheinlich ist einzig, dass sie gesund bleiben. Das gelingt in der Regel nur, wenn die Jugendlichen im Lauf ihrer Entwicklung wenigstens einen Erwachsenen gefunden haben oder finden, der ihnen eine vertrauensvolle Beziehung anbietet und sie nicht enttäuscht, wenn sie ihrerseits trotz allem Misstrauen riskieren, ihm zu vertrauen. Historisch gesehen ist der Umgang mit Kindern in den letzten 30 Jahren generell gewaltärmer geworden. Kinder werden weniger geschlagen. Relativ konstant ist dagegen der Anteil von Familien,

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in denen Kinder chronisch schwer misshandelt werden, wobei es ständig Übergänge zwischen physischen und psychischen Gewalthandlungen gibt. Geschätzt wird, dass es erschreckende zehn Prozent der Kinder sind, die solche traumatischen Erfahrungen machen (Wetzels 1997, S. 146). Empirischen Untersuchungen zufolge korrelieren Kindesmisshandlungen mit einem Bündel von Faktoren: alte Eltern, viele Geschwister, Bildungsferne, niedrige soziale Schicht, politischer Konservatismus, katholische Religion und die Zugehörigkeit zu einer sozial schlecht integrierten ethnischen Minderheit (Petri 1989, S. 19). Gilt dies auch für Jungen wie für Mädchen, so sind es doch die Männer, die in ihrer Kindheit häufiger als Frauen die Opfer physischer »elterlicher Gewalt« geworden sind (Wetzels 1997, S. 171). Dabei ist auch die sexuelle Gewalt gegen Buben höher als gemeinhin angenommen: Zwar sind Mädchen bis zum Alter von 16 Jahren mit 10–15 Prozent häufiger betroffen; aber auch die Rate der Jungen zeugt mit 5–10 Prozent (Bange 2001, S. 26f.) davon, dass die Familie auch heute noch alles andere als eine »heil(ig)e« Institution ist (vgl. auch Körner u. Sitzler 1998). Die in gewalttätigen Familien erfahrene Ohnmacht führt zu tiefem Misstrauen. Aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen erwarten die betroffenen Jugendlichen, jederzeit Gewaltopfer werden zu können. Infolgedessen unterstellen sie ihren Mitmenschen vorschnell die Absicht, sie erniedrigen oder schlagen zu wollen (»gewaltaffines Interpretatationsregime«: Sutterlüty 2002, S. 277ff.). Mit dieser Unterstellung versuchen sie, ihren Peinigern zuvorzukommen. Sie machen sich bereit, sich vor Gewalthandlungen zu schützen, ohne abzuwarten, wie ihnen ihre Mitmenschen tatsächlich begegnen. Da freundlich zugewandtes Verhalten den habituellen Erwartungen widerspricht, wird es auch nicht angemessen, sondern misstrauisch verzerrt wahrgenommen. Gerade diejenigen ihrer Mitmenschen, die ihnen tatsächlich freundlich zugewandt begegnen, erleben dies als unverständliche Zurückweisung und sind enttäuscht, dass ihre guten Absichten so verkannt werden. Die habituelle Erwartung, jederzeit Gewaltopfer werden zu können, nimmt in anderen Menschen nur Gewalttäter wahr. Sich vor ihnen zu schützen, heißt für einen dieser Jugendlichen, entwe-

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der sofort in Deckung zu gehen oder selbst anzugreifen, bevor er angegriffen wird. Ziel eines solchen Angriffs ist es, die einst erlittene Ohnmacht in eine aktuelle Demonstration von Macht zu verkehren. Hat er dabei aber erst einmal das Gefühl erlebt, über seinen Widersacher zu triumphieren und dadurch wenigstens vorübergehend seine Gefühle der Wertlosigkeit zu besänftigen, die ihn sonst quälen, strebt er wiederholt nach solchen gewaltigen Erlebnissen. Gewalt wird für ihn zum thrill. Die Bedrohung, auf die der gewalttätige Jugendliche reagiert, ist für einen Beobachter kaum nachzuvollziehen. Die Auslöser sind minimal. Die Gewalthandlungen stehen in keinem Verhältnis zu ihnen. Oft genügt ein Blick, um das Handlungsmuster abzurufen. Der Jugendliche wird dann einen Mitmenschen beschuldigen, ihn schief angeblickt zu haben. Verwahrt sich dieser daraufhin nachdrücklich gegen die Beschuldigung, weil sie ihm völlig unhaltbar erscheint, fühlt sich der Jugendliche angegriffen. Dass er bekämpft, was er selbst provoziert hat, vermag er nicht wahrzunehmen.

■ Verstehen, ohne einverstanden zu sein Kommen Kinder mit einer weit zurückreichenden familiären »Gewaltkarriere« in die Schule, dann hat sich ihre Gewaltbereitschaft oftmals bereits (neurophysiologisch) zu einer Charakterpathologie verfestigt (Perry et al. 1990, 1998). Dennoch steht die Schule vor der Aufgabe, auch diesen Kindern die Chance zu geben, ihre Gewaltbereitschaft zu verringern. Ob und wie weit aber korrigierende Erfahrungen möglich sind, hängt sehr davon ab, ob und wie weit Lehrer im Schulalltag fähig sind, Gewalthandlungen strikt zu begrenzen und sich dennoch zu bemühen, ihren Sinn zu verstehen (vgl. Negt 1997, S. 277ff.). Diese Haltung ist alles andere als selbstverständlich und setzt eine Schule voraus, die dies als institutionelles Projekt betreibt. Ein einzelner engagierter Lehrer wird keinen nachhaltigen Erfolg haben. Unter dem Handlungsdruck einer Situation, in der Schüler gewalttätig geworden sind, neigen viele Lehrer spontan dazu, ihre Wahrnehmung darauf zu reduzieren, dass die Schüler Probleme

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machen, statt wahrzunehmen, dass sie Probleme haben. Aber Schüler machen Probleme, weil sie welche haben. Indem diese Einsicht kurzfristig und noch folgenreicher: dauerhaft oder sogar institutionell blockiert wird, erscheint die Gewalttätigkeit der Schüler nicht länger als soziales Handeln. Denn anscheinend ist es nicht mehr zu verstehen. Wo Lehrer aber Sinnverstehen und mit ihm die dazu erforderliche Empathie einstellen, werden aus Gewalthandlungen Naturgewalten, denen nur noch instrumentell und nicht mehr kommunikativ beizukommen ist. Dann werden Maßnahmen ergriffen, die Kommunikationsabbrüche sind und die Schüler erneut traumatisieren (vgl. auch Song 2002). Keine Frage: Um sich und andere vor Gewalthandlungen zu schützen, ist es meist notwendig, sofort einzugreifen, ohne die Gewalthandlungen hinreichend verstanden zu haben, denn Sinnverstehen, Empathie und Kommunikation brauchen Ressourcen, die unter Handlungsdruck nicht zur Verfügung stehen. Jeder instrumentelle Eingriff sollte aber in erster Linie dazu dienen, die Wiederherstellung einer Situation zu betreiben, in der empathisch verstanden und kommuniziert werden kann, was die Gewalthandlungen bedeuten. Um dabei einem häufigen Missverständnis vorzubeugen: Es geht um ein Verstehen, ohne einverstanden zu sein. Und ohne auf Sanktionen – seien es (instrumentelle) Strafen oder besser noch: (sinnvolle, weil sinnstiftende) Wiedergutmachungsleistungen – zu verzichten. Aus der Balintgruppen-Arbeit mit Lehrern weiß ich, dass dies manchen Lehrern schwer fällt. Sie verweigern gewalttätigen Schülern ihre Empathie, weil sie fürchten, handlungsunfähig zu werden, wenn sie den Sinn der Gewalthandlungen zu verstehen suchen. Wurde ein gewalttätiger Schüler zuvor das Opfer elterlicher Gewalt, so trägt ein solcher Befund dazu bei, seine Gewaltbereitschaft zu erklären. Aber diese Erklärung ist keine Rechtfertigung oder gar Entschuldigung für sein Handeln. Lehrer, bei denen Verstehen zu einem heimlichen Einverständnis tendiert, haben selbst ein Problem: zum Beispiel können sie gegen unbewusste Schuldgefühle kämpfen, unverdient eine glücklichere Kindheit als ihre gewalttätigen Schüler gehabt zu haben. Oder noch tabuisierter: Es besteht eine unbewusste Identifikation mit diesen Schülern, deren Gewalthandlungen als gerechte Gewalt gegen ungerechte gesell-

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schaftliche Verhältnisse romantisiert werden. Viel zu selten nutzen Lehrer die Möglichkeit, sich im Rahmen von Fall- oder Teamsupervisionen gemeinsam mit ihren Kollegen über derartige Verstrickungen zu verständigen (vgl. Bispick-Weigand 1999; Becker 2004). Das gilt bereits für alltägliche Etikettierungsprozesse, die oft unmerklich geschehen: Dabei wird aus dem Schüler, der sich schlägt, unter der Hand ein Schläger. Im ersten Modus sind Person und Handlung unterschieden, was die Annahme erlaubt, dass es von der Situation abhängt, ob er sich gewalttätig oder anders verhält. Im zweiten Modus ist die Handlung die Realisierung seiner Persönlichkeit, die sich situationsunabhängig durchsetzt. Und als Schläger geht der Schüler dann in die Akten ein. Derartige Etikettierungen reduzieren die Komplexität von Beurteilungen und haben eine psychisch entlastende Funktion für die Lehrer, weil sie suggerieren, dass sie sich weiteres Engagement sparen können. Selbst der betroffene Schüler profitiert von der Etikettierung: Er kann sie als eine unausgesprochene Erwartung erleben, ein Schläger zu sein. Damit erhält er die prekäre Möglichkeit, endlich einmal die Erwartungen anderer zu erfüllen und sich auf diese Weise mit einer »negativen Identität« (Erikson 1971, S. 163ff.) sozial zu integrieren – wenn auch zu seinem eigenen Schaden.

■ Strukturelle Gewalt Die meisten Untersuchungen zum Thema Gewalt in der Schule befassen sich wie selbstverständlich mit Gewalthandlungen von Schülern. Das ist aber nur dann selbstverständlich, wenn man davon ausgeht, dass für Schüler eine einseitige Verpflichtung besteht, sich bedingungslos an den schulischen Handlungsraum anzupassen. Wenn überhaupt, wäre diese Einseitigkeit aber nur dann legitim, wenn die Schule ihrerseits zweifelsfrei zumindest gewaltneutral oder sogar befriedend wäre. Wird hingegen eingeräumt, dass die Schule möglicherweise Handlungsbedingungen aufweist, die Gewalthandlungen der Schüler nicht nur nicht verhindern, sondern sogar begünstigen, darf es keine einseitige Verpflichtung

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mehr geben. Würde dennoch an ihr festgehalten, käme den Schülern ein Widerstandsrecht zu (vgl. Fürstenau 1964). Denn es ist ihnen nicht zuzumuten, sich an einen schulischen Handlungsraum anzupassen, der sie schädigt oder ihre Schädigung in Kauf nimmt. Deshalb wird die Schule ihre Schüler nur dann darauf verpflichten können, auf Gewalthandlungen zu verzichten, wenn sie sich selbst auf einen solchen Verzicht verpflichtet. Indessen hat die Institution Schule bis in die Gegenwart hinein ein besonderes Verhältnis zur Gewalt (vgl. Helsper u. Wenzel 1995; Singer 1998), das zu Recht als »schwarze Pädagogik« (Rutschky 1977) kritisiert worden ist. Sie übt diese Gewalt gegenüber den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen relativ ungebrochen aus. Dies geschah und geschieht selbst in zivilisierten Ländern sogar mittels physischer Gewalthandlungen: Während es in westdeutschen Schulen seit etwa 1970 nicht mehr erlaubt ist, die Schüler zu schlagen, gibt es einen solchen Rechtsschutz in vielen Ländern der Welt nicht. Allerdings besteht auch in deutschen Schulen eine erhebliche Grauzone, in der immer wieder Schüler körperlichen Übergriffen von Lehrern ausgesetzt sind. In den meisten Schulen üben Lehrer aber subtilere Gewalthandlungen aus, indem sie Schüler psychisch verletzen (Krumm u. Weiss 2000), zum Beispiel tief beschämen. Und so nehmen nicht nur die Lehrer manche ihre Schüler, sondern auch die Schüler manche ihrer Lehrer als gewalttätig wahr, wobei beide Seiten nicht selten in wechselseitigen Schuldzuschreibungen verstrickt sind: Dann nimmt jede Seite die wahrgenommene Gewalttätigkeit der Gegenseite zum Anlass, um ihre eigene Gewalttätigkeit zu rechtfertigen (vgl. Forschungsgruppe Schulevaluation 1998, S. 211ff.). Nun gehört nicht nur die individuelle Gewalt von Lehrern auf den Prüfstand, sondern auch die strukturelle Gewalt der Institution (Zurek 1986; Bründel 1995): Schule ist eine Zwangseinrichtung des Staates. Der Zwang manifestiert sich als Schulpflicht, die Kinder und Jugendliche einem Curriculum unterwirft, das Erwachsene für sie festgelegt haben. Den Unterrichtsinhalten, die dieses Curriculum vorsieht, fehlt aus der Sicht vieler Schüler der Gebrauchswert. Themen, die sie in ihrer außerschulischen Lebenswelt interessieren und ihnen Orientierungsprobleme bereiten, werden zu wenig angeboten. Hinzu kommt, dass den Schülern der

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schnelle Wechsel von immer neuen und unterschiedlichen, kaum aufeinander abgestimmten Fachinhalten im 45-Minuten-Takt den Eindruck vermittelt, Wissen sei fragmentiert und erlaube es gar nicht, große, fachübergreifende Zusammenhänge herzustellen. Geht mit diesem schnellen Wechsel der Fachinhalte auch noch ein schneller Wechsel der Erziehungsvorstellungen der einzelnen Fachlehrer einher, dann erleben die Schüler ihre Schule nicht als Einheit in einer herausfordernden Vielheit, sondern als überfordernde Vielheit ohne Einheit. Wenn Schüler den Gebrauchswert der Unterrichtsinhalte nicht wahrnehmen, was sie oft durch eine aggressiv getönte Langeweile zum Ausdruck bringen, reduziert sich ihnen der Sinn der Schule darauf, für Zensuren zu lernen, die sich im Lauf der Schulzeit zu Schulabschlüssen mit einer bestimmten Wertigkeit akkumulieren. Was geschieht, macht der Begriff Zensur in seiner Mehrdeutigkeit klar. Um gute Zensuren zu erhalten, müssen Schüler lernen, alle ihre abweichenden Lebensäußerungen zu zensieren, weil diese nur als störend wahrgenommen werden können: Sie müssen Fremdzwang durch Selbstzwang ersetzen, um erfolgreich zu sein. Gesellschaftlicher Auftrag der Schule als einer Institution der bürgerlichen Gesellschaft ist die Internalisierung des Leistungsprinzips (leisten zu wollen) und des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit (nach Leistung belohnt zu werden: wer mehr leistet, erhält mehr). Die Schüler sollen ihre Schulzeit mit dem gefestigten Glauben abschließen, dass die Höhe und Güte des Abschlusses, den sie erreicht haben, ihre Leistung und nichts anderes wiedergibt (vgl. Parsons 1968). Gleichzeitig nehmen Schüler ihre Schule und einzelne Lehrer gerne in Verdacht, sie ungerecht und unfair zu behandeln. Dass dies in vielen Fällen eine Schutzbehauptung ist, die der eigenen psychischen Entlastung dient, dürfte keine Frage sein. Jedoch ist der Verdacht in ebenso vielen Fällen begründet. Schüler erleben es an sich und ihren Mitschülern, dass es ungerechte oder unfaire Behandlungen gibt. Die Schule steht vor dem Dilemma, diesen Sachverhalt nicht leugnen zu dürfen, sondern für Transparenz sorgen zu müssen, weil sie sonst an Glaubwürdigkeit verliert. Andererseits darf sie dem Thema aber keinen breiten Raum geben, weil sie sonst die Gefahr heraufbeschwört, die Prinzipien zu erschüttern, auf denen ihre Legitimation beruht.

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Gleiches gilt für den Zusammenhang von Förderung und Selektion. Deren moderne Version ist nicht Selektion statt individueller Förderung, sondern Selektion nach erfolgter individueller Förderung. Wenn aber Förderung lediglich bedeutet, dass das mittlere Leistungsniveau steigt, der Verteilungsschlüssel aber nach wie vor an der Normalverteilung orientiert bleibt, dann wird die Anstrengung, die eigene Leistung zu verbessern, nicht belohnt. Denn, wenn alle sich gleichermaßen anstrengen, bleibt der Rangplatz derselbe. Wo Schüler dies erfahren oder auch nur befürchten, erscheint individuelle Förderung als Täuschungsmanöver. Was nützt sie ihnen, wenn sie dennoch in der Hauptschule verbleiben, obwohl sie im Vergleich zu früheren Hauptschuljahrgängen vielleicht weitaus besser qualifiziert sein mögen. Im Gegensatz dazu steht das Erleben, dass Eltern mit einem hohen ökonomischen und/oder kulturellen Kapital im Umgang mit Institutionen auch diejenigen ihrer Kinder auf weiterführenden Schulen unterbringen können, deren Leistungen es nicht rechtfertigen. Die Struktur des deutschen Schulsystems weicht erheblich von den Schulsystemen anderer Länder ab – zum Beispiel Skandinavien und USA. Während in diesen Ländern alle Heranwachsenden bis mindestens zum 16. Lebensjahr eine gemeinsame Schule besuchen, findet sich in Deutschland ein System hierarchisch geordneter Schulformen. Etwa im 11. Lebensjahr werden die Kinder nach ihren bis dato erbrachten schulischen Leistungen auf die verschiedenen Schulformen verteilt. Diese Verteilung korreliert hoch mit der sozialen Herkunft der Schüler, weshalb das deutsche Schulsystem die bestehende gesellschaftliche Schichtung eher reproduziert, als dass es zu großen Umschichtungen führen würde. Dazu trägt auch bei, dass einmal getroffene Schullaufbahnentscheidungen nur sehr schwer rückgängig gemacht werden können. Diese Hierarchie der Schulformen spiegelt sich in der Gewaltstatistik (z. B. Schwind et al. 1995): Am häufigsten werden Gewalthandlungen in Sonderschulen für Lernbehinderte beobachtet, gefolgt von Hauptschulen und Gesamtschulen mit sozial problematischen Einzugsgebieten; die geringste Häufigkeit hat das Gymnasium. Gleich, welche Faktoren noch eine Rolle spielen mögen: Das Wissen, zumindest die Ahnung der Schüler, dass in einer Gesellschaft, die großen Wert auf den Schulabschluss legt, niedrige

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Schulabschlüsse eine Verringerung von Lebenschancen bedeuten, führt zu tiefen Enttäuschungen und steigert die Gewaltbereitschaft, um Resignation abzuwehren, zumal dann, wenn die betroffenen Schüler die Wahrnehmung haben, ihre Leistungen seien ungerecht oder unfair beurteilt worden. Aber selbst gerechte und faire Leistungsbeurteilungen kränken, zumal dann, wenn Leistung und Person kurzgeschlossen werden. So ist die Empfehlung an Lehrer, ihre Schüler unabhängig von deren Leistungen als Personen wertzuschätzen, um dadurch Gewalthandlungen entgegen zu wirken, zwar nachvollziehbar, sie verbrämt aber die sozialen Tatsachen. Denn in einer Leistungsgesellschaft wird der Wert einer Person tatsächlich mehr oder weniger daran gemessen, was sie leistet und mehr noch: wie viel Geld sie mit ihren Leistungen verdient. Wer daran gemessen zu den Verlierern gehört, hat es schwer, seinen Selbstwert zu behaupten, es sei denn, er lehrt diejenigen das Zittern, von denen er glaubt, dass sie ihm die Anerkennung seines Wertes verweigern.

■ Gewaltfreiheit als Ziel der Schulentwicklung Über die schulischen Möglichkeiten, präventiv oder rehabilitativ gegen physische und psychische Gewalthandlungen vorzugehen, ist in den letzten Jahren vielerorts nachgedacht worden. Entstanden sind zahlreiche Interventionsprogramme (vgl. Schick u. Ott 2002), mit denen in Deutschland bereits an vielen Schulen gearbeitet wird. Eher wenige erreichen dabei das Niveau eines Programms wie »Faustlos« (Cierpka 2001), das nachweisbar befriedend wirkt (Schick u. Cierpka 2003). Unter dem (öffentlichen) Erwartungsdruck, der Gewaltbereitschaft möglichst schnell Herr zu werden, ergreifen Schulen noch zu oft Maßnahmen, die weder befriedigend konzeptualisiert noch evaluiert sind. Ich nehme an, dass nachhaltige Erfolge nur dann zu erwarten sind, wenn man Gewaltfreiheit in der Schule als Ziel schulischer Organisationsentwicklung verfolgt. Gewaltlosigkeit in Schulen ist eine Frage tragfähiger wohlwollender Bindungen: sich fest gehalten zu fühlen, ohne festgehalten zu werden. Wer glaubt, kleine Klassen und eine gute

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materielle Ausstattung der Schulen würden von selbst dazu führen, täuscht sich. Nur wenn gleichzeitig auf allen Ebenen einer Schule – Schüler und Lehrer, Klassen und Kollegium, Schulorganisation und Schularchitektur sowie sozialökologische Einbettung in das (städtische) Gemeinwesen – an dem Aufbau und der kontinuierlichen Reflexion solcher Bindungen gearbeitet wird, besteht die Chance, Gewaltbereitschaft nachhaltig zu verringern. Wer eine Schule ohne Gewalt will, muss eine andere Schule wollen. Diese Forderung wird auch von führenden Neurowissenschaftlern gestützt, die sich zu bildungspolitischen Fragen äußern. Auch sie plädieren für eine Veränderung der Schule. Dabei gibt es aber durchaus konträre Visionen. Wird die bislang unterschätzte neurobiologische Plastizität und Selbstorganisationsfähigkeit des Gehirns betont, dann folgt daraus ein Plädoyer für eine konsequente individuelle Förderung sensomotorischen, sinnlich-symbolischen und sprach-symbolischen Lernens, das jenseits aller einheitlichen starren Curricula wissbegierig seinen eigenen Entdeckungen folgt. Liegt dagegen die Betonung auf der Vorstellung neurobiologisch determinierter individueller Begabungspotenziale, dann geht es um die Institutionalisierung einer möglichst frühzeitigen Potenzialdiagnostik, die vorherzusagen beansprucht, wie sich Heranwachsende intellektuell, aber auch psychosozial entwickeln werden, sodass man Schullaufbahnentscheidungen mit diesen Vorhersagen legitimieren kann. Da dabei aber stets immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind, stehen die betreffenden Neurowissenschaftler vor dem Problem, vor dem schon die Intelligenzforscher der 1960er und 1970er Jahre standen: vielleicht sagen zu können, das der 7-jährige Klaus eine 63-prozentige Wahrscheinlichkeit hat, mit 14 Jahren gewalttätig und versetzungsgefährdet zu sein, aber nicht sagen zu können, was deshalb mit ihm geschehen soll. Für einen Sozialwissenschaftler ist schwer vorstellbar, dass es auf diesem Weg gelingen könnte, das deutsche Schulsystem sozial gerechter, durchlässiger und damit gewaltärmer zu machen.

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■ Thomas von Freyberg und Angelika Wolff

Trauma, Angst und Destruktivität in Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher

Es gibt Jugendliche, die ihre Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter in schier endlose und eskalierende Konflikte verstricken – Konflikte, aus denen es schließlich nur noch einen Ausweg zu geben scheint: die Arbeit mit ihnen aufzugeben. Wie aber schaffen es diese Jugendlichen, die von Erwachsenen als »besonders schwierige«, als »nicht schulfähige« oder »nicht beschulbare«, als »verhaltensgestörte« oder »seelisch belastete« Jugendliche bezeichnet werden, so große und durchaus mächtige Institutionen wie Schule und Jugendhilfe zum Tanzen zu bringen, zum Tanzen nach ihren oft schrillen Melodien? Wie gelingt es ihnen, dass kompetente und erfahrene und nicht selten engagierte professionelle Helfer sich hilflos in Konflikte mit ihnen verwickeln lassen, dabei häufig ihre Professionalität einbüßen und schließlich keine andere Lösung mehr sehen, als diese Jugendlichen weiterzureichen oder auszustoßen? Wie kommt es zu jenen sich wiederholenden Macht-OhnmachtSpiralen, zu den erbitterten Kämpfen um Macht und Kontrolle, die sich über Jahre hinziehen können, in deren Verlauf sich Täter und Opfer, Störer und Gestörte immer ähnlicher werden und an deren Ende nur besiegte Sieger und siegreiche Verlierer stehen? Wie ist es möglich, dass Jugendliche so mächtig, dass ihre professionellen Helfer so ohnmächtig werden; und wie, dass in diesen Konfliktgeschichten Störer und Gestörte fast traumwandlerisch einander zuarbeiten, sich wechselseitig vorantreibend, als seien sie in geheimen Komplizenschaften miteinander verbunden? Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main hat zusammen mit dem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt am Main Konfliktgeschichten nicht be-

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schulbarer Jugendlicher untersucht und Antworten auf diese Fragen gesucht (Freyberg u. Wolff 2005).1 Unsere zentrale Annahme war, dass die Beziehungen dieser Jugendlichen mit den Institutionen von Schule und Jugendhilfe deshalb regelmäßig zu MachtOhnmacht-Konflikten eskalieren, weil diese Jugendlichen sehr effektiv ihre inneren Beziehungsmuster reinszenieren und die Institutionen darauf ihrerseits so reagieren, dass die unbewussten Erwartungen und Strategien der Jugendlichen bestätigt und verstärkt werden. Unser Forschungsinteresse galt also den individuellen und institutionellen Bedingungen solcher Verstrickungen. Unserer Untersuchung lagen vier Vorentscheidungen zugrunde: Wir entschieden uns erstens für die Analyse von Konfliktgeschichten; denn wir sind davon überzeugt, dass jene Macht-OhnmachtSpiralen als Sequenzen in einer mehrjährigen Konfliktgeschichte zu begreifen sind, in der beide Seiten agieren und reagieren, voneinander lernen, einander beeinflussen und miteinander in Auseinandersetzungen verwickelt sind. Wir entschieden uns zweitens für eine Reihe von Einzelfalluntersuchungen, wie sie in der Tradition der Psychoanalyse, aber auch der empirischen Sozialforschung begründet sind; denn die Jugendlichen, ihre konflikthaften Karrieren im Förder- und Hilfesystem und ihre konkreten Konflikte mit ihren professionellen Helfern sollten im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen. Wir entschieden uns drittens für die Untersuchung extremer Fälle, in denen Jugendliche an Schule und Jugendhilfe gescheitert sind und Schule und Jugendhilfe an Jugendlichen; denn im Scheitern manifestieren sich – so unsere Hypothese – auch allgemeine Defizite und Schwächen des Hilfe- und Fördersystems, die bei weniger schwierigen Jugendlichen irgendwie gemanagt, verdeckt oder übersehen werden können. Und wir entschieden uns viertens für einen interdisziplinären Forschungsansatz, der die Konfliktdynamik und Konfliktmuster der einzelnen Jugendlichen ebenso wie die der jeweils beteiligten Institutionen untersuchen und die Zusammenhänge von individueller und in1 In der Forschungsgruppe der Psychoanalytiker arbeiteten mit: Rose Ahlheim, Frank Dammasch, Ulrike Jongbloed, Jochen Raue und Angelika Wolff; Sven Sauter vom Institut für Sonderpädagogik in der Universität Frankfurt am Main war Projektmitarbeiter am Institut für Sozialforschung.

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stitutioneller Konfliktgeschichte entziffern kann. Kritische Sozialforschung und Psychoanalyse schienen uns dazu geeignete Methoden bereitzustellen. Unser Fallverständnis der Konfliktgeschichten entsteht, indem wir schrittweise aufzeigen, welche Kräfte und Interessen auf beiden Seiten die Konflikte vorantreiben, wie beide Seiten ihre Beziehungen zueinander definieren und strukturieren und über welche Beziehungs- und Konfliktmuster sie dabei verfügen und wie schließlich individuelle und institutionelle Konfliktdynamik und Konfliktmuster sich aufeinander einspielen und einander zuarbeiten. In unseren Einzelfalluntersuchungen gab es immer drei Untersuchungsschritte, von denen die beiden ersten parallel und arbeitsteilig getrennt verliefen, der dritte dagegen interdisziplinär gemeinsam durchgeführt wurde: Zum einen erhob die Forschergruppe der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten mit ihren psychoanalytischen Instrumenten die Psychodynamik der Jugendlichen, erstellte ein Diagnoseprofil (vgl. Raue u. Wolff 2003) und fasste ihre Untersuchungen und Falldiskussionen in einem eigenen Fallbericht zusammen. Zum anderen rekonstruierte die soziologische Falluntersuchung die Konfliktgeschichte des Jugendlichen, die zur Feststellung der »Nichtbeschulbarkeit« im Regelschulsystem führte. Dabei wurden mit allen wichtigen Professionellen aus Schule und Jugendhilfe ausführliche Gespräche geführt und in einem eigenen Fallbericht ausgewertet. Lagen beide Fallberichte vor, wurden sie im dritten Schritt in einer interdisziplinären Falldiskussion vom gesamten Forschungsteam unter der zentralen Fragestellung nach den Zusammenhängen von individuellem und institutionellem Konfliktverhalten reflektiert. Unser Forschungsprojekt verfügte also über einen recht dezidierten Begriff von interdisziplinärem Fallverstehen. In dieses geht zum einen psychoanalytisches Fallverstehen ein, das auf der Analyse der jugendlichen Psychodynamik beruht, also der bewussten und unbewussten Konfliktstrategien der Jugendlichen, der Muster, mit denen sie Beziehungen eingehen, zulassen, abwehren und strukturieren (1.). In dieses geht zum anderen soziologisches Fallverstehen ein, das auf der Analyse der institutionellen Soziodynamik beruht, also der bewussten und latenten Konfliktstrategien der Institutionen, der Muster, mit denen sie auf den schwierigen

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Jugendlichen reagieren, einwirken, ihre Beziehung zu ihm strukturieren, seine Ansprüche aufgreifen, abwehren, übersehen oder verleugnen (2.). Interdisziplinäres Fallverstehen schließlich beruht auf der Analyse der Beziehungsgeschichte und der Beziehungsdynamik der schwierigen Jugendlichen mit Schule und Jugendhilfe und zugleich auf der Analyse der konfliktreichen eskalierenden sozialen Beziehungen von Professionellen in ihren Institutionen mit diesen Jugendlichen (3). So unterschiedlich die von uns untersuchten Konfliktgeschichten auch sind, diese drei Konfliktdimensionen kamen stets zusammen; sie sollen im Folgenden kurz skizziert werden:

■ 1. Individuelle Konfliktdynamik und Konfliktmuster Bei allen Jugendlichen unseres Forschungsprojekts ließen sich schwere und frühe Traumatisierungen und Bindungsstörungen nachweisen. Durchgängig haben sie gravierende frühe emotionale Mangelerfahrungen machen müssen, die ihre – soziale – Lernfähigkeit entscheidend verletzte, genauer: prägte. Denn derart erworbene Lernstörungen müssen als subjektiv sinnvolle Lösungsund Schutzstrategien verstanden werden, die unbewusst bleiben, überaus zwanghaft sind und die soziale Lern- und Anpassungsfähigkeit extrem einengen. Während diese Kinder und Jugendlichen durchaus »lernfähig« sein können, solange Lernen sich weitgehend auf das kumulative Dazu-Lernen von Wissen und Fertigkeiten – also den schulischen Bildungsstoff – beschränkt, müssen sie als geradezu »lernbehindert« angesehen werden dort, wo geforderte Lernprozesse notwendig verbunden sind mit der Reorganisation von Wissen und Können, mit dem Verzicht auf frühere Gewissheiten, mit Irritation und Verunsicherung. Die emotionalen und sozialen Probleme solcher korrigierenden und neu strukturierenden Lernprozesse verlangen ein Mindestmaß an Neugierde, Differenzierung und Anstrengungsbereitschaft sowie die Fähigkeit, Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit auszuhalten. Und genau dazu sind diese »verhaltensgestörten« Kinder kaum in der Lage, genau dage-

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gen haben sie ihre Strategien der Abwehr und der Vermeidung entwickelt. Die mit jedem komplexen Lernen verbundene Erregung von Angst und Hilflosigkeit kann von diesen Kindern und Jugendlichen nicht kontrolliert und in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und Neugier transformiert werden. Die unkontrollierbaren Situationen solchen strukturellen Lernens (vgl. Katzenbach 2004) reaktivieren bei diesen Jugendlichen frühe Ohnmachtserlebnisse; darauf reagieren sie mit panischen Ängsten vor Entwertung oder Vernichtung – und dagegen mobilisieren sie mit existenzieller Entschlossenheit ihre Strategien der Angstabwehr. Nur die aber werden wahrgenommen. Das macht diese Kinder und Jugendlichen so unangreifbar und unberührbar: sie scheinen autonom, unabhängig von der Zustimmung oder Kritik ihrer Erwachsenen, unabhängig aber auch von allen Angeboten der Hilfe oder Förderung. Die Jugendlichen unseres Forschungsprojekts mussten die auf ihrer psychischen Konfliktgeschichte mit ihren Eltern basierende innere Beziehungsdynamik anhaltend und derart zerstörerisch an der Schule festmachen, dass sie am Ende einer langen institutionellen Konfliktgeschichte schließlich als nicht beschulbar vom Besuch der Regelschule ausgeschlossen wurden – zumeist mit entsprechend schlechter sozialer Prognose. Die Psychodynamik dieser Jugendlichen verweist in allen untersuchten Konfliktgeschichten auf extreme frühe Entwicklungsstörungen; dennoch ist es symptomatisch, dass die Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen von den Professionellen nicht als Ausdruck schwerer psychischer Störungen gesehen und ernst genommen wurden. Diese Jugendlichen, so könnte man sagen, haben im Verlauf der Inszenierungen ihrer psychisch unerträglichen Affekte, Objekterfahrungen und zum Teil Traumatisierungen aus der Vergangenheit auch in der Schule und im Bereich der Jugendhilfe kein hinreichend gutes, und das heißt: um ihr seelisches Wohl besorgtes Objekt auf den Plan rufen und finden können. Ein wichtiger Grund dafür lag vor allem darin, dass diese Jugendlichen auf der manifesten Ebene keine Angst, geschweige denn Hilfsbedürftigkeit zeigten, sondern sich weitgehend unberührbar und scheinbar autonom gaben und allenfalls Angst machten.

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■ 2. Institutionelle Konfliktdynamik und Konfliktmuster Vor dem Hintergrund der von uns untersuchten Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher mit Schule und Jugendhilfe lassen sich vier gravierende Defizitbereiche identifizieren, die wesentlich mitverantwortlich sind für die bekannten Macht-Ohnmacht-Spiralen in den Konfliktgeschichten schwieriger Jugendlicher:

■ Keine professionelle Orientierung am Jugendlichen

und seiner Geschichte Unsere Untersuchung konzentrierte sich auf nicht beschulbare Jugendliche mit einer langen Konfliktgeschichte im Regelschulsystem. Wir hatten es also mit ausgesucht schwierigen und auffälligen Jugendlichen zu tun. Um so irritierender war für uns die durchgängige Erfahrung, dass die verantwortlichen Lehrerinnen und Lehrer die schweren Störungen dieser Jugendlichen weder wirklich ernst genommen noch auch nur ansatzweise zu verstehen versucht hatten. Alle untersuchten Jugendlichen hatten eine mehrjährige Karriere im örtlichen Bildungs- und Hilfesystem hinter sich, ehe ihre Nichtbeschulbarkeit im Regelschulsystem festgestellt wurde. Dennoch fanden wir bei Lehrern in der Regel kein Bewusstsein davon, in eine langjährige institutionelle Konfliktgeschichte verwickelt zu sein. Die jeweiligen Erfahrungen der Professionellen mit diesen Jugendlichen blieben quasi ihre individuellen Erfahrungen, isoliert von denen der Kollegen und Kolleginnen. Es gibt keine institutionellen Vorgaben, die es den Professionellen nahe legen und ermöglichen, ihre individuellen Erfahrungen mit diesen Jugendlichen in den Kontext einer Konfliktgeschichte einzutragen und die Schulkarrieren dieser Jugendlichen überhaupt als krisenhafte und riskante Entwicklungsprozesse zu erfassen und zu begreifen. Regelmäßig sind in den Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher die Übergänge im Schulsystem – Grundschule, Förderstufe, Gesamtschule, Realschule, Gymnasium, Hauptschule – mit institutionellen und personellen Brüchen im Hilfeprozess ver-

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bunden. In keinem unserer Fälle gab es hinreichende institutionalisierte Formen der Übergabe und der Übernahme: Erfahrungen der Professionellen mit diesen schwierigen Jugendlichen können also in der aufnehmenden Schule nicht genutzt werden. Ohnehin fehlen der Regelschule wichtige Instrumente eines integrierten Hilfeprozesses: Beratung, Diagnose, Hilfeplanung, Case Management, Falldokumentation und vor allem die Fallverantwortung in einer Hand. Aber auch die Hilfen zur Erziehung des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) haben in unseren Fällen durchweg den Charakter parzellierter Interventionen. Reagiert wird auf Antrag, und meist fehlt dem Hilfeprozess jegliche Kontinuität. Es reiht sich nicht selten Maßnahme an Maßnahme. Die Brüche im System Schule haben hier eine Parallele in den Brüchen zwischen den unterschiedlichen Maßnahmeträgern, die vom ASD beauftragt werden. Auch hier gab es in allen unseren Fällen keine wirklich fallverantwortliche und hinreichend ausgestattete Instanz, die die Übergänge und Zwischenräume zwischen den einzelnen Maßnahmen verantwortlich integrierte, und es gab keine institutionellen oder organisatorischen Vorkehrungen für die krisenhaften Folgen von Abbrüchen und Trennungen.

■ Keine professionelle Koordination der fördernden

und helfenden Interventionen Die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe ist – seit gut dreißig Jahren – Thema von Tagungen, Konferenzen, Arbeitsgemeinschaften, Kommissionsberichten und Fachgesetzen. Und ohne Zweifel fanden hier wichtige Entwicklungen statt: Sozialarbeit ist – als Schulsozialarbeit – in den schulischen Raum eingezogen, und die Jugend- und Familienhilfe hat sich – als Hilfen der Erziehung – systematisch auch schulischer Probleme und Schwierigkeiten angenommen. Dabei sind wichtige örtliche Brückeninstanzen zwischen diesen beiden Hilfe- und Fördersystemen entstanden. Umso irritierender war, dass in keiner der von uns untersuchten Konfliktgeschichten von einer verlässlichen fachlichen Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe die Rede sein konnte. Offensichtlich verlangen diese schwierigen Jugendlichen eine lang-

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fristige, verbindliche und interdisziplinäre Zusammenarbeit im Einzelfall. Und dafür sind beide Seiten nicht gut ausgerüstet. Wo Schule und Jugendhilfe im schwierigen Einzelfall miteinander kooperieren müssten, hilft beiderseitig guter Wille nur wenig. In keinem unserer Fälle gab es so etwas wie geregelte Verfahren der fallspezifischen Kooperation, die tiefen Gräben und gewichtigen Differenzen zwischen den beiden Professionen zu überwinden. Lehrer und Sozialarbeiter arbeiten unter sehr unterschiedlichen materiellen Bedingungen, in sehr unterschiedlichen Organisationen mit hoch differenten Organisationskulturen; ihre beruflichen Aufträge sind so verschieden wie ihre beruflichen Orientierungen, entsprechend »anders« sind ihre professionellen Perspektiven »auf den Fall«, sie sind sich »fremd«. Wie hier – fallorientiert – produktiv kooperiert werden kann, wie hier gegenseitige Fremdheit kreativ für die Fallarbeit genutzt werden kann, wie hier interdisziplinär gearbeitet werden kann – liegt alles andere als auf der Hand, muss eingeübt und professionell angeeignet werden, muss kontinuierlich reflektiert und regelmäßig und regelhaft praktiziert werden. Diese besonders schwierigen Jugendlichen jedoch erschweren geradezu reflektierendes und lernendes Verhalten ihrer Gegenüber. Sie verstricken ihre Erwachsenen in Handlungszwänge, evozieren bei ihnen unerträgliche Gefühle, die streng abgewehrt werden müssen, und nutzen – unbewusst – ihre Unsicherheiten und Ambivalenzen aus. In ihrer Professionalität bedroht und ohne die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen für verantwortliche Arbeit mit diesen schwierigen Jugendlichen, ziehen sich Professionelle allzu gern und fast zwangsläufig auf ihr sicheres Terrain zurück. Strikte Arbeitsteilung, wechselseitige Instrumentalisierung, gegenseitige Schuldzuweisung oder gemeinsame Entsorgung der Störer und ihrer Eltern sind – in unseren Fällen – die Erscheinungsformen der Arbeitsbeziehungen zwischen Schule und Jugendhilfe.

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■ Keine Arbeitsbündnisse mit den Jugendlichen

und ihren Eltern Die von uns untersuchten mehrjährigen Konfliktgeschichten sind in allen Fällen auch Geschichten mangelhafter oder gescheiterter Versuche, Arbeitsbündnisse mit den Familien dieser schwierigen Kinder und Jugendlichen aufzubauen. Nirgends wohl ist die Elternarbeit so schwierig und mühselig wie bei jenen Kindern und Jugendlichen, bei denen sie am nötigsten wäre. Nirgends ist der Erfolg pädagogischer oder sozialpädagogischer Interventionen so sehr von belastbaren Arbeitsbündnissen mit den Eltern abhängig, als ausgerechnet hier, wo derartige Arbeitsbündnisse nur mit Einsatz von viel Mühe, höchster Geduld und spezifischer professioneller Kompetenz zustande kommen können. In unseren Untersuchungsfällen fehlten der Regelschule und den Lehrern die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen für eine derartige Elternarbeit. Die haben sie nicht gelernt und dafür steht ihnen auch nicht die nötige Zeit zur Verfügung. So reduziert sich – insbesondere dann, wenn es zu schweren Konflikten kommt – die Beziehung zwischen Schule und Eltern recht schnell auf gegenseitige Schuldzuschreibungen, Delegation von Verantwortung und Vorwürfe. Elternarbeit, wie sie hier nötig wäre, liegt außerhalb des beruflichen Auftrags und Selbstverständnisses von Lehrern. Stets erwartet Schule von der Familie »Zuarbeit« – eine einseitige Beziehung, die Arbeitsbündnisse mit den Familien schwieriger Schülerinnen und Schüler eher verunmöglicht. Wo die Regelschule an den »Störungen« ihrer schwierigsten Kinder und Jugendlichen zu scheitern droht, sind immer auch die Beziehungen zwischen Schule und Familie, zwischen Lehrern und Eltern schwer gestört. So verweisen unsere besonders schwierigen Jugendlichen auf ein Problemfeld, das zunehmend an Bedeutung gewinnt und ganz neue, intensivere Formen interdisziplinärer Kooperation von Schule und Jugendhilfe erfordert. Eine immer größere Anzahl von Familien ist nicht mehr bereit oder in der Lage, die bisher von der Schule verlangte »Zuarbeit« zu erbringen: Sechsjährige sind nicht schulreif, Schulpflichtige nicht schulfähig und Schulabgänger nicht vorbereitet auf den Übergang in das Berufsleben. Damit wird der Schule nachhaltig ihre Arbeitsgrundlage entzogen: Sie ist

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mit der Anforderung konfrontiert, das, was sie bislang von der Familie erwartet hat, selber zu leisten. Mit ihrer eingeübten Praxis der Delegation und Selektion von Problemen, für die sie nicht gerüstet ist, kann Schule sich zwar der Störer und Störungen entledigen, die sozialen Kosten jedoch für dieses »Schulversagen« werden so nur verlagert.

■ Kein Fallverstehen, keine geregelten Verfahren

interdisziplinärer Fallberatung So wenig wir in unseren Untersuchungsfällen auch nur Ansätze eines integrierten Hilfe- und Förderprozesses entdecken konnten, so wenig sichtbar waren kontinuierliche Bemühungen der Professionellen um ein qualifiziertes Fallverständnis. Das Fehlen einer pädagogischen oder sozialpädagogischen schulischen Diagnostik macht die dominante Perspektive der Regelschule auf Störer und Störungen deutlich: Sie geht von der Schulpflicht der Schüler aus, nicht vom Recht der Schüler auf Schule. Sie verlangt, dass die Regeln angemessenen schulischen Verhaltens eingehalten werden. Die erzieherischen Voraussetzungen sind von den Eltern zu schaffen. Genau genommen, braucht die Regelschule mit diesem Blick auf Störer und Störungen kein Fallverständnis, dem es um die Frage nach dem »Sinn« der Störungen geht. Sie macht Angebote an ihre Schüler und verbindet diese mit Anforderungen – und erwartet, dass die Kinder und Jugendlichen bereit und in der Lage sind, die Angebote zu nutzen, um den Anforderungen halbwegs nachzukommen. Das differenzierte System der Regelschule erlaubt es, die Bemühungen um ein Fallverständnis weitgehend durch eine eingespielte selektive Praxis zu ersetzen. Wo jedoch in den mehrjährigen Konfliktgeschichten unserer ausgewählten Fälle Verfahren professioneller Diagnostik eingesetzt wurden – stets punktuell und im Kontext von sonderpädagogischer Überprüfung –, wurde eine recht einseitige »diagnostische Perspektive« eingenommen: der geradezu fixierte Blick auf die familiäre Situation der schwierigen Jungendlichen, die als Ursache und anhaltende Quelle aller Probleme und Störungen ins Visier genommen wird. Diese Justierung der Perspektive kann sich auf gewichtige fachliche Argumente be-

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rufen, hat aber zur Folge, dass relevante Dimensionen der Konfliktgeschichte ausgeblendet werden. So wichtig es ist – gerade bei den besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen –, die frühkindlichen und die fortwirkenden familiären Entstehungszusammenhänge der Schwierigkeiten und Störungen ernst zu nehmen, so wichtig ist es, dass diese Perspektive nicht den Blick auf die institutionellen Anteile an den Konfliktgeschichten verstellt. Für das Regelschulsystem ist der fixierte Blick auf die »Ursache Familie« nahe liegend, weil selbstverständlich unterstellt wird, dass die Familie für jene Erziehungsleistungen zuständig ist, die Schule voraussetzt. Gewisse Defizite der »Beschulbarkeit« können innerhalb der Schule ausgeglichen und kompensiert werden. Die institutionell dafür bereitgestellten Spielräume an erzieherischen Ressourcen und Kompetenzen sind innerhalb des Regelschulsystems durchaus unterschiedlich groß – für die besonders schwierigen Schülerinnen und Schüler aber sind sie nicht hinreichend. Unweigerlich werden Lehrerinnen und Lehrer durch diese Kinder und Jugendlichen mit den Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeit konfrontiert, und ebenso unweigerlich folgt der drohende schulische Appell an die Eltern, ihren erzieherischen Pflichten nachzukommen und ihr schwieriges Kind »schulfähig« zu machen. Wo diese Appelle scheitern, setzt die selektive Politik der Schule ein: Über Notengebung, Nichtversetzung und die Eskalation von Ordnungsmaßnahmen »entsorgt« sich das Regelschulsystem jener Jugendlichen. Der fixierte Blick auf das versagende und sich verweigernde Elternhaus entlastet die Professionellen und ihre Institution von der Verantwortung für das Scheitern. Es scheitern immer die schwierigen Jugendlichen und ihre Eltern, nie die Professionellen und ihre Institutionen. Ähnliches lässt sich auch für die Jugendhilfe sagen. Sie ist zwar – neben der Familie – der andere Adressat schulischer Appelle, wenn Lehrerinnen und Lehrer am Ende ihres Lateins sind, aber auch hier legen institutionelle Rahmenbedingungen den fixierten Blick auf die Zuständigkeit der Familie nahe. Zum einen wenden sich Hilfen zur Erziehung an die Eltern schwieriger Kinder; sie sind Angebote, die von Eltern gewünscht und beantragt werden müssen, die also gegen den Willen der Eltern überhaupt nicht zustande kommen. Zum anderen zielen sie in der Regel auf das System Fa-

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milie und versuchen, durch therapeutische, beratende oder pädagogische Interventionen die familiären Bedingungen zu verändern. Die Ressourcen und Kompetenzen der Jugendhilfe für diese Aufgaben sind begrenzt; hinreichende Bereitschaft und Fähigkeit zu belastbaren Arbeitsbündnissen gerade bei den besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien sind selten gegeben. So gilt auch hier, dass regelmäßig die sozialpädagogischen Professionellen und ihre Institutionen durch diese Klientel mit den Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten konfrontiert werden. Häufig mündet die Arbeit in hilflose Appelle an die Eltern oder die Jugendlichen. Ohne eine verlässliche und belastbare »Koproduktion« von Jugendhilfe und Familie muss Hilfe zur Erziehung scheitern, und das Fatale ist nur, dass die mangelhafte Kooperationsfähigkeit oder -bereitschaft der Familie ein konstitutiver Teil des Problems ist, der die Hilfe überhaupt nötig macht. Scheitern die Appelle, dann bietet diese diagnostische Perspektive der Jugendhilfe ebenso wie der Schule Entlastung an. Letztlich gilt auch hier: Es scheitern immer die schwierigen Jugendlichen und ihre Eltern, nie die Professionellen und ihre Institutionen. Unsere Falluntersuchungen machen deutlich: Kindergarten, Hort, Schule, Beratungsstelle und Jugendamt, Jugendzentrum und Erziehungshilfe haben beträchtlichen Anteil an den problematischen Lernerfahrungen schwieriger Kinder und Jugendlicher. In ihren Auseinandersetzungen mit schwierigen Hilfe- und Förderstrukturen und überforderten Professionellen lernen Kinder einen wesentlichen Teil des Verhaltens und der Orientierungen, die ihren Status als schwierige Kinder befestigen. Genau diese Dimension der Konfliktgeschichten wurde aber in der diagnostischen Perspektive der Professionellen auf die Jugendlichen und ihre Familien ausgeblendet. Doch dies ist beides: Entlastung und Belastung. Entlastet werden die Professionellen von einer Aufgabe, für die sie professionell wenig gerüstet sind, für die sie kaum über Kompetenzen und Ressourcen verfügen: die praktische, auf Veränderung drängende und Veränderung bewirkende Kritik der institutionellen Bedingungen ihrer Arbeit unter dem Gesichtspunkt, verantwortungsvoll und wirkungsvoll auch diesen besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen helfen zu können. Belastet aber werden sie insofern, als sie immer wieder genötigt werden, institutionelle Defizite durch

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Engagement und Selbstüberforderung auszugleichen, da sie mit ihren Erfahrungen des professionellen Scheiterns alleingelassen werden und deshalb auch diese Erfahrungen nicht in professionellen Zusammenhängen reflektieren und nutzen können. In allen unseren Fällen stießen besonders schwierige Kinder mit ihren Eltern auf besonders schwierige Hilfe- und Förderstrukturen, und erst beides zusammen macht, dass die Hilfe- und Förderprozesse konflikthaft eskalierten und in die »ruhende Schulpflicht« mündeten.

■ 3. Verstrickungen in den Konfliktbeziehungen zwischen den Jugendlichen und ihren Professionellen Das wichtige Vermittlungsglied zwischen der Psychodynamik und der Soziodynamik in den Konfliktgeschichten ist der unbewusste Mechanismus von Übertragung und Gegenübertragung. Die Macht der Verstrickung zwischen Professionellen und unseren Jugendlichen lebt von diesem Mechanismus – wie umgekehrt die Chance des Verstehens und des Durchbrechens von Wiederholungszwang und Eskalation in dieser Verstrickung liegt –, wenn sie reflexiv genutzt werden kann. Für unser interdisziplinäres Projekt hat deshalb die Gegenübertragung eine wichtige Brückenfunktion zwischen Individuum und Institution. Das gilt um so mehr, als Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung durchaus von beiden Seiten initiiert werden und in verschiedenen Phasen oder Sequenzen sich vollziehen können und weil nicht nur Affekte und Gefühle beziehungsweise Bilder und Fantasien auf der individuellen Ebene übertragen und gegenübertragen werden, sondern auch Strukturen, Muster sozialer Beziehungen, die sich individuell rigide verfestigen und institutionell rigide zu Regeln und Verfahren gerinnen können. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse sind Voraussetzungen sozialer Beziehungen. Auf ihnen beruht jegliche pädagogische Intuition, von ihnen leben Erziehungs- und Lernprozesse. Indem Kinder ihre familiären Beziehungserfahrungen und die

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an sie gebundenen Emotionen auf andere, für sie wichtige Erwachsene übertragen und indem nun ihrerseits diese Erwachsenen auf diese Übertragung mehr oder weniger einfühlsam, akzeptierend oder zurückweisend – stets aber auf ihre Weise – reagieren, werden durch die Gegenübertragung die Übertragungsprozesse des Kindes modifiziert, lernen Kinder differenzierte Beziehungen zu verstehen, zu akzeptieren und ihrerseits »vorzuschlagen« oder anzubieten. Übertragung und Gegenübertragung sind – unter normalen Bedingungen – elastische und flexible Prozesse wechselseitiger Einfühlung, Anpassung und Entwicklung. Wenn Kinder in die Schule kommen, haben sie in der Regel gelernt, halbwegs flexibel, experimentierend und unter Vorbehalt ihre Übertragung zu gestalten – und sie stoßen auf pädagogisch erfahrene Grundschullehrer, die bereit und in der Lage sind, diese Übertragungsvorgänge anzunehmen, sie professionell kontrolliert zu beantworten und sie so für die schulische Bildungsarbeit zu nutzen. Die extrem schwierigen Kinder und Jugendlichen unserer Untersuchung aber sind genau an diesem Punkt nie wirklich »schulreif« gewesen. Ihre Übertragungsgestaltung ist rigide, inflexibel, zwanghaft, häufig durch Spaltung und projektive Identifikation gekennzeichnet; sie sind unfähig, eigenständige, differenzierte Gegenübertragungsreaktionen ihrer Erwachsenen zu akzeptieren. Vor allem in krisenhaften Phasen individueller Entwicklungen wie beim Übergang in die Pubertät und schulischer Entwicklungen wie beim Übergang in eine weiterführende Schule sind diese Jugendlichen von den sozialen Anforderungen an sie überfordert. Mit ungeheurer Macht und suggestiver Kraft übertragen sie ihre gestörten, traumatisierten Beziehungserfahrungen und die mit ihnen zusammenhängenden archaischen Affekte von Angst vor Missachtung oder Vernichtung. Dieses Übertragungsgeschehen ist deshalb so gewaltförmig, weil es für diese Jugendlichen die einzige Weise ist, ihre für sie unerträglichen Gefühle von Angst und Hilflosigkeit abzuwehren: Sie »zwingen« ihren Erwachsenen geradezu jene Objektbeziehung auf, die sie gelernt haben, und übertragen so ihre gestörten Bindungs- und Beziehungserfahrungen auf die sozialen Beziehungen zu Mitschülern und Lehrern. Sie verstricken so ihr soziales Umfeld in die eigene Psychodynamik – und sind ausgerechnet bei jenen Professionellen damit besonders erfolgreich, die bereit sind, sich

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auf diese Jugendlichen einzulassen, sich verantwortlich um sie zu kümmern, sie »an sich heranzulassen«. Ohne ein Verständnis des Beziehungsmusters, in das diese Schüler ihre Lehrer verwickeln wollen, bleibt zum Selbstschutz nur die Abwehr der affektiven Zumutungen: Die Gegenübertragung »bedient« – komplementär oder konkordant – die Übertragung und verstärkt so die gestörten Beziehungserfahrungen des Jugendlichen. In den nicht durchschauten Konfliktbeziehungen provoziert und strukturiert das unbewusste Abwehrsystem der Jugendlichen die latente abwehrende Haltung der Professionellen. In der Verstrickung von Jugendlichen und Professionellen erhalten die Macht-Ohnmacht-Spiralen ihre fallspezifische Gestalt. In allen von uns untersuchten eskalierenden Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher mit Schule und Jugendhilfe ließen sich – fallspezifisch differenzierte – Formen eines »Kampfes um Kontrolle und Autonomie« identifizieren, die ganz wesentlich durch die individuelle Psychodynamik der Jugendlichen geprägt waren. Stets waren diese Konflikte zugleich als – ebenfalls fallspezifisch figurierte – unbewusste Komplizenschaften zwischen diesen Jugendlichen und ihren Professionellen zu entziffern.

■ Vier Fallskizzen Durch die zehnjährige Konfliktgeschichte Albertos mit Schule und Jugendhilfe zieht sich wie ein roter Faden das zentrale Thema einer permanent scheiternden fachlichen und interdisziplinären Kooperation hindurch. Der mangelnden Fähigkeit zur fachlichen Zusammenarbeit auf der Seite der Professionellen entspricht auf der Seite dieses Schülers eine ungeheuere Fähigkeit, die Erwachsenen, die mit ihm zu tun haben, zu spalten und in gegnerische Lager zu sortieren. Da gab es jene, die immer viel Verständnis für Alberto aufbrachten, ihn stets als Opfer wahrnahmen, als Opfer eines gewalttätigen Vaters, einer übergriffigen Mutter und wenig sensibler Lehrer, als Opfer auch früher, traumatisierender Verletzungen und Trennungen. Hinter dem tobenden, um sich schlagenden, ausrastenden Jungen sahen sie immer nur das verzweifelte, verängstigte

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und verwundete Kind, das sie mit Zuwendung und Hilfeangeboten geradezu überfütterten. Und es gab jene, die vor allem Alberto als Täter wahrnahmen, die fast nur Albertos destruktive, hinterhältige und verlogene Seiten sahen, für die dieser Junge kaum etwas anderes war als ein unerträglicher Störer und Provokateur, ein Quälgeist mit offenkundig sadistischen Zügen gegenüber Schwächeren und vor allem Mädchen, ein hinterhältiger und gemeiner Junge, der zu Hause die ganze Familie tyrannisiert und der die Schule für seine mafiosen Aktivitäten nutzt. Symptomatisch an diesem Fall war die Stabilität der jeweiligen Perspektive auf Alberto: Bei aller Ambivalenz wechselten die Professionellen kaum von einem Lager ins andere – als würde Alberto es sein, der seine Erwachsenen sortiert, als würde schon der erste Kontakt mit Alberto darüber entscheiden, wer ins Lager der Guten, der Freunde, der Beschützer oder in das der Bösen, der Feinde, der Angreifer gehört. Die Macht Albertos, seine Unabhängigkeit, seine Autonomie beruhten geradezu auf dieser Fähigkeit, die Großen seiner Welt in Lager zu spalten, gegeneinander aufzubringen und auszuspielen und so ihre bedrohliche Macht zu neutralisieren. In der Konfliktgeschichte Barats zeigte strukturelle Verantwortungslosigkeit in ganz besonderer Weise scharfe Konturen – weil die Professionellen in ihrer Auseinandersetzung mit Barat sich ihrer geradezu bedienten, sie sich gleichsam subjektiv aneigneten: Auf höchst irritierende Weise schaffte es dieser Schüler, dass die für ihn zuständigen Professionellen in kürzester Zeit sich einig waren in ihrem Blick auf diesen unerträglichen Störer. Vor allem jene Lehrerinnen und Lehrer, die sich um Barat bemühten, wurden bevorzugte Objekte seiner destruktiv-aggressiven Drohungen. Er tat einfach alles, um alle gegen sich aufzubringen, und verbreitete eine permanente Atmosphäre von sexistischer, rassistischer und gewalttätiger Bedrohung – übrigens ohne dass wirklich Ernsthaftes und Gefährliches vorfiel. Sie alle fanden »keinen Zugang« zu diesem Jungen, der unberührbar und unberührt die härtesten Konflikte durchzustehen schien, monströs in seiner Autonomie und Unabhängigkeit von den Großen, ihrer Wut, ihrem Hass und ihrer Macht, ein kleiner »Terrorist«. Er ließ sie alle scheitern. Früher oder später, meist früher, fanden sie alle sich im gleichen Lager derjenigen, die nur noch einen Weg sahen: ihre Professionalität

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dadurch zurückzugewinnen, dass sie diesen Schüler ausstießen, abwehrten, sich seiner »entsorgten«. Da kam ihnen die strukturelle Verantwortungslosigkeit geradezu entgegen. Als zentrales Thema des Falls Cassimo schob sich das der Komplizenschaft durch Konfliktvermeidung in den Vordergrund. Die Konfliktgeschichte Cassimos mit Schule und Jugendhilfe eskalierte nämlich nicht – wie üblicherweise bei nicht beschulbaren Jugendlichen – in den bekannten Macht-Ohnmacht-Spiralen. Cassimo wird zum perfekten Verweigerer, und perfekt meint im abschließenden Verständnis seiner Erzieher beides: Cassimo weist »erfolgreich und konsequent« jegliche schulische Anforderung zurück, die ihm nicht passt, und er respektiert dabei die Regeln des Settings und des respektvollen Umgangs mit den Erziehern so weit, als es nötig ist, um eskalierende Auseinandersetzungen zu verhindern. Die Konfliktgeschichte Cassimos mit Schule und Jugendhilfe ist eine beiderseitige – negative – Lerngeschichte. Der Junge lernt mithilfe seiner Lehrer und Erzieher, seine unbewussten Abwehrstrategien so zu perfektionieren, dass seine traumatischen Erfahrungen frühester Trennungen und die damit verbundenen archaischen Gefühle von innerer Heimatlosigkeit geschützt, das heißt aber auch unerkannt und unberührt bleiben. Und die Schule lernt, nachdem sie Cassimo »nach unten« durchgereicht hat, dass sie am besten fährt, wenn sie diesen Schüler mit ihren Leistungsanforderungen verschont. So entsteht eine Komplizenschaft »wechselseitiger Anerkennung«: Die Lehrer dürfen Lehrer bleiben, sie werden von diesem Jungen in Ruhe gelassen, nicht gestört und nicht in Frage gestellt, und Cassimo darf Cassimo bleiben, ein perfekter Verweigerer, und in dieser Freiheit und Autonomie fast bewundert von seiner Lehrern. In allen unseren Fällen fehlte den Professionellen ein angemessenes Fallverständnis – doch im Fall des Schülers Cassimo ist dieses Defizit das Band, das die Komplizenschaft von Schüler und Lehrer zusammenhält: Ein perfekter Verweigerer verhindert erfolgreich, dass irgendein Professioneller sich von ihm »ein Bild« machen kann. Blickt man auf die mehr als 10-jährige Schulgeschichte Dalinas zurück, fällt vor allem auf: Diese Schülerin wird einfach übersehen. So konsequent, wie Dalina in ihren letzten Jahren in der Regelschule die Schule und den Unterricht verweigert, so konsequent

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verweigert die Regelschule – vom ersten Tag an – dieser Schülerin das Maß an Aufmerksamkeit, das sie mit ihren Schwierigkeiten und Problemen benötigt hätte. Dalina wird übersehen – und macht sich unsichtbar. Später, in der Gesamtschule, perfektioniert Dalina diese »Kompetenz«. Nun ist sie zur chronischen Schulverweigerin geworden, doch keiner merkt auf. Eine irritierende Parallelität: Die Schule schaut nicht auf diese Schülerin und ihre Probleme und Dalina verschwindet aus der Schule und macht sich vollends unsichtbar; die Schule verweigert sich den Anforderungen dieser schwierigen Schülerin und Dalina verweigert sich den Anforderungen der Schule. Und hier treffen sich beide Seiten, Dalina und ihre Professionellen, im komplementären Bemühen, den Ernst der Gefährdung und Störung zu verleugnen. Das – allen Beteiligten gemeinsame – Thema der Konfliktgeschichte zwischen Dalina und ihren Professionellen ist die Wahrung von Autonomie durch Verleugnung und Vermeidung: An Dalinas bodenloser Bedürftigkeit können Lehrer nur scheitern. Und Scheitern darf in der Schule nicht sein – nicht bei Schülern und erst recht nicht bei Lehrern. In der Leugnung und Abwehr der eigenen Bedürftigkeit besteht der Zusammenhang jenes institutionellen Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms mit der Psychodynamik Dalinas. So retten beide Seiten sich und ihre Autonomie – die eine, indem sie sich unsichtbar macht, die andere, in dem sie nicht hinschaut. Diese fallspezifischen Ausprägungen können hinreichend nur verstanden werden als Gestaltungen der machtvollen Beziehungsdynamik von Übertragung und Gegenübertragung in den Konflikten zwischen den Jugendlichen und ihren Professionellen. Qualifizierte professionelle Arbeit mit schwierigen, nicht beschulbaren Jugendlichen wird – das haben unsere Falluntersuchungen gezeigt – von zwei Seiten erschwert, behindert, im Extremfall verunmöglicht. Auf der einen Seite stehen die Jugendlichen mit ihren häufig sehr destruktiven Konfliktstrategien gegenüber Schule und Jugendhilfe, mit ihren mehr oder weniger aggressiven Verweigerungshaltungen gegenüber den Regeln und Anforderungen dieser Institutionen, mit ihren rigiden und pseudoautonomen Formen der Abwehr archaischer und unerträglicher Affekte der Angst, Hilflosigkeit und Bedrohung. Sie inszenieren immer wieder frühe Be-

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ziehungs- und Konflikterfahrungen und sind unfähig, ihre starren Muster der Abwehr und des Selbstschutzes aufzugeben. Die Forschergruppe der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten identifizierte in beträchtlichem Ausmaß bei allen unseren Untersuchungsfällen derartige destruktive Kräfte in der individuellen Psychodynamik. Auf der anderen Seite stehen Schule und Jugendhilfe mit ihren qualifikatorischen und organisatorischen Voraussetzungen und Bedingungen professioneller Arbeit, mit ihren Defiziten und Schwächen und den in vieler Hinsicht mangelnden und mangelhaften Kompetenzen und Ressourcen; unter dem Begriff der strukturellen Verantwortungslosigkeit wurden diese Rahmenbedingungen beruflicher Arbeit analysiert. Die Professionellen in Schule und Jugendhilfe sind regelmäßig überfordert, wollen sie sich verantwortlich dieser Jugendlichen annehmen. Am Ende bleibt meist nur der Rückgriff auf die Instrumente und Regeln, die die Institution bereitstellt, um sich und ihre Mitarbeiter vor der Erfahrung des Scheiterns zu schützen: Sanktion und Selektion. Genau dieser destruktive »Rückgriff« wird institutionell angeboten, nahe gelegt, im Extremfall aufgenötigt. Die soziologische Analyse der Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher ist immer wieder auf die institutionelle Macht des Destruktiven gestoßen, auf die machtvolle Abwehr der Erfahrung von Scheitern und Versagen, auf die institutionelle Absicherung und Befestigung struktureller Verantwortungslosigkeit. Die Analyse der Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher mit Schule und Jugendhilfe legt auf zwei Ebenen bestimmte Anwendungsperspektiven nahe, auf der Ebene der Veränderung und Entwicklung des Regelschulsystems und auf der Ebene der Gestaltung vorhandener Spielräume und Reformmöglichkeiten im Regelschulsystem. Das deutsche Regelschulsystem ist wesentlich geprägt durch seine Funktion der Auslese und Selektion. Das dreigliedrige – nimmt man die Sonderschulen hinzu: viergliedrige – differenzierte deutsche Schulsystem orientiert sich zentral an der Frage der angemessenen Platzierung von Kindern und Jugendlichen im vorhandenen Schulsystem. Scheitern Schüler in und an ihrer Schule, so gibt es stets nur eine Ursache dafür: Sie haben versagt, sie waren

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also falsch platziert. Schul- und Lernverweigerung sind immer nur Indizien für Defizite aufseiten der Schüler – und nötigen immer nur zu Überlegungen, welcher Schultyp der in diesem Fall angemessene sein dürfte. Das gegliederte deutsche Regelschulsystem entwickelte sich nicht, indem es sich an den besonderen Problemen und Defiziten oder an den spezifischen Kompetenzen und Ressourcen der einzelnen Schüler orientierte. Seine Strukturen verdankt es dem vordemokratischen Auftrag, unterschiedlichen sozialen Schichten unterschiedliche Bildungsangebote – als Voraussetzung unterschiedlicher sozialer Positionen – zu machen. Deshalb hat die Familie bei der Bereitstellung von Schulreife, Schulfähigkeit und Beschulbarkeit in Deutschland noch immer eine derart hegemoniale Bedeutung und deshalb ist in Deutschland – wie in kaum einem anderen hochentwickelten Land – der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg derart eng. Die von uns untersuchten nicht beschulbaren Jugendlichen werden nun deshalb zur Krise der Regelschule, weil das hochdifferenzierte und selektive deutsche Schulsystem für diese Gruppe von Schülern kein »Fach« hat, in das sie sortiert werden könnten. Das offenbart sich häufig beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule – ein Übergang, der für beide Seiten krisenhaft ist. Die quälenden eskalierenden Konfliktgeschichten dieser Jugendlichen mit und in der Regelschule zerren – einem Katalysator vergleichbar – die strukturellen Defizite dieses Schulsystems ans Licht. Denn im Normalfall kommt die Regelschule – wie schlecht auch immer – aus, ohne sich um die einzelnen Schüler und ihre Probleme zu kümmern. Wer nicht »passt«, wird aussortiert und umplatziert. Bei unseren nicht beschulbaren Jugendlichen dagegen führt dieses Regelverfahren jeweils in Sackgassen – und offenkundig wird, dass weder die Schule noch die in ihr arbeitenden Professionellen über die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen für verantwortliches Handeln verfügen. Die strukturelle Schattenseite des gegliederten Schulsystems wird in unseren Fallanalysen überdeutlich sichtbar: Dieses Schulsystem kennt keine dominante Orientierung an den einzelnen Schülern, und die institutionellen und organisatorischen Bedingungen professioneller Arbeit stehen einer solchen Einzelfallorientierung systematisch im Weg. Nur sehr begrenzt – das heißt weder professionell einge-

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übt noch institutionell abgesichert – können einzelne Lehrer oder auch Kollegien dieses strukturelle Defizit ausgleichen. Die Konsequenz wird in unseren Fallanalysen ebenfalls eklatant sichtbar: Dieses Schulsystem ist in hohem Maß lernresistent und »schüleraversiv«, wenn es mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert wird, die »nicht passen«, also »stören«. In den analysierten Konfliktgeschichten gibt es immer nur eine Seite, die sich verändern und entwickeln, also etwas lernen muss; wie es schließlich auch immer nur eine Seite gibt, die scheitert, wenn nichts mehr hilft: die nicht beschulbaren Jugendlichen und ihre Familien. Die Schule dagegen fordert Schulfähigkeit und Beschulbarkeit ein, sortiert und selektiert – und reicht Jugendliche, die diesen gegebenen schulischen Anforderungen nicht genügen, »nach unten« durch. Die Hauptschule wird zur »Restschule« – und die Erklärung der ruhenden Schulpflicht ist der Weisheit letzter Schluss. Die Alternative wäre ein Schulsystem, in dem Schulen sich für alle ihre Schüler verantwortlich wissen, weil sie – ganztags und auf lange Sicht – zuständig sind und keine Möglichkeit haben, »unpassende« Schüler abzuschieben; ein Schulsystem, dessen Professionelle hinreichend qualifiziert sind und über die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen verfügen, um an ihren »Störern« zu lernen, wie Schule sich entwickeln und verändern muss. Im Rahmen des gegliederten Regelschulsystems sind die Spielräume für Alternativen recht eng. In diesem Rahmen aber arbeiten Lehrer und Sozialarbeiter mit schwierigen Jugendlichen und erfahren dabei, dass individuelle Lösungsstrategien – noch mehr Engagement, noch mehr Aktivitäten und Maßnahmen, noch mehr Zuwendung und Sich-Kümmern – nur wenig und bestenfalls kurzfristig helfen. Vielleicht wäre einiges schon gewonnen, würde der Anteil von Schule und Jugendhilfe an den eskalierenden Konflikten systematisch reflektiert und immer wieder deutlich benannt werden. Möglicherweise wäre das Scheitern an den Problemen dieser Jugendlichen weniger destruktiv und entmutigend, wäre es eingebettet in gesicherte Formen kollegialen und interdisziplinären Arbeitens. Und es mag sein, dass andere Konfliktgeschichten geschrieben werden können, wenn Schulen oder Einrichtungen der Jugendhilfe den Bedingungen struktureller Verantwortungslosigkeit mehr Widerstand entgegensetzen: Konfliktgeschichten als

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Lernprozesse engagierter Kollegien oder Teams – in der Arbeit mit schwierigen Jugendlichen und in der Auseinandersetzung mit Politik und Verwaltung. Auch wenn wir im Rahmen unserer Untersuchung in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen mit Lehrern und Sozialarbeitern erfahren haben, dass unser »Blick von außen« auf die Konfliktgeschichten mit ihren Jugendlichen durchaus erhellend sein konnte; deutlich wurde, dass es in diesem Arbeitsfeld nicht in erster Linie an Aufklärung und gutem Wissen mangelt: Es gibt viele überzeugende Reformkonzepte und zahlreiche gute Modelle. Und überall trifft man auf engagierte Professionelle, die wissen, was nötig wäre und es nur zu gern erproben würden. Diese Gesellschaft leidet nicht Mangel an besserem Wissen, lohnenden Konzepten und moralischen Ressourcen, beides auch einzusetzen. Diese Gesellschaft hat vor allem ein Umsetzungsproblem, ihr fehlt der politische Wille zu Reformen, die diesen Namen verdienen. So bleibt zurzeit nur, die Spielräume zu sehen und zu nutzen, die es noch gibt. In unserem Band 2 von »Störer und Gestörte« ist davon die Rede (Freyberg u. Wolff 2006). Mag sein, dass in dem einen oder anderen Fall auch Scheitern vermieden werden kann, doch vor allem käme es darauf an, gemeinsam lernend mit Störern und Störungen umzugehen.

■ Literatur Freyberg, T. v.; Wolff, A. (Hg.) (2005): Störer und Gestörte. Bd. 1: Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher. Frankfurt a. M. Freyberg, T. v.; Wolff, A. (Hg.) (2006): Störer und Gestörte. Bd. 2: Konfliktgeschichten als Lernprozesse. Frankfurt a. M. Katzenbach, D. (2004): Wenn das Lernen zu riskant wird. In: Dammasch, F.; Katzenbach, D. (Hg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt a. M., S. 83-104. Raue, J.; Wolff, A. (2003): Das Diagnoseprofil des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Frankfurt a. M. In: Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (Hg.): Therapeutischer Prozess und Behandlungstechnik bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt a. M., 2003, S. 312-332.

■ Dirk Fabricius

Jugend. Gewalt. Strafe – Ungerechtigkeit schützt vor Strafe nicht

Die Verwandlung des Themas »Jugendliche Straftäter« – wie von der Kongressleitung vorgeschlagen – in »Jugend. Gewalt. Strafe – Ungerechtigkeit schützt vor Strafe nicht« sollte nicht nur daran erinnern, dass die Strafe umso gewaltiger ist, je mehr Gewalt der Straftäter eingesetzt hat, sondern auch, dass dieser staatliche Gewalteinsatz ungerecht ist, weil »die Falschen« schuldig gesprochen werden, der Gewalteinsatz die Schuld gegenüber dem Betreffenden aus der Verletzung des Gesellschaftsvertrags noch vergrößert und schließlich die Wahrscheinlichkeit für weitere Gewalt durch die Jugendlichen befördert. Der Untertitel nimmt eine Anleihe bei dem Buchtitel von Ellen Reinke (1977), »Leiden schützt vor Strafen nicht«. Reinke war maßgeblich an dem Projekt »Soziotherapie mit Delinquenten« beteiligt, das von Psychoanalytikern und Juristen getragen den Versuch unternahm, psychoanalytisch gestützte Alternativen zur Strafe zu erproben (Reinke u. Toussaint 1982; Cornel 1998). Das erwähnte Leiden gilt es als gesellschaftlich organisiert und produziert zu verstehen, eine gesellschaftliche Produktion von Bedingungen, unter denen Traumatisierung für manche wahrscheinlicher wird. Und darin kann man eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags sehen. Denn die »gute Ordnung«, welche die Verfassung verspricht, impliziert für die Nachgeborenen eine Chance, zu Bürgern heranzuwachsen, die ihre Rechte wahrnehmen und ihre Pflichten erfüllen können (vgl. i. d. S. Klesczewski 1997). Wer jedoch an einem sozialen Ort geboren wird und aufwächst, wo diese Chance erheblich herabgesetzt ist, hat zugleich ein erhebliches Risiko, traumatisiert zu werden und damit nicht nur am ökonomischen, sozialen und kulturellen Reichtum nicht angemessen partizipieren zu

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können, vielmehr auch noch durch Strafe und Ausschluss auf seinem Platz »festgenagelt« zu werden. Auf die durch diese Traumatisierungen ausgelöste Gewalt wird mit Gegengewalt geantwortet.

■ Jugendstrafrecht und kriminalpolitische Entwicklung Das Jugendstrafrecht erscheint auf der gesetzlichen Ebene in Form des Jugendgerichtsgesetzes zum ersten Mal im Jahr 1923. Es markiert eine Wende weg vom Vergeltungsstrafrecht, welches die Strafe als Reaktion auf die schuldhaft begangene Tat betrachtet, hin zu spezialpräventiven Konzepten. Diese zielen nicht rückblickend auf den Schuldausgleich, sondern auf die Zukunft, auf Verhinderung des Rückfalls. Ausschluss der »Bösartigen« und Besserung der »Gutartigen«. Tatbestände und Verbrechensbegriff des Erwachsenenstrafrechts liegen auch dem Jugendstrafrecht zugrunde, aber auf der Rechtsfolgenseite tritt der Erziehungsgedanke an die erste Stelle. Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe nennt das Gesetz als Mittel der bessernden Erziehung. Der Sprachgebrauch indiziert schon, dass die pädagogischen Vorstellungen »schwarz« sind, was der damaligen herrschenden Pädagogik entsprochen hat (vgl. Rutschky 1977). Dass Strafe bessern könnte, ja, dass Strafe als Mittel der Erziehung unverzichtbar sei, war damals mehr noch als heute eine fast selbstverständliche Annahme. Strafgewalt gehörte zum strafrechtlichen wie zum pädagogischen Konzept. Zucht, Disziplin, Ordnung, Maßregeln sind Termini, die in dem einen wie in dem anderen Gedankenschema vorkommen. Die Wende hin zur Spezialprävention setzte sich im Erwachsenenstrafrecht fort, in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts blühte der »Resozialisierungsgedanke«, in § 2 Strafvollzugsgesetz formuliert als Vollzugsziel, der Gefangene solle befähigt werden, ein Leben ohne Straftaten in sozialer Verantwortung zu führen. Auch die Maßregeln der Besserung und Sicherung für psychisch kranke Rechtsbrecher sollen dasselbe Ziel verfolgen. Erwachsenenstrafrecht und Jugendstrafrecht konvergieren, bei unterschiedlicher Terminologie.

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Der wissenschaftliche Fortschritt in Psychologie, Pädagogik, nicht zuletzt durch die Psychoanalyse angestoßen, ließ die frühere Kohärenz zwischen strafrechtlichen und pädagogischen Konzepten zum offenen Widerspruch werden. Nicht nur die staatliche, sondern auch die pädagogische Strafe erwies sich als ungeeignet, mehr als »Dressur« zu erreichen, und die zahlreichen schädlichen Nebenwirkungen einer strafenden Erziehung und die bescheidenen Erfolge »aversiver Maßnahmen« wurden jedenfalls den Fachleuten immer deutlicher (vgl. z. B. Horn 1971). Konsequenterweise wurde die Forderung erhoben und wurden Konzepte vorgelegt, das Jugendstrafrecht abzuschaffen und ins Recht der Kinder- und Jugendlichenhilfe übergehen zu lassen. Der innere Widerspruch zwischen dem Gefängnis als einem institutionalisiertem Gewaltverhältnis, als »totaler Institution« (Goffmann 1961) und realistischen Konzepten von »Resozialisierung« führte auch dazu, dass eine Ernüchterung eintrat, die zum Schlagwort des »nothing works« führte, jedenfalls die Erfolge als klein erscheinen ließ. Während die Schäden durch strafende Erziehung so weit ins gesellschaftliche Bewusstsein traten, dass die Eltern ihr »Züchtigungsrecht« schließlich verloren (§ 1631 Abs. 2 BGB), verlässt sich die Politik immer mehr darauf, das Strafrecht als Mittel der Wahl zu propagieren, während sozialstaatliche Einrichtungen abgebaut werden. Der Ruf nach dem Strafrecht wird oft fast reflexhaft erhoben, wenn Empörung und Entrüstung aufflammen. Die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts im Zivilrecht bedeutet, dass prügelnde Eltern sich strafbar machen (selbst wenn es nicht zur Strafverfolgung kommt): Was könnte den Widerspruch deutlicher machen? Die Kriminalpolitik berücksichtigt wissenschaftliche Erkenntnisse weniger, als dies in der Phase der Resozialisierung der Fall war. Kriminalitätsängste werden geschürt und Härte, energisches Durchgreifen als Beruhigungsmittel angeboten. Die Forderung nach Abschaffung des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht ist in der gegenwärtigen politischen Lage keineswegs der Gedanke, wegen des unauflöslichen Widerspruchs von Strafe und »Besserung« die Strafe abzuschaffen. Verknüpft mit der Forderung nach Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12, der Einbeziehung der Heranwachsenden (18–21 Jahre) ins

D. Fabricius · Jugend. Gewalt. Strafe

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Erwachsenenstrafrecht entledigte man sich mit Beseitigung des Erziehungsgedankens des Stachels, den der Erziehungsgedanke, besonders wenn mit modernen pädagogischen Ideen verknüpft, nach wie vor bildet. Betrachtet man die politische Lage, so wird in einem von Kriminalitätsängsten und Sicherheitsbedürfnissen geprägten politischen Kurs mehr Härte gefordert und praktiziert. Diese Härte schließt zunächst ein Sich-Verschließen gegenüber den Ursachen für Jugendgewalt ein. Sie impliziert weiter, Repression zum Mittel der Wahl zu küren und bei Scheitern einer milden Repression mit dem »Mehr desselben« zu reagieren. Die Schärfung der Strafe bei Rückfällen, aus dem Gesetz entfernt, weil die Schuld beim Rückfall nicht größer sein muss, ist in den justiziellen Strafzumessungserwägungen oft deutlich erkennbar. Die Debatten um den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht sowie um vermehrte und frühere Strafe und Ausschluss sind eingebettet in eine allgemeine Debatte, die auch im Erwachsenenstrafrecht zu tief greifenden Veränderungen führt. Herausragend ist hier die Wiederbelebung der Sicherungsverwahrung, mehr noch, eine Ausweitung über die von den Nationalsozialisten, die diese Maßregel einführten, vorgesehenen Möglichkeiten hinaus. So kann sie seit 2004 auch gegen Heranwachsende verhängt werden. Das Besondere an der Sicherungsverwahrung ist, dass sie gegen solche Menschen verhängt wird, die vom Gericht für ihre Taten als voll schuldfähig angesehen werden. Obwohl sie als voll Schuldfähige in der Lage sind, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, gelten sie gleichwohl als gefährlich, weil man zu prognostizieren können glaubt, sie würden rückfällig werden. Wie man von jemanden prognostizieren kann, was er zukünftig tun wird, der voll umfänglich willens- und entscheidungsfrei ist, bleibt ein unauflösliches Geheimnis. Denn prognostizieren kann man nur, wenn Gesetzmäßigkeiten gegeben sind, anders gesagt, Determinanten. Auch hier befindet sich das Strafgesetz in einer höchst widersprüchlichen Lage. Dieser Widerspruch kann nur ausgehalten werden, indem man ihn verleugnet, was zugleich einschließt, nicht mehr nach den Ursachen und Gründen für Straftaten zu fragen. Gleichgültig warum jemand etwas tut, welchen Beitrag die Institutionen selbst auf seinem Weg dorthin geleistet

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haben: Gefährlich ist er und weggeschlossen gehört er. Ursachen werden nicht mehr detailliert untersucht, die Vorgeschichte ausgeblendet. Das verführt zu kurzschlüssigen »Theorien«. Ein Beispiel aus dem materiellen Strafrecht: Das Merkmal der »Mordlust« im Mordtatbestand galt lange als Relikt, weil mit guten Gründen angenommen wurde, etwas Derartiges gebe es nicht. Indem nur oberflächlich die Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung der Täter und die Psychodynamik vor, während und nach der Tat untersucht wird, bleibt schließlich keine andere Erklärung als »Mordlust« als Motiv. Der behauptete Anstieg von Kinder- und Jugendkriminalität wird so implizit naturalisiert: Dem »boshaften Säugling«, der durch nicht genügend repressive Eltern seine Boshaftigkeit weiter entwickelt, kann schließlich auch nicht mehr anders als mit Ausschluss auf den verschiedenen Stufen seiner institutionalisierten Karriere begegnet werden. Der Erziehungsgedanke verlangt oder legitimiert jedenfalls eine differenzierte Erkundung von Tat und Täter unter psychosozialen Gesichtspunkten.

■ Wissenschaftliche Schnittmengen zwischen Rechtswissenschaft und Psychoanalyse und ihre Ausblendung Wenn also die Abschaffung des Erziehungsgedankens den Versuch der »Entsorgung« von wissenschaftlichen Erkenntnissen impliziert, kann es nicht allein darum gehen, weiter über bessere Methoden von Erziehung, Therapie, Behandlung nachzudenken und zu forschen. Nicht nur, dass diese »Entsorgung« die Möglichkeiten der weiteren Erforschung und Anwendung dieser Behandlungen reduzieren wird, sie trägt auch zu sozialstrukturellen Veränderungen, zu Prozessen der Dehumanisierung und des Ausschlusses bei, welche die Bedingung für Traumatisierungen schaffen und damit als Ursachen von Gewalt identifizierbar sind – wenn man den weiten strafrechtlichen Verursachungsbegriff zugrunde legt: »Jede Bedingung, die nicht hinwegzudenken ist, ohne dass der konkrete Erfolg entfiele«. Der Medicozentrismus in der Psychoanalyse

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(Parin 1986) reicht einer positivistischen Rechtswissenschaft die Hand: Beide vermögen nur eingeschränkt und vage die Entwicklungen in den Perspektiven von Fairness und Gerechtigkeit zu thematisieren. Wie bringt man in Gerichtsprozessen und in Therapien und Behandlungen die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Sprache, ohne aktionsunfähig oder aktionistisch zu werden, ohne in Konfrontationslosigkeit und laissez faire zu verfallen oder zum Zyniker zu werden? Betrachtet man die Entwicklung der Psychoanalyse, so sind und waren solche Perspektiven in der kulturkritischen, ethnopsychoanalytischen Perspektive ebenso vorhanden wie etwa bei Winnicott (1984), der dissoziales Verhalten als Reaktion auf erlebte Ungerechtigkeit verstand, als Versuch, sich Vorenthaltenes zu holen oder sich auf die Suche nach einer besseren Umgebung zu machen. Auch in den Kriminalwissenschaften gibt es mit den Konzepten der »Makrokriminalität« (Jäger 1989) oder »staatsverstärkten Kriminalität« (Naucke 1996) sowie der Klarstellung, dass das Gesetz mit seiner Konzentration auf psychische Ursachen für Schuldunfähigkeit Wesentliches, die sozialen Gründe für Schuldunfähigkeit, ausschließe (Bernsmann u. Kisker 1975), Ansatzpunkte, die Schnittmenge zwischen juristischen und psychoanalytischen Konzepten zu füllen, die von positivistischen Vertretern ihrer Zunft leer gelassen wird. Die Psychoanalyse, die geeignet wäre, die Anpassungsmechanismen (Parin 1978) der institutionellen Akteure ebenso zu erhellen wie die Psychodynamik der Täter und die Verankerung dieser Psychodynamik in einem sozialen Feld, wird in der Rechtswissenschaft und in der wieder mehr von Juristen dominierten Kriminologie ausgeschlossen und verdrängt.

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■ »Verbrecher aus Schuldgefühl« oder »Verbrechen als Versuch der Trauma-Bewältigung«? Mit dem Übergang oder auch der Rückkehr zur Anerkennung von realen Erlebnissen, insbesondere Traumata als psychische Krankheit verursachend, wird die Psychoanalyse für das Strafrecht, aber auch für eine strafende Erziehung unerträglicher, was die zuvor genannten »Ausstoßungsprozesse« noch begünstigen dürfte. Dennoch bleibt auch die Psychoanalyse in einer seltsam ambivalenten Haltung. Ausgeblendet bleiben die soziale Verteilung und die gesellschaftliche Produktion der Bedingungen für Traumatisierung. Zudem wird in der Regel ein gesetzes- oder sozialpositivistischer Verbrechensbegriff ohne größere Diskussion übernommen, was den Blick auf die typischen Unterschichtdelikte lenkt. Die von Devereux (1974) ins Zentrum gerückte Frage nach dem Verhältnis von Konformität auf der einen Seite und Krankheit oder Kriminalität auf der anderen rückt im psychoanalytischen Diskurs nach wie vor nicht ins Zentrum, obwohl letztere dorthin gehörte: Korruption, Untreue, Steuerhinterziehung, Futtermittelvergiftung. Anders gesagt, das Gesetz verbürgt weder, dass alles »Kriminelle« dort aufgenommen wird, noch, dass alles Aufgenommene auch Kriminalität repräsentiert. Unter bestimmten Bedingungen kann es normal sein, krank zu sein, und Gesundheit kann als »Abweichung« erscheinen. Dasselbe trifft für Kriminalität zu.

■ Begriffsschärfung Alle von uns eingeführten Begriffe wie Kindheit/Jugend, Gewalt und Strafe sind unscharf, zum Teil unterliegen den Worten ganz verschiedene und widersprüchliche Begriffe. Einige Anmerkungen dazu: Ob es Jugend gibt, wo sie anfängt, wo sie aufhört, ist umstritten. Eine Ausweitung oder Einengung der Grenzen ist dabei durchaus ambivalent. Jugendlicher zu sein bedeutet nur zu oft, einem »Blick von oben« ausgesetzt zu sein, von Erwachsenen, die

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wissen, was richtig ist, einen erziehen, behandeln und in eine Richtung drängen wollen, weil man selbst unmündig ist, unreif, von Gefühlsschwankungen durchzogen und so weiter. Umgekehrt bietet die Zugehörigkeit zur Jugend in einer von Unterdrückung und Repression gezeichneten Umgebung einen gewissen Schutz. Die Konstitution einer Gruppe »Jugend« mit der Zuschreibung von »Lernfähigkeit«, Entwicklungsfähigkeit, Reifungsprozessen kann aber auch implizieren, dass Erwachsene lernunfähig, behandlungsresistent und unveränderlich sind. Der Gewaltbegriff ist noch umkämpfter als die Begriffe Kindheit und Jugend, und seine Grenzen sind gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Der Gewaltbegriff in der juristischen Debatte wurde am extensivsten ausgelegt, als es darum ging, vor Panzern sitzende Demonstranten und durch lautes Gejohle eine Vorlesung unterbrechende Studenten als Gewalttäter zu klassifizieren. Aber auch in den Sozialwissenschaften besteht die Neigung, alles als Gewalt zu bezeichnen, was »schlimm« ist. Damit gehen wesentliche Differenzierungen verloren, und insbesondere bleibt unterbelichtet, dass zum Beispiel Lug und Trug, sowie Manipulation ebenso »schlimm« sein können. Auch hier scheint mir eine psychoanalytische Reflektion hilfreich, um diese Kämpfe um »Benennungsmacht« (Bourdieu) auf ihre verborgenen Wurzeln hin zu untersuchen und damit dazu beizutragen, zu einem adäquateren, das heißt Unterschiede in der wirklichen Welt markierenden Gewaltbegriff zu kommen. Auf den ersten Blick könnte es sein, dass Strafe bestimmter ist, beim genaueren Zusehen jedoch verwischt sich auch hier der Begriff. Schaut man etwa in die behavioristische Literatur, so werden Ratten »bestraft«, wenn sie einen Stromstoß in einem Experiment erhalten, umgekehrt bindet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG NJW 2004, S. 739-750) den Vorwurf der Strafe – jedenfalls im strafrechtlichen Sinne – an den Schuldvorwurf und damit an die eigene Verantwortung. In der Pädagogik hingegen wird die Strafe geradezu mit der mangelnden Verantwortungsfähigkeit oder Einsichtsfähigkeit der Kinder begründet. Dabei wird als Strafe jede Reaktion auf »unerwünschtes« Verhalten bezeichnet. Das schließt zahlreiche Reaktionen ein, die aus

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der juristischen Perspektive mit Sicherheit keine Strafen sind, wie Verpflichtungen zu Herausgabe, Schadensersatz, Wiedergutmachung, Unterlassung und anderem mehr. Mit dieser Indifferenz geht das Entscheidende verloren, nämlich dass die Bestrafung ein Über-Unterordnungsverhältnis voraussetzt und immer eine Degradierung impliziert. Die Distanz zwischen Bestraftem und Strafendem wird vergrößert, was die Gefahr einer Dehumanisierung einschließt. Und erst Gerechtigkeit – davon zu sprechen, beschädigt fast schon den professionellen Ruf eines Juristen. Aber ohne eine solche Perspektive kommt man nicht aus, wie insbesondere der Blick auf das internationale Völkerstrafrecht lehrt, aber auch schon die Gesetze in Diktaturen deutlich indizieren: es gibt Unrechtsgesetze. Die Gesetzesform bürgt nicht für Recht.

■ Behandlungsunfähigkeit und »Therapieresistenz« Die Behandler in Jugendheimen, Gefängnissen, aber auch in der Bewährungshilfe stehen unter einem hohen institutionellen Druck, »erfolgreich« zu arbeiten, das heißt, den Behandelten schließlich als »rückfallresistent« vorzustellen. Erhöhte Fallzahlen lassen den Zeitdruck wachsen, dadurch wird der Spielraum geringer, Behandlungsbereitschaft entstehen zu lassen und die Erwachsenen zu fördern. Das Urteil »therapieresistent« kann dazu beitragen, sich von einem Teil der Klientel zu befreien, um mit den anderen, schon Therapiebereiten und -fähigen zu arbeiten und sich nicht an den »Hartgesottenen« die Zähne auszubeißen. Von Winnicott (1984) stammt die Formulierung, »von einer guten Mutter Gebrauch machen zu können« (vgl. auch Schore 1994, S. 24 u. S. 37ff.). Dieser Gedanke scheint mir in der gegenwärtigen Debatte viel zu wenig berücksichtigt. Es stellt schon eine Fähigkeit dar, Hilfe annehmen zu können und von einer guten Umgebung Gebrauch zu machen. Resozialisierungsbemühungen müssen solche »Möglichkeitsräume« (Khan 1983) vorhalten und aufschließen, dies erst recht, weil viele der Betroffenen eine lange

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Kette von ungerechter, ausschließender und herabsetzender Behandlung durch Institutionsakteure hinter sich haben. Selbst wenn es nicht möglich ist, derartige Möglichkeitsräume in der gegenwärtigen sozialen Situation zu eröffnen, wäre die Erinnerung daran vielleicht hilfreich, um die Betreffenden nicht mit derart abwertenden Etiketten zu bekleben, die ihre weitere Ausschlusskarriere festschreiben und an die Kette der Enttäuschungen ein weiteres Glied anhängen.

■ Literatur Bernsmann, K; Kisker, K. P. (1975): § 20 StGB und die Entschuldbarkeit von Delinquenz diesseits biologisch-psycho(patho)logischer Exkulpationsmerkmale. MSchrKrim 58: 325–339. Cornel, H. (1998): Psychoanalytische Sozialtherapie – Konzeption, Praxis und Evaluation. In: Lüderssen, K. (Hg.): Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse. Band IV: Legalbewährung und Ich-Struktur. Baden-Baden. Devereux, G. (1974): Normal und Anormal. Frankfurt a. M. Goffmann, E. (1961): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M., 1972. Horn, K (1971): Dressur oder Erziehung. Schlagrituale und ihre gesellschaftliche Funktion. Frankfurt a. M. Jäger, H. (1989): Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt a. M. Khan, M. M. R. (1983): Erfahrungen im Möglichkeitsraum. Frankfurt a. M. Klesczewski, D. (1997): Auswirkungen von Umbruch und Krise einer BürgerGesellschaft auf das Strafrecht. In: Gröschner, R.; Morlok, M. (Hg.): Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs. Stuttgart, S. 140–152. Naucke, W. (1996): Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Frankfurt a. M. Parin, P. (1978): Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien. Frankfurt a. M. Parin, P.; Parin-Matthey, G. (1986): Medicozentrismus. In: Parin, P.; Parin, M.: Subjekt im Widerspruch. Frankfurt a. M. Reinke, E.; Toussaint, J. (1982): Kurzdarstellung des Projekts »Soziotherapie mit Delinquenten«. Psyche 36: 171–175. Reinke, E. K. (1977): Leiden schützt vor Strafe nicht – Gespräche mit dem Gefangenen K. Frankfurt a. M. Rutschky, K. (Hg.) (1977): Schwarze Pädagogik. Frankfurt a. M.

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Schore, A. (1994): Affect Regulation and the Origin of the Self. The Neurobiology of Emotional Development. New York. Winnicott, D. W. (1984): Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz. Stuttgart, 1988. Wurmser, L. (1987): Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Berlin.

■ Tradierung von Trauma und Gewalt

■ Sverre Varvin und Folkert Beenen

Trauma und Dissoziation Manifestationen in der Übertragung und Gegenübertragung

Die psychotherapeutische Behandlung von schwer traumatisierten Patienten kann eine anspruchsvolle und schwierige, aber auch sehr lohnende Aufgabe sein, vorausgesetzt man behält einen nüchternen Blick auf die schwierigen Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen, die sich entwickeln können. Manifestationen in der Übertragung und Gegenübertragung sind oft direkt, plötzlich, verstörend und werden häufig von Agieren auf beiden Seiten begleitet. Es kann zudem ein dringendes Bedürfnis nach einer plötzlichen und akuten Diagnose und Intervention auf der Übertragungsebene entstehen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass so genannte dissoziierte Bewusstseinszustände in der therapeutischen Szene auftreten. In diesem Artikel möchten wir die Art und den Hintergrund dieser Phänomene beleuchten sowie deren Beziehung zu den Traumata der Patienten, ihrer Persönlichkeit und Ich-Fähigkeiten diskutieren. Weiter ist es unsere Absicht, einige Aspekte des Wesens der Dissoziation und dissoziierter Bewusstseinszustände zu beleuchten und Wege der Intervention in Bezug auf diese Manifestationen traumabezogenen Materials aufzuzeigen.

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■ Trauma und Traumatisierung Traumatisierung kann am besten als Situation beschrieben werden, in der das Subjekt von automatischer Angst überwältigt und hilflos zurückgelassen wird und in der wichtige Ich-Funktionen gehemmt oder ausgeschaltet werden.1 Kampf-Flucht-Reaktionen sind in der Regel unmöglich; stattdessen dominieren psychische Reaktionen, die an das so genannte Einfrieren (freeze) mit den dafür charakteristischen Phänomenen wie Betäubung der Gefühle, eingeschränkter Sinneswahrnehmung und motorischer Lähmung erinnern. Zudem wird die unmittelbare Erfahrung eines traumatisierten Menschen von dem Gefühl dominiert, dass Hilfe nicht mehr erreichbar ist; das Trauma wird nachträglich oft als Situation interpretiert, in der sich entweder niemand um das Leid der Betreffenden kümmerte oder sie sich gar aktiv verraten fühlten. Letzteres kommt besonders häufig bei durch Menschenhand geschaffenen extremen Traumata vor. Extreme Traumata dieser Art, zu denen Folter, Inzest, Kriegstraumata et cetera gehören, gehen in der Regel mit verlängerten und wiederholten Situationen voller Grausamkeit einher; häufig gibt es kaum die Möglichkeit, sich zwischen den jeweiligen traumatischen Situationen zu erholen. Der Kontext kann extrem gewalttätig, feindlich und unvorhersehbar sein; es handelt sich dabei also um ein Umfeld, in dem die Abwehr sowie Coping-Fähigkeiten bis zum Äußersten beansprucht und somit auch primitive Abwehrmechanismen wie Dissoziation, Somatisierung, Spaltung, Verleugnung et cetera zum Vorschein gebracht werden. Gefühle, verraten und im Stich gelassen worden zu sein, können später Anlass zu schweren Problemen geben und zu einem tiefverwurzelten Mangel an Vertrauen führen. Dies spiegelt 1 In »Hemmung, Symptom und Angst« schrieb Freud (1926d, S. 199): »Was ist der Kern, die Bedeutung der Gefahrsituation? Offenbar die Einschätzung unserer Stärke im Vergleich zu ihrer Größe, das Zugeständnis unserer Hilflosigkeit gegen sie, der materiellen Hilflosigkeit im Falle der Realgefahr, der psychischen Hilflosigkeit im Falle der Triebgefahr. Unser Urteil wird dabei von wirklich gemachten Erfahrungen geleitet werden; ob es sich in seiner Schätzung irrt, ist für den Erfolg gleichgültig. Heißen wir eine solche erlebte Situation von Hilflosigkeit eine traumatische; wir haben dann guten Grund, die traumatische Situation von der Gefahrsituation zu trennen.«

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eine Beschädigung der inneren Verbindung zu einem empathischen Anderen (Laub u. Podell 1995) wider, welche auf das Trauma zurückgeht. Somit beeinträchtigt das Trauma innere Objektbeziehungen, die für das Überleben von elementarer Wichtigkeit sind.2

■ Dissoziation Die Dissoziation nimmt in der gegenwärtigen Traumaforschung der Psychoanalyse und den Kognitions- und Neurowissenschaften einen zentralen Platz ein. Janets Theorien wurden neu belebt und stellen vielerorts das Paradigma zum Verständnis von Trauma dar (van der Kolk et al. 1989, 1996). Obgleich die Dissoziation für Freud und Breuer in den Studien über Hysterie (Breuer u. Freud 1895) ein zentrales Konzept darstellte, verschwand das Konzept fast vollständig aus dem psychoanalytischen Vokabular, bis es schließlich in den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts – wahrscheinlich als Reaktion auf sein Comeback in den Kognitionswissenschaften – wieder auftauchte. Es ist wichtig, den Mechanismus der Dissoziation als Mittel zum Schutz des psychischen Überlebens von den schmerzhaften Stimuli zu unterscheiden, die für dissoziative psychische Zustände typisch sind und in denen die Dissoziation tatsächlich dabei versagt, das Subjekt in einem Bereich der Psyche zu halten, der durch Repräsentationen dominiert wird, die sich auf die traumatische Erfahrung beziehen. 2 Der Konzeptkomplex PTSD (dt. PTBS) trägt zur Klärung von Traumata in einem gewalttätigen Umfeld bei (vgl. Herman 1992). Die Anerkennung tiefgreifender Persönlichkeitsveränderungen führte zudem zur Einführung der Diagnose »andauernde Persönlichkeitsveränderungen nach Extrembelastung« (vgl. WHO 1993, 1999). Diese Kategorie beinhaltet einen posttraumatischen Zustand mit komplexen Persönlichkeitsveränderungen, die sowohl die Abwehr als auch strukturelle Veränderungen betreffen. Somit existiert auch in der Psychiatrie ein zunehmend größer werdender Konsens darüber, dass ein extremes Trauma Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur nimmt.

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Der Mechanismus der Dissoziation (bzw. Dis-Aggregation; auf Deutsch auch »Zerfall«, auf Französisch »désegration« nach Janets ursprünglichem Konzept) hat das Ziel, den psychischen Inhalt abgegrenzt zu halten, der sich für die Integration als zu schmerzhaft erweisen würde. Die abgewehrten Bereiche der Psyche werden so teilweise aus den normalen Reorganisations- und Symbolisierungsprozessen, die für die ständige Erneuerung von Erinnerungen (Person u. Klar 1994) charakteristisch sind, ausgeschlossen. Dies trägt zum unsymbolisierten und konkreten Charakter traumatischer Erinnerungen bei (Varvin 2003).3 Jede Form der Abwehr impliziert, dass Erfahrungen aus ihrem Kontext gerissen werden. Das Ziel der Dissoziation ist es, unerwünschte psychische Inhalte direkt davon abzuhalten, in das Bewusstsein vorzudringen; die Dissoziation kann in dieser Hinsicht als Paradebeispiel der Dekontextualisierung gelten. Dissoziation wird sowohl als Mechanismus konzeptualisiert, der während des Traumas aktiv ist – zum Beispiel »Out-of-body-Erfahrungen«, die den akuten Schmerz mindern (peritraumatische oder sekundäre Dissoziation) –, als auch als wichtiger Mechanismus, der mit posttraumatischen Zuständen einhergeht (PTSD, Dissoziationsstörungen, Somatisierungsstörungen etc.). Einige Forscher (z. B. Hilgard 1977; Fonagy u. Target 1997) betrachten die Dissoziation im Unterschied zur echten Verdrängung als vertikale Spaltung, während die Verdrängung als horizontale Spaltung gesehen wird. Diese Auffassung impliziert einen Wechsel innerhalb des Bewusstseins zu einem anderen und separaten psychischen Zustand. Dekontextualisierung kann – im dem Sinne, dass das Subjekt sich aus dem Kontext einer schmerzhaften Erfahrung herauszunehmen versteht – ein durchaus erwünschter psychischer Zustand während eines Traumas sein und stellt dann offenbar eine wirksame Maßnahme dar (peritraumatische Dissoziation). Janet vertrat die Meinung, dass die Abwehr (d. h. Dissoziation) eine pathologische Reaktion auf eine Überlastung des kognitiven Systems darstellt, die auf konstitutionelle/angeborene Schwäche (Geistes3 »Die dissoziativen Störungen gehen mit einer Störung der integrierten Organisation der Identität, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung bzw. des Bewusstseins einher« (Maldonado u. Spiegel 1998).

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schwäche) zurückgeht beziehungsweise als Auswirkung zu starker und überwältigender Erfahrungen auftritt. Die Konsequenz sah er in der Trennung des Teils des Subjekts, das eine überwältigende Situation erfährt, vom Rest (Desintegation) (Janet 1889). Im Gegensatz dazu kam Freud zu der Ansicht, dass die Abwehr motiviert ist, geschaffen, um inakzeptable und schmerzhafte Stimuli davon abzuhalten, ins Bewusstsein einzutreten. Die mit der Abwehr verknüpfte Frage nach der Motivation war somit bereits zu Zeiten von Freud und Janet wichtig und spielt in den aktuellen Debatten über die Natur des Traumas und der Abwehr eine bedeutende Rolle. Janets Position, die besagt, dass Dissoziation durch Geistesschwäche verursacht wird, steht im Gegensatz zu Freuds Theorie über den motivationalen Charakter der Abwehr (d. h., die Verdrängung setzt ein, um das Bewusstsein vor unerwünschten oder schmerzhaften Impulsen aus dem Unbewussten zu schützen). Freud entwickelte im Zuge seiner Neuformulierung der Theorie der Angst im Jahr 1926 das Konzept der Signalangst, um den Mechanismus zu beschreiben, bei dem das Ich durch die Aktivierung vorbewusster mentaler Repräsentationen gewarnt wird, die die unmittelbar drohende Gefahr signalisieren und somit die Abwehr mobilisieren können. Im Trauma versagt dieser Mechanismus; stattdessen wird das Ich von automatischer Angst überwältigt, was eine Sicht darstellt, die Ähnlichkeit mit Janets Auffassung hat, da die Schwäche in den integrativen Funktionen des Ich unterstrichen wird. Dies wiederum beschreibt eine Situation, die Dissoziation oder eine Spaltung des Ich in verschiedene, jeweils unterschiedliche Erfahrungen machende Teile des Ich zur Folge haben könnte, um Kohärenz und Bedeutung beizubehalten. Es scheint sich um eine Abwehrmaßnahme nach der Begebenheit zu handeln; zunächst wird das Ich überwältigt, danach werden defensive oder restaurative Maßnahmen wirksam. Im Gegensatz dazu stellt die Verdrängung eine Reaktion auf das Signal einer noch bevorstehenden Gefahr dar. Der zuerst geschilderte Dissoziationsvorgang könnte jedoch die Möglichkeit einer dynamischen Reorganisation der Bezugnahme einer Person auf die Erfahrung im Nachhinein implizieren, indem dem eigenen Verhalten sowie dem Verhalten anderer während der traumati-

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schen Situation Intentionalität beigemessen wird (die so genannte sekundäre Intentionalität, vgl. Killingmo 1990); durch diese »Operation« bekommt das erfahrene Chaos eine Bedeutung. Unserer Ansicht nach weisen sowohl die peri- als auch die posttraumatische Dissoziation sowie andere Abwehrmechanismen gegen traumatische Einflüsse Ähnlichkeiten auf, unterscheiden sich aber auch speziell in der Art der Motivation. Beide Konzepte stellen einen Zusammenbruch der integrativen Fähigkeiten des Ich dar. Während die peritraumatische Dissoziation jedoch auf eine unmittelbare Notreaktion hinweist, spielt die posttraumatische Dissoziation in einer komplexeren psychischen Strategie eine große Rolle, bei der die verschiedenen bindungs- und objektbezogenen Muster möglicherweise die Beziehung der traumatisierten Person zu sich selbst und anderen dominieren und somit komplexe motivationale Kräfte enthüllen. Man könnte sagen, dass in der peritraumatischen Dissoziation eine teleologische Motivation wirksam wird, während eine spätere Dissoziation beispielsweise auch von inneren Triebkonflikten herrühren könnte. Für die Person, die aktuell und nachträglich ein Trauma erlebt, stehen mehrere Dinge auf dem Spiel: – Vermeidung des durch ein Ereignis hervorgerufenen Schmerzes, indem der Inhalt von der momentanen Bewusstheit, aber nicht notwendigerweise von potenzieller Erkenntnis abgetrennt wird. – Vermeidung der subjektiven Erfahrung, bei einem solchen Erlebnis anwesend gewesen zu sein, indem das erfahrende »Ich« in eine separate Selbstorganisation abgetrennt wird. – Aufrechterhaltung eines gewissen Grads von Bedeutung in einem »amputierten« Selbst. Posttraumatische Zustände werden oft als Prozesse konzeptualisiert, in denen das Ich sich unter einer ständigen Traumatisierungsbedrohung durch die Invasion traumatischer Erinnerungen befindet. Die Dissoziation wehrt schmerzhafte Erinnerungen mehr oder weniger wirkungsvoll ab. Der objektbeziehungstheoretische Blickwinkel erweitert jedoch das Verständnis sowohl der traumatischen Situation als auch der posttraumatischen Reorganisation der Persönlichkeit. Die Zerstörung oder Schwächung der

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inneren Verbindung zu einem empathischen Anderen während des Traumas sowie der darauf folgende Vertrauensverlust und Verlust der Fähigkeit, sich an andere zu binden und sich auf andere zu beziehen, bringt die traumatisierten Menschen beziehungsweise Überlebenden in eine Situation, in der vitale Bedürfnisse nach emotionalem Überleben schwer zu verwirklichen sind. Das tiefe Gefühl, im Stich gelassen oder sogar verraten worden zu sein, macht es schwierig, sich auf andere Menschen zu beziehen und sich somit mit dem Wunsch nach Hilfe bei der Mentalisierung emotionaler Erfahrung und Regulierung negativer affektiver Zustände an sie zu wenden. Mentale Überlebensstrategien entwickeln sich in den posttraumatischen Prozessen, die ihre Wurzeln in zugrunde liegenden mentalen Schemata, Bindungsmustern oder objektbeziehungstheoretischen Szenarien haben, die sich wiederum von den traumatisierenden Erfahrungen ebenso ableiten wie von der prätraumatischen objektbeziehungstheoretischen Disposition. Dies gilt besonders dann, wenn die Traumatisierung über längere Zeit hinweg stattfand, durch Menschen verursacht war und sich in einer feindseligen Umgebung zutrug, in der das Opfer auf irgendeine Art und Weise vom Täter abhängig wurde. Der Täter besitzt in diesen Situationen mehrere Rollen in der inneren Welt des Opfers. Er ist die Person, die den Schmerz zufügt, er besitzt die Macht, mit der man sich identifizieren kann, und er ist der Einzige, der das Opfer vor dem Schmerz retten kann (»Ich liebte ihn wie ich meinen Vater liebte« gab ein früheres Folteropfer gequält in der Therapie zu). Er wird somit zu einer wichtigen Person, auf die sich die affektiven, sogar sexuellen und aggressiven Impulse richten. Die Abwehr umfasst in diesen Situationen nicht nur den Zusammenbruch mentaler Fähigkeiten und die primitive Dissoziation mentaler Inhalte, sondern auch komplexe Überlebensstrategien und verschiedene Formen von Abwehrmechanismen. Die Identifikation mit dem Aggressor ist nur ein Beispiel.4 Die komplexen Überlebensstrategien, durch die posttraumati4 Bei diesem Typ der Traumatisierung existiert keine klare Unterscheidung zwischen dem Trauma und der posttraumatischen Phase, da letztere durch wiederholte neue Traumata gekennzeichnet ist.

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sche Zustände gekennzeichnet sind (und die mit den verschiedenen posttraumatischen Diagnosen in den psychiatrischen Klassifikationssystemen nur teilweise erfasst werden), werden zunächst in der traumatischen Erfahrung strukturiert und dann in der posttraumatischen Phase weiter modifiziert und restrukturiert. Es wurde gezeigt, dass Faktoren wie die prätraumatische Persönlichkeit, Ich-Stärke, Fähigkeit zur Mentalisierung und die existierenden Bindungsmuster die Art und Weise bestimmen, in der eine Person reagiert, handelt und traumatische Situationen überlebt (Crittenden 1992; van der Kolk et al. 1994). Während der traumatischen Situationen ist es beispielsweise möglich festzustellen, dass verschiedene Coping-Fähigkeiten mit den Bindungsmustern verbunden sind, die aktiviert werden können. Obgleich dies noch nicht genügend erforscht wurde, ist es doch wahrscheinlich, dass es ein Vorteil sein könnte, unreiferen vermeidenden und verwerfenden Strategien (z. B. die Fähigkeit zur Unterdrückung eigener Gefühle und Absichten, zur Unterwürfigkeit, zum Alleingang) zum Einsatz bringen zu können, während gleichzeitig eine Mentalisierungskapazität beibehalten wird, die zu den reiferen Bindungsmustern gehört (Varvin 2003). Das Alter und die Entwicklungsstufe des Opfers sind sowohl für die langfristige Auswirkung der traumatischen Situation als auch für den posttraumatischen Prozess von höchster Bedeutung. Während die Situation für das Kleinkind, das einem Trauma ausgesetzt ist, von Todesangst gekennzeichnet ist, ist – Krystal (1987) zufolge – die Situation für Erwachsene gekennzeichnet durch die Kapitulation vor einer anerkannten höheren Macht. Das erwachsene Opfer vermag es, der Situation eine gewisse Bedeutung zuzuschreiben, während das Kleinkind im Gegensatz dazu »unbenennbare Furcht« erleben dürfte. Bohleber (2000) hob hervor, dass die Erfahrung von etwas Schlechtem und Bedeutungslosen von dem Hintergrund von etwas Gutem und Bedeutenden abhängt. Ein stabiles Gefühl von etwas Gutem unterscheidet sich in den verschiedenen Entwicklungsstadien. Die Adoleszenz mit den für sie typischen Prozessen der Reorganisation und Identität, dem Durcharbeiten früherer Objektbeziehungen und Ängste bezüglich der zukünftigen Identität stellt vermutlich eine höchst gefährdete Phase dar, in der ein zugrunde liegendes Gefühl von etwas Gutem sehr fragil ist (s. u., Fall 2).

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Der posttraumatische Zustand wird somit durch komplexe Faktoren bestimmt, die aus der (den) traumatischen Situation(en) und der prätraumatischen Entwicklung der Persönlichkeit herrühren. Zudem bestimmt die posttraumatische Phase selbst die Prognose. Hans Keilsons Untersuchung der jüdischen Überlebenden im Kindes- und Jugendalter weist mit großer Klarheit darauf hin, wie die Art und Weise, in der man sich um sie kümmerte und welche Anerkennung sie nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg fanden (die dritte Phase einer »sequenziellen Traumatisierung«) die Prognose 20–25 Jahre später bestimmte. Ein zentrales Ergebnis der Studie war, dass die Bestätigung der Identität und die Anerkennung der traumatischen Erfahrungen für die langfristigen Entwicklung bedeutsam waren (Keilson u. Sarpathie 1979).5 Wir sind der Meinung, dass sich traumatische Erfahrungen auf komplexe Weise in »Beziehungsszenarien« darstellen, die durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet sind: – In diesen Szenarien können unbewusste Wünsche über eine Beziehungserfahrung erfüllt werden (Sandler u. Sandler 1998). – Die angewandten Strategien (Killingmo 2001), die die erwünschten Reaktionen hervorrufen sollen, bleiben unbewusst. – Sie sind rein subjektiv und erhalten je nach Kontext eine neue Bedeutung.

5 Ein wichtiger Trend in der Therapie posttraumatischer Zustände fokussiert auf die Aktivierung und Integration traumatischer Erinnerungen und betrachtet diese als das Hauptziel und häufig als das Ende der Therapie. Beispiele für diesen Trend stellen EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) und Hypnose dar. Während die Therapeuten, die in diesen Fachrichtungen praktizieren, die Komplexität posttraumatischer Zustände durchaus anerkennen, scheint ihnen jedoch das Verständnis dafür zu fehlen, dass sich ein »Trauma« nicht nur in Erinnerungen, Flashbacks, Alpträumen etc. äußert, sondern auch im Persönlichkeitsstil, dem Bindungsverhalten, der Art und Weise des Bezugs zu sich selbst und anderen sowie in der Therapie (Übertragung und Gegenübertragung). Die Psychoanalyse und psychoanalytische Psychotherapie konzentrieren sich auf die Arbeit an der Übertragung, und wir behaupten, dass diese Art des Vorgehens ein privilegierter Zugang zu »traumatischen Erinnerungen« sowie zu der Art und Weise ist, in der die traumatischen Erfahrungen die Persönlichkeit reorganisieren.

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– In diesen Szenarien zeigt sich sowohl eine symbolische als auch eine subsymbolische Ebene (in verschiedenen Gedächtnissystemen; implizit/explizit et cetera) – Weiter wird etwas dargestellt, das als Zeichen emotionaler Erfahrung vermittelt wird. Die Übermittlung von Zeichen ist ein kontinuierlicher semiotischer Prozess, der auf verschiedenen Ebenen eine Bedeutung schafft: auf der verbalen und nonverbalen, der somatischen und der Handlungsebene, et cetera. – Die Szenarien vermitteln sich über den individuellen Beziehungsstil. – Sie stellen einen Beziehungsstil dar, in dem eine Ebene der Metakommunikation beziehungsweise sich auf die Beziehung richtende Botschaften mitschwingen, und der vermittelt, an welche Art von Objekt das Subjekt sich wendet (Gullestad u. Killingmos 2001; Varvin 2003). Aus Platzgründen können nicht alle Aspekte dieses Konstrukts erklärt werden. Wir werden jedoch in der Diskussion der klinischen Fallvignetten darauf zurückkommen sowie über therapeutische Interventionen nachdenken. Traumatische Erfahrungen beeinflussen also die Art des Umgangs mit anderen Menschen beziehungsweise den Beziehungsstil. Sie sind in Szenarien eingebettet, die insofern an unbewussten Wünschen orientiert sind, als dadurch Schmerz und unangenehme Gefühle vermieden werden sollen. Sie drücken sich sowohl in der Form der Persönlichkeit (also den Eigenarten eines Menschen) als auch inhaltlich aus. Der posttraumatische Zustand kann jedoch als höchst schmerzhaft erlebt werden und mit sehr individuellen, unangenehmen und qualvollen Gefühlen verbunden sein. Wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei um psychische Zustände handelt, bei denen die Abwehr, besonders die Dissoziation, versagt, erkennt man, dass diese psychischen Zustände Beziehungsszenarien enthalten, die in einer Situation, die als unsicher und gefährlich empfunden wird, noch die größte Sicherheit vermitteln. Mit diesem Argument ist der Vorschlag verbunden, dass das so genannte ReExperiencing beziehungsweise das Wiedererleben nicht das Trauma an sich, sondern mehr oder weniger abgemilderte Szenarien

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repräsentiert, die in einem spezifischen historischen Kontext aktiviert werden, in den auch Wünsche eingehen. Dies mag sogar der Fall sein, wenn die Erinnerungen an ein Trauma direkt, unverarbeitet und zum größten Teil unsymbolisiert auftauchen (vgl. Fall 1, s. u.). Das heißt, die traumatischen Erinnerungen sind dissoziiert von anderen Erinnerungen enkodiert und zumindest relativ separiert von der symbolischen Ebene des autobiografischen Gedächtnisses (Braun 1988; Fonagy u. Target 1997). Die »embodied cognitive science« und die Neurowissenschaften haben darüber hinaus gezeigt, dass beim Erinnern die Aktivierung von Spuren im Körper und in der Psyche eine wichtige Rolle spielt und dass dieser Vorgang von der tatsächlichen Situation abhängt, in der die Erinnerungen zu Bewusstsein kommen (Koukkou et al. 1998; Leuzinger-Bohleber et al. 1999; Damasio 1999).

■ Fall 1 Ein circa vierzigjähriger Mann kam aufgrund einer schweren posttraumatischen Psychopathologie (Alpträume, Wiedererleben, Störungen in der Affektregulierung, Aggressionen, starkes, an Paranoia grenzendes Misstrauen etc.) zur psychotherapeutischen Konsultation. Er war in seinem Heimatland schwer gefoltert worden und konnte sich in den acht Jahren, die er in Norwegen gelebt hatte, weder irgendwo niederlassen und stabile Beziehungen knüpfen noch eine Arbeit behalten. Er war ein großer, freundlicher Mann und begrüßte mich höflich, als er mein Büro betrat. Wir setzten uns und ich fragte ihn, wie es ihm gehe und worin seine Probleme bestünden. Dabei lag mein Notizblock in meinem Schoß und ich machte mir hin und wieder Notizen. Er sprach über seine Schwierigkeiten, anderen Menschen zu vertrauen und führte dies unmittelbar auf seine Erfahrungen im Gefängnis zurück. Dort wurden langwierige Verhöre mit ihm durchgeführt, in denen er dazu gebracht werden sollte, den Aufenthaltsort anderer Menschen zu verraten et cetera. Ich schloss daraus, dass er standgehalten und nichts verraten hatte. Das verbale Verhör wurde unterbrochen durch lange Intervalle

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bestialischer Folter. Während er darüber sprach (die Sitzung war erst seit zehn Minuten im Gang), wirkte er zunehmend aufgewühlt. Er fing an zu berichten, dass die Fragesteller Notizen machten und von ihm forderten, Dokumente zu unterzeichnen. Seine Pupillen weiteten sich, er fing an zu schwitzen und der Therapeut realisierte, dass es zu einem rapiden Wechsel des psychischen Zustands gekommen war und dass seine Wahrnehmung der Situation sich entsprechend änderte. Der Therapeut verstand, dass er plötzlich zu einem der Folterer geworden war, fing an, den Patienten zu beruhigen und legte dabei den Notizblock weg. Es war zu spät. Plötzlich warf der Patient die Lampe neben seinem Sitz um. Diese zerbrach, das Glas splitterte durch den Raum und der Patient rannte aus dem Behandlungszimmer. Er kam nicht zurück. Wir glauben, dass hier mehrere Faktoren beteiligt waren; es war offensichtlich, dass das Verhalten des Therapeuten jenen psychischen Zustand, in dem der Patient den Therapeuten als Fragen stellenden Folterer erlebte, provozierte. Der Therapeut war an diesem Tag müde und fühlte sich nicht in der Lage, eine weitere Traumatherapie zu beginnen, hatte sich jedoch unter Druck gefühlt, den Patienten zum Erstgespräch zu empfangen. Wahrscheinlich vermittelte der Therapeut dem Patienten nonverbal eine ablehnende Haltung. Der psychische Zustand des Therapeuten (mangelnde Arbeit mit Gegenübertragungsreaktionen) trug dazu bei, dass er sich unsensibel verhielt. Auf der anderen Seite war die Fähigkeit, zu mentalisieren und somit eine neue Situation zu verstehen, bei dem Patienten schwer beeinträchtigt, wodurch er sich lediglich auf sensorische Informationen verlassen konnte (also das Verhalten des Therapeuten, seine Art zu sprechen, sein Gesichtsausdruck et cetera). In dieser Situation stellt sich sowohl ein akutes Versagen der Abwehr als auch die Aktivierung eines in gefährlichen Situationen adäquaten Beziehungsmusters dar. Der grundsätzliche Faktor war das Unvermögen des Patienten, die eigenen emotionalen Zustände zu symbolisieren, zu mentalisieren – das heißt, eine Bedeutung aus der gegenwärtigen Situation zu ziehen – und darüber hinaus das Versäumnis des Therapeuten, die massive projektive Identifizierung, die stattgefunden hatte, zu mentalisieren und im Sinne eines Containment zu halten und zu verdauen.

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■ Fall 2 Eine circa 35-jährige Frau kam zur Therapie, weil sie, wie sie sagte, das Gefühl hatte, etwas an ihrer Art, zu leben und Beziehungen zu führen, ändern zu müssen. Sie war von ihrem Stiefvater im Alter von 9 bis 16 Jahren sexuell missbraucht worden. Die Mutter hatte sich als stille und passive Zeugin verhalten. Zudem war sie während einer Reise ins Ausland vergewaltigt worden. Sie hatte ein Nomadenleben geführt und viele Jahre im Ausland gearbeitet, unter anderem hatte sie Hilfe in Gefahrenzonen geleistet. Sie lebte zurückgezogen und nahm sich stets davor in Acht, sich in einer gefährlichen Situation wiederzufinden. Während der ersten Gespräche setzte sie sich auf den Stuhl, der der Ausgangstür am nächsten war, und hielt, wie sie später erzählte, heimlich eine Dose mit Pfefferspray griffbereit, für den Fall, dass etwas passieren sollte (d. h. im Fall, dass der Therapeut plötzlich Anzeichen geben würde, sich ihr sexuell zu nähern). Sie hatte das Gefühl, das sie darauf aufpassen müsse, dass der Therapeut sich als guter Therapeut fühle. Falls nicht, drohte unmittelbar Gefahr. Männer seien so, und, wie sich zeigte, war dies auch Teil des »Spiels« mit ihrem Stiefvater. Mit den folgenden Auszügen aus der Therapie soll verdeutlicht werden, wie ein inneres Beziehungsszenario zwar nicht komplett vom restlichen Teil der Psyche ausgeschlossen wurde, aber dennoch – wie sich in der Übertragung zeigte – mehr oder weniger in ihre Persönlichkeit integriert wurde.

■ 15. Therapiestunde Die Patientin klagte beim Hereinkommen über Schmerzen in den Augen. Dieses Symptom war schon mehrmals zuvor aufgetreten, seine Bedeutung war jedoch nicht klar. T: Gibt es Einfälle zu diesem Schmerz? P: Ich weiß nicht. T: Angst? Schweigen P: Ja … vielleicht bin ich unsicher, was hier passieren könnte …

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Danach berichtete sie einen Traum: Ich bin mit A. (ihrem Freund) zusammen. Wir haben zwei Kinder, eineinhalb Jahre und zwei Monate alt. A. ist ein guter Vater, ich bin keine so gute Mutter. Das Baby ist fest umwickelt, wie es in einer fremden Kultur üblich ist, die ich auf Reisen kennen gelernt habe. Ich muss mich zusammenreißen, das Baby nicht zu quälen. Dann schlafen sie und A. miteinander. Plötzlich sind die Wände verschwunden und die Nachbarn können hereinschauen. Sie sagt zu A., dass sie aufhören müssten, aber er macht weiter. Sie kann einer Nachbarin dabei zusehen, wie sie aus dem Bett aufsteht, ihr Haar ordnet und dann zum Badezimmer geht, wobei sie versucht, nicht zu ihr und A. herüberzusehen. Dann hört sie das Baby schreien und sagt wiederum zu A., dass sie aufhören müssten. Zuerst möchte er nicht, reißt sich dann jedoch zusammen und geht weg, um nach dem Baby zu sehen. T: Woran dachten Sie, als Sie mir den Traum erzählten? P: Ich hatte das gleiche Gefühl dem Baby gegenüber wie zu der Katze, die ich früher hatte. (Nachdem sie vergewaltigt wurde, lebte sie für einige Monate völlig isoliert und misshandelte oder, wie sie sagte, folterte eine Katze, die sie zu jener Zeit hatte. Sie bekam große Angst vor sich selbst. In der Therapie konnte sie dies als Täter-Opfer-Szenario verstehen, in dem sie sich mit dem Aggressor identifizierte.) --T: Sie hatten Augenschmerzen als Sie hier ankamen … P: Es ist jetzt besser. Ich war sehr unsicher. Tatsächlich habe ich das Gefühl, die ganze Zeit aufpassen zu müssen. Es könnte plötzlich irgendetwas passieren und ich bin nicht darauf vorbereitet, wenn ich etwas sage. Dann kann sich die Situation plötzlich ändern und dann ist es zu spät, ich sitze in der Falle. Es ist die ganze Zeit so. Diese doppelte Erfahrung der Realität war typisch für sie. Ihre Erfahrungen fanden auf zwei Ebenen statt, von der eine relativ sicher und die andere Grauen erregend war. Wenn sie nicht aufpasste, überwog plötzlich die zweite Ebene – und das war dann ihre Schuld, da sie die nötigen Vorkehrungen nicht getroffen hatte.

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■ 18. Therapiestunde P: Mir ist schlecht. Das war schon die ganzen letzten Tage so. Ich musste mich fast übergeben, bevor ich hierher kam. T: (Verhält sich still und wartet. Dies war schon vorher Thema gewesen, die Bedeutung war jedoch nicht richtig klar geworden.) P: (Sie wird zunehmend ängstlich.) Ich muss bei den Männern aufpassen. Man darf ihr Ego nicht verletzen. (Sie erinnert sich an die Erfahrungen mit ihrem Stiefvater. Er konnte gefährlich aggressiv werden, wenn er sich unsicher fühlte. In den Missbrauchssituationen musste sie das bereitwillige und bewundernde kleine Mädchen spielen.) P: Wenn ich mit A. schlafe, muss ich auch aufpassen (damit er sich sexuell kompetent fühlt). Wenn Männer sich in ihrem Ego verletzt fühlen, ist alles verloren, alles kann passieren. T: Könnte dies vielleicht auch etwas damit zu tun haben, wie es hier für Sie ist? P: (Sie wird ängstlich und weiß nicht, was sie sagen soll.) Schweigen. T: Ihnen war übel. P: Ja – ich weiß, dass ich auch hier aufpassen muss. Ich muss mich so verhalten, dass Sie sich als guter Psychologe fühlen. (Sie beschreibt dann, dass sie diese Erfahrung ständig, wie ein doppeltes Bewusstsein, mit sich herumträgt. Sie achtet immer genau auf die Reaktionen der anderen.) P: Ich habe gehört, dass Sie sich auskennen, aber … bei den anderen Psychologen, bei denen ich war, war es so schwierig, wenn sie etwas Falsches sagten. T: Es ist schwierig, etwas zu bejahen, das nicht richtig ist. P: (Sie wird verwirrt.) Ich verstehe das nicht, äh, die Bedeutung ist weg, äh, es sind, es sind nur Worte, ich versuche, sie in meinem Kopf zusammen zu bringen, aber es geht nicht. (Sie wirkt sehr ängstlich und fängt in einer verworrenen Art und Weise an, von ihrer sexuellen Beziehung mit A. zu berichten. Es tut weh, wenn er »seine Finger nimmt«.) T: Mir scheint, dass Sie ein Erlebnis in sich selbst hatten, etwas, an das Sie sich erinnern, das Sie sehr ängstlich werden ließ, als Sie kamen. Es war, als ob Sie erwartet hätten, dass ich jemand sein

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könnte, der Sie plötzlich angreifen und sexuell benutzen würde – und dass Sie dann mitmachen müssten – und dies führte zu Ihrer Übelkeit. P: (Wird ruhiger.) Ja, ich weiß nicht mehr – es war so mit meinem Stiefvater (sie nennt seinen Namen). Ich weiß nicht mehr viel, aber so war es, es war ganz ruhig und plötzlich verändert sich alles, er drohte mir, er würde mich umbringen. Es war abscheulich. T: Mir scheint, dass Ihr Körper sich erinnert – und dass Sie sich seitdem nie mehr sicher fühlen mit anderen Menschen. P: Ja (sie erzählt dann, dass sie immer auf der Hut ist, selbst wenn sie mit Freundinnen oder ihrer Schwester zusammen ist). Später spezifiziert sich die Bedeutung ihrer Übelkeit noch mehr, als sie beschrieb, dass sie tatsächlich etwas, einen Penis, in sich, ihrem Mund, fühlte. Auf einer Ebene erlebte sie die therapeutische Beziehung als durchaus hilfreich (»Ich fühle mich wie mit einer guten Mutter«, die vom Therapeuten verkörpert wurde). Auf einer anderen Ebene, mehr oder weniger bewusst, erlebte sie die Beziehung zum Therapeuten als verführerische und intime, inzestuöse Beziehung zu einem älteren Mann, womit auch Aspekte der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse und Wünsche verknüpft waren. Gampel beschreibt das, was sie den »unsicheren Hintergrund« nannte, als typisch für Überlebende von Extremtraumatisierungen (Gampel 1999) und verweist in diesem Zusammenhang auf Sandlers Konzept der Sicherheit (Sandler 1987). Diese beiden Konzepte können als zwei Entwürfe grundlegender beziehungsregulierender psychischer Verfassungen gelten, die in der Übertragung und anderen Beziehungen aktiviert werden. Das Vermögen, diesen unsicheren Hintergrund in sich zu verarbeiten und in reifere Beziehungsmuster umzuwandeln, spiegelt auch die Fähigkeit zum »Containment« und schließlich zum Durcharbeiten der traumatischen Erfahrungen wider. Der erste Patient hatte lange mit seinem Unvermögen gekämpft, irgendeine Form von Stabilität in seinem Leben zu schaffen, da er in den meisten Situationen seines Alltagslebens Gefahr und Unsicherheit erlebte. Dies hatte seine primitiveren Überlebensstrategien aktiviert, die von Kampf-Flucht- und Freeze-Reaktionen bestimmt

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wurden. Die Patientin aus dem zweiten Fallbeispiel konnte bis zum einem gewissen Grad ihre grundsätzliche Unsicherheit kontrollieren, musste jedoch zu »äußeren« Sicherheitsvorkehrungen (z. B. ihrem Pfefferspray) greifen, um sich sicher zu fühlen.

■ Die therapeutische Beziehung Die posttraumatische Re-Organisation der Persönlichkeit wird oft dadurch charakterisiert, dass Passivität in Aktivität verkehrt wird. Dies bedeutet, dass der Patient aktiv darauf vorbereitet ist, mit dem Unerträglichen zu leben beziehungsweise es zu ertragen, und mit einer möglichen Wiederholung des Traumas rechnet. Beziehungsszenarien werden aktiviert, die in Gefahrensituationen adäquat sind. Diese Beziehungsszenarien beinhalten, wie bereits erwähnt, viele unsymbolisierte Elemente und tauchen oft unverarbeitet und unvermittelt als Agieren in der Therapie auf. Deutungen können dann nicht darauf abzielen, unbewusste Bedeutungen aufzudecken, da diese oft zu offensichtlich sind und vom Patienten als Bestätigung seiner konkretisierten Erfahrung erfahren werden könnten. Dass der Stift des Therapeuten zur mörderischen Waffe wurde, wäre für den Patienten im ersten Beispiel weniger von Interesse gewesen, als ihm zu einer Mentalisierung zu verhelfen, das heißt, über die Situation nachzudenken und sie in der Gegenwart im Kontext einer Beziehungserfahrung zu sehen. Damit hätten sowohl der bedrohliche Charakter der Situation, aber auch die mögliche Sicherheit anerkannt werden können. Für die Patientin aus dem zweiten Fallbeispiel war dies leichter, obwohl frühere Behandlungen daran gescheitert waren. Der Therapeut/Analytiker muss in Situationen, in denen auf ein Trauma bezogene Beziehungsszenarien aktiviert werden, seine/ihre Mentalisierungsfähigkeit verwenden, um auf emotional bedeutsame Weise über die Beziehung nachzudenken. Dies bedeutet zwar, dass eigene Gedanken und Perspektiven dem Patienten vermehrt mitgeteilt werden, jedoch nicht, dass der Patient mit persönlichen Angelegenheiten belastet wird (Fonagy et al. 2002). Den Problemen des traumatisierten Patienten liegt das Unver-

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mögen zugrunde, negative Emotionen zu regulieren. Schore (1994, 1997) postulierte, dass diese Unfähigkeit eines der grundlegenden Merkmale jeder schweren Pathologie darstellt und dass eine grundsätzliche Veränderung in der Psychotherapie die Etablierung neuer Beziehungsmuster umfassen muss, die es dem Patienten ermöglichen, den anderen zu diesem Zweck zu »benutzen«. Dies ist ein wichtiger Faktor in Traumatherapien und stimmt mit Winnicotts Theorem überein, dass Patienten den Therapeuten in einer Therapie als Objekt verwenden, auf den sie negative Emotionen und Selbstanteile projizieren können (Winnicott 1969). Dies kann einen Symbolisierungsprozess in Gang setzen, der analog zu der Art und Weise verläuft, wie die Emotionen des Kleinkinds in der intensiven Interaktion mit der Mutter modifiziert werden können. Zur Unterstützung dieser entwicklungspsychologischen Reflexion des therapeutischen Prozesses möchten wir die Bedeutung der sich herausbildenden Kapazität eines Zugangs zu komplexen symbolischen Repräsentationen betonen. Damit kann eine Beziehung zu guten inneren Objekten vermittelt werden, wodurch sich das Individuum in Stresssituationen, speziell wenn diese mit problematischen Beziehungen zu anderen Menschen verbunden sind, selbst beruhigen kann (Fraiberg 1969). Diese komplexen symbolischen Repräsentationen sind als Bausteine der Bedeutung anzusehen, die für eine Erfahrung geschaffen und ihr verliehen wurde. Daraus folgt, dass sie emotional bedeutsam sein müssen. Die Bedeutung ist darüber hinaus auf allen Ebenen der Symbolisierung (einschließlich des impliziten und prozeduralen Gedächtnisses, Damasio 1999) vorhanden. Generell kann gesagt werden, dass eine Pathologie aus dem Ergebnis zweier miteinander verbundenen, jedoch offenbar gegensätzlichen Prozesse entsteht: – Die Situation, in der der Übergang zwischen den verschiedenen Ebenen der Symbolisierung der Erfahrung so blockiert ist, dass eine Bestätigung der Erfahrung blockiert wird. Hier herrscht exzessive Abwehr vor. – Die Abwehr ist nicht in der Lage, das Ich oder das Bewusstsein vor der Überwältigung zu schützen, sodass es für das Subjekt schwierig oder gar unmöglich wird, emotionale Erfahrungen zu integrieren. Hier ist ein Versagen der Abwehr vorherrschend.

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Beide Prozesse sind während des posttraumatischen Zustands im Gang. Während kognitive Theorien des Gedächtnissystems Aufschluss über die Art und Weise geben, in der das Wissen und die Erinnerung an überwältigende Erfahrungen im Bewusstsein enkodiert und gespeichert werden, das heißt, wie die verschiedenen posttraumatisch feststellbaren und von Laub und Auerhahn (1993) beschriebenen Ebenen des Wissens über das Trauma organisiert sind, lautet die therapeutische Frage, wie der Übergang zwischen diesen Zuständen entsteht. Auf einer allgemeinen Ebene betrifft dies die Frage, wie emotionale Bedeutung auf den verschiedenen Ebenen des Bewusstseins einschließlich der psychischen Repräsentation des Körpers und der Körperprozesse überhaupt zustande kommt, das heißt, wie »unverarbeitete, unvermittelt auftretende Erfahrung« psychisch wird. Dies betrifft die Prozesse der Symbolisierung und Mentalisierung, Prozesse, die in der traumatischen Situation versagen und als Defizite im posttraumatischen Bewusstseinszustand auftauchen. Die Arbeit an der Übertragung ist unserer Meinung nach die beste Art und Weise, direkt mit traumatischen Erfahrungen zu arbeiten. Schwierigkeiten entstehen in diesen Therapien häufig daraus, dass zwischen den oben beschriebenen Prozessen hin- und hergeschaltet wird. Eine zu strenge Abwehr geht häufig sehr plötzlich in eine Situation über, in der eine lockere und zu durchlässige Abwehr vorherrscht. Diese Verletzlichkeit erfordert vom Therapeuten Flexibilität. Normalerweise erfordern diese Therapien am Anfang und häufig auch während langer Strecken der Behandlung von Seiten des Therapeuten eine vermehrte Aktivität, mehr bestätigende Interventionen im Sinne einer Anerkennung von Gefühlen und das Recht darauf, diese auch zu empfinden (Killingmos 1995), und das Einnehmen einer mentalisierenden Haltung. Letzteres bedeutet, dass Verbindungen zwischen den jeweiligen Gefühlen einerseits und dem kognitiven Inhalt andererseits geschaffen werden, indem dem Patienten dabei geholfen wird, psychische Zustände zu verstehen und die Beziehung zwischen den »zwei Psychen«, die in der Therapie zusammenarbeiten, zu strukturieren. Später gibt es immer mehr die Möglichkeit, auch traditi-

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onellere Deutungen mit der Beleuchtung von motivationalen Faktoren und Triebkonflikten zu geben. Die Einteilung in einzelne Phasen ist jedoch nicht möglich, da die gleichzeitige Arbeit mit konflikthaften und defizitären Aspekten wahrscheinlich während der ganzen Therapie nötig ist.

■ Fazit Unter Berücksichtigung der vorangegangen Argumentation postulieren wir, dass sich zentrale Aspekte des posttraumatischen Zustands in der Übertragung und auch in der Gegenübertragung manifestieren. Dissoziierte Repräsentationen traumatischer Erfahrungen werden umgewandelt, durch rückwirkendes wunschbestimmtes Durcharbeiten kenntlich gemacht und schließlich in einem mehr oder weniger stabilen »Umgangsstil« beziehungsweise in Beziehungsszenarien organisiert, die sich in Bezug auf den Therapeuten manifestieren. Das Durcharbeiten komplexer Übertragungs-/Gegenübertragungsszenarien ist somit eine wichtige Voraussetzung für das Durcharbeiten der traumatischen Erfahrungen und ihrer Auswirkungen auf die Persönlichkeit. Es sollte betont werden, dass die Arbeit mit und in der Übertragung Fallstricke aufweist. Zu frühe Interventionen, die sich auf (aggressive oder sexuelle) Intentionen und Motivationen beziehen, können als Schuldzuweisungen aufgefasst werden, störend auf die Regression wirken, sie gleichzeitig weiter vorantreiben und einen Zusammenbruch mit suizidalem Verhalten oder Selbstverstümmelung verursachen. In Bezug auf das Arbeitsbündnis könnte dies leicht zu einem (dissoziierten) Als-ob-Kontakt führen, da viele traumatisierte Patienten sich aufgrund ihrer Angst und ihrem starken Misstrauen in Bezug auf bedeutungsvolle emotionale Bindungen gegenüber ihren Mitmenschen auf diese Weise verhalten. Der Als-ob-Charakter der therapeutischen Situation kann die potenzielle Gefahr verschlimmern. Die Arbeit an der Übertragung kann in diesem Kontext einen Vorteil gegenüber den kognitiven Ansätzen darstellen. Die Übertragung kann die psychologische Überlebensstrategie

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aufdecken, die der Patient in Reaktion auf die traumatischen Erfahrungen anderen Menschen gegenüber entwickelt hat. Dies mag sogar den Kern der Dissoziationen darstellen. Eine spezifische Falle in der Gegenübertragung kann die Projektion eines »machtlosen Opfergefühls« auf den Therapeuten sein. Dabei kann der Therapeut darüber in Verzweiflung geraten, dass die Behandlung dem Patienten nicht zu helfen vermag. Hier kommt es zu einem Rollentausch: der Patient wird zum Folterer und der Therapeut zum Opfer. Bei Patienten mit mehreren dissoziativen Identitäten können diese Identitäten eine Abwehrhierarchie bilden, die auf die (meistens sequenziellen) traumatischen Erfahrungen bezogen und mit verschiedenen Graden von dadurch hervorgerufener Angst verbunden sind. In der Übertragung führt dies zu sich verändernden dissoziativen Positionen des Patienten. Es kann hilfreich sein, die geschichtete Abwehr dieser sich plötzlich verändernden Phänomene zu verstehen. Die Schwierigkeiten, mit traumatisierten und/oder dissoziierten Patienten in der Übertragung zu arbeiten, sind von Peter Fonagy und seinen Mitarbeitern (Fonagy et al. 2002) bereits beschrieben worden. Zentral ist dabei, die Externalisierungen unerträglicher Selbstzustände, die hauptsächlich in der Form von »Enactments« stattfinden, zu ertragen. Da diese Enactments aber auch einen potenziell produktiven Raum in der therapeutischen Arbeit darstellen, sollte der Analytiker in dem Wunsch, das Agieren des Patienten zu kontrollieren, zurückhaltend bleiben. In der Übertragung liegt der Fokus auf dem Umgang mit den vorausgehenden Ereignissen sowie den Konsequenzen der Enactments; sie sollten nicht »verboten« werden. Gelegentlich kann der Therapeut es sich herausnehmen, ebenfalls einige kleinere Enactments in der Gegenübertragung zu vollziehen, um mit dem Patienten in Kontakt zu bleiben und innerlich zu ertragen, dass er zum Vehikel für den fremden und unintegrierten Teil des Patienten wird. Das Ziel besteht darin, eine (sich in der Übertragung/Gegenübertragung entfaltende) Bindung zu entwickeln, da Mentalisierung nur im Kontext einer solchen Interaktion stattfinden kann. In der Übertragung kommt es zu dissoziativen psychischen Zuständen, wenn die Dissoziation fehlschlägt. Diese Zustände bein-

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halten häufig unverarbeitete und unsymbolisierte Erfahrungen von erschreckend realem Charakter. Wir hoffen, es ist uns in diesem Artikel gelungen, aufzuzeigen, dass es möglich ist, mit diesen psychischen Zuständen in der Übertragung zu arbeiten, und dass diese Arbeit wahrscheinlich die beste Möglichkeit darstellt, anhaltende Veränderungen zu erreichen (Varvin 2003). Aus dem Englischen von Gerlinde Göppel.

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■ Kurt Grünberg

Erinnerung und Rekonstruktion Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung und Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland 1

Beim Blick auf den Überweisungsschein begann ein vermutlich etwa achtzigjähriger Arzt, bei dem ich vor einiger Zeit in Behandlung war, die Konsultation mit der Frage, ob ich ebenfalls aus Westfalen stamme. Ein Kollege von ihm habe nämlich in Oelde, dem Ort des überweisenden Arztes, viele Jahre praktiziert. »Wir waren von 1939 bis 1945 Kriegskameraden«, bemerkte der Doktor auffallend wohlartikuliert. Der befreundete Kollege sei »natürlich längst verstorben«. Sodann wollte der Hals-Nasen-Ohrenarzt von mir wissen, ob ich öfter besonders starken Geräuschen ausgesetzt sei, »etwa beim Schießen, im Militär«. – Der Arzt war ausgesprochen höflich und korrekt, nahm sich viel Zeit; er untersuchte mich sehr gründlich. Aber obwohl es heiß war draußen, war mir kalt. 1 Eine solche Begebenheit dürfte wenig bedeutungsträchtig sein, weder in Bezug auf die Biografie der beiden Protagonisten, noch wird man ihr eine besondere gesellschaftliche Relevanz zusprechen. Und doch enthält die geschilderte Szene Hinweise auf einige bedeutsame Prozesse, die das Thema Erinnerung und Rekonstruktion von Geschichte, aber auch den generationenübergreifenden Transfer bedeutsamer Lebenserfahrungen betreffen. Dem Facharzt genügten offenbar der Name eines Ortes, der »jüdische Name« seines Patienten und wahrscheinlich der Blick auf dessen Äußeres, um in ihm gewisse Erinnerungen und vermutlich auch Affekte hervorzurufen, mir reichten sein hohes Lebensalter, seine höfliche, aber zu förmliche Art und nicht zuletzt die Bemerkung über seinen Kriegseinsatz, um gewisse Assoziationen in mir zu evozie1 Erschienen in: Trumah, Zeitschrift der Hochschule für Jüdische Studien 14: 37–54.

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ren, die mich sogleich fragen ließen: Was der damals wohl gemacht hat? – Vermutlich haben wir beide uns zurückversetzt in eine andere, längst vergangene Zeit. Er mag sich an tatsächlich Erlebtes erinnert haben, ich begab mich in Sekundenschnelle durch einen »Zeittunnel« der Geschichte (vgl. Kestenberg 1982, S. 179) in die – nicht selbst erlebte – Zeit des Nationalsozialismus, um zu phantasieren, wie dieser Mann mich, den Juden, damals »behandelt« hätte, ob ich in jener Zeit den Lauf seines Gewehres aus der ihm entgegen gesetzten Richtung hätte betrachten müssen, stillschweigend wie selbstverständlich davon ausgehend, dass der HNO-Arzt sich und seinen jüdischen Patienten ebenfalls in unterschiedlichen »Lagern« unterbrachte. So möchte ich mich auch in der vorliegenden Arbeit von zwei sehr unterschiedlichen Seiten dem Thema der psychosozialen Auswirkungen der nationalsozialistischen Judenvernichtung in der Bundesrepublik Deutschland annähern. Einerseits will ich dem vermeintlich »neuen Antisemitismus« nachspüren, möchte zu erhellen versuchen, wie das nationalsozialistische Erbe aufseiten der nichtjüdischen Deutschen bis heute die gesellschaftliche Praxis in diesem Land beeinflusst und formt. Auf der anderen Seite geht es um die Überlebenden der Shoah sowie deren Nachkommen, die ebenfalls im »Land der Täter« leben, aber zunehmend den Anspruch erheben, dieses Land auch als das ihrige zu begreifen. Ich möchte Erkenntnisse darüber vertiefen, wie vergangene Erfahrung systematischer Verfolgung und Vernichtung eines ganzen Volkes mit einem Blausäurepräparat zur Schädlingsbekämpfung, wie ein Menschheitsverbrechen erinnert und an nachfolgende Generationen tradiert wird, und auf welche Weise diese Erinnerungen beziehungsweise Erinnerungsfragmente die Wahrnehmung und Struktur auch gegenwärtiger Konflikte prägen. Weil dissoziierte Elemente von Erinnerungen aktuelle Wahrnehmungen direkt beeinflussen, erfahren gleichsam die Perspektiven künftiger Entwicklungen eine entscheidende Prägung; das heißt, Rekonstruktionen geschichtlicher Erfahrungen bewirken und formen Vorstellungen, die Menschen über die Zukunft entwerfen. Vieles spricht dafür, dass auch fast sechzig Jahre nach dem Ende des »Dritten Reiches« das deutsch-jüdische Verhältnis schwer belastet ist. Die tiefe, kaum überbrückbare Kluft zwischen nichtjüdi-

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schen Deutschen und Juden ist tagtäglich spürbar.2 Was das bewusste Erleben dieses Konflikts angeht, gilt das zumindest für die jüdische Seite, gleich ob es sich um Angehörige der »Ersten Generation« – die wenigen Überlebenden der nationalsozialistischen Judenvernichtung – oder um die »Zweite Generation« handelt. Denn von außen kaum beachtet, tragen die Überlebenden der Shoah sowohl in ihrem Alltagserleben wie auch nachts – in Träumen, Alpträumen oder während schlafloser Nächte – die Last der Erinnerung an ihre langjährigen Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Aber auch die Töchter und Söhne der Überlebenden erleben auf spezifische Weise psychosoziale Spätfolgen der Shoah, wenn sie als »Nachgeborene« (die niemals unmittelbar Opfer der Nazis waren) Konflikte so leibhaftig erfahren, als seien die Verfolgungserfahrungen nicht intergenerationell an sie tradiert worden, sondern als hätten sie dies alles selbst erlebt. Über diese besondere Einfühlung hoffen sie die Eltern zu erreichen. Man will den Eltern nahe sein, und darf sie dann nicht verlassen (vgl. Grünberg 2000a, 2000b).

■ Die Deutschen und die Weitervermittlung des Antisemitismus Die Deutschen leben in einer anderen Welt. Wie in der eingangs geschilderten Szene angedeutet, gibt es selbstverständlich auch auf nichtjüdisch deutscher Seite NS-Erfahrungen mit entsprechenden Nachwirkungen. Und auch hier gibt es Spät- und Langzeitfolgen damaligen Handelns und Erlebens, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Dies ist etwa der Fall, wenn sich Töchter oder Söhne von Nazis im bewussten Handeln von den ei2 Das »Ende« der Nazi-Herrschaft bedeutete für die wenigen Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung »Befreiung« von ihren Peinigern in letzter Minute, während die Nazi-Täter und sympathisierende Mitläufer den »verlorenen Krieg« als »Niederlage« oder »Zusammenbruch« empfanden. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Filmproduzenten Bernd Eichinger sehr aussagekräftig, seinem jüngsten Film den Titel »Der Untergang« (Constantin Film 2004) zu geben.

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genen Eltern distanzieren, hingegen unbewusst mit ihren Vätern oder Müttern identifiziert sind. Doch die Inhalte sowie Formen der transgenerationalen Vermittlung dieser Erlebnisse unterscheiden sich deutlich von den Erfahrungen der Überlebenden und ihrer Kinder. Sehr pointiert ließe sich formulieren, dass auf den unterschiedlichen Seiten genau das tradiert wird, was den wesentlichen NS-Erfahrungen der damals agierenden Personen oder Gruppen entspricht, das heißt, Opfer tradieren Opferschaft, Täter geben Täterschaft an ihre Nachkommen weiter, Mitläufer und Zuschauer tendieren dazu, auch aus den eigenen Kindern Mitläufer und sympathisierende Zuschauer zu machen. Die hierzu zunächst konträr scheinende Beobachtung, dass es zum »Täter-Werden« auch gehört, mit der Angst und Erfahrung aufzuwachsen, der Macht des Anderen unterworfen zu sein, bestätigt gerade diese These. Kinder von Nazis hatten – zu Recht – Angst vor ihren Eltern; die Täter selbst aber litten unter ihren Untaten nicht. Schlafstörungen auf Seiten von Nazi-Tätern traten erst auf, wenn sie aufgrund ihrer Straftaten gesucht wurden, wenn sie für die begangenen Verbrechen bestraft werden sollten, was allerdings nur allzu selten geschah. Die meisten Nazi-Verbrechen blieben also ungesühnt (was wiederum für das Leiden der Opfer von beträchtlicher Bedeutung ist). Und diejenigen, die man nicht behelligt hat, sind in Ruhe alt geworden … Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch vor allem bedeutsam, dass sich Kinder unbewusst mit den mächtigen Eltern identifizieren, um sich in ihrer Not – zumindest scheinbar – zu stabilisieren. Solche Prozesse der Transmission laufen allerdings vor allem unbewusst ab und können sich nur vor dem Hintergrund bestimmter kultureller sowie gesellschaftlicher Strukturen und Einflüsse auf je spezifische Weise entfalten. Die über Jahrhunderte »erfolgreiche« Vermittlung des Antisemitismus an immer neue Generationen ist darüber hinaus nur denkbar, wenn massenpsychologische Momente in die Analyse der gesellschaftlichen Produktion des Antisemitismus einbezogen werden. Mittels zweier Funktionsprinzipien – zeitliche Synchronisierung und inhaltliche »Gleichschaltung« – werden judenfeindliche Stimmungen und Klischees immer wieder neu in Gang gesetzt, arbeitsteilig weitervermittelt und auf diese Weise auch bestärkt (vgl. dazu Leuschner

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2001; Grünberg 2002a). So kommt es über diese hier lediglich angedeuteten sozialen Prozesse zur Bildung wie auch zur Bindung gesellschaftlicher Massen. Diese Überlegungen finden weitere Bestätigung, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwierig sich Versuche einiger Nachkommen von Tätern und Mitläufern gestalten, vorgegebene familiäre und gesellschaftliche Grenzen zu überwinden.3 In Bezug auf die jüngere deutsche Nachkriegsgeschichte ist dies etwa bei der Beschäftigung mit dem bewaffneten Teil der bundesdeutschen »Stadtguerilla« – der Rote-Armee-Fraktion (RAF) sowie den Revolutionären Zellen (RZ) – oder mit der deutschen Friedensbewegung eindrucksvoll zu beobachten. Hier finden sich jeweils explizite Bezugnahmen auf das nationalsozialistische »Erbe«, dem man, so heißt es dann, konsequent entgegentreten wolle. Allein die vielfach skandierte Parole »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!« mag dies belegen. Während man bewusst und überzeugt linken oder – wie im Fall der Friedensbewegung – pazifistischen Ideologien anhing, »geschah es« allerdings beispielsweise im Jahr 1976, dass vermeintlich fortschrittliche Freiheitskämpfer im Zuge der Flugzeugentführung einer in Tel Aviv gestarteten Air-FranceMaschine nach Entebbe in Uganda eine »Selektion« vornahmen, indem sie die Juden von den übrigen, nichtjüdischen Geiseln, trennten. Gleichermaßen muss man feststellen, dass friedliebende Bürgerinnen und Bürger vor allem gerade dann für »Friedensaktionen« zu motivieren sind, wenn man gegen den »richtigen Feind« zu Felde ziehen kann. Dazu auserkoren wurden und werden vor 3 Wenn ich mich im Folgenden insbesondere auf den »linken Antisemitismus« beziehe, geschieht dies nicht etwa, weil damit die Existenz rechter, rassistischer, neonazistischer Bewegungen und Gruppen ausgeblendet werden soll. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung gerade mit denjenigen in der Bevölkerung, für deren politisches Selbstverständnis eine Missbilligung der nationalsozialistischen Verfolgung konstitutiv ist, stellt eine – wenngleich kritische – Würdigung dieses grundsätzlich richtigen Ansatzes dar. Wenn es überhaupt Hoffnung geben soll für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensumstände, dann kann diese Hoffnung wohl vor allem in der Existenz fortschrittlicher Menschen begründet sein, die sich den geschichtlichen Erfahrungen stellen. Insofern sind die Neonazis im engeren Sinne des Wortes schlicht und einfach indiskutabel (was die durch sie entstehende Gefährdung keineswegs verharmlosen soll).

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allem die Vereinigten Staaten von Amerika. Gegen den VietnamKrieg demonstrierten viele wohl nicht zufällig mit der Parole »USA, SA, SS«, als ginge es darum, sich der Last der eigenen Geschichte zu entledigen, indem man die US-Amerikaner mit den Nazis identifiziert.4 Einige Jahre vor der am 20. April 1998 (sic!) bekannt gegebenen Selbstauflösung der Rote-Armee-Fraktion waren deutsche RAFMitglieder »der dritten Generation« an einem Sprengstoffanschlag auf 31 jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion beteiligt. Verantwortlich zeichnete damals die palästinensische Terrororganisation »Bewegung für die Befreiung Jerusalems«. Nur dank eines technischen Defekts – die Explosion wurde zu früh ausgelöst – hat es bei dem Anschlag vom 23. Dezember 1991 in Budapest keine Toten gegeben. Andrea Klump hat während des gegen sie geführten Prozesses die logistische Hilfe für die Attentäter gestanden – unter ihnen ihr damaliger Lebensgefährte Horst Meyer. »Auch wenn ich nur am Rande mit dem Sprengstoffanschlag zu tun hatte, empfinde ich heute Scham über mein Verhalten«, äußerte sich Klump (Tageszeitung »Die Welt« vom 13.8.2004) – ein Zeichen des Umdenkens?

■ Antisemitismus im »Eulenspiegel« Nach wie vor sind altbekannte antisemitische Klischees dem wachen Bewusstsein entrückt und zugleich leicht abrufbar. Dies offenbarte sich zum Beispiel im September 2003 auf dem Titelblatt des Satiremagazins »Eulenspiegel«, kurz nach der Verurteilung des früheren stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, wegen des Konsums von Kokain und im Zusammenhang mit der »Enttarnung« eines Berliner Callgirl-Rings, über den Friedman Prostituierte zu sich bestellt 4 Eine angemessene Kritik an US-amerikanischer Politik muss von einer auf Entlastung abzielenden Verurteilung unterschieden werden. Die Vermischung beider »Anliegen« führt zu einer Entwertung auch der zutreffenden Vorwürfe.

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hatte. Zeichner des Titelbildes ist der als »Kaufhauserpresser Dagobert« bekannte Arno Funke, der für gewöhnlich seine Figuren sehr realitätsnah darstellt. Im vorliegenden Fall zeichnete er Friedman allerdings mit einer »typisch jüdischen« Hakennase und wulstigen Lippen, Attribute, mit denen Friedman gerade nicht aufwarten kann. »Paolo Pinkel«5, »Aufsichtsrat« einer »ToilettenHäuschen-Werbefirma«, sitzt breitbeinig, mit Anzug und Krawatte, als Toilettenfrau hinter einem Tisch, darauf ein Teller mit Münzen und eine Line Kokain. Neben dem Toilettenhaus steht rauchend eine langbeinige, spärlich bekleidete, großbusige Blondine mit hohen Stiefeln: die Prostituierte. Die Begriffe »Wirtschaft« und »Toilette« unter dem Logo des Magazins – Eulenspiegels nackter Hintern auf einer auf den Kopf gestellten Krone – vervollständigen das mit den Mitteln der Analität, Entwertung6 und Sexualisierung die erwünschte Wirkung erzielende Bild. In diesen Kontext passt auch der Slogan »Unbestechlich, aber käuflich!«, mit dem das Magazin auf der Titelseite für sich wirbt. Zu guter Letzt ist noch vom »Ex-TV-Talkmaster« (Hervorhebung vom Verf.) die Rede, also davon, was Friedman einmal war, aber nicht mehr sei – einen Prozess implizierend, der auf Verlust beziehungsweise Ausschluss hindeutet. Hier wird die – angestrebte? – Beseitigung eines missliebigen Juden aus dessen gesellschaftlicher Position oder Funktion insinuiert. Von einem höchst aufschlussreichen Telefongespräch mit dem Chefredakteur des Magazins »Eulenspiegel«, Hartmut Berlin, berichtete der Journalist Markus Brauck in der Tageszeitung »Frank5 Unter diesem Pseudonym hatte Friedman angeblich Prostituierte zu sich ins Hotel bestellt. Interessant ist dabei das folgende Faktum: Bereits Monate vor der Publikation der Eulenspiegel-Titelseite war längst geklärt, dass sich die Ermittler im »Fall Friedman« geirrt hatten, als sie den Decknamen »Paolo Pinkel« zu hören meinten. In Wirklichkeit lautete der Name wohl »Pinkas« oder »Pinkaus«. Die in den Medien publizierte Korrektur hielt Arno Funke jedoch keineswegs davon ab, an dem diffamierenden Pseudonym »Paolo Pinkel« festzuhalten. Ich vermute, dass als intendierte Assoziation auf Seiten des Lesers gewünscht war, Friedman möge als »reicher Pinkel« betrachtet werden. 6 Friedmans herunterhängende Mundwinkel signalisieren dem Betrachter Verachtung, seine hochgezogenen Augenbrauen und seine Pose stehen für Arroganz.

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furter Rundschau« (vom 17. September 2003). In diesem Gespräch hatte der Eulenspiegel-Chefredakteur den Vorwurf Braucks, hier werde ein zeichnerisches Stereotyp des abkassierenden Geldjuden publiziert, empört zurückgewiesen. Das Satiremagazin könne schon per definitionem nicht antisemitisch sein, da es sich doch um eine dem linken Spektrum zuzuordnende Zeitschrift handele; und: Brauck solle ihm nicht mit dem Nazi-Hetzblatt »Stürmer« kommen. Interessant nur war, dass Brauck den »Stürmer« gar nicht erwähnt hatte.

■ Dissoziierte Elemente von Erinnerungen und arbeitsteilige Produktion des Antisemitismus Diese kleine Episode offenbart nicht nur, dass das Aufgreifen antisemitischer Klischees vom mächtigen, reichen, verächtlichen, überheblichen, sexgeilen Juden, der es auf die blonden, arischen Frauen abgesehen hat, auch ohne bewusste Beteiligung erfolgen kann. Hier wird vor allem deutlich, dass der Antisemitismus kein abgeschirmtes, »geschlossenes System« einzelner Individuen darstellt. Vielmehr stehen den Menschen dissoziierte Elemente des Antisemitismus wie Rohstoffe zur Verfügung, die jederzeit leicht abrufbar sind, einem Steinbruch ähnelnd, in dem sich jeder mühelos bedienen kann. Welche Bedeutung haben diese Wahrnehmungs- und Erinnerungsfragmente in Bezug auf den Antisemitismus? In ihren Wahrnehmungen und Phantasien greifen Menschen nicht nur auf eigene Erfahrungen und persönliche Erinnerungen zurück, sondern verfügen gleichfalls über einen Zugang zu kollektiven Phantasien, zu gesellschaftlich erworbenem Wissen, zur Geschichte und Kultur ihres Volkes. Friedrich-Wilhelm Eickhoff stellt die Frage, wie unentbehrlich der phylogenetische Faktor sei, wenn er – Sigmund Freud zitierend – von der »unvermeidliche[n] Kühnheit« spricht, »Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen« anzunehmen (Eickhoff 2004, S. 448). All das über Generationen gespeicherte »Wissen« greift ständig in die aktuellen Wahrnehmungen ein. So stellen die Erinnerungen der Menschen

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auch keine photographisch getreuen Abbildungen einst erlebter objektiver Realität dar, wenngleich sie damit keinesfalls als willkürlich missverstanden werden sollten. Erinnerungen entstehen vielmehr immer wieder neu und unterliegen dabei sowohl bestimmten Zerfallsprozessen als auch Vorgängen der Rekonstruktion, zum Beispiel der Dramatisierung, der Verharmlosung oder Beschönigung. Eine Annäherung an diese Prozesse muss also den Versuch beinhalten, solche stets erfolgenden Fragmentierungen begrifflich näher zu bestimmen. Der ursprünglich im klinischen Kontext verwendete Begriff Dissoziation bezeichnet einen pathologischen Zerfall der »Einheit bewussten Erlebens, Erinnerns und kontrollierten Handelns« (Leuschner 2004, S. 60); psychische Ausnahmezustände werden »durch abgespaltene Bewusstseinsinhalte, Teilerinnerungen, SelbstFragmente, inadäquate Affekthandlungen charakterisiert« (Leuschner 2004, S. 60). Dissoziative Prozesse der Auflösung von Einheitlichkeit und Geschlossenheit von Erinnerungen sind jedoch nicht auf solche klinisch-pathologischen Zusammenhänge beschränkt, sondern spielen im Alltag von Schlaf, Traum, vorbewussten Wahrnehmungen, desgleichen gerade bei den Themen von Verfolgung wie Antisemitismus und in Bezug auf traumatische Erfahrungen eine wesentliche Rolle. Bezogen auf den Prozess der primären Sozialisation befasst sich Alfred Lorenzer (1972) mit den miteinander in Zusammenhang stehenden frühen Interaktionsformen. Es verstehe sich von selbst, »dass die Protosymbole nicht einfach verschwinden, sondern im Netz ihrer Beziehungen im ›Hintergrund‹ des Bewusstseins gehalten werden. Auch streift das ›endgültige‹ Symbol keineswegs seine – genetische – Beziehung zum Protosymbol ab. Daher kommt es, dass das endgültige Symbol allemal von einem Halo von Protosymbolen umgeben ist. Eben dieser Halo macht die Grundlage des Phantasierens aus, das als Stachel des Nichtidentischen gegen das allgemein Anerkannte lebendig bleibt« (Lorenzer 1972, S. 119). In Bezug auf den Antisemitismus sind diese grundlegenden Prozesse sehr bedeutsam. Sie machen nämlich deutlich, dass es – über frühe Erfahrungen vermittelt – stabile Bedeutungsverknüpfungen gibt, die trotz vielfältiger Erscheinungsformen, assoziativer Verbindungen und wechselnder Benennungen etwas transportieren, das sich

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als antisemitische Haltung zunehmend festigen kann. Wie man die Juden nennt, wie man sie zu erkennen meint, was man ihnen unterstellt, mag höchst variabel erscheinen. Dass sie gehasst werden, ausgeschlossen, beseitigt oder gar vernichtet werden sollen, unterliegt hingegen keinerlei Zweifel. Die Fragmente aus dem Bedeutungshof der Klischees werden zum Kristallisationskern von Annäherungen. Diese werden kaum offenkundig und eindeutig, sondern bewahren in einer gewissen Latenz ihre aktivierende antisemitische Bedeutung, eine Metonymie in der Repräsentanz des Hassobjektes. Psychoanalytisch betrachtet ist der Antisemitismus Ausdruck von Selbsthass, von Minderwertigkeit und Schuld, wie er zugleich der »Selbstentgiftung« dieser Gefühlszustände dient. Das eigene »Schlechte«, aber auch das, worum man sie beneidet, wird auf die Juden projiziert. Diese psychodynamische Bedeutung des Antisemitismus lässt sich gleichwohl nicht auf den einzelnen Antisemiten reduzieren. Vielmehr ist das gesellschaftliche Umfeld der Produktion des Antisemitismus wesentlich für dessen Ausbruch. Das heißt, die antisemitische Zeichnung Arno Funkes etwa ist nur denkbar vor einem gesellschafltichen Hintergrund, den öffentliche Personen wie Martin Walser, Jürgen Möllemann und andere in den Vorjahren kollektiv hergestellt hatten, als sie mit dazu beitrugen, den Antisemitismus »in der Mitte der Gesellschaft« und in intellektuellen Kreisen wieder hoffähig zu machen. Die unsägliche Friedenspreisrede Walsers in der Frankfurter Paulskirche, das massenhafte Verbreiten eines antisemitischen Flugblatts durch Möllemann, Walsers antisemitischer Roman »Tod eines Kritikers« und andere Ereignisse hatten der Rehabilitierung des Antisemitismus in Deutschland Vorschub geleistet. Antisemitismus steckt an. Diese Ansteckung »funktioniert«, weil sich der Antisemitismus auf Metonymien berufen kann. Die antisemitischen Ressentiments, die oftmals als eine Grundkonstante des westlichen zivilisatorischen Prozesses beschrieben wurden, sind auch – und vielleicht erst recht – nach Auschwitz Teil der deutschen Kultur geblieben. Der aktuelle Antisemitismus ist insofern kein wirklich »neuer« Antisemitismus, sondern uralt. Die Fragmente werden immer wieder von neuem ausgelöst, aufgegriffen, in unterschiedlicher Weise konfiguriert und von anderen,

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wenngleich vorwiegend unbewusst, als solche erkannt: Antisemitismus verbindet.

■ Deutsche Kälte Allerdings lassen sich nicht alle Menschen gleichermaßen anstecken. Daher stellt sich die Frage nach den Bedingungen für die – meist unbewusste – Bereitschaft, sich antisemitisch »infizieren« zu lassen. Erfahrungen der frühen Sozialisation sind hierfür sehr bedeutsam. Während eine wohlwollende, positive, von liebevoller Zuneigung und Wertschätzung getragene familiale Atmosphäre gewissermaßen immunisierend wirkt, stellen Kälte, Härte, Gehorsam und Folgsamkeit »Werte« dar, die auf Unterwerfung der Kinder unter ihre Herrschaft ausübenden Eltern gerichtet sind. Im zuletzt genannten Fall werden Kinder fortwährend frustriert, sie entwickeln Aggressionen sowie Ängste und werden mit ihren Konflikten und Gefühlen allein gelassen. In solcher seelischer Not aufwachsende Kinder suchen unweigerlich nach Möglichkeiten der Entlastung. Diese Entlastung finden sie vor allem durch Identifizierung mit den aggressiven, mächtigen Eltern – bei gleichzeitiger Entwertung alles Schwachen. So werden häufig diejenigen, die sich als Kinder vornehmen, später einmal alles zu unternehmen, um den eigenen Kindern solcherart Erfahrungen zu ersparen, Eltern, die gleichermaßen unfähig sind, sich auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen, vor allem wenn diese als hilflos, behindert oder krank erscheinen. Hitler und Goebbels warben bei unterschiedlichsten Gelegenheiten immer wieder für ihr Leitbild der von ihnen imaginierten deutschen Jugend. Um der »Herrenrasse« würdig zu sein, sollten die Jungen »zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde« sein. Solcherart pädagogische Ziele waren allerdings nicht im »luftleeren Raum« entstanden, sondern müssen im Kontext eines generationenübergreifenden wohl spezifisch deutschen Erziehungsstils gesehen werden. Konsequenterweise nennt Isidor Kaminer seine Arbeit »Normalität und Nationalsozialismus« (Kaminer 1997, Hervorhebung vom Verf.). Kaminer stellt heraus, dass

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der Nationalsozialismus, »anders als der Faschismus und andere tyrannische Herrschaftssysteme, unabdingbar mit der Vernichtung der Juden und der Geisteskranken verbunden [ist]. Er kam zur Macht nicht etwa infolge eines Putsches, und war tief in der Bevölkerung verankert« (Kaminer 1997, S. 385). Hier wird die psychische Grundstruktur von Menschen, die zum Vernichten erzogen werden, mit einer besonderen Kälte in Verbindung gebracht, die sie erst dazu befähigt, so zielgerichtet auszugrenzen, zu verfolgen und zu morden. Wenn Vernichtungswut mit einer triebhaft sadistischen Vernichtungslust amalgamiert, entfaltet die Kälte ihre grausame Wirkung. Solche Prozesse sind beispielsweise auf Photos oder in Filmen »festgehalten«, die Nazis zeigen, wie sie lachend ihre Opfer sadistisch quälen oder töten. Die von Kaminer beschriebene »Methode des ›Kaltstellens‹« (Kaminer 1997, S. 399) ist im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus besonders aufschlussreich. Dieses »Kaltstellen« wird von Johanna Haarer als pädagogische Maßnahme empfohlen, wenn Säuglinge und Kleinkinder die Ruhe und Ordnung ihrer Eltern stören. Haarer, Autorin des Buches »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« – mehrhunderttausendfach in NaziDeutschland verbreitet und in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel »Die Mutter und ihr erstes Kind« millionenfach neu aufgelegt (Kaminer 1997, S. 397) – führt hierzu aus: »Auch wenn das Kind auf die Maßnahmen der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann lässt sie sich nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit setzt sie ihren Willen weiter durch, vermeidet aber alle Heftigkeit und erlaubt sich unter keinen Umständen einen Zornesausbruch. Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ›kaltgestellt‹, in einen Raum verbracht, wo es alleine sein kann und solange nicht beachtet wird, bis es sein Verhalten ändert« (Haarer 1934, zit. nach Kaminer 1997, S. 399). Früh erfahrene familiale Kälte ist von erheblicher Bedeutung sowohl für die Konstitution eines von Massen getragenen nationalsozialistischen Staates und für die mit kaum fassbarer Beharrlichkeit angewandten nazistischen Verfolgungsszenarien, wie sie auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft von Belang ist, weil

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man nur unter Einbeziehung dieser von Generation zu Generation weitervermittelten Kälte begreifen kann, wie Menschen hierzulande ungeachtet allen Strebens nach Aufklärung und trotz Auschwitz immer noch anfällig für rassistische und antisemitische Ideologien sind. Die Kälte, die Vernichtungswut und -lust stellen also Elemente dessen dar, was als Teil des nationalsozialistischen Erbes zu betrachten ist. Die in frühester Kindheit erlebte Lieblosigkeit, Abneigung und Gleichgültigkeit von Menschen und der Gesellschaft, der Hass, der Mangel an Einfühlung, Teilnahme und Mitleid lassen sich später »nicht einfach abschütteln«, auch wenn der bewusste Versuch unternommen wird, antisemitische Haltungen der Eltern- oder Großelterngeneration zu überwinden.

■ Tradierung des Traumas der Shoah Ich möchte nun anhand von einigen »innerjüdischen« Konflikten zeigen, wie die Analyse von Affekten, Phantasien und Gegenübertragungsreaktionen der Zweiten Generation etwas zu erhellen vermag, was dann verstehbar wird als Ausdruck des Geschehenen im Sinne einer Rekonstruktion geschichtlicher Erfahrungen. Dissoziierte Fragmente von Verfolgungserfahrungen lassen erst durch ihr Zusammenführen Schrecken, Leiden sowie Spätfolgen der Extremtraumatisierung im Land der Täter wirklich erkennbar werden. Selbst die so bedeutsamen und bewegenden Erinnerungen der Überlebenden erlauben für sich keine vollständige Rekonstruktion des erlittenen Grauens. Die Erfahrungen eines systematischen Genozids überschreiten bei weitem das menschliche Fassungsvermögen, sodass das Ausmaß des Schreckens weder im Moment des Geschehens noch im Nachhinein individuell »abgebildet« werden kann. Es wäre unrichtig, hier lediglich von einer retrograden Amnesie zu sprechen. Die Verfolgungserfahrungen sind nicht integrierbar, schlagen sich vielmehr in einem sozialen Prozess kollektiv und insbesondere auch intergenerationell nieder. Sie werden von den Überlebenden vor allem unbewusst und nonverbal weitervermittelt. Damit aber nehmen besonders die Nachkommen der Opfer etwas auf, das gleichermaßen ihre eigene Wahrneh-

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mungs- und Gefühlswelt wie auch ihr Denken prägt. Die Phantasien der Zweiten Generation werden auf diese Weise zu einem integralen Bestandteil des traumatischen Geschehens und seiner psychosozialen Folgewirkungen. Das Erleben dieses Zusammenhangs wiederum stellt für beide Generationen eine enorme Herausforderung dar.

■ Überlebende der Shoah in München Nach Jahren der Diskussion und Vorbereitung wurde vor einigen Jahren in München ein Projekt für Überlebende der Shoah geschaffen, um im Schutz einer eigens für sie gestalteten Umgebung auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingehen zu können. Die Initiativgruppe besteht aus Juden unterschiedlicher Profession, die verschiedenen Generationen angehören: Überlebende, Child-Survivors und Angehörige der Zweiten Generation. Im Kontext der sehr erfolgreichen Arbeit in diesem Projekt trugen sich allerdings auch spezifische Konflikte zu, die im vorliegenden Zusammenhang ausgesprochen interessant und lehrreich sind. Denn die in der Folge geschilderten Szenen enthalten, im Sinne der oben erläuterten dissoziativen Prozesse, Elemente dessen, was die Tradierung der nationalsozialistischen Judenvernichtung an die Zweite Generation wesentlich ausmacht. Der Fokus der Darlegungen liegt weniger bei einer kritischen »Aufarbeitung« der Projektaktivitäten, sondern es geht hier insbesondere um die genaue Darstellung der eigenen Gegenübertragungsreaktionen, Affekte, Phantasien und »wunden Punkte«, mit deren Hilfe die Nazi-Verfolgungen in ihren massiven, die Generationen übergreifenden Wirkungen deutlicher herausgearbeitet werden können.

■ Eröffnung Bei der Eröffnungsveranstaltung meldete sich ein Überlebender zu Wort, der mit seinen dramatischen Schilderungen des Selektionsprozesses an der Rampe von Auschwitz nicht etwa auf einen pas-

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senden Moment wartete, um sich mit seinen Erfahrungen einzubringen. Es brach viel mehr aus ihm heraus, war kaum einzugrenzen; eine unbremsbare Flut von Assoziationen entlud sich über der Gruppe. Der Ausbruch dieses Mannes konfrontierte die Anwesenden mit etwas, das einige nicht aushalten konnten, sodass – in diesem Kontext nicht erwartete – Zwischenrufe wie »Aufhören«, »Das wollen wir nicht hören« erklangen. Diese Szene der Eröffnungsveranstaltung wurde in einer Nachbesprechung der Initiativgruppe bearbeitet. Um meine Überzeugung auszudrücken, dass wir mit einem solchen Konflikt durchaus hätten rechnen müssen und auch Mittel finden würden, damit angemessen umzugehen, benutzte ich die Formulierung, es sei »nicht so schlimm gewesen«, dass sich dies so zugetragen hatte. Von den Überlebenden in der Initiativgruppe wurde ich daraufhin sehr heftig zurückgewiesen, ob ich denn etwa meine, es sei angemessen, wenn man Überlebende auf solche Weise mit dem Schmerz ihrer Verfolgungserfahrungen konfrontiert? Über die Heftigkeit und Schärfe der Kritik war ich regelrecht erschrocken und erstaunt, versuchte klarzustellen, dass ich mich keineswegs über das Leiden der Überlebenden hinwegsetzen oder dieses auch nur in irgendeiner Weise schmälern wollte. Die Debatte verschärfte sich noch, als ein »Kinder-Überlebender« eher meine Position unterstützte und ausführte, er sei in seiner Kindheit ebenfalls schrecklichen Schilderungen von Verfolgungstaten ausgesetzt worden, etwa als sein Vater davon berichtete, wie man Kinder an einer Häuserwand totschlug und die leblosen Körper auf Lastwagen warf. Wenngleich er von einer KZ-Inhaftierung verschont blieb, seien doch auch seine Erfahrungen schwer traumatisierend gewesen. Die sehr intensive abendliche Diskussion führte letztlich zu keiner wirklichen Annäherung. Es schien, als sei es uns nicht möglich, das Geschehene in eine gemeinsame Sicht der Dinge zu überführen. In der darauf folgenden Nacht fand ich nur wenig Schlaf. Ich wurde von Bildern der Nazi-Verfolgungen gleichsam überschwemmt. Meine nächtlichen Phantasien kreisten vor allem um die Ermordung kleiner Kinder. Obwohl ich bewusst gegenzusteuern versuchte, drängte sich mir zunehmend die Vorstellung auf, meine kleine Tochter wäre in diese furchtbaren Schreckensszenari-

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en eingebunden. Ich fühlte mich gequält, hatte im Halbschlaf größte Mühe, mir klarzumachen, dass die Zeiten heute andere seien, dass die Nazigräuel nicht meine eigene Erfahrungswelt darstellten, dass meine Tochter in Sicherheit sei. Zugleich empfand ich aber auch Wut und Empörung: Warum werde ich plötzlich als jemand wahrgenommen, der auch nur im Entferntesten etwas von dem, was damals geschah, verharmlose? Auch die nachfolgenden Tage waren von diesen quälenden Fragen geprägt, sodass ich überlegte, ob es nicht vielleicht besser wäre, sich aus der Gruppe – und überhaupt von der Beschäftigung mit den Nazi-Verfolgungen – zurückzuziehen. Heute meine ich den Schmerz der Überlebenden besser zu verstehen. Es war schlimm für sie, hilflose Zeugen eines grenzenlos scheinenden Ausbruchs eines Verfolgten zu sein. Dies wird nicht »nur« Erinnerungen an eigene Verfolgungserfahrungen wachgerufen haben. Die Zeugenschaft eines solchen Kontrollverlusts wird die Überlebenden darüber hinaus mit Angst und großer Scham erfüllt haben. Könnte es ihnen selbst unter bestimmten Umständen nicht ähnlich ergehen? Wie viel »Kontrolle« ist tagtäglich nötig, um das nicht Aushaltbare auszuhalten?

■ Wer hat eigentlich mehr gelitten? Einige Monate später ereignete sich nach einem Vortrag von mir eine weitere, sehr konflikthafte Zuspitzung in dem Überlebendenprojekt. Mit meinem Beitrag griff ich Kontroversen auf, die in den Vormonaten immer wieder zu gewissen Spannungen zwischen einzelnen Überlebenden beziehungsweise zwischen unterschiedlichen Gruppen von Überlebenden geführt hatten. Man hatte die jeweiligen Verfolgungserfahrungen miteinander verglichen, trat in Konkurrenz zueinander in Bezug auf die Einschätzung, welche Verfolgungserfahrungen schwerer wögen. Diese mir kontraproduktiv erscheinenden Auseinandersetzungen hatten mich dazu veranlasst, meinem Vortrag einen provokativen Titel zu geben: »Wer hat eigentlich mehr gelitten?« Während des Vortrags in einem großen, länglichen Raum war es – im Gegensatz zu den meisten anderen Vortragsveranstaltun-

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gen – mucksmäuschenstill. Man hätte die vielzitierte Stecknadel fallen hören können. Die Gruppe der Überlebenden hatte mich dazu gedrängt, ohne Mikrofon zu sprechen und von einem Punkt in der Mitte des Saales aus, sodass ich mit meiner Präsenz die beiden Ein- beziehungsweise Ausgangstüren versperrte. Im Hauptteil des Vortrags behandelte ich unterschiedliche Verfolgungserfahrungen von Überlebenden, die mir in verschiedenen Kontexten nahe gebracht worden waren. Es ging um Erlebnisse im Konzentrationslager, um Geschehnisse, die sich im Ghetto zugetragen hatten, um Erfahrungen im Versteck und während der Befreiung. Die persönlichen Erlebnisse waren – dies war meine Absicht – offensichtlich in keine Rangreihe darüber zu bringen, welche Erfahrungen per se als traumatischer zu bewerten wären. Allerdings ließ ich keinen Zweifel aufkommen, dass die Shoah als Gesamtgeschehen sehr wohl in Bezug auf die Frage des Vergleichs mit anderen Leiderfahrungen als spezifisch herauszustellen ist (vgl. Historikerstreit). Auch nach dem Vortrag herrschte Stille. Niemand äußerte sich, niemand stellte eine Frage, sodass ich vorschlug, es damit bewenden zu lassen. Man könne doch später an den einzelnen Tischen miteinander ins Gespräch kommen. Nach einem weiteren Moment der gespannten Stille wandte man sich Kaffee und Kuchen zu. Draußen im Flur hingegen wurde ich mit heftigen Reaktionen konfrontiert. Ein Mitglied der Initiativgruppe teilte mir besorgt mit, ich hätte Schlimmes angerichtet: Meine Ausführungen seien viel zu emotional gewesen; eine Überlebende habe eine Tablette Tavor geschluckt, eine weitere hätte unmissverständlich ihrer Ablehnung des Gesagten Ausdruck verliehen … Eine andere Kollegin kam aufgeregt zu mir: »Einige sind so aufgebracht. Ich musste versprechen, dass hier niemals wieder ein solcher Vortrag gehalten wird.« Ob ich denn nicht bemerkt hätte, wie eine Überlebende sogar den Saal verlassen musste. – Es ging alles so schnell, sodass ich nicht einmal meine Beobachtung mitteilen konnte, dass diese Überlebende doch einige Minuten später zurückgekehrt sei, um dem Vortrag wieder zu folgen (sie selbst führte später aus, sie habe kurz etwas mit einer Sekretärin besprechen müssen). Ich kehrte – ziemlich benommen von den kritischen Reaktionen – in den Saal zurück, wo ich mit einzelnen, vor allem mit den

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als kritisch eingeschätzten Überlebenden Gespräche suchte. Diese Gespräche schienen mir eher konstruktiv. Doch ich blieb misstrauisch. Als ich später noch einmal kurz draußen war, wurde ich von einer Überlebenden angesprochen. In einer Mischung aus deutscher und jiddischer Sprache schilderte sie in großer Anspannung Erfahrungen, die zum schrecklichsten gehören, was mir jemals ein Mensch persönlich berichtet hat. Die Überlebende sprach von der Selektion ihrer Familie, davon, wie sie – sich als sechzehnjährig ausgebend – am Leben blieb, während die anderen Familienangehörigen, Eltern und Geschwister, »ins Gas gingen«. Eines Nachts habe man ihr »ein Bündel« gereicht, ein neugeborenes Kind, und ihr aufgetragen, den Säugling im Latrineneimer zu ertränken. Unfähig, dies zu tun, sei sie verzweifelt umhergerannt, voller Angst, man könne sie mit dem Kind entdecken. Sie wollte sich umbringen, »in den Zaun laufen«, »irgend etwas tun«. Am Ende reichte sie »das Bündel« weiter, wohl wissend, dass andere das ausführen würden, was von ihr verlangt worden war. Sie lebe seither mit schlimmsten Schuldgefühlen: »Aber was sollte ich denn anderes machen?« Die Überlebende hielt mich mit der einen Hand fest, fuchtelte mit dem anderen Arm wild herum, beruhigte sich aber zunehmend, als sie merkte, ich würde nicht fortlaufen. Ich fühlte mich abermals sehr belastet, wurde von schlimmen Phantasien geplagt und war voller Zweifel, wie es jetzt weitergehen sollte. Von meinen Kollegen im Projekt fühlte ich mich völlig missverstanden, in manchen Momenten dachte ich sogar, man habe mich verraten. So waren die nächsten Tage und Nächte sehr schwierig für mich. Mich beschäftigten vor allem die schrecklichen Erfahrungen der Auschwitz-Überlebenden, und ich begann die Menschen, das ganze Leben und überhaupt alles ganz grundsätzlich infrage zu stellen. In der wenig später stattfindenden Nachbesprechung der Initiativgruppe ließ sich jedoch einiges klären. Eine Kollegin, die sich besonders aufgeregt hatte, erklärte in der Sitzung, sie fühlte sich daran erinnert, wie man früher in ihrem Elternhaus »mit dem Thema« umging: wenn der Vater wieder einmal gebannt und schweigsam vor dem Fernseher saß, um sich eine Sendung über

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die Nazi-Zeit anzuschauen, habe die Mutter ebenfalls geschwiegen und sich demonstrativ anderweitig beschäftigt. Ihre Mutter habe diese Sendungen nicht ertragen können. »Diese Situationen waren auch für mich einfach nicht auszuhalten«, sagte die Kollegin, »manchmal war ich verzweifelt, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte.« In ihrer Wahrnehmung während meines Vortrags hatte sich, so verstand ich jetzt, die unerträgliche Spannung reinszeniert, die sie aus ihrer eigenen Familie kannte. Den Verantwortlichen dafür hatte sie in mir gesehen. Ein Kollege hielt es für besonders wichtig, jetzt die Kontinuität im Projekt sicherzustellen. Ich solle beim nächsten ÜberlebendenWochenende möglichst wieder anwesend sein. Diesem Rat folgte ich, was meinem Gefühl nach tatsächlich positiv aufgenommen wurde. Ich hatte sogar den Eindruck, den Überlebenden besonders nahe zu sein. Es schien mir fast, als begegneten mir gerade diejenigen Überlebenden, die sich skeptisch geäußert hatten, mit einer gewissen Offenheit und Interesse. Mir wurde erzählt, dass sich einige am Tag nach meinem Vortrag – wie üblich – in einem Lokal getroffen hatten. Dort habe man lange über den betreffenden Nachmittag diskutiert. Einige hätten sich kritisch geäußert, es sei problematisch, die Verfolgungserfahrungen anzusprechen; die meisten hätten sich jedoch verstanden gefühlt. »Das Thema« sei doch sowieso dauernd präsent.

■ »Warum sind Sie kein alter Mann?« Ein weiterer hier zu schildernder Konflikt trug sich ebenfalls im Zusammenhang mit einer Vortragsveranstaltung zu. Bei einer internationalen Tagung in Kanada sollte ich über die Transmission des Nazi-Traumas sprechen. Als ich einer südamerikanischen Kollegin vorgestellt wurde, die am gleichen Symposion teilnahm, fragte sie mich ganz erstaunt: »Warum sind Sie kein alter Mann?« Mich irritierte diese Frage. Sollte ich sie als Kompliment auffassen? Oder wurde mir nicht eher vorgeworfen, mich zu einem Thema zu äußern, bei dem ich doch – offensichtlich – gar nicht »mitreden« könne? Nach meinem Beitrag auf dem Panel war es dieselbe Kollegin,

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die sich, sichtlich erregt, als Erste zu Wort meldete. »Nun«, äußerte sie sich sehr bestimmt, »wer ist hier eigentlich der Überlebende, er oder ich? Erzählt er mir, was ich fühle?« Die anderen Anwesenden suchten die Wogen zu glätten. Die von mir vorgetragenen Ausführungen seien doch durchaus mit den Überlegungen der Kollegin zu vereinbaren. – Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Mittagessen berichtete mir die Psychoanalytikerin von ihrem Verfolgungsschicksal als Jugendliche in Nazi-Deutschland, von der Ermordung ihrer Eltern und davon, dass sie ihre Emigration nach Südamerika mit dem Vorsatz zu »bewältigen« versuchte, jetzt vor allem »nach vorn« zu schauen. Ihre längst erwachsene Tochter, dies müsse sie doch einräumen, habe Konflikte, die sie »so nicht erwartet hatte«. Einen Zusammenhang dieser Schwierigkeiten mit der eigenen Verfolgungsgeschichte könne sie »nicht ganz leugnen«.

■ Verstehen, Tradierung und Rekonstruktion Wie kann man die geschilderten Konflikte verstehen? Und in welcher Weise können die beschriebenen Auseinandersetzungen zu einem besseren Verständnis der Rekonstruktion der traumatischen Erlebnisse und des Modus der Tradierung des Nazi-Traumas an die nachfolgenden Generationen beitragen? Zunächst einmal machen die Konflikte deutlich, dass jede Konfrontation von Überlebenden mit den erlittenen Nazi-Verfolgungen heftige Affekte auslöst, seien es Trauer, Verletzung, Entsetzen, Angst, Wut, Hass, Schuldgefühle oder auch Scham. Zugang zur Freude darüber, die jahrelange Verfolgung überlebt zu haben, in Freiheit zu sein, nicht nur Über-Lebender, sondern auch Lebender zu sein, dürfte in solchen Momenten kaum zu finden sein. Die Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen sind äußerst schmerzlich, sie sind kaum zu ertragen. Auch wenn den Überlebenden das Nazi-Trauma präsent ist, so leben sie doch nicht in einem permanenten Zustand der manifesten Erinnerung. Im Kontext des akuten Erinnerns entstehen also notwendig auch hoch aggressive Impulse, die sich zuweilen gegen den vermeintlichen Auslöser der traumatischen Erinnerungen wenden.

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Wenn Überlebende darüber hinaus wahrnehmen, dass auch das Leben der Zweiten Generation von den Nazi-Verfolgungen gezeichnet ist, verstehen sie dies möglicherweise als gegen sie gerichteten Vorwurf, sie hätten ihre Kinder nicht gut genug geschützt. Auch wenn ein solcher Vorwurf weder angemessen ist noch vorgebracht wird, so empfinden die Überlebenden an der Tradierung des Traumas doch eine eigene Beteiligung, der sie sich abermals ausgeliefert fühlen, wie sie schon der Verfolgung schutzlos ausgesetzt waren. Insofern kommt es immer wieder zu Wiederbelebungen des Traumas, die mit sehr belastenden Schuldgefühlen einhergehen. Die Tatsache, dass es sich um Schuldgefühle, nicht um eine tatsächliche Schuld handelt, ist als Problematik genauso wenig aufzulösen, wie dies im Zusammenhang mit der vermeintlichen Überlebenden-Schuld der Fall ist. In zahlreichen Publikationen über die Transmission des Traumas der nationalsozialistischen Judenverfolgung an die nachfolgende Generation finden sich Hinweise auf ein Schweigen von Überlebenden über ihre Verfolgungserfahrungen in ihren nach dem Nationalsozialismus gegründeten Familien. Es ist von einer »geheimen Vergangenheit der Eltern« die Rede (Kestenberg 1989, S. 169), von einem »Holocaust-Lebensgeheimnis« (Kestenberg 1989, S. 166), von »Familiengeheimnissen« (z. B. Rosenthal 1997, S. 19), von einem »Pakt des Schweigens« (z. B. Maria V. Bergmann 1982, S. 326) oder gar von einer »Verschwörung des Schweigens« (»conspiracy of silence«; z. B. Barocas und Barocas 1980). Trotz oder gerade wegen dieser Geheimhaltung sei aufseiten der Kinder der Überlebenden ein Bedürfnis entstanden, in diesen »verbotenen« Lebensbereich der Eltern vorzudringen. Weil darüber nicht offen gesprochen werden konnte, hätten einige dieser Kinder dazu geneigt, über die Verfolgung und das Überleben ihrer Eltern noch furchtbarere Phantasien hervorzubringen, als es der Realität der traumatischen Erfahrungen entsprach.7 Dies habe die Verunsicherung und Unsicherheit der Zweiten Generation jedoch nur weiter vermehrt. Die Einschätzung, dass das Schweigen der Überleben7 Inwieweit dies tatsächlich möglich ist, wenn man sich das Ausmaß und die Grausamkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung vergegenwärtigt, sei dahingestellt.

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den in diesem Sinne »kontraproduktiv« sei, hinterfragt Jucovy (1992) allerdings inzwischen. Es komme, so Jucovy, eher auf die Art der Kommunikation zwischen den Generationen an, als darauf, welcher konkrete Inhalt von den Überlebenden an ihre Nachkommen vermittelt wurde. Die Problematik der Zweiten Generation wird völlig verkannt, wenn man mutmaßt, die Töchter und Söhne der Überlebenden litten vor allem unter den Geheimhaltungen ihrer Eltern, was deren Verfolgungsschicksal während des Nationalsozialismus angeht. So kann es auch keineswegs darum gehen, die Überlebenden »endlich zum Sprechen zu bringen«8, als handele es sich um ein pathogenes Symptom. Das – vermeintliche – Schweigen der Überlebenden stellt vielmehr ein wichtiges »Medium« dar, in dem sich die traumatische Geschichte der Überlebenden entfaltet, wie etwa der Schlaf auch eine Voraussetzung dafür ist, dass sich das zunächst Verkannte im Traum darzustellen vermag. Es ist das Schweigen von Überlebenden, das die Rekonstruktion der in ihren Familien permanent präsenten Vergangenheit erst ermöglicht. Vor allem geht es also darum, die im – äußerlichen – Schweigen vermittelten dissoziierten Erinnerungsfragmente zu entschlüsseln. Den Ausgangspunkt hierzu stellen – analog der klinisch-psychoanalytischen Tätigkeit – die Gegenübertragungsreaktionen, die eigenen Affekte und Phantasien dar, deren Analyse eine Annäherung an das Spezifische des Traumas der Shoah erlaubt. In zahlreichen Interviews mit Angehörigen der Zweiten Generation hatte ich die Erfahrung gemacht, dass ich – im Sinne einer projektiven Identifizierung – von den jeweiligen Begegnungen etwas mitbekam, was mich nicht mehr losließ, nämlich bestimmte Gefühle, Bilder oder Eindrücke. Ich hatte des Öfteren das Gefühl, als sei ich von meinen Gesprächspartnern gewissermaßen angesteckt worden. Meines Erachtens handelt es sich hier um die vermittelte Berührung mit Abkömmlingen dessen, was Überlebenden-Eltern als eingekapselte Erinnerungen an das traumatische Geschehen aufbewahren. Da diese Einkapselungen in bestimmten Konfliktsituationen aufbrechen und die Kinder der Überlebenden auf diese Weise mit den 8 Alexandra Rossberg und Johan Lansen (2003) betiteln ihre »Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa«: »Das Schweigen brechen«.

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»gehüteten« Erinnerungen ihrer Eltern in Berührung kommen, sich eben »anstecken«, wird auf diesem Weg die Zweite Generation zum Träger des elterlichen Traumas. Die oben geschilderten Konflikte sind in diesem Sinne als dissoziierte Elemente der traumatischen Erfahrungen der Shoah-Überlebenden zu verstehen. Gleichzeitig sind es genau diese Berührungen mit den »eingekapselten Erinnerungen« der Überlebenden, über die es zur Tradierung der Verfolgungserfahrungen kommt. Wie verborgene Krypten sind die Erinnerungsspuren tief in das Leben der Opfer eingegraben.9 Wenn diese Einkapselungen in bestimmten Krisensituationen aufbrechen, tritt in einigen Fällen keine Depression oder Krankheit auf, sondern die in ihnen enthaltene Aggression.

■ Wie kann man sich die eingekapselten Erinnerungen der Überlebenden vorstellen? Die eingekapselten Erinnerungen der Überlebenden enthalten das unerträgliche Leid, welches ihnen angetan wurde, sowie ihr eigenes Empfinden und Handeln. Sie enthalten die damaligen Gefühle, Phantasien, Ahnungen, Hoffnungen, Ängste und Handlungen; sie umfassen all das, was man in einer unvorstellbaren Welt als Realität erfuhr. Auf diese Weise »bewahren« Überlebende vielfältige Gefühls- und Verhaltensmöglichkeiten aus dem zynischen und pervertierten System der Konzentrationslager, in dem sie als Opfer zu Handlungen gezwungen worden waren, die sie sich unter normalen Umständen nie hätten vorstellen können und die ihnen vermutlich auch im Nachhinein unvorstellbar sind. So erscheinen ihnen die eigenen Erinnerungen wie ein beständiger Ausnahmezustand. Sie sind im Grunde nicht verbalisierbar. Und erst recht entziehen sie sich der sprachlichen Vermittlung an andere. Die traumatischen Erlebnisse vermitteln sich in spontanen oder chronisch auftretenden Gefühlsäußerungen, in gestischen oder mimi9 Vgl. Konzept der »intrapsychischen Grabstätte« und der Kryptophorie von Nicolas Abraham und Maria Torok (1972).

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schen Ausdrucksformen, vor allem unbewusst, insbesondere an die Menschen, die den Überlebenden die nächsten sind, die Töchter und Söhne der Verfolgten. Was nach außen als Schweigen in Erscheinung treten mag, enthält in Wirklichkeit wesentliche nonverbale Mitteilungen über die erlittenen traumatischen Erfahrungen. Lässt man sich von den Überlebenden »anstecken«, so wird in den entstehenden Beziehungen etwas von dem Traumatischen unmerklich tradiert. Die Erfahrungen der Nazi-Verfolgung vergegenwärtigen sich den Überlebenden stets als etwas Fremdes, als fortdauernd eindringende Fremdkörper, die ihr Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Phantasieren und Verhalten prägen. Was jedoch in der Ersten Generation dissoziiert bleibt, wird von den Nachkommen der Opfer nicht in gleicher Weise abgespalten erlebt und eingekapselt, sondern eher zu einem kohärenten Bild »vereinheitlicht«. Was den Überlebenden der Nazi-Verfolgung als »unverlierbare Zeit« (Améry 1977) aufgezwungen und in sie eingebrannt wurde, hat auch die Zweite Generation in Deutschland auf spezifische Art und Weise als an sie vermitteltes Trauma erfahren (vgl. Grünberg 2000a, b). Überlebende wie deren Nachkommen werden im Sinne einer sequentiellen Traumatisierung (vgl. Keilson 1979) auch weiterhin beschädigt, sie werden retraumatisiert, wenn sie sich etwa den vielfältigen Strategien der Verleugnung und Rationalisierung der Shoah ausgesetzt sehen, die hierzulande dazu dienen, sich der Konfrontation mit den beispiellosen Verbrechen der Deutschen zu entziehen. Im Banalisieren des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung suchen nichtjüdische Deutsche oftmals eine Möglichkeit, sich eigener Schuldgefühle zu entledigen (vgl. Grünberg 2001, 2004). Dass Erinnern ein zutiefst sozialer Prozess ist, zeigte der 1945 in Buchenwald von den Nazis ermordete französische Soziologe Maurice Halbwachs in seiner Untersuchung »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen« (1925). Wenn Halbwachs resümiert, »dass das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und dass dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, dass aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann« (Halbwachs 1925,

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S. 390), macht er deutlich, wie abhängig die Menschen in ihren Wahrnehmungen, in den Erinnerungen und in ihrem Denken voneinander sind. Bezogen auf den Nationalsozialismus haben diese Überlegungen eine wichtige Konsequenz: Die überlebenden Opfer der Nazis brauchen letztlich auch die Zeugenschaft der Täter und Mitläufer. In einer Gesellschaft jedoch, in der das VerSchweigen der Nazi-Täter (vgl. Grünberg 2002b) sowie das angebliche Nicht-gewusst-Haben der Nazi-Mitläufer geduldet und mitgetragen wird, müssen sich die Opfer isoliert erleben. So hatte Jean Améry (1977, S. 129) einen deprimierenden Schluss gezogen, als er formulierte: »Die Ressentiments, Emotionsquelle jeder echten Moral, die immer eine Moral für die Unterlegenen war – sie haben geringe oder keine Chancen, den Überwältigern ihr böses Werk zu verbittern. Wir Opfer müssen ›fertigwerden‹ mit dem reaktiven Groll, in jenem Sinne, der einst der KZ-Argot dem Worte ›fertigmachen‹ gab; es bedeutete so viel wie umbringen. Wir müssen und werden bald fertig sein. Bis es soweit ist, bitten wir die durch Nachträgerei in ihrer Ruhe Gestörten um Geduld.« Dass es um diese Geduld nicht allzu gut bestellt ist, zeigen nicht zuletzt die vielfältigen Versuche nichtjüdisch deutscher »Vergangenheitsbewältigung«, von denen bereits die Rede war. In diesen Kontext gehören auch die Bemühungen um eine »Historisierung des Holocaust«. Wenn Jan Philipp Reemtsma schätzt, dass etwa ein weiteres halbes Jahrhundert vergehen wird, in dem »die NSThemen die deutsche Öffentlichkeit noch beschäftigen werden« (Reemtsma 2004, S. 59), klingt dies sehr nüchtern. Erträglicher wird diese Einschätzung dadurch allerdings nicht.

■ Literatur Abraham, N.; Torok, M (1972): Mourning or melancholia. Introjection versus incorporation. In: Abraham, N.; Torok, M.: The Shell and the Kernel. Renewals of Psychoanalysis. Chicago u. a., 1994, S. 125–138. Améry, J. (1977): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart, 1980.

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Barocas, H. A.; Barocas, C. B. (1980): Separation individuation conflicts in children of Holocaust survivors. Journal of Contemporary Psychotherapy 11: 6–14. Bergmann, M. V. (1982): Überlegungen zur Über-Ich-Pathologie Überlebender und ihrer Kinder. In: Bergmann, M. S.; Jucovy, M. E.; Kestenberg, J. S. (Hg.): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M., 1995, S. 322–356. Eickhoff, F.-W. (2004): Über die »unvermeidliche Kühnheit«, »Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen« anzunehmen. Wie unentbehrlich ist der von Freud erschlossene phylogenetische Faktor? Psyche 58: 448–457. Grünberg, K. (2000a): Liebe nach Auschwitz. Die Zweite Generation. Tübingen. Grünberg, K. (2000b): Zur Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Psyche 54: 1002–1037. Grünberg, K. (2001): Vom Banalisieren des Traumas in Deutschland. Ein Bericht über die Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung und über Strategien der Verleugnung und Rationalisierung der Shoah im Land der Täter. In: Grünberg, K.; Straub, J. (Hg.): Unverlierbare Zeit. Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern. Tübingen, S. 181–221. Grünberg, K. (2002a): Zur »Rehabilitierung« des Antisemitismus in Deutschland durch Walser, Möllemann u. a. oder Ich weiß wohl, was es bedeutet. Über das allmähliche Verfertigen des Ressentiments beim Reden: Eine psychoanalytische Betrachtung des Antisemitismus. In: Naumann, M. (Hg.): »Es muß doch in diesem Lande wieder möglich sein …« Der neue Antisemitismus-Streit. München, S. 224–229. Grünberg, K. (2002b): Schweigen, Ver-Schweigen, Verwirren. Juden und Deutsche nach der Shoah. In: Platt, K. (Hg.): Reden von Gewalt. Genozid und Gedächtnis. München, S. 303–326. Grünberg, K. (2004): Vom Mythos objektiver Forschung nach Auschwitz. Unbewußte Verstrickungen in die NS-Vergangenheit bei der Untersuchung psychosozialer Spätfolgen der Shoah in der Bundesrepublik Deutschland. In: Leuzinger-Bohleber, M.; Deserno, H.; Hau, S. (Hg.): Psychoanalyse als Profession und Wissenschaft. Stuttgart u. a., S. 285–303. Haarer, J. (1934): Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München. Halbwachs, M. (1925): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin u. a., 1966. Jucovy, M. E. (1992): Psychoanalytic contributions to Holocaust studies. International Journal of Psycho-Analysis 73: 267–282. Kaminer, I. (1997): Normalität und Nationalsozialismus. Psyche 51: 385–409. Keilson, H. (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart.

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Kestenberg, J. S. (1982): Die Analyse des Kindes eines Überlebenden: Eine metapsychologische Beurteilung. In: Bergmann, M. S.; Jucovy, M. E.; Kestenberg, J. S. (Hg.): Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M., 1995, S. 173–206. Kestenberg, J. S. (1989): Neue Gedanken zur Transposition. Klinische, therapeutische und entwicklungsbedingte Betrachtungen. Jahrbuch der Psychoanalyse 24: 163–189. Leuschner, W. (2001): Thesen zu den Wirkungen der rechtsextremen Musikkultur. Gruppenanalyse 11, Heft 2: 127–130. Leuschner, W. (2004): Dissoziation, Traum, Reassoziation. In: EckhardtHenn, A.; Hoffmann, S. O. (Hg.): Dissoziative Bewusstseinsstörungen. Theorie, Symptomatik, Therapie. Stuttgart u. a., S. 60–73. Lorenzer, A. (1972): Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. Frankfurt a. M., 1981. Reemtsma, J. P. (2004): Wozu Gedenkstätten? Mittelweg 36, 13. Jg., Heft 2: 49– 63. Rosenthal, G. (1997): Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. In: Rosenthal, G. (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen, S. 18–25. Rossberg, A.; Lansen, J. (Hg.) (2003): Das Schweigen brechen. Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa. Frankfurt a. M.

■ Ilka Lennertz

Bindungsmuster bei Flüchtlingskindern1

Vor wenigen Wochen erhielt die achte Klasse einer Berliner Gesamtschule den von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft verliehenen Mete-Eksi-Preis, mit dem die Verständigung zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen gefördert werden soll. Die Schüler erhielten diesen Preis, weil es ihnen gelungen war, die Abschiebung einer bosnischen Mitschülerin zu verhindern (Berliner Zeitung, 15.11.2004). Dass sich das Bemühen um »Integration« und Mitmenschlichkeit hier in der Verhinderung gängiger politischer Praxis zeigt, wird bei solchen Meldungen nicht weiter erwähnt, geradezu selbstverständlich klaffen der moralische und der politisch-praktische Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland weit auseinander. 1 Vor dem Hintergrund, dass Deutschland in der Zeit von 1992 bis 1995 mehr Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufnahm als jedes andere Land außerhalb Jugoslawiens (in absoluten Zahlen), fragt sich auch, wie es überhaupt dazu kommt, dass ein 14-jähriges Mädchen, das hier aufgewachsen ist, von Abschiebung bedroht ist. Der zunächst großzügigen Aufnahme von circa 340.000 Flüchtlingen aus Bosnien2 steht gegenüber, dass Deutschland letztlich nur sehr wenigen Flüchtlingen einen sicheren Aufenthaltsstatus einräumte. Mit der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens im Dezember 1995 änderte sich die Politik gegenüber den Flüchtlingen drastisch: die Flüchtlinge wurden zur Rückkehr 1 Der Beitrag basiert auf meiner Dissertation, die von Frau Prof. Dr. M. Leuzinger-Bohleber betreut wird und mit einem Promotionsstipendium der Heinrich Böll Stiftung sowie einer Sachmittelzuwendung der Köhler Stiftung gefördert wird. 2 Angabe des UNHCR für das Jahr 1997.

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aufgefordert, zum Teil abgeschoben, wer blieb, erhielt jeweils nur eine Duldung von kurzer Dauer, um den Rückkehrdruck zu erhöhen.3 Prozentual hat Deutschland international inzwischen den niedrigsten Anteil an bosnischen Flüchtlingen,4 und immer noch haben viele der wenigen verbliebenen Flüchtlingen nur eine befristete Aufenthaltsbefugnis oder weiterhin eine Duldung. Das Beispiel mit dem gerade noch vor der Abschiebung bewahrten Mädchen zeigt, welchen Belastungen und Unsicherheiten Flüchtlingskinder hier ausgesetzt sind. Ich möchte in meinem Beitrag deshalb nicht nur darauf eingehen, wie sich kriegsbedingte traumatische Erlebnisse bei in Deutschland lebenden bosnischen Flüchtlingskindern auswirken, sondern auch zeigen, wie politische und gesellschaftliche Prozesse nachweisbar in die psychische Ebene eingreifen. Diese Perspektive ist mir nicht nur aufgrund des Themas Flüchtlingskinder wichtig, bei denen wie bei anderen Betroffenen so genannter man made desasters das Ineinandergreifen von gesellschaftlichen und individuellen Verläufen besonders offenkundig wird, sondern auch weil nach meiner Einschätzung im gegenwärtigen Traumadiskurs vor allem Konzepte betont werden, die dem Prozesscharakter von Traumatisierungen nicht gerecht werden – wie etwa die Posttraumatic Stress Disorder (PTSD). Konzepte wie PTSD knüpfen das Vorliegen einer Traumatisierung zudem an das Vorliegen bestimmter Symptome. Auch diese Sicht greift gerade im Kindesalter zu kurz: Erstens können Traumafolgen hier auf sehr unterschiedliche Weise sichtbar werden (Terr 1991; Scheeringa et al. 1995) und zweitens reagieren Kinder oft nicht unmittelbar mit Symptomen, sondern klinisch relevante Folgen gerade sehr früh erlebter Belastungen äußern sich unter Umständen erst langfristig oder nur in einzelnen Bereichen.5 3 Für eine ausführliche Darstellung des politischen Umgangs mit bosnischen Flüchtlingen siehe Mihok (2001). 4 Verglichen mit den Ländern, die zuvor über 20000 Flüchtlinge aufnahmen: in Deutschland sind es 0,045 % der Gesamtbevölkerung, in Schweden dagegen 0,595 %, Stand 2000 (Blaschke et al. 2001). 5 Melzak (1995) beschreibt gerade nicht ein einheitliches Symptombild als charakteristisch für Flüchtlingskinder, sondern vor allem eine »ungleichzeitige« Entwicklung mit Entwicklungssprüngen und besonderen Fähigkeiten wie hohe Anpassungsfähigkeit und Verantwortungsübernahme

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Tradierung von Trauma und Gewalt

Im Rahmen meiner Doktorarbeit untersuche ich, inwiefern sich mittels Bindungsinterviews Einblicke in die Lebenssituation und die individuelle Traumaverarbeitung von in Deutschland lebenden bosnischen Flüchtlingskindern gewinnen lassen, die (noch) keine manifesten Symptome entwickelt haben und sich nicht in therapeutischer Behandlung befinden. Dabei zeigt sich vor allem, wie bei Flüchtlingskindern intergenerationale und sequentielle Traumatisierungen zusammenwirken: Die Interviews spiegeln nicht nur die individuelle Ebene, sondern auch die Folgen der gesamten sozialen und rechtlichen Situation.

■ Intergenerationale und sequentielle Traumatisierungen bei Flüchtlingskindern Flüchtlingskinder sind oft komplexen Traumatisierungen ausgesetzt. Drei Arten potenziell traumatischer Erlebnisse lassen sich unterscheiden: Erstens erleben viele Kinder im Zusammenhang mit Krieg und Flucht traumatische Situationen; neben dem Verlust der vertrauten Umgebung gehört hierzu vor allem der Verlust naher Angehöriger, oft des Vaters. Von den von mir interviewten elf Kindern lebten beispielsweise nur drei Kinder zum Untersuchungszeitpunkt mit beiden Eltern zusammen. Die Väter von fünf Kindern gelten weiterhin als vermisst, bei drei Kindern haben sich die Eltern scheiden lassen, auch dies war nach dem Krieg in Bosnien ein sehr häufiges Phänomen. Einige Kinder haben Kriegshandlungen miterlebt und fast alle lange, zum Teil gefährliche Zeiten der Flucht, die die Flüchtlinge oft in überfüllten Sammelunterkünften und mit schlechter Lebensmittelversorgung verbrachten, bis die in vie-

einerseits und spezifischen Vulnerabilitäten andererseits. Wie sich das Erleben von Krieg und Flucht im Kindesalter auch noch nach Jahrzehnten auswirken und zum Aufsuchen therapeutischer Hilfe führen kann, lässt sich bezogen auf Kindheiten im Zweiten Weltkrieg unter anderem bei Radebold (2003) und Leuzinger-Bohleber (2003) nachlesen.

I. Lennertz · Bindungsmuster bei Flüchtlingskindern

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len Fällen illegale und damit wiederum nicht ungefährliche Einreise nach Deutschland gelang. Zweitens sind Flüchtlingskinder häufig von intergenerationalen Traumatisierungen betroffen, das heißt, nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern sind traumatisiert. In der Folge wachsen die Kinder in einer chronisch belasteten Familiensituation auf, in der sie nur eingeschränkt von ihren Eltern emotional unterstützt werden können. Gerade bei intergenerationalen Traumatisierungen kommt der Qualität der Bindungsbeziehung eine besondere Bedeutung zu. Hier entsteht ein doppelter Zusammenhang zwischen Trauma und Bindung: Ein sicheres Bindungsmuster kann ein wichtiger Schutzfaktor sein und die Verarbeitung von kritischen Lebensereignissen erleichtern (Bretherton 2001a; Rutter 1990; Werner 1990). Sicher gebundene Kinder haben nicht nur die Erfahrung gemacht, dass ihre Bezugspersonen verfügbar sind und sie unterstützen können, sondern sind zudem in der Lage, Bindungsbeziehungen in Problemsituationen für sich zu nutzen, indem sie aktiv Nähe zu hilfreichen Erwachsenen suchen. Sie haben damit bessere Chancen, auch traumatische Erlebnisse zu bewältigen. Umgekehrt bleiben Bindungsmuster jedoch nur stabil, wenn auch die Interaktionserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen – vor allem deren emotionale Verfügbarkeit – bis zum Jugendalter konstant bleiben (Zimmermann et al. 1999).6 Gerade nach bindungsrelevanten Ereignissen, wie etwa einer Trennung der Eltern, einer schweren Erkrankung oder dem Verlust eines Elternteils, kann es sein, dass ein zuvor sicher gebundenes Kind sekundär ein unsicheres Bindungsmuster entwickelt, insbesondere, wenn keine anderen Bezugspersonen oder Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Damit kann auch eine Traumatisierung der Be6 Teilweise wird in der Rezeption der Bindungstheorie fälschlich davon ausgegangen, dass sich das in den ersten zwei Lebensjahren entwickelte Arbeitsmodell von Bindung später nicht mehr ändern würde. Davon ging jedoch weder Bowlby (1988) selbst aus, noch spricht die empirische Forschung dafür (Zimmermann et al. 2000; Zimmermann et al. 1999): Sowohl im Zusammenhang mit gravierenden bindungsrelevanten Risikofaktoren, aber auch bei positiven Veränderungen der Beziehungserfahrung – etwa im Rahmen von Therapie – kann sich das Bindungsmuster ändern, wobei nach Bowlby diese Flexibilität mit zunehmenden Alter schwindet.

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zugsperson eine Veränderung des Bindungsmusters bewirken, vor allem wenn diese, wie bei vielen Flüchtlingskindern, zur Traumatisierung des Kindes hinzukommt. Kinder, deren Eltern bereits vor der Geburt des Kindes traumatische Erlebnisse hatten und diese nicht verarbeiten konnten, entwickeln zum Teil gar kein organisiertes Bindungsverhalten, sondern zeigen ein so genanntes desorientiertes/desorganisiertes Bindungsmuster.7 Auch wenn die Frage, ob ein Kind sicher oder unsicher gebunden ist, nichts über psychische Gesundheit oder Stabilität aussagt, scheint unsichere Bindung mit einer erhöhten Vulnerabilität einherzugehen: In klinischen Stichproben und in Hochrisikostichproben finden sich überzufällig häufig Personen mit unsicheren, beziehungsweise desorganisierten Bindungsmustern, und gerade bei Letzteren ist der Übergang zur Psychopathologie fließend (Greenberg 1999; Brisch 1999). Als dritte mögliche Ursache für traumatische Prozesse bei Flüchtlingskindern kommt die bereits angesprochene rechtliche und soziale Situation im Aufnahmeland hinzu, die eine eigene traumatische Qualität annehmen kann. Hans Keilson (1979) hat in seiner Follow-up- Studie zur psychosozialen Situation jüdischer Waisenkinder nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem gezeigt, dass traumatische Prozesse andauern können, auch wenn die eigentliche Verfolgungssituation vorüber ist. Für die Entwicklung der von ihm untersuchten Kinder war es langfristig weniger entscheidend, wie schwerwiegend die Verfolgungserlebnisse im Einzelnen waren, sondern als wie unterstützend die anschließende Betreuungssituation erlebt wurde. Zur Betreuungssituation gehörte hierbei jedoch nicht nur die unmittelbare Beziehung zwischen den Kindern und Bezugspersonen, sondern das gesamte psychosoziale Umfeld. Mit dem von Keilson geprägten Begriff der »sequentiellen Traumatisierung« lässt sich also fragen, ob die Phase des Aufenthalts in Deutschland eine »dritte traumatische Sequenz« 7 Siehe hierzu ausführlich Hesse u. Main (2002) und Main u. Hesse (1990). Desorganisiertes Bindungsverhalten findet sich auch bei Kindern, bei denen die Bindungsbeziehung selbst von Traumata geprägt ist, wie etwa bei innerfamiliärem Missbrauch.

I. Lennertz · Bindungsmuster bei Flüchtlingskindern

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darstellt8 und wie sich diese auf die geschilderten intergenerationalen Prozesse auswirkt.

■ Beispiele aus Bindungsinterviews Anliegen der Studie war eine explorative, einzelfallorientierte Untersuchung der Lebenssituation und von Hinweisen auf mögliche Traumatisierungen bei bosnischen Flüchtlingskindern, die zu einer Nicht-Inanspruchnahmepopulation gehören. Dabei war eine Ausgangsüberlegung, dass sich in einer solchen Gruppe sowohl Kinder mit stärkerer als auch mit weniger starker Belastung befinden, sodass sich untersuchen lässt, welche Rolle in diesem Kontext der Bindungssicherheit zukommt. Bindungsinterviews wurden dafür mit elf neun bis vierzehnjährigen bosnischen Flüchtlingskindern geführt, die seit acht bis zwölf Jahren in Berlin leben. Im Gegensatz zu den Kindern hatten ihre Eltern, meistens die Mütter, Kontakt zu Therapeutinnen und Therapeuten beziehungsweise Beratungsstellen und waren entweder bereits als »traumatisierte Flüchtlinge« anerkannt oder hatten dies beantragt.9 In Gesprächen mit den Eltern zeigte sich, dass alle Familien diversen traumatischen Situationen ausgesetzt waren, und die Eltern berichteten über traumabezogene Symptome. Für die Erfassung der Bindungsqualität wurde das halbstrukturierte »Bindungsinterview Späte Kindheit« (Zimmermann u. Scheuerer-Englisch 2000) verwendet, mit dem ebenso die kindliche Repräsentation der Verfügbarkeit der Eltern erfasst wird, vor allem in emotional belastenden Situationen, wie auch die Bin8 Keilson entwickelte das Modell in Anlehnung an das Konzept der »kumulativen Traumatisierung« von Masud Khan. Bezogen auf seine Untersuchung unterschied er die folgenden Sequenzen: 1. die feindliche Besetzung der Niederlande, 2. Verfolgung, Trennung von den Eltern, teilweise Aufenthalt in KZ oder Verstecken und 3. die Nachkriegszeit mit Vormundschaftszuweisungen und teilweise einem Wechsel der Pflegefamilien. 9 Auf diese besondere »Traumaregelung«, die den Kontakt zu Therapeutinnen und Therapeuten quasi erfordert, gehe ich am Ende dieses Beitrags ein.

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dungsverhaltensstrategie (beziehungsorientiert, wechselnd oder vermeidend) des Kindes bei Kummer oder Angst und bei Alltagsproblemen wie Streit oder Angst vor Klassenarbeiten. Gerade in einem nicht-klinischen Rahmen ermöglicht das Interview damit einen Zugang zu den inneren Repräsentanzen und dem subjektiven Erleben der Kinder. Zusätzlich wurden ein projektives Verfahren (der »Schwarzfuß-Test«, Corman 1995) und verschiedene psychodiagnostische Methoden eingesetzt sowie mit den Eltern »Adult Attachment Interviews« (Erwachsenenbindungsinterviews) durchgeführt. Fast alle interviewten Kinder zeigten Hinweise auf ein unsicheres Bindungsmuster,10 während mit einer Ausnahme weder Kinder noch Eltern über klinisch relevante Symptome oder Verhaltensprobleme berichteten. Lediglich ein Mädchen beschrieb verlässliche emotionale Unterstützung durch ihre Eltern und schilderte beziehungsorientiertes Verhalten bei Gefühlen wie Angst, Kummer oder Hilflosigkeit. Sie erzählte beispielsweise mehrfach im Interview, wie es sich bei Ärger oder Kummer an die Mutter wende und diese auf sie eingehe. Auch auf die Frage »wer kann dich denn trösten?« antwortete sie spontan »am besten meine Mutter« und ihr fielen zu solchen Situationen – ein Indiz für eine sichere Bindungsstrategie – Beispiele ein. Bindungsvermeidende Kinder11, und das waren mit drei Mädchen und vier Jungen die meisten in dieser Gruppe, haben bei dieser Frage häufig »eigentlich keiner« oder ähnliches geantwortet. Sie gaben an, sich bei Kummer, Ärger oder Angst für längere Zeit in ihr Zimmer zurückzuziehen ohne das Erlebnis später noch mal mit einer Bezugsperson zu bespre10 Die Auswertung der Bindungsinterviews wurde von einer unabhängigen Raterin, Dipl.-Psych. Sue Kellinghaus, Regensburg, der ich an dieser Stelle herzlich danke, übernommen. 11 Das »Bindungsinterview Späte Kindheit« ermöglicht eine Differenzierung zwischen sicherer und unsicherer Bindung, während die Unterscheidung zwischen einer »unsicher-vermeidenden« bzw. »unsicher-ambivalenten« Strategie noch getestet wird (Zimmermann u. Scheuerer-Englisch 2003). Wenn ich hier von »unsicher-vermeidenden« Bindungsstrategien spreche, dann beruht dies auf einer einzelfallorientierten Einschätzung, die sowohl auf der Interviewauswertung nach inhaltlichen und formalen Kriterien als auch auf dem verwendeten projektiven Verfahren basiert.

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chen. Ein Mädchen ließ sich auf solche Fragen gar nicht erst ein, sondern sagte, nie traurig zu sein oder Kummer zu haben. In den Antworten von A., einem 12-jährigen Jungen, dessen Interview typisch für die Stichprobe ist, wird dabei nicht nur deutlich, dass er selber negative Gefühle kaum wahrzunehmen scheint, sondern aus seiner Sicht auch eigentlich niemand mitbekommt, wenn ihn etwas belastet. Dies gilt auch für »Ärger« oder »Weinen«, wie der folgende Ausschnitt zeigt. Die langen Pausen und knappen Antworten sind charakteristisch für ihn. Er ist insgesamt mir gegenüber sehr höflich und freundlich und wirkt im Interview eher nachdenklich als brüsk oder ablehnend: I.: Merkt deine Mutter, wenn dich mal was ärgert? A.: Ne, (hm) ich glaube nicht. I.: Du glaubst nicht? Wann hast du dich denn zum letzten Mal über etwas geärgert? A.: Äh, … (3 sec) weiß ich nicht. (hm) I.: – Kommt es denn mal vor, dass du mal weinst? A.: Äh, – nöö. I.: Noch nie? Auch nicht früher, dass du mal wegen irgendwas geweint hast? A.: Ja, früher schon (hm). I.: Wann hast du denn früher mal geweint? A.: Ja, äh, … (4 sec) weiß ich nicht. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass er es auch nicht mag, wenn jemand bemerkt, dass es ihm nicht gut geht, ebenso wie er offensichtlich der Interviewsituation auszuweichen versucht.12 Dass ihm jeweils keine konkreten Situationen einfallen, zieht sich ebenfalls durch das gesamte Interview und ist bindungstheoretisch neben den knappen Antworten und dem geschilderten Rückzugs12 Hierzu ist methodenkritisch anzumerken, dass die Frage, inwiefern Übertragungsprozesse die Interviewsituation beeinflussen, in der Bindungsforschung nicht problematisiert wird: Es wird davon ausgegangen, dass die jeweiligen Methoden geeignet sind, Bindungsverhalten zu aktivieren und damit »beobachtbar« zu machen. Bei A. wäre beispielsweise zu überlegen, inwieweit er sich durch die Interviewsituation bedrängt fühlte und ob dies tatsächlich nur auf seiner Bindungsstrategie beruht oder weitere Faktoren mit hineinspielen.

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verhalten in belastenden Situationen ein weiteres Kennzeichen einer bindungvermeidenden Strategie. Von der Beziehung A.s zu seiner Mutter entsteht dementsprechend kein lebendiges Bild. Er bejaht zwar mehrmals Fragen danach, ob er sich von seiner Mutter unterstützt fühle, aber außer, dass sie ihm bei den Hausaufgaben helfe, fällt ihm hierzu kein konkretes Beispiel ein. Seine Beschreibung wirkt dadurch idealisierend. Die von A. geschilderte mangelnde Sensibilität der Mutter könnte ein Hinweis auf eine Traumatisierung der Mutter sein13. Zu dieser Beobachtung passt auch, dass das einzige Gefühl, dass A. im Zusammenhang mit der Beziehung zu seiner Mutter nennt, Angst ist. »Angst« taucht dabei auch unvermittelt im Interview auf, zum Beispiel in der Anfangssequenz, in der ich nach seinen Hobbys frage. Er erzählt, dass er gerne Fußball spiele. Als ich frage, ob ihn seine Mutter darin unterstützen würde, antwortet er: A.: Ja, aber sie interessiert sich nicht dafür (mhm, mhm). Sie mag es lieber, wenn ich zu Hause bin. I.: – Mhm. Warum mag sie lieber, wenn du zu Hause bist? A.: Ja, sonst hat sie immer Angst, dass mir was passiert und so. I.: – Aha, sagt sie das oder woher weißt du das? A.: Ja, sie sagt das öfter. I.: Und wie findest du das, wenn sie das sagt? A.: Na gut. Die kümmert sich ja wenigstens um mich dann. Der letzte Satz von A. wirkt so, als würde A. vor allem durch die Angst der Mutter spüren, dass sie sich um ihn kümmert. Im weiteren Verlauf des Interviews wird erkennbar, wie A. durch die Angst seiner Mutter auch in seinen Aktivitäten eingeschränkt ist und beispielsweise nicht an einem Sporttraining seiner Schule teilnimmt. Sowohl die Erwähnung von Ängsten der Eltern beziehungsweise Mütter als auch ein solcher Verzicht auf eigene Aktivitäten sind in 13 Die Gespräche sowohl mit A.s Mutter, als auch mit den anderen Eltern zeigen übrigens, dass die Eltern sehr wohl und auch sensibel wahrnehmen, wie es ihren Kindern geht, allerdings vermutlich aufgrund der eigenen Traumatisierung nicht oder nur kaum in der Lage sind, dieses Wissen in unterstützendes Verhalten umzusetzen. Mehrere Mütter beschrieben auch ihre große Angst, dass auch mit dem Kind »etwas sein könnte«.

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den Interviews mit den Flüchtlingskindern häufig. Während A. die Angst der Mutter anspricht, antwortet er allerdings auf die Frage, ob seine Mutter denn auch mal traurig sei: »Äh ne. Ich bemerke es nicht, wenn sie mal traurig ist.« Da die Mutter angibt, sehr häufig traurig zu sein und zu weinen, ist auch dies eine überraschende Antwort und es stellt sich die Frage, wie sein »nicht bemerken« verstanden werden kann. Angesichts der Traumatisierung der Mutter, die sich in den Interviews mit ihr deutlich zeigte, nehme ich an, dass A. nicht nur sich, sondern auch seine Mutter schützt, indem er ihre Traurigkeit nicht nur eventuell nicht wahrnimmt beziehungsweise verdrängt, sondern sie vor allem auch gegenüber der Mutter nicht thematisiert. Wirft man einen Blick auf A.s Biografie, dann werden sowohl seine vermeidende Strategie als auch die (Verlust-)Angst der Mutter, die seine Bindungsbeziehung zu prägen scheint, verständlich: A. wurde in Srebrenica geboren, wo er bis zu seinem vierten Lebensjahr lebte. Bei Kriegsausbruch war er 22 Monate alt. Bis zu diesem Zeitpunkt beschreibt die Mutter das Leben der Familie als glücklich. 1995 spitzte sich die Situation in der damaligen UNSchutzzone dramatisch zu. Die Großmutter konnte mit dem fast fünfjährigen Jungen schließlich Anfang Juli flüchten, wenige Tage bevor 7.000–8.000 bosnisch-muslimische Jungen und Männer von serbischen Militärs und Militärpolizisten umgebracht wurden. Darunter waren auch A.s Vater, sein Großvater, zwei Onkel und mehrere Cousins, die offiziell jedoch nach wie vor als vermisst gelten. Seine Mutter konnte erst mit dem letzten LKW-Konvoi, mit denen damals Frauen und Kinder aus der Stadt gebracht wurden, Srebrenica verlassen. Sie wurde Zeugin von Ermordungen und wusste über Tage nichts über das Schicksal ihres Sohnes und der Großmutter. Wie die meisten der von mir interviewten Kinder ist A. ein guter Schüler und zeigt keine auffälligen klinischen Symptome. In ihrem sozialen Umfeld fallen die Kinder aufgrund ihrer enormen Anpassungsleistungen kaum auf und es entsteht die Gefahr, dass die Überforderung, zu der eine solche Anpassungsleistung führen kann, ebenfalls unbemerkt bleibt. Im Gegensatz zu einigen anderen Kindern, die sich kaum oder nur wenig auf das projektive Verfahren einlassen konnten, erfindet

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A. in diesem Rahmen eine sehr phantasiereiche Geschichte. Der Schwarzfuß-Test14 gibt bei ihm noch deutlichere Einblicke in seine Traumaverarbeitung als das Bindungsinterview, vor allem wird hier der Verlust des Vaters thematisiert: Die auf den vorgelegten Bildern deutlich dargestellte (vollständige) Schäfchenfamilie greift A. nicht auf, sondern interpretiert die »Erwachsenen« als Kinder, die »erwachsen geworden sind«. »Eltern« tauchen damit nicht auf, bis Schwarzfuß, der »kindliche« Protagonist der Geschichte, schließlich selbst Vater wird, allerdings dann das Kind wiederum verliert. Sowohl eine forcierte Autonomieentwicklung als auch traumakompensatorische Schemata, vor allem in Bezug auf Verlust, werden deutlich. Im Zusammenhang mit dem Bindungsinterview ist dabei auch interessant, dass die Figur einer Mutter in seiner Geschichte gar nicht, auch nicht in idealisierter Weise, vorkommt. Dies bestätigt in gewisser Weise die Annahme der Bindungsforschung, dass bei unsicherer Bindung zwei interne Arbeitsmodelle entwickelt werden, wobei das »realistischere«, in diesem Fall also das über die nicht zur Verfügung stehende Mutter, bewusst weniger zugänglich ist als ein bewusstes, generalisiertes und idealisiertes Modell (Bretherton 2001b). Vermutlich zeigte sich im Schwarzfuß-Test das weniger bewusste Modell. Wie erwähnt waren viele Bindungsinterviews demjenigen mit A. im Verlauf ähnlich, es zeigte sich dann vor allem die elterliche Traumatisierung. Auch in Fällen, in denen die Eltern als unterstützender erlebt wurden, thematisierten die Kinder zum Beispiel die Ängste der Eltern oder auch deren Traurigkeit. Das eingangs erwähnte Mädchen schilderte beispielsweise, wie es seine Mutter tröstet. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie lässt sich nicht beurteilen, ob die Kinder eventuell bereits vor dem Erleben von Krieg und Flucht unsichere Bindungsmuster entwickelt hatten, 14 Der Schwarzfuß-Test besteht aus einer Reihe von Bildern, die eine Schäfchenfamilie rund und den »Protagonisten« mit der namengebenden schwarzen Pfote darstellen. Die Bilder stellen verschiedene Alltags- und Konfliktsituationen dar, zu denen die Kinder Geschichte erzählen sollen. In der Originalversion handelt es sich um Schweinchen, aufgrund der vielen muslimischen Kinder wurde hier die Parallelversion mit den Schäfchenkarten verwendet.

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hier wäre vor allem zu diskutieren, welche kulturellen Einflüsse eine Rolle spielen könnten. Allerdings sind die gefundenen Verteilungsunterschiede von Bindungsmustern in kulturvergleichenden Studien nicht so gravierend, dass sich der sehr hohe Anteil an unsicheren Bindungsmustern bei bosnischen Kindern damit erklären ließe.15 Aufgrund der am Beispiel von A.s Interview geschilderten Dynamik zwischen dem Jungen und seiner Mutter, erscheint es mir eher wahrscheinlich, dass wegen der intergenerationalen Traumatisierung hier eine Gefahr besteht, dass sich bei den Flüchtlingskindern – unter Umständen sekundär – unsichere Bindungsmuster verfestigen. Gerade an A.s Beispiel wird deutlich, wie seine unsicher-vermeidende Bindungsstrategie zu einer vermeintlich stabilen Familiensituation beiträgt. Indem er vor allem seine negativen Gefühle unterdrückt, konfrontiert er die Mutter nicht mit der komplexen Belastungssituation, in der sich beiden befinden. Gleichzeitig gerät er selbst auf diese Weise nicht in die Situation, zu erleben, dass seine Mutter sehr wahrscheinlich überfordert wäre, wenn er sichtbar auf die Traumatisierung reagieren würde. Nur bei zwei Kindern zeigten sich Hinweise auf desorganisiertes Bindungsverhalten, in beiden Fällen ergaben die geführten Elterninterviews, dass die Mütter schon vor der Geburt der Kinder traumatische Erlebnisse hatten. Die anderen Kinder konnten vermutlich schon vor Kriegs- beziehungsweise Fluchtbeginn organisierte Bindungsmuster entwickeln. 15 In Bindungsstudien mit Nicht-Risikopopulationen in China, Israel, Japan, afrikanischen Ländern, den USA und Westeuropa wurden jeweils über die Hälfte der Kinder als sicher gebunden eingeschätzt (van Ijzendoorn u. Sagi 1999, S. 729). Knüpft man den Kulturbegriff allerdings nicht an »Nationalität« und vergleicht Stichproben aus verschiedenen sozialen Schichten (z. B. Stadt-Land), finden sich größere Unterschiede. Da die von mir interviewten Familien sowohl bezogen auf ihren sozioökonomischen Status (vor der Flucht), ihren Bildungshintergrund und ihre ethnisch/religiöse Zugehörigkeit differierten, lassen sich jedoch keine schlüssigen Erklärungen für den hohen Anteil an bindungsunsicheren Kindern formulieren – von der Verteilung der Bindungsmuster ähnelt diese Gruppe klinischen Stichproben. Zu bedenken ist allerdings, dass es sich bei »Bindung« um ein angloamerikanisch geprägtes Konstrukt handelt, dessen Angemessenheit vor allem auf methodischer Ebene jeweils kulturspezifisch überprüft werden muss. Für die vorliegende Studie wird eine solche Überprüfung zurzeit exemplarisch vorgenommen.

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■ Gesellschaftliche Desintegration und Aufrechterhaltung der Traumatisierung Verlässt man die individualpsychologische Ebene, so ergibt sich noch ein anderer Blick auf die Interviews: Zum einen fällt auf, dass die Kinder außer der Mutter – und in den wenigen Fällen dem Vater – auch auf Nachfrage keine weiteren für sie bedeutsamen Bezugspersonen nannten. Dabei scheinen gesellschaftliche und individuelle Isolationsprozesse ineinander zu greifen: Die Eltern ziehen sich aufgrund ihrer Traumatisierung zurück, die Kinder entwickeln zumindest zum Teil ein bindungsvermeidendes Verhalten, was den Aufbau naher, vertrauensvoller Beziehungen auch zu Dritten erschwert. Gleichzeitig fördern die Aufenthaltsbedingungen die soziale Isolation, denn dass in den Interviews nur selten Großeltern oder andere Verwandte erwähnt wurden, die gerade für diese Kinder wichtige Ansprechpartner sein könnten, ist auch politisch verursacht. Auch die Gruppe der traumatisierten Flüchtlinge hat in Deutschland über Jahre jeweils nur eine Duldung erhalten, mit der es den Flüchtlingen beispielsweise nicht erlaubt war, zu reisen (Mihok 2001).16 Selbst zu Verwandten oder Freunden, die sich ebenfalls in Deutschland, aber in anderen Städten aufhielten, bestand so über Jahre nur telefonischer Kontakt. Das Gleiche gilt für Angehörige in Bosnien, wo viele Großeltern der von mir interviewten Kinder leben, die diese allerdings erst mit neun, zehn oder elf Jahren kennen lernen konnten. Nicht reisen zu dürfen, bedeutete für die Flüchtlingskinder außerdem, nicht oder nur mit Schwierigkeiten an Klassenfahrten oder Fahrten des Sportvereins et cetera teilnehmen zu können. Damit wurden nicht nur wichtige familiäre Kontakte unterbro-

16 Eine Duldung stellt keinen aufenthaltsrechtlichen Status dar, sondern bedeutet lediglich eine »Aussetzung der Abschiebung«, die meistens nur auf wenige Monate begrenzt ausgesprochen wird. Die von mir interviewten Familien verfügten in den ersten acht bis zehn Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland lediglich über eine solche Duldung, bei zwei Familien ist dies nach wie vor der Fall.

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chen, sondern es wurde den Flüchtlingen auch systematisch erschwert, neue Beziehung in Deutschland aufbauen zu können.17 Zum anderen fragt sich, wie sich die weiterhin sehr große Belastung der Eltern, insbesondere der Mütter, erklären lässt. In den Interviews mit den Eltern stehen auch acht bis zwölf Jahre nach der Flucht die aktuellen Lebensbedingungen und die chronische psychische Belastung aufgrund der Traumatisierung als größtes Problem im Vordergrund. Angesichts der teilweise extremen traumatischen Erlebnisse wäre zwar auch unter sehr günstigen Bedingungen nicht von einer schnellen »therapeutischen Bewältigung« auszugehen, aber auch hier wurden therapeutische Prozesse von politischer Seite mit verhindert. Aufgrund der immer wieder drohenden Abschiebung waren therapeutische Behandlungen im eigentlichen Sinne über Jahre kaum möglich, da sich die Flüchtlinge quasi permanent in einer Krisensituation befanden (RösselCunovic 1999). Traumatisierten Kriegsflüchtlingen wurde erst im November 2000 von der Innenministerkonferenz ein Recht auf eine Aufenthaltsbefugnis eingeräumt (Mihok 2001). Diese so genannte »Traumaregelung« wurde jedoch an diverse Kriterien geknüpft und erfordert unter anderem das Vorliegen einer »begutachteten Traumatisierung«. Der Prozess der Begutachtung wurde von vielen Flüchtlingen (und auch Gutachtern und Therapeuten) wiederum als sehr belastend erlebt, zumal gerade in Berlin die Gutachten von der Ausländerbehörde oft nicht anerkannt wurden. Die Flüchtlinge mussten sich dann in langwierigen Prozessen ihr Recht auf eine Aufenthaltsbefugnis vor Gericht erstreiten. In der »Traumaregelung« werden nicht nur aufgrund der Begutachtungsprobleme auf hoch problematische Weise politische Entscheidungen an psychiatrische Konventionen geknüpft, sondern auch das Aufenthaltsrecht an »Krankheit«. Bessert sich der psychische Zustand des Flüchtlings, besteht kein Grund für weiteren Aufenthalt in Deutschland. Mit der »Traumaregelung« wird damit weiterhin nur vordergründig anerkannt, was die Gruppe 17 Dies wurde auch durch die inzwischen weitgehend aufgehobenen Forderung, dass die Flüchtlinge in Heimen leben müssen, sowie durch die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis verhindert.

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der traumatisierten Flüchtlinge erlebt hat. Traumatische Prozesse werden so aufrechterhalten, wenn nicht gar verursacht. Die sozialen und rechtlichen Bedingungen verschärfen damit die in den Bindungsinterviews beobachtbaren Folgen der intergenerationalen Traumatisierung. Diese Wechselwirkung ließe sich aufheben, wenn sich traumatisierte Flüchtlinge im Exilland, in diesem Fall Deutschland, sicher fühlen könnten und therapeutische Prozesse tatsächlich möglich würden. Die Bindungsinterviews zeigen außerdem, dass auch die Flüchtlingskinder, die auf den ersten Blick gut angepasst wirken, besonderer Unterstützung bedürfen, damit langfristige Folgen verhindert werden.

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■ Karolina Solojed, Ingrid Kerz-Rühling und Marianne Leuzinger-Bohleber

Psychische Folgen des stalinistischen Terrors in Russland

■ Ingrid Kerz-Rühling

Einführender Kommentar Die Belastungen, die Menschen in Russland während der stalinistischen Säuberungen in Gefängnissen, auf den Transporten und in den Lagern ertragen mussten, waren so traumatisch, dass die meisten sie nie verarbeiten konnten. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurden erstmals von Chruschtschow die ungeheuerlichen Gräueltaten Stalins angeprangert. Der Prozess der Rehabilitierung der Opfer, der in seiner Regierungszeit begonnen hatte, wurde kurze Zeit später wieder unterbunden, und erst Ende der 1980er Jahre fand eine erneute Auseinandersetzung mit den politischen Repressionen statt. Die gesellschaftliche Aufarbeitung erfolgte jedoch weniger durch staatliche Stellen als in Kreisen der gesellschaftlichen Reformbewegung, der unter anderen ehemalige politische Gefangene und ihre Angehörigen angehörten. Für die Bewältigung der psychischen Störungen, die wir bei allen durch politischen Terror traumatisierten Personen finden, ist nach der Beendigung der Verfolgung neben der individuellen Verarbeitung eine unterstützende, die Traumatisierung anerkennende Umgebung notwendig. Wird den Opfern die gesellschaftliche Anerkennung jedoch verweigert oder werden sie sogar selbst für die politische Verfolgung verantwortlich gemacht, so ist die Folge erneute Angst und Rückzug. Dies kann dazu führen, dass die Opfer später zu Schuld- und Schamgefühlen neigen, die eigentlich die Täter empfinden müssten. Das paranoide Klima, das auch nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen in einigen Ländern

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weiter besteht, erschwert die Bewältigung des Traumas. Insbesondere ist es sehr schmerzlich für politisch Verfolgte zu sehen, dass ihre Peiniger erneut wichtige Funktionsträger sind, ihre Schuld nicht eingestehen und keiner Strafverfolgung unterliegen. Unter dem Eindruck neuer Unrechtserfahrungen bricht die Symptomatik des teilweise kompensierten ursprünglichen Traumas auch nach dem Ende der Verfolgung wieder auf. Es kommt zu einer Art sekundärem Trauma. Die Aufarbeitung der Verfolgung und Unterdrückung in den Ländern Mittel- und Osteuropas war nach der politischen Wende 1989 sehr unterschiedlich, teilweise kam es daher zu erneuten psychischen Verletzungen. In Russland finden die Opfer der stalinistischen Repressionen in den letzten Jahren weniger staatliche Anerkennung und Unterstützung als zur Zeit Gorbatschows, sodass auch heute noch viele unter Ängsten leiden und kaum über ihre Erfahrung im Gefängnis oder in den Lagern zu sprechen wagen. Das 1991 erlassene Gesetz »Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen« brachte nicht allen Opfern eine angemessene Entschädigung, obwohl nicht nur Zehntausende Lebender, sondern auch Hunderttausende Verstorbener ihre bürgerliche Ehre zurückerhielten. Einerseits wagten viele Verfolgte nicht ihren Anspruch anzumelden, andererseits erhielten aus finanzpolitischen Gründen viele Opfer keine ausreichende Entschädigungszahlung. Eine Anklage der Täter fand in Russland nicht wie in anderen ehemals kommunistischen Ländern statt. Während die in der ehemaligen DDR Verfolgten ab 1992 die Möglichkeit bekamen, aufgrund des Stasiunterlagengesetzes ihre Akten einzusehen, und Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi auf Antrag einer Unterprüfung unterzogen wurden, dauerte es in den anderen Länder sehr viel länger, bis man mit der Aufdeckung der Täter und der Rehabilitierung der Opfer begann. In der Tschechoslowakei wurde ebenfalls 1991 ein Lustrationsgesetz (Durchleuchtung) erlassen, das Mitarbeitern der Staatssicherheit und hohen kommunistischen Kadern für fünf beziehungsweise nach Fristverlängerung für zehn Jahre keinen Zugang zu Stellen in der Staatsverwaltung und Staatsführung erlaubte. 1995 wurde in Tschechien das Amt für die Untersuchung und Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus (UDV) gegründet, eine der Gauck- be-

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ziehungsweise Birthler-Behörde vergleichbare Institution. Es war zwar nicht möglich, sämtliche Verbrechen des kommunistischen Regimes zu dokumentieren und zu bestrafen, aber für des Rechtsbewusstsein der Bürger, insbesondere der Opfer, war es wichtig, dass überhaupt die Möglichkeit der Strafverfolgung bestand. In Ungarn fand die Verfolgung der Täter seit 1994 in viel geringerem Umfang statt und in Polen erst seit 1997. Die 1998 gegründete polnische Behörde »Das Institut für nationales Gedenken«, die ebenfalls den verfolgten Bürgern Einsicht in Akten der Sicherheitsdienste gewähren soll, dient außerdem dazu, Richter, staatliche Bedienstete und Amtsinhaber in öffentlichen Medien zu überprüfen. Polnische durch die Sicherheitsdienste überwachte Bürger haben jedoch viel weniger von der Akteneinsicht Gebrauch gemacht als in der DDR Verfolgte. Aus Angst vor der Spaltung der Gesellschaft forderten in Polen auch ehemalige Dissidenten, einen Schluss-Strich zu ziehen. Um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist es jedoch notwendig, die Verbrechen staatlicherseits anzuerkennen und gegen die Täter Anklage zu erheben. In Russland ist es nicht eine staatliche Institution, sondern die 1988 gegründete Nichtregierungsorganisation Memorial, die sich für die Rechte der Opfer und die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzt. Memorial ist eine durch private Spenden finanzierte Organisation, die aus 80 unabhängigen Organisationen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR und auch über deren Grenzen hinaus besteht. Memorial hat sich außer der Unterstützung der Opfer zum Ziel gesetzt, die historische Wahrheit über die Verbrechen des totalitären Regimes aufzudecken, Zugang zu den Archiven, soweit dies möglich ist, zu gewähren, eine Datenbank über die Opfer (bisher 1,3 Millionen) des politischen Terrors in der UdSSR zu erstellen und am Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft und eines Rechtsstaates mitzuwirken. Durch ihre Forschungstätigkeit und Öffentlichkeitsarbeit versucht Memorial auch auf die aktuellen Verletzungen von Freiheit und Menschenrechten aufmerksam zu machen. Sie ist ein Ort, an dem die Opfer des stalinistischen Terrors Gehör und Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Rechte finden. Es ist ein wichtiges Anliegen von Memorial, die Vereinigungen ehemaliger direkter und indirekter Opfer politischer Repressionen juristisch und materiell unterstützen

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Heute ist es in Russland noch schwieriger als Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, über die Repressionen zu schreiben und zu veröffentlichen. Seitdem findet keine breite Diskussion mehr über die Probleme der Vergangenheit statt. Die Arbeit von Frau Dr. Solojed, die in einer Untersuchung 20 ehemalige Opfer des stalinistischen Terrors und wenn möglich auch Vertreter der zweiten Generation befragt, ist daher ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung der Traumatisierungen. Kontakt zu einigen der Verfolgten hat Frau Solojed über die Organisation Memorial gewonnen.

■ Karolina Solojed

Charakterzüge der Repression in Russland in den 1930er bis 1950er Jahren Ein historischer Exkurs

Der Terror gegen eine Vielzahl verschiedener Feinde prägte das Alltagsleben Russlands nach 1917. Von da an galten Kulaken, Geistliche und Vertreter der ehemaligen herrschenden Klassen als »Volksfeinde«. Wenn man glaubt, Menschen, die nicht zu diesen Gruppen gehörten, seien nicht bedroht worden, täuscht man sich. Tatsächlich gab es viele, die Angst hatten, denn die Definitionen »Bürger«, »Kulake« oder »Klassenfeind« wurden häufig missbraucht oder willkürlich verwendet. Während des Großen Terrors von 1937 bis 1938 überstieg die Verfolgung die bis dahin geltenden Grenzen und wurde systemlos. Jeder Mensch konnte als »Volksfeind« angezeigt und ohne Grund ins Gefängnis oder ins Lager gesteckt werden (Fitzpatrick 1999). Die Gründe für eine Verurteilung wurden zwischen 1934 und 1953 laufend modifiziert und vermehrt. Zuerst wurden politische Gegner Stalins, so genannte »Altbolschewiken« beziehungsweise die Mitkämpfer Lenins verurteilt, danach viele höhere Parteifunktionäre und Militärs, dann einfache Menschen und zuletzt diejenige, die die ersten Repressionen selbst durchgeführt hatten. Grund für Bestrafung und Vernichtung konnte adlige Herkunft, Zugehörigkeit zu einem bestimmten Parteiflügel oder zu einer bestimmten Nationalität sein. Es konnte bereits zur Verhaftung führen, wenn man angeblich eine regimekritische Anekdote oder einen Witz zum Besten gegeben hatte. So beschreibt A. Rybakow im Roman »Die Kinder vom Arbat« (1989) die Lebensgeschichte eines Mannes, der als 20-jähriger Student bei der Ausgestaltung einer Wandzeitung eine Karikatur angebracht hatte und deshalb zu einem Lageraufenthalt verurteilt wurde, fünf Jahre im Lager verbrachte und schließlich in einem Strafbataillon im Krieg fiel.

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Die Jahre des so genannten Großen Terrors 1937/1938 waren besonders grausam. Es gab in den stalinistischen Konzentrationslagern nach verschiedenen Quellen etwa zwanzig Millionen Gefangene, sieben Millionen Neuverhaftete und bis vier Millionen Todesopfer (nach Koenen 2000, S. 222). Gordon (1989) betrachtet die Repression der 1930er Jahre als »eine Strafe ohne Schuld«. Die Urteile wurden begründet mit Worten wie »Verrat«, »Schädlingstätigkeit«, »Sabotage«, »Kritik der Sowjetmacht«, »Kriegsverbrechen« und »Spionage«. Der Artikel 58.10. des Strafgesetzbuchs, welcher traurige Berühmtheit erlangte, beinhaltete die Strafbarkeit wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit, Propaganda und Agitation gegen die Sowjetmacht«. In den meisten Fällen verstanden die Menschen überhaupt nicht, warum sie ins Lager geschickt worden waren. Die Unsinnigkeit und Unglaubwürdigkeit so genannter Prozesse und Verurteilungen verstärkten bei den Verurteilten eine Demut; so zeigten sie kaum je Widerstand, wenn NKWD-Beauftragte1 kamen. Viele der verhafteten Kommunisten glaubten, sie seien zufällig oder aus Versehen ins Gefängnis geraten, und reagierten oft mit einer Spaltung – einer Rettungsphantasie, in der sie sich als Anhänger einer »guten« leninistischen und nicht einer »bösen« stalinistischen Partei sahen. So konnten sie sich von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen entlasten und ihren Selbstrespekt bewahren. Solschenizyn hat die »Umerziehungslager« in »Vernichtungsarbeitslager« umbenannt (Solschenizyn 1973). Kotek ist der Meinung, die sowjetischen Lager seien humaner gewesen als die nationalsozialistischen Konzentrationslager, da sie den Zweck hatten, Arbeitskräfte zu rekrutieren und nicht die Menschen systematisch umzubringen, was die Überlebenschancen erhöht hätte (Kotek u. Rigulo 2000). Eine dritte Sichtweise rechtfertigt die Lagereinrichtungen und die Bestrafung von politischen Gefangenen in Russland. Diese Sicht hat sich bis heute bei den dem stalinistischen Regime treu Gebliebenen erhalten. Falsche Bezeichnungen und Mythenbildungen haben einen wichtigen Anteil daran, dass Verwirrung über die Repressionsge1 NKWD – Narodnij Kommissariat Wnutrennich Del (das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten).

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schichte in Russland herrscht. So waren die stalinistischen Lager tatsächlich nie »Umerziehungslager« gewesen, sondern Lager, in denen man Zwangsarbeit leisten musste. Die Konnotation »Bestrafung« wurde aber aus der Bezeichnung getilgt, indem man von harmlosen »Lagern« oder »Arbeitsarmeen« sprach. Bis heute senkt man in Russland die Stimme, wenn man auf die Gefangenen zu sprechen kommt. Die viel sagende Bemerkung »er/sie hat gesessen«2 ist noch heute für viele Menschen eine Gefahr, wenn sie Kontakt zu ehemaligen Verurteilten haben. Viele Russen stellen bis heute die Unschuld der politischen Häftlinge in Frage, oder sie stellen sie mit echten Kriminellen kurzerhand auf die gleiche Stufe. Eines der Ziele des Staates war die Schaffung des »Neuen Menschen«, eines Menschen, der jede ideologische Wende gehorsam und kritiklos hinnimmt. Dieses Vorhaben beinhaltete die Schwächung oder gar Zerstörung sozialer Bindungen und der Identität der Menschen. Nach der Oktoberrevolution (1917) gaben viele die ihnen wichtigen Familienbindungen und Gruppenzugehörigkeiten freiwillig auf. Der Staat ging mit gewaltsamen Mitteln gegen nationale und religiöse Identitäten vor. Die Menschen verloren durch die Umwälzungen ihren sozialen Status, gingen ihres Eigentums verlustig und mussten durch die erzwungene Migration die Heimat verlassen. Zudem wurde die Familie als solche entwertet beziehungsweise zerstört. Gewalt und Terror brachten die Menschen dazu, keinen Widerstand mehr zu leisten, nachdem sie erlebt hatten, dass sie ihren Lebensweg selber kaum steuern konnten und ohnmächtig elementarer Gewalt ausgeliefert waren. Da kritische Gedanken und aufrichtige Gefühle vonseiten des Staates gewaltsam unterdrückt wurden, kam es zu massiven Verleugnungen in weiten Teilen der Bevölkerung. Gleichzeitig war der Alltag sehr schwierig und beherrscht von Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit. So konnte schließlich eine Situation entstehen, in der die Gräueltaten und Repressionen seitens der Bevölkerung toleriert wurden. De facto handelte es sich um vorsätzlichen Seelenmord (Shengold 1995). Auch N. Mandelstam schrieb: »Wer die Luft des Terrors atmet, 2 Auf russisch »sich im Lager befinden« heißt »ins Lager setzen«.

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stirbt, auch wenn er zufällig am Leben bleibt« (Mandelstam 1990). Indoktrinierung, Gehirnwäsche und Manipulation mithilfe des »kollektiven Bewusstseins« sowie die bewusste Verhinderung der Diskussion über die soziale Gewalt in der Gesellschaft waren ebenfalls wichtige Ursachen für die Verdrängung. Man forderte von den Menschen, die offizielle Version der Ereignisse zu übernehmen. In dieser wurde das Ausmaß der Repressionen verschwiegen, es war nur von »gewissen Härten« die Rede, die man mit der forcierten Industrialisierung rechtfertigte. Daraus ergab sich eine »Verdoppelung der Unfreiheit: der traditionalistischen mythologischen Denkweise wurde gewaltsam eine rationalistische marxistisch-leninistische Theorie übergestülpt. Die Menschen wurden gezwungen, Gefühle zu zeigen, die sie nicht hatten und Dinge zu sagen, die sie nicht glaubten, sich zu freuen, wenn es ihnen schlecht ging« (Afanassijew 2001, S. 291). Unter diesen Bedingungen entstand ein neuer Verhaltenskodex, den es zu beherrschen galt, wollte man als gebildeter Mensch anerkannt werden (Fitzpatrick 1999). Das derart verdoppelte Reden und Denken war allgemein verbreitet, und die normale, sinnvolle Sprache kam nur noch im Privatleben vor. N. Mandelstam hat dies »ein ungeheueres Experiment mit der Stummheit« genannt (Mandelstam 1990, S. 3).

■ Psychische Verarbeitung der stalinistischen Repression in der russischen Gesellschaft Eine Untersuchung zum Thema der stalinistischen Repression etablierte sich im Zuge der russischen Demokratieentwicklung. Bis 1953 und 1964–1989 war es verboten, offen über Verbrechen des kommunistischen Regimes – einschließlich des stalinistischen – zu reden. Während des so genannten Tauwetters zur Zeit Chruschtschows (1959–1964) und während Gorbatschows »Perestrojka« wurden Versuche unternommen, das Geschehene zu begreifen. Als erste ehrliche Publikation über den stalinistischen Terror gilt die Erzählung »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« (Solschenizyn 1963). Darauf folgten »Der Archipel Gulag« (Solschenizyn 1973) und »Geschichten aus Kolyma« (Schalamow

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1990) mit einer ausführlichen Beschreibung der Ausstattung der Lager, des Lagerlebens und der Beziehungen unter den Häftlingen. In diesen Schriften analysierten die Autoren die Ursprünge und Inhalte des Terrors zwischen 1917 und 1953 sowie des repressiven Systems als Ganzem (Solschenizyn 1991), oder sie erzählten die Geschichte einzelner Menschen und Familien (Ginsburg 1991; Kersnowsakaja 1991; Rybakow 1989). In der Zeit, als in Deutschland die gesellschaftliche Verarbeitung der kollektiven Schuld und Verantwortung für den Faschismus und seine Verbrechen begann, wurde in Russland die Erforschung des Stalinismus verboten, sodass die ehemaligen Häftlinge und Augenzeugen ihre Erinnerungen nicht publik machen konnten. Der Roman »Gratwanderung« von Ginsburg wurde deshalb nicht im Jahr seiner Fertigstellung, 1966, publiziert, sondern erst 1989. Damals war die Angst vor der Rückkehr der schrecklichen Vergangenheit nicht mehr so groß, und die Menschen versuchten, die Gerechtigkeit wiederherzustellen und sich vor Angehörigen und Verwandten zu rehabilitieren. In den Jahren 1989–1999 kam es zu einem eigentlichen Boom an Publikationen. In dieser Zeit wurde zum ersten Mal das Ausmaß der Gewalt sichtbar, und man begann sich mit der Unmenschlichkeit des Regimes zu befassen. Im Unterschied zu Journalisten, Historikern, Soziologen und Schriftstellern interessierte Psychologen das Thema »Stalinismus« jedoch kaum. So haben wir nur eine einzige Publikation entdeckt, einen Artikel von C. Beicker und J. Hippenreiter (1995), in dem die psychologischen Auswirkungen der Repressionen auf die zweite und dritte Generation untersucht wurden. Die Situation im heutigen Russland erinnert an die Situation im Nachkriegsdeutschland. Die psychischen Reaktionen der Russen nach dem abrupten Ende der UdSSR sind mit jenen der Deutschen in den Jahren 1945 bis 1965 vergleichbar: »Verdrängung und Verfälschung der Vergangenheit, Geschichtsaphasie, Gefühllosigkeit, Rationalisierung der Vergangenheit, ein beharrlicher Widerstand dem Verarbeitungsprozess gegenüber, den Journalisten und Wissenschaftler initiiert haben« (Mommsen 2001). Zurzeit beobachtet man in Russland Gleichgültigkeit dem Thema der sozialen Gewalt gegenüber, als ob die Menschen diese bedrückende Vergangenheit vergessen und sich gegen schreckliche

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Erinnerungen innerlich zur Wehr setzen wollten. Aus unserer psychotherapeutischen Praxis und aus vielen Interviews in anderen Projekten haben wir erfahren, dass nur wenige Menschen der Enkelgeneration genau wissen, was in der eigenen Familie nach 1917 passiert ist. N. Mandelstam schrieb in ihren »Memoiren« über die Gefahr, die eine solche Stummheit der Gesellschaft und die Verdrängung der Gewalt mit sich bringt: »Das Land, wo die Menschen einander ein halbes Jahrhundert lang getötet haben, fürchtet sich davor, sich an die Vergangenheit zu erinnern … was wird mit einem Volk passieren, das ein so krankes Gedächtnis hat? Was ist ein Mensch wert, wenn er kein Gedächtnis hat?« (Mandelstam 1990, S. 139). Scherbakowa, eine Historikerin, die sich mit der Geschichte des Stalinismus beschäftigt, erklärt das Phänomen folgendermaßen: »so vieles wurde veröffentlicht, so viel Schreckliches und Absurdes erfuhr man, dass zuerst einfach Fassungslosigkeit herrschte und dann nach und nach jedes Gefühl erstarb und Gleichgültigkeit sich auszubreiten begann« (Scherbakowa 2000, S. 257). Verschweigen und Verleugnung beeinflusst am schlimmsten die Opfer. Bohleber, der die Erfahrung der Holocaust-Opfer und Kriegskinder-Generation in Deutschland erforscht hat, meint, dass sie in dieser Situation eigenen Zweifeln und Unsicherheiten hinsichtlich der erlebten traumatischen Realität ausgesetzt sind. Dominieren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung die Abwehrtendenzen, fühlen sich die Opfer häufig mit ihrer Erfahrung ausgegrenzt und ausgeblendet, was ihr Sicherheitsgefühl erneut untergräbt, sie Retraumatisierungen aussetzt oder sie zum Schweigen verdammt, da sie kein Verständnis erwarten können (vgl. Bohleber 2000)

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Tradierung von Trauma und Gewalt

■ Das Projekt »Psychische Traumatisierung in Familien von Opfern des Stalinismus« ■ Datenerhebung Im Jahr 2003–2004 haben wir sieben ehemalige Häftlinge der stalinistischen Lager, so genannte »politische Häftlinge«, interviewt und die Biografien analysiert. Wir führten mit allen an der Untersuchung Beteiligten zwei Interviews durch. Insgesamt dauerten diese vier bis sechs Stunden und wurden innerhalb von ein bis zwei Wochen durchgeführt. Während des ersten Gesprächs erzählte der Teilnehmer die Familiengeschichte frei und wurde möglichst wenig unterbrochen. Wir fragten höchstens nach, wenn wir etwas nicht verstanden hatten. Im zweiten Gespräch wurden Fragen aus den folgenden Themenbereichen gestellt: – Kindheit und Jugendzeit im Elternhaus; – Eltern und Beziehung zu ihnen; – Erfahrungen der Eltern und Großeltern in den Jahren 1934– 1953; – Verlust von Familienmitglieder und die Erinnerung an sie in der Familie; – Beziehungen zu gegenwärtig wichtigen Personen (Partner, Kinder, Eltern, Eltern des Partners, Verwandten); – Befürchtungen und Hoffnungen in der Vergangenheit und heute; – Auswirkungen der elterlichen Erfahrungen in den 30er bis 50er Jahren auf das eigene Leben; – Beruflicher und sozialer Status der Eltern und des Interviewpartners früher und heute.

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Tabelle 1: Kurze Beschreibung der Interviewpartner Alter

Das Schicksal der Mutter

Das Traumati- Formeller Schicksal sche Grund der des Vaters Ereignisse Inhaftierung

78

wurde 1941 von den Deutschen erschossen

war nicht von Repressionen betroffen

Sofja T. 88

war nicht von Repressionen betroffen

wurde Lager, 1937 vom VerbanNKWD nung erschossen

Tochter eines Volksfeindes

1937– 1947, 1947– 1957

Alexan- 94 der U.

früh an einer Krankheit gestorben

war nicht Lager, von ReVerbanpressionung nen betroffen

Teilnahme an konterrevolutionärer Tätigkeit

1937– 1947, 1952– 1954

Gleb N. 87

wurde 1924 von den Bolschewiken erschossen

wurde 1924 von Bolschewiken erschossen

in deutsche Gefangenschaft geraten zu sein

1945– 1954

Olga R. 72

wurde 1937 vom NKWD erschossen

wurde Gefängnis Tochter eines 1976– 1937 vom Volksfeindes, 1987 NKWD Spionagetätigerschoskeit sen

Irene N.

Krieg, deutsche Gefangenschaft, Gefängnis

Krieg, deutsche Gefangenschaft, Auschwitz, Lager in Nordrussland

Dauer der Inhaftierung bzw. Verbannung

Kollaboration 1950– mit den Deut- 1954 schen während des Kriegs, Spionage, Aufenthalt auf besetztem Territorium

276 Maria G.

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Lageraufe nthalt 1948– 1953

frühe Scheidung der Eltern

Lager

antisowjetische Agitation

1952– 1955

Alla G. 1883– war nicht 1965a von Repressionen betroffen

war nicht Lager von Repressionen betroffen

Zugehörigkeit zur Opposition, Nähe zur Familie Trotzkis

1948– 1953

Natalja 79 W.

wurde Lager 1937 vom NKWD erschossen

Tochter eines Volksfeindes

1941– 1946

wurde 1937 vom NKWD erschossen

a: Der Fall Alla G. ist aufgrund der Erzählungen der Tochter und der Autobiografie analysiert.

■ Expertenvalidierung Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und transkribiert. Die nonverbalen Äußerungen sowie das Verhalten des Gesprächspartners, der Interviewverlauf und die eigenen Gefühle des Interviewers während des Interviews wurden notiert. Danach wurde das gesamte Material (Transkripte und Notizen) vier Experten unterbreitet. Dann wurde jeder Fall in Supervisionen mit jeweils einem der vier Experten analysiert. Aus diesen vier Beurteilungen der Experten und der Analyse der Gegenübertragung der Interviewerin wurde ein endgültiger Bericht erstellt.

■ Ergebnisse der Interviews: der allgemeine Eindruck Fünf der acht Repräsentanten der ersten Generation hatten Eltern, die Opfer des Massenterrors geworden waren. Sieben der Interviewpartner sind ehemalige Zwangsarbeitslagerinsassen, und eine Person war zusätzlich noch in Auschwitz interniert. Sie waren zwischen drei und fünf Jahren im Zwangsarbeitslager oder in der Verbannung gewesen. Als schmerzhafteste Erfahrung sind ihnen –

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wegen der Isolationshaft und der Ungewissheit – die ersten Tage nach ihrer Verhaftung und ihr Aufenthalt in den NKWD Gefängnissen in Erinnerung geblieben sowie die Folterungen, der Transport vom Gefängnis ins Zwangsarbeitslager, der Hunger, die Kälte und das Arbeiten bis zur Erschöpfung im Lager oder in der Verbannung. Allen Beteiligten gelang es zwischen 1956 und 1960, die volle Rehabilitation ihrer Eltern durchzusetzen, nur zwei Schwestern gelang dies erst im Jahr 1989. Fünf Personen kennen den Exekutionsort und das Grab ihrer Eltern noch nicht. Nach der Entlassung aus dem Arbeitslager verloren sechs ihre Arbeitsstellen. Nur zwei hatten ihren Kindern vor 1987 von ihren Leidensjahren erzählt. Alle Erstgenerationsbeteiligte sind Mitglieder der Vereinigung »Memorial«3, in der sich die ehemaligen Opfer zusammengefunden haben. Sieben haben Kinder und Enkel. In fünf von acht Familien ist mindestens ein Kind oder ein Enkelkind in den Westen emigriert. Alle unsere Interviewpartner erlebten verschiedene Grausamkeiten: den gewaltsamen Tod von Eltern und/oder anderer Familienangehöriger, eine Person wurde im Kinderheim erzogen. Alle waren im Arbeitslager oder Gefängnis, verschiedene haben Hunger gelitten, nahmen am Krieg 1941–1945 teil, waren deportiert, verbannt oder geächtet worden, weil sie als »Volksfeinde« galten. Sie hatten keine Erlaubnis, an ihren ehemaligen Wohnsitz beziehungsweise in ihr Elternhaus zurückzukehren, ihr Eigentum war eingezogen worden und sie fielen in Armut, verloren ihren sozialen Status. Es war ihnen nicht erlaubt, den eigenen Beruf auszuüben, sie durften nicht emigrieren, sich nicht mit dem eigenen Familienkreis vereinigen und wurden gefoltert und erniedrigt. Während der Interviews zeigten die Beteiligten eine ambivalente Einstellung. Trotz ihrer Bereitschaft, an der Untersuchung teilzunehmen, war die Mehrheit nicht motiviert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen beziehungsweise sie erzählten keine Details von ihren schrecklichen Erfahrungen. Hin und wieder versuchten sie, anstatt sich an ihr Leben zu erinnern, einen freundlichen persönlichen Kontakt herzustellen; sie verweigerten uns den Kontakt 3 »Memorial« ist eine Vereinigung der Opfer des Stalinismus und Menschenrechtskämpfer in Russland.

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zu ihren Kindern. Eine Teilnehmerin weigerte sich, uns ein zweites Mal zu empfangen, mit der Begründung, ihr ginge es nach unserem Treffen ganz schlecht und sie könne nicht mehr schlafen.

■ Psychische Auswirkung des Terrors auf die Überlebenden Wir haben bei den Überlebenden des stalinistischen Terrors ähnliche Züge festgestellt, wie dies für die Holocaust-Opfer beschrieben worden ist. Diese Besonderheiten konnten wir schon beim Interviewen beobachten: – häufige Rückkehr von Angstgefühlen, einschließlich der Angst verfolgt zu werden, auch während des Interviews selbst; – »Überlebensschuld«; – Tendenz zur Selbstgenügsamkeit und die Ablehnung von Hilfe vonseiten anderer Menschen, was als Abwehr von Depression und Ohnmachtgefühlen interpretiert wurde; – gutes Intelligenzniveau und schnelle Auffassung; – gut entwickelte Anpassungsfähigkeiten, die ihnen geholfen haben, im Lager zu überleben und nach dem Lager das Schweigen auszuhalten; – geringe Motivation, die traumatische Erfahrungen Mitmenschen mitzuteilen; – es zeigten sich ein starker Lebenswillen und Kampf- und Überlebensstrategien versus Unterwerfung und Resignation. Die Verhaftung aus heiterem Himmel, die Folterungen und die Gefängnisatmosphäre riefen bei vielen einen Schock bis hin zur Katatonie hervor. Sadismus, körperliche und psychische Angriffe, Unmenschlichkeit und Erniedrigung, Grauen erweckende Ausrüstung von Warte- und Verhörräumen, unhygienische Viehtransportwagen – dies alles hatte die Untersuchungsteilnehmer zutiefst erschreckt und blieb für sie etwas Unfassbares. Ein Teil von ihnen reagierte in der Schreckenssituation mit Erstarrung und emotionalem Rückzug – »psychic numbing« –, das heißt, sie hatten keinen Zugang mehr zu ihren Gefühlen, was ihnen half, Ängste und

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Erniedrigungen zu überstehen (Rosenbloom 1988). In diesen Momenten des Grauens wurde der empathische Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildet, und auch das Vertrauen in die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und das den Menschen eigene Grundvertrauen, beim Gegenüber mit Empathie rechnen zu können, zerstört (Bohleber 2000). Hinzu kamen die unerträglichen Bedingungen in den Gefängnissen und Lagern selbst: schwere physische Belastungen, Verhöhnung durch das Aufsichtspersonal und durch Kriminelle, die Allgegenwart des Todes. Mitgefangene starben an Erschöpfung und Unterernährung oder wurden erschossen. Um einer weiteren Verantwortung zu entgehen, praktizierte der NKWD eine nicht offensichtliche Vernichtung, indem sie die Zellen, Waggons und Baracken selbst bei Minustemperaturen nicht heizen ließen, die Gefangenen leicht bekleidet in die Kälte hinaus zur Arbeit schickten, sie ungenügend ernährten und ihnen keine medizinische Hilfe oder Medikamente zukommen ließen. Einer der Teilnehmer unseres Projekts, der neun Jahre in einem sibirischen Lager verbracht hat, berichtete, bis zu 90 Prozent der Gefangenen seien vor Erschöpfung und Kälte gestorben, wenn sie nicht in warmen Räumen arbeiten konnten. Zudem bekamen die Kriminellen des Lagers grünes Licht, die politischen Gefangenen zu quälen oder gar umzubringen, da die Lageraufsicht sie nicht schützte. Die Lageraufsicht teilte den Kriminellen offen mit, dass politische Gefangene ins Lager zur »Vernichtung« geschickt wurden, was als ein Signal zur Gewalt diente, sodass viele so genannte »Politische« von Kriminellen beraubt, gequält und sogar getötet wurden. Einer unserer Gesprächspartner berichtete, dass Gefangene das Essen aus dem Mülleimer fischten, sich nicht kämmten, nicht wuschen und Lumpen trugen. Diese heruntergekommenen Menschen – »dochodjagi« und »pridurki« – waren eingeschüchtert, gleichgültig, verfielen schnell in Depression. Schalamow schrieb: »Es gab viel, was man nicht wissen und sehen sollte. Ist man aber trotzdem zum Zeugen geworden, wäre es besser für ihn gewesen zu sterben. Der Gefangene hatte sich daran gewöhnt, die Arbeit zu hassen … zu schmeicheln, zu lügen, Gemeinheiten zu begehen und egoistisch zu sein. Erst wenn er aus dem Lager ins normale Leben zurückkam, realisierte er, wie beschränkt seine Interessen

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Tradierung von Trauma und Gewalt

geworden waren und wie verarmt und grob er geworden war« (Schalamow 1990). Eine andere Folge des Terrors war die Vernichtung der menschlichen Individualität. Die Lagerunterkunft zerstörte das Identitätsgefühl und die menschlichen Beziehungen, sie führte zu regressivem Verhalten, weil eine aktive intellektuelle sowie körperliche Abwehr gegen Gefahren nicht möglich war (Lorenzer 1966). Es kam zu einer Dauerschädigung des narzisstischen Libidohaushalts, dadurch dass das Interesse und die Liebe zu sich selbst, zum eigenen Körper und zur Umgebung nicht aufrechterhalten werden konnte, wie Eissler schreibt (Eissler 1968, S. 455). In unserem Projekt ist eher eine andere Gruppe von Gefangenen vertreten, die Widerstand leisten konnten und der Resignation trotzten. Im Folgenden werden die Überlebensstrategien beschrieben, die wir bei unseren Interviewpartnern gefunden haben: – höhere Kreativität und Erfindungsgeist; – Fähigkeit, mithilfe psychischer Arbeit die Depression zu überwinden; – Weigerung, Opfer zu sein, und Projektion der ohnmächtigen Gefühle auf andere Menschen; – große Hilfsbereitschaft und altruistisches Benehmen anderen Häftlingen gegenüber; – Erlangen des Respekts der Lagerverwaltung und der Kriminellen dank besonderer Kenntnisse oder besserer Bildung; – Suche nach Beschützern unter den Kriminellen; – sexuelle Beziehungen mit den Lagerleitern. Nach der Rückkehr aus dem Lager haben sich Teilnehmer des Projekts so wie viele andere ehemalige politische Gefangene als Außenseiter gefühlt, da sie nicht sicher waren, ob ihre Angehörigen, Ehepartner und Kinder sie wieder in ihre Familie aufnehmen wollten. Das Brandmal der Lagerhaft blieb für immer an ihnen hängen und konnte nicht mehr aus der Biografie getilgt werden. Mandelstam schrieb, die Ehefrauen der nach Paragraph 58 für konterrevolutionäre Aktivitäten Verurteilten hätten genau gewusst, dass sie zur untersten Kategorie Mensch gehörten und viel schlimmer dran waren als die glücklichen Ehegatten von Kriminellen (Mandelstam 1990, S. 145). Das Leben nach der Befreiung

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aus dem Lager war der Versuch, in einer feindlichen Umgebung zu überleben. Die ehemaligen Häftlinge lebten weiter in Misstrauen und Entfremdung. Das normale Vertrauen war während des Lageraufenthalts zerstört worden, und die Menschen behielten eine archaische Angst vor dem unberechenbaren, allmächtigen Staat. Menschen, die nicht verhaftet wurden, reagierten häufig mit dem Spruch »wenn man verhaftet wird, muss es auch einen Grund geben«, was zynisch war und jede Einfühlung vermissen ließ. Es gab in dieser Situation zwei prinzipiell verschiedene Bewältigungsstrategien: Ein Teil der Exhäftlinge machte sich »unsichtbar« und reagierte auf das Geschehen eher depressiv und ängstlich beziehungsweise ihre Umgebung (Ehepartner) förderte mit ihrer Ängstlichkeit die Resignation. In solchen Familien nistete sich die Angst vor einer möglichen neuen Verhaftung ein. Die Berichte über die grauenvollen Geschehnisse wurden niemandem weitererzählt, Briefe, Unterlagen und Fotos wurden häufig verbrannt. So hoffte man, besser überleben zu können und eigene Kinder zu schützen. Viele der Häftlinge hatten ausgeprägte Minderwertigkeitsgefühle und das Gefühl sozialer Zugehörigkeit war gestört. Michael T. (92-jährig), der zehn Jahre im Lager und fünf Jahre in der Verbannung verbracht hat, sagte mir, er habe »das ganze Leben mit gesenktem Kopf gelebt«. Die andere Bewältigungsstrategie bestand umgekehrt darin, eine große Anpassungsleistung zu erbringen und sich dem Regime gehorsam und nützlich zu erweisen. Hilfreich waren dabei Identifikationen mit den Eltern (alten Bolschewiki) oder die Anlehnung an gut angepasste Ehepartner. So ist Sofia T. nach der Befreiung sofort in die Kommunistische Partei eingetreten. Der Parteieintritt geschah insofern aus ehrlichen Motiven, als Sofia T. damit nicht nur die Liebe zur Partei, sondern auch die Liebe und Verbindung mit ihrem erschossenen Vater, einem hohen NKWD-Funktionär, ausdrückte.

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■ Einzelfallstudie – Irene N., 78 Jahre ■ Verlauf des Interviews Bei der Arbeit an diesem Projekt sind wir häufig auf eine ambivalente Einstellung der Probanden gestoßen. In den meisten Fällen empfanden sie trotz ihrer Einwilligung Ängste, die manchmal ihren Wunsch überwogen, sich anzuvertrauen. Ich werde einen Fall vorstellen, bei dem dies besonderes stark ausgeprägt war. Nachdem mir eine Memorial-Mitarbeiterin Kontakte zu Frau N. vermittelt hatte, machten wir einen Termin aus. Sie gab gerne ihre Zustimmung zu einem Interview, verlegte aber das Treffen um einen Monat, da sie in drei Tagen in ein Sanatorium abreisen wollte. Am Vorabend meiner Ankunft hat Frau N. ihr Einverständnis telefonisch bestätigt und mir vorsorglich erklärt, wie ich den Weg zu ihr finden könnte. Sie erwies sich als eine nette, energische Frau, die jünger aussah, als sie war. Sie holte mich sofort in die Küche und bot mir Tee an – ich fühlte, dass ich erwartet wurde. Sie bat mich, meine Papiere vorzuweisen, sah sie durch und fragte, was aus all dem werden sollte. Ich erzählte ihr ausführlich über das Projekt und zeigte ihr alle offiziellen Briefe in Russisch und Deutsch mit den Bitten um Unterstützung. Sie erklärte sich einverstanden. Frau N. fing sofort an, ihre »Geschichte« zu erzählen, die ich verkürzt hier darstelle. Sie teilte mit, dass »auch sie mit den Deutschen Kontakte hat«, indem sie Jugendliche aus Deutschland in Russisch unterrichtet. Sie erzählt begeistert von Doktor Haas und seinen Worten, dass ein Mensch »sich beeilen sollte, Gutes zu tun«. Dann berichtete Frau N. stolz über ihren Enkel und sein erfolgreiches Studium in Kanada und eine Geschichte über einen Kampf um die neue Wohnung: Sie haben sich zusammen mit dem Enkel um die Wohnung bemüht, in der sie jetzt wohnen. Es war für sie sehr wichtig, eine Wohnung nicht weit vom ehemaligen abgerissenen Haus zu bekommen – das bedeutete für sie eine Nähe zum Zentrum und zu alten Freunden, denen man nicht zumuten könnte, dass sie sie am Stadtrande besuchten. Danach beginnt sie zu erzählen, wie sie 1987 als eine der ersten

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»Memorial« beitrat, einer damals noch halbillegalen Organisation, und in dieser eine der leitenden Stellen einnahm. Nach so einem »schnellen Anfang« sah ich das Risiko, dass das Interview nicht aufgenommen wird, und ich musste sie unterbrechen, um das Aufnahmegerät einzuschalten. Also, was bedeutete dieser schnelle Anfang? Sollte das bedeuten, dass sie mir vertraute? War es eine Botschaft, dass alles in ihrem Leben geregelt sei, trotz der düsteren Vergangenheit? Oder möchte sie lieber über ihre Erfolge als über schmerzhafte Erfahrungen berichten? Rosenthal (1989) hat es als eine »Normalisierungsstrategie« während der Erzählung über die schmerzliche Erfahrung beschrieben. Wie in einer klassischen Erzählung, tauchen die Hauptthemen gleich am Anfang auf: 1. »Schuld und Entschädigung«, 2. »jetzt führt sie ein wundervolles und intensives Leben«, 3. »sie identifiziert sich mit dem Erfolg« …

■ Familiengeschichte von Frau N. Sie ist im Jahr 1925 in einer großen ukrainischen Stadt als Tochter zweier Pädagogen geboren. Sie hat sich über die Geschichte ihrer Kindheit in ein paar Sätzen hinweggesetzt, um gleich auf Erinnerungen an ihre Mutter und an den Krieg zu kommen. Der Krieg begann, die Stadt wurde von Deutschen besetzt. Frau N. war 15 Jahre alt, sie hat als Krankenschwester mit anderen Mitschülern in einem Lazarett gearbeitet. Dort hat sie den ersten Schock beim Anblick von Wunden und amputierten Gliedmaßen erlitten. Beim Rückzug haben die Russen das Lazarett samt den übrig gebliebenen Verwundeten in die Luft gesprengt, damit sie nicht unter die Feinde geraten. Viele Jahre später, als Frau N. versuchte, ihre Mitschüler zu finden, die damals zusammen mit ihr geflohen waren, erwies es sich, dass alle Jungen damals oder später gefallen waren. In der Nähe von Charkow wurde Frau N. von Deutschen gefangen genommen und zur Zwangsarbeit wieder in ihre Heimatstadt geschickt. Im Lauf des Interviews erwähnte Frau N. mehrere Male ihre Angst davor, dass sie nach Deutschland deportiert werden könnte und ihre Mutter hier verlassen müsste.

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Der Tod der Mutter ist zum schmerzlichsten Verlust ihres Lebens geworden. Vom Anfang des Interviews an identifizierte sich Frau N. mit ihrer Mutter, immer wieder wechselte ihre Erzählung von der Mutter zu ihr selbst hinüber und immer wieder musste ich nachfragen, von wem die Rede sei? Die Narration von Frau N. wird mystisch, als sie erzählt, wie sie vorahnte, dass ihrer Mutter ein Unglück passiert war – am Vorabend hatte Frau N. einen Traum gehabt. Sie hat sofort versucht, aus dem Gefangenenlager wegzulaufen: Ein schrecklicher Traum. Wie schrecklich es war, kann ich nicht wiedergeben. Ich bete in einer Kirche, und auf einmal beginnt alles zu wackeln, zu schütteln, zu schütten, das Kreuz stützt herunter, es rieselt von oben. Und ich bin inmitten dieses Staubs. Ich erwache stehend. Ich erwachte nicht im Bett, ich stand aufrecht, ich floh vor all dem weg.

Frau N. suchte verzweifelt nach ihrer Mutter, die als Erzieherin in einem Waisenhaus tätig war. Später stellte es sich heraus, dass sie von den Deutschen verhaftet worden war, weil sie zwei jüdische Knaben verborgen hatte, anstatt sie zu denunzieren. Was später geschah, weiß Frau N. nicht genau, nimmt aber an, dass ihre Mutter nach Litauen gebracht und dort während einer der Vergeltungsaktionen erschossen wurde. Nach der Feststellung, dass ihre Mutter spurlos verschwunden war, floh sie mit falschen Papieren in die Westukraine und fand Unterschlupf in einem entlegenen Dorf. Dort lehrte sie Kinder lesen und schreiben, half den Bauern Briefe von der Front zu lesen und zu beantworten; schützte die Bewohner vor der Kolchosobrigkeit, löste Konfliktsituationen in Familien und erwarb dadurch Achtung und Liebe der Bauern. Sie hätte mehrmals von ukrainischen Patrioten sowie von den Deutschen erschossen werden können, die Bauern aber haben sie vor allen Feinden bewahrt, versteckt und über drohende Gefahren informiert. Im Jahr 1947 zog sie nach Moskau, wo sie die philologische Fakultät absolvierte. Sie teilte ein einziges Zimmer von 11m2 mit ihrem Vater und dem schwerkranken älteren Bruder, um die sie sich intensiv kümmerte. Im Jahr 1950 wurde Frau N. verhaftet und in die Lubjanka gebracht. Vor ihrer Verhaftung träumte sie einen prophetischen

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Traum: Es hängt in der Luft so ein Stückchen von einem soliden Seil, seine Enden sieht man nicht, sie verschwinden irgendwo. Und dann fährt es, sehr langsam, in der Mitte auseinander. Und schon trennt es sich wiederum. Irgendwie wurde es mir übel, das Herz stand mir still. … und in der Nacht kommt man mich verhaften.

Vergeblich versuchte Frau N. die Ursachen ihrer Verhaftung für sich zu verstehen. Sie wusste, dass ihr Urteil fabriziert worden war, »da stand vielerlei geschrieben«, und versuchte »die wahren Gründe« zu finden, weswegen man sie verhaftet hatte. Weil sie einen UBoot-Offizier heiraten wollte und ins Ausland gehen wollte? Weil sie während des Krieges in dem von Deutschen besetzten Gebiet gelebt hatte? Weil sie die deutsche Sprache beherrschte und deutsche Aufrufe gelesen hatte? Das Urteil lautete: »für konterrevolutionäre Aktivität während der deutschen Besetzung«. Sie scheint auch jetzt das Urteil für gerecht zu halten und fürchtet immer noch, dass man sie für eine Antisowjetikerin halten könnte. Auch heute bleibt es so: Entweder beschuldigt sie direkt das NKWD, dass es die Sache absurd und böswillig fabriziert hatte, wenn sie sagt: »die haben eine Antisowjetikerin aus mir gemacht«; oder sie versucht das NKWD auf indirektem Wege zu rechtfertigen, als sie von ihren Universitätskolleginnen berichtet, von denen sie angeblich denunziert wurde. Und bis jetzt fällt es ihr leichter, den Standpunkt anzunehmen, dass eben jene konkreten, neidischen oder gesinnungslose ehemaligen Freundinnen an allem schuld sind. Nach der Verhaftung blieb Frau N. acht Monate lang in der Lubjanka, wo man sie mit Schlafentzug folterte, um von ihr Aussagen gegen andere Personen zu erhalten: Ich wurde nicht gefoltert und nicht gequält. Um 10 Uhr abends geholt, und um 6 Uhr morgens kehrte ich in die Kammer zurück. Und so jeden Tag fünf Tage lang, ohne Unterbrechung bis es zu rauchen begann. Das Parkett fing an, zu qualmen. Eine Halluzination, wissen Sie.

Auf einmal wurden damals deutsche Sprachkenntnisse zum Hauptpunkt der gefälschten Anklage. Frau N. gibt ihr Gespräch mit dem Untersuchungsrichter wieder:

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N.: Ich sage: »Ich habe ja keine faschistische Literatur gelesen.« Offizier: »In welcher Sprache haben Sie jene Aufrufe gelesen?« Ich sage: »In der deutschen, russischen, ukrainischen.« »Wurde es von Faschisten geschrieben?« »Ja, von Faschisten.« »Gehört es zur Literatur?« »Nun ja, mag sein.« »Also, unterzeichnen Sie: Ich habe es studiert.« (Sie): »Nein, nicht studiert, sondern gelesen.« (Er): »Es spielt ja keine Rolle. Faschistische Literatur, studiert während der faschistischen Okkupation.«

Die Tatsache, dass sie unter Folter gezwungen war, andere Menschen zu verraten, quälte sie immer sehr und verstärkte die Überlebensschuld: N.: Man fragte mich, mit wem ich die »faschistische Literatur« besprochen hatte? Da waren Mädchen – ich war ja dort aufgewachsen, es gab da irgendwelche Bekannte, vielleicht habe ich jemanden zugrunde gerichtet, beim Namen genannt, ich weiß nicht (verstummt). I.: Haben Sie später versucht, es zu erfahren? N.: Nein, ich habe nur eine gefunden. Ihre Mutter war mit meiner Mutter befreundet. Ich bin zu ihnen gefahren. Wir haben zusammen geweint. Alle Jungen, die ich im Lazarett und in der Schule gekannt habe, waren gefallen.

Das schlimmste Erlebnis war für Frau N. der Transport aus der Lubjanka zum Ural gewesen, von dem sie mit aufrichtiger Trauer spricht. Mit meinen Habseligkeiten ging ich auf den Transport, zusammen mit allerlei Kriminellen, mit Brot und Hering ohne Wasser. Das schönste Erlebnis für Häftlinge unterwegs war die Möglichkeit, sich in einer Badestube zu waschen, wenn sie in ein Durchgangsgefängnis kamen. Der Transport war wohl schlimmer als jene acht Monate. Das kann man nicht mit Worten beschreiben, ist auch nicht mit Auschwitz zu vergleichen. Wenn der Tod ein Traum ist. Du betest nur, dass jemand dich überfällt! Dass man dir einen Gnadenschuss gibt! Jede Minute träumst du nur vom Tod, auf jede mögliche Weise, meinetwegen. Und mein einziger Wunsch war – zu sterben.

Frau N. wurde in einer Gefängniszelle mit 14 anderen Frauen untergebracht: Da war eine Witwe des rumänischen Botschafters, eine Schriftstellerin, die über Lenin schrieb, eine der Mätressen von Berija, alle übrigen waren, wie sie sie nennt, »deutsche und österreichische Hürchen«. In dem geringschätzigen Wort »Hürchen« klang einerseits eine Distanzierung, andererseits Zärtlichkeit und Dank für ihr Mitgefühl mit, denn eben jene »Hürchen« haben sie aus der Depression gerettet. Sie war versteinert und absolut gleich-

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gültig. Ihre Zelleninsassinnen versuchten, sie zu unterhalten und zu trösten: Zuerst konnte ich irgendwelche Gespräche noch unterscheiden, und dann kam absolute Stille. Ich war abgeschaltet. Kein Geräusch. Ich wollte nichts mehr von der Welt. Sie setzten sich neben mich auf den Fußboden, sie streichelten mich. Das war schon etwas, was mein Bewusstsein erkennen konnte. Sie haben etwas untereinander besprochen, dann holte eine kleine Deutsche ein Taschentüchlein mit Blümchen und legte es mir auf die Knie. Sie zeigte es mir und sagte, das ist ja die rote Farbe, und das ist gelb. Sie redeten alle mit mir. Und es war sehr beruhigend. Denn überall gab es diese schwarze Dunkelheit. Und hier kann ich mich weiter nicht erinnern, bloß ein Stückchen des Tüchleins, aber als ich zu weinen begann, jubelten sie und schrien: »Hurra! Sie wird weiter leben – sie weint!«

Bald, nachdem Frau N. ihren Stupor überwunden hatte, wurde sie zu einer Anführerin. Um keine von ihren Zelleninsassinnen zu »verlieren«, sorgte sie für die Erhaltung von entstandenen freundlichen Beziehungen. Wächter zerstörten jede Freundschaft, deswegen inszenierte Frau N. eindrucksvolle Streitereien vor den Augen der Wächter. Das Schlimmste für sie war schon immer die Einsamkeit in einer Einzellzelle: Es ist schwierig, allein zu sein, denn man muss sich irgendwie organisieren. Ich erinnerte mich an alles, was ich auswendig wusste, wieder und wieder. Ich gab mir selbst Aufgaben. Man musste sich 24 Stunden mit etwas beschäftigen. Sonst hält man es nicht aus. Nun ja, hier im Gefängnis hast du mit Menschen zu tun, kannst mit ihnen sprechen, und Einzelzelle – das ist eine harte Strafe.

Um die Untätigkeit und Klaustrophobie zu überwinden, unterrichtete sie die Ausländerinnen in Russisch und verbesserte ihr Deutsch: »In dieser Zelle hatte ich eine Schule.« Frau N. half einer österreichischen Gefangenen, Puschkin ins Deutsche zu übersetzen – etwas, worauf sie bis zum heutigen Tag stolz ist. Nach der Befreiung bekam sie von einigen ihrer Zellenfreundinnen Briefe aus dem Ausland, antwortete aber nicht, denn sie hatte immer Angst, wieder verhaftet werden. Im Jahr 1953, nach der Rückkehr aus dem Lager, fühlte sich Frau N. unsicher: Das war schrecklich. Ich war zerlumpt, hungrig, krank, mager, verängstigt,

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und alles tat mir weh. Du hast keine Ahnung, was für Muskeln du im Körper hast, und auf einmal tun sie alle weh. Das muss wohl vom verschlossenen Raum kommen. Ich wollte mich in Moskau anmelden; das war ein großes Problem für mich. Ich klammerte mich an meinen Vater. Über die Straße zu gehen war schon ein langer Weg. Vielleicht machst du es selbst? Vielleicht später? Vielleicht morgen? Es war Angst, körperliche Unsicherheit, Schmerzhaftigkeit. Der ganze Körper schmerzte. Und sehr viel Angst. Ich weinte nicht. Ich weinte nur, wenn ich den Notarzt anrufen musste. Die Ärzte taten mir leid, dass sie sich um mich sorgen mussten, mich bemitleiden, und ich sitze nur so vor ihnen.

Bald nach ihrer Rückkehr wurde sie aus der Schule entlassen, wo sie vor der Verhaftung gelehrt hatte, weil es den ehemaligen Häftlingen verboten war, in den Schulen und der Universität zu unterrichten. Frau N. arbeitete als Sekretärin. Ihr Bruder hatte sich in Chemie habilitiert. Drei Jahre nach der Rückkehr aus dem Lager bewarb sie sich um die Aspirantur. Nach einer schlaflosen Nacht, in der sie sich um den Bruder gekümmert hatte, war sie bewusstlos, bekam suizidale Gedanken und wurde zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik gebracht. Frau N. hat die Aspirantur absolviert, ihre Doktorarbeit hat sie nicht verteidigen können, weil sie »nichts anzuziehen hatte« und nicht wagte, sich an ihre Freundinnen zu wenden. Das klingt beinahe unwahrscheinlich, doch Frau N. rationalisiert ihr Benehmen, indem sie es durch ihre damalige Armut rechtfertigt. Das steht im Widerspruch zur Tatsache, dass Frau N. die Schule auch dann nicht verließ, als sich eine Gelegenheit darbot, mehr zu verdienen. War es selbstdestruktives Verhalten oder Treue zur Mutter, mit der sie sich stark identifizierte? N.: Nun ja, irgendwie bin ich an die Schule gewöhnt. Ich bin Lehrerin schon in der fünften Generation und für mich war es selbstverständlich. Denn in der Schule sind die Kinder, und hier, im Technikum, hast du mit Erwachsenen zu tun. I.: Sie hatten eine Möglichkeit, dort zu arbeiten? Das wurde ja gut bezahlt! N.: Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich damals die Schule wider Willen aufgegeben. Bei der ersten besten Möglichkeit kehrte ich in die Schule zurück, ohne Zögern. I.: Obwohl Sie in der Schule weniger verdienten? N.: Viel weniger. Aber daran habe ich gar nicht gedacht, für mich war Schule immer ein Begriff.

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Vielmals hat man ihr vorgeschlagen, in die Partei einzutreten. »Die Partei ist mir zu hoch, ich bin dieser Ehre nicht würdig, die Kommunistische Partei – das ist etwas Ideales« (sagt sie ironisch). Das Treffen mit ehemaligen Zelleninsassinnen »misslangen«, sie brachten keine Erleichterung, sondern eher schmerzliche Gefühle: I.: Dachten Sie daran zurück, was in der Lubjanka, beim Transport oder im Gefängnis geschehen war? N.: Nein. Mich interessierten eher die Menschen. Bald darauf begegnete ich in Moskau Olga. Wir waren erfreut, umarmten uns und weinten, und sie führte mich zu sich, und ihre Mutter hat uns bewirtet. Und als wir voneinander Abschied nahmen, umarmt mich ihre Mutter: »Irene, ich habe eine große Bitte an Sie, treffen Sie sich nicht mehr mit meiner Tochter, es ist gefährlich.« Eine andere Zellenkameradin, die Schriftstellerin, habe ich auf der Gorki-Gedenkfeier gesehen. Ich habe daran wenig gedacht, es ging sehr schnell vorbei …

Frau N. wagte nicht, mit jemandem über das Geschehene zu reden, während der Zeit Breschnews war sie zurückhaltend, »kapselte sich ab«. Zuerst erzählte sie alles ihrer Tochter und den Enkeln ab 1987, also 45 Jahre später. Frau N. sagt, dass ihre achtjährige Enkelin »dabei auch jetzt zittert und sagt, dass es nicht wahr sei, so was kann es nicht geben«. Von ihrer Heirat spricht Frau N. sehr wenig, nur dass ihr Mann »von der gleichen Sorte« war (auch politischer Häftling?) und dass es »da wenig Interessantes gab«. Ihre Heirat »erklärt« sie dadurch, dass sie eine Tochter zur Welt bringen wollte, damit diese den Namen ihrer Mutter trage. Ihre Beziehung zu ihrem Mann ist für sie weniger bedeutungsvoll: Ehrlich gesagt, habe ich nur mit der Absicht geheiratet, dass anstatt meiner erschossenen Mutter eine Seele zur Welt kommt, der ich ihren Namen geben könnte. Soja hieß meine Mutter, und meine Tochter sollte auch Soja heißen … Das war mein eigenes Geheimnis … irgendwie musste ich diesen schrecklichen Verlust ersetzen! Alles in mir tat mir weh. Es musste einen Menschen geben, den ich X nennen könnte. Und als sie zur Welt kam, drehte sich alles nur um sie herum, und obwohl manche sich darüber wunderten: kein Wohlstand, keine Wohnung, dies und jenes – aber ich war sehr glücklich!

Die Tochter als »Gedenkkerze« hat die Bindung an die eigene Mutter wahrscheinlich noch mehr verstärkt. Ihr Verhalten gegenüber den Männern scheint uns erschwert und unklar zu sein. Alle Män-

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ner – den Vater, den Bruder, den Mann – erwähnt sie nur nebenbei, und nur vom Enkel spricht sie viel mit Stolz und Hoffnung. Und wir wissen, dass ihr Enkel für sie Hilfe und Stütze bedeutet. Als Frau N. begann, über ihre Tochter zu erzählen, wurde unser Interview durch ein Telefongespräch unterbrochen. Frau N. bat mich, »für heute Schluss zu machen«, als ich aber das Tonband ausgeschaltet habe, begann sie mit Enthusiasmus über ihr heutiges Leben zu erzählen, wobei das Thema ihrer Vergangenheit immer wieder im Gespräch auftauchte. Ich bekam aus unserem Gespräch den Eindruck eines guten Kontakts – um so mehr war ich überrascht, als sie beim Abschiednehmen über ihre Unverbindlichkeit sagte, dass sie manchmal zum verabredeten Treffen nicht komme und das nicht überwinden könne, obwohl sie weiß, dass das beleidigend ist. Wir trennten uns freundlich und verabredeten, uns in vier Tagen wieder zu treffen. Sie war einverstanden, mich mit ihrer Tochter bekannt zumachen, damit ich auch mit ihr ein Interview mache. Nach drei Tagen rief mich Frau N. an und enttäuschte meine Erwartungen, sich darauf berufend, dass sie sich nach unserem Treffen schlecht gefühlt habe und nicht schlafen konnte. Ich fühlte mich schuldig. Gleich darauf bat sie mich sehr energisch, Studenten unserer Universität zu veranlassen, zu »Memorial« zu kommen und »unseren alten Frauen zu helfen, ihr Gedächtnis wiederherzustellen – unsere alten Frauen haben ein sehr schwaches Gedächtnis, sie vergessen alles und erinnern sich an nichts«.

■ Kurze Zusammenfassung nach Expertenvalidierung Uns schien es sehr merkwürdig, dass Frau N. unser Interview abgebrochen hat, sobald die Rede auf ihre Tochter kam. Wollte Frau N., wie üblich, ihre Tochter vor ihrer »Geschichte« bewahren? Darin war etwas Symbolisches – Abbruch von Verbindungen zwischen zwei Generationen. In jedem Fall war das Interview schwierig für Frau N. Es sieht so aus, als bestehe es aus Fragmenten, die schlecht miteinander verbunden sind, es enthält zahlreiche Widersprüche, und mitunter sah es so aus, als verschweige sie vieles.

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Frau N. verstummte von Zeit zu Zeit, und ich musste mich einmischen und Fragen stellen, damit es weiter ging. Ich musste sehr aktiv sein, weil in ihrer Erzählung Zeiten und Personen oft verwechselt wurden und die Konsequenz der Erzählung immer wieder verloren ging. Sich in Erinnerungen vertiefend, wurde sie augenscheinlich realitätsblind, identifizierte sich intensiv mit sich selbst in der Vergangenheit und antwortete mir sogar von dorther, aus jener Zeit und in der Ich-Form. Wie es schien, fiel es ihr sehr schwer, vom Geschehenen zu sprechen. Wir haben versucht, gemeinsam jene tragischen Erfahrungen, die sie durchlebt hatte, zu integrieren. Hat es ihre Ängste verschärft? Wurde ich in jenen Augenblicken eine Verfolgerin? Eine Anklägerin? Fiel es ihr schwer, zu Erlebnissen zurückzukehren, von denen sie so lange geschwiegen hatte?

■ Literatur Afanassijew, J. (2001): Opasnaja Rossija [Gefährliches Russland]. Moskau. Beicker, C.; Hippenreiter, J. (1995): Influence of Stalin’s repression of 30-years on the life in three generations. Voprosy Psikhologii [Questions of Psychology]: 66-83. Bohleber, W. (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche – Z. Psychoanal. 54: 797-839. Eissler, K. (1968): Weitere Bemerkungen zum Problem der KZ-Psychologie. Psyche 22: 452-463. Fitzpatrick, S. (1999): Everyday Stalinism. New York u. a. Ginsburg E. (1989): Krutoj Marschrut [Gratwanderung]. Riga. Gordon, L.; Klopow, E. (1989): Chto eto bylo? [»Was war es?«]. Moskau. Kersnowsakaja, J. (1991): Naskalnaja Zhiwopis [Die Felsmalerei]. Moskau. Koenen, G. (2000): Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Frankfurt a. M. Kotek, Z.; Rigulo, P. (2000): Wek lagerej [Das Jahrhundert der Lager]. Moskau, 2000. Lorenzer, A. (1966): Zum Begriff der »Traumatischen Neurose«. Psyche 20: 481-492. Mandelstam, N. (1990): Vospominanija [Memoiren]. Moskau. Mommsen, H. (2001): Reflexion der Vergangenheit in Deutschland nach 1945. Vortrag zur Konferenz »Überwinden der Vergangenheit und neue

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Orientierungen in ihrer Überprüfung. Erfahrung von Russland und Deutschland an der Jahrhundertwende«. Moskau. Rosenbloom, M. (1988): Lessons for mental health practice. In: Braham, R. (Hg.): The Psychological Perspectives of the Holocaust and of its Aftermath. New York, S. 145-149. Rosenthal, G. (1989): Leben mit der NS-Vergangenheit heute. Zur Reparatur einer fragwürdigen Vergangenheit im bundesrepublikanischen Alltag. Vorgänge 28, Heft 3: 87-101. Rybakow, A. (1989): Deti Arbata [Die Kinder vom Arbat]. Moskau. Schalamow, W. (1990): Kolymskije rasskazi [Geschichten aus Kolyma]. In: Voskresenie listvennicy. Moskau. Scherbakowa, I. (2000): Nur ein Wunder konnte uns retten. Frankfurt a. M. u. a. Shengold, L. (1995): Soul Murder. Frankfurt a. M. Solschenizyn, A. (1963): Odin den Iwana Denisowitscha [Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch]. Moskau. Solschenizyn, A. (1973): Archipelag GULAG [Der Archipel Gulag]. In: Gesammelte Werke 5. Moskau, 1991 (erstmalige Veröffentlichung in Russisch).

Die Autorinnen und Autoren

Folkert Beenen, Dr. phil., ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Amsterdam und Leiter der Forschungs- und Qualitätssicherungsabteilung am Niederländischen Psychoanalytischen Institut in Amsterdam. Werner Bohleber, Dr. phil., ist Herausgeber der Zeitschrift »Psyche« und Psychoanalytiker in eigener Praxis; Lehr- und Kontrollanalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Prof. Dr. Micha Brumlik lehrt an der Universität Frankfurt/Main Allgemeine Erziehungswissenschaften und ist Direktor des Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust und seiner Wirkung. Antonio R. Damasio, Professor für Neurologie, ist Leiter des Department of Neurology an der Universität Iowa/USA. Dirk Fabricius, Dr. jur., Diplom-Psychologe, ist Universitätsprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt/Main, Professur für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie. Thomas von Freyberg, Dr. phil. habil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt/Main. Kurt Grünberg, Dr. phil., Psychoanalytiker, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut und Wissenschaftlicher

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Die Autorinnen und Autoren

Leiter des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums Frankfurt/Main für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie Psychoanalytiker in eigener Praxis. Michael Hampe ist Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Rolf Haubl, Dr. Dr., ist Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/Main und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt; Gruppenlehranalytiker, gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater. Ingrid Kerz-Rühling, Dr. med., Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt und Leiterin der psychoanalytischen Ambulanz. Ilka Lennertz, Diplom-Psychologin, Promotionsstipendiatin der Heinrich Böll Stiftung, arbeitet praktisch und wissenschaftlich mit und zu Flüchtlingskindern, weitere wissenschaftliche Tätigkeit in Forschungsprojekten zur Emotionsregulation und zu Folgen von Missbrauchserfahrungen im Kindesalter. Wolfgang Leuschner, Dr. med., Psychoanalytiker und Psychiater, ist ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sigmund-FreudInstituts Frankfurt und Leiter eines Labors für analytisch-experimentelle Traumforschung. Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil., ist Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt und Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel; Lehranalytikerin der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Monika Lück, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Psychobiologische Grundlagen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens« am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst.

Die Autorinnen und Autoren

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Gerhard Roth, Dr. phil. Dr. rer. nat., ist Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie an der Universität Bremen, Direktor am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen, Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs der Länder Niedersachsen und Bremen in Delmenhorst und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Karolina Solojed, Dr. psychol., ist Gastwissenschaftlerin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt, Psychotherapeutin, Ausbildungskandidatin der IPV. Sie arbeitet als Dozentin im Institut für angewandte Psychologie und Psychoanalyse und in der Staatlichen Universität für Pädagogik in Moskau. Daniel Strüber, Priv.-Doz. Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Psychobiologische Grundlagen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens« am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst. Sverre Varvin, MD, Dr. philos., Psychiater, Psychoanalytiker, ist Lehr- und Kontrollanalytiker der Norwegischen Psychoanalytischen Gesellschaft und arbeitet in eigener psychoanalytischer Praxis. Angelika Wolff, Lehrerin, ist niedergelassene analytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapeutin, Dozentin und Supervisorin am Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt/Main, dessen Leiterin sie bis 2003 war.

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts Marianne Leuzinger-Bohleber / Stephan Hau / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung

Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 1. 2005. 353 Seiten mit 17 Abb. und 26 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-45164-4

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 2. 2006. Ca. 304 Seiten mit ca. 70 Abb., kartoniert ISBN 3-525-45176-8

Stephan Hau / Hans-Joachim Busch / Heinrich Deserno (Hg.) Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 1: Klinische Psychoanalyse: Depression, Band 2. 2005. 254 Seiten mit 17 Abb., kartoniert. ISBN 3-525-45163-6

Marianne Leuzinger-Bohleber / Ilka von Zeppelin (Hg.) Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 1. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 3-525-45165-2

Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst

Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 4. 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 3-525-45178-4