Schritte und Markierungen: Aufsätze und Vorträge zum Weg der Kirche 9783666571121, 9783525571125

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Schritte und Markierungen: Aufsätze und Vorträge zum Weg der Kirche
 9783666571121, 9783525571125

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Werner Krusche Schritte und Markierungen

Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick

BAND 9

VANDENHOECK & RUPRECHT IN

GÖTTINGEN

WERNER

KRUSCHE

Schritte und Markierungen Aufsätze und Vorträge zum Weg der Kirche

VANDENHOECK & R U P R E C H T IN

GÖTTINGEN

Vandenhoeck & Ruprecht, Gôttingen 1971 Lizenzausgabe der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen Satz und Druck: Buchdruckern Oswald Schmidt KG, Leipzig, DDR Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Den Lückendorfer Brüdern der Jahre in bleibender Gemeinschaft

1958-1965

Inhalt Vorwort

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Die Bibel in der Hand des Pfarrers

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Zur Struktur des Kleinen Katechismus

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Unsere Predigt am Sarg

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Das Missionarische als Strukturprinzip

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Die Gemeinde Jesu Christi in der Welt (Thesen)

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Die Kirche für andere. Der Ertrag der ökumenischen Diskussion über die Frage nach Strukturen missionarischer Gemeinden Missio — Präsenz oder Bekehrung? Die Reformation geht weiter

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Vorwort

Die Situation der Kirche ähnelt heute wohl derjenigen des alten Gottesvolkes auf einem Zug durch Gelände, in dem es keine gebahnten und markierten Wege gibt, keine erprobten und bewährten Verhaltensweisen, in dem die Situationen ständig wechseln und also Erfahrungswerte von früher nicht mehr einfach übernommen werden können; ein offenes Gelände, in dem man nicht vorweg, sondern nur im Gehen die nächsten Schritte bedenken und nur ein paar leichte Markierungen setzen kann. Man kann diese Situation nur durchhalten, wenn man gewiß ist, daß der Herr selbst den Aufbruch befohlen hat; denn wir lieben das Überkommene mehr als das Überraschende, das Bekannte mehr als das Riskante. Daß Gottes Geist uns führt, heißt nicht, daß uns das verantwortliche Überlegen und die tapferen Schritte erspart würden. Diese Vorträge und Aufsätze sind im Mitgehen mit der Gemeinde entstanden, also nicht von einem „Standpunkt" aus geschrieben. Sie tragen darum deutlich die Spuren, daß sie „unterwegs" konzipiert worden sind. Sie sind aus der Arbeit heraus erwachsen, die ich zu tun hatte als einer, dem zehn Jahre lang die Ausbildung künftiger Pfarrer anvertraut gewesen ist. Ohne das ständige Gespräch mit den Brüdern aus dem Lückendorfer Predigerseminar und den Freunden des Lückendorfer Arbeitskreises und die fruchtbaren Diskussionen der „Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Strukturfragen der Gemeinden in der D D R " wären sie gar nicht möglich geworden. Sie bieten keine handlichen Rezepte, sondern wollen ein wenig theologische Orientierungshilfe leisten. Ich schreibe dieses Vorwort wenige Tage nach meiner Einführung als Bischof der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Es ist mein heißer Wunsch und meine inständige Bitte an Gott, daß wir ein paar Schritte vorankommen möchten auf dem Wege zur missionarischen Gemeinde, um die es in allen diesen Beiträgen geht. Werner

Krusche

Die Bibel in der Hand des Pfarrers* Die Bibel, die der Pfarrer in den Händen hat, ist ein umstrittenes Buch. Wird man das auch mit Cl. Westermann für ein Zeichen ihrer Lebendigkeit halten dürfen - „die umstrittene Bibel ist die lebendige Bibel" 1 - , so kann man doch andererseits nicht übersehen, daß die sich gegenwärtig unter uns vollziehende Auseinandersetzung um das rechte Verständnis und die sachgerechte Auslegung der Bibel so tiefgreifende Unterschiede hat sichtbar werden lassen, daß der Pfarrer, wenn er sich dieser Auseinandersetzung und der mit ihr gegebenen Beunruhigung und Infragestellung nicht entzieht, in Gefahr gerät, innerlich zerrissen oder zerrieben zu werden. Daß er ein umstrittenes Buch in Händen hat, weiß der Pfarrer seit je : Es wird bestritten von den Nicht-Christen, es ist strittig zwischen den Konfessionskirchen. Aber nun ist der Streit um die Bibel in der eigenen Kirche entbrannt, in der Kirche des Wortes, in der Kirche, in der man wie in keiner Kirche sonst sich auf die Schrift zu berufen pflegte und ihrer gewiß zu sein meinte. Und dies nun in einer Weise, daß gegenüber den sich hier auftuenden Differenzen die zwischen den Konfessionskirchen bestehenden Unterschiede im Schriftverständnis relativ harmlos erscheinen. Solange die Auseinandersetzung in einer leidenschaftlichen Sachlichkeit geführt wird, ist es gut; sie wird aber zunehmend in einer sarkischen Leidenschaftlichkeit geführt. Hier der Yorwurf eines bornierten Traditionalismus, der die mitgebrachten Denkschemata und überkommenen Schablonen nicht in Frage stellen lassen will ; dort der Yorwurf einer rationalistischen Zerstörung der biblischen Botschaft, bis hin zur Verteufelung des Gegners. (Ich habe erfahren, daß in bestimmten Kreisen ein Tonband die Runde macht, auf dem Kurt Koch der Verfasser des Buches „Seelsorge und Okkultismus" - von einer Dämonenaustreibung auf den Philippinen berichtet, bei der einer der Dämonen bekennt: „Wir sind Mitarbeiter der modernen Theologie.") Es ist müßig * Erstmals veröffentlicht in: Wort Gottes und Heilige Schrift, Luther-Verlag 1965. Gekürzt in: Die Zeichen der Zeit, 1965. 1

C. Westermann, Umstrittene Bibel, I960 2 , S. 6.

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und unter Christen zudem unmöglich zu fragen, wer hier die Schuld h a t : die terribles simplificateurs, die das, was in der diffizilen theologischen Diskussion verhandelt wird und eine Popularisierung schlechterdings nicht verträgt, in Journalistik umsetzen, oder die, die „Alarm um die Bibel" geben und Mißtrauen gegen die Theologie und die Pfarrerschaft säen. Klar ist nur eins : daß in dieser Atmosphäre des Mißtrauens und der hochgespielten Emotionen eine sachliche Klärung der uns in dieser Zeit unerhörter geistiger Umbrüche unausweichlich gestellten Aufgabe, uns die Botschaft der Bibel ganz neu anzueignen, nicht möglich ist. Solange der theologische Journalismus nicht einer verantwortlich gehandhabten Information Platz macht und solange der „Alarm um die Bibel" nicht abgeblasen und die Saat des Mißtrauens eingestellt wird, solange wird der Pfarrer entweder resignieren und der notwendigen Auseinandersetzung ausweichen, oder aber er wird zu einer Doppelexistenz verführt - daß er für sich behält, was er weiß, und predigt, wie man es erwartet - , da er ja dauernd befürchten muß, als „ungläubig", als ein Mann mit einem „gebrochenen Verhältnis zur Bibel" oder gar als in die Gesellschaft der Kochschen Dämonen gehörig diskreditiert zu werden. Solange wir nicht dazu bereit werden, dem Radikalen - auch wenn wir uns klar von ihm abgrenzen müssen - die bona fides zuzugestehen, die redliche Absicht, daß er es nicht auf die Zerstörung der biblischen Botschaft abgesehen hat, sondern daß es ihm - so ernst wie mir selber - um ihr rechtes Verständnis geht, und umgekehrt : solange wir nicht bereit werden, dem konservativen Biblizisten - auch wenn wir uns von ihm abgrenzen müssen - zuzugestehen, daß er nicht aus purer Denkfaulheit, sondern aus ernster Sorge um die unverkürzte biblische Botschaft so redet, solange kommt es zu keinem echten Gespräch, solange ist der Streit um die Bibel ein Streit kata sarka. Daß die Bibel, mit der der Pfarrer steht und fällt, ein nun auch in der Kirche selbst umstrittenes Buch geworden ist, hat seine Ursache nicht im Aufkommen der sog. „modernen Theologie", sondern ist angelegt im Wesen der Bibel selbst. Insofern in der Bibel Gottes verbindliches Wort ergeht, nötigt sie zur Entscheidung und kommt es also zur Bestreitung der biblischen Botschaft durch den Unglauben und zur Annahme der biblischen Botschaft im Glauben. Im Charakter der Bibel als Gottes anredendes Wort liegt der Grund für den Streit um die Bibel zwischen den Glaubenden und den Nichtglaubenden. Der Streit um die Bibel in d e r K i r c h e ist aber nicht einfach der Streit zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, sondern ein Streit zwischen denen, die die Botschaft der Bibel annehmen. Der Streit um die Bibel in der Kirche ist nun aber ebenfalls angelegt im Wesen der Bibel 12

selbst, nämlich insofern wir es in ihr mit Gottes Wort zu tun haben, das als Zeugnis geschichtsgebundener Menschen von Gottes in der Geschichte geschehendem Heilshandeln an Menschen in einer bestimmten Geschichtssituation ergangen ist und weiterbezeugt werden will an Menschen in wieder neuen Geschichtssituationen. Die damit gegebene Problematik konnte so lange nicht in den Blick kommen, als man in den biblischen Zeugen Menschen sah, die im Akt ihres Zeugnisses durch Inspiration aus ihrer Geschichtsgebundenheit befreit und über sie erhöht und zu Empfängern göttlichen Wissens wurden, als man das Geschichtshandeln Gottes im Sinne einer historia sacra, einer von der profanen Geschichte ontologisch unterschiedenen Geschichte ansah und als man die Situation der Empfänger des Zeugnisses als eine im wesentlichen gleiche verstand, als die immer gleiche Situation des sich gegen Gott empörenden Menschen, des Sünders. In dem Augenblick aber, in dem durch das erwachende, die Neuzeit signalisierende Geschichtsbewußtsein das Bewußtsein der historischen Distanz und des geschichtlichen Wandels aufbrach, 2 mußten auch diese drei Voraussetzungen - Inspiration der Zeugen als Entrückung von ihrem geschichtlichen Ort, Heilsgeschichte als ontologisch andere, dem Geschichtszusammenhang entnommene Geschichte, grundsätzlich gleiche Situation des Menschen zu allen Zeiten als Sünder - problematisch werden. Das erwachende geschichtliche Bewußtsein wurde der - immer schon vorhandenen und nur nicht e r k e n n b a r e n - Geschichtsgebundenheit der Bibel inne - der Zeugen, des Bezeugten und der Empfänger des Zeugnisses und damit des Zeugnisses überhaupt. Und damit wurde die Bibel zu einem in d e r K i r c h e umstrittenen Buch. Sie wurde umstritten zwischen denen, die in der Behauptung des Geschichtscharakters der Bibel ihre Auslieferung an die Relativität alles Geschichtlichen und damit die Aufhebung ihrer Singularität als Gottes unwandelbares Wort sehen, und denen, die gerade in der Geschichtlichkeit der Bibel den dem Menschen lebendig begegnenden Gott wirksam sehen. Und sie wurde umstritten zwischen denen, die den Geschichtscharakter der Bibel anerkennen, aber über die Relevanz des Geschichtlichen verschiedener Auffassung sind. In diesem Streit stehen wir. Er ist heute besonders heftig, weil wir in einer Zeit größter geistesgeschichtlicher Umbrüche und Wandlungen stehen, die uns nötigen, uns die Botschaft der Bibel ganz neu anzueignen. Aber es ist wichtig, sich klarzumachen, daß die Umstrittenheit der Bibel in der 2

Vgl. hierzu G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche (ZThK, 47. Jg., 1950, S. 28ff.).

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Kirche nicht durch den Unglauben, sondern durch die Geschichte verursacht ist und mit der Bibel selbst, nämlich mit ihrem Geschichtscharakter aufs engste zusammenhängt. Es ist die unabweisbare Aufgabe gerade der evangelischen Theologie und damit jedes evangelischen Pfarrers, den hier entstehenden Konflikten nicht auszuweichen, sich der Anfechtung nicht zu entziehen und die Spannungen durchzuhalten in der Gewißheit, daß die umstrittene Bibel selbst erweisen wird, Avas echt und wahr und fest ist. Ich selbst stehe in diesem Ringen drin und habe noch keine feste Position. Ich verstehe die Sorgen derer, die ihre Bibel liebhaben, weil sie in ihr die Stimme des guten Hirten hören, und die nicht möchten, daß das, woran sie sich halten, ins Wanken gerät, aber ich bejahe das Wagnis der anderen, alles noch einmal von Grund auf zu durchdenken mit dem Risiko, daß manches ins Wanken gerät, was festzustehen schien. Ich habe Angst, einen an seiner Bibel irrezumachen, und ich habe Angst, jemand den Zugang zur Bibel zu versperren. Und ich habe vor allem Angst, ich könnte die biblischen Zeugen ihr Zeugnis nicht ausreden lassen, sondern ihnen vorschnell mit meinen mitgebrachten Kategorien und Formeln ins Wort fallen. Und in alledem erfahre ich von Tag zu Tag - mir selber zum Verwundern - , daß das so umstrittene Wort der Bibel mich trägt und hält und führt. Ich denke, daß ich keine Ausnahme darstelle, sondern es den allermeisten Pfarrern so geht wie mir. Und ich will nun an ein paar Punkten paradigmatisch, nicht systematisch und erst recht nicht vollständig - zu zeigen versuchen, vor welche Fragen wir Pfarrer uns im Umgang mit der uns in die Hand gegebenen Bibel sehen und zwischen welchen - echten oder unechten - Alternativen wir uns hindurchzufinden haben.

1. Unfehlbares Gotteswort oder Zeugnis geschichtsgebundener

Menschen?

Der Glaubende ist gewiß, es in der Bibel mit Gottes Wort zu tun zu haben. Diese Gewißheit ist einer rationalen Begründung weder bedürftig, noch verträgt sie eine solche, sondern sie hat axiomatischen Charakter. Insofern nicht alle, sondern nur die Glaubenden diese Gewißheit haben, handelt es sich hier um den paradoxen Sachverhalt einer axiomatischen Gewißheit des Kontingenten, also der eine rationale Begründung ausschließenden und ihrer nicht bedürfenden Gewißheit, es in dem nicht jedermann evidenten Schriftzeugnis mit Gottes Wort zu tun zu haben. Quaestio, an scripturae seu sacra biblia sint Dei verbum, homine christiano indigna est, heißt es bei dem alten Wolleb. „Die Frage, ob die Schriften oder die Bibel Gottes Wort 14

sind, ist eines Christenmenschen unwürdig." In der Tat: wenn diese Frage den Sinn hätte: Wieso haben wir es in der Bibel mit Gottes Wort zu tun? Wie läßt sich das begründen oder beweisen?, so wäre es eine unmögliche Frage. Ob wir es in der Bibel mit Gottes Wort zu tun haben, ist nicht v o r dem Glauben feststellbar, sondern nur im Glauben zu erfahren. Darum kann es keinen Glauben an die Bibel geben, sondern nur an das mir in ihr begegnende und mich anredende Wort Gottes. Aber die Frage ist dann nicht unmöglich, sondern sinnvoll, wenn sie meint: In welchem Sinne habe ich es in der Bibel mit Gottes Wort zu tun, was beinhaltet die Gleichung Bibel = Wort Gottes, und was schließt sie aus? Darauf ist zunächst zu antworten : Diese Gleichung meint nicht, daß die Bibel als Buch Gottes Wort sei. Nicht das Buch, nicht die Bibel ante et extra usum, nicht die zugeschlagene Bibel ist Gottes Wort, sondern die Bibel in usu erweist sich als Gottes Wrort. Nicht das, was wir zwischen den Buchdeckeln haben, nicht die Bibel im Schrank oder auf dem Altar ist Gottes Wort, sondern die gebrauchte - gelesene und bedachte - Bibel macht Gottes Wort vernehmbar. Dieses Buch - und wir werden hinzufügen müssen: nur dieses Buch! - gibt die Möglichkeit, daß Gottes Wort gegenwärtig wird, aber die Existenz dieses Buches ist noch nicht die Verwirklichung dieser Möglichkeit. Es ist also falsch, wenn G. Bergmann behauptet : Für die „gläubige Gemeinde" i s t die Bibel Gottes Wort, und für die „moderne Theologie" e n t h ä l t sie nur Gottes Wort.3 Weder ist noch enthält die Bibel Gottes Wort, sondern sie wird Gottes Wort, indem sie mich anredet. Gottes Wort ist Fleisch, aber nicht Buch geworden. Es gibt keine der Inkarnation entsprechende Inskripturation Gottes. Gottes Sohn ist Mensch, aber der Heilige Geist ist nicht Schrift geworden. Wenn wir sagen, die Bibel ist Gottes Wort, so müssen wir jedenfalls wissen, daß wir hier in Abbreviatur reden. Gottes Wort ist Fleisch geworden, d.h., Gottes Anrede ergeht an uns in der ihn offenbarenden Geschichte; in ausgezeichneter Weise gilt das von der Geschichte Jesu Christi. Die Bibel ist das Zeugnis dieser zu unserem Heil geschehenen Geschichte seiner Selbstoffenbarung. Das Alte Testament bezeugt die auf Christus zulaufende, unter seinem vorausgeworfenen Schatten liegende, seine eigene Geschichte vorbereitende und in ihren Strukturen vorformende Geschichte Gottes mit seinem unter den Völkern lebenden erwählten Volk (Luk. 24,27; Apg. 26,22f.; Rom. 1,1 f.). Das Neue Testament bezeugt die Geschichte Jesu Christi selbst als Gottes 3

G. Bergmann, Alarm um die Bibel, 1964, S. 98.

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rettende Liebestat zum Heile der Welt (1. Joh. 4,14) und die dadurch ausgelöste Geschichte der der apostolischen Kirche aufgegebenen Weiterbezeugung der Heilsbotschaft. In der Begegnung mit der Bibel kommt es also zur Begegnung mit dem W o r t e G o t t e s als Zeugnis der in Jesus Christus zentrierten Geschichte seiner Selbstoffenbarung zu unserem Heil. Daß sie so verstanden sein will, gibt sie selbst zu verstehen: „Die Schrift" - und Jesus meint damit das Alte Testament - „ist es, die von mir zeugt" (Joh. 5,39) ; von Jesus als dem Sündenvergeber „zeugen alle Propheten" (Apg. 10,43); und der Schreiber des Johannes-Evangeliums nennt sich den Jünger, „der von diesen Dingen zeugt und dies geschrieben hat" (Joh. 21,24). Die Zeugen dieses Zeugnisses sind Menschen aus einem Zeitraum von tausend Jahren. Jeder von ihnen steht an einem bestimmten, unvertauschbaren, nicht überspringbaren geschichtlichen Ort : Sie haben also teil an den weltbildlichen Vorstellungen und an dem geschichtlichen Wissen ihrer Zeit. Sie sind Zeugen als geschichtliche Wesen und also in der damit gegebenen Begrenztheit ihres Weltwissens, ihrer Vorstellungswelt, ihrer Denkstruktur. Sie werden im Akt ihres Zeugnisses nicht von ihrem geschichtlichen Ort entrückt, ihnen wächst nicht ein Weltwissen zu, das auch dem unseren noch weit vorauseilte, um zu jeder Zeit gültig und unanfechtbar zu sein. Sie gaben ihr Zeugnis im Umkreis ihrer geschichtlichen, biographischen und psychologischen Möglichkeiten. Und gerade so und nur so sind sie Zeugen. Der Zeugenbegriff wäre im Innersten zerstört, wenn man die anthropologische Begrenztheit und also die Geschichtsgebundenheit der biblischen Zeugen leugnete. Es wäre eine Aufhebung des Zeugnischarakters der Bibel, würde man behaupten, sie sei irrtumslos und unfehlbar in allem, was sie sagt, auch in ihren weltbildlichen Aussagen. Vielmehr hat das biblische Zeugnis teil an der anthropologischen Begrenztheit seiner Zeugen. Mit K. Barth zu sprechen: „Wir können es nicht übersehen, nicht leugnen und nicht ändern: Wir stoßen in der Bibel hinsichtlich alles dessen, was ihr Welt- und Menschenbild betrifft, beständig auf Voraussetzungen, die nicht die unseren sind, und auf Feststellungen und Urteile, die wir uns nicht zu eigen machen können." An einem Punkte haben das allmählich die meisten begriffen. Es bestreiten heute nur noch wenige Fundamentalisten, daß das biblische Zeugnis vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel das alte geozentrische Weltbild voraussetzt (noch der Schreiber der Offenbarung rechnet selbstverständlich damit, daß die Erde so groß ist, daß ein Drittel der Sterne auf ihr Platz hat - Offb. 1,24). Wir haben es unter schweren Kämpfen gelernt, daß 16

die Bibel uns die Geschichte von Gottes Heilshandeln bezeugen und uns nicht nebenbei auch noch über alle möglichen biologischen und astronomischen Sachverhalte belehren will und daß die Wahrheit ihres Zeugnisses nicht auf Gedeih und Verderb verbunden ist mit den Vorstellungen, in denen es ergeht und die wir uns - nicht aus Unglauben, sondern zufolge besserer biologischer und astronomischer Kenntnisse - nicht mehr zu eigen zu machen vermögen und nicht mehr zu eigen zu machen brauchen. Heute weiß bei uns jeder normale Konfirmand, daß die biblische Schöpfungserzählung nicht ein Bericht über den Hergang der Weltentstehung sein will, sondern die Bezeugung des Gottes, der als Herr seines Volkes auch der Schöpfer der Welt ist, daß die Bibel auf ihren ersten Seiten nicht berichten will, wie der Mensch entstanden, sondern wer der Mensch ist. Wir haben damit eine unerhört weittragende Unterscheidung zu machen gelernt ; die Unterscheidung zwischen Gemeintem und Gesagtem, zwischen der Botschaft und den Vorstellungen, in denen sie ausgesprochen ist. Wir müssen uns freilich klarmachen, daß das u n s e r e Unterscheidung ist. 4 Die biblischen Zeugen selbst haben diese Unterscheidung nicht gemacht und nicht machen können; sie waren von ihrer damaligen Naturerkenntnis aus selbstverständlich der Meinung, daß ihr Zeugnis nicht nur hinsichtlich des Was, sondern auch hinsichtlich des Wie, daß nicht nur die Botschaft, sondern auch ihre naturwissenschaftlichen Angaben richtig waren. Wir indessen unterscheiden hier, und d.h., wir gehen kritisch vor: Ihr Zeugnis (Gott ist der Schöpfer) nehmen wir ihnen ab, aber nicht ohne weiteres die naturwissenschaftlichen Vorstellungen und weltbildlichen Voraussetzungen, mit denen es ausgesprochen wird. Daß die Unterscheidung, die wir zu machen gelernt haben und die uns Pfarrern vielleicht inzwischen wirklich geläufig geworden ist, der Gemeinde noch große Schwierigkeiten bereitet, ist offensichtlich. Das zeigt sich sofort, wenn es nicht um die Schöpfungsgeschichte, sondern etwa um die Himmelfahrtsgeschichte geht. Klar ist, daß Lukas in Apg. 1 die Erhöhung Jesu als Himmelfahrt unter Verwendung von Raum-Kategorien und also als eine räumliche Aufwärtsbewegung bezeugt. Für ihn und seine Zeitgenossen, die im alten Weltbild lebten, bereitete das keine intellektuellen Schwierigkeiten, wie die vielen damals umlaufenden Himmelfahrtsgeschichten zeigen ; es gab für sie ein räumliches Oben und den Himmel als jenseitigen Raum. Wir können uns diese Vorstellung nicht mehr zu eigen machen, nicht, weil 4 Auf diesen wichtigen Sachverhalt macht W. Marxsen, Der Streit un die Bibel, 1965, S. 20ff., mit Recht aufmerksam.

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wir nicht glauben, sondern weil wir inzwischen eine andere Vorstellung von der Welt bekommen haben. Wir glauben an das Z e u g n i s des Lukas, daß Jesus Christus durch seine E r h ö h u n g teilbekommen h a t an Gottes r a u m überlegener Herrschaft, ohne indessen sein räumliches Vorstellungsmaterial m i t übernehmen zu können. Unterwerfen wir d a m i t die Bibel unserer Vernunft? Machen wir d a m i t unser - noch dazu in dauernder Veränderung begriffenes - Weltbild zum Auslegungskanon der Schrift? Keineswegs. Wir machen lediglich d a m i t E r n s t , daß es dem Heiligen Geist gefallen h a t , Menschen nicht ohne, sondern mit ihren dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Weltbildvorstellungen zu Zeugen der in Jesus Christus zentrierten Rettungsgeschichte Gottes zu machen, und damit, daß der Heilige Geist es uns also nicht n u r erlaubt, sondern gebietet, den Gehalt ihres Zeugnisses auch Menschen, die andere weltbildliche Vorstellungen haben, weiterzugeben. Weil G o t t wirkliche - und also geschichtsgebundene - Menschen zu Zeugen seines Heilshandelns gemacht h a t , d a r u m ist die Unterscheidung zwischen der Botschaft ihres Zeugnisses und den Vorstellungen, in denen sie es ausgesprochen haben, geboten. Freilich ist mit dieser Unterscheidung ein gefährlicher Weg beschritten, der n u r in höchster Verantwortlichkeit und im gehorsamen Hören zu gehen ist. Daß auf ihm die gefährliche Möglichkeit liegt, das biblische Zeugnis zu verkürzen oder gar zu zerstören, werden wir noch sehen. Solange es sich n u r u m die naturwissenschaftlichen Vorstellungen handelt, ist die Gefahr gering. Wir werden im Verlauf des Vortrage der Gefahren in immer steigendem Maße ansichtig werden. Schon beim nächsten P u n k t .

2. Historischer

Tatsachenbericht oder verkündigte

Geschichte?

Zu der Geschichtsgebundenheit der biblischen Zeugen gehört auch ihr Verhältnis zur Historie, dessen Eigenart wir n u r von der so völlig anderen Einstellung aus ansichtig werden, die wir zur Geschichte haben. W i r machen seit der Aufklärung ganz selbstverständlich die Unterscheidung zwischen einer exakten, dokumentarischen Darstellung eines Geschehens und der deutenden, erklärenden, wertenden Darstellung dieses Geschehens. U n d zuverlässig, glaubwürdig ist uns die Darstellung eines Geschehens n u r dann, wenn sie ganz genau den wirklichen Hergang berichtet, wenn sie genau registriert, was passiert und wie es passiert ist, u n d wenn der Darstellende dabei alle Eigenbeteiligung ausschaltet, wenn er

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dem Geschehen als neutraler Beobachter gegenübersteht, also darauf verzichtet, eigene Deutungen, Urteile, Wertungen, Stellungnahmen in seine Darstellung einfließen zu lassen. (Die Darstellung eines Geschehens ist für uns nur dann zuverlässig, glaubwürdig, wahr und der Wirklichkeit entsprechend, wenn eine Tonfilm-Kamera - h ä t t e sie dabeisein können - die Ereignisse und die Worte genauso wiedergegeben hätte, wie es in der Darstellung geschieht.) Die Darstellung eines Geschehens muß für uns den Zuverlässigkeitsgrad eines unparteiischen Polizeiberichtes oder einer Tonfilmreportage haben, wenn wir sie für wahr und das dargestellte Geschehen für wirklich halten sollen. Das heißt aber: Wir sind bestimmt von einem positivistischen Wirklichkeits- und WahrheitsbegrifF. Mit dieser Einstellung zur Historie gehen wir nun auch an die biblischen Zeugnisse heran. Uns ist diese Einstellung so selbstverständlich geworden, daß wir uns überhaupt nicht vorstellen können, es könne je anders gewesen sein, es könnten Menschen jemals ein anderes Verhältnis zur Historie gehabt haben als wir. Die Sache stellt sich dann also so dar: Die biblischen Darstellungen des damals und dort Geschehenen sind glaubwürdig, weil sie exakte historische Berichte sind; sind sie nicht exakte historische Berichte, so sind sie nicht glaubwürdig. Die biblischen Zeugen hatten aber ein völlig anderes Verhältnis zur Historie als wir. Sie kannten die uns so selbstverständlich gewordene Unterscheidung von passierter und interpretierter Geschichte, von exakter Darstellung und stellungnehmender Deutung des Geschehens nicht. Sie konnten ganz sorglos das Geschehen mit einer Deutung zusammen darstellen - und verstanden das Ganze dennoch als Darstellung. Sie konnten dann auch, ohne im geringsten an Geschichtsfälschung zu denken, das Geschehen noch einmal mit einer ganz anderen Deutung nacherzählen. 5 Wir täten den biblischen Zeugen bitter unrecht, wenn wir ihnen dieser historischen Unbekümmertheit wegen einen Vorwurf machen wollten. Sie waren Zeugen im Umkreis ihrer geschichtlichen Möglichkeiten; als Kinder ihrer Zeit hatten sie nun eben einmal dieses skizzierte Verhältnis zur Historie und nicht das unsere. Es hieße, ihren Charakter als Zeugen aufheben, würden wir ihr Zeugnis als exakte historische Berichte ausgeben. Die Behauptung, man mache sie zu falschen Zeugen, wenn man die historische Exaktheit ihres Zeugnisses in Frage stelle, schiebt den Zeugen unser modernes Verständnis von Historie unter und leugnet damit ihren Charakter als Zeugen, d . h . als geschichtsgebundener Menschen. s

Vgl. W. Marxsen, a.a.O., S. 40f.



Aber selbst wenn die biblischen Zeugen historisch exakte Tatsachenberichte hätten schreiben k ö η η e n , so hätten sie sie nicht schreiben w o l l e n . Sie waren ja eben Zeugen und η icht neutrale Berichterstatter, von der Sache zuinnerst Betroffene und Bewegte und nicht unbeteiligte Reporter, sie hatten leidenschaftlich Partei ergriffen und waren nicht kalt zuschauende Beobachter, sie wollten verkündigen und nicht bloß informieren, sie wollten zum Glauben rufen und nicht historisch exakte Mitteilungen machen. Sie wollten nicht einfach Geschehenes berichten, sondern den Herrn des Geschehens bezeugen, nicht nur Tatsachen mitteilen, sondern den Täter preisen. Freilich haben sie dabei nicht herumphantasiert - sie sind Zeugen und keine fabulierenden Dichter; sie wollen ja ein Geschehen bezeugen, das sich nicht oberhalb der Weltgeschichte vollzogen hat, sondern an ihr partizipiert. Der Inhalt ihres Zeugnisses ist historisches Geschehen, aber ein solches, das sie als zu unserem Heile geschehendes Handeln Gottes erkannt hatten. Daß sie historisches Geschehen als Heilsgeschehen zu bezeugen hatten, macht die Eigenart ihres Zeugnisses aus als verkündigte Geschichte. Der Sachverhalt, daß in historischem Geschehen Gott seine Geschichte zur Rettung der Welt vollzieht, schafft sich in ihrem Zeugnis das ihm angemessene Wahrheitsmedium in der unauflösbaren Amalgamierung von Historie und Bekenntnis. Dabei führt nicht die Historie zum Bekenntnis, sondern das Bekenntnis deutet und gestaltet die Historie. Diese Einsicht, daß wir es in der Bibel nicht mit historischen Tatsachenberichten, sondern mit verkündigter, vom Glauben gestalteter Geschichte zu tun haben, ist uns Pfarrern ebenfalls allmählich selbstverständlich geworden. Es schockiert uns also nicht mehr, daß manches von dem, was in der Bibel wie ein historischer Bericht klingt, möglicherweise oder wahrscheinlich nicht so passiert ist, wie es berichtet wird. Daß z . B . die Vätergeschichten in der Genesis ni cht den historischen Hergang und Ablauf von Ereignissen berichten, sondern daß hier „alles vom Glauben gestaltet" ist, daß „auch die Verknüpfung der Ereignisse zu einem großen Heilsweg... nicht einfach historischer Bericht, sondern selbst schon ein Bekenntnis zu Gottes Führung"® ist, das ist uns geläufig. In diesen Erzählungen hat sich die Glaubenserfahrung v o n Generationen niedergeschlagen, geistliche Erfahrungen haben sich hier verdichtet und die Historie mitgestaltet, wie es G. v. Rad ausdrückt: „Diese Vätergeschichten sind ja nicht in jenem historisch exklusiven Sinne erzählt, der allein darauf bedacht ist, nur das damals Geschehene genau wiederzugeben, vielmehr haben sich in 6

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G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, 1957, S. 15.

ihnen auch Erfahrungen und Erkenntnisse Späterer niedergeschlagen. Die Erzähler verarbeiten oft in einer Erzählung von wenigen Versen den Ertrag einer Gottesgeschichte, die von dem erzählten Ereignis bis in ihre eigene Gegenwart hineinreicht." So sind auch die Evangelien keine exakten historischen Berichte von Begebenheiten, sondern verkündigte Geschichte. Hier bezeugen Menschen die irdische Geschichte Jesu von O s t e r n her, als zum Glauben an den Auferstandenen Gekommene. Sie können die Taten und Worte des irdischen Jesus nicht mehr so beschreiben, als wüßten sie nichts von der Auferstehung. Sie versetzen sich nicht theoretisch auf den Standpunkt ihres einstigen Unglaubens, um unparteiische Historie berichten zu können; sie sehen nicht vorübergehend davon ab, daß sie an Jesus als den erhöhten Herrn glauben, um möglichst objektiv seine irdische Geschichte beschreiben zu können. Bericht von den Worten und Taten des irdischen Jesus und Bekenntnis zu dem erhöhten Herrn sind in ihrem Zeugnis unauflöslich amalgamiert, wobei der Anteil der Historie und des Bekenntnisses jeweils sehr unterschiedlich ist. Sosehr das inzwischen den allermeisten Pfarrern klargeworden ist, sosehr macht uns das allen immer wieder Schwierigkeiten, da wir von unserem positivistischen Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis so schwer loskommen und uns nur sehr schwer vorstellen können, daß die biblischen Zeugen es noch nicht hatten. Wir müssen ja nicht nur der Tatsache ins Auge sehen, daß die Evangelien keine Biographien Jesu sind, daß also der historische Rahmen (die Chronologie und Geographie), in den die überlieferten Geschichten und Worte eingeordnet sind, Bildungen der Evangelisten sind - nicht willkürliche, sondern im Dienste ihres Zeugnisses stehende - , wir müssen vielmehr damit rechnen, daß manches, was wie Historie klingt, eine Bekenntnisaussage in der Form von Historie ist. Die Forschung spricht hier von „Legende". Ob sie dabei gut beraten ist, ist mir außerordentlich fraglich; denn für unser normales Sprachgehör stellen sich mit dem Wort „Legende" sofort die Momente des Erdachten, Erfundenen, Ersponnenen, des Nicht-Wirklichen ein. Und darum handelt es sich ja nicht, sondern um ein in Form von erzählter Historie geschehendes Bekenntnis zu dem erhöhten, mit dem irdischen Jesus identischen Herrn. Eine im Dienst der Gemeinde stehende Forschung sollte sich um eine Nomenklatur bemühen, die Mißverständnisse und Mißtrauen nicht geradezu provoziert. Die Erzählung von Jesu Wandeln auf dem See ist doch auch dann keine freie Erfindung der dichtenden Phantasie, wenn Jesus in seiner irdischen Lebenszeit niemals auf den Wellen des Galiläischen Meeres ge21

schritten wäre, 7 denn diese wie ein historischer Bericht klingende Erzählung wäre dann eben der Niederschlag der im Glauben erfahrenen Realität, •daß Jesus Christus sich durch nichts hindern läßt, zu den bedrängten, verängstigten Seinen zu kommen, daß er sich auf dem Wegelosen und Bodenlosen Zugang zu ihnen zu verschaffen vermag. D a s ist die Wahrheit und Realität dieser Geschichte, die nicht mit dem steht und fällt, was historisch passiert ist. Es handelt sich eben in den Evangelien um gepredigte Geschichte als die der Realität Jesu Christi - nämlich seiner Identität als Irdischer und Erhöhter - allein angemessene Gestalt der Rede. Aber wir haben auch in der Uberlieferung der V e r k ü n d i g u n g Jesu mit der Tatsache zu rechnen, daß Worte, die als Worte des irdischen Jesus berichtet werden, so nicht von ihm gesprochen worden sind. Die Forschung spricht hier von „unechten" Jesusworten. Ob sie daran gut t u t , ist wiederum zu bezweifeln. Für unser Sprach empfinden verbindet sich nun eben einmal mit dem Wort „ u n e c h t " die Vorstellung: gefälscht und minderwertig. Und mit dem Terminus „Gemeindebildung", womit ein von dem irdischen Jesus berichtetes Wort als von der an den erhöhten Herrn glaubenden Gemeinde gestaltet bezeichnet wird, ist es nicht viel besser, weil auch hier das Moment des willkürlich Erfundenen mitschwingt. Aber wenn die neutestamentlichen Zeugen dem irdischen Jesus ein Wort in den Mund legen, das er so nicht gesprochen hat, dann haben sie nicht fabuliert und phantasiert, sondern sie haben es aus dem Glauben heraus getan, daß der irdische Jesus und der erhöhte Christus ein und derselbe ist, daß der irdische Jesus also nicht aufgehört hat zu reden, sondern weiterredet, und zwar in Kontinuität mit dem einst Gesagten. Wir sind bisher der Geschichtsgebundenheit des biblischen Zeugnisses nur in der Weise innegeworden, daß wir die Z e u g e n als geschichtsgebundene Menschen in den Blick bekommen haben. Aber das biblische Zeugnis ist auch von der Seite der E m p f ä n g e r des Zeugnisses her geschichtsgebunden. Dieser Tatsache müssen wir uns noch kurz zuwenden. Die biblischen Zeugen haben nicht an Unbekannt, nicht an eine x-beliebige Empfängerschaft geschrieben, sondern sie haben Menschen in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation vor Augen, die sie nicht ignorieren, von der sie nicht absehen können. H ä t t e n sie nur historische Berichte zu 7

Vgl. H. Urners Meditation über Matth. 14,22-33 und die sich daran anschließende Diskussion in: Das menschliche Zeugnis von Gottes Wirklichkeit, hrsg. v. H. Burgert, 1954, S. 35 ff.

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geben, so wäre es völlig gleichgültig, wem sie die gäben - solche historische Berichte zielen nicht auf bestimmte Adressaten, sie sind immer und überall richtig. Aber sie haben Gottes existenzverwandelnde, menschenrettende, weltversöhnende Geschichtstaten zu bezeugen, und da spielt es eine entscheidende Rolle, wer dieses Zeugnis empfangen, wer also damit zum Glauben und zum Gehorsam gerufen, an wem damit Seelsorge geübt werden soll. Das Zeugnis der biblischen Zeugen orientiert sich am Empfängerkreis. Dessen geistige, geistliche, seelsorgerliche - kurz: dessen geschichtliche Situation ist mitbestimmend für das Zeugnis. Bei dem Zeugnis der alttestamentlichen Propheten liegt das ohne weiteres auf der Hand; es ist stärkstens situationsbezogen. Ebenso klar ist es bei den neutestamentlichen Briefen. Paulus hätte den Brief an die Galater nicht nach Thessalonich schicken können. Die Heilstat Gottes in Jesus Christus wird in eine ganz konkrete Gemeindesituation hinein bezeugt, die durch Bedrohungen von außen, Anfechtungen von innen, Gefährdungen durch Irrlehre, falsche Hoffnungen usw., aber auch durch ein bestimmtes kulturelles und religiöses Milieu gekennzeichnet ist. Freilich ist der Anteil der Situation an Gehalt und Gestalt des Zeugnisses verschieden groß, so daß durchaus auch Briefe ausgetauscht werden können. Aber auch die im Inhaltsverzeichnis der Bibel als „Geschichtsbücher" bezeichneten Schriften sind stärkstens an der geschichtlichen Situation der Gemeinde, an die sie sich jeweils wenden, orientiert. Sie sind eben keine Geschichtslehrbücher, sondern gepredigte und d. h. immer: auf einen Empfänger zielende - Geschichte. Die Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk muß in neuen Situationen neu mit neuen Beurteilungsmaßstäben und neuen seelsorgerlichen Zielsetzungen-bezeugt werden. So ist das sog. „deuteronomische Geschichtswerk" die Bezeugung des mit seinem Volk zum Heile der Welt handelnden Bundesgottes an Israel in der Situation nach den Katastrophen von 721 und 586; es will mit seiner Uberprüfung der in Gottes Verwerfungsurteil gerichteten bisherigen Geschichte zur Buße rufen. Dagegen bezeugt das nach der Rückkehr aus dem Exil geschriebene chronistische Geschichtswerk denselben in der Geschichte seines Volkes handelnden Gott in eine ganz andere Situation hinein; es ergeht an das Bundesvolk, das vor der Aufgabe der Neukonstituierung der Kultgemeinde steht und dem es bei der Lösung dieser Aufgabe Hilfe geben möchte. Auch die Gebote Gottes im Alten Testament sind keine starre Größe, sondern werden dauernd in die neue Situation hinein bezeugt durch Neuinterpretation. „Israel hat den Jahwewillen als äußerst beweglich verstanden, immer neu sich einstellend auf jede in religiöser oder politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht veränderte Situation.

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Das großartige Beispiel einer solchen Neuinterpretation auf der ganzen Linie ist das Deuteronomium, das vor der Aufgabe stand, Jahwes Willen in eine Zeit hineinzusprechen, die auf keinem ihrer Lebensgebiete noch derjenigen Epoche glich, in der Jahwe sein Volk zum ersten Male angeredet hatte." 8 Und genau derselbe Sachverhalt ist - mutatis mutandis — auch bei den Geschichtsbüchern des Neuen Testaments, den Evangelien, anzutreffen. Die Evangelisten haben eine Gemeinde in verschiedenen Situationen vor Augen, und an dieser Situation orientieren sie ihr Zeugnis, indem sie den ihnen überlieferten Stoff so gestalten und neu interpretieren, daß die Botschaft von dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus die gerade in dieser Situation erforderliche Seelsorge üben kann. Hier liegt die Erklärung für die Pluralität der Evangelien und ihre unterschiedliche Bezeugung derselben Sache. Die Unterschiedlichkeit der Evangelien läßt sich also nicht so simpel erklären, wie das oft versucht wird, indem man sagt: Wenn vier Zeugen des gleichen Geschehens - ζ. B. eines Verkehrsunfalls - den Vorfall berichten, so ist klar, daß ihre Berichte voneinander abweichen. Das stimmt, wenn die vier Zeugen gleichzeitig und unabhängig voneinander berichten. Aber ebendies trifft für die Evangelien nicht zu ; ganz abgesehen davon, daß die Evangelisten nicht selbst Augen- und Ohrenzeugen waren, haben sie nicht gleichzeitig und unabhängig voneinander berichtet, sondern zumindest zwei von ihnen - Matthäus und Lukas - haben das Zeugnis des ersten - Markus - gekannt. Wenn ihr Zeugnis anders lautet als seins, so ist das also nicht selbstverständlich (wie bei den vier Verkehrsunfall-Zeugen), sondern dann haben sie sein Zeugnis bewußt und mit Absicht korrigiert. Und zwar nicht nur im Sinne der Komplettierung, weil sie sein Zeugnis für u n v o l l s t ä n d i g gehalten hätten, so daß es von ihnen noch um einiges zu ergänzen gewesen wäre. Freilich auch nicht in dem Sinne, daß sie sein Zeugnis als u n z u t r e f f e n d beurteilt hätten, so daß es von ihnen richtigzustellen gewesen wäre. Sondern sein Zeugnis war u n z u r e i c h e n d f ü r d i e n e u e S i t u a t i o n , in die hinein sie ihr Zeugnis zu geben hatten. Damit die Sache, die sie wie Markus bezeugen wollten, dieselbe bliebe, mußten sie sie anders sagen; hätten sie einfach dasselbe gesagt wie er, so hätten sie in der neuen Situation die Sache nicht behalten. Das Paradebeispiel ist hier immer wieder Lukas, der sein Evangelium an eine Gemeinde schrieb, die nach der enttäuschten Naherwartung mit der sich erstreckenden Zeit rechnen und sie bestehen lernen mußte. Die Anfechtung des Hörerkreises wird zum Mittel der Neuinterpretation des Christus-Geschehens. Die große Bedroherin ist die Zeit, «G. v. Rad, a.a.O., S. 200.

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aber gerade sie wird eingespannt zur Bewältigung des Problems, indem Lukas sein Zeugnis in das von ihm geschaffene Schema der drei heilsgeschichtlichen Epochen einordnet und das Zeugnis des Markus dabei erheblich modifiziert. Nur ein Beispiel aus der Wortüberlieferung: Nach Mark. 9,1 sagt Jesus: „Unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie gesehen haben, daß das Reich Gottes mit Macht gekommen ist." Dies ist der Hinweis auf die Nähe der Parusie: Einige der Zeitgenossen werden sie erleben. Sie werden das Reich Gottes k o m m e n sehen. Lukas bezeugt dieses Wort Jesu neu für seine Hörer, die mit der sich dehnenden Zeit rechnen lernen müssen, indem er das Wort „kommen" streicht. Jesus sagt dann (Luk. 9,27) : „Es sind einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben." Das ist nicht mehr ein Hinweis auf die nahe Parusie, sondern darauf, daß die Betreffenden das in ihm präsente Reich Gottes erkennen werden. Sie werden nicht sterben, ohne zu dieser Erkenntnis gekommen zu sein. Oder es ist ein Hinweis auf Pfingsten, das sie erleben werden. Aber auch die mit der Überschreitung des palästinensischen in den hellenistischen Raum hinein geschehene Veränderung der Situation macht - z.B. in der Christologie - eine Neuinterpretation nötig. Der Vorstoß des Evangeliums in neue Räume, in eine neue gesellschaftliche Ordnung nötigt dazu, das Evangelium anders zu sagen, damit es dasselbe bleibt. Das biblische Zeugnis ist also auch nach der Seite der Empfängerschaft hin geschichtsgebunden, insofern es sich entscheidend an deren jeweiliger Situation orientiert. Weil das, was bezeugt wurde, erhalten bleiben sollte, mußte es in neuen Situationen neu gesagt werden. Würde hier nur das alte Zeugnis wiederholt, so führt diese vermeintliche Treue zum Verlust der Sache. Die Sache, die es durchzuhalten gilt, bleibt nur dieselbe, wenn sie in neuen Situationen anders gesagt wird. Aus diesem Grunde müssen die biblischen Zeugnisse notwendig differieren und sind alle gutgemeinten Harmonisierungsversuche unnötig und unmöglich. Aber nun muß ja die Frage kommen: Wenn das so ist, wird dann nicht alles nur noch Interpretation, verlieren wir da nicht die Historie, werden dann nicht die Fakten in einer Weise problematisiert, daß alles ins Wanken gerät, daß nichts mehr sicher ist? Hat die Behauptung, es handle sich im biblischen Zeugnis nicht um historische Tatsachenberichte, nicht ein Gefalle, das schließlich im völligen Skeptizismus enden muß? Wenn man erst einmal dem Gedanken Raum gibt, es könne etwa die Erzählung von Jesu Wandeln auf dem See historisch so nicht passiert sein, gibt es dann überhaupt noch ein Halten, ist dann nicht alles - die Wunder, das leere Grab, 25

die Auferstehnng - dem historischen Zweifel ausgeliefert? Kann man denn dann noch glauben, wenn historisch alles so unsicher ist? Darauf ist zunächst einmal zu antworten: Ich glaube nicht auf Grund dessen, daß historisch alles zuverlässig ist. Wer die historische Richtigkeit zur Vorbedingung des Glaubens machte, zeigte nur, daß er nicht glauben will. Im übrigen ist das Urteil, ob ein bezeugtes Geschehen oder Wort historisch zuverlässig oder legendär bzw. unecht ist, das immer nur vorläufige, immer korrigible Urteil des Historikers, von dem ich meinen Glauben grundsätzlich nicht abhängig machen kann. Trotzdem täten wir unrecht, wenn wir die Frage nach der Historie, nach dem, was denn nun wirklich geschehen ist, als illegitim abweisen wollten, weil dahinter das verdächtige Verlangen nach historischer Sicherheit stehe, also das Verlangen nach Garantien für den Glauben. Die Frage nach der Historie ist insofern legitim, als sich darin die Sorge zu Wort meldet, die gepredigte Geschichte könnte sich in einer Weise verselbständigen, so daß sie den Zusammenhang mit dem Jesusgeschehen verliert und dann unweigerlich in irgendeinem Enthusiasmus oder Nomismus endet. Darum ist die Frage nach dem historischen Jesus wieder virulent geworden. E. Käsemann hat in seinem Aufsatz über „Sackgassen im Streit um den historischen J e s u s " die Frage R. Bultmanns, wie aus dem Verkündiger der Verkündigte geworden sei, umgekehrt und gefragt: Wie es dazu kommen konnte, daß man, als man Jesus längst als den Kyrios, den Gottessohn, den Schöpfungsmittler, den heimlichen Kosmokrator und verheißenen Weltenrichter verkündigte, noch einmal in den Evangelien das Bild des Verkündigers erweckt hat? Warum diese Rückblendung von dem verkündigten Kosmokrator auf den, der wie ein Rabbi durch Palästina schreitet? Käsemann fragt: ,,Wie konnte es von der Doxologie des Verkündigten nochmals zur Erzählung vom Verkündiger kommen?" Und er gibt die Antwort: ,, Der irdische Jesus mußte den gepredigten Christus davor schützen, sich in die Projektion eines eschatologischen Selbstverständnisses aufzulösen und zum Gegenstand einer religiösen Ideologie zu werden." 9 In der Frage nach der Historie scheint sich mir die legitime Sorge auszusprechen, daß der gepredigte Christus nicht zu einem erdachten, nicht zu einem von der Gemeinde in Verfügung genommenen Christus werden darf, aus dem man alles machen kann. Wir stehen vor offenen Fragen. Daß die biblischen Zeugnisse nicht historische Tatsachenberichte sein k ö n n e n , zeigt die jedem aufmerksamen 9

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E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, 2. Bd., 1964, S. 66f.

Bibelleser auffallende Tatsache, daß die historischen Angaben sich nicht zur Deckung bringen lassen und sich gelegentlich widersprechen. Wenn es auf exakte historische Tatsachenberichte ankäme, müßte man sich zwischen den Synoptikern und dem Johannes-Evangelium, zwischen der Apostelgeschichte und dem Galaterbrief entscheiden. Daß die biblischen Zeugnisse nicht einfach historische Tatsachenberichte sein w o l l e n , erhellt aus der Tatsache, daß die biblischen Zeugen den ihnen überlieferten Stoff in eine bestimmte Geschichtssituation hinein bezeugten und ihn dabei modifizierten. Daß ihnen dabei die Historie nicht nebensächlich war und sie nicht frei mit ihr umgingen wie Dichter mit einem historischen Stoff, daß sie nicht nur interpretierten, sondern auch konservierten, ist uns ebenso deutlich geworden. Wir haben keinen Maßstab, der festlegen könnte, wo die historische Faktizität aufhört und die Verkündigung beginnt. Das Problem, das sich hier stellt - Verhältnis von Historie, Glaube und Verkündigung - , haben wir nicht künstlich erzeugt, sondern es stellt sich uns unausweichlich von der Tatsache der Geschichtsgebundenheit der Zeugen und unserer eigenen und vor allem von der Wirklichkeit her, mit dem es das Zeugnis zu tun hat : daß Gott in historischem Geschehen zu unserem Heile gehandelt hat und handelt. Es ist dabei wohl unvermeidlich, daß - wie G. Bornkamm an H. Urner schreibt - „rechts oder links unseren Weggefährten der Atem ausgeht und den einen die Fleischtöpfe der massiven Objektivität das Heil zu sein dünken, den andern nur die Skepsis des Historikers als der Weisheit letzter Schluß erscheint". Wir haben es eben im biblischen Zeugnis mit einer Wirklichkeit zu tun, „die weder in die vermeintliche Objektivität historischer Gegebenheiten noch in die ebenso vermeintliche Subjektivität irgendeiner Gläubigkeit sich spannen läßt". 1 0 Was ergibt sich aus den vorgetragenen Überlegungen an praktischen Konsequenzen für den Pfarrer in seinem Umgang mit der Bibel? Ich denke folgendes : 1. Der Pfarrer wird die biblischen Zeugen als Zeugen ernst nehmen, indem er sich von der Zwangsvorstellung frei macht, ihr Zeugnis sei nur dann wahr und das Bezeugte nur dann wirklich, wenn sie uns exakte historische Tatsachenberichte geliefert haben. Er wird das biblische Zeugnis nicht als Geschichtslehrbuch benutzen. Er darf historisch unbekümmert sein und wird sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, wenn die Forschung von Sage oder Legende oder Gemeindebildung spricht oder ein Jesus-Wort unecht

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In: Das menschliche Zeugnis von Gottes Wirklichkeit, 1954, S. 44 f.

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nennt. Er wird ein korrigibles historisches Urteil nicht mit einem Glaubensurteil verwechseln. 2. Der Pfarrer wird die biblischen Zeugen als Zeugen ernst nehmen, indem er selbst und anderen gegenüber darauf verzichtet, Unausgeglichenheiten oder Widersprüchlichkeiten im Zeugnis der Bibel künstlich zu harmonisieren. Er wird vielmehr sorgsam fragen, aus welchem Grunde das Zeugnis der Zeugen hier voneinander abweicht. Er wird darum auch mit der Konkordanzmethode vorsichtig sein. 3. Der Pfarrer wird die biblischen Zeugen als Zeugen ernst nehmen, indem er genauestens darauf achtet, welche Situation der Gemeinde sie jeweils vor Augen hatten und welche Seelsorge sie in gerade dieser Situation mit ihrem Zeugnis üben wollten. 4. Der Pfarrer wird die biblischen Zeugen als Zeugen ernst nehmen, indem er sich in ihre Bewegung hineinnehmen läßt und nicht einfach ihr Zeugnis wiederholt, sondern es - wie sie es taten - in die neue Situation (die seiner Gemeinde) hineinspricht. Er wird sich von ihnen sagen lassen, daß die bezeugte Sache nur dann dieselbe bleibt, wenn sie in neuen Situationen anders gesagt wird, und daß es ein Irrtum ist zu meinen, die Treue zu der von ihnen bezeugten Sache zeige sich in der Treue zu dem von ihnen gebrauchten Vokabular. Er wird sich sagen lassen, daß er ihre Sache verlieren kann, wenn er nur ihre Sprache behält, daß er das Zeugnis verrät, wenn er es nur nachspricht und nicht neu spricht. Die Erkenntnis, daß das biblische Zeugnis auch in der Weise geschichtsgebunden ist, daß es sich ander jeweiligen geschichtlichen Situation orientiert, führt uns vor eine neue Frage.

3. Einheitlichkeit des biblischen Zeugnisses oder dissonierende Einzelzeugnisse? Die Tatsache, daß die biblischen Zeugen immer Menschen in einer bestimmten geschichtlichen Situation vor Augen haben, in die hinein sie ihr Zeugnis ergehen lassen, macht das biblische Zeugnis zu einem außerordentlich mannigfaltigen. Insofern das biblische Zeugnis teilhat an der Individualität der in einem Zeitraum von tausend Jahren lebenden Zeugen und an den jeweiligen Situationsräumen, ist es von einer unerhörten Vielfalt und Buntheit, nicht nur was die Form, sondern auch was den Inhalt des Zeugnisses anbetrifft.

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Dafür hat uns die historisch-kritische Forschung die Augen geöffnet. Sie hat uns damit einen großen Reichtum erschlossen, aber zugleich auch vor schwere Probleme gestellt. Diese Probleme hat sie nicht künstlich erzeugt, sondern nur sichtbar gemacht. Sie hängen mit der aufgezeigten Geschichtsgebundenheit des biblischen Zeugnisses zusammen. Weil die Bibel das Zeugnis geschichtsgebundener Menschen an geschichtsgebundene Menschen von Gottes geschichtlichem Handeln ist, darum ist historisch-kritische Bibelforschung nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Insofern die biblischen Zeugen nicht in irgendeiner unverständlichen Geheimsprache oder in Glossolalie, sondern in menschlich verständlicher, sich an die Gesetze der Grammatik und Logik haltender Sprache geschrieben haben und die Bibel in diesem Sinne ein Stück Literatur ist, ist die Anwendung profangeschichtlicher Verstehensmethoden sachgemäß. Da die Bibel also auch ein Stück Literatur ist, kann sie durch Anwendung literar-historischer Methoden verständlich gemacht werden. Freilich wird nur der Forscher es zu dem von den Texten intendierten Verständnis bringen, der in der Kirche lebt und in einem geistlichen Lebenszusammenhang mit dem in dieser Literatur bezeugten Herrn steht ; sonst werden ihm die letzten Einsichten in die Zusammenhänge verschlossen bleiben. Aber das spricht nicht gegen die Anwendung von Methoden der profanen Geschichtswissenschaft. Einer besonderen pneumatischen Exegese bedarf es nicht. Freilich muß man sich klarmachen: Die verständlich gemachte Bibel ist noch nicht die verstandene Bibel. Verstanden ist ein Bibelwort noch nicht, wenn verständlich geworden ist, was es sagen will, auch dann noch nicht, wenn verständlich geworden ist, daß es Botschaftscharakter hat, verstanden ist es erst, wenn ich die Botschaft als mich angehende angenommen habe, d.h., verstanden ist es erst im Glauben. Zwischen dem Hören oder Lesen der Botschaft und dem Glauben gibt es kein neutrales Verstehen, sondern nur ein Verständlichmachen. Das Verstehen ist das Werk des Heiligen Geistes. Dieses Verstehen der Schrift ist durch keine Methode erreichbar. Die historisch-kritische Forschung mit ihren Methoden hat es auf dieses Verstehen auch nicht abgesehen, sondern auf das Verständlichmachen. Die Verkündigung hat es auf das Verstehen, also auf den Glauben abgesehen, die historisch-kritische Forschung nicht, darum verkündigt sie nicht, sondern erklärt. Sie will die Verkündigung nicht ersetzen, sondern ihr dienen. Daß viele historisch-kritisch arbeitende Forscher sich nicht dem Dienst an der Verkündigung, sondern dem Dienst an der Wissenschaft verpflichtet gefühlt haben, ist nicht zu bestreiten. Das zeigt sich schon an der kritisierten unmöglichen Nomenklatur, die sie verwendet haben. Wir werden aber sagen müssen, daß 29

die heutigen Bibelwissenschaftler ihre Forschungsarbeit als Dienst an der Verkündigung auffassen. Zur Forschung gehört die Freiheit des Dialogs und die Freiheit, auch sehr gewagte Hypothesen auszusprechen. Wenn nur deutlich bleibt, daß es überholbare Hypothesen und nicht feststehende Ergebnisse sind ! Hier wird man manchem der heutigen Forscher freilich den Vorwurf nicht ersparen können, daß er gegen die Gesetze wissenschaftlicher Redlichkeit, Hypothesen als solche kenntlich zu machen, oft genug verstoßen und sie dazu noch mit prophetischem Pathos als Ergebnisse ausgegeben hat. Forschung bleibt nur kritisch, wenn sie kritisch gegen die eigenen Ergebnisse bleibt. Auch wird man einigen der heutigen Forscher sagen müssen, daß sie die Wirkung schockierender Äußerungen ein wenig verantwortungsvoller einschätzen sollten. Die historisch-kritische Bibelwissenschaft mit ihren immer verfeinerten Methoden hat uns vor die Tatsache gestellt, daß das biblische Zeugnis in einer ganz erheblichen Verschiedenartigkeit erklingt. Wir haben schon gesehen, daß sich das weithin daraus erklären läßt, daß die biblischen Zeugen in die verschiedensten geistigen und geistlichen Situationen hinein gesprochen haben und darum so unterschiedlich reden mußten. Die Verschiedenartigkeit der Verkündigungssituation bedingt die Verschiedenartigkeit des jeweiligen Zeugnisses. Aber nun haben wir dieses so unterschiedliche Zeugnis ja zusammen in einem Buch. Wir haben den Kanon. Und wir können nun auch nicht mehr zwischen den Zeugnissen der Einzelschriften auswählen, sondern sie sind für uns alle verbindlich. Wir predigen ja nicht nur das lukanische, sondern auch das johanneische, nicht nur das Zeugnis des Paulus, sondern auch das des Jakobus, nicht nur das der Johannesbriefe, sondern auch das der Pastoralbriefe. Das wäre durchaus in Ordnung und ohne Problem, wenn sich diese vielfältigen Stimmen als ein Chor verstehen ließen; wie aber, wenn es dissonierende Stimmen wären? Wenn der Kanon eine complexio oppositorum wäre? Wie also, wenn sich diese Vielfalt nicht als Mannigfaltigkeit, sondern nur als Unvereinbarkeit verstehen ließe? Und ebendies meinen manche Forscher. H. Braun stellt fest: „Das Neue Testament hat in zentralen Stücken weder eine Aussage-Einheit hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge noch eine Lehreinheit hinsichtlich der Artikel des Glaubens." „ I n den Ausführungen über das Gesetz, über die letzten Dinge, über Kirche und Amt, über die Christologie und über die Sakramente scheint es mir ausgeschlossen, eine wirkliche Einheit des Neuen Testaments zu behaupten." 1 1 Auch E. Käsemann spricht von hart aufein11

H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, 1962, S. 314f., 325.

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anderprallenden Lehrgegensätzen im Neuen Testament und schreibt den bekannten Satz: „Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher... dagegen die Vielzahl der Konfessionen. Die Variabilität des Kerygmas im Neuen Testament ist Ausdruck des Tatbestandes, daß bereits in der Urchristenheit eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander vorhanden war, aufeinanderfolgte, sich miteinander verband und gegeneinander abgrenzte"; oder an anderer Stelle: „Der Kanon (bildet) in der Gesamtheit seiner Schriften keine sachliche Einheit." 1 2 Es ensteht die Frage: Ist die Disparatheit des neutestamentlichen Zeugnisses derart, daß in keinem vernünftigen Sinne mehr von einer Einheit des Neuen Testamentes gesprochen werden kann? Sowohl H. Braun wie E. Käsemann verneinen das, indem sie auf eine innere Mitte hinweisen, von der her das disparate Zeugnis sowohl zu begreifen als kritisch zu prüfen ist, auf einen Kanon im Kanon. Braun bestimmt diesen Maßstab als den „radikal geforderten und in Frage gestellten und im Jesusgeschehen radikal gehaltenen Menschen". 13 Käsemann sieht die kritische Sachmitte im Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders. 14 Es liegt auf der Hand, daß Käsemann hier in großer Nähe zu Luther und den lutherischen Bekenntnisschriften steht. Auch für sie ist ja der Kanon keine formale Autorität, sondern seine Autorität ist die des in ihm bezeugten Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders. Allerdings haben sie nicht von einem Kanon im Kanon gesprochen, sondern von der Mitte des Kanons. Die lutherischen Bekenntnisschriften sind als verbindliche Lehre der Kirche zwar „Summa der Heiligen Schrift", aber nicht als Quersumme aller biblischen Aussagen, sondern „Bezeugung der Mitte der Heiligen Schrift". Nach einer Formulierung E. Schlinks: „Die Schrift (ist) Norm um des Evangeliums willen"; „das Evangelium (ist) Norm in der Norm" - , und zwar im Akt des Hörens. 15 Die lutherischen Bekenntnisschriften tun uns den Dienst, daß sie uns an diese Sachmitte der Schrift verweisen. Und es ist nicht zu bestreiten, daß die biblischen Zeugnisse in sehr unterschiedlicher Nähe zu diesem Zentrum des Kanons stehen bis zu solchen, die an seinen Rändern stehen. Aber die lutherischen Bekenntnisschriften denken nicht daran - und darin werden wir ihnen folgen - , die Sachmitte als Grenzziehung zu verwenden, um den dadurch ausgegrenzten biblischen Zeugnissen ihre Autorität abzusprechen. Sie haben die sehr unterschiedliche Nähe der EinzelzeugE . Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, 1. Bd., 1960, S. 221, 231. « A.a.O., S. 321. 1 1 A.a.O., S. 223, 232. 1 5 E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, 1940, S. 6, 29f. 12

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nisse zu dieser Mitte sehr wohl gesehen, haben aber innerhalb des Kanons keine Widersprüche zu entdecken vermocht der Art, daß sie ein Anathema der einen Seite über die andere einschließen. Und im übrigen war für sie das Evangelium, die Christus-Mitte der Schrift, nicht einfach identisch mit dem paulinischen Kerygma, sondern schließt den crucifixus u n d den incarnatus ein. Bei Käsemann scheint mir - trotz der Nähe zu Luther - ein ganz bestimmtes Verständnis von Evangelium und also ein Quasi-Dogma zur Norm der Schrift gemacht zu werden, womit sich das Verhältnis von Schrift und Dogma umkehrte. Die lutherischen Bekenntnisschriften haben den ihnen fragwürdig erscheinenden Partien deshalb nicht die Autorität abgesprochen, weil sie sich nicht anmaßten zu dekretieren, daß Schriften, die ihnen in ihrer Situation beinahe wie Abfall erschienen, auch in anderen geistlichen Situationen der Gemeinde so erscheinen müßten, weil sie vielmehr damit rechneten, daß das ihnen im Augenblick unwesentlich Erscheinende in einer anderen Situation höchst wesentlich sein kann. Sie hielten die Unterschiede für tragbar und fruchtbar. Die Spannungen zwischen den einzelnen Zeugnissen, die gar nicht zu leugnen sind, zwingen uns, beim Hören des einen immer mit auf das andere zu hören, und bewahren uns so vor Einseitigkeit und Verarmung. Das Leben der Gemeinde, ihre Gefährdungen, Versuchungen, Anfechtungen sind mannigfaltiger, als es sich vom Schreibtisch aus ansieht. Das biblische Zeugnis richtet sich nicht nach der Logik, sondern nach dem Leben. Ich möchte diesen Abschnitt mit ein paar Sätzen Käsemanns abschließen, die ich mir voll zu eigen machen kann, die sich mir aber nicht ganz zusammenreimen wollen mit dem, was ich vorhin von ihm zitiert habe (aber das mag an mir liegen) : Das Neue Testament „enthält nicht nur Apokalypsen oder Briefe oder Evangelien. Es wird von präsentischer Eschatologie nicht weniger als von futurischer bestimmt und rückt beide ins Licht der Vergangenheit. Diese Dialektik ist theologisch sachgemäß. Sie gibt uns nicht das Recht, uns beliebig anzueignen, was uns gefällt. Sie ermöglicht uns jedoch, uns vor uns selber zu bewahren, aus dem Recht unserer Einsichten nicht das ausschließliche Gesetz der Gemeinde werden zu lassen und die theologische Schule oder die Konfession nicht zum Maß und Zuchtmeister der Christenheit zu machen. Sie hält den Raum frei für die jeweilige neue Entscheidung und befreit uns von dem Zwang, an die Stelle des Wortes die Struktur zu setzen, aus der Peregrinatio in das feste Lager zurückzukehren." 14

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4. Objektives Heilsgeschehen oder kerygmatischer

Anruf?

Wir haben bislang immer von der Geschichtsgebundenheit der biblischen Zeugen und ihres Zeugnisses gesprochen. Sie haben ihr Zeugnis ausgerichtet in den naturwissenschaftlich-weltbildlichen Vorstellungen ihrer Zeit und in dem Verhältnis zur Historie, das man zu ihrer Zeit hatte. Aber schließt ihre Geschichtsgebundenheit nicht vielleicht noch viel mehr ein, muß man sie nicht noch viel radikaler sehen? Wenn Bultmann davon spricht, daß die biblischen Schriftsteller im mythischen Denken gelebt und mythologisch geredet haben - weil sie als Kinder ihrer Zeit gar nicht anders konnten - , dann meint er damit nicht etwa nur, daß die biblischen Zeugen hier und da mythologische Vorstellungen ihrer religiösen Umwelt (wie etwa die Vorstellung von der übernatürlichen Geburt eines göttlichen Kindes oder von einem Weltgericht, von Dämonen und Engeln) aufgegriffen und zur Bezeugung der in Jesus Christus zentrierten Geschichte Gottes benutzt haben, so daß wir vor der Aufgabe stünden, diese gelegentlich anzutreffenden mythologischen Vorstellungen zu entmythologisieren und also zu erklären, was mit ihnen gemeint ist. Bultmanns Behauptung von der mythologischen Redeweise der biblischen Zeugen ist ungleich radikaler und umfassender: Die biblischen Zeugen benutzen nicht gelegentlich mythologische Vorstellungen, das biblische Zeugnis hat nicht ein paar mythologische Züge, sondern das ganze biblische Zeugnis ist von vorn bis hinten mythologisch. Mythologisch reden heißt nach Bultmann nämlich: objektivierend, gegenständlich von Gott und Gottes Handeln reden. 17 Und da die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite gegenständlich von Gott und der Geschichte seines Handelns redet, ist ihre Rede von der ersten bis zur letzten Seite mythologische Rede. Dann heißt aber Entmythologisierung nicht etwa nur Übersetzung einiger mythologischer Vorstellungen in unsere Vorstellungswelt - in d i e s e r Weise entmythologisieren auch die konservativsten Biblizisten, ohne sich allerdings davon Rechenschaft zu geben - , sondern Entmythologisierung ist dann die totale Entgegenständlichung der biblischen Botschaft. Und dies geschieht durch oder als existentiale Interpretation, durch Übersetzung der gegenständlichen Rede von Gott und seinem Handeln in Aussagen über die menschliche Existenz. Wie geschieht das? Die neutestamentlichen Zeugen beschreiben nach Bultmann Gottes Handeln als ein objektives Heilsdrama : Gott sendet vom 16

E. Käsemann, a.a.O., 2. Bd., S.67. " Vgl. K. Fror, Biblische Hermeneutik, 1961, S. 40ff. 3

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Himmel herab seinen Sohn in die Welt, dieser besiegt in dieser Welt die widergöttlichen Dämonen, stirbt stellvertretend für die Menschen den Sühnetod, Gott nimmt dieses Opfer an und erweckt ihn aus dem Tod und erhöht ihn zu seiner Rechten, bis er am Jüngsten Tage wiederkommen, die Weltgeschichte abbrechen, die Toten auferwecken, Gericht halten und Gottes Reich aufrichten wird. Das dieser Beschreibung eines objektiven Heilsgeschehens zugrunde liegende mythologische Denken ist für uns aber zerbrochen. Wir können es uns nicht mehr aneignen, nicht, weil wir nicht glauben wollen, sondern weil unser Denken in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Weise von der Wissenschaft geformt ist. Ist damit also für uns das ganze neutestamentliche Zeugnis erledigt? Keineswegs. Der Mythos selbst will ja gar nicht die Kenntnis eines objektiven Geschehens vermitteln, sondern er ist „eine Ausdrucksform, in welcher der noch nicht zur ratio erwachte Mensch sein eigenes Welt- und Selbstverständnis ausspricht" (G. Bornkamm). 18 Auf dieses Selbstverständnis hin will der Mythos befragt sein. Es ist also „zu unterscheiden zwischen dem, was er sagt, und dem, was er meint. Er redet zwar von Gestalten und Geschehnissen der sinnlich vorhandenen Welt, er meint jedoch das, was den Bereich der verfügbaren Welt gerade transzendiert." „Die Frage, unter der der Mythos ausgelegt sein will, ist darum diese: Wie versteht sich in ihm der Mensch selbst, welche Auffassung von menschlicher Existenz spricht sich in ihm aus?" Auf das neutestamentliche Zeugnis angewandt, heißt das: Die neutestamentlichen Zeugen haben, indem sie von einem sich zwischen Gott und Mensch abspielenden Heilsgeschehen berichten, ausgesprochen, welches Verständnis ihrer eigenen Existenz in dieser Welt sie durch die Begegnung mit dem Kreuzesgeschehen bzw. Kreuzeslogos gewonnen haben. Es ist wahrscheinlich nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß nach Bultmanns Auffassung das sich in den neutestamentlichen Zeugnissen aussprechende Selbst Verständnis der Zeugen nicht etwa aus einer Analyse ihrer selbst gewonnen ist, sondern ihnen aus der Begegnung mit der im Kreuz Jesu Christi geschehenen Offenbarung Gottes bzw. mit dessen Verkündigung zuteil geworden ist. Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Zeugen ist nicht ein dem Menschen von sich aus mögliches, sondern ein aus dem Getroffensein von der Kreuzesbotschaft erwachsenes. Bultmann will jedenfalls Offenbarungstheologe sein. Dem neutestamentlichen Zeugnis liegt nach Bultmann nun aber eben nicht an dem Geschehen, an dem Tun Gottes, das es berichtet, sondern an 18 G. Bornkamm, Evangelium und Mythos (in: Das menschliche Zeugnis von Gottes Wirklichkeit, S. 10f.).

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dem Existenzverständnis des Menschen, das sich in diesem berichteten Geschehen ausspricht. Ich darf also an die neutestamentlichen Texte nicht mit der Frage herangehen, was sie mir von Gottes geschichtlichem Handeln sagen, damit ich dann im Glauben an diesem heilsbedeutsamen Handeln Anteil gewinne; ich muß vielmehr mit der Frage an sie herangehen, was sie mir von der Wahrheit der menschlichen Existenz sagen, damit ich mein mitgebrachtes Existenzverständnis davon korrigieren lasse und ein neues Selbstverständnis gewinne. Die Interpretation der Schrift findet also ihr „Woraufhin" in der Frage nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz, nicht in der Frage nach dem in der Schrift bezeugten Handeln Gottes, höchstens insofern, als diese Frage - sachgemäß gestellt - identisch ist mit der ersten. Der Verstehensvorgang ist also immer der: Ich befrage von meinem mitgebrachten Vorverständnis aus einen neutestamentlichen Text auf das in ihm sich aussprechende Verständnis menschlicher Existenz und lasse von daher mein eigenes mitgebrachtes Existenzverständnis in Frage stellen, setze in dieser Befragung des Neues Testaments mein „Vorverständnis" aufs Spiel, um mich neu verstehen zu lernen. Nun ist aber klar, daß die Art der Fragestellung immer schon die Antwort mit vorentscheidet. Gehe ich an einen Gegenstand mit einer ihm unangemessenen Frage heran, so bekomme ich keine richtige Antwort. Und nun ist es eben sehr die Frage, ob die neutestamentlichen Texte überhaupt oder jedenfalls : ob sie ausschließlich auf die Frage nach der menschlichen Existenz antworten wollen. Hinzu kommt nun aber noch, daß Bultmann sich die Begriffe für existentiales Verstehen von M. Heideggers Existenzanalyse in „Sein und Zeit" geben läßt. Diese Begriffe dienen ihm dazu, das in den neutestamentlichen Schriften zum Ausdruck kommende Existenzverständnis erkennen und aussprechen zu können. Mußten wir schon fragen, ob die neutestamentlichen Texte überhaupt auf die an sie gestellte Frage nach der Auffassung menschlicher Existenz antworten wollen, so ist es erst recht die Frage, ob sie auf diese nun auch noch durch die Übernahme der Heideggerschen Begrifflichkeit verengte Frage antworten wollen. Und hier muß einfach gesagt werden : Die so gestellte Frage bekommt zwar Antworten - die Frage nach dem Existenzverständnis fragt ja nicht einfach vorbei, sie ist ja keine sinnlos und willkürlich gestellte Frage - , aber in der Antwort auf diese Fragestellung können die neutestamentlichen Texte nicht alles sagen, was sie wirklich sagen wollen. Sie wollen mehr sagen, als sich unter dieser verengten Fragestellung von ihnen vernehmen läßt. Diese Fragestellung wirkt sich als ein Prokrustesbett aus.

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Es soll wenigstens an einem Punkt einmal zu zeigen versucht werden, wie neutestamentliche Aussagen existential interpretiert aussehen: Das Neue Testament spricht zwar von der Wiederkunft Christi, vom Ende der Welt, vom Gericht, von der Totenauferstehung als realen Geschehnissen, aber wir würden nach Bultmann das, was das Neue Testament damit sagen will, mißverstehen, wenn wir meinten, es wolle uns damit auf zeitlich künftige, in den Geschichtsverlauf einbrechende und ihn abbrechende Ereignisse hinweisen, damit wir uns auf sie einstellen ; die futurischen Aussagen des Neuen Testaments von zukünftigen Geschehnissen wollen mir nicht ein künftiges Geschichtshandeln Gottes mit der Welt vor Augen stellen, sondern mir meine Existenz in der Welt als eine nach vorn hin offene, als eine auf Zukunft hin angelegte, von der Vergangenheit befreite, zur Erfüllung bestimmte verständlich machen. Nicht Aussagen über Ziel und Ende der Weltgeschichte werden gemacht; die Weltgeschichte ist für mich als Glaubenden nicht etwa als das Geschehen interessant, in, mit und unter dem sich die Heilsgeschichte vollzieht, sondern sie ist nur insofern interessant, als sie je meine Geschichte ist. „Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte..., sondern die Geschichte, die jeder einzelne selbst erfährt." 19 Was aus der Welt wird, ist keine legitime theologische Frage. Die Welt hat keine Zukunft. Die Aussage, daß C h r i s t u s w i e d e r k o m m e n wird, meint nicht ein in zeitlicher Zukunft geschehendes Ereignis, das für die Welt von Relevanz ist, sondern sie meint, daß ich meine Zukunft als Gnade empfinden darf, daß ich vertrauen darf, daß alles, was auf mich zukommt, mir zum Heil wird und ich es also annehmen kann und mich nicht dagegen wehren muß. Die Aussagen, daß der wiederkommende Christus das W e l t g e r i c h t halten wird, meint ebenfalls nicht ein künftiges Geschehen als Abbruch der Weltgeschichte, sondern meint, daß ich immer in Entscheidungen existiere, in denen ich mich gewinne oder verfehle, und daß ich diese Entscheidungen niemals endgültig hinter mir habe, sondern mich stets neu vor sie gestellt sehe. Die Aussage, daß Christus die T o t e n a u f e r w e c k e n wird, meint wiederum nicht ein Geschehen in der zeitlichen Zukunft am Ende des Geschichtsablaufs, als Anbruch der neuen Schöpfung, sondern sie meint, daß ich mich verstehen darf als einer, dessen Leben nicht zum Tode hin, sondern zur Erfüllung bestimmt ist. Die Aussagen über das E n d e d e r W e l t meinen wiederum nicht einen katastrophalen Weltuntergang oder einen Abbruch der Geschichte als künftiges Ereignis, sondern 19

R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament (in: Glaube und Verstehen, 3. Bd., 1962, S. 102).

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daß im Glauben mein Verfallensein an die Welt, an das Vorhandene, aufgehört h a t . Die Welt hat für mich aufgehört, die mich bestimmende Größe zu sein. D a s ist das Weltende. Es ist wohl schon an diesen paar Beispielen deutlich geworden, welche einschneidenden Konsequenzen für Predigt und Lehre der Kirche die existentiale Interpretation hätte. Wir müßten selbstverständlich bereit sein, diese Konsequenzen zu ziehen, wenn nur mit dieser Interpretation das sachgemäße Verstehen und Auslegen des neutestamentlichen Zeugnisses zu erreichen wäre. Und dieser Meinung ist Bultmann. Die existentiale Interpretation ist „nicht eine hermeneutische Möglichkeit unter anderen, die m a n gelegentlich oder zusätzlich mit Vorteil gebrauchen kann, wenn sie nur nicht verabsolutiert wird," 1 7 man kann auch nicht in der Weise eklektisch verfahren, daß man nur bestimmte Stücke existential interpretiert ; die existentiale Interpretation ist nicht eine Methode, sondern ein System. Und als System ist sie unannehmbar. Daß die existentiale Interpretation zu wesentlichen Ei'kenntnissen zu führen vermag, ist überhaupt nicht zu bestreiten - man denke nur an Bultmanns großartigen JohannesKommentar und seine Paulus-Interpretation in seiner Theologie des Neuen Testaments. Aber als System ist sie eine Zwangsjacke. Wer sich in sie hineinbegibt, verfehlt den Vollgehalt des biblischen Zeugnisses und verfällt unweigerlich einer monotonen, blutleeren, wirklichkeitsfremden Predigt, die um ihren Weltbezug gebracht ist. 20 Wenn es aber zum Verstehen des neutestamentlichen Zeugnisses nicht ausreicht, es auf das sich in ihm aussprechende menschliche Existenzverständnis hin zu befragen, woraufhin muß man es dann befragen? Darauf ist zu antworten: Es ist zu befragen auf die mich angehende und mich einbegreifende Geschichte der Taten Gottes zum Heil der Welt hin. Man wird Bultmann darin recht geben müssen, daß es keine „objektive" Heilsgeschichte gibt, zu der ich mich nachträglich im Akt des Glaubens in Beziehung setzen muß, um an ihrem Heilsertrag teilzubekommen; aber die in Jesus Christus zentrierte Geschichte des Heilshandelns Gottes bezieht mich in sich ein, nimmt mich in sich auf und verhilft mir nicht nur zu einem neuen Existenzverständnis, sondern zu einer neuen Existenz, sie macht mich nicht zu einem in einsamen Entscheidungen existierenden einzelnen, sondern zu einem, der im Volke Gottes unterwegs ist auf den neuen Himmel und die neue Erde zu. 20

Vgl. R. Bohren, Predigt und Gemeinde, 1963, S. 109.

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5. Rede von Gott oder Rede vom Menschen? Die Gefahr, daß im Vollzug der Entmythologisierung, d.h. der Entgegenständlichung der neutestamentlichen Rede von Gott und Gottes Handeln und ihrer Umformung in Aussagen über menschliche Existenz, Theologie zur Anthropologie werden könnte, war bei Bultmann immer präsent. Aber er hat nicht versucht, Gott zu entmythologisieren. Gott bleibt bei ihm der nicht mehr entmythologisierbare, d.h. der nicht um seine Gegenständlichkeit, seine Externität zu bringende Rest. Gott bleibt extra nos und ist nicht nur ein Hilfsmoment mythologischer Art zur Selbstexplikation des Menschen; nur daß Bultmann, dem es ja nicht um das ontologische, sondern um das gnoseologische Problem zu tun ist, auf diese Feststellung keinen Wert legt. Was bei Bultmann nur als Gefahr da war, ist bei Braun Wirklichkeit geworden. Er hat nun auch Gott noch entmythologisiert, d.h. um seine Gegenständlichkeit, um sein Uns-Gegenübersein gebracht. Aus dem richtigen Satz, daß man von Gott nicht sprechen könne, ohne vom Menschen zu sprechen, wird bei ihm der falsche Satz, daß man von Gott nur reden könne, indem man vom Menschen redet. Die Rede von Gott als einem realen Gegenüber, einem ontologisch anderen, einem, der schlechthin „ist", sei nur möglich unter „einer weltanschaulich-religiösen Vorgabe", die der antike und mittelalterliche Mensch mühelos zu leisten vermocht hätte. 21 Wir könnten diese metaphysisch-theistische Voraussetzung „der Existenz einer Gottheit" heute nicht mehr machen, sie sei uns „problematisch", „unerschwinglich", „unmöglich", „fremd", „fernliegend", da wir nicht mehr so naiv sind wie dieser. Das Neue Testament redet also naiv von Gott als einer „an und für sich existierenden Größe", die den Geschichtsablauf lenkt, von einer „vorhandenen Gottheit", die autoritäre Weisungen erläßt, es redet von Gott als von einer „heiligen Gegebenheit", ja von Gott und seiner Welt sogar „als Gegenstand, als Sache", „als dinglich und gegeben."22 Man möchte sofort Zwischenrufen : Wo eigentlich wird im Neuen Testament so von Gott und nun gar noch von ihm als Sache, als Ding geredet? Er hat doch einen Namen, er ist nie anders als handelnde, redende, erwählende Person und also nie „an und für sich existierend" ! Und außerdem sprechen doch die neutestamentlichen Schriftsteller allesamt als von ihm Angeredete und Betroffene! Nun also: Nach Braun spricht das Neue Testament von Gott als Gegenstand, als an sich existierend, als Gegebenheit und Vor21 22

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H. Braun, a.a.O., S. 325, 331. Ebd., S. 333f., 340f.

handenheit. Und die diese Rede möglich machende weltanschauliche Voraussetzung vermögen „wir" nicht mehr mitzumachen. Wenn wir also mit dem Neuen Testament „etwas anfangen" wollen,23 dann müssen wir einen Schritt tun, der das das Neue Testament durchziehende objektivgegenständliche Denken über Gott und seine Welt hinter sich läßt. 24 Und diesen Schritt geht Braun resolut, indem er Gott nicht nur als an und für sich existierende Größe, als vorhandene Sache, beseitigt, sondern indem er Gott als Gegenstand, also als uns gegenüberstehend, als von uns ontologisch unterschiedener Person aufhebt. Und er meint, daß im Neuen Testament selbst bereits dieser „Trend" zu einem „nicht gegenständlichen Gottesbegriff" unverkennbar sei. Von einem Gott, der „ist", kann man also nicht reden - ein Gott, der „ist", der mir als Du gegenübersteht, der extra me ist, wäre für Braun „eine heilige Gegebenheit" - , nein: Gott ist ein Geschehen, das sich zwischen Mensch und Mensch vollzieht. Von Gott kann man nur reden im sozialen Bezugssystem, in Kategorien mitmenschlicher Geschehniszusammenhänge. „Gott ist das Woher meines Geborgenund meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her"; „der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit impliziert Gott". „Gott wäre dann eine bestimmte Art der Mitmenschlichkeit." Das Heil Gottes ist „in rechter Mitmenschlichkeit... zu finden".26 Wenn damit gesagt sein sollte: Ich erfahre das Gegenüber Gottes immer nur durch den anderen Menschen, der mir sein Wort sagt oder mir hilft oder meine Hilfe braucht; Gott begegnet mir nur im Zuspruch von Seiten des Bruders und im Anspruch von seiten des Nächsten, so könnte man diesen Aussagen einen theologischen Sinn abgewinnen. Aber damit wäre ja immer noch Gott als Gegenüber, nach Braun also als Vorhandenheit, festgehalten. Aber Braun meint doch wohl nicht nur, daß man von Gott nicht als von einem Gegenüber r e d e n könne, sondern daß Gott kein Gegenüber i s t , daß er vielmehr in das mitmenschliche Geschehen eingegangen und nicht mehr von ihm unterscheidbar ist. Wo Menschen einander in Liebe begegnen, einander geben und brauchen, halten und fordern, Bergung gewähren und Hingabe beanspruchen, ereignet sich Gott, ohne daß dabei auf Gott zurückgeschlossen werden müßte als den in dieser Begegnung Begegnenden. Da ich aber nur aus seiner autoritativen Kundgabe wissen kann,

23 Ebd., Testament 24 Ebd., 25 Ebd.,

S. 288; hier verrät sich die Braun leitende apologetische Tendenz, das Neue für uns heute zu retten. S. 334. S. 341, 336.

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daß das „ W o h e r " meines Gehalten- und Gefordertseins er ist, es solche autoritative Kundgabe aber nicht geben kann - da sie Gottes Gegenübersein voraussetzte - , so ist klar, daß bei Braun Gott nichts anderes ist als die eigenmächtige und völlig willkürliche Deutung unserer Mitmenschlichkeit. Gott ist eine entbehrliche Chiffre für den Sachverhalt, daß menschliche Existenz nicht aus sich selbst und für sich selbst ist, sondern sich empfängt und im Sich-Verschenken sich behält, daß der Mensch vom Du her und auf das Du hin lebt. Solange nicht gesagt wird, wer das Du ist, von dem er sich empfängt und das ihn in Anspruch nimmt, bleiben Brauns Aussagen grundsätzlich im Rahmen der philosophisch erhellbaren Ich-DuRelation. Zu einem Gott, von dem nicht gegenständlich geredet werden darf, von dessen unaufgebbarem Uns-gegenüber-Sein, von dem als einem uns anredenden Du nicht gesprochen werden darf, kann man auch nicht beten. Mit dem „Woher meines Gehalten- und Gefordertseins", mit dem Gott, der eine bestimmte Art von Mitmenschlichkeit ist, kann ich natürlich nicht reden. So ist es denn auch ganz natürlich, daß bei Braun die Grenze zwischen Gebet und Meditation fließend wird und er erklären kann: Der Gebetsakt „ist grundsätzlich nicht unterscheidbar von der Meditation", wobei Braun freilich Meditation nicht als S e l b s t b e t r a c h t u n g , sondern als „Bedenken des mich anredenden Wortes" verstanden wissen will, 26 was aber wiederum die allgemein-menschliche Ich-Du-Relation nicht überschreitet. Das mich anredende Wort, das ich in der Meditation bedenke also der Meditations-„Text" - , ist doch wohl auswechselbar. Ob Bibel oder Piaton, macht da doch wohl keinen grundsätzlichen Unterschied aus? Jedenfalls steht fest: wo v o n Gott so geredet wird, daß nicht mehr m i t Gott geredet werden kann, wird nicht mehr von dem Gott geredet, den die Bibel bezeugt. Aber auch wenn Braun der Bibel einen Vorzug einräumen sollte, so ist klar: Hier wird die Bibel dem Quasi-Dogma eines bestimmten modernen Bewußtseins unterworfen, so daß sie nicht mehr sagen kann, was sie will. Ich kann hier nur H . Gollwitzer beipflichten, der in seiner erregenden Auseinandersetzung mit Braun feststellt, es müsse für die Interpretation entscheidend sein, daß es sich in der Bibel „ u m das Zeugnis von einer Begegnung handelt, die mit aller sonstigen welthaften und mitmenschlichen Begegnung n i c h t identisch ist, Begegnung mit einem im Verhältnis zu

« In: GPM 1964/65, S. 169.

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Selbst, Welt und Mitmenschen ,Nicht-Identischen', insofern also tatsächlich ,Ganz-anderen'". 27 Nun hat Braun freilich erklärt, daß er das, was er als sein Hören und Verstehen des Neuen Testaments darstelle, „nicht als verpflichtendes Rezept" aufgefaßt wissen wolle.28 Darum kann man hier wohl auch nur ein persönliches Urteil abgeben, und das meine lautet: Ich habe das, was Braun im Neuen Testament gehört hat, so nicht gehört. Und wenn ich das, was Braun gehört hat, gehört hätte, so könnte und möchte ich kein Pfarrer mehr sein. Das von Braun verständlich gemachte Neue Testament ist das entbehrlich gemachte Neue Testament; denn es hat nichts zu sagen, was sich der Mensch nicht selber sagen könnte. Die Vokabel Gott bringt zu dem, was der Atheist ohne diese Vokabel zu sagen vermag, erkenntnismäßig nichts Neues hinzu. Gollwitzer hat völlig recht: „Daß der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit ,Gott'... ,impliziert', läßt sich durchaus bestreiten und mit besserem Grunde (mit Feuerbach...) behaupten, daß mit ,Gott' nichts anderes als ,eine bestimmte Art von Mitmenschlichkeit' gemeint sei." 29 Wir haben am Anfang unseres Vortrags darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Unterscheidung von Gesagtem und Gemeintem, von der Botschaft und den Vorstellungen, in denen sie ausgesprochen ist, und also mit der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel ein höchst gefährlicher Weg beschritten sei. Es ist uns deutlich geworden, daß das Gemeinte nur im gehorsamen Hören auf das Gesagte zu verstehen ist. Und zu diesem gehorsamen Hören gehört, daß ich das biblische Zeugnis nicht als beliebigen „Text", sondern als das Zeugnis von Menschen annehme, die auf die sie beschenkende und beschlagnehmende Anrede Gottes geantwortet haben. Ist Braun den in der Unterscheidung von Gesagtem und Gemeintem beschrittenen Weg nicht nur konsequent zu Ende gegangen? Hat dieser Weg nicht ein Gefälle, der notwendig hier enden muß? Wer will denn hier eine Grenze setzen, wer will hier Einhalt gebieten? Wer will hier beurteilen, wo die Grenze überschritten ist? Eine Synode? Nein - Gottes Geist selbst, der sich der Gemeinde als Gabe zur Unterscheidung der Geister, zur diakrisis ton pneumaton gegeben hat. Im pneumatischen Akt des diakrinein, in dem man sich vor niemand mehr zu verantworten hat (1. Kor. 2,15), kommt man zu dem Urteil: Wo das, was Braun schreibt, den Inhalt der " H. Gollwitzer, Zur biblischen Hermeneutik (ZdZ, 18. Jg., 1964, S. 284). Vgl. seine Auseinandersetzung mit H. Braun in: Die Existenz Gottes im Bekenntnis des Glaubens, 1963. » H. Braun, a.a.O., S. 294. 29 H. Gollwitzer, Die Existenz Gottes im Bekenntnis des Glaubens, S. 75.

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Verkündigung ausmachte, da würde in solcher Verkündigung nicht mehr wirklich die Stimme des guten Hirten laut. Und nun könnte ich es verstehen, wenn einer nach all dem Gehörten sagt : Wozu das alles? Wozu diese schwierigen hermeneutischen Überlegungen? Ist alles nicht viel einfacher, ganz einfach? Mir erscheint die Theologie wie eine Wissenschaft, die mit den Schwierigkeiten fertig zu werden versucht, die sie selber künstlich erzeugt hat. Es haben doch zu allen Zeiten Menschen - gelehrte und schlichte - ohne all diese schwierigen Überlegungen ganz einfach der Botschaft der Bibel geglaubt. Warum sollte dann das heute nicht gehen? Und was ist denn bei allen diesen theoretischen Erwägungen herausgekommen? Etwa eine bessere Predigt? Und haben denn die so sehr auf das moderne Bewußtsein abhebenden Theologen etwa eine missionarische Kraft ausgestrahlt? Ist es etwa zu dem Gespräch mit dem säkularisierten Menschen gekommen? Was hat man denn damit erreicht, daß man auf das moderne Daseinsverständnis so viel Rücksicht genommen hat, daß man die biblische Botschaft reduziert, ja minimalisiert hat? So verständlich solche Fragen wären - sie sind doch nur halb richtig. Zunächst ist doch einmal festzustellen, daß die aufgezeigten Verstehensprobleme nicht künstlich erzeugt worden sind von Leuten, deren Hobby es nun einmal ist, einfache Dinge schwierig zu machen, sondern sie sind ganz einfach da mit dem Aufkommen des modernen Bewußtseins. Eine Theologie und eine Verkündigung, die sich auf das moderne Bewußtsein gar nicht einlassen, sich ihm überhaupt nicht stellen wollte, die das schon als Verrat ansähe, ignorierte den Menschen, an den sich die biblische Botschaft wendet und der nun eben einmal von diesem Bewußtsein geprägt ist. Sodann ist festzustellen, daß die historisch-kritische Bibelwissenschaft nicht in der Absicht geschieht, die Bibel dem modernen Denken zu u n t e r w e r f e n , wohl aber, sie dem modernen Denken zu k o n f r o n t i e r e n . Die historischkritische Arbeit an der Bibel geschieht nicht dazu, die biblische Botschaft dem A n s p r u c h des modernen Denkens zu unterwerfen, aber sie geschieht ganz bewußt im H o r i z o n t des modernen Denkens. Das ist gefährlich; aber wer sich dieser Gefährdung entzieht, der zahlt einen teuren Kaufpreis. Er ist verdammt zum Ghettodasein. Es wäre ein schlimmes Verhängnis für die Kirche, wenn die Reaktion auf den in der existentialen Interpretation beschrittenen Abweg der historisch-kritischen Forschung in einem neuen Fundamentalismus bestünde, der sich in das Schneckengehäuse einer vermeintlichen Bibeltreue zurückzöge. Hans Lachenmann sieht die Dinge völlig richtig, wenn er schreibt: „ E s wäre ein Verhängnis, wenn der existentia42

listische Irrweg der Theologie von der Position der ,Gemeindefrömmigkeit' aus abgewürgt würde! Er muß von einer Theologie überwunden werden, die den Schritt in ein modernes Daseinsverständnis bewußt getan hat. Vielleicht wiederholt sich heute die Situation der Urchristenheit mit ihrem Gegensatz von Juden- und Heidenchristentum. Das eine bleibt in unfruchtbarer Reaktion befangen und ist unfähig, den Schritt in die hellenistische Welt zu tun, darum auch zu allmählichem Absterben verurteilt. Das andere ist in lebendiger Auseinandersetzung mit del· Zeit begriffen, tief gefährdet durch die Gnosis und den Verfall an den Hellenismus und dennoch stark genug, sich durchzusetzen. Die damalige Krise führte zur Missionierung der Alten Welt. Und es könnte wohl sein, daß auch die Krise der Gegenwart zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit diesen letzten Sinn und dieses Ziel hat: die Weltmission." 30 Aber die eben erwähnten Fragen, ob denn nicht alles sehr viel einfacher sei und man nicht nur schlicht das biblische Zeugnis anzunehmen brauche, enthalten auch etwas entscheidend Richtiges: Das Allererste, durch nichts zu Ersetzende ist das schlichte, persönliche Hören auf das Zeugnis der Bibel in der Erwartung, daß der in diesem Zeugnis bezeugte Herr mir alles Not-Wendige sagen wird. Die Bibel ist nicht ein dem Gelehrtenpapat unterworfenes und ohne wissenschaftliche Voraussetzungen unverständliches Buch, sondern sie ist Gottes großes Geschenk an seine G e m e i n d e . Das schlichte existentielle Hören auf das Zeugnis der Schrift, in dem ich mich selbst mitbringe und ihrer Botschaft ausliefere, hat die Verheißung, daß der in ihr redende Herr klar und deutlich vernehmbar wird und uns alles, was wir zu unserem Heile brauchen, sagen wird. In diesem von keinerlei wissenschaftlichen Voraussetzungen abhängigen Hören auf das Zeugnis der Bibel ist der Pfarrer eins mit allen Gliedern der Gemeinde. Er darf davon überzeugt sein, daß auch die bibellesenden Glieder der Gemeinde zu existentiellen Erkenntnissen und Einsichten kommen, von denen er Entscheidendes zu lernen hat. Wir Pfarrer sind von unserem Studium her gewöhnt, uns sofort in die Distanz zum biblischen Text zu begeben, und wir werden von unserem Amt dazu verführt, sofort mit der Frage an ihn heranzugehen: Was mache ich aus diesem Text? Wir sind von Anfang an in der Rolle dessen, der sich mit dem Text zu befassen hat, und übersehen, daß der in dem Text bezeugte Herr sich zunächst einmal mit uns befassen will. Wir tun so, als hätten wir 3 0 H. Lachenmann, Zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit (in: Lutherische Monatshefte, 3. Jg., 1964, S. 573).

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den toten Stoff in Bewegung zu bringen, und übersehen, daß er uns in Bewegung setzen will. Hier bedarf es einer wirklichen, tiefgreifenden Buße von uns Pfarrern, daß wir das Erste wieder das Erste sein lassen : das demütige, erwartende, gehorsame eigene Hören für uns selber. Der homiletische common sense, wonach die Predigtarbeit mit der wissenschaftlichen Exegese anzufangen habe, ist entschlossen aufzugeben. Die Predigtarbeit beginnt mit dem eigenen, mir von niemand abzunehmenden, durch nichts zu ersetzenden, erwartungsvollen Hören. Wenn man aber auf diese Weise schon alles, was das biblische Zeugnis sagt, zu hören bekommt, wozu dann noch die historisch-kritische Arbeit? Sie hat die Funktion der K o n t r o l l e und damit auch der Korrektur des eigenen Hörens und ist für den Pfarrer eine unentbehrliche H i l f e zu genauerem und differenzierterem Hören. Mein eigenes Hören ist der Gefahr ausgesetzt, danebenzuhören, das biblische Zeugnis meinen mitgebrachten Schablonen und Denkschemata zu unterwerfen und es nur sagen zu lassen, was ich schon vorher weiß und gern von ihm hören möchte. Und mein eigenes Hören ist grob, undifferenziert, nicht gewöhnt, auf Nuancen zu hören und also in Gefahr, den spezifischen Sinn einer Textaussage zu überhören. Hier tut uns die historisch-kritische Forschung einen unschätzbaren Dienst. Es wäre verantwortungslos, sich der Kontrolle des eigenen Hörens und der Verfeinerung des eigenen Gehörs durch historisch-kritische Arbeit zu entziehen. Aber das eigene Hören ist das uns von niemand abzunehmende, das durch nichts zu ersetzende Erste. In diesem eigenen Hören vernimmt der Pfarrer die ihn haltende und tragende Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders, ohne die ihn sein Auftrag, Gottes Wort durch seine Worte weiterzusagen, einfach erdrücken müßte.

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Zur Struktur des Kleinen Katechismus* Bei dem Ruf nach einem neuen Katechismus unserer Kirche geht es nicht nur darum, didaktischen und pädagogischen Erfordernissen Rechnung zu tragen, sondern hier wird die Frage nach der ecclesia docens überhaupt aufgeworfen. Will die Kirche lehrende Kirche bleiben, die es wagt, verbindlich und eindeutig auszusprechen, was der Glaube glaubt, und die darauf aus ist, daß ihre Glieder von dem, was sie glauben, zusammenhängende Erkenntnis haben und also in der Lage sind, anderen davon Bescheid zu geben? In dem Ruf nach einem neuen Katechismus wird der Wille laut, daß man entgegen dem allgemeinen Trend lehrende Kirche bleiben möchte, die es als ihre unabdingbare Aufgabe ansieht, in klar formulierten, inhaltlich eindeutigen und in einem überschaubaren Zusammenhang stehenden, verbindlichen Sätzen zu sagen, an wen sie glaubt und was sie von ihm glaubt. Zugleich enthält dieser Ruf nach einem neuen Katechismus die Einsicht, daß es nicht mit einem einfachen Rückgriff auf das bewährte Überlieferungsgut der Kirche getan ist, daß also Luthers Kleiner Katechismus ( K K ) trotz aller unüberbietbaren Prägnanz und Kraft seiner Aussagen und seiner bleibenden Bedeutung für die Kirche - heute nicht mehr die Grundlage evangelischer Unterweisung zu sein vermag, daß es vielmehr gewagt werden muß, im Blick auf die Situation der jungen Glieder der Kirche heute die Gehalte des Glaubens neu auszusprechen, wobei das Wagnis, die eigene Sprache zu finden, freilich nur im Gespräch mit der Uberlieferung gelingen kann. Ein künftiger Katechismus wird darum in einer - wie immer gearteten Kontinuität mit Luthers Κ Κ stehen müssen. Wie diese Kontinuität in dem neuen Katechismus zur Geltung kommen soll, wird sich erst beantworten lassen, wenn ein gewisser Konsensus über Lehrgehalt und Struktur des Κ Κ erreicht ist. Die Erhebung des Lehrgehaltes kann nur durch eine gründliche theologische Interpretation des K K geschehen, für die K . Fror wichtige * Veröffentlicht in: Lutherische Monatshefte 1965.

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m e t h o d i s c h e G r u n d s ä t z e a u f g e s t e l l t h a t . 1 Diese u m f a s s e n d e A r b e i t , die auf sehr gründliche Vorarbeiten zurückgreifen k a n n , 2 ist inzwischen in Angriff g e n o m m e n worden. 3 I m folgenden g e h t es u m einen B e i t r a g zur S t r u k t u r des K K . I Intention D i e A u f f a s s u n g , der K K sei kein Lehr- u n d Lern-, sondern ein G e b e t s b u c h , h a t ü b e r r a s c h e n d schnell Beifall g e f u n d e n u n d b e g i n n t , sich in L e h r p l a n e n t w ü r f e n f ü r den K o n f i r m a n d e n u n t e r r i c h t niederzuschlagen. 4 1959 h a t t e K a r l W i t t in seiner p r o g r a m m a t i s c h e n S c h r i f t e r k l ä r t : „ D e r K K i s t . . . nicht ein P a u k - u n d L e r n b u c h , sondern ein G e b e t s b u c h . " 5 D i e 1 K. Fror, Theologische Grundfragen zur Interpretation des Kleinen Katechismus D. Martin Luthers, MPTh, 52. Jg., 1963, S. 478ff. Zu den dort genannten Gesichtspunkten - 1. Untersuchung der Katechismusaussagen im ständigen Dialog mit der Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte des Katechismusstoffes; 2. Interpretation der Katechismusaussagen im Kontext von Luthers Theologie - hätte als dritter hinzuzutreten: Auslegung der Katechismusaussagen im Zusammenhang der übrigen lutherischen Bekenntnisschriften. Damit wird die unter 2. zur Geltung gebrachte hermeneutische Regel nicht auBer Kraft gesetzt, aber sie wird begrenzt, insofern eine zur Bekenntnisschrift der Kirche erhobene Schrift eines Theologen nunmehr im Kontext der übrigen Bekenntnisschriften zu lesen ist. Vgl. E. Schlink, Theologie der luth. Bekenntnisschriften, 1940, S. 8. 2 0 . Albrecht, Vorbemerkungen zu den beiden Katechismen (D. Martin Luthers Werke, Krit. Gesamtausg., 30. Bd, 1. Abt., Weimar 1910) und vor allem J . Meyer, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, 1929. Eine Neubearbeitung dieses unentbehrlichen Buches wird erfreulicherweise im Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn erscheinen. 3 Das Gütersloher Verlagshaus plant ein Kommentarwerk zu den luth. Bekenntnisschriften. Den Kommentar zu Luthers Katechismen schreibt A. Peters. Er wird in 2 bis 3 Jahren vorliegen. Es wird etwa 500 Seiten umfassen. Im Unterschied zu dem Meyerschen Kommentar wird ni cht nur LuthersKK, sondern auch derG Κ kommentiert. Außerdem werden die Katechismen stärker mit den Aussagen der gegenwärtigen Exegese und Dogmatik konfrontiert und der theologische Ort in der Kirchengeschichte herausgearbeitet werden. 4 Mit dieser Auffassung hat sich J . Henkys in seinem Aufsatz: Ist der Katechismus ein Gebetbuch? (MPTh, 53. Jg., 1964, S. 204ff. = ZdZ, 18. Jg., 1964, S. 353ff.) in einer sehr durchdachten Weise auseinandergesetzt. 6 K. Witt, Konfirmandenunterricht. Neue Wege der Katechetik in Kirche und Schule, 1959, S. 26. Witts Konzeption entspringt nicht der Scheu vor gegenständlichen Lehraussagen oder der Geringschätzung von Lehre überhaupt. Luthers K K soll auch nach seiner Überzeugung „Lehrinhalt des wesentlichen Abschnittes des Gesamtkatechumenats" sein, es geht ihm darum, „den K K . . . zurückzugewinnen" (S. 29), vgl. auch S. 30: die Bestreitung des Lehrbuchcharakters des K K besage keineswegs, „daß der K K nicht tragender und ausrichtender Lehrinhalt sei".

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katechetischen Konsequenzen, die er aus seiner Entdeckung zieht, sind bekannt: Der KK ist nicht mehr Unterrichtsgrundlage - weder für die Gesamtanlage der Unterweisung noch für die Einzelstunde - , er stellt keinen Interpretationstext mehr dar; an seine Stelle tritt als das den Unterricht Bestimmende und in ihm zu Erschließende eine Auswahl biblischer Perikopen, deren Aussagegehalt jeweils in bestimmten Katechismusformulierungen nachzuweisen und zusammenzufassen ist.® Der KK wird damit „aus dem unterrichtlichen Zentrum an den Ort eines den Unterrichtsertrag sammelnden liturgischen Gutes verwiesen". 7 Für den Unterrichtenden hat der betend meditierte Katechismus vor allem die Funktion einer „wesentlichen Hilfe für das Verständnis und die Auslegung der Heiligen Schrift im ganzen und in ihren Einzelperikopen". 8 Man könnte zugespitzt so formulieren: Für den U n t e r w e i s e n d e n steht der betend meditierte Katechismus am A n f a n g als „der für die Erschließung der Perikope entscheidende und richtende Maßstab"; 8 für den U n t e r w i e s e n e n steht der aufgebetete Katechismus am E n d e als der in den Worten der Väter gültig ausgesprochene und ihnen nachgesprochene Ertrag des Erarbeiteten und Erkannten. Entspricht diese Auffassung des KK als eines Gebetsbuches Luthers Intention, gibt sie - wie der kurhessisch-waldecksche Lehrplanentwurf behauptet - „seinen ursprünglichen Sinn" wieder,9 oder bedeutet sie nur einen (vielleicht unumgänglichen) Ausweg aus der heutigen Katechismusnot, einen Ausweg, der es ermöglicht, den KK zu behalten und zu gebrauchen, ohne ihn zu lehren?10 Und muß der als Gebetsbuch „gerettete" KK

• Der Gedanke, daß der Katechismus die Funktion der „Zusammenfassung" habe, ist nicht neu; vgl. M. Stallmann, Die biblische Geschichte im Unterricht, 1963, S. 14f. ' J. Henkys, a.a.O., S. 205; vgl. K. Witt, a.a.O., S. 46: Die „Aufgabe des Konfirmandenunterrichts wäre es, durch sorgfältige Auslegung ausgewählter biblischer Texte die Konfirmanden zu existentiellen Erkenntnissen zu führen, bis der Text anfängt, pro me zu reden. Dann bietet sich der entsprechende Katechismustext als abschließendes Gebet wie von selber an." S. 50: „Von der jeweiligen Perikopenauslegung her bietet er (der KK) uns wiederum den Dienst als Zusammenfassung der Schrifterkenntnis und wird uns in dem ganz persönlichen Bezug der Erklärung Luthers zum Gebet." 8 K . W i t t , a.a.O., S. 44 f. 8 Zit. bei J. Henkys, a.a.O., S. 204. 10 J. Henkys stellt mit Recht fest: „Steht die Katechismusaussage als ein durch die gemeinsame Bibelarbeit erschlossenes liturgisches Gut am Ende des Unterrichts, so drängt sich die Frage auf, ob man sich hier noch zu Recht auf Luther beruft. Denn es ist ein wesentlicher Unterschied, ob ich sage: unter dem Druck permanenter unterrichtlicher Schwierigkeiten und nicht mehr übergehbarer didaktischer Einsichten wollen wir

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den Ruf nach einem neuen Katechismus nicht um seine Dringlichkeit bringen, noch ganz abgesehen von der Frage, ob etwas Gebetstext sein kann, was als Interpretationstext seiner schweren Verständlichkeit wegen ungeeignet ist? Daß Luther den Κ Κ auch als ein Gebetsbuch angesehen und selbst benutzt hat, ist keine Frage. In der zweiten Vorrede zum Großen Katechismus (GK) von 1530 spricht er davon, daß man mit dem Katechismus umgehen, sich in ihm üben, ihn lesen, bedenken und betrachten, sich ihn vorsprechen, ihm nachsinnen und ihn als geistliche Waffe benützen müsse, so wie er das selbst auch tue. u Aber man darf nicht übersehen: Diese Vorrede richtet sich an die Pfarrer; sie sollen den K K anstelle des abgeschafften Breviers benutzen. Der K K hat in der Tat für Luther „die Umgangsqualität eines Breviers" (J. Henkys). 12 Aber nicht nur von dem Unterrichtenden, sondern auch von dem Unterwiesenen möchte Luther den Κ Κ gebetet haben - man denke nur an seine Anweisungen für den Morgen- und Abendsegen, in denen Katechismusstücke den Morgen- und Abendgebeten zugeordnet werden. auf den Katechismus als Unterrichtsgrundlage verzichten, ihn aber als hilfreiche Gemeindeantwort für unser Beten neu beanspruchen - , oder ob ich sage: wir geben dem Katechismus den ihm von Luther zugedachten Ort wieder zurück; denn er ist im Verständnis des Reformators, also seinem ,ursprünglichen Sinn' nach, ein,Gebetbuch'." 1 1 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, 1930, S. 546, 18ff. : Statt des Breviers sollen die Pfarrer „morgens, mittags und abends etwa ein Blatt oder zwo aus dem Katechismo, Betbüchlin, Neu Testament... lesen und ein Vaterunser für sich und ihr Pfarrkinder beten". S. 547, 33: „Noch tue ich wie ein Kind, das man den Katechismus lehret, und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens, und wenn ich Zeit habe, das Vaterunser, zehen Gepot, Glaube, Psalmen e t c . " ; S. 549, 2ff.: „Denn ob sie es (das in den Katechismusstücken Gesagte) gleich allerdings aufs beste wüßten..., so ist doch mancherlei Nutz und Frucht dahinden, so man's täglich lieset und übet mit Gedanken und Reden, nämlich, daß der heilige Geist Licht und Andacht dazu g i b t . . . " ; S. 549, 27ff. : „Ohn Zweifel wirst Du kein Weihrauch noch ander Geräuche stärker wider den Teufel anrichten, denn so Du mit Gottes Geboten und Worten umgehest, davon redest, singest oder denkest... Nu solltest Du doch j a allein ümb deswillen solch Stück gerne lesen, reden, denken und handeln, wenn Du sonst kein ander Frucht und Nutzen davon hättest, denn daß Du den Teufel und böse Gedanken damit kannst v e r j a g e n . . . " ; S. 552, 38ff.: „ D a r ü m b bitte ich abermals alle Christen, sonderlich die Pfarrherr und Prediger, sie wollten... sich täglich wohl drinnen (im Katechismus) üben und immer treiben..., stetig anhalten beide mit lesen, lehren, lernen, denken und tichten." - Im folgenden wird der K K immer nach dieser Ausgabe zitiert mit dem Sigel BS und Seiten- und Zeilenangabe. " A . a . O . , S. 211.

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Es hat also schon sein Recht, den K K ein Gebetsbuch zu nennen. Nur wird alles falsch, wenn man den Gebetsbuchcharakter des K K ausspielt gegen seinen Charakter als Lehr- und Lernbuch. Man kann ihn nur behalten, wenn man ihn beides sein läßt: Gebetsbuch und Lehrbuch. Daran, daß Luther den K K als „Lehrbuch" im Sinne biblischer didache geschrieben hat und gebraucht wissen wollte, ist ja nun wirklich aller Zweifel ausgeschlossen.13 In der ersten Vorrede zum G Κ von 1529 und der Vorrede zum K K , in denen sich Luther an die Pfarrer und die Hausväter wendet als an diejenigen, die für die Unterweisung der nachwachsenden Generation Sorge zu tragen haben, wird das deutlich ausgesprochen. Der Sprachgebrauch von „Katechismus" ist bei Luther freilich schillernd: Mit der Grundbedeutung von elementarer Unterweisung als G e s c h e h e n verbindet sich die Bedeutung des elementaren S t o f f es (Text der Zehn Gebote, des Credo, des Vaterunser, zu dem später noch die Stiftungsworte von Taufe und Abendmahl hinzukommen14), und schließlich bedeutet „Katechismus" die G e s t a l t und A u s l e g u n g , die dieser Stoff in den beiden so genannten B ü c h e r n Luthers gefunden hat. 15 Wenn Luther davon spricht, daß er zeitlebens Schüler des Katechismus bleiben müsse,14 so meint er natürlich nicht, daß er Schüler seiner eigenen Bücher bleiben müsse, sondern Schüler des Katechismus-Stoffes, der als verbum consumane das Konzentrat des nie ausschöpfbaren Schriftinhaltes ist, der aber zugleich als verbum abbreviatum das nicht mehr unterbietbare elementare Vgl. auch W. Trillhaas, D. Martin Luthers Kleiner Katechismus, 1935, S. 9f. Der Katechismus ist ein „Lehrbuch" und ein „Lernbuch". Statt vieler Belege = WA 30, III, 567, 19ff. 14 WA 19,76, 2ff.: „Catechismus aber heyst eyne Unterricht, damit man die heyden, so Christen werden wollen, leret und weyset, was sie gleuben, thun, lassen und wissen sollen ym Christenthum... Dise Unterricht odder unterweysunge weys ich nicht schlechter noch besser zu stellen, denn sie bereyt ist gestellet von anfang der Christenheyt und bis her blieben, nemlich die drey stuck, die zehen gebot, der glaube und das vater unser. Inn disen dreyen stucken steht es schlecht und kurtz fast alles, was eyn Christen zu wissen not i s t . " Vgl. auch BS 553, 33. 15 B S 501, 4: „Disen Katechismen oder christliche Lehre in solch kleine, schlechte einfältige Form zu stellen, hat mich gezwungen... die klägliche, elende N o t . . . " ; B S 504, 35: „Wenn du sie nun solchen kurzen Katechismum gelehret hast, alsdenn nimm den grossen Katechismus für dich und gib ihn auch reichen und weitern verstand." WA 29, 472, 22: Nam habetis vos Catechismum parvis et magnis Ii bris. Vgl. O. Albrecht, a.a.O., S . 454: „Also,Katechismus' ist Elementarunterricht im Christentum, zunächst als Handlung gedacht, dann als ein abgegrenzter Lehrstoff, dann Bezeichnung eines Buchinhaltes und schließlich eines Buches selbst." " B S 548, 4. u

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Minimum dessen darstellt, was ein Christ sich angeeignet haben muß, um am heiligen Abendmahl teilnehmen zu dürfen. 17 Wenn Luther davon spricht, daß der Katechismus ins Volk gebracht, daß er getrieben, vorgepredigt, gelehrt, auswendig gelernt, abgefragt, aufgesagt werden müsse, 18 dann meint er die Einführung und Einübung in den als elementares Minimum verstandenen (durch kritische Sichtung und Ergänzung der Überlieferung von ihm gestalteten) Katechismusstoff einschließlich der von ihm formulierten Fragen und Erklärungen zu den einzelnen Katechismusstücken. 19 Die letzteren sind aus seinem persönlichen betrachtenden, nachdenkenden, betenden Umgang mit dem Katechismusstoff erwachsen; sie wollen für die Unterweisenden - Pfarrer und „Hausbischöfe" 2 0 - Anleitung und Hilfe zum rechten Befragen und Erläutern und zugleich Anregung zum eigenen Umgang mit dem Stoff des Katechismus geben ; für die Unterwiesenen wollen sie Hilfen zum Verstehen und zur persönlichen Aneignung sein; 8 1 sie wollen die Behältnisse bereitstellen - die „secklin und beutlin", von denen Luther so anschaulich in der Deutschen Messe spricht* 2 - , um das in der Predigt Gehörte aufbewahren zu können, also die Ordnungsgrößen, ohne die der Inhalt der Bibel seiner Vielfalt und Fülle wegen unüberschaubar bleibt und darum nicht behalten werden kann, sondern zerfließt. 28 Dabei hat Luther weder ein Monopol für seinen Katechismus beansprucht, 24 noch hat er seine Erklärungen verbindlich gemacht, als seien sie das non plus ultra, sondern er verstand sie als Modelle, die eigenes Erklären nicht ersetzen, sondern in Gang setzen und vorbilden sollen. 25 Henkys sagt darum mit Recht, daß Luthers Katechismus-Auslegung „nicht 1 7 WA 301, 2, 14: „ Q u a n q u a m qui Sacramentum eunt, plus scire debent quam hanc puerilem instructionem." - J . Henkys, a. a. O., S. 207, spricht von einem „Minimal"- und einem „Maximalaspekt", unter dem man die Wesensbestimmung des K K sehen müsse. « B S 502, 33; 503, 19ff.; 554,7 - 16, 26ff.; 558,34ff.; 559, 26ff.; WA 19, 76, U f f . ; 30, I I I , 566, 36ff.; 567, 21. 19 B S 504, 13ff. ; 35ff. 2 0 WA 30 I, 58, 8. 23 2 1 WA 19, 76, 15: „Nicht alleyne also, das sie die wort auswendig lernen noch reden, wie bis her geschehen ist, sondern von stuck zu stuck frage und sie antworten lasse, was eyn iglichs bedeute und wie sie es verstehen." 2 2 WA 19, 77, 23 ff. 2 3 WA 19, 78,18ff.; B S 559, 2ff. « B S 504, 16 f. 2 5 WA 19,78,15 ff.: ,,WoltGot,das solch kinderspiel wol getrieben würde ; man solt ynn kurtzer zeyt grossen schätz von Christlichen leuten sehen, und das reyche seelen ynn der schrifft und erkenntnis Gottis wurden, bis das sie selbs diser beutlin als locos communes mehr machten und die gantze schrifft dreyn fasseten; sonst gehets teglich zur

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verbum tradendum, sondern als verbum explicans verbum tradens" sei.2® Luther hat sie geschrieben als Interpretation des Katechismustextes, nicht aber dazu, daß sie nun selber zum Interpretationstext werden sollen. Er wollte sie allerdings von jung und alt gebraucht haben als Hilfen zum Hören der Predigt und zum Aufbewahren der gehörten Predigt, als Einübung in den eigenen Umgang mit dem Katechismusstoff und Anleitung zu selbständig gegebenen Antworten des Glaubens. Ein Christ soll Bescheid wissen über das und Bescheid geben können von dem, was er glaubt. 27 Es ist also festzustellen: Luthers K K ist „Lehr- und Lernbuch", und er ist auch „Gebetsbuch", aber er ist Gebetsbuch nur, weil und insofern er Lehrbuch ist. Er ist als Gebetsbuch nur zu bewahren, wenn er zugleich als Lehrbuch in Gebrauch ist. Für Luther gehören das didaktische und das liturgische Element untrennbar zusammen. Ist der K K aus didaktischen Gründen als Lehrbuch nicht mehr brauchbar, so ist er auch liturgisch als Gebetsbuch nicht mehr verwendbar. Das didaktische und das liturgische Element dürfen nicht gegeneinander isoliert werden, als sei der Gesichtspunkt der Verstehbarkeit beim Beten von geringerer Bedeutung als beim Lehren und Lernen. Man verfehlt Luthers Intention, wenn man entweder den Gebetsbuchcharakter des K K ausspielt gegen seinen Charakter als Lehr- und Lernbuch, oder wenn man meint, den K K liturgisch retten und didaktisch aus dem Verkehr ziehen zu können. II Relation H. Jetter hat in seiner Dissertation über „Das Problem eines lutherischen Katechismus in theologischer und pädagogischer Sicht" als „Grundproblem predigt, und gehet widder davon, wie es hynzu gangen i s t . " - WA 38, 371, 2: Denn, wie ich gesagt habe, will ich niemand gebunden an diese mein wort oder gedancken, sondern mein exempel dar gestellet haben, dem da folgen mag, wer da will, oder bessern, wers kan." (Dies ist zwar im Blick auf seine Vaterunserparaphrase in dieser Schrift gesagt, gilt aber entsprechend für seine Katechismuserklärungen.) » A.a.O., S. 207. 27 Vgl. K . Hauschildt, Luthers K K noch heute Grundlage evangelischer Unterweisung? (in: Luther, Mitteilungen der Luthergesellschaft, 1959, H. 2). S. 81: „ E v a n gelische Unterweisung hilft zum Bescheid wissen und macht tüchtig, Bescheid zu geben, im Glauben zu antworten. Wer nicht Bescheid weiß, kann kein mündiger Christ werden." „Der Katechismus lehrt verbindlich und will hineinnehmen in lebendige Erfahrung, vermeidet aber alle lehrhafte Systematik."

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einer Theologie des Katechismus" sein V e r h ä l t n i s zur S c h r i f t bezeichnet.®8 Wenn Luther den Katechismus als „der ganzen Heiligen Schrift kurzer Auszug und Abschrift" bezeichnet29 oder als „der leyen biblia" 80 und wenn er von den Katechismusstücken sagt, in ihnen sei auf kurze und leicht verständliche Weise alles zusammengefaßt, was wir in der Schrift haben, 31 so meint er damit doch wohl, daß in den Texten der Zehn Gebote, des Credo, des Vaterunser und der Einsetzungsworte von Taufe und Abendmahl das Ganze der Heiligen Schrift, das Gesamte ihrer Heilsbotschaft in äußerster Verdichtung, in konzentriertester Form enthalten sei. Aber der Katechismus will weder die Bibel überflüssig machen, noch will er von der Bibel überflüssig gemacht werden. Wer mit dem Katechismus - als verbum abbreviatum - umgeht, erhält Anleitung zum Eindringen in die Fülle der Schrift; wer in die Fülle der Schrift eingedrungen ist, erkennt im Katechismus als verbum consumane - die Fülle der Schrift wieder. Er enthält das Elementare und zugleich die Summa der Schrift, insofern er ihren Zentralgehalt auf- und eingefangen hat. Treffend formuliert Henkys diesen Sachverhalt: „Katechismus (als Bibelauszug) und Heilige Schrift (als Katechismusquelle) verhalten sich zueinander wie Einheit und Ganzheit." 82 Diese Wechselbeziehung zwischen Schrift und Katechismus ist nun noch kurz aufzuzeigen : 1. Der Katechismus kommt von der Schrift her und führt in die Schrift hinein. Er ist aus der Schrift hervorgegangen und eröffnet den Zugang zur Schrift. Er ist ein Schlüssel zum Erschließen der Schrift, aber ein Schlüssel, der nach dem Schloß gemacht ist. 33 Im Katechismus ist festgehalten, was Luther im verantwortlichen Lesen und Bedenken der Schrift als ihren entscheidenden Inhalt herausgehört hat. Und nun haben wir ihn, damit er uns auf den Weg in die Schrift bringen und auf dem Weg durch die Schrift leiten soll, auf daß wir uns nicht in der Mannigfaltigkeit ihrer Aus28 H. Jetter, Das Problem eines lutherischen Katechismus in theologischer und pädagogischer Sicht (Diss. Tübingen 1962), S. 35. 29 BS 552, 30. WA 30 I, 27, 26. 31 BS 557, 19 ff. ; WA 30 I, 2, 20: In his autem tribus simpliciter comprehenditur, quiquid tota scriptura habet. WA 7, 204, 8ff. 82 A.a.O., S. 210. 83 O. Hammelsbeck, Der kirchliche Unterricht, 1947, S. 130: „Mit dem Katechismus sind uns die Schlüssel in die Hand gegeben, um ihr (der Schrift) Verständnis aufzuschießen, wobei wir nicht vergessen dürfen, daß das Schloß, die Schrift, das wichtigere ist, - der Schlüssel ist nach dem Schloß gemacht, und nicht umgekehrt."

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sagen wie in einem Labyrinth verlieren und also vor Verirrung und Verwirrung bewahrt bleiben. Der aus der Schrift hervorgegangene Katechismus will, daß wir in die Schrift hineingehen und uns in ihr zurechtfinden. „Catechismus i.e. ein Unterweisung oder Christlicher Unterricht, das yhn alle Christen zum allerwenigsten wissen sollen, post hoc sollen sie weiter ynn die Schrift gefurt werden." 34 Insofern hat F. Hahn recht: „Alle Katechismen des 16. Jahrhunderts werden als Wege zur Bibel verstanden." 36 Aber der Katechismus wird nicht überflüssig, wenn einer durch ihn den Zugang zur Schrift gewonnen hat. Er hat seine Funktion noch nicht damit erfüllt, daß er den Weg in die Schrift gebahnt hat. Er steht nicht nur am Anfang des Weges in die Schrift, sondern auch an dessen Ende. Er hat nicht nur die Funktion eines öffnenden Schlüssels, sondern auch die eines sammelnden Behältnisses. Der Weg geht nicht nur von dem aus der Schrift erwachsenen Katechismus in die Schrift hinein, sondern auch von der unter Anleitung des Katechismus gelesenen Schrift wieder auf den Katfechismus zu. 2. Der Katechismus hilft nicht nur zum Verstehen der Schrift, sondern auch zum Behalten des Verstandenen. Der im Zusammenhang gelehrte Katechismus verweist auf ein Gesamtzeugnis der Bibel und bewahrt uns davor, die Einzelperikopen oder die Einzelschriften zu isolieren und punktuelle Erkenntnisse zu verabsolutieren; er hilft uns, die Wertigkeit der Einzelaussagen zu erkennen und sie in ihrem Zusammenhange und in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu sehen. Aber der Katechismus steht auch am Ende des jeweiligen Umgangs mit der Schrift. Das gelesene oder gehörte Gotteswort verrauscht und zerfließt; es wird nicht behalten, aufbewahrt und angeeignet. Da bietet sich denn der eingeprägte Katechismus an, um das im Umgang mit der Schrift und im Hören der Predigt Erkannte aufzufangen und aufzubewahren. Die Katechismusaussagen sind wie Kristallisationspunkte, Ordnungsgrößen, Auffangformen, denen sich das biblisch Erkannte zuordnet und einbirgt. Luther warnt vor der Illusion, daß das Gehörte oder Gelesene behalten werde, ohne daß Hilfen zum Bewahren bereitgestellt sind.36 Treffend ist dieser Sachverhalt schon von G. Fr. Zachariae ausgesprochen worden: „Der Katechismus ist eine Vorbereitung zur richtigen Lesung der Heiligen Schrift und ein Mittel zur Wiederholung und Erinnerung des Gelesenen."37 Dabei ist dieses Bewahren und BeWA 301, 27, 28; vgl. auch BS 559, 4ff.; WA 30 I, 58, 21!. Zit. bei H. Jetter, a.a.O., S. 28. 3« BS 558, 34 ff. · ' Zit. bei H. Jetter, a.a.O., S. 33. 84

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halten nicht bloß im intellektuellen Sinne der Gedächtnisspeicherung gemeint, sondern in dem Sinne, daß ich mir in der Katechismusaussage das biblisch Erkannte zu eigen mache. In Witts programmatischem Entwurf hat der Katechismus die in 1. und 2. beschriebene - erschließende und sammelnde - Funktion nur für den Lehrer, während er für den Schüler - jedenfalls in erkennbarer Weise nur die letztere hat. Daß der Katechismus als Ganzes „ a m Anfang und am Ende einer jeden Konfirmandenstunde" stehe, 38 gilt nur für den Lehrer; für den Lernenden steht er - jedenfalls bewußtermaßen - nur am Ende. „Von der jeweiligen Perikopenauslegung her bietet er u n s . . . den Dienst als Zusammenfassung der Schrifterkenntnis und wird uns in dem ganz persönlichen Bezug der Erklärung Luthers zum Gebet." 3 9 Fror hat dies Witt mit Recht vorgehalten, 40 und dieser Vorwurf ist durch S. Schmutzlers Verteidigung der Wittschen Konzeption nur zum Teil entkräftet worden. 41 Es steht jedenfalls außer allem Zweifel, daß Luther auch den Lernenden dazu angeleitet wissen will, daß er den ihm im Zusammenhang verständlich gemachten und eingeprägten Katechismus gebrauchen kann als entscheidende Orientierungs- und Verstehenshilfe bei seinem persönlichen Umgang mit der Schrift. Und es ist eben die Frage, ob der im Wittschen Sinne als jeweilige Zusammenfassung biblischer Einzelaussagen benutzte - und also nicht kontinuierlich gelehrte und angeeignete - Katechismus dann späterhin diese verständnisleitende Funktion wahrzunehmen vermag. 4 2 K. Witt, a.a.O., S. 45 3» Ebd., S. 50. 40 K. Fror, Textinterpretation und Katechismusunterricht in der kirchlichen Unterweisung, ThLZ, 86. Jg., 1961, Sp. 22. 4 1 S. Schmutzler, „Konfirmandenunterricht". Zu einem Buch und seiner Kritik, MPTh, 53. Jg., 1964, S. 200f. S. Schmutzler hat überzeugend gezeigt, daß Witt dem K K nicht nur eine „Mitläuferrolle" zugedacht hat, sondern ihn in seiner „Eigenständigkeit" zur Geltung bringen möchte als „dauerndes Gegenüber" (K. Witt, a.a.O., S. 13) zum biblischen Text. Ebenso, daß es Witt nicht nur um „punktuelle Einzelerkenntnisse", sondern „um die Gewinnung geordneter Erkenntnisse geht". Es bleibt indessen die Frage, ob der jeweils nur von exegetisch gewonnenen Einzelheiten punktuell angestrahlte, nicht aber in (in ihrem Zusammenhang überschaubaren und durchschaubaren) Einheiten gelehrte Katechismus es zu leisten vermag, das Verstehen der Schrift zu leiten, Maßstäbe für das rechte Verständnis der Einzelaussagen und Hilfen zur Bewahrung vor abwegigen, willkürlichen Auffassungen zu geben. - Vgl. von demselben Verfasser: Exemplarischer Konfirmandenunterricht (in: Verantwortung. Zum 60. Geburtstag von Landesbischof D. Noth, 1964). 42 K. Witt scheint das anzunehmen, wenn er a.a.O., S. 45, schreibt: „Der Katechismus als Ausgang der Schriftauslegung wird fast ausschließlich die besondere Aufgabe 38

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3. Der Katechismus legt die Schrift aus und wird von der Schrift ausgelegt. Witt und Jetter sprechen mit Recht von einem „dialogischen Verhältnis" zwischen Schrift und Katechismus, von einem „hermeneutischen Zirkel", in dem wir uns hier befänden. 43 Der K K legt die Bibel aus, insofern er alles auf die christologisch-soteriologische Mitte bezogen und Gottes Heilshandeln als pro me geschehen sehen lehrt, insofern er also die Bibel als lebendigen Zuspruch und Anspruch zu verstehen anleitet und vor historischer und moralistischer Mißdeutung bewahrt. Andererseits legt aber auch die Schrift den Katechismus aus in dem Sinne der Entfaltung und der Konkretion. Was im Katechismus in äußerster gedanklicher Verdichtung ausgesprochen wird, wird in der Bibel in Lebensvorgängen, Geschichtsvollzügen und Geschehenszusammenhängen erzählt und bringt die Katechismusaussagen in immer wieder neuer Weise zum Leuchten, stellt den Bezug zu der Wirklichkeit des gelebten Lebens her, macht den Satz anschaulich und lebendig in konkretem Geschehen, entfaltet den Reichtum, der in die zusammengedrängten Katechismusaussägen eingegangen ist. Wenn Luther in der Vorrede zum Κ Κ den katechetischen Rat gibt: „und immer viel Exempel aus der Schrift... einführen!", 4 4 so hat er damit gewiß die Bibel nicht zu einer Sammlung von Beispielgeschichten als beweiskräftigen Belegstellen für die Richtigkeit der Katechismusaussagen machen wollen - eine so benutzte Bibel wäre nicht mehr Interpretation, sondern nur noch Illustration des Katechismus - , wohl aber hat er es für möglich gehalten, daß man ohne Krampf von der Katechismusaussage zu einer biblischen Perikope übergehen könne und daß diese - ohne daß man sie erst in ihrem Aussagegehalt zurechtbiegen müßte - die Katechismusaussage verdeutlicht, verlebendigt, akzentuiert oder auch ergänzt. 45 In dem hier aufgezeigten hermeneutischen Zirkel steht nach der Konzeption von K . Witt bewußtermaßen eigentlich nur der Lehrer. Für i h n ist der K K auch „Verstehensbasis", „Ausgang der Schriftauslegung", „richtender des Unterrichtenden sein und wird daher zunächst in dem Bewußtsein der Konfirmanden noch nicht geweckt werden können." Vgl. S. Schmutzler, a.a.O., S. 201. * 3 K. Witt, a.a.O., S. 45; H. Jetter, a.a.O., S. 36, 38. " BS 505, 4. 45 Die Art und Weise, in der H. Schmidt, Und lehret sie! Eine Handreichung zum Katechiámusunterricht, 1. Bd., 1950, bei der Auslegung der Katechismusstücke auf biblische Perikopen verweist, ist von Luther her gerechtfertigt. Freilich wird man die Bedenken,die K. Witt, a.a.O.,S. 38 ff., gegen die Verwendung biblischer Standardgeschichten erhebt, aufmerksam zu hören haben.

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Maßstab" 4 8 für die Texterschließung; für den Schüler wird dieser Zirkel indessen nicht wirklich sichtbar. Er erfährt zwar auf indirekte Weise seine Auswirkung, insofern sich der Lehrer bei der Auslegung der biblischen Perikope ja hat vom K K leiten lassen; aber bewußt erlebt er eigentlich nur, wie der Katechismus von der Bibel ausgelegt, von biblischen Einzeltexten punktuell „angestrahlt" und jeweils in der einen oder anderen seiner Einzelaussagen zum Verständnis gebracht wird. Natürlich muß man bei einem „Zirkel" irgendwo einsteigen - und diese Einstiegstelle kann bei dem Lernenden durchaus der biblische Text sein - , aber es muß dann auch zu einem wirklichen Zirkelverfahren kommen. Daß dies bei Witt auch für den Lernenden intendiert ist, ist nicht zu bestreiten ; 4 e nur ist zu fragen, ob es zu dem beabsichtigten Dialog zwischen Bibel und Katechismus, Katechismus und Bibel kommen kann, wenn auf eine zusammenhängende Einführung in die Gehalte des Glaubens verzichtet wird. Die Relation, in der Luther Schrift und Katechismus einander zugeordnet sieht, dürfte geradewegs auf Frörs Forderung hinauslaufen: „Auch den Schüler des Katechumenats muß die lehrende Kirche so anleiten, daß er nicht nur den Katechismus von der Bibel her, sondern ebensogut die biblischen Texte vom Credo her zu verstehen gelernt hat. Die Unterweisung im Katechismus kann auf das dialogische Gegenüber von Text und Credo nicht verzichten. Vgl. K. Witt, a. a. 0., S. 13 : Für die „Struktur des Konfirmandenunterrichts" mitbestimmend ist „das Hin und Her, das Fragen und Antworten zwischen Bibel und Katechismus und Katechismus und Bibel" ; S. 45 wird ins Auge gefaßt, daß im Vollzug der Auslegung einer biblischen Geschichte in der Konfirmandenstunde „Möglichkeiten des Verständnisses und der Deutung, die von der Jugend im Unterrichtsgespräch gebracht werden, mit Katechismusaussagen konfrontiert und auf ihre Gültigkeit geprüft werden". Dies ist freilich - soweit ich sehe - die einzige Stelle, wo daran gedacht ist, daß der K K auch für den Schüler die Funktion hat, kritischer Maßstab für die Schriftauslegung zu sein. Sonst wird der K K für den Schüler durchweg nur als von der Schrift auszulegender sichtbar, z.B. S. 45: „als Endergebnis einer solchen interpretierenden Bemühung jeder biblischen Geschichte (sollte) in Zusammenhang mit den Konfirmanden herausgestellt werden, welche Katechismusaussagen von dieser Geschichte her verständlich geworden oder in neuer Weise angestrahlt worden sind". S. 46: „Ich kann dann - dieses von der Bibel her lebendig gewordene Katechismusstück in sinnvoller Weise einprägen." S. 52: Es sind „nach jeder eingehenden Besprechung einer Perikope sorgfältig die Linien auszuziehen zu jeder Katechismusaussage, die nunmehr von dem Text her erhellt worden ist". „ E r (der K K ) wird nach der Textauslegung der Perikope... still durchgelesen, und es wird alsdann... aufgezeigt, inwiefern dieses oder jenes Stück (sc. des KK), das die Konfirmanden nennen, von dem Erarbeiteten her für alle deutlich gemacht werden kann." S. 53: Es ist deutlich zu machen, „welche Stücke des Katechismus von dieser Perikope für diese Jugendlichen erhellt worden sind". 46

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Zu diesem Dialog kommt es aber nur, wenn der Textinterpretation eine geordnete und überschaubare Einführung in das Glaubenszeugnis der Gemeinde gegenübertritt." 47 Daß Luther eine zusammenhängende und fortschreitende Unterweisung im Katechismus für notwendig gehalten hat, zeigt die einfache Tatsache, daß er kursorisch über den Katechismus gepredigt hat. 48 Daß der klassische Text des K K heute kaum noch die Grundlage solcher zusammenhängender, aufbauender Unterweisung wird sein können, wird anzuerkennen sein. Gleichwohl werden sich aus Aufbau und Aussagestruktur von Luthers K K wichtige Einsichten für einen künftigen Katechismus gewinnen lassen. III Disposition Es handelt sich hier um die Frage, ob im Aufbau des K K in der Anordnung der Hauptstücke ein theologisches Prinzip wirksam gewesen ist, ob also im Gesamtgefüge des K K Zuordnungen und Beziehungsverhältnisse zu entdecken sind, die das Ganze als einen systematischen Entwurf verstehen lassen. Es besteht ein weitgehender Konsensus darüber, daß Luthers K K kein abgerundetes Lehrganzes sein wolle, daß die Anordnung der Hauptstücke nicht unter systematischen Gesichtspunkten geschehen sei und daß man also den K K mißverstehe, wenn man ihn als eine Art „Laiendogmatik" auffasse. Das Ordnungsprinzip sei weder ein heilsgeschichtliches (v. Zezschwitz), noch das eines ordo salutis (Th. Harnack), Luther setze vielmehr „die überlieferten Lehrstücke blockartig nebeneinander hin, ohne um eigentliche Bindeglieder besorgt zu sein"; er wolle „kein Lehrgebäude entwickeln, das schließlich im Ergebnis ein systematisch zusammenhängendes und abgerundetes Ganzes bildet"; er denke „im Ansatz nicht architektonisch, sondern in elementaren katechetischen ,Stücken'". 49 Alle im Verlauf der Geschichte der Katechismusauslegung gemachten Versuche, die mangelnde Systematik und Vollständigkeit des K K durch systematisierende " K. Fror, a.a.O., Sp. 23. 48 Von der Praxis her stellt sich freilich die Frage, ob in Verhältnissen, in denen (wie z.B. in der DDR) der Besuch des Konfirmandenunterrichts durch Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet ist, eine zusammenhängende Einführung in die Lehre der Kirche noch sinnvoll ist, da der Zusammenhang vermutlich nur dem Unterweisenden selber bewußt sein kann. 49 K. Frör, Theologische Grundfragen zur Interpretation des K K D. Martin Luthers (MPTh, 52. Jg., 1963, S. 479f.); ähnlich H. Girgensohn, Katechismusauslegung, 1956, S. 14. 57

Verknüpfungen der Hauptstücke oder durch komplettierende Ergänzungen mit fehlenden Lehrgegenständen auszugleichen, hätten verkannt, daß es Luther gar nicht darum gegangen sei, im KK ein systematisches Lehrganzes zu bieten. Gegenüber diesem gängigen Mißverständnis des KK als einer systematischen Lehrentwicklung oder eines methodischen Lehrganges hatte schon Gottschick auf die Ganzheitlichkeit und relative Eigenständigkeit der einzelnen Hauptstücke verwiesen und erklärt, jedes der ersten drei Hauptstücke stelle, nur jedes unter einem anderen Gesichtspunkt (als Aufgabe, als Bekenntnis, als Objekt des Verlangens), das ganze Christentum dar. 60 In ganzer Klarheit und mit den nötigen Konsequenzen ist diese Erkenntnis von 0 . Ziegner, G. Hoffmann und K. Hauschildt unter Zustimmung von H. Jetter und K. Fror ausgesprochen worden. 81 Ganz ähnlich wie Ziegner, der festgestellt hatte, daß jedes einzelne Hauptstück „den ganzen Schriftinhalt bringt", ist auch Hauschildt der Auffassung, daß die einzelnen Hauptstücke „jeweils das Ganze der Schrift und nicht nur Teile" enthalten, weswegen die Reihenfolge, in der sie angeordnet sind und unterrichtet werden, ohne sachlichen Belang sei. Hoffmann spricht präziser von einem einheitlichen „Grundverständnis des uns in Christus geschenkten Heils", das sich in den einzelnen Hauptstücken jeweils von einer ganz bestimmten Fragestellung her zur Sprache bringt, woraus sich für ihn „die vielen Berührungen, die als Überschneidungen, Einblendungen und Wiederholungen zwischen den einzelnen Katechismusstücken bestehen", erklären. Wenn es sich im KK um die Vollständigkeit systematischer Erörterung handelte, so könnte man „diese Doubletten und Überlagerungen auf Mängel der Disposition und Stoffabgrenzung zurückführen. So aber sind sie die Folge vielseitiger Ausstrahlung eines einheitlichen, im Evangelium begründeten Grundverständnisses." 52 Fror kann diesen common sense, der in seiner Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit mit einer Tradition von mehreren hundert Jahren Katechismus50

Gottschick, Luther als Katechet, zit. bei J. Meyer, a. a. O., S. 501. O. Ziegner, Die Kirche vor ihrer Jugend. Die Theologie des KK, 1960, S. 13; G. Hoffmann, Der KK als Abriß der Theologie Martin Luthers (in: Luther. Mitteilungen der Luthergesellschaft, 1959, H. 2), S. 53ff.; K. Hauschildt, a.a.O., S. 81f.; H. Jetter, a.a.O., S. 22ff.; K. Frör, a.a.O., S. 481. Vgl. auch: Du gehörst Gott.Handbuch für den Katechismusunterricht nach M. Luthers KK, hrsg. von W. Grundmann und H. Krämer, 1959, S. 15: „Jedes der Hauptstücke birgt in sich den Gesamtgehalt der Heiligen Schrift nach Gesetz und Evangelium." 62 Man könnte zur Stützung dieser Auffassung auf eine Stelle aus der Schrift „Von den guten Werken" hinweisen, in der Luther die einzelnen Dekalog-Gebote mit den einzelnen Vaterunserbitten als identische Stücke zusammenfaßt (WA 6, 250, Iff.). 51

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auslegung bricht und hinter den die Katechismusinterpretation von nun an nicht mehr zurückgehen sollte, in einigen „Grundsätzen" zusammenzufassen : 1. Die Hauptstücke des K K bilden nach der Interpretation Luthers kein in sich zusammenhängendes Lehrsystem. Sie bilden vielmehr eine blockartige, inselförmige Zusammenstellung der für die elementare und exemplarische Unterweisung wichtigsten Texte der Uberlieferung. 2. Jedes einzelne Hauptstück setzt immer gleichzeitig das Ganze der Uberlieferung voraus. Es enthält zwar selbst nicht das Ganze, bringt es aber jeweils von einer spezifischen Fragestellung aus zur Sprache. 3. Kein Hauptstück ist ohne den Kontakt aller übrigen zu verstehen. Die vorfindliche Reihenfolge im K K ist nicht eine sachlich vorgegebene und notwendige. Die Auslegung im Unterricht ist deshalb an diese Reihenfolge nicht gebunden. 4. Der exemplarische Charakter der Hauptstücke läßt erkennen, daß es im K K darum geht, Verständnisfelder anzulegen, von denen aus jeweils das Ganze des Glaubens und Lebens der Gemeinde in das Blickfeld des Lernenden tritt. 53 Hier ist zweifellos etwas ganz Entscheidendes erkannt. Man muß freilich ehrlicherweise zugeben, daß, wenn man die von Fror aufgestellte hermeneutische Regel beachten will - den K K im Kontext der anderen Schriften Luthers zu lesen - , man in einige Schwierigkeiten kommt. Was die Aufeinanderfolge der Hauptstücke anbelangt, läßt sich zwar leicht zeigen, daß Luther, wenn er die drei aus der Überlieferung übernommenen Stücke (Credo, Dekalog, Vaterunser) nennt, sie in wechselnder Reihenfolge aufzählt. 54 Aus dieser Tatsache hatte schon Achelis die Schlußfolgerung gezogen, daß die Folge der Hauptstücke im K K als bedeutungslos anzusehen sei. Aber 0 . Albrecht und J . Meyer haben auf den nicht zu bestreitenden Tatbestand hingewiesen, daß Luther, wenn er die Katechismusstücke nicht nur aufzählte, sondern sie im Zusammenhang auslegte, immer die - in der Tradition nur ganz vereinzelt anzutreffende - Ordnung: Gebote, Glaube, Vaterunser gewählt hat - mit einziger (in der Sache begründeter) Ausnahme der Schrift „Eine einfältige Weise zu beten" 1535. 55 Dies spricht K. Fror, a.a.O., S. 482. Vaterunser - Credo - Dekalog: BS 502, 4, 18; 503, 5. Dekalog - Vaterunser Glaube - (Sakramente) : BS 502, 43. Vaterunser - Dekalog - Credo (Psalmen) : BS 547, 37. Dekalog - Credo - Vaterunser: BS 503, 20. Weitere Belegstellen bei J . Meyer, a. a. O., S. 84. 66 O. Albrecht, a.a.O., S. 446; J . Meyer, a.a.O., S. 83ff. - WA 38, 358ff.: Reihenfolge: Vaterunser - Gebote - Glaube. 53

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nicht unbedingt für völlige Gleichgültigkeit der Reihenfolge. Außerdem hat Luther selbst bekanntlich Versuche in der Richtung einer systematischen Verknüpfung der Hauptstücke gemacht, ζ. B. in der Schrift „Ein kurcz form der zeehen gepott", in der es heißt: „Alßo leren die gepott den Menschen seyn kranckheit erkennen... Darnach helt yhm der glaub fur und leret yhn, wo er die ertzney, die gnade, finden sol, die yhm helff frum werden, das er die gepott halte, und tzeygt yhm gott und seyne barmhertzickeyt, in Christo ertzeygt und angepotten. Zum dritten leret yhn das Vatter unßer, wie er die selben begeren, holen und zu sich bringen sol...". 6 β Ganz ähnlich hat Luther im GK an den Nahtstellen der Hauptstücke den Sinn ihrer Aufeinanderfolge erklärt: erstes Hauptstück: was Gott von uns will und wir aus eigenen Kräften nicht tun können; zweites Hauptstück: was Gott für uns getan hat und bereit hält, damit wir mit Lust und Liebe tun können, was er von uns will; drittes Hauptstück: wodurch wir uns das aneignen können, was Gott für uns bereit hält. 67 Bei den beiden anderen Hauptstücken fehlen indessen solche gedanklichen Verknüpfungen. Es stellt sich die Frage: Hat Luther im K K bewußt auf alle derartigen systematisierenden Überleitungen zwischen den Hauptstücken verzichtet, oder hat er die Kenntnis des hier obwaltenden systematischen Zusammenhangs bei den Unterrichtenden vorausgesetzt und stillschweigend erwartet, daß sie ihn zur Geltung bringen würden? Jetter sieht den Verzicht auf überleitende Fragen oder systematisierende Verbindungsstücke zwischen den Hauptstücken des K K als bewußte, auf der pädagogisch-didaktischen Einsicht beruhende Entscheidung an, daß der Jugend und dem Mann auf der Straße systematisches Denken fremd sei. Es sei deswegen ein Irrweg, den GK in den K K zu übertragen durch Überleitungen zwischen den Hauptstücken. 68 Aber es gibt auch noch sachliche Gründe, die dagegen sprechen, die in der „Kurzen Form" und im GK anzutreffenden Erklärungen über den Zusammenhang der ersten drei Hauptstücke für die Interpretation des K K in Anschlag zu bringen: Diese systematisierenden Verknüpfungen spielen in den betreffenden Schriften selbst nur eine mehr formale Rolle; sie bestimmen nicht die Auslegung der Hauptstücke, vielmehr überschreitet die Interpretation ganz erheblich den in diesen Verbindungsstücken umrissenen Sinngehalt der einzelnen Hauptstücke. So geht z.B. die Auslegung des ersten Hauptstückes in keiner Weise auf in der Herausarbeitung der Gebote als „Sünden« WA 7, 204, 13ff.; vgl. auch WA 301, 11, 9ff.; 43, 27ff. « BS 640, 39ff.; 646, 3ff.; 661, 21ff.; 662, 17ff. " H. Jetter, a.a.O., S. 23f. 60

Spiegel"; der usus elenchticus ist keineswegs sinnbestimmend, wie es dem systematischen Eingangsstück zufolge eigentlich zu erwarten wäre. Wir werden also Fror darin zustimmen können, daß es sich bei den Hauptstücken um eine blockartige Zusammenstellung katechetischer Stücke, nicht aber um ein zusammenhängendes Lehrsystem handelt, bei dem sich eins aus dem andern entwickelt und das Nachfolgende nur aufgrund des Vorangegangenen verstanden werden kann. Gleichwohl wollen die einzelnen Hauptstücke als katechetische Einheiten aufgefaßt und ganzheitlich im Zusammenhang behandelt werden. Der K K ist nicht systematisch aufgebaut. Die sich vom G K her anbietenden Überschriften der Hauptstücke - 1. Wie lebt ein Christ? 2. Was glaubt ein Christ? 3. Wie betet ein Christ? 4. Wie wird man ein Christ? 5. Wie bleibt man ein Christ? 89 - unterstreichen nur die blockartige Zusammenstellung der Hauptstücke. Die Systematik des K K ist keine formale, sondern eine innere. Es ist wiederholt ausgesprochen worden, daß das zweite Hauptstück und hier wiederum der zweite Artikel die bestimmende Mitte, das „Kern- und Herzstück" des K K sei.®0 Der K K enthält keine ausgeführte Rechtfertigungslehre - das Wort „rechtfertigen" kommt nur in der Zitierung von Tit. 3 vor - , aber die Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesus Christus und das damit geschenkte neue Leben ist Bestimmungsmitte und Horizont aller Aussagen des K K . Mit Recht schreibt Jetter: „Die Rechtfertigungslehre wird im K K nicht wie ein dogmatischer Locus abgehandelt, sondern sie ist für Luther der Schlüssel für die Auslegung der einzelnen Stücke; von der Rechtfertigung ist stets in einem übergreifenden Zusammenhang die R e d e . . . , sie steht ausgesprochen oder unausgesprochen im Hintergrund der Katechismuserklärungen." 61 Albrecht stellt fest, daß der Gedanke der Glaubensrechtfertigung die ganze Katechismusauslegung beherrsche, „und zwar im Sinne jener oft zitierten Formulierung: fides sola iustificat, sed nunquam est sola". 6 2 Wenn man einen Satz 69 Diese Formulierungen stammen von E. Wissmann, Katechismusunterricht nach Luthers Kleinem und Großem Katechismus, 19472, besonders S. 162 ; für die ersten drei Hauptstücke kann er sich dabei direkt auf BS 662, 17ff. berufen; für das vierte zieht er BS 691, llff., für das fünfte BS 712, l l f f . heran. 6 0 Z. B. G. Hoffmann, a.a.O., S. 57: „Die eigentliche Mitte des K K ist das zweite Hauptstück mit den drei Artikeln des Glaubens. Hier wieder ist das Kern- und Herzstück der zweite Artikel." H. Jetter, a.a.O., S. 65: Der zweite Artikel ist „als der unausgesprochene Mittelpunkt nicht nur des zweiten Hauptstückes, sondern auch des ganzen K K " anzusehen. Vgl. auch J . Meyer, a.a.O., S. 501f. , l H. Jetter, a. a. O., S. 66. - Als Beleg für viele : WA 301, 52, 38ff. • a 0 . Albrecht, a.a.O., S. 638f.

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als Zentralsatz herausstellen wollte, so wäre es der die Einheit von Sündenvergebung und neuem Leben so unvergleichlich aussprechende Satz im fünften Hauptstück: „Wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit." Die R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e hat im K K die F o r m d e s B e k e n n t n i s s e s d er S ü n d e b z w . d e r u n v e r d i e n t e n V e r g e b u n g („und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit"; „der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen von allen S ü n d e n . . . " ; „ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen k a n n " ; „wir sind der keines wert, das wir bitten, haben's auch nicht verdienet ; sondern er wolle es uns alles aus Gnaden geben; denn wir täglich viel sündigen") und des B e k e n n t n i s s e s der damit geschehenen I n a n s p r u c h n a h m e („darum sollen wir ihn auch lieben und vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten"; „des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig b i n " ; „auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm d i e n e . . . " ; „daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäufet werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe"). Dieses unauflösliche Beieinander von Bekenntnis der Sünde und Bejahung der Indienstnahme, von Vergebung und Erneuerung, Rechtfertigung und Heiligung, Glauben und Gehorsam, Buße und Dank bestimmt den ganzen Katechismus. Damit sind wir aber bereits auf die Frage nach den Strukturen der Katechismusaussagen gestoßen. IV Struktur Wiewohl Luther immer wieder sagt, der Katechismus enthalte alles, was einem Christen für sein Heil zu w i s s e n notwendig sei, 63 und wiewohl wir selbst den K K ein „Lehrbuch" genannt haben, so ist er dies doch nicht in dem Sinne, daß hier dogmatische Lehrsätze zur wissensmäßigen Aneignung dargeboten würden. Zwar geht es im K K darum, daß ein Christ Bescheid wissen und Auskunft geben können soll über das, was er glaubt, 8 4 aber nicht ·» Ζ. B. WA 2, 204, 10. 13; 301, 58, 29; 19 76, 10. WA 301, 50,29: Sequuntur duo Sacramenta, die auch ein Christenmensch wissen sol, das er da von kunne reden. 64

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auf die Weise, wie man über wissenschaftliche Sachverhalte orientiert sein und referieren kann, also nicht im bloß intellektuellen, sondern im existentiellen Sinne. Indem der K K das V e r s t ä n d n i s dessen, was wir glauben, fördern will, will er zugleich zum Glauben rufen und den Glauben stärken. Das zeigt sich in der Struktur der Katechismusaussagen. Auch da, wo Luthers Erklärungen am ehesten die Struktur der Lehre haben - also besonders im vierten und fünften Hauptstück - , sind sie niemals losgelöst vom seelsorgerlichen Zuspruch, der Glauben wecken und zum Ergreifen des Evangeliums ermuntern will. 68 Was beim Lesen des K K sofort in die Augen springt, ist dies, daß hier nicht doziert, referiert und definiert wird, daß nicht in „objektiver", das persönliche Beteiligtsein ausschaltender Weise geredet wird; vielmehr findet man sich in die Aussagen mit hineingenommen - als Gemahnter, Bekennender, Betender, Eingeladener. Die Aussagen des K K lassen die Haltung des neutralen Zur-Kenntnis-Nehmens einfach nicht zu, sondern gehen einen an und nehmen einen in Anspruch. ββ Unter den Antworten auf die vierzig Fragen der fünf Hauptstücke des K K sind nur sieben, in denen nicht in der 1. Person Sing, oder Plur. gesprochen wird (darunter zwei Schriftzitate). Was die Frage-und-Antwort-Struktur des K K anbetrifft, so ist zunächst zu sagen, daß die Auskunft, es handle sich weder um Bekenntnis-, noch um Belehrungs-, sondern um Verhörfragen, nicht ausreicht. 67 Sicher war es ein Mißverständnis von Achelis, wenn er behauptete, die Fragen würden von den Lernenden gestellt und in den Antworten erhielten sie Belehrung von den im Glauben Gereiften (Achelis Schloß das aus der Erklärung des ersten Artikels ; in einer Kinderantwort wäre nicht von „Weib und Kind", sondern von „Eltern und Geschwistern" geredet worden; diese Antwort sei nur im Munde von Erwachsenen denkbar). 68 Richtig an dieser Beobachtung ist nur, daß die Katechismusaussagen nicht auf den Erfahrungsbereich des Kindes zugeschnitten sind, sondern ihn - wie im übrigen jeden individuellen Erfahrungshorizont 69 - überschreiten. Ähnlich wie Achelis hat K . Bornhäuser behauptet: „Hier fragt einer, der nicht weiß und doch gern wissen möchte...

BS 516, 1; 521, 4. · · K . Hauschildt, a. a. 0., S. 81: „Wissen und persönliches Erfahren und Anerkennen, Leben und Lehre gehören zusammen." « J . Meyer, a.a.O., S. 107. «» Vgl. 0 . Albrecht, a.a.O., S. 542. β Man denke nur an Aussagen wie, daß Gott „mir Augen... gegeben h a t " - wenn das ein Blinder bekennt ! - , daß er mich „vor allem Schaden und Gefahr behütet und bewahret h a t " - wenn das ein durch einen Unglücksfall zu Schaden Gekommener s a g t ! - usw. ω

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und hier antwortet einer, nicht als Dozent, sondern als Bekenner." 70 Und bei Hauschildt heißt es: „Die Fragen des K K dürfen verstanden werden als echte Fragen im Sinne der modernen Pädagogik. Der Heranwachsende fragt, und der Ältere antwortet." 71 Aber bei Luther ist der Tatbestand völlig eindeutig der, daß der Heranwachsende gefragt wird und antworten muß.72 Gleichwohl handelt es sich nicht einfach um „Verhörfragen" in dem Sinne, daß hier auswendig Gelerntes abgefragt und hergesagt wird. Der Katechismusstoff ist ja nicht neutraler Wissensstoff oder weltanschauliche Kurzinformation, sondern verdichtetes Gotteswort, also Anrede, die verstanden und aufgenommen werden und in die existentiellen Lebensvollzüge eingehen möchte. Mit den Fragen, die Luther im K K stellt, hat er sich selber von den Texten des Katechismus her fragen lassen und in den Erklärungen die Antworten des Glaubens gegeben. Und wenn jetzt einem diese Fragen gestellt werden, so ist er nach seinem eigenen Verstehen gefragt, nach dem, was ihm aufgegangen ist vom Worte Gottes, und damit implizit auch nach seiner Entscheidung. Ich möchte freilich nicht - wie Ziegner - die Katechismusfragen ganz auf die Kategorie der Entscheidung abstellen, aber gegenüber dem Verständnis der Katechismusfragen als „Verhörfragen" ist er jedenfalls im Recht, wenn er schreibt: „Nicht wird er (der Mensch) unverbindlich nach seiner Weltanschauung gefragt, sondern nach Gott als seinem Herrn und damit entscheidend nach sich selber als einem vor seinem Gott stehenden Menschen. Von hierher ist es zu verstehen, daß zum Katechismusstoff die Form der Frage mit der Anwort gehört. Es liegt im Wesen dieses Stoffes, der Wort ist, das Antwort erheischt... Man ist zu einer Entscheidung aufgerufen, und zwar beim Gesetz zu der zwischen Erfüllung oder Übertretung, beim Glaubensbekenntnis zwischen einem J a , ich glaube, und einem Nein gegen Gott, beim Gebet zu einem Nachsprechen oder Schweigen, bei der Taufe zu einem gehorsamen Vollzug an sich oder einem Fernbleiben und beim Abendmahl desgleichen. Immer ist eine Frage an den Menschen gerichtet." 73 Die Katechismusfrage hat in der Tat „Anteil... am Dialogcharakter des Wortes Gottes". 7 4 Die Katechismuserklärung will die eigene Antwort nicht abnehmen, sondern will als eigene Antwort übernommen werden und zur eigenen Antwort anleiten. Dabei ist das Verhältnis von ecclesia docens und ecclesia discens kein *> Zit. bei H. Jetter, a.a.O., S. 42.

A.a.O., S. 81. « WA 19, 76, 15ff.; 24ff.; 301, 32, 24; BS 554, lift. 71

" A . a . O . , S. 16 f. « H. Jetter, a.a.O., S. 43.

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statisches; diejenigen, die nach Luthers katechetischen Anweisungen die Katechismusfragen stellen sollen, sind selber Gefragte (z.B. in der Visitation). Fragender ist das Wort Gottes selber. Strukturell kommt das etwa in den Auslegungen der Gebote zum Ausdruck: Auf die Frage, was das „ D u sollst" heiße, wird nicht mit „Ich soll", sondern jeweils mit einem „Wir sollen" geantwortet. Diese inklusive Formulierung bringt nicht nur den Kollektivcharakter des „ D u " zum Ausdruck, sondern schließt Fragenden und Antwortenden als gemeinsam Befragte zusammen. Auch von hierher ist die Bezeichnung „Verhörfrage" ganz und gar unangebracht. Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie Luther die Katechismusfragen formuliert hat. Er fragt ja keineswegs etwa stereotyp, sondern wechselt in der Fragestellung. Am häufigsten ist die Frage, die auf das Verstehen abzielt. 23 von den insgesamt 40 Fragen der fünf Hauptstücke lauten: „Was ist d a s ? " Entfaltet heißt diese Frage: Wie verstehst du das? Was willst du damit sagen? Was heißt das für dich persönlich? Wie stellst du dich dazu?7® - Die beiden letzten Hauptstücke und das Lehrstück von der Beichte setzen mit einer Frage ein, die auf eine Definition abzielt („Was ist die Taufe?... das Sakrament des Altars?... die Beichte?"). - Hier gibt es auch Fragen, die provozierend gestellt sind, indem sie einen gegnerischen Einwand aufnehmen: „Wie kann Wasser solche große Dinge tun?", „Wie kann leiblich Essen und Trinken solche große Dinge t u n ? " Diese beiden Fragen sind ganz offensichtlich aus antischwärmerischer Frontstellung heraus gebildet und greifen in der Luft liegende und den Lernenden u . U . verwirrende Einwände auf. Gerade dies ist in dem sonst so unpolemischen Κ Κ beachtenswert, daß die vom Gegner her gestellte, herausfordernde Frage nicht fehlt. Die Frage-und-Antwort-Struktur des K K will nicht nur didaktischen Erfordernissen Rechnung tragen, sondern ist auch von theologischer Relevanz, insofern sie etwas von dem dialogischen Charakter des Wortes Gottes, das als Anrede ergeht und unsere Antwort will, widerspiegelt. Aber dieser 76 Vgl. etwa WA 30 I, 9, 18: Qualem deum habes? Quid ab eo expectas? 27, 35; Quisque sol auffsagen kunnen, quando quaeritur: Quod est 1. praeceptum? Hoc scilicet: „Non habebis" ect. Deinde, quis sit intellectus huius praecepti, Quid hoc est? significat? 30, 9 : Quid hoc praeceptum velit, das sol man auch wissen. 62, 32: Quis est sensus huius praecepti? 87, Iff.: Was heltestu de p a t r e ? . . . de filio?... de spritu sancto?Quid hoc? quid haec verba sibi volunt? 89, 7: Cum interrogans: was meinstu damit, quando dicis: Credo in Jesum Christum? responde: das meineich damit, q u o d . . . WA 19, 76, 24:Nemlich also sol man sie fragen: Was bettestu? Anwort: ,das vater unser'. Was ists denn, das du sprichst: Vater unser ym hymel?

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Dialogcharakter des Wortes Gottes kann natürlich auch in anderen Aussagestrukturen zur Geltung kommen. So ist denn auch die Frage-undAntwort-Struktur nicht konstitutiv für den Katechismus. Wäre sie das, so hätte Luther seinen G K gar nicht als „Katechismus" bezeichnen können, da er ja die Form gepredigter Lehre hat. Es wird also in einem neuen Katechismus nicht auf der Frage-und-Antwort-Struktur bestanden werden müssen, wenn dem Dialogcharakter des Wortes Gottes anderswie Rechnung getragen werden kann. Vergleicht man den T e x t der Hauptstücke und Luthers E r k l ä r u n g e n hinsichtlich ihrer Aussagestrukturen, so kann man folgende Beobachtungen machen: Beim e r s t e n H a u p t s t ü c k fällt auf, daß Luther die Anredestruktur der einzelnen Gebote („Du sollst") in den Erklärungen nicht aufnimmt, sondern sie paränetisch umstrukturiert: Das „ D u " aus dem Munde des sein Volk anredenden Gottes wird zum „ W i r " im Mund der angeredeten Gemeinde. Das heißt aber: Die Erklärungen der Gebote sind nicht einfach Texterklärungen, sondern im gehorsamen Hören auf Gottes Anrede gegebene Antworten. In dem „Wir sollen" ist Gottes Anspruch als verbindlich bejaht und aufgenommen. Da verantwortliches Hören nicht anders möglich ist, als daß man seine ganze konkrete geschichtliche Existenz mitbringt und also sich selbst als einen, der in einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Ordnung lebt und in ihr seinen Gehorsam zu bewähren hat, ist es unumgänglich notwendig, daß in der gegebenen Antwort etwas sichtbar wird von der jeweiligen sozialen Wirklichkeit. Da andererseits die Antwort nicht die eines einzelnen ist, sondern eines, der in der Gemeinde steht und für sie mitgehört hat und der nun zusammen mit der Gemeinde die Antwort gibt, ist es wiederum unumgehbar, daß diese Antwort verhältnismäßig undifferenziert und unspezialisiert ausfallen muß. Daß als Hintergrund der Gebotserklärungen im K K deutlich patriarchalische und agrarische Sozialstrukturen sichtbar werden 76 und andererseits nur verhältnismäßig allgemeine Weisungen ausgesprochen werden, ist sachentsprechend. 77 Auch ein neuer Katechismus wird als Ort des Gehorsams denLebens76 Nach K. Bornhäuser ist der K K nur verständlich, wenn man sich genau „die Verhältnisse des kursächsischen Bauernstandes, in die hinein Luther mit ebenso großer Konsequenz und Treffsicherheit seine Gabe schenkt", vergegenwärtigt. Bornhäusers Konsequenz kann man eigentlich nur noch als Kuriosität anführen: „Nicht Luthers Katechismus ist zu ändern oder gar zu beseitigen, sondern Verhältnisse sind zu schaffen, für die er wieder p a ß t " (zit. bei H. Jetter, a.a.O., S. 49). 77 Vgl. J . Meyer, a.a.O., S. 513, hält es für einen Vorzug des K K , daß Luther seine „bleibend wertvollen ethischen Grundsätze" zwar auf zeitgeschichtliche Sozialstrukturen anwende, aber so, daß die zeitgeschichtlich bedingten Elemente die Anwendbar-

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räum der von Gott angeredeten Gemeinde sichtbar werden lassen müssen, also die Verhältnisse der technisierten Massengesellschaft, und er wird doch wie sein Vorgänger - ja zufolge der inzwischen geschehenen und sich schnell weiter vollziehenden Differenzierung unserer Welt in noch viel stärkerem Maße als dieser - nur verhältnismäßig allgemeine oder aber eben nur für bestimmte Gruppen geltende paradigmatische Weisungen geben können. Die in den Erklärungen durchgehaltene Zuordnung negativer und positiver Aussagen („daß wir nicht..., sondern" - Ausnahme: Erklärung des sechsten Gebotes) zeigt eine Grenze auf, jenseits deren der Ungehorsam beginnt und innerhalb deren ein weiter Spielraum gelebten Gehorsams eröffnet ist. In der stereotypen Einleitung aller Erklärungen „Wir sollen Gott fürchten und lieben" kommt ein Sachverhalt der lutherischen Rechtfertigungslehre zur Geltung: das ,simul iustus et peccator'. Das „fürchten und lieben" entspricht inhaltlich genau dem Abtöten des alten Adam und dem Auferstehen des neuen Menschen, von dem am Schluß des Hauptstückes von der Taufe die Rede ist.' 8 Das heißt dann aber zugleich, daß die Zehn Gebote Getauften gelten und sie zeitlebens begleiten als Weisungen für ein Leben aus der Taufe. Die Frage, welcher usus legis verständnisbestimmend sei, läßt sich nicht beantworten, weil sie nicht sachgerecht gestellt ist. Nicht zu bestreiten ist, daß Luther die Zehn Gebote als „Sündenspiegel" auffaßt, ihre Funktion also im ostendere peccata gesehen hat (eindeutig im Lehrstück von der Beichte79). Übrigens ist gerade dieses Verständnis der Zehn Gebote traditionell. Es ist aber ebensowenig zu bestreiten, daß Luther in den Zehn Geboten eine Anweisung und Einladung zur vita Christiana gesehen hat, daß er sie also im Sinne der apostolischen Paränese verstanden hat. Außer in bestimmten Aussagen des GK 80 wird dieser paränetische Ton hörbar in Wendungen wie: „in allen Nöten anrufen, beten, loben und keit des Κ Κ in anderen Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnungen nicht sonderlich beeinträchtigen. „Es ist wichtig, einen von Geschlecht zu Geschlecht weiter geltenden Katechismus nicht zu sehr mit zeitgeschichtlich bedingten Stoffen zu belasten. Das würde aber geschehen, wenn moderne Probleme der Sozialethik oder auch der Weltanschauung in den Katechismus selbst einbezogen würden... Es ist nicht ein Mangel, sondern eine Stärke des KK, daß er die aus der besonderen geistigen Lage einer Zeit heraus erwachsenden und zu lösenden Probleme beiseite läßt und sich also über den Wechsel der Generationen erhebt." '» Vgl. 0 . Albrecht, a.a.O., S. 640; G. Hoffmann, a.a.O., S. 67. *> BS 517, 29; 518, 40. M BS 6 3 9 , 1 1 f.; aber auch 589, 43; 590, 5; 592, 34; 598, 6; 616, 1; 633, 7.

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danken"; „gerne hören und lernen"; „gerne tun nach seinen Geboten". Insofern der Getaufte auf einen neuen Weg gestellt ist, der nach Luther in einem progressus verläuft - Abnehmen des peccator-Seins, Zunehmen des iustus-Seins 81 - , begegnet ihm Gottes Gebot als evangelische Mahnung im usus practicus evangelii. Insofern der Getaufte aber auch immer noch Sünder ist, trifft ihn das (inhaltlich) selbe Gebot im usus legalis und deckt ihm seine Sünde auf und droht ihm Gottes Zorn an. „ D a s Gebot als dem Sünder gesagt ist Gesetz in ganzer Schärfe; das Gebot als dem Glauben an Christus gesagt, als Parainese, ist Paraklese, Zuspruch, Evangelium in vollem Maß" (W. Joest). 8 2 Wann das Gebot einen Menschen in der Begegnisweise des Evangeliums trifft, ist nicht vorherbestimmbar und ist auch in der Auslegung der Gebote nicht formulierbar. Die Frage, welcher usus das Verständnis von Luthers Gebotserklärungen bestimme, ist töricht, insofern usus keine Interpretations-, sondern eine Begegnisgröße ist. Das inhaltlich gleiche Gebot begegnet entweder in diesem oder jenem usus. Die Auslegung muß nur so geschehen, daß beide Auftreffweisen der Gebote auf den Getauften als simul iustus et peccator sich ereignen können. Luther hat das in der paradoxen Zusammenstellung von „fürchten und lieben" gewährleistet. Klar ist dabei, daß Luther seine Erklärungen zu den Geboten unter der Voraussetzung des Evangeliums geschrieben hat - die Selbstprädikation Gottes im ersten Gebot ist für ihn reines Evangelium - ; und ebenso klar ist, daß er die Gebote als Weisung an Getaufte verstanden hat. Insofern hat Fror recht, wenn er die neutestamentliche Paränese als den „vorgegebenen Ansatz für die Interpretation des Dekalogs im K K und im gesamten kirchlichen Unterricht" bezeichnet und feststellt: „Die Interpretation des Dekalogs im K K wird erst dann eindeutig und biblisch begründet sein, wenn sie sich an der biblischen Paränese als ihrem ursprünglichen und eigentlichen Kontext orientiert. In ihr ist das ostendere peccata ebenso enthalten wie die Weisung zur Freiheit des neuen Gehorsams." 8 3 Schon die Formulierung, die Luther dem Dekalog im Text der Zehn Gebote des ersten Hauptstückes gibt bzw. bewußt aus der Tradition übernimmt, sind eine Interpretation, nämlich eine Interpretation von dem neuen heilsgeschichtlichen Standort post Christum crucifixum et resurrectum her. Namentlich die Begründung für die Weglassung des Passus im ersten Gebot, der sich auf die heilsgeschichtliche Situation des Alten Bundes bezieht BS 704, 44; 705, 29 ff. - Vgl. W. Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, 1951, S. 68 ff. 82 A.a.O., S. 133. 83 K. Fror, Theologische Grundfragen..., S. 485. 81

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(„der dich aus Ägyptenland... geführt hat"), ist dafür aufschlußreich. 84 H. Girgensohn schreibt mit Recht, man könne die heilsgeschichtliche Ortsveränderung so kennzeichnen, daß man an die Stelle der alttestamentlichen Selbstprädikation Gottes („der dich aus Ägyptenland... geführt hat") Luthers Erklärung des zweiten Artikels setzt: „Ich bin der Herr dein Gott, der dich verlorenen und verdammten Menschen erlöst h a t . . . " 8 6 Wenn man im z w e i t e n H a u p t s t ü c k Luthers Erklärungen mit dem Text des Credo vergleicht, so springt sofort ins Auge, daß hier der pro-meCharakter der im Credo bekannten Taten des Dreieinigen Gottes auf das eindrücklichste zur Geltung gebracht wird. Das durch den Credo-Text nahegelegte Mißverständnis, als handle es sich beim Glauben um die Anerkenntnis einer Reihe göttlicher Taten als wirklich geschehener und geschehender (also um fides histórica), kann hier gar nicht aufkommen: Hier wird nicht nachträglich eine Verbindung zwischen dem glaubenden Subjekt und einer unabhängig von ihm (wenn auch ihm zugut) geschehenen und geschehenden Geschichte göttlichen Handelns hergestellt, sondern der Glaubende bekennt diese Geschichte als ihm widerfahrene und widerfahrende, als Gottes Geschichte mit ihm selber; er tritt nicht sekundär in Beziehung zu dieser Geschichte, sondern findet sich von vornherein in ihr vor. Daß die Geschichte der Taten des Dreieinigen Gottes nicht erst durch meine gläubige Interpretation wird, was sie ist, daß sie vielmehr meinen Glauben allererst begründet, ist ebenso festgehalten wie dies, daß sie von vornherein mich einschloß und daß ich an ihr nur im Glauben Anteil bekommen kann. Das extra me und das pro me sind zusammen da. Es ist in der Tat - wie G. Hoffmann schreibt - „bestechend, wie schlicht und selbstverständlich hier beides zusammen-, nein ineinsgeschaut wird: das, was Christus jetzt an mir tut, und das, was er einmal für mich und alle Welt, lange bevor ich war, getan hat". 8 6 Die Begriffe „subjektiv" und „objektiv" sollte man hier am besten aus dem Spiele lassen. Daß Luther in seinen Erklärungen eine „energische Umbiegung aus dem Objektiven in das Subjektive" vorgenommen habe - wie E. v. Dobschütz behauptet 8 7 - , ist WA 16, 374, 23ff.; 50, 331, 30ff.; 334, Iff. H. Girgensohn, a.a.O., S. 27, 33; vgl. K. Fror, a.a.O., S. 485: „Wo einmal das Schilfmeer stand, da stehen jetzt das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi. Von daher ist das .Gebot' zu verkündigen und zu hören." 88 A.a.O., S. 58; vgl. auch H. Girgensohn, a.a.O., S. 106: „Die großen Taten Gottes in der Vergangenheit werden gleichzeitig als gegenwärtige, an uns geschehende gesehen." 87 Ε. v. Dobschütz, Das Apostolikum in biblisch-thcologischer Beleuchtung, 1932, S. 15. 81

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zumindest mißverständlich. Nur soviel ist richtig: Der Glaubende sieht sich nicht einer Folge von sog. Heilstatsachen gegenüber, zu der er sekundär durch seinen Glauben in Beziehung gesetzt wird, sondern er bekennt, was der Dreieinige Gott im Vollzug dieser Geschichte an ihm getan hat, tut und tun wird. Der Glaubende bekennt sich zu Gott als dem Schöpfer und zu seinem Werk der Schöpfung, indem er sein eigenes Erschaffensein und Erhaltenwerden bekennt; er bekennt sich zu Gott als dem Erlöser und zu seinem Werk der Erlösung, indem er seine eigene Befreiung bekennt; er bekennt sich zu Gott dem Heiligen Geist als dem „Gegenwärtigmacher" 88 und zu seinem Werk der Heilszueignung, indem er die ihm selbst widerfahrene Ermächtigung zum Glauben in der Gemeinschaft der Kirche bekennt. Es ist dabei ebenso festgehalten, daß das Glauben Sache des unvertretbaren und unauswechselbaren einzelnen ist, wie auch, daß dieser einzelne kein Vereinzelter ist, daß das Handeln des Dreieinigen Gottes zwar ihm, dem einzelnen, gilt und daß dieses Handeln zugleich und gleichermaßen die anderen einschließt (erster Artikel : „mich samt allen Kreaturen" ; zweiter Artikel: „und in seinem Reich"; dritter Artikel: „gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden..."; „in welcher Christenheit er mir samt allen Gläubigen..."). G. Hoffmann stellt mit Recht fest, daß im zweiten Hauptstück wohl die Konzentration auf den einzelnen geschehen, aber eine individualistische Verengung der Heilswahrheit vermieden sei.8* D aß in Luthers Erklärung der drei Artikel eine Interpretation des Credo vom Rechtfertigungsglauben her geschieht, wurde schon angedeutet. Besonders beachtlich ist die Geltendmachung des Rechtfertigungsgedankens im ersten Artikel : Die Tatsache, daß die gefallene Schöpfung von Gott nicht fallengelassen oder ihrem Selbstlauf überlassen, sondern in ihrer Qualität als Schöpfung durchgehalten wird, ist bereits Gnade. Die Tatsache meiner Erhaltung als Geschöpf unter und trotz meiner Sünde ist Auswirkung der Rechtfertigungsgnade. Daß meine Sünde meine Geschöpflichkeit nicht aufhebt und die Erhaltung meines biologischen Lebens nicht zu einem animalischen Prozeß degradiert, ist dem Gott zu danken, der in Jesus Christus den Sünder unverdient rechtfertigt. - Daß der zweite Glaubensartikel ebenfalls von der Rechtfertigung her interpretiert ist, zeigt sich einmal darin, daß alles, was im Credo als Jesus Christus widerfahren oder als von ihm getan aufgezählt wird, als meine, des verlorenen und verdammten 88 So in: Du gehörst Gott. Handbuch für den Katechismusunterricht nach M. Luthers K K , I. Teil, 1959, S. 122. 89 A. a. 0., S. 61.

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Menschen, Erlösung bekannt wird, und vor allem darin, daß „das richtende Amt Christi... völlig vom Gedanken der schenkenden Gerechtigkeit überstrahlt wird". 90 Die Erklärung des dritten Glaubensartikels wird insofern von der Rechtfertigung bestimmt, als hier der Glaube, der die in Christus geschehene Rechtfertigung empfängt, als Möglichkeit des sündigen Menschen und also als ergon verneint und als unverdient zuteil gewordenes Geschenk bekannt wird. Nicht nur die Begründung, sondern auch der Empfang der Rechtfertigung schließen jeden Synergismus aus. Der von G. Bohne gegen Luthers Erklärung des dritten Artikels erhobene Einwand, die Aussage „nicht aus eigener Vernunft noch Kraft" müsse notwendig in dem Sinne mißverstanden werden, daß „im Verhältnis zu Gott die Vernunft ein unbrauchbares Instrument", daß also das sacrificium intellectus zu bringen oder aber auf ein übernatürliches Geschehnis zu warten sei, ist unbegründet. Die Erleuchtung durch den Heiligen Geist löscht ja doch den Menschen in seiner geistig-seelischen Struktur nicht aus oder schafft sich in ihm neue psychische Organe, sondern sie widerfährt dem Menschen in seiner vorhandenen psychischen Struktur und also auch seiner Vernunft. Nur daß in einem Bekenntnissatz der reine Widerfahrnischarakter des Glaubens, der Monergismus der Gnade gepriesen und keine Lust verspürt wird, über die Anteiligkeit des Menschen, vor allem seiner Vernunft, am Zustandekommen des Glaubens zu reflektieren.91 M. Stallmann, Der zweite Artikel als katechetisches Problem (in: Die biblische Geschichte im Unterricht. Katechetische Beiträge, 1963), S. 30. 9 1 G. Bohne, „ . . . nicht aus eigener Vernunft noch Kraft . . . " . Pädagogische Randbemerkungen zu Luthers Erklärung des I I I . Artikels (in: Ich glaube eine heilige Kirche. Festschrift f. D.H. Asmussen zum 65. Geburtstag 1963), S. 126. Sätze wie diese: „Es wird dem Menschen, der den Geist noch nicht hat, zugemutet, daß er nach ihm verlangt und (mit seiner Vernunft) etwas tut, um ihn zu gewinnen. Die Vernunft ist also offenbar kein völlig unbrauchbares Instrument. Sie bleibt auch im Sünder noch das Organ, das Gott zu vernehmen vermag" ; „Die Fähigkeit der Vernunft zur Erkenntnis der göttlichen Wahrheit ist aber durch die Sünde nicht restlos zerstört" (S. 126, 129), würden Bellarmin alle Ehre machen. Sie sollen freilich offenbar nichts anderes besagen als dies, daß das erleuchtende Tun des Heiligen Geistes der menschlichen Vernunft widerfährt und also das formale Denkvermögen nicht außer Kraft, sondern in Aktion setzt, wie S. 128 zeigt: „Mit der durch die Sünde getrübten Vernunft vermögen wir die göttliche Wahrheit nicht zu durchschauen. Wenn es aber Gott gefällt, uns zu begegnen und uns seine Wahrheit zu offenbaren, dann erleuchtet er mit eben dieser Wahrheit unsere Vernunft, so daß sie nun zu erkennen vermag, was sie vorher nicht erkennen konnte. Die Erleuchtung der Vernunft muß also nicht vorher da sein. Gott schafft sich im Akt der Offenbarung das Organ der Erkenntnis selbst." Just dies meinte Luther mit der Aussage, daß uns der Heilige Geist durch das Evangelium erleuchtet habe. 90

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Wenn E. Schlink in seiner Analyse der Struktur der theologischen Aussage es als das Kennzeichnende für die Struktur des Bekenntnisses herausstellt, daß die verschiedenen Grundformen der Antwort auf das Evangelium - Gebet, Zeugnis, Doxologie und Lehre - hier „in eigentümlicher Weise zusammenfallen" 9 2 : daß das Bekenntnis Z e u g n i s sei, insofern es die mir zugut geschehenen großen Taten Gottes vor den Mitmenschen ausspricht, auch wenn diese nicht als „ I h r " angeredet werden ; daß es G eb et sei, insofern es Gott dargebracht wird, auch wenn er nicht als „ D u " angeredet wird; daß es L e h r e sei, insofern es teilhat an der Weise, in der ohne direkte Zuspitzung auf den konkreten geschichtlichen Menschen von Gottes Heilstat gesprochen wird, und daß es D o x o l o g i e sei, die Gott und seinen Christus in ihrer der Geschichte überlegenen Herrlichkeit preist - wenn also im Bekenntnis diese vier Grundformen zusammenfallen, so wird man feststellen müssen, daß die Grundform der L e h r e - also das Reden von Gottes Heilstat ohne direkte Zuspitzung auf den konkreten geschichtlichen Menschen - im zweiten Hauptstück des K K nur im Credo-Text selber anzutreffen ist, während sie in Luthers Erklärung der drei Artikel nur randweise erscheint, wie es denn auch nach Schlink „für Luther charakteristisch (ist), daß er in seinen Lehraussagen in allergrößter Nähe zur Struktur des aktuellen Hörens bleibt. Zugespitzt gesagt, er machte sie im Akt des Hörens, im Akt des sakramentalen Empfangens."· 3 Dies gilt auch für Luthers Erklärung zum d r i t t e n H a u p t s t ü c k , die ja nicht - wie in der Schrift „Eine einfältige Weise zu beten" - Anleitung zum Beten, sondern Gebetslehre ist. Während in der genannten Schrift eine überaus hilfreiche Vaterunser-Paraphrase als Anleitung zum eigenen Beten geboten wird - also in der Struktur der Anrede an Gott - , sind die Erklärungen des dritten Hauptstücks Lehre über den Inhalt der einzelnen Vaterunser-Bitten sowie der Anrede und des Schlusses. Aber diese Lehre geschieht nicht in der Form dogmatischer Abhandlung, sondern steht ganz in der Nähe zur Verkündigung; sie ist im Grunde eine Einladung zum Gebet - die Erklärung des „ A m e n " als von Gott gegebene Zusage der Erhörung ist für die Gesamtinterpretation verständnisbestimmend 91 - ; ja es geschieht sogar unmittelbar der Übergang in die Struktur des Bittgebetes („das hilf E . Schlink, Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem (in: Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, 1961), S. 35. 93 E . Schlink, Gesetz und Evangelium als kontroverstheologisches Problem, ebd., S. 149. 9 4 Vgl. J . Meyer, a.a.O., S. 380: „Nicht in der Erklärung der Anrede" - die j a ein jüngerer (wohl 1530/31 geschehener) Einschub ist - , „sondern in der des ,Amen' finden wir die leitenden Gesichtspunkte für den Gebetsunterricht, wie sie die Urgestalt des K K 92

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uns, lieber Vater im Himmel"; „davor behüte uns, himmlischer Vater"). Daß Luther in den Vaterunser-Erklärungen des K K die Form der Lehre gebraucht und den Inhalt der Bitten nicht in formulierten Kurzgebeten entfaltet, hat seinen Grund doch wohl darin, daß er seinerseits den Wortlaut des Vaterunser mit Verständnis gebetet wissen und dazu Erkenntnishilfen geben wollte und daß er andererseits das am Wortlaut des Vaterunser sich orientierende und entzündende freie Gebet nicht reglementieren wollte. Jedenfalls gibt er dem Adressaten seiner Schrift „Eine einfältige Weise zu beten..." als Anweisung dafür, wie seine Paraphrasen verwendet werden sollen, folgende Erläuterungen: „Auch soltu wissen, das ich nicht wil diese wort alle im gebet gesprochen haben..., Sondern ich will das hertz damit gereitzt und Unterricht haben, was es für gedancken im Vater unser fassen sol, solche gedancken aber kan das hertz... wol mit viel andern worten, auch wol mit wenigem oder mehr worten aussprechen. Denn ich selber mich an solche wort und sillaben nicht binde, sondern heute so, morgen sonst die wort spreche, darnach ich warm und lüstig bin, Bleibe doch, so nahe ich imer kan, gleich wol bey den selben gedancken und sinn." 96 War es schon bei den verhältnismäßig umfänglichen Vaterunser-Paraphrasen nötig, die Warnung auszusprechen, sie nicht etwa als bindendes Formular aufzufassen, so wären Kurzgebete im Umfang der VaterunserErklärungen des K K wohl beinahe unvermeidlich als auswendig zu lernende Mustergebete verstanden und verwendet worden. Luther wollte aber mit seiner Erklärung des Vaterunser einmal, daß derjenige, der es betet, wissen soll, was er betet, und zum anderen, daß das freie, sich vom Vaterunser leiten lassende Beten nicht durch vorgeformte Wendungen in seiner Entfaltung gehindert werden und „im Formelhaften... ersticken" sollte.96 Luther lag - wie J . Meyer feststellt - „an einem rechten Gebetsunterricht über die Gegenstände des Gebets... viel mehr als an der Darbietung von Gebetssammlungen, weshalb er selbst nur wenige Gebete für den Gebrauch der Christen formuliert hat". 9 7 Es fällt auf, daß in Luthers Vaterunser-Erklärungen keine direkten vertrat." - S. 382f.: Die im K K gegebene Erklärung des Amen ist „unzweifelhaft Umschreibung der göttlichen Zusage", die wiederum die „Erhörungsgewißheit unseres Glaubens" fordert. Die 1530/31 eingefügte Erklärung der Anrede hat dann den Charakter der im Vaterunser gegebenen Gebetslehre als Einladung zum Beten noch vertieft. S. 389: „Der Beter darf nicht nur sagen: Mein Gebet ist Gott recht, sondern: Ich bin Gott recht, und das hebt seine Gebetsfreudigkeit auf eine höhere Stufe." »6 WA 38, 362, 37ff. ; 366, lOff.; 371, Iff. »« W. Trillhaas, a.a.O., S. 56. »» J . Meyer, a. a. O., S. 375.

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christologischen Aussagen gemacht werden, daß der Name Jesu Christi nirgendwo genannt wird, nicht einmal bei der Erklärung der Anrede, wo es doch nahegelegen hätte darzulegen, inwiefern wir das Recht und die Erlaubnis haben, Gott als unseren Vater anzurufen (wie es Luther anderswo durchaus tut). 98 Hier hilft vielleicht eine Beobachtung Ziegners weiter, der aus der Stellung des Vaterunser als unmittelbar dem Credo folgend schließt, Luther habe das Vaterunser nicht wie der Katechismus Calvins und der Heidelberger Katechismus „als ein Gebet unter vielen Gebeten" verstanden, sondern ganz bewußt „als das Gebet Jesu Christi". 9 · Der Anlaß zu der Jüngerbitte „Herr, lehre uns beten" sei das Versagen der jüdischen und alttestamentlichen Gebete nach der Predigt Jesu gewesen; „das neue Wort, das sie hörten, forderte eine neue Antwort". 100 Jesus habe daraufhin das Vaterunser gesprochen und es als das zu seiner Predigt gehörende und durch sie nötig und möglich gemachte neue Sprechen mit Gott hingestellt. Der Verkündigungsgehalt der Predigt Jesu sei aber Sündenvergebung und Auferstehung. Ist das Vaterunser das diesem Verkündigungsgehalt adäquate Gebet, so ist es folgerichtig, wenn Luther dem im dritten Artikel von der Gemeinde bekannten Glauben an die von Jesus gepredigte Sündenvergebung und Auferstehung das Vaterunser als das von Jesus gelehrte und ermöglichte neue Sprechen mit Gott als unserem Vater im Himmel folgen läßt. Im übrigen werden bei genauerem Zusehen auch direkte christologische Bezüge in Luthers Vaterunser-Erklärung sichtbar. Wenn in der Erklärung zur dritten und sechsten Bitte die Erfüllung dieser Bitten im Schutz vor den Verderbensmächten Teufel, Welt, Fleisch gesehen wird, so ist klar: Wer diese Bitten betet, hat dabei den vor Augen, der uns den Verderbensmächten Sünde, Tod und Teufel im Kampfe entrissen hat (Erklärung zum zweiten Artikel). Überhaupt kehrt der am Schluß der Erklärung zum zweiten Artikel so kräftig zur Geltung gebrachte eschatologische Gesichtspunkt des Lebens unter der Herrschaft Christi in den Vaterunser-Erklärungen wieder : Dem „göttlich leben, hier zeitlich und dort ewiglich" (Aus»e Ζ. B. WA 7, 220, 12 ff. 99 0 . Ziegner, Welche Stellung hat Luther dem Vaterunser im K K gegeben? (in: Domine dirige me in verbo tuo. Festschrift zum 70. Geburtstag von Landesbischof D. M. Mitzenheim, 1961), S. 126ff. 100 So in: Du gehörst Gott. Handbuch für den Katechismusunterricht, 1959, S. 104f. Vgl. auch H. Girgensohn, a.a.O., S. 169, 179: Jesus Christus ist „das Wort des gnädigen Gottes an den verlorenen und verdammten Menschen, der Hintergrund und die rechtfertigende Voraussetzung für alles Beten." „Nicht nur das Gebet, das er selber spricht, sondern auch das, das er lehrt, ist die Verwirklichung der neuen Situation, in die ... seine Jünger gestellt werden und aus der heraus sie beten sollen und dürfen." 74

legung der zweiten Vaterunser-Bitte) entspricht sachlich das „in seinem Reiche unter ihm leben" (Auslegung des zweiten Artikels). Es ist ein Gebet um die endgültige Durchsetzung der Christus-Herrschaft im Kampf gegen die Verderbensmächte und um Bewahrung und Bewährung unter der Herrschaft Christi, wie es ganz deutlich in der Schrift „Eine einfältige Weise zu beten..." ausgesprochen wird: "Lieber Herr Gott Vater, Hie bekere und were, Bekere die, so noch sollen kinder und gelieder deines reichs werden, das sie mit uns und wir mit jnen dir jnn deinem reich jnn rechtem glauben und wahrhafftiger liebe dienen und aus diesem angefangenen reich jnn das ewige reich komen. Wehre aber denen, so jre macht und vermügen nicht wollen abkeren lassen von deines reichs verstörung, das sie vom stuel gestortzt und gedemütigt ablassen müssen." 101 Mag in der Schrift „Eine einfältige Weise zu beten" dieser eschatologische Charakter des Vaterunser stärker zum Ausdruck kommen als in der Vaterunser-Erklärung des KK, so wird man doch dem Urteil Frörs nicht zustimmen können, wonach in Luthers Auslegung im KK der „eschatologisch-apokalyptische Horizont", den die exegetische Forschung inzwischen durchgehend sichtbar gemacht hat, „abgeblendet" sei „zugunsten einer präsentischen Anwendung". Luther „bleibe dabei stehen, daß das Reich Gottes jetzt zu uns komme". 102 Nein - Luther bleibt nicht bei einem präsentischen Reich-Gottes-Begriff stehen. Vielmehr unterscheidet er ja gerade „das Kommen des Reiches überhaupt, um das zu bitten nicht nötig ist, und das Kommen zu uns, um das wir bitten sollen." J . Meyer kommentiert: „Offenbar faßt Luther die zweite Bitte nicht als Bitte um baldige Wiederkunft Christi, sondern als Bitte um Gliedschaft von Menschen im Reiche Gottes. Die Menschen sollen hier in der dafür allein entscheidenden Weltzeit Glieder werden, um es in Ewigkeit bleiben zu können (,hier zeitlich und dort ewiglich')." Der Sache nach komme Luthers Auslegung einer Missionsbitte nahe.108 Die Erklärung zur dritten Bitte stellt ganz eindeutig diese Bitte in den eschatologischen Kampf Gottes gegen die die Gemeinde bedrohenden, seinem Heilswillen entgegenwirkenden Verderbensmächte hinein, ähnlich die Erklärung zur sechsten Bitte, während die Erklärung zur siebenten Bitte die endgültige Erlösung von allen Gestalten des von dem Widersacher in diese Welt gebrachten und sie ruinierenden Übels im Blick hat. 104 101

WA 38, 360, 37ff.; 361, 7ff., 34. K. Fror, a.a.O., S. 486. 103 J. Meyer, a.a.O., S. 400f. 104 W. Trillhaas, a.a.O., S. 55: „In diesem vielgestaltigen Übel ist die Macht des Satans lebendig, der infolgedessen natürlich im Hintergrund dieser Bitte mitgedacht ist." 102

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Wenn man also auch wird zugeben müssen, daß Luthers Erklärungen des Vaterunser im K K nicht die Prägnaz der Erklärungen zu den anderen Hauptstücken erreichen - J . Meyer gibt die Gründe dafür an 105 - , so muß man doch - gerade wenn man den von K . Fror aufgestellten Grundsatz anwendet, Luthers K K im Kontext seiner Theologie im ganzen zu lesen und zu interpretieren - feststellen, daß Luthers Vaterunser-Auslegung im K K den eschatologischen Horizont sichtbar werden läßt, innerhalb dessen sie geschieht, insbesondere wenn man d e n G K , die Katechismuspredigten vom Dezember 1528 und die „Einfältige Form zu beten" zur Interpretation heranzieht. Es wurde schon gesagt, daß das v i e r t e u n d f ü n f t e H a u p t s t ü c k am ehesten die Struktur der Lehre haben, wie sie denn ja auch beide mit einer ausgesprochenen Definitionsfrage einsetzen. Gleichwohl sind Luthers Erklärungen dieser beiden Hauptstücke niemals losgelöst vom seelsorgerlichen Zuspruch, der Glauben wecken und zum Ergreifen des Evangeliums ermutigen will. 106 Sie sind Einladungen zum Sakrament in der Form der Lehre. Immer wieder geschieht der Übergang von der belehrenden Darlegung in die Struktur der bezeugenden Anrede. 107 Wichtig ist, daß den Hauptstücken von der Taufe und vom Sakrament des Altars keine allgemeine Sakramentslehre vorgeschaltet wird als ein die Aussagen in beiden Hauptstücken bestimmendes Interpretationsprinzip. Das wirkt sich so aus, daß trotz des analogen Aufbaus der beiden Hauptstücke und der fast parallelen Frageformulierungen die jeweiligen S t i f t u n g s w o r t e in ihrer spezifischen Eigenart die Aussagen bestimmen. Der Taufdefinition „Die Taufe ist nicht allein schlicht Wasser, sondern sie ist das Wasser, in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Wort verbunden" entspricht also nicht eine analoge Formulierung beim Abendmahl: Das Abendmahl ist nicht allein schlichtes Brot und schlichter Wein, sondern es ist das Brot und der Wein in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Gebot verbunden, was bei einer Subsumierung unter eine allgemeine, das Verhältnis von elementum und res bestimmende Sakramentsdefinition nur folgerichtig wäre. 108 Luther läßt dagegen denStiftungsworten ihr entscheidendes Recht. 109 J . Meyer, a.a.O., S. 68, 390f. BS 516, 1; 520, 38; 521, 4. w BS 516, 32; 520, 1, 26. ios Vgl. dagegen die Auswirkungen des allgemeinen Sakramentsbegriffs im Heidelberger Katechismus, Frage 78 (Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirchen, hrsg. von W. Niesei, 2. Aufl., S. 168, 9). io» Vgl. J . Meyer, a.a.O., S. 431: „Warum hat Luther . . . die Sakramentslehre nicht in ein einziges Lehrstück zusammengefaßt, bei dem er nicht so viele Wiederholungen 106

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Beachtenswert ist, daß in diesen beiden Hauptstücken keine polemischen Töne laut werden. Freilich geschieht die Auslegung deswegen nicht etwa in einen leeren Raum hinein, sondern innerhalb eines ganz bestimmten Fragehorizontes. Die Aussagen sind im Blick auf deutlich erkennbare Fronten hin formuliert und bekommen von daher eindeutige Akzente. Wir sahen schon, daß die in den beiden Sakramenten analog formulierte Frage: „Wie kann Wasser (bzw. leiblich Essen und Trinken) solche große Dinge tun?" den spiritualistischen Einwand „externa res non prodest" aufgreift und abweist. „Luther will die Kinder gegen schwärmerische Angriffe fest machen." 110 Auch die Taufdefinition, die vom Element ausgeht, ist „als höchst prägnante theologische Antithese gegen die Schwärmer zu verstehen". 111 Ebenso enthält die Definition des Abendmahles eine eindeutige Absage an allen Spiritualismus.112 J a , bereits die Tatsache, daß mit einer Wesensbestimmung von Taufe und Abendmahl „als solchen" eingesetzt wird, noch abgesehen vom glaubenden Empfang, daß also deutlich Gültigkeit und Nützlichkeit unterschieden werden, ist eine Entscheidung gegen die Schwärmer, denen zufolge der Glaube für das Sakrament konstitutive Bedeutung hat. Es ist wichtig, darauf zu achten, daß Luther sich in seinen Erklärungen zu Taufe und Abendmahl von den Fragen s e i n e r Zeit entscheidend mitbestimmen läßt, daß er also gerade keine zeitlosen, allgemeingültigen Aussagen macht. Man würde Luthers innerste Intention verfehlen, wenn man die Fronten dogmatisierte, denen er sich gegenübersah und im Blick auf die er seine Erklärungen formulierte. Beim v i e r t e n H a u p t s t ü c k fällt sofort die Nähe der Aussagen über Gabe und Nutzen der Taufe zum zweiten Artikel ins Auge. Was dort als das Werk Christi bekannt wird - „der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels" - , wird im vierten Hauptstück als Wirkung der Taufe nötig gehabt hätte? Entscheidend wird gewesen sein, daß es für jedes Lehrstück einen besonderen Lehrtext gab." S. 432: „Die somit in allen katechetischen Auslegungen festgehaltene Trennung der beiden Sakramente ergibt trotz unvermeidlicher Wiederholungen ein stärkeres Anknüpfen an das Konkrete und Einzelne, als es einer einheitlichen Sakramentslehre möglich gewesen wäre." 110 Ebd., S. 451, 471. 111 E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, 1940, S. 205, Anm. 4. u i Die Worte „unter dem Brot und Wein" gehören zum Vorangehenden und nicht zum Folgenden; also: „ E s ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesu Christi unter dem Brot und Wein, uns Christen zu essen und zu trinken . . . " , und nicht: „ E s ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn J e s u Christi, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken . . . " ; vgl. J . Meyer, a. a. 0 . , S. 464.

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beschrieben: sie „wirket Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und Teufel". Dabei handelt es sich nicht - wie K. Barth befürchtet - um eine Verdoppelung der Subjekte (Christus und die Taufe), sondern darum, daß das Ereignis des Auferstehungstodes Jesu Christi nicht aufgeht in dem, was damals und dort - lokal und temporal fixierbar - Jesus Christus widerfahren ist, sondern daß es als eschatologisches Geschehen eine in die Zeit hinausgreifende Komponente hat, mittels deren es nach mir greift und mich sich einbezieht. Was Karfreitag und Ostern f ü r mich geschehen ist, geschieht in der Taufe an und mit mir. Die Taufe steht nicht selbständig und unabhängig neben dem Christusgeschehen, sondern sie ist - nach einer Formulierung W. Hahns - „der Arm, mit dem jenes Geschehen selbst nach dem Menschen greift und im Vollzug der Handlung durch Ausschaltung alles Trennenden, auch des Raumes und der Zeit, auf paradoxe und verborgene Weise in die Gleichzeitigkeit mit sich selbst versetzt, wobei sich das Geschehen am Menschen ereignet".118 Die Taufe ist der Auferstehungstod Jesu Christi, insofern er kraft seiner eschatologischen Heilsmächtigkeit nach mir greift und mich sich einbezieht und so zu dem rettenden Ereignis meines eigenen Lebens wird. Durch die analogen Formulierungen im zweiten Hauptstück und im zweiten Artikel wird die Taufe - ohne alle schwierigen theologischen Reflexionen - als Funktion des Christusgeschehens und als sein V o l l z u g am Menschen gelehrt und der Sachgehalt der neutestamentlichen Aussagen vom Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus und vom „heilsinstrumentalen Charakter des Taufvollzugs" (P. Brunner)114 zur Geltung gebracht. Ist die Taufe „die Zueignung des neuen Lebens", so ist das neue Leben „die Aneignung der Taufe" (G. Bornkamm),116 und zwar in der Weise, daß unter dem als Gesetz und Evangelium begegnenden Gebot Gottes der peccator immer mehr abstirbt und der iustus immer stärker sich durchsetzt der Partialaspekt des simul und dementsprechend der progressus-Charakter des Christseins kommt hier zum Tragen116 - ; der neue Mensch, „der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe", ist der Christus zu eigen gewordene Mensch, der „in seinem Reich unter ihm leben und ihm dienen (soll) in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit". Auch hier U 3 Zit. bei P. Brunner, Aus der Kraft des Werkes Christi. Zur Lehre von der Hl. Taufe und vom Hl. Abendmahl. Kirchl. -Theol. Hefte, IX, 1950, S. 20; vgl. den ganzen wichtigen Zusammenhang, insbesondere Brunners Untersuchung des /iomo ionia-Begriffs. n * Ebd., S. 36. 116 G. Bornkamm, Die neutestamentliche Lehre von der Taufe, Th. Bl., 18. Jg., 1938. Vgl. W. Joest, a.a.O., S. 65ff.

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stimmen die Formulierungen des vierten Hauptstückes und des zweiten Artikels überein. Wichtig ist, daß im K K der theologische Ort für die Heiligung das Hauptstück von der Taufe ist. Das vierte Hauptstück enthält im Unterschied zu den rein thetischen Aussagen der vorangehenden Hauptstücke außer den zugrunde liegenden Einsetzungs worten (Matth. 28 und Mark. 16) noch weitere biblische Belegstellen (Tit. 3; Rom. 6) zum „Nachweis der Schriftgemäßheit der Lutherschen Tauflehre". U7 Wichtig, daß es im K K auch den Schriftbeweis gibt! Auch beim f ü n f t e n H a u p t s t ü c k ist der Rückbezug auf den zweiten und dritten Artikel unverkennbar. Als Gabe des Abendmahles wird dasselbe genannt, was im vierten Hauptstück als Wirkung der Taufe aufgezählt wurde: Vergebung der Sünde, Leben (bzw. Erlösung vom Tod und Teufel), (ewige) Seligkeit. Daß das, was hier als im S a k r a m e n t g e g e b e n hingestellt wird, dort als v o n der T a u f e g e w i r k t bezeichnet wird, ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Taufe stärker als Kampfhandlung angesehen wird, die uns den Verderbensmächten entreißt (darum ist im Hauptstück von der Taufe von der Erlösung von Tod und Teufel die Rede, wo im Hauptstück vom Abendmahl von der Gabe des Lebens gesprochen wird) und uns an einen neuen Ort stellt, während für das Abendmahl mehr das Moment der Versorgung der an diesen neuen Ort Gestellten mit dem zum Bleiben an diesem Ort Notwendigen charakteristisch ist. Beachtenswert ist in jedem Fall, daß hier keine spezifische Heilsgabe des Abendmahls gelehrt wird; es heißt nicht: „Daß uns im Sakrament Leib und Blut Christi gegeben wird", sondern: „Daß uns im Sakrament Vergebung der Sünde, Leben und Seligkeit durch solche Worte gegeben wird", was - wie gesagt - auch als Gabe und Nutzen der Taufe bezeichnet worden ist. Leib und Blut Christi sind keine selbständige, losgelöst von der Frucht des Opfertodes zu denkendeGabe. Ebenso auffällig ist, daß als Vehikel derGabe das Wort genannt wird; „Daß uns im Sakrament Vergebung der Sünde, Leben und Seligkeit d u r c h s o l c h e W o r t e gegeben wird"; „Und wer denselbigen W o r t e n glaubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten, nämlich ,Vergebung der Sünden'"; „Der ist recht würdig und wohl geschickt, wer den Glauben hat an diese W o r t e : ,Für euch gegeben...'" (nicht: wer die richtige Vorstellung vom modus praesentiae hat!). Es dürfte sich lohnen, diese für die Abendmahlslehre des Κ Κ charakteristische und ja nun doch auffällige Betonung des W o r t e s im Abendmahlsgeschehen noch näher zu untersuchen. Auffällig ist bei den beiden letzten Hauptstücken, daß der ekklesiolou

' J . Meyer, a.a.O., S. 431.

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gische Gesichtspunkt völlig fehlt : Weder ist bei der Taufe davon die Rede, daß hier die Eingliederung in den Leib Christi geschieht und damit auch die Indienstnahme für das Handeln der Glieder des Leibes aneinander und miteinander an der Welt, noch wird beim heiligen Abendmahl davon gesprochen, daß durch das Essen des Leibes Christi die Gemeinde als der Leib Christi konstituiert wird und daß der Leib Christi geschändet und „unwürdig" empfangen wird, wo man sich (u.U. trotz korrektester Abendmahlslehre!) am Leib-Christi-als-Gemeinde durch unbrüderliches, liebloses Verhalten vergeht, 118 daß also der Empfang des Leibes Christi soteriologische und ekklesiologische Bedeutung in einem hat. Luther hat natürlich anderswo sowohl von der ekklesiologischen Bedeutung der Taufe 1 1 ' als auch vom communio-Charakter des Abendmahles 120 einiges zu sagen gewußt. Aber in einer Zeit, in der die Zugehörigkeit zur Kirche nicht als Problem empfunden wurde, war es wohl möglich, den ekklesiologischen Gesichtspunkt hinter dem soteriologischen zurücktreten zu lassen. Heute wäre das ausgeschlossen. Es fehlt in den beiden letzten Hauptstücken ebenso der eschatologische Gesichtspunkt : Daß die Taufe die Anwartschaft auf das künftige Erbe verleihe, daß sie eschatologische Versiegelung ist, kommt eigentlich nur in dem Titus-Zitat zum Anklingen, und daß das Abendmahl Antizipation der Mahlgemeinschaft im Reiche Gottes sei, wird überhaupt nicht gesagt. Es hat darum seine Berechtigung, wenn A. Niebergall und K . Hauschildt hier eine inhaltliche Weiterentwicklung fordern. 121 Was schließlich das L e h r s t ü c k v o n d e r B e i c h t e anbelangt, so dürfte die Stellung, die es in der Ausgabe des K K von 1531 zwischen den Hauptstücken von der Taufe und dem des Sakraments des Altars erhalten hat, folgende Gründe haben: Einmal hat die Beichte als Sündenbekenntnis und als Lossprechung mit der Abtötung des alten Menschen und dem Auferstehen des neuen zu tun, 1 2 2 wovon am Ende des vierten Hauptstückes die U i

Vgl. die ausgezeichnete Meditation von G. B o r n k a m m über 1. Kor. 11,23-32 i n :

Herr, t u e meine Lippen auf. Eine Predigthilfe, hrsg. von G. Eichholz, 2. Bd., 1959 2 , S. 235ff. ω E t w a B S 6 9 1 , 1 2 ; 704, 22. 120 Vor allem in dem Sermon „ V o n dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den B r u d e r s c h a f t e n " , 1519, W A 2, 7 4 2 f f . ; vgl. H . Graß, Die Abendmahlslehre bei L u t h e r und Calvin. Beitr. zur Förderung christl. Theol., 2 . Reihe, 47. Bd., 1940, S. 9 ff. 121

Vgl. H. J e t t e r , a . a . O . , S. 6 9 .

X22 Vgl. W A 3 0 I I I , 570, 7 : „ S o brauchen nu wir der Bejicht als einer Christlichen ubunge. I m ersten stück üben wir uns a m Gesetz, I m andern a m Euangelio, Denn i m

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Rede war; zum anderen sah Luther in der Beichte die unumgänglich notwendige Voraussetzung für die Zulassung zum Abendmahl, 183 wobei wir hier auf die Frage, ob es sachgemäß war, Katechismusbefragung und Sündenbekenntnis miteinander zu verquicken, nicht eingehen können. Strukturell ist an diesem Lehrstück wichtig, daß es ein „Doppelgebilde" (J. Meyer) ist: Einmal ist es katechetisches Lehrstück nach dem Muster der übrigen Hauptstücke (es setzt wie das vierte und fünfte Hauptstück mit einer Definitionsfrage ein); dann aber geht es über in eine „Weise zu beichten", gibt also ein Muster der Beichthandlung in Gestalt einer Art liturgischen Formulars. Das Lehrstück will eine Anleitung zum Beichten geben. „Diese kann geschehen durch Belehrung über den Sinn der Beichte und durch Vorführung ihres Verlaufs ; beides liegt hier verbunden vor." 1 2 4 Dieser Struktur einer liturgischen Anleitung sind wir bisher im K K noch nicht begegnet. Es ist wichtig, daß Luther auch sie verwendet. Schließlich noch ein Wort zu dem sog. A n h a n g des K K . Die Gebetstafeln, die Haustafel und das Traubüchlein finden sich schon in der ersten Buchausgabe vom Mai 1529; einen Monat später fügt Luther das Taufbüchlein hinzu. Erst durch den Anhang wird endgültig deutlich, daß der K K zwar ein Lehr- und Lern-, nicht aber ein Schulbuch sein will. Dieser Anhang zeigt klar, daß es Luther bei seinem K K darum ging, ein Büchlein zu schaffen, mit dem ein Christ leben können soll, ein Handbuch, ein Enchiridion. „Die Stücke des Anhangs sollen eine Anleitung geben zur Gestaltung einer geistlichen Lebensordnung in Haus und Gemeinde." 126 Die Gebetstafeln wollen nicht - wie das dritte Hauptstück - der Gebetslehre, sondern der Gebetsübung dienen. Es geht um eine Hilfe zur Einübung in eine Ordnung des persönlichen und des gemeinsamen Betens in der Familie. Dabei finden sich im Morgen- und Abendsegen deutlich Anklänge an die ersten stück lernen wir das Gesetze recht brauchen (wie S. Paulus redet), nemlieh die sunde erkennen und hassen, I m andern stück üben wir uns am Euangelio, lernen Gottes verheissen und trost recht fassen." 123 WA 30 I I I , 567, 9 : „Weil wir gedencken, Christen zu erzihen . . u n d im Sacrament Christus leib und blut reichen, Wollen und können wir solch Sacrament niemand nicht geben, E r werd denn zuvor verhöret, was er vom Catechismo gelernt, und ob er wolle vori sunden lassen, die er da wider gethan h a t . " S. 67, 21: „Als sol man vor die groben léute verhören und auff sagen lassen, ob sie die stück des Catechismo wissen und ob sie die sunde da widder gethan verstehen und hinfurt mehr lernen und sich bessern wollen, d a sonst nicht zum Sacrament lassen." 124 125

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J . Meyer, a . a . O . , S. 460; H. Jetter, a . a . O . , S. 71. H. J e t t e r , a . a . O . , S. 72.

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Erklärung des ersten Artikels („vor allem Schaden und Gefahr behütet"; „Leib und Seele und alles..."). Nicht ganz uninteressant ist, daß Luther von den Engeln im K K h i e r spricht - nicht in der Form angelologischer Lehraussagen, etwa in der Erklärung zum ersten Artikel, sondern in der Form der an Gott gerichteten Bitte um Bewahrung und Bewachung durch sie. Die Haustafel will konkrete Lebenshilfe bieten. Während die Zehn Gebote das entfalten, was für alle gleichermaßen gilt, richten sich die hier gesammelten biblischen Mahnungen an den Christen an seinem jeweiligen soziologischen Ort (seinem oikos) ; die Haustafel will ihm helfen, das Liebesgebot in den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Beziehungen und beruflichen Verantwortungsbereichen, in denen er sich vorfindet, auszuleben. Das Liebesgebot beinhaltet ja etwas jeweils Verschiedenes entsprechend der Stellung, die einer im sozialen Gesamtgefüge innehat. Nicht soll hier etwa Luthers ordo-Lehre oder eine bestimmte Sozialstruktur - z . B . die patriarchalische - normativ gesetzt werden, sondern dem Christen soll Hilfe gegeben werden, in den bestehenden sozialen Strukturen Gott gehorsam sein zu können.12® Schließlich sollen die liturgischen Schriften, die zwar in erster Linie für die Pfarrer geschrieben sind, Hilfe für die verständnisvolle und verantwortliche Beteiligung am gottesdienstlichen Leben der Gemeinde bieten. 127 Dieser Anhang wurde vernachlässigt und verschwand allmählich aus der Katechismuspraxis. Damit fiel auch die Bezeichnung „Enchiridion". Und nicht nur die Bezeichnung ; sondern aus dem Handbuch für das Leben eines Christenmenschen wurde ein Schulbuch. Hauschildt schreibt mit Recht: „Der ganze Katechismus umfaßte außer den fünf Hauptstücken eine Beichtanweisung, Gebete für die Tageszeiten, Tischgebete und die Haustafel. Sogar das Taufbüchlein und das Traubüchlein werden verbunden mit dem Katechismus. Am Ganzen tritt deutlicher hervor, wie der Katechismus mehr ins Christentum einüben wollte als eine Laiendogmatik darstellen. Systematische Vollständigkeit war nicht gewollt. Aber daß der Katechismus gekürzt wurde, beraubte ihn um wichtige Schwungfedern und zerstörte den Charakter des Enchiridion und Handbuchs." 1 2 8 Gerade das im Anhang des K K aufgegriffene Sachanliegen, Anleitung zu 12« Vgl. hierzu den wichtigen A u f s a t z von H. D. Wendland, Zur sozialethischen Bed e u t u n g der neutestamentlichen H a u s t a f e l n (in: Die Leibhaftigkeit des Wortes. Festschrift für A. Köberle, 1958), S. 3 8 f f . ; ferner H . J e t t e r , a . a . O . , S. 137f. Z. B . B S 535, 12, 18, 2 5 f f . ; 537, 9ff., 4 4 ; 0 . Albrecht, a . a . O . , S. 640. K . Hauschildt, Katechismusversuche (in: Ich glaube eine heilige Kirche, Festschrift für D. H . Asmussen, 1963), S. 134f. 128

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geben zur Einübung des Christen in eine Ordnung des Gebets, konkrete Weisungen zur Bewältigung seines Lebens in seiner sozialen Daseinswirklichkeit und seinem Verantwortungsbereich, Hilfe für sein Leben in und mit der Gemeinde und ihrem Gottesdienst, wird zurückzugewinnen und in einem neuen Katechismus zur Geltung zu bringen sein, der wieder ein Enchiridion, ein Handbuch werden muß, in dem der Christ präzisen Bescheid empfängt über den Inhalt des Glaubens und damit Hilfe zum Umgang mit der Schrift, in dem ihm eine geistliche Lebensordnung angeboten wird und er damit Anleitung empfängt zur Einübung in das Gebet und in das diakonische und liturgische Leben der Gemeinde. Der junge Christ „fragt nach verbindlichen und prägnanten Aussagen über das, was die Kirche heute glaubt und lehrt. Er sehnt sich nach Anleitung zum Leben in der Gemeinde, zum Beten und Dienen." 129 Auf welchem Wege werden wir zu einem solchen neuen Katechismus unserer Kirche kommen? Einmal wird damit Ernst zu machen sein, daß Luthers KK aus P r e d i g t e n über den Katechismusstoff hervorwuchs. Wenn nicht wieder gewagt wird, den Katechismus zu predigen, werden wir wohl schwerlich die Sprache für den neuen Katechismus finden! Sodann werden die in neuerer Zeit unternommenen K a t e c h i s m u s v e r s u c h e (D. Bonhoeffer, H. Asmussen, Rheinischer Katechismus) zu analysieren und miteinander und mit Luthers KK zu vergleichen sein; aus solchem Vergleich werden sich vermutlich Gesichtspunkte struktureller und inhaltlicher Art ergeben, die als leitend zu gelten haben. Dann wird neu „das Wagnis von Katechismusversuchen" 129 einzugehen sein. 129

Ebd., S. 140.

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Unsere Predigt am Sarg* Rudolf Bohren hat in seiner Schrift „Unsere Kasualpraxis - eine missionarische Gelegenheit?" 1 die kirchliche Kasualpraxis einer schneidend scharfen Kritik unterzogen. Er bezeichnet sie „als ein Handicap, das darin hçsteht, daß die Kirche hier etwas tut, bei dem sie je und je aufhört,Kirche zu sein". Die durch die übliche Kasualpraxis jeweils praktizierte Selbstaufhebung der Kirche meint Bohren darin gegeben sehen zu sollen, daß die drei Dimensionen des Kircheseins der Kirche - Kerygma, Koinonia und Diakonia - dabei ständig gleichzeitig in Frage gestellt werden. „Wir bescheinigen fortwährend, und zwar an allen entscheidenden Punkten des Lebens, dem Menschen seine Christlichkeit und Kirchlichkeit und dispensieren ihn damit vom Kerygma, von der Koinonia und von der Diakonia der Kirche... Es ist dann sinnlos, über die Wirkungslosigkeit der Predigt zu jammern, die Gemeinschaftslosigkeit und Anonymität der Gemeinden zu beklagen, den Mangel an diakonischem Einsatz zu bedauern und dabei durch den Vollzug der Amtshandlungen urbi et orbi darzutun, daß im Grunde Predigt nicht vonnöten, Glaube überflüssig, G emeinschaft ein Hobby und Diakonie ein Spleen s e i . . . Wer amtshändlerisch sich bedienen läßt,liegt richtig; denn erwächst christlich auf, heiratet christlich und liegt endlich christlich im G r a b e . . . Die Mechanik der Amtshandlungen produziert fortlaufend Christen, die ohne Christus leben. Die Amtshandlungen bauen und erhalten eine fiktive Kirche." Weil Bohren durch die übliche Kasualpraxis alle drei Wesens- und Lebensmomente der Kirche - Verkündigung, Gemeinschaft und Dienst korrumpiert sieht, ist es nur folgerichtig, daß er sich keine grundlegende Heilung des Schadens durch Besserung an einer Stelle, also auch nicht durch die Bemühung um die rechte Verkündigung bei den Kasualien, verspricht. „Ich glaube nicht, daß die Kasualpraxis vom Kerygma der Kasualrede her gesunden k a n n . . . So lange die Praxis so ist, wie sie ist, so lange können wir so textgemäß reden, wie wir wollen, wir werden grundsätzlich * Erstmals veröffentlicht in: Handreichungen für den kirchlichen Dienst. Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1962. ι ThE I960, H. 83.

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nicht textgemäß verstanden werden... Meint man, die Kasualpraxis sei von der Kasualpredigt her heilbar, so verfällt man einem theologischen Kurz" schluß, der übersieht, daß das Wort nicht von seinem Gesprochenwerden unterschieden werden kann. Es wird dann übersehen, daß die Institution ebenfalls spricht und heute dem Wort widerspricht." Die Kasualpraxis verkündigt heute ein anderes Evangelium als die Kasualrede. „Die Handlung übertönt das W o r t . . . Es ist eine Illusion zu meinen, die Kasualpraxis sei von der Verkündigung bei den Amtshandlungen her heilbar." Die Kasualpraxis ist „die Feindin des Kerygmas". Sie ist Sünde. Bei dieser Sicht der Dinge ist es wiederum nur folgerichtig, wenn Bohren sich außerstande sieht, „Rezepte für Kasualreden" zu geben. Nein: „Dies Geschäft kann und darf nicht länger empfohlen werden; denn es ist notorisch kein sehr sauberes Geschäft." Wenn ich nun trotz dieses Verdikts - zwar keine Rezepte, wòhl aber •-*· Hinweise für die Kasualpredigt zu geben unternehme, so nicht, weil ich Bohrens Analyse für zu pessimistisch hielte oder weil ich seinen Lösungsversuchen einer strukturellen Änderung der Kasualpraxis durch ihre Herauslösung aus den „Fesseln des Amtes" und ihre Verlagerung in den Oikos (die Hauskirche) und ihren Vollzug durch Laien für unrealistisch hielte, sondern weil ich der Meinung bin, daß die in unserer Kirche geübte Kasualpraxis durch ernsthafte Bemühung um eine wirklich evangelische Kasualpredtgi und durch eine Intensivierung der kasuellen Seelsorge - freilich nur durch beides zusammen! - so weit gebessert werden kann, daß sie dem Aufbau der Gemeinde als einer Lebens- und Dienstgemeinschaft jedenfalls nicht mehr hinderlich ist, vielleicht sogar ihn fördern hilft. Was mit der Intensivierung der kasuellen Seelsorge gemeint ist, kann hier nur insoweit zur Sprache kommen, als es im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Thema der Kasualpredigt steht. Hier ist vor allem an das der Amtshandlung vorangehende Gespräch mit den von dem casus z u j nächst Betroffenen zu denken ; da es sich im folgenden um die Predigt bei der Bestattung handeln soll, also an das Gespräch mit den nächsten Angehörigen des Verstorbenen. Daß in diesem Gespräch bereits wesentliche Entscheidungen für die Predigt am Sarge fallen, bedarf keines Wortes. Ich denke dabei an folgendes : a) In dem Gespräch mit den Hinterbliebenen werden falsche Erwartungen an die Verkündigung am Sarg abgefangen : In diesem Gespräch müssen ja notwendigerweise Daten und Fakten aus dem Leben des Verstorbenen erfragt werden. Diese Erfragung wird von den Hinterbliebenen im allgemeinen so gedeutet, daß die von ihnen gemachten Angaben am Sarg dann 85

wieder „vorkommen". Diese falsche Erwartung muß schon hier berichtigt werden, indem der Sinn der Verkündigung am Sarge deutlich gemacht wird. Wenn dies beharrlich in jedem solcher Gespräche geschieht, werden in einer Gemeinde allmählich falsche Vorstellungen abgebaut, einem richtigen Verständnis der kirchlichen Handlung der Weg gebahnt und die Predigt am Sarg von sachfremden Ansprüchen befreit, b) In dem Gespräch mit den Hinterbliebenen wird die Glaubwürdigkeit der Verkündigung am Sarg vorentschieden: In den meisten monographischen Äußerungen zur Kasualpredigt wird darauf hingewiesen, daß die Kasualpredigt eine besondere Nähe zur Seelsorge habe. Wenn dem aber so ist, wie soll dann die in der Kasualpredigt versuchte Seelsorge glaubwürdig sein und ernst genommen werden können, wenn im vorangegangenen Gespräch nichts von der Sorge dee Pastors um die „Seele" derer spürbar war, mit denen er das Gespräch führte? Wenn sich das Gespräch mit den Hinterbliebenen in der Zurkenntnisnahme der Daten und Fakten aus dem Leben des Verstorbenen und in der Regelung von Gestaltungsfragen der Bestattungsfeier erschöpft - und wie viele Gespräche mögen sich darin erschöpfen? - , wenn also die in jedem derartigen Gespräch liegenden Möglichkeiten zur Seelsorge nicht ergriffen worden sind, kann die Kasualpredigt die seelsorgerliche Aufgabe - zumindest an den Hinterbliebenen - nicht mehr erfüllen. Was man im Gespräch nicht zu sagen wagte, kommt dann - im Schutze von Talar und Beffchen - zu spät. (Deswegen sind die Reden der sog. „Turnuspfarrer" im Krematorium, die nach dem Anhören von ein paar Daten - eine Viertelstunde vor Beginn der Feier! - ohne die geringste Möglichkeit zu vorheriger Seelsorge vom Stapel gelassen werden, die übelste Torpedierung der Predigt am Sarg. Hier hilft nur der Streik.) Wo indessen die sonst in jedem derartigen Gespräch liegenden Möglichkeiten zur Seelsorge beherzigt und „geistesgegenwärtig" ergriffen werden (etwa bei befremdlichen Wünschen bezüglich der „Rede" oder der Lieder oder bei Äußerungen der Resignation oder des Aufbegehrens gegen Gott), da wird in einer Gemeinde die Vorstellung „Wer amtshändlerisch sich bedienen läßt, liegt richtig", ziemlich schnell verschwinden, und es wird die Predigt am Sarg - zumindest bei denen, die das Gespräch mit geführt haben, aber höchstwahrscheinlich nicht nur bei diesen ! - Herz und Gewissen erreichen können. Wenn so viele Predigten am Sarge im Deklamieren steckenbleiben, dann deshalb, weil so viele Gespräche im Notieren steckengeblieben sind. Uhlhorn hat recht: „Bei den Kasualreden werden auch die Mängel der Seelsorge offenbar." 2 « G. Uhlhorn, Die Kasualrede, 1896, S. 38.

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c) Durch das recht geführte Gespräch mit den Hinterbliebenen wird die Predigt am Sarg entlastet und befreit : Wenn in dem Gespräch mit den Angehörigen die seelsorgerliche Aufgabe wahrgenommen wurde, so ist die Predigt am Sarge dazu befreit, über die nächsten Angehörigen hinaus auch die anderen sich um den Sarg Versammelnden in den Blick zu nehmen. War das Gespräch mit den Angehörigen wirklich ein seelsorgerlicher Dialog, so kann die Predigt am Sarg mit der persönlichen Anrede an die Hinterbliebenen sparsam umgehen und in den mit ihnen begonnenen Dialog die anderen mit einbeziehen. Daß im Gespräch mit den Hinterbliebenen wichtige Entscheidungen für die Predigt am Sarg fallen, dürfte durch diese Andeutungen klargemacht worden sein. Darüber hinaus ist zu sagen, daß da, wo die im Gespräch mit den Hinterbliebenen liegenden enormen Möglichkeiten zur - dringendst benötigten! - Seelsorge benutzt werden (und hier wäre Mut zu machen auch zur unvollkommenen Seelsorge, die auf alle Fälle besser ist als die unterlassene Seelsorge!), da werden in einer Gemeinde die die Amtshandlungen zur Feindin eines gesunden Gemeindeaufbaus machenden Mißverständnisse allmählich abgetragen und ausgeräumt. Hand in Hand mit der Intensivierung der kasuellen Seelsorge muß die Bemühung um eine wirklich evangelische Kasualpredigt gehen. Daß die Dinge gerade bei der Predigt am Sarg besonders schlimm stehen, wird allgemein gesehen. Die Klagen sind alt. Schon F. Niebergall zitiert: „Wer das teure Predigtamt in seiner tiefsten Erniedrigung sehen will, der muß es an den Gräbern hören"; die Grabreden sind „das Grab der evangelischen Kirche" 3 . Und bei Chr. Palmer findet sich das schlimme Bonmot von der Leichenpredigt, die so leicht eine Predigtleiche werden könne. 4 Die gedruckten Sammlungen bestätigen nur diese traurigen Feststellungen, leider auch die jüngste. 6 Aber damit, daß der Schaden Israels beklagt wird, ist ja niemand geholfen. Es gilt, Anstrengungen zu machen, ihn zu bessern. Zu diesen Anstrengungen gehört auch das Nachdenken darüber, was die Predigt am Sarge soll und kann und wodurch sie gefährdet ist. 3

F. Niebergall, Die Kasualrede, 1917, S. 136. Chr. Palmer, Evangelische Homiletik, 18675, S. 288. 8 Kasualien. Reden für alle Fälle in der Praxis des Pfarrers, hrsg. v. E. Brandes, 3. Bd.: Grabreden, 1953. Der 1963 erschienene Band „Grabreden" (3. Teil) dieser Reihe ist besser. - Erfreuliche Ausnahmen bilden: P. Schempp, Gottes Wort am Sarge. 25 Grabreden, 1951, und die in dem Buch von H. Diem, Warum Textpredigt?, 1939, enthaltenen Grabpredigten. 4

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1. T h e s e : Die Predigt am Sarge ist gerechtfertigt und normiert durch die Tatsache, daß Jesus Christus angesichts von Sarg und Grab nicht verstummte, sondernden Tod angriff und die von ihm beherrschte Situation umwandelte, und daß er den Seinen geboten hat, die Toten ihre Toten begraben zu lassen, selbst aber als die Lebenden das Reich Gottes zu verkündigen, das in ihm Gegenwart ist. Die so befremdlich biblizistisch klingende Bemerkung Bohrens, Jesus habe zwar den Jüngern befohlen, Tote aufzuerwecken, Grabreden würden hingegen nirgends verlangt, ist so sinnlos nicht : sie inkludiert ja die Frage nach Grund und Recht der Predigt am Sarge. Wie kommen wir eigentlich dazu, an den Särgen verstorbener Christen zu predigen? Mit dem bloßen Hinweis auf den kirchlichen usus ist diese Frage ja keineswegs beantwortet. Ganz abgesehen davon, daß solch eine positivistische Begründung theologisch unzureichend wäre, wäre sie auch in sich fragwürdig; denn es ist ja nicht etwa so, daß seit jeher an den Särgen oder Gräbern von Christen gepredigt worden wäre. Zwar hat die christliche Gemeinde von den Anfängen an ihre verstorbenen Glieder bestattet, aber von dabei gehaltenen Predigten hören wir nichts (Act. 8,2!). In der alten und mittelalterlichen Kirche sind Reden im Zusammenhang der gottesdienstlichen Handlungen an und zugunsten von Verstorbenen nur bei besonders hochgestellten Gliedern der Kirche in der Form der antiken laudatio gehalten worden. Erst seit der Reformation finden wir die ersten Ansätze zu dem, was wir heute Kasualreden nennen, und zwar zunächst in der Form der sog. „Vermahnungen", wie sie den ältesten reformatorischen Kirchenordnungen als bindende Muster beigefügt worden sind. Aber bei der Beerdigung finden sich schon früh freie Reden, die sich inhaltlich indessen ganz im Rahmen dieser Vermahnungen halten, also ganz „objektiv" gehalten sind. Das Signal zur Subjektivierung gibt die Lüneburger Kirchenordnung von 1643, in der es heißt, es könne in der Leichenrede, die von Tod und Auferstehung zu handeln habe, „daneben kürtzlich angezeiget werden vom Glauben und Bekenntniß oder gutem Wandel der Verstorbenen, damit andere Leute angereitzet werden, ihrem Christlichen Exempel zu folgen; was aber weltlichen Stoltz, Pracht und Ehrgeitz anlanget, solches soll und kan, so viel möglich (!) omittiret und vorbey gangen werden". Die mit diesem letzten Satz noch deutlich angezogenen Bremsen haben indessen die mit der hier gegebenen Erlaubnis eingeleitete Entwicklung zu jener Art von Begräbnisreden nicht aufzuhalten vermocht, in der der Tote immer mehr in den Mittelpunkt rückt. Wenn man sich zur Rechtfertigung der Predigt am Sarg auf den seit der Reformation nachweisbaren kirchlichen usus berufen will, so ist das zwar

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nicht unmöglich; nur muß man bedenken: 1. dieser usus wurde mehr und mehr zu einem wirklichen abusus ; 2. dieser usus wurde keineswegs überall und immer praktiziert (einige der ältesten reformatorischen Kirchenordnungen kennen nur einen liturgischen Dienst am Grab ; im 18. Jahrhundert nehmen die „stillen" Begräbnisse erschreckend zu: „Hier und dort und fast allenthalben finden Beerdigungen statt, wo weder Prediger, noch sonst einer ein Wort spricht" 8 ); 3. es gibt Stimmen, die wegen des nur schwer zu vermeidenden abusus jedwede Grabrede verwerfen und die Beschränkung auf einen rein liturgischen Akt fordern (u.a. Theodosius Harnack). Wenn also weder eine biblizistische noch eine positivistische Begründung gegeben werden kann, so muß die Frage nach dem inneren Recht der Predigt am Sarg anderswie beantwortet werden. Sollen wir wie Bohren auf 2. Tim. 4,2 hinweisen und sagen, die Predigt am Sarg sei „als ein Wort zur Unzeit" anzusehen? Aber dann müßte man ja sofort gegenfragen: Warum predigen wir dann nicht an allen Särgen? Warum dann nicht auch an den Särgen derer, die sich von der Kirche losgesagt haben? Wäre nicht gerade das „zur Unzeit"? Ich finde nur einen Rechtsgrund für unsere Predigt an den Särgen verstorbener Christen, nämlich die Tatsache, daß Jesus Christus selbst angesichts des Sarges vor dem Stadttor zu Nain und angesichts des Felsengrabes in der Nähe von Bethanien nicht stumm geblieben ist, sondern als das Wort Gottes den Tod angegriffen und sich als stärker erwiesen hat. Warum mögen denn die Evangelisten diese Berichte von Totenauferwekkungen durch Jesus weiter überliefert haben, wo man doch nach dem viel größeren Wunder seiner eigenen Auferweckung ihrer zur Begründung des Glaubens an ihn als den Sieger über den Tod eigentlich nicht mehr bedurfte? Wollen die Evangelisten nicht der nachösterlichen Gemeinde, die nur mühsam mit der Tatsache fertig wurde, vor Särgen und Gräbern ihrer Glieder stehen zu müssen (vgl. l.Thess. 4,13ff.) sagen: So wie damals vor dem Stadttor zu Nain und am Felsengrab bei Bethanien Gottes Wort am Sarg und am Grab den Tod angriff und seine Macht brach, so will das Wort Gottes auch an euren Särgen und Gräbern sich mächtiger erweisen als der Tod? Das Wort Gottes an Sarg und Grab verwandelt die Situation aus einer vom Tode beherrschten in eine dem Tod überlegene. Jesus Christus ist „das Wort Gottes am Sarge" und am Grabe, 7 er ist es aber in seiner Identität als inkarniertes und verkündigtes Wort. Die nachösterliche Gemeinde soll wissen : Wo an Sarg und Grab Gottes Wort präsent ist als ver-

• Cl. Harms, Pastoraltheologie, 1830/1834, S. 119f. H. Schreiner, Die Verkündigung des Wortes Gottes, 1938, S. 390.

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kündigtes, da ist die Situation so wenig hoffnungslos wie damals am Sarg des Jünglings und am Grab des Lazarus. Hier scheint mir das Recht, aber nun doch nicht nur das Recht, sondern auch die Notwendigkeit der Predigt am Sarge begründet zu sein. Für die Beantwortung der Frage, warum dann dieses Wort nicht an allen Särgen verkündigt wird, will mir die Antwort Jesu an den Mann, der zur Nachfolge unter der Bedingung bereit ist, zuvor seinen Vater begraben zu dürfen, beachtenswert erscheinen: „ L a ß die Toten ihre Toten begraben; gehe du aber hin und verkündige das Reich Gottes!" (Luk. 9,60). Das heißt doch : die Verkündigung der basileia als der todüberlegenen Herrschaft Gottes verträgt sich nicht mit der Selbstverschließung unter die Herrschaft des Todes. Da, wo man mit dem Tod allein bleiben will, wo man mit ihm paktiert oder gar kokettiert, da hat die Predigt von dem Reich, in dem es Leben und Seligkeit gibt, nichts zu suchen. Mit dieser Begründung ist zugleich eine inhaltliche Normierung gegeben. 2. T h e s e : Die Predigt am Sarge ist wie jede Predigt Bezeugung Jesu Christi, des an unserer Statt Gerichteten und Verworfenen und uns zugute Auferweckten und zum Gericht und zur Vollendung seiner Gemeinde Wiederkommenden. Die christologische Verkündigung am Sarge ist bedroht durch Verwechslung oder Vermischung mit allgemein-religiösen

Todes- und

Auf-

erstehungsgedanken . Weil das Wort Gottes, Jesus Christus, angesichts von Sarg und Grab nicht verstummt ist, dürfen und sollen wir es wagen, am Sarg und Grab eines Christen den Mund aufzutun. Das Wort Gottes, das in Nain und Bethanien die vom Tod beherrschte Situation wandelte, will an Sarg und Grab durch uns zu Worte kommen. Also nicht wir sollen und dürfen zu Worte kommen wollen; denn wir als wir selbst haben hier schlechterdings nichts zu sagen. Ein moribundus hat anderen moribundi angesichts des Todes von sich aus nichts Wesentliches zu sagen. Auch unsere bestgemeinten, aus herzlichem Mitleid kommenden, auch unsere einfühlsamsten Worte ließen uns mit dem Tod allein. H . Vogel hat von dieser „Unmöglichkeit einer Rede am Sarg" gesagt: „Innerhalb der Humanität... ist jede Rede am Sarg unmöglich. Wofern sie dennoch laut wird... stellt sie einen Selbstbetrug dar und verhilft - einer Narkotikumspritze gleich - zum Selbstbetrug." Und er fährt fort: „Möglich wäre in dieser Situation am Sarge allein eine Botschaft andersher als aus dem menschlichen Selbst, andersher als aus dem Raum des Todes. Die einzige Möglichkeit für das Lautwerden eines Wortes, das wirklich Antwort wäre auf die Frage... des Menschen am Sarge, wäre eine Botschaft, die den Tod zu Tode trifft...Die SO

Botschaft von des Todes Tod ist die Botschaft von Jesus Christus." „Nur als Botschaft von Jesus Christus ist unsere Rede am Sarge Verkündigung, Predigt."8 Das heißt aber: Im Mittelpunkt der Predigt am Sarge steht nicht „der Fall" - also der Tote und seine durch den Tod beendete Lebensgeschichte und die durch dieses Lebensende in seinem Umkreis ausgelösten Betroffenheiten - , sondern Jesus Christus; freilich: Jesus Christus am Sarge dieses Toten und inmitten dieser Menschen, die sich um den Sarg dieses Toten versammelt haben, und also Jesus Christus nicht beziehungslos zu je diesem „Fall", aber eben er. Nicht der Fall spricht, wiewohl es vielsagende Fälle gibt, die aber als solche zugleich immer vieldeutige Fälle sind. Sondern es spricht Jesus Christus, indem er verkündigt wird aufgrund des biblischen Kerygmas. Über das richtige Verhältnis von verbum und casus ist in der einschlägigen Literatur viel Wichtiges und Gutes enthalten ; man gewinnt den Eindruck, daß hier das eigentliche Problem der Kasualrede, insbesondere der Predigt am Sarge, liegt. Nur ist bei den Erörterungen über das Verhältnis von verbum und casus fast durchweg stillschweigend vorausgesetzt, daß über das verbum bei allen Beteiligten völlige Klarheit herrsche. Die Bedrohung der Predigt am Sarge scheint nur vom casus auszugehen, insofern das Kasuelle den Trend hat, selber zum Schwerpunkt zu werden und das Wort zu verdrängen. Die Bedrohung der Predigt am Sarg besteht aber nun eben nicht nur in der Verdrängung des Wortes durch den casus, sondern auch in der Verfälschung der Substanz des Wortes durch das Religiöse. Das ist bei H. Vogel und G. Harbsmeier deutlich ausgesprochen.9 Die Situation an Sarg und Grab ist ja wahrlich keine spezifisch christliche Situation. Alle religiösen Gedanken unseres ererbten Urheidentums über Tod und Weiterleben und Jenseits sind in der Situation am Sarg präsent bis zum heutigen Tage. Die Grundvoraussetzung der am Sarge präsenten Religiosität ist das, was Vogel die „direkte Kontinuität unseres Lebens mit dem ewigen Leben", mit Gottes Leben nennt, ihr Kennzeichen ist die Versöhnung mit dem Tode - der Tod als Durchgang, Übergang, Eingang, Vollendung, Erlöser oder Freund - , ihr Zweck ist, die Schrecken und Anfechtungen des Todes zu mildern und erträglich zu machen. Alles, was Menschen je und je von sich aus im Angesicht des Todes gesagt und ge8 H. Vogel, Gottes Hoffnung am Sarge, 1932, S. 17, 22. Dieses mit der Leidenschaft des Dreißigjährigen geschriebene Buch ist durch nichts, was inzwischen zu diesem Gegenstand geschrieben worden ist, überholt. 9 G. Harbsmeier, Was wir an den Gräbern sagen, 1947. Aus dieser kleinen Schrift ist viel zu lernen.

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stammelt haben, sagen und stammeln mußten, wenn sie selbst mit dem Rätsel und der Abgründigkeit des Todes fertig werden wollten, all diese „Verobjektivierungen unserer Wünsche und Träume" (Harbsmeier), die Realsetzung der von unserer Sehnsucht entworfenen Bilder, die Verewigung und Verjenseitigung des Menschlichen und Hiesigen, all dies ist auch an den Särgen der Christen präsent und bietet sich an. Es wartet geradezu darauf, in die Predigt am Sarg eingehen oder gar, die Predigt am Sarg in sich aufgehen lassen zu dürfen. Aber nicht nur diese ganze Todes-und Jenseitsideologie ist präsent, sondern auch die Empfänglichkeit dafür. Fast in allen monographischen Äußerungen zum Thema ist in einer erstaunlichen Positivität von der besonderen Empfänglichkeit gesprochen, mit der der Prediger bei den Hörern rechnen dürfe. 10 Aber diese Empfänglichkeit dürfte weithin Empfänglichkeit für - Religion sein.11 Jedenfalls lauert am Eingang zur Predigt am Sarg diese ganze Todes- und Jenseitsreligiosität, bereit, sich christlich überhöhen oder auch nur übertünchen zu lassen. Wer den Tod einen „Gruß aus der Ewigkeit" oder einen „Boten Gottes" nennt oder von ihm sagt, daß er die Vollendung des Lebens sei oder der Durchgang oder Übergang ins ewige Leben, wer davon redet, daß das ewige Leben nach dem Tode anfange, daß der Verstorbene jetzt auf die Trauernden herabsehe und daß er einst mit ihnen wieder vereinigt sein werde, wer überhaupt vom Fort- oder Weiterleben spricht oder gar vom „Nachreifen", der hat solche Übertünchung vorgenommen und eine heidnisch-christlich-religiöse Rede gehalten. Auch die Rede vom „Heimgang" ist im heidnischgnostischen Sinne mißverständlich. Jeder Prediger wird hier ganz schwer auf der Hut sein müssen. Wer nicht zum religiösen Redner werden und damit im Dienste des Selbstbetrugs stehen will, der wird wohl immer wieder das Konzept der Predigt, die er am Sarge zu halten gedenkt, kritisch F. Niebergall : „Meist bringt die Familie oder Gemeinde . . . schon eine empfängliche oder erregte Stimmung m i t . . . Darum suche man mit Fleiß die einem entgegenkommende Stimmung zu fassen und auf die Höhe christlichen Empfindens emporzuheben" (a.a.O., S. 22) ; H. Schreiner: „ I n keiner Lebenslage sind die Hörer so offen für die Botschaft der Kirche wie dann, wenn sie am Sarge stehen" (a.a.O., S. 391), wobei freilich die dann folgende Einschränkung mitzuhören ist; H. G. Haack, Die Amtshandlungen in der Evangelischen Kirche, 1952: „Meist kommen die Menschen zu ihnen in ganz besonderer seelischer Bereitschaft" (S. 23); W. Bülck, Prakt. Theologie 1949 2 : „Die Teilnehmer sind schon durch den Anlaß der Feier in gehobene und empfängliche Stimmung versetzt" (S. 93). 1 1 R. Bohren, a.a.O., S. 14: „ S o könnte sich die gepriesene seelische Bereitschaft wohl als Bereitschaft zu religiösen Praktiken und damit als Verstocktheit dem Evangelium gegenüber erweisen." 10

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daraufhin überprüfen müssen, was darin auch ohne Christus, auch von einem, der nicht an Christus glaubt, gesagt werden könnte. Es würde wohl mancher, der meint, eine christliche Grabpredigt entworfen zu haben, erstaunt und vielleicht auch erschüttert sein, wenn er bei diesem selbstkritischen Verfahren entdeckte, wie wenig in dieser Predigt wirklich spezifische Christusverkündigung ist. Daß Worte wie „Heimweh haben", „Heimat im Licht", „himmlische Seligkeit" oder auch „Auferstehung" vorkommen, besagt noch lange nicht, daß hier wirklich Christus verkündigt wird. Aber alles, was nicht Christus-Predigt ist, beläßt die Hörer im Bannkreis des Todes. Was heißt nun aber, Christus am Sarge verkündigen? a) Wir haben ihn zu verkündigen als den, an dem das uns gebührende Todesurteil vollstreckt worden ist, als den für uns Gerichteten. Bei H. Diem wird als erster Inhalt der Predigt am Sarg die Bezeugung des Todes „als der Sünde Sold" und ganz ähnlich in der Lebensordnung der lutherischen Kirchen die Bezeugung des Todes „als Gericht Gottes über die Sünde" genannt. Damit ist zunächst einmal das Negative gesagt, daß wir nicht über unsere Hinfälligkeit, Zerbrechlichkeit, Endlichkeit, Vergänglichkeit, Nichtigkeit zu predigen haben, wozu man durch bestimmte alttestamentliche Texte verführt werden könnte, wenn man sie nicht in das Licht von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi rückt. Das, was wir von uns aus wissen, brauchen wir nicht zu predigen. Was sich jeder selber sagen kann, kann kein Predigtinhalt sein! Nein: wir haben nicht von unserer Sterblichkeit, sondern vom Tod zu reden. Vom Tod, der wahrlich etwas anderes ist als der biologische Vorgang unseres Sterbens. Das Wort vom „Tod als der Sünde Sold" oder als „Gericht Gottes über die Sünde" verführt leider jedenfalls angesichts eines Sarges - zu der Gleichsetzung von Sterben und Tod: Es wäre dann also der „Tod" als das, was sich da ereignet hat und die Beerdigung notwendig macht - also das Sterben - , eine Folge der Sünde, der Sold, den nun jeder einmal zahlen muß, das Gericht, das nun eben über jeden ergeht, weil jeder ein Sünder ist. Aber damit wäre alles mißverstanden, ganz abgesehen davon, daß das keiner am Sarge so direkt zu sagen wagte. Vielmehr ist gemeint, „daß der Sold der Sünde, die Frucht der Sünde, als des Ungehorsams gegen Gott, als des Sich-Gott-Versagens nicht am Ende meines Lebens, sondern mitten in meinem Leben auf dem Fuße folgend Tod ist. Dieser Tod ist nicht identisch mit dem Tod, der die Beerdigung nötig macht. Er kann da sein und ist da, wo das 5 Leben' im biologischen Sinne in höchster Blüte steht". 12 Der Tod, den die Sünde, die Ab12

G. Harbsmeier, a.a.O., S. 20.

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sonderung von Gott, das Sich-Verschließen vor Gott, als Sold auszahlt, „einbringt", ist meine Lebensrealität als Gottesferne, als Trennung von ihm. Daß wir mitten im Leben mit dem Tod umfangen sind (EKG 309), soll doch wohl nicht nur heißen, daß wir in jedem Lebensmoment vom Sterben bedroht sind, sondern daß wir in unserer blühendsten Vitalität im Tode sind - so wie der verlorene Sohn mitten im üppigsten Lebensgenuß tot war (Luk. 15,24). Dieser Tod hat nun allerdings auch etwas mit dem Sterben zu tun, insofern im Sterben herauskommt, was dieses „Leben" immer schon war, nämlich Tod, und insofern dieser Tod im Sterben unwiderruflich wird. Dieser Tod ist die Tödlichkeit, die Substanz des „Todes", der die Beerdigung nötig macht. Aber - und das ist nun eben das Entscheidende - : er muß es nicht sein, so gewiß die Toten selig sind, die in dem Herrn sterben. Sterben müssen wir alle; aber unser Sterben kann ohne des Todes Tödlichkeit sein. Denn den Tod, den die Sünde, die Absonderung von Gott, einbringt, der sich in ihr auszahlt, den man sich in ihrem Dienste „verdient" - diesen Tod hat Jesus Christus auf sich genommen. Sein Leben, weil es nicht an unserer Absonderung von Gott teilhat, ist nicht dem Tode verfallen. Aber indem er unser Leben annimmt, liefert er sein Leben an unseren Tod aus. Als er am Kreuze schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" und verschied, da hatte dieses Sterben die Qualität des ewigen Todes, des Todes, der der Sünde Sold ist, also des Todes, von dem wir unausweichlich umfangen sind. Indem er diesen Tod auf sich nahm, wurde er unseres Todes Tod. Wer an ihn glaubt, wer sich an ihn hält, der ist nicht mehr im Tode, sondern der ist aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen, für den hat der biologische Tod seine Tödlichkeit verloren. Auch der an Jesus Christus Glaubende muß sterben - und das ist schrecklich und grausam genug, so daß sich hier jede Verklärung und Verharmlosung verbietet - , aber dieser Tod ist nicht mehr der tödliche, der ewige, der von Gott endgültig ausschließende Tod. Jesus Christus am Sarge predigen heißt also: des Todes Tödlichkeit und des Todes Tod bezeugen, deutlich machen, daß erst im Tode Jesu herausgekommen ist, wie schrecklich eigentlich der Tod ist - alles, was wir als des Todes Schrecklichkeit wahrnehmen, ist ein Kinderspiel dagegen - , und daß im Tode Jesu zugleich dieses Schreckliche des Todes, nämlich die Endgültigkeit der Trennung von Gott, des Verstoßenseins von ihm, aufgehoben ist für den, der an ihn glaubt. Die Christuspredigt am Sarg versucht also nicht, den Hörern den Tod zu verklären, ihn als gar nicht so schrecklich hinzustellen, sie zeigt im Gegenteil erst seine wirkliche - am Kreuze Jesu zutage getretene - Schrecklichkeit und Abgründigkeit, die vielen noch gar nicht deutlich gewesen sein wird, und ruft, 94

sich im Leben an den zu halten, der an unserer Statt den Tod in seiner Tödlichkeit auf sich genommen und ihm damit den Stachel gezogen hat. Das memento mori am Sarg heißt dann nicht nur, die Hörer mit dem Gedanken an ihren in jedem Augenblick eintreten könnenden Tod vertraut zu machen versuchen, sondern sie auf Jesus Christus weisen, damit sie „in ihm" und also „selig" sterben können. b) Wir haben Jesus Christus zu predigen als den uns zugut Auferweckten. In der Lebensordnung der lutherischen Kirchen wird als zweiter Inhalt der Predigt am Sarg die Verkündigung des Ostersieges Jesu Christi und der Auferstehung der Toten genannt, bei Diem die Bezeugung der Auferstehung des Leibes und des ewigen Lebens. Am Sarg muß einer Farbe bekennen, was er von der Auferstehung Jesu Christi hält. Ist sie nur eine Chiffre für die Bedeutsamkeit des Kreuzes als Heilsereignis, ist Ostern unsere Interpretation von Karfreitag, so ist der Tod Jesu am Kreuz zwar der ewige Tod, aber er ist ihn dann nicht für uns, sondern nur gleich uns gestorben. Dann ist er nicht unseres Todes Tod, sondern wie wir des Todes Fraß. Aber die Auferweckung Jesu ist eben nicht unsere, sondern Gottes Interpretation des Kreuzes, und zwar durch ein extra nos geschehenes Ereignis und nicht nur durch eine intra nos geschehende Tat. Zu Ostern ist nicht nur etwas in den hoffnungslosen Jüngern geschehen, sondern hier ist etwas an dem leblosen Jesus geschehen. Das Geschehen an Jesus ist das Prius des Geschehens in den Jüngern. Seine Auferstehung ist nicht intramental, sondern extra nos geschehen. Weil der Gekreuzigte auferstanden ist, ist sein Kreuzestod Tod für uns, also unseres Todes Tod. Und weil der Gekreuzigte auferstanden ist, ist seine Auferstehung Auferstehung uns zugut und also unsere Auferstehung. Seine Auferstehung ist kein isoliertes, nur ihn betreffendes Geschehen, sondern sie begreift unsere Auferstehung ein, eben weil es die Auferstehung des Gekreuzigten ist. Die Gefährdung der Predigt von Jesus Christus als dem uns zugut Auferweckten kommt - jedenfalls am Sarg - von Seiten einer ausschließlich futurischen Eschatologie. Nicht, daß sie kein Recht habe, aber am Sarg bedroht die rein futurische Eschatologie die Botschaft von der Auferstehung. Denn am Sarg muß diese Botschaft ja doch so verstanden werden: Hier liegt der Tote; er wird einst auferweckt werden und das ewige Leben erlangen. Aber so stand es schon im jüdischen Katechismus (Joh. 11,24). Richtig ist der endeschatologische Satz nur, wenn er begleitet ist von dem Satz aktueller Eschatologie: Wer an Jesus Christus glaubt, d.h. Existenzgemeinschaft mit ihm hat, ist bereits vom Tod zum Leben hindurchgedrungen, der ist der Auferstehung schon teilhaftig (Joh. 11,25; 5,24; 95

Kol. 2,12). An der künftigen Auferstehung hat nur teil, wer bereits in diesem Sinne auferstanden ist. Das ewige Leben fängt nicht erst jenseits des Grabes an, das ewige Leben hat schon jetzt, wer glaubt. Und wer nicht glaubt, wird es auch einst nicht haben. Das ewige Leben als künftiges wird nur haben, wer es als gegenwärtiges bereits hat. Das muß am Sarg gesagt werden. Wo das nicht gesagt wird, sind die endeschatologischen Sätze für die Hörer lebensgefährlich. - Die künftige Auferstehung ist damit keineswegs geleugnet oder auch nur für etwas Zweitrangiges erklärt, sie bringt vielmehr die Unwiderruflichkeit und Unbedrohbarkeit, die Endgültigkeit und Unverlierbarkeit dessen, was wir in der im Glauben an den Auferstandenen uns widerfahrenden Auferstehung empfangen: die definitive Ausschaltung des Todes, das non posse peccare, das non posse mori, und erst damit das magnum gaudium, von dem Anselm in seinem Proslogion so unüberbietbar geredet hat.13 Dabei ist das uns im Glauben, also in der Existenzgemeinschaft mit Christus, zuteil werdende Auferstehungsleben nicht an ein menschliches Substrat - etwa die Seele - gebunden. Die Kontinuität zwischen dem gegenwärtigen und dem künftigen ewigen Leben ist nicht an „etwas" in uns gebunden, sondern ausschließlich in Christus begründet. In der künftigen Auferstehung werden wir das, was wir jetzt extra nos, in Christo sind, bzw. was Christus jetzt stellvertretend für uns ist, in uns selber werden. „Jetzt singen wir dies Liedlin in der Person Christi: dort wollen wir's auch in unser Person singen" (M. Luther).14 c) Wir haben Jesus Christus zu predigen als den zum Gericht und zur Vollendung seiner Gemeinde Wiederkommenden. Dies ist mit Recht als Inhalt der Verkündigung am Sarg in der Lebensordnung der lutherischen Kirchen genannt. Es müssen hier ein paar Andeutungen genügen: Der wiederkommende Christus kommt als der gerichtete und als der richtende Richter: der kommende Richter ist der, der die Strafe des ewigen Todes, die wir verdient haben, an sich hat vollstrecken lassen und der darum die Schuldigen begnadigt, wenn sie die Gnade nicht bewußt ausgeschlagen haben ; und es ist der kommende Richter zugleich der, der jeden nach seinem Tun richten und ihm vergelten wird. Die hier bestehende Spannung ist unauflösbar und darf auch nicht aufgelöst werden.16 - Die Predigt von Christus als dem kommenden Richter ist am Sarg bedroht dadurch, daß der Prediger versucht ist, das Urteil des Jüngsten Gerichtes vorwegzunehmen und billige Proslogion 26 in: A. Stolz, Anselm von Canterbury, 1937, S. 70f. " Zit. bei H. Vogel, a.a.O., S. 57. 16 Vgl. W. Joest, Gesetz und Freiheit, 1951, S. 155ff. M

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Gnade oder Gesetz zu predigen. - Und schließlich ist der wiederkommende Christus als der zu predigen, der seine Gemeinde vollendet. Hier ist gegen alle individualistische Verengung der Predigt am Sarge Front zu machen: Nicht dazu kommt Christus, um dem einzelnen eine private Seligkeit in himmlischen Gefilden zu eröffnen, sondern um seine Gemeinde zu vereinen mit der himmlischen Kreatur zum nie mehr endenden Gottesdienst der Rühmung und Lobpreisung des Dreieinigen Gottes. Nur wo die so gekennzeichnete christologische Predigt am Sarge laut wird, ist der Prediger seinem Auftrag am Sarge treu gewesen. Der christologische Inhalt qualifiziert die Rede am Sarg als Predigt; er wird sie im übrigen auch rein quantitativ bestimmen. 3. T h e s e : Die Predigt am Sarge ist wie jede Predigt in ihrem Was und Wie mitbestimmt von der geistlichen Situation der Hörer, an die sie ergeht, hier also von der seelsorgerlichen Situation von Menschen, die durch den Tod eines Nächsten in irgendeiner Weise in ihrem Glauben oder ihrem Unglauben erschüttert sind oder aber sich durch natürliche Trostgründe oder Abhärtung gegen eine Erschütterung zur Wehr setzen. Die seelsorgerliche Verkündigung am Sarg ist bedroht durch Verwechslung mit Psychologie. Die Christuspredigt ist immer an Menschen in einer bestimmten geistlichen Situation gerichtet. Das gilt von der Predigt überhaupt und darum wie alles, was von der Predigt überhaupt gilt - auch und erst recht von der Predigt am Sarge. Die Christusbotschaft und der Hörer in seiner besonderen Situation verfügen über den Prediger. „Wir haben darauf zu achten, daß wir das Wort nicht preisgeben und den Menschen nicht aus dem Blick verlieren... Beides wird zugleich bewahrt oder verloren."1' Wenn einer am Sarg die Predigt vom „Totensonntag" oder vom 2. Osterfeiertag wiederholte, so hätte er nicht nur seine Aufgabe als /fasuairedner verfehlt, sondern er hätte seine Aufgabe überhaupt verfehlt. Solch ein Aufguß einer Sonntagspredigt wäre nicht nur eine Lieblosigkeit gegenüber den Hörern, sondern sie wäre Untreue gegenüber der Botschaft, die immer Botschaft an bestimmte Hörer in bestimmter Situation ist. Die Situation der Hörer ist in jedem Falle die, daß sie um einen Sarg versammelt und von dem Todesfall in irgendeiner Weise betroffen sind. Daß diese Situation des Versammeitseins um einen Sarg sowohl durch die Verschiedenartigkeit der Todesfälle als auch durch die Weisen des jeweiligen Betroffenseins als auch durch die Art der Aufnahme des Ereignisses, der Versuche, damit fertig zu werden, immer ein anderes Gepräge hat und sich w

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M. Mezger, Die Amtshandlungen der Kirche, 1. Bd., 1957, S. 58.

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zwischen äußersten Extremen bewegt, bedarf keines Wortes. Aber die jeweiligen Situationen sind nicht nur denkbar mannigfaltig, sondern auch denkbar komplex, oft auch sehr undurchsichtig. Soll man unter diesen Umständen nicht lieber von vornherein darauf verzichten, sich ein Bild der durch den casus geschaffenen Situation zu machen, und sich in die reine Sachlichkeit retten? Ich meine nicht; man wird schon versuchen müssen, die Situation der Hörer - vor allem der zunächst Betroffenen - in den Blick zu bekommen. Hierzu bedarf es neben pastoraler Weisheit vor allem der Liebe, die dazu befähigt, „sich hineinzudenken in gerade dieses Leid angesichts gerade dieses zu Ende gegangenen Lebens". 17 Freilich wird man hier auch vor allzu intensiven psychologischen Einfühlungsversuchen zu warnen haben. Wir versuchen ja nicht deshalb die Situation in den Blick zu bekommen, um als Psychotherapeuten zu fungieren und den Hörern ihre Traurigkeit „wegzumachen", sondern um das Wort gezielt sagen zu können, um die Hörer zu erreichen mit dem Evangelium, um es nicht an ihnen vorbei oder über sie hinweg zu sagen. Dabei sollen und dürfen wir wissen, daß das Evangelium nicht nur in die Situationen hinein ergeht, sondern sich auch selbst Situationen schafft. Bei der Bemühung, die Situation in den Blick zu bekommen, in die hinein die Predigt ergehen soll, hat folgendes grundsätzlich zu unterbleiben: Ich habe keine Überlegungen anzustellen über den mutmaßlichen Glaubensstand der um den Sarg Versammelten. Ich weiß nicht, ob man sich nicht von vornherein alle Einfalt des Herzens und allen Mut nimmt, wenn man wie Bohren schon vorher weiß: „Anläßlich von Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung falten stiernackige Teutonen die Hände und spindeldürre Agnostiker beten mit uns", oder wenn man gar wie Niebergall „die Leute" beschreibt, die um den Sarg versammelt sein werden. 18 Man braucht dann eigentlich gar nicht erst anzufangen, sondern kann sich von vornherein geschlagen geben. Man kann hier nur unterstreichen, was M. Mezger sagt: wo man solche Mutmaßungen über den Glaubensstand oder Gleichgültigkeitsgrad anstelle, da trübe sich das Bild der Gemeinde durch Zwangsvorstellungen. „Man glaubt zu wissen, von vornherein, was man gerade nicht wissen soll: daß man ,Gläubige' und ,Ungläubige' vor sich hat, und es ist nur konsequent, daß diese - soll man sagen: sippenmäßige? - Einteilung in Gerechte und Ungerechte einem alle Naivität des Glaubens verdirbt und alle Hoffnung auf Frucht bei den ,Ungläubigen' erstickt...

" A. Schönherr, Die Predigt am Grabe. Thesen. (ZdZ, 7. Jg., 1953, S. 106f.) » R. Bohren, a.a.O., S. 10; F. Niebergall, a.a. 0 . , S. 150f.

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Natürlich kann es einmal so sein, daß wir meinen, bei einer Amtshandlung nur allzu gut zu wissen, mit was für ,Christen' wir es da zu tun haben. Aber gerade dann ist es uns verboten, die Skepsis zum Skopus unserer Verkündigung zu machen oder so zu tun, als sei in solchem Fall ohnedies alles in den Wind geredet... Ob wir am E n d e den Acker doch nicht so gut kennen wie wir meinen? Wir sollen weniger spekulieren und mehr glauben". 1 9 G. Uhlhorn hat den beachtlichen Satz gesagt: B e i m Begräbnis „werden die letzten Konsequenzen d e r . . . Rechtfertigungslehre sichtbar". 2 0 - Man wird nun freilich auch nicht das Gegenteil tun und nach positiven Voraussetzungen für das Wort auf Seiten der Hörer fahnden und auf sie spekulieren dürfen. Kein noch so tiefes Leid, keine noch so schwere Erschütterung, kein noch so hartes Erschrecken verbürgt bei den Hörern etwa schon eine Offenheit und Empfänglichkeit für das Wort. Der casus des Menschen ist als solcher noch nicht der casus Gottes. Auch hier sagt Mezger das Richtige: es ist „ a u s dem, was wir uns gemeinhin unter der seelischen Verfassung des Menschen vorstellen, keine Psychologie oder Theologie der ,kasuellen Anknüpfung' zu konstruieren... Wir richten uns nicht nach dem vermutlichen Frömmigkeits- oder Gleichgültigkeitsgrad der Gemeinde, sondern nach dem Auftrag und der Verheißung unseres Amtes." 1 9 Aber dieses ausgeschlossen, werde ich die seelsorgerliche Situation der um diesen Sarg versammelten Menschen so gut wie nur irgend möglich in den Blick zu bekommen versuchen. In den monographischen Äußerungen zu unserem Thema wird erklärt, daß die Erfassung der Situation entscheidend sei für die Wahl des Textes. 2 1 Nun ist ja in der Tat der Unterschied zwischen der Predigt sonst und der Predigt am Sarge der: dort ist ein Text gegeben, der ergangene Verkündigung ist in eine bestimmte geistliche Situation hinein; ich muß eine analoge geistliche Situation in der heutigen Gemeinde ausmachen, in die hinein ich die Aussage des Textes umspreche. Hier - bei der Predigt am Sarge - ist die geistliche Situation gegeben, für die ich einen A.a.O., S. 67, 56. A.a.O., S. 150. 21 M. Mezger, a.a.O., S. 81: „Die gewissenhafte Erwägung des casus, sofern man in ihn Einblick hat, ist bei der Wahl des Textes unerläßlich." G. Harbsmeier, a.a.O., S. 17: „Der biblische Text will gewählt sein. Dabei ist der vorliegende Fall eines Todes maßgeblich sowie das Vorhandensein von dadurch verursachtem Leid oder Freude (sie). Aber auch von den besonderen Umständen, unter denen der Tod eingetreten ist und unter denen sich die Leidtragenden und die Trauergemeinde befinden." H. Vogel, a.a.O., S. 88: „Eine von den Hörern abstrahierende Indifferenz gegen die Textauswahl für die Verkündigung am Sarge würde den Auftrag, mit dem wir je diesem Hörer verhaftet sind, vergessen." 19

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Text suche. Was heißt das nun aber praktisch, daß ich mich bei der Wahl des Textes von der durch den casus gegebenen Situation bestimmen lassen soll? Auf keinen Fall kann es doch heißen sollen, den Text zu wählen, „um mit seinen Worten den ,Fall' zu deuten", wovor Trillhaas mit Recht warnt. 22 Worauf soll aber dann der zu suchende Text „passen"? Auf die Lebensgeschichte des Verstorbenen? Auf die Umstände des Todes? Auf die sich aus dem Todesfall für die Hinterbliebenen ergebende Lage? Auf ihre augenblickliche innere Verfassung? Ganz abgesehen davon, daß die Bibel keine Spruchsammlung ist und daß man bei solchem Wählen ja schon vor der Exegese wissen muß, was der Text sagt, halte ich von solchem Suchen nach einem „passenden" Text nicht viel. Man wird wohl am besten einen gegebenen Text nehmen, einen, der „da ist", also etwa den Konfirmationsspruch oder den Trauspruch oder die Losung des Sterbe- oder Begräbnistages oder den Wochenspruch. Jedenfalls: wichtiger als die Auswahl ist die Auslegung! Sie soll dann freilich auf den casus hin, in die von ihm bestimmte Situation hinein geschehen. „Ich halte mir in der Meditation und Anwendung des Textes den Fall gegenwärtig, so jedoch, daß nicht der Fall das Wort, sondern das Wort den Fall bewältigt. ,Verkündigt wird der Text und nicht der Casus, aber der Text wird auf den Casus hin verkündigt' (Fendt)." 28 Bei der Auslegung des Textes in die durch den ,Fall' gegebene Situation hinein soll und darf der Prediger dem Text zutrauen, daß er diese Situation bewältigen wird, daß er den gerade jetzt nötigen Trost bereithält, daß also nicht er, der Prediger, zu trösten hat, sondern daß der in seinem Worte gegenwärtige lebendige Christus das tun wird. Es ist immer ein Mißtrauen gegen das Wort, wenn wir meinen, es gebe Fälle, die um ihrer Besonderheit willen dem „bloßen "Wort entzogen seien, für die es nicht ausreiche, so daß wir ihm durch unseren persönlichen Zuspruch, durch Herzenswärme und durch unser Miterleben und Mitgefühl - also durch intensive psychologische Bemühung - zu Hilfe kommen, es unterstützen müßten. „Die naive oder berechnende Ersetzung dessen, was Gott selbst in jedem ,Fall' zu geben verheißen hat, durch menschliche gute Meinung, Stimmungsgehalte, Gemütswerte oder sonstige humane Bemühungen, ist Flucht aus der eigentlichen Situation, Täuschung des Hörers, Selbsttäuschung des Predigers. Man verfehlt nämlich den Menschen, wenn man meint, ihn bei sich selbst sicherer und faßbarer vorzufinden, als dort, wo er ,erkannt' ist und immer 22 23

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W. Trillhaas, Evangelische Predigtlehre, 1954, S. 176. M. Mezger, a.a.O., S. 49, 58.

wieder erkannt wird : vor Gott, von Gott, im Worte Gottes." 23 Die Sentenz H. Vogels trifft genau die Sache: „Menschentrost ist eine barmherzige Lüge und eine gelegene Barmherzigkeit." 24 Das Vertrauen in das Wort wird mich davor bewahren, den Hörer psychologisch manipulieren zu wollen, auch dann, wenn er das vielleicht als besonders herzlich und wohltuend empfindet. Ich darf es um seinetwillen nicht. Denn aller Menschentrost, auch wenn er aus wirklichem Mitleiden kommt, ist Pseudotrost. Namentlich der Trost, der den Sinn des Todes und des Leidens zu deuten unternimmt. „Eine Rede, die vom Sinn des Todes weiß, betrügt." - „Die Rede, die um die Theodicee weiß, betrügt um des Wortes Trost." 2 4 Auf die Unhaltbarkeit solches Trostes hat Schleiermacher in seiner bewegenden Rede am Grabe seines Sohnes Nathanael eindrücklich hingewiesen.26 Der Prediger am Sarg wird sich nicht nur selbst vor solchem falschen Trost hüten, er wird auch in einer barmherzigen Hartnäckigkeit oder einer hartnäckigen Barmherzigkeit die landläufigen falschen Trostgründe abbauen, wie P. Schempp das vorbildlich in seinen Predigten am Sarge getan hat. Die Warnung vor allem Pseudotrost soll nun freilich nicht dahingehend mißverstanden werden, daß bei wirklichem Leid nicht zum Ausdruck kommen dürfte, daß hier einer mit den Weinenden weint (Rom. 12,15), daß hier mit einem leidenden Glied mitgelitten wird (1. Kor. 12,26); aber es muß auch in diesem Falle deutlich bleiben, daß nicht wir als wir selber trösten, sondern daß wir nur trösten können mit dem Trost, mit dem wir getröstet werden von Gott (2. Kor. l,4). 2e Ziel allen Trostes ist, daß die Trauernden aus der Traurigkeit der Welt zu der göttlichen Traurigkeit geführt werden; denn am Sarg ist nie nur Leid, sondern immer auch Schuld da. Seelsorge am Sarg wird nur der üben können, der aus der Solidarität des moribundus mit den moribundi heraus spricht, der also weiß: wie immer es in den Herzen der Hörer aussehen mag - es sind auf alle Fälle und in allen Fällen Menschen, die wie ich ratlos sind vor dem Sterben, die M A.a.O., S. 107, 109. Predigten, Bd. IV., S. 838f. - Über den an Gräbern üblichen Pseudotrost - etwa die Art des Todes als Trostmoment - ist Nützliches bei H. Asmussen, Die Seelsorge, 1937, S. 171ff., zu lesen. 24 Richtig H. Asmussen, a.a.O., S. 178: „Unsere Leichenrede verzichtet also grundsätzlich darauf, selbst den wahren Trost spenden zu können . . . Aber wir dürfen und sollen darauf hinweisen, daß Gott in der Trostlosigkeit des Yerlierens trösten könnte und auch trösten will, wie einen seine Mutter tröstet." 26

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wie ich in Gefahr sind, die ihnen gegebene Lebenszeit nicht als die Zeit des Angebotes der rettenden Gnade zu erkennen, die wie ich unter der Verheißung stehen, daß alle, die an Jesus Christus glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben sollen. Diese letzte Solidarität wird mich davor bewahren, die Hörer in irgendeiner Weise manipulieren zu wollen. Nicht psychologisch, aber nun auch nicht evangelistisch-volksmissionarisch. G. Dehn hat sicher recht: „Macht man die Verkündigung am Sarg zu einer Evangelisationsansprache, so ist man aus der Wirklichkeit, in der die Hörer stehen, herausgetreten und bewegt sich in Allgemeinheiten, auf die niemand innerlich eingestellt ist und die mit Recht Ärgernis erregen, da sie an dieser Stelle einfach unpassend sind. Man läßt den Pfaffen dann eben sein Sprüchlein sagen, weil das nun offenbar zu seinem Handwerk gehört, aber man geht unwillig und geistig völlig unbewegt wieder nach Hause." 27 „Begräbnisse sind nicht Gelegenheit zur Straßenpredigt." 28 Treffend sagt A. Schönherr: „Wenn wir sachlich, ohne Blick auf Nebenzwecke, sagen, was am Sarg zu sagen ist, tun wir auch das missionarisch Richtige." 17 4. T h e s e : Die Predigt am Sarg ergeht angesichts des Toten, dem Gott eine bestimmte Lebenszeit geschenkt hat, in der er das ihm in der Taufe übereignete Heil sich im Glaubensgehorsam aneignen sollte. Inwieweit der Verstorbene das ihm dargebotene Heil ergriffen hat, steht prinzipiell außerhalb der Beurteilungsmöglichkeit des Predigers. Die konkreten Fakten des abgeschlossenen Löbens sind unter dem Gesichtspunkt von Rufen zum Glauben, zum Gehorsam und zur Dankbarkeit zu bedenken. Die größte Bedrohung bei der Konkretisierung der Predigt am Sarg ist die Verleugnung des Artikels von der iustificatio sine propriis operibus, sola fi.de. Die Predigt am Sarge gilt den Lebenden in der besonderen seelsorgerlichen Situation, in der sie sich durch den je besonderen „Fall" befinden. Aber nun ergeht die Predigt ja normalerweise an Menschen, die um einen sichtbar vor ihnen stehenden Sarg versammelt sind, in dem ein verstorbenes Glied der Gemeinde liegt. Wenn der Prediger die Situation nicht verfehlen will, wird er den Sarg nicht übersehen dürfen. Wenn man die gedruckten Grabreden liest, hat man freilich nicht den Eindruck, daß gerade dies die Gefahr sei, auf die die Prediger aufmerksam gemacht werden müßten. Die Gefahr ist bei uns doch wohl nicht die, daß der Tote übersehen wird, sondern daß er derart in den Mittelpunkt rückt, daß die Blicke ganz auf ihn und 27

G. Dehn, Die Amtshandlungen der Kirche, 1950, S. 15. « W. Trillhaas, a.a.O., S. 175.

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seine abgeschlossene Lebensgeschichte gerichtet werden. Wo das geschieht, ist der Predigtauftrag verraten. Aber nun ist doch auch dies zu sagen: Gerade wo am Sarge zentral Jesus Christus gepredigt wird, kann der Tote nicht zu einer quantité négligeable werden. Freilich : wir haben weder eine Biographie, noch ein Charakterbild zu entwerfen, noch eine Deutung der Persönlichkeit zu geben, auch dann nicht, wenn der Verstorbene eine war. Aber wir haben den Jesus Christus zu verkündigen, der mit diesem Entschlafenen seit seiner Taufe eine eigene Geschichte begonnen hat, die darum so unverwechselbar ist, weil es eine Geschichte mit diesem Menschen in seiner ganzen geschöpflichen Einmaligkeit und Einzigartigkeit ist. 29 Jesus Christus hat diesen Bruder oder diese Schwester in der Taufe ergriffen und hat mit ihm seine guten Gedanken gehabt. Sein bzw. ihr Leben sollte in seiner Nachfolge geschehen. Ob Jesus Christus dieses Ziel mit ihm erreicht hat oder ob der Entschlafene sich dem verweigert hat, steht grundsätzlich außerhalb unserer Beurteilungsmöglichkeit. Der letzte Augenblick muß nicht über ein ganzes Menschenleben entscheiden (das wird man sich bei einem Selbstmörder vor Augen zu halten haben), aber der letzte Augenblick, in den keiner außer Gott Einblick hat, kann für ein Menschenleben entscheidend sein (Luk. 23,40-43).30 Fest steht indessen, daß die konkreten Widerfahrnisse in diesem beendeten Leben Anrufe waren, Gelegenheiten, in denen Glauben gelernt, Gehorsam geübt, Dankbarkeit bewiesen werden sollten. Und fest steht auch dies, daß es bei dem Verstorbenen nicht anders gewesen ist, als es bei uns ist: daß es hier viel Versagen gegeben hat, daß die Situationen weithin nicht bestanden worden sind und daß der Entschlafene, könnte er noch einmal reden, im Blick auf sein Leben nichts anderes zu rufen wüßte, wie wir im Blick auf das unsere zu rufen vermöchten: Kyrie eleison! Hier gilt es, inklusiv zu reden - nicht aus Gründen des Taktes oder der Taktik, sondern aus Gründen der Wahrhaftigkeit. Wer nicht weiß, daß er der Gnade ebenso, nein : mehr bedarf als der Verstorbene, sollte sich von einem Sarge wegscheren. „ E s ist geboten, den Unterschied zwischen uns und dem 28 Daß die Geschöpflichkeit des Verstorbenen in der Predigt am Sarge ernst genommen werden müsse, hat A. Schönherr, a.a.O., S. 107, besonders betont: „Mit dem Hinweis auf die Lebensfakten wird er (der Prediger) zugleich dem Gestorbenen als einzelnem und einmaligem Geschöpf Gottes gerecht. Die Beerdigungsansprache nach Schablone macht den Entschlafenen zum Kollektivwesen." 3 0 Vgl. das Gedicht „Gottes Gnade" von Börries von Münchhausen, in dem der beim Reiten tödlich verunglückte Spötter seiner Mutter erscheint und ihr sagt: „Mutter, darum mußt ich j a zu dir gehen . . . Wenn auch der Sturz mich rasend niederschlug/ Indas Geläuf vom niederbrechenden Pferde, - / Für Gottes Gnade war doch Raum genug/ Noch zwischen Bügel und E r d e ! "

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Toten so gering als möglich zu machen und in dem Bild des Dahingegangenen unser eigenes Bild erscheinen zu lassen : Das sind wir !"31 Chr. Palmer möchte an Konkreta aus dem Leben des Verstorbenen nur das erwähnt wissen, „was für christliche Betrachtung irgendeinen Wert haben kann, was sich unter irgendeinen evangelischen Gesichtspunkt stellen läßt". Ich meine schon, daß es durchaus noch seine Gültigkeit hat, was Uhlhorn sagt: „Möglichste Beschränkung in der Herbeiziehung der äußeren Umstände... Von den individuellen Umständen... ist sorgfältig auszuwählen, was wirklich für das Glaubensleben Bedeutung hat, und alles Unwesentliche und Kleinliche bei Seite zu lassen... Man suche nicht mühsam und kleinlich... und meine nicht, etwas zu versäumen, wenn man nur wenig Beziehung auf den Toten nimmt... Wo sich offenbar deutliche Spuren der Gnadenführung Gottes in dem Leben des Verstorbenen finden, da weise man sie nach, aber über den Erfolg dieser Führungen muß das Urteil... behutsam sein. Wo sich wahrhaft christliche Gesinnung gezeigt hat, soll es gewiß nicht verschwiegen werden, aber man stelle es nicht in den Vordergrund. In allem ist stets die Gnade Gottes zu betonen, die... mit dem Menschen Gedanken des Friedens und des ewigen Heils hat." 32 Aber genügt das? Muß die Predigt am Sarge nicht auch die Momente eines Nekrologes aufnehmen, also die Würdigung des Verstorbenen bezüglich dessen, was er den Seinen und seiner Umgebung war, und bezüglich dessen, was seine Lebensleistung ausmacht? Was das erstere anbelangt, so wird hier die größte Zurückhaltung zu üben sein. Der Prediger wird den Angehörigen sagen: Was der Entschlafene euch war, das wißt ihr allein. Ich könnte nur das wiedergeben, was ihr mir gesagt habt. Hier kann und hier soll auch ein Dritter nichts zu sagen versuchen. Unter allen Umständen ist verboten, Erinnerungen an besonders glückliche Stunden heraufzubeschwören. „Die Rede, die das Leid am Sarge entkleidet, ist wollüstig, grausam und herrschsüchtig." „Wehe dem Leid, das einer süßlich triefenden Vertraulichkeit ausgeliefert ist." 38 Im übrigen wird man das Moment des Nekrologischen nicht ganz auszuschalten brauchen. Erstaunlich ist freilich die Nachdrücklichkeit, mit der Dehn für das Recht des Nekrologs in der Predigt am Sarge eintritt: „So wird denn auch der Tote sein relatives Recht bei der ganzen Handlung behaupten dürfen. Es bleibt reine Theorie, wenn man sagt, daß der Beerdigungsakt es nur mit den Angehörigen zu S1

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G. Harbsmeier, a.a.O., S. 20. G. Uhlhorn, a.a.O., S. 147, 164. H. Vogel, a.a.O., S. 108.

tun habe, denen das Evangelium verkündigt werden müsse. Der Verstorbene ist auch noch da und meldet seine Ansprüche an. Es ist nur die Frage: Wer dominiert, der Tote oder das Evangelium?" „Die Kirche gibt dem Toten, was des Toten ist... Jede Leichenfeier ist eine Ehrung des Verstorbenen, und das gilt auch für das kirchliche Begräbnis... Indem man... von einem Verstorbenen in einem feierlichen Akt Abschied nimmt, erfährt auch das bescheidenste Leben eine gewisse Stilisierung und Erhöhung. Es wird in Bewertung und Beurteilung auf seinen letzten, vollgültigen Ausdruck gebracht. Ist es ein unbilliges Verlangen, wenn die Angehörigen wünschen, daß das geschähe? Pflegt die Kirche das nicht selber... zu tun, wenn da ein Pfarrer oder gar ein ,Großer im Reich Gottes' beerdigt wird? So sollen denn nun auch Hinz und Kunz bei ihrer Bestattung zu ihrem Recht kommen... Der Nekrolog bei der Bestattung ist gewiß eine crux, aber eine, die überwunden werden kann." 84 Darin hat Dehn freilich recht: daß der Raum, den man dem Nekrolog in der Predigt am Sarge läßt, bei einem „Kirchenmann" nicht größer sein darf als bei einem anderen Gemeindeglied. Gerade wenn man mit dem Gedanken Ernst macht, daß der Christ seinen Gottesdienst im profanen Leben tut, kann das, was einer im kirchlichen Leben tut, keine höhere Bewertung erfahren. Und auch darin ist Dehn recht zu geben, daß die eigentliche Gefahr der Predigt am Sarg nicht im Nekrolog als solchem liegt, sondern darin, daß die erwähnten Lebensleistungen des Verstorbenen zum Rechtsgrund werden, ihm die Seligkeit zuzusprechen. Man kann in der Tat einen Menschen, der sein Leben hinter sich hat, in aller Sachlichkeit am Sarge würdigen; aber nun weiß man ja als evangelischer Prediger, daß ohne Glauben einer verlorengeht. Und der Glaube kommt nun eben einmal aus der Predigt. Und der Verstorbene hat sich beharrlich diesem Wort der Predigt entzogen. Wer mag die Randmöglichkeit des Verlorengehens am Sarge ins Auge fassen? Also sucht man nach einem Rechtsgrund, nun doch die andere Möglichkeit - die Seligkeit - für den Verstorbenen anzunehmen, und findet ihn entweder in ein paar frommen Äußerungen, die einem von den Angehörigen aus seinen letzten Tagen mitgeteilt werden und aus denen man durch - einem meist durchaus bewußte - Überinterpretation auf vorhanden gewesenen Glauben schließt, oder - noch häufiger - man findet den Rechtsgrund in den Werken, in der Lebensleistung des Verstorbenen. Dehn übertreibt sicher nicht, wenn er sagt, daß nirgendwo in der evangelischen Kirche die Rechtfertigung durch den Glauben stärker verleugnet wird als am Grabe. 84 Und zwar « A.a.O., S. 99, 101.

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ist dies nicht nur bei den Unkirchlichen der Fall. Wenn bei gedruckten Grabpredigten als Kennwort „kirchlicher Mann", „fromme Frau" oder gar „Pfarrer" erscheint, kann man sich von vornherein auf allerlei gefaßt machen. Meist ist es nicht die iustificatio impii, sondern die iustificatio pii, die hier gepredigt wird, im Vergessen dessen, daß auch die aus dem Glauben kommenden, vom Heiligen Geist gewirkten Werke zur Rechtfertigung nichts beitragen. - Im ganzen wird man zur Frage des Nekrologs doch wohl sagen müssen, daß er in der Predigt am Sarge nur einen sehr geringen Raum zu beanspruchen hat. Die Frage, ob in der Predigt am Sarg der Nekrolog nicht eine gewisse sachliche Abgrenzung erfahren solle, wird von W . Trillhaas und L. Fendt bejaht, 3 5 bei M. Mezger wird sogar die Trennung vorgeschlagen.*® Die meisten sprechen sich indessen für das Ineinander von Biographischem und Kerygmatischem aus. 37 Ich halte die Trillhaassche Lösung einer gewissen sachlichen Unterscheidung - also nicht einer Trennung, aber auch nicht eines (nur selten gelingenden!) Ineinander - für richtig. 5. T h e s e : Die Predigt am Sarge ergeht normalerweise im Zusammenhang einer liturgisch geordneten gottesdienstlichen Feier. Die Predigt bildet dabei das Hauptstück der Feier·, ohne sie bliebe die Handlung - die Einsenkung des Sarges und der Erdwurf - undeutlich. Die Predigt bewahrt das liturgische Formular davor, zur Formel zu werden ; das Formular warnt die Predigt davor, ins Lyrische, Rhetorische, Pathetische oder Geschmacklose abzugleiten. F. Niebergall und vor allem H. G. Haack betonen, daß die Kasualrede W. Trillhaas, a.a.O., S. 185: „Nun gilt es immer als ganz besondere Feinheit und Kunst, den Lebenslauf mit der Predigt zu ,verweben'. Die andere Art, Predigt und Lebenslauf auseinanderzuhalten, wird kaum mehr ernst genommen. Und doch sehe ich keinen anderen Ausweg zum Richtigen als in der Richtung auf sachliche Unterscheidung." - L. Fendt, Homiletik, 1949, gibt zwei Schemata der Trauerpredigt: Α. I. Der Todesfall (casus) wird angeführt ; II. Der Text wird ausgelegt ; III. Der Text wird auf den Toten und die Hinterbliebenen angewandt; IV. Die Biographie, der Nekrolog; V. Hinweis auf das Leben der Trauernden nach dem Begräbnis im Sinne des Textes. - Β. I. Die Biographie, der Nekrolog ; II. Der Text wird ausgelegt und auf die Leute des casus . . . angewandt; III. Hinweis auf die Praxis des Lebens nach der Trauerfeier im Sinn des Textes. 31 A.a.O., S. 75: „Biographisches ... kommt für sich zu Wort, vor oder nach der Bestattungshandlung." 37 Z. B. G. Dehn, a. a. 0., S. 98f. : „Es laufen doch nicht zwei Aktionen nebeneinander: da ist jemand gestorben, und wir hören noch einmal von ihm und seinen Taten, und dann hören wir auch noch eine Predigt vom Tod und von der Auferstehung. Vielmehr, weil jemand gestorben ist, hören wir diese Predigt. Es geht um ein Ineinander der Dinge, nicht um ein Nebeneinander." 35

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lediglich die Handlung vorzubereiten habe. Die Kasualrede dürfe „nicht die Handlung selbst zum sekundären Bruchteil des ganzen Verlaufs der Amtshandlung machen, sondern sie soll die Handlung vorbereiten und ihr dienen". „So ist also der Höhepunkt der Bestattungsfeier das segnende Gotteswort über das Grab, das begleitende Symbol ist der Erdnachwurf mit dem nachfolgenden Kreuzeszeichen. Die Leichenrede darf sich nicht zum alleinigen Mittelpunkt der ganzen Handlung machen." 3 8 In dieser Zuordnung von Handlung und Predigt scheint mir eine fatale Konsequenz der Subsumierung so verschiedener Dinge wie der Taufe und der Beerdigung unter den Begriff „Amtshandlung" sichtbar zu werden. Die Handlung bei der Taufe hat eine andere Dignität als die Handlung am Grabe. Dort wird in der Tat in der Predigt verkündigt, was in der Handlung geschieht. Aber bei der Beerdigung kann man das ja nun doch wahrlich nicht gut sagen. Darum spielt die Predigt am Sarg eine andere Rolle. Wenn G. Dehn sagt, die Leichenpredigt sei „bei der Bestattung schlechterdings das Zentrum evangelischen Handelns überhaupt", 3 9 so ist dem einfach zuzustimmen. Die Predigt steht freilich im Zusammenhang einer liturgischen Ordnung, der nicht ignoriert werden darf. Dabei ist die Predigt nicht nur Variation des Formulars, sie ist nicht nur - wie die Liturgie - nac/igesprochenes, sondern neugesprochenes Gotteswort. Sie ist dafür verantwortlich, daß das Formular nicht zur Formel wird. - Andererseits ist durch das Eingebundensein in eine liturgische Ordnung die Predigt gewarnt, ins Lyrische, Rhetorische, Pathetische oder auch ins Geschmacklose abzugleiten. 40 Die Liturgie ist eine wesentliche Hilfe für die Wahrhaftigkeit der Sprache. „Gespreizte oder überhöhte Diktion ist Selbstzweck und nimmt der Sprache ihre Willigkeit und Biegsamkeit, Werkzeug der Offenbarung zu werden. Das Richtige, das Lautere wird nicht weit vom Schlichten zu suchen sein." 4 1 „Geistreiche Formulierungen, kultivierter Stil, insbesondere ,poetische' Ausmalungen, tiefsinnige Rätselworte und psychologische Analysen sind hier H. G. Haack, Die Amtshandlungen in der Evangelischen Kirche, 1952, S. 160. G. Dehn, a.a.O., S. 93f. 4 0 Ebd., S. 18: „Endlich mag noch gesagt werden, daß der Casualprediger sich hüten möge, zur Liturgie der Handlung in Widerspruch zu geraten. Sie bringt das spezifisch Kirchliche, das Objektive und allgemein Gültige zum Ausdruck. So steht sie als Wächterin über dem Prediger. Möge er diese Korrektur sich willig gefallen lassen . . . Man kann . . . nicht gut in einer Leichenrede den Tod als Vollender des Lebens preisen, als Durchgangstor zu neuen Erfüllungen des Daseins, und dann, wie es die Agende vorschreibt, in das Grab hineinrufen: Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden." 4 1 M. Mezger, a. a. 0., S. 80. 3β 39

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geeignet, den Verkündigungscharakter schon rein sprachlich völlig zu verschütten." 42 Die Liturgie ist auch eine Wächterin über dem Takt und dem Ton der Rede. Sie verbietet das Herumwühlen im Schmerz, sie verbietet alle plumpe Vertraulichkeit („euer lieber Opa..."). Sie verträgt sich nicht mit lautem Pathos und gewaltiger Stimmstärke. „Leid leidet unter Pathos" (H. Vogel). Und sie verträgt sich ebensowenig mit einem wehleidigen Leichenbitterton. Die Liturgie fordert Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit der Rede. - So halten sich Liturgie und Predigt wechselseitig gesund. Bedarf es nach all dem Gesagten noch eines besonderen Wortes darüber, daß die Predigt am Sarg sorgfältig vorbereitet sein will und muß? Sie ist Predigt wie jede andere Predigt auch. Wer sich erst auf dem Weg zum Friedhof oder auf der Fahrt zum Krematorium überlegt, was er sagen will, gehörte vom Sarg weggejagt. Der Rat, den Mezger gibt, trifft das Richtige: „Wer in großem Druck ist mit der Kasualpredigt, soll sich mindestens den Aufriß abverlangen. Und was auf jeden Fall... feststehen muß, ist der Schluß... Handelt es sich um einen auch nur irgendwie schwierigen Fall einer Amtshandlung, so hat hinter der Vorbereitung dieser Predigt alles andere zurückzustehen." 43 Vor dem Begräbnisjargon und der Monotonie wird man nur bewahrt, wenn man immer neue Texte nimmt und sorgfältig abhört. Man sollte sich vornehmen, in einem Jahr nicht zweimal über denselben Text bei Beerdigungen zu predigen. Jeder Text stellt den Prediger neu in Frage und beschenkt ihn neu. « H. Vogel, a.a.O., S. 97. 4 3 A.a.O., S. 78. Vgl. auch die wichtigen Thesen bei A. Schönherr „Von der rechten Vorbereitung des Predigers", a.a.O., S. 107.

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Das Missionarische als Strukturprinzip* Landesbischof D. Gottfried Noth zum 60. Geburtstag am 26. Januar 1965

I Die Erkenntnis, daß Mission nicht eine beliebige, ins Ermessen der Kirche gestellte Aktion ist, die die Kirche unternehmen oder auch unterlassen könnte, gewinnt unter uns zweifellos an Boden. Mission - so beginnt man wieder zu wissen - ist nicht sekundär zur Kirche, sondern gehört zu ihrem Wesen 1 . Die Kirche ist nicht erst einmal Kirche, und dann treibt sie aus irgendwelchen Motiven heraus zusätzlich auch noch Mission, sondern sie ist notwendig missionierende Kirche, ohne indessen einfach in der missionarischen Bewegung aufzugehen und sich als Mission definieren zu lassen. 2 Sie ist Kirche nur als missionarische Kirche, weil sie die Kirche dessen ist, den Gott gesandt hat zum Heiland der Welt, und weil sie von ihm in diese Sendungsbewegung hineingenommen worden ist (Joh. 2 0 , 2 1 ; 17,18). In der Teilhabe an der „missio Dei", 3 an der großen Liebesbewegung Gottes * Veröffentlicht in: Verantwortung. Untersuchungen über Fragen aus Theologie und Geschichte, Evangelische Verlagsanstalt 1964. 1 „Die Kirche, die diesem Befehl nicht gehorcht, versagt nicht nur in einer ihrer Funktionen, sondern verleugnet ihr Wesen" (in : Christus - die Hoffnung der Welt. Ein Bericht über die 2. Weltkirchenkonferenz, Evanston 1954, hrsg. v. H. Grüber und G. Brennecke, 1955, S. 75). „Die Kirche hat sich ... nicht zu entscheiden, ob sie Mission treiben will, sondern sie kann sich nur rufen lassen, Kirche zu sein, d. h. sich senden zu lassen." (Die missionierende Kirche. 22 Thesen der Generalsynode der Vereinigten Lutherischen Kirche vom 6.7.1958 in Spandau; in: Missionierende Gemeinde, H. 1, 1961, S. 58.) 2 Die Gefahr einer restlosen Funktionalisierung der Kirche, das Verständnis ihres Seins als missionarische Aktion, ist in der holländischen Apostolatstheologie J . C. Hoekendijks gegeben, etwa in Aussagen wie diesen: „Die Kirche ist eine Funktion von Mission/Apostolat" („Bemerkungen zur Bedeutung von missionarisch", in: Concept. Arbeiten aus dem Referat für Fragen der Verkündigung. Special Issue 5. Sept. 1963, S. 16). „Nur im Akt der Anzeige des Reiches an die Welt ereignet sich die Kirche." „Eine Kirche, die weiß, daß sie eine Funktion des Apostolates ist treibt' keine Mission, sondern sie wird selber zur Mission." „Let the Church be the Mission" (zit. bei H. J . Marguli, Theologie der missionarischen Verkündigung, 1959, S. 136, 140). 3 W. Freytag, Sendung und Verheißung (in: Reden und Aufsätze, T. II, 1961, S. 218) : „Gottes Werk in der Welt geschieht durch Sendung und kann beschrieben werden als 109

zur Rettung der von ihm abgefallenen, in der Entfremdung von ihm und damit in der Selbstentfremdung lebenden Menschheit, in sein Heil hinein, in die Teilhabe also an dem Geschehen, das in der Sendung des Sohnes zentriert ist und in der Sendung der Apostel durch ihn weitergeht, ist der missionarische Charakter der Kirche begründet. Erst in der Teilhabe an der Sendungsbewegung ist die Kirche ecclesia apostolica, nicht schon dadurch, daß sie die apostolische Uberlieferung hütet und bewahrt. 4 Daß die richtige Einsicht: Mission verhält sich nicht synthetisch, sondern analytisch zur Kirche, sich bei uns schon in eine entsprechende Bewegung umgesetzt hätte, wird niemand behaupten wollen. Zu lange hat die volkskirchliche Kongruenz von Christengemeinde und Bürgergemeinde das Bewußtsein bestimmt und ein Verständnis von Mission erzeugt, für das Mission gar nichts anderes sein konnte als eine auf nichtchristliche Völker oder deren einzelne Angehörige zielende, von besonderen „Missionsfreunden" zu bewerkstelligende Aktion oder aber (seit Wichern) eine karitative Aktivität zugunsten notleidender oder gefährdeter Glieder der Kirche. Die ununterbrochen vor sich gehende Auflösung der optischen (statistischen) Deckungsgleichheit von Kirchgemeinde und politischer Gemeinde und die daraus resultierende Tatsache, daß das einstige volkskirchliche Terrain selber Missionsgebiet geworden ist, ist vom Bewußtsein der Gemeinde noch nicht wirklich registriert. Aber auch wenn der Gemeinde die veränderte Situation - ihre Existenz als Minderheit in einer dem Glauben entfremdeten Umwelt - zum Bewußtsein gekommen ist, bedeutet das noch keineswegs ohne weiteres, daß sie die Herausforderung durch diese Situation erkennt und annimmt : zu den anderen zu gehen und ihnen das Evangelium zu bezeugen. Es könnte durchaus auch die gegenteilige Reaktion eintreten: sich einzuigein und abzuriegeln und sich als die „kleine Herde", den „heiligen R e s t " inmitten der allgemeinen endzeitlichen Abfallbewegung zu verstehen. Die Gefahr, der Versuchung einer freiwilligen Ghettoisierung zu erliegen, wird man nicht unterschätzen die missio D e i . . . , in der Gott seinen Sohn gesandt hat in die Welt und in der Er, der Herr, Menschen sendet." Vgl. auch den Titel des Buches von G. Vicedom, Missio Dei. Einführung in eine Theologie der Mission, 1958. 1 Die holländische Apostolatstheologie muß als Angriff auf das falsche statische Verständnis von Apostolizität verstanden werden; vgl. J . C. Hoekendijk, Bemerkungen ..., a.a.O., S. 12: „ F ü r ein neues Verständnis der Kirche als der Mission mag es angebracht sein, erneut die logische (sowohl die chrono- als auch die theologische) Folge von 1. Apostolat und 2. Apostolizität ernst zu nehmen. Wir werden nicht verstehen, was die Apostel gelehrt haben, ehe wir nicht tun, was die Apostel zu tun beauftragt waren und auch taten. Nur in Mission (Apostolat) kann die Kirche authentische (,apostolische') Kirche sein."

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dürfen. Allzulange hat die Verabsolutierung des neutestamentlichen Bildes von Hirt und Herde das gemeindliche Selbstverständnis in dem Sinne bestimmt, daß die Gemeinde eine von dem Pastor betreute, in ihren gemeindlichen Zusammenkünften von ihm mit Wort und Sakrament versorgte „Herde" sei, deren Leben sich wesentlich im Zusammenkommen und in der persönlichen Frömmigkeit äußert. Das Bewußtsein, daß die Glieder der Herde, die „Schafe", in eine sie unmittelbar umgebende, sie befeindende Welt gesandt sind (Matth. 10,16), konnte bei diesem gemeindlichen Selbstverständnis und unter der gegebenen Deckungsgleichheit von Christenund Bürgergemeinde gar nicht aufkommen. Wenn es hierzu kommen soll, wird es einer Verkündigung bedürfen, die in der Kraft des Heiligen Geistes zur Sendung erweckt und zur Sendung ertüchtigt. Mit der Aufgabe, die missionarische Dimension der Verkündigung zu gewinnen bzw. zurückzugewinnen, ist aber zugleich unabweisbar die Frage gestellt, ob die vorhandenen Lebensformen und Institutionen der Kirche so strukturiert sind, daß sie die erstrebte missionarische Bewegung fördern, oder so, daß sie sie hemmen.6 Präzis gestellt, lautet die Frage: Ist in den bei uns üblichen Lebens- und Arbeitsformen das Moment der Sendung, des Gehens zu den anderen gestaltungskräftig? War bei der Herausbildung und Einrichtung der gemeindlichen Lebens- und Arbeitsformen das missionarische Moment-das Moment der Bewegung über die Grenzen der Gemeinde hinaus - bestimmend wirksam? Oder war bei der Entwicklung der gemeindlichen Lebens- und Arbeitsformen ausschließlich das konzentrative Moment gestaltungskräftig, das Moment der Sammlung und Erhaltung, Betreuung und Versorgung der sich Versammelnden? Sollten diese Formen der Sendung dienen, oder wollte man mit ihnen die „Herde" zusammenhalten?® Wenn dieses letztere der Fall wäre - und es ist zu vermuten, daß es so ist - , so müßte weiter gefragt werden: Sind die vorhandenen gemeindlichen Lebens- und Arbeitsformen - wenn sie schon nicht missionarisch entworfen sind - dergestalt, daß das missionarische Moment wenigstens nachträglich aufge6 Jesus Christus, das Licht der Welt. Bericht über die Dritte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen Neu-Delhi 1961, hrsg. von G. Brennecke, 1963, S. 134f. : „Der Ausschuß ist überzeugt, daß eines der Haupthindernisse, die sich der Kirche entgegenstellen, wenn sie ihrer missionarischen Berufung gerecht zu werden versucht, in der überkommenen Struktur der Ortsgemeinde zu suchen ist. Wir haben uns zu fragen, in welchem Maße die herkömmlichen Formen kirchlichen Lebens unser Zeugnis beeinflussen." 4 W. A. Visser t'Hooft, The Renewal of the Church, London 1956, S. 113: „Dare we maintain unchanged ecclesiastical institutions which are so largely set up for the purpose of merely keeping the Christian flock together?"

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nommen werden und zum Zuge kommen und sie also wandeln kann, oder sind sie so strukturiert, daß sie die missionarische Bewegung nur lähmen und hindern können? Konkret gefragt, heißt das : Ist die Gestalt unserer Gemeinden als Parochie, das heißt als Zusammenfassung der in einem bestimmten Wohngebiet ansässigen Getauften gleichen Bekenntnisses, ist also der bei uns für die Gemeindebildung allein bestimmende geographische und denominationeile Gesichtspunkt in einer so mobilen Gesellschaft wie der unseren für die missionarische Bewegung günstig oder ungünstig? Ist die traditionelle Gestalt unseres Gottesdienstes,7 die Arbeitsform in den herkömmlichen Gemeindekreisen, der übliche Stil unserer Zusammenkünfte, die Gestalt unseres Katechumenats, ist unsere Kasualpraxis,® die Form der Finanzierung unserer Arbeit,9 die kirchliche Baupraxis 10 - ist all das, was sich an festen Formen unseres gemeindlichen Lebens und Arbeitens herausgebildet hat, dergestalt, daß es die missionarische Bewegung fördert, oder steht es ihr im Wege? Ist das Missionarische, das extensive, zentrifugale Moment, strukturbildend, oder war und ist ausschließlich das konzentrative, zentripetale Moment gestaltungswirksam? Dieser beunruhigenden Frage muß standgehalten werden. J e kritischer eine Kirche ihre Lebensund Arbeitsformen auf das ihnen zugrunde liegende Strukturprinzip hin befragt, desto heilsamer wird das für sie sein.

II

Ehe nach den Kriterien für die missionarische Strukturierung gemeindlicher Lebens- und Arbeitsformen gefragt werden kann, ist zu klären, was Berichte der Theol. Kommission über den Gottesdienst an die 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal (in: H. 3 der Arbeitshefte 1963, S. 26): „Die ganze traditionelle Form des Gottesdienstes scheint somit ein ernstes Hindernis für jeden Versuch der Kirche darzustellen, den modernen Menschen mit der Forderung des Evangeliums zu konfrontieren." 8 Vgl. die beißend scharfe Kritik von R. Bohren, Unsere Kasualpraxis - eine missionarische Gelegenheit? (ThE, NF. Nr. 83, 1960.) 7

• Vgl. etwa die Bemerkung bei H. Schnell, Die überschaubare Gemeinde (Missionierende Gemeinde, H. 5, 1962, S. 84): „So wurden für den Wiederaufbau des Turmes einer Großkirche oft Mittel aufgewendet, mit denen mehrere neue, kleinere Kirchen mit Leichtigkeit hätten errichtet werden können." 1 0 Ebd., S. 70: „Die Dome, Kathedralen, Kirchen und Kapellen (sc. des Mittelalters) waren keine Missionskirchen und nicht Zentren einer neuen missionarischen Seelsorge. Unsere Gotteshäuser dagegen sind kein Ende, sondern ein Anfang. Uns ist aufgegeben, eine entchristlichte Welt zu missionieren." Von diesem missionarischen Gesichtspunkt aus wird dann Kritik an Erscheinungen im modernen Kirchenbau geübt.

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eigentlich unter „missionarisch" zu verstehen ist. Wozu soll die Sendungsbewegung geschehen? Worauf ist die Kirche-in-Mission aus? Hierauf gibt es zwei extreme Antworten. Die erste: Mission ist die Bezeugung des rettenden Evangeliums mit dem Ziel der Einverleibung neuer Glieder in den Leib Christi, in die Kirche, in der allein es Heil gibt; Ziel der missionarischen Bewegung ist die Integration der von ihr Erreichten in der Kirche als dem eschatologischen Gottesvolk. Diese Auffassung kann sich auf den Missionsbefehl berufen, der die Ausgesandten beauftragt, alle Völker - also in Annullierung jeglichen Ausleseprinzips - durch Taufe und Evangeliumspredigt zu Jüngern, und das heißt zu Gliedern der eschatologischen Heilsgemeinde zu machen. Ebenso wird in der Apostelgeschichte als Ergebnis der Missionspredigt berichtet, daß soundso viele „hinzugetan", nämlich zur Gemeinde, zum Volke Gottes hinzugetan wurden (Apg. 2,41 ; 11,24). Mission geschieht also als Bezeugung des rettenden Evangeliums zur Sammlung des endzeitlichen Gottesvolkes.11 - Die andere Antwort lautet so: Mission ist die absichtslose Bezeugung der Liebe Gottes in den Strukturen und an den Orten der Welt, und zwar vornehmlich in der Gestalt des hingebenden, sich zerreiben lassenden Dienstes zur Herstellung des Schalom - des heilen menschlichen Miteinander. Also nicht: Integration in die (vorhandene) Kirche oder Neugründung (= Wiederholung) von Kirche in der Welt, sondern Dienst in Solidarität mit der Welt, Hineinopferung in die Welt in der Hoffnung, daß dadurch etwas Neues, Nicht-Vorauszusehendes, Unvorhergesehenes geschehen, daß es zu überraschenden Antworten des Glaubens kommen kann und wird. Die Kirche wird „demütig und dienend nach solchen Situationen in der Welt suchen, die liebende Verantwortung verlangen, und sie wird dort ihre Mitarbeit für das konkrete und relevante Ereignis des Schalom anbieten... Die Kirche, die in Mission dienen... will, muß sich selber leer machen, muß Kenosis üben (Phil. 2,5 ff.), ihre ekklesiastische Statur und ihren ekklesiastischen Status absterben lassen, damit es ihr möglich ist, ,den Menschen gleich zu werden und menschliche Gestalt anzunehmen'." 12 Diese Auffassung hat als biblischen Hintergrund deutlich das Bild von dem in den Acker der Welt ausgestreuten Samen, der sterben muß, damit etwas Neues wächst. W. Freytag, Vom Sinn der Weltmission (in: Reden und Aufsätze, T. II, 1961, S. 214) : „ E s wird die Gemeinde gesammelt, die den gekommenen Christus als ihren Herrn annimmt . . . " Im Dokument von Rolle (1951) heißt es: „ S o gründen sich die Verpflichtung, der ganzen Welt das Evangelium zu bringen, und die Verpflichtung, das ganze Volk zusammenzuführen, auf Christi ganzes Werk und sind unlöslich miteinander verbunden" (in: Christus, die Hoffnung der Welt, 1955, S. 165). 1 8 J . C. Hoekendijk, Bemerkungen zur Bedeutung von missionarisch, a. a. 0 . , S. 18, 16. 11

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Beide Antworten gehören indessen zusammen: EineSolidarisierung mit der Welt ohne das Ziel der Rettung (vor dem Zorn Gottes !) und also ohne die Absicht der Einfügung in die eschatologische Heilsgemeinde wäre noch keine ausreichende Bezeugung der Liebe Gottes. Will man diese gezielte Solidarität als eine gespielte - als „scheinheilige Solidaritätserklärung" 13 oder als „Proselytenmacherei" - perhorreszieren, so fällt die Missionsarbeit des Apostels Paulus jedenfalls auch unter dieses Verdikt (1. Kor. 9,19 ff.: hiña kerdeso; hina soso). Man wird auch nicht sagen dürfen, es gehe um Gewinnung für Christus und nicht für die Kirche; denn Gemeinschaft mit Christus gibt es nicht ohne Gemeinschaft in der Kirche (vgl. Apg. 11,24: prostithesthai to kyrio, Apg. 5,14: prostithesthai sc. autois). Das Ziel der missionarischen Bewegung wird für alle Zeiten die Eingliederung in den Leib Christi, die Einfügung in das Volk Gottes, die Einordnung in die Kirche sein. - Aber - und hier kommt nun das Recht der zweiten Antwort zur Geltung: Kann dies nur in der Form des direkten evangelistischen „Angriffs" (kerygma) oder muß es nicht vielmehr in der Weise geschehen, daß die missionarische Kirche das Elend der Welt in allen seinen Gestalten „angreift" und also auch - und heute vielleicht mit besonderer Dringlichkeit - in der Form des hingebenden, in den Strukturen und an den Orten der Welt geschehenden Dienstes (diakonia) und also so, daß die Eingliederung in die Kirche, in den Leib Christi, nicht das Aktionsziel, sondern das Hoffnungsziel ist? Mission also als Bezeugung (martyria) der Liebe Gottes in der Gestalt des sich hinopfernden Dienstes an den Orten der Welt 14 in der festen Erwartung, daß Gott solchen Dienst benützen wird, Menschen zum Glauben an seine rettende Liebe zu führen und seinem Volke zuzuführen. Mission also nicht als Vereinnahmung, sondern als Verausgabung in der Gewißheit, daß solche Verausgabung Menschen für Christus „einnehmen" wird. Also Mission in der Nachfolge Jesu Christi, „des Missionars" schlechthin, 16 der nicht nur an seinen Tisch lud, sondern sich an den Tisch der Sünder setzte (Matth. 9,10f. par.) und dort, indem er seine Eindeutigkeit verlor, die Menschen „gewann".

« H. Müller, Von der Kirche zur Welt, 1961 S. 407, 401. 14 Jesus Christus, das Licht der Welt, S. 86. „Ein solches Zeugnis muß die Gestalt demütigen Dienstes und eines ganz praktischen Amtes der Versöhnung inmitten der herrschenden Konflikte unserer Zeit annehmen. Die Ganzheit des Evangeliums verlangt ganzheitlichen Ausdruck, da das Evangelium jeden Bereich des menschlichen Lebens betrifft." 15 H. J . Marguli, Jesus Christus ist der Missionar (ZdZ, 13. Jg., 1959, S. 441 ff.). D. T. Niles: „Jesus ist der Evangelist" (vgl. Christus, die Hoffnung der Welt, S. 125).

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Aber nicht nur dies ist als das Berechtigte der zweiten Antwort anzunehmen, daß die Eingliederung in den Leib Christi, die Kirche, nicht Aktions-, sondern Hoffnungsziel ist, sondern auch dies, daß diese Einverleibung nicht einfach Einfügung in die vorhandene, so und so strukturierte Kirche und ihre herkömmlichen Formen sein kann. Das hat nichts mit ekklesiologischem Doketismus zu tun, der nicht sehen will, daß der Leib Christi, die Kirche, immer nur in der empirisch-geschichtlichen Gestalt einer verfaßten Kirche mit ganz bestimmten Traditionen und ausgeprägten Lebensformen existiert, sondern ist die Absage an einen „morphologischen Fundamentalismus" (H. Schmidt), in dem - analog dem „biblischen Fundamentalismus" - die Gestalt oder die Struktur der Kirche und Gemeinde der geschichtlichen Betrachtung und damit der jeweiligen Infragestellung entzogen und somit ein morphologischer Gestaltungs- und folglich Umbildungsprozeß abgelehnt," 14 in dem also einfach die fixierte Gestalt des eigenen Kirchenwesens direkt mit der Kirche identifiziert wird. Das heißt aber, daß J . C. Hoekendijk mit seiner Anweisung recht h a t : „Wir dürfen diejenigen, die der Mission geantwortet haben, nicht so schnell wie möglich in die Kirchen, wie sie sind, ,integrieren'." 12 Einfügung in den Leib Christi kann nicht einfach heißen: jemand in die vorhandene, vorfindliche Gemeinde und ihre eigentümlichen Lebensformen eingliedern, ihm einen bestimmten überkommenen way of life verbindlich machen, sondern er muß die Chance bekommen, seine eigene Antwort auf das Evangelium zu geben, seine - vielleicht sehr unkonventionelle, untraditionelle, ungewöhnliche Form der Jüngerschaft zu finden und zu leben. Die Ortsgemeinde wird in ihrer missionarischen Bewegung nicht die Fehler wiederholen dürfen, die auf den Missionsfeldern gemacht worden sind, wo die Heiden durch die Taufe nicht nur in die Kirche, sondern zugleich in ein so und so geformtes Kirchentum abendländischer Prägung eingefügt wurden und man nicht offen nach vorn hin war, offen für das, was der Heilige Geist an wirklich Neuem, Eigenständigem, Eigenwüchsigem hätte erstehen lassen können. 17 14

H. J. Marguli, Missionarische Gemeinden. Ökumenische Arbeit zu Strukturfragen (ZdZ, 17. Jg., 1963, S. 274ff.). 17 H. J. Margull, Jesus Christus ist der Missionar, S. 446: Wir müssen bereit sein, „das Evangelium im gegebenen Fall nicht mit dem Ziel der Gliedschaft in unserer Kirche zu verkündigen, die die Kirche ist, aus der sie oder ihre Väter auszogen, sondern - das fordert viel Glauben und Vertrauen - auf eine Kirehe hin, die aus ihrer eigenen Antwort, der Antwort des säkularisierten Menschen, unter Christi Barmherzigkeit erst noch werden soll. Das bedeutet, daß wir eine andere, unter der missionarischen Verkündigung je anders werdende Kirche zulassen müssen, die sich entsprechend der eigenen, neuen Antwort derer, die zu unserer Kirche nie gehörten . . . gestalten wird." Ganz ähnlich J. C.

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Natürlich kann die Kirche, da sie nicht als civitas platonica, sondern seit je in ganz bestimmten Traditionen und geprägten Lebensformen und heute überdies noch in der Gestalt je bestimmter Konfessionskirchen existiert, im Vollzug der missionarischen Bewegung gar nichts anderes tun, als Menschen das anzubieten, was sie nun eben einmal hat. Sie muß ihre Überlieferung an sie „abliefern" (um es in Schleiermacherscher Terminologie zu sagen). Aber - und das ist nun eben die entscheidende Frage: Tut sie das so, daß sie ihre Überlieferung, indem sie sie „abliefert", zugleich auch „ausliefert", das heißt: bietet sie sie so an, daß der Gewonnene die Freiheit behält, sich einzufügen oder nicht, und vor allem, daß er die Chance erhält, in ganz neuer, nicht vorherzusehender Weise seine eigene Lebensantwort auf das gehörte Evangelium zu geben? „Unter der Verkündigung entsteht immer etwas Neues. - Es wird immer andere Kirche." 18 Sind wir dafür offen, oder ist uns das Aufs-Spiel-Setzen der Überlieferung zu riskant?

III Die missionarische Bewegung der Kirche geschieht in der bestimmten Erwartung, daß durch verkündigendes und dienendes Zeugnis von der Liebe Gottes Menschen dem Leibe Christi eingegliedert werden. Aber diese Einfügung in den Christusleib ist nicht einfach identisch mit der Integration in die vorhandene Gemeinde und ihre herkömmlichen Lebensformen. Die Bewegung der missionierenden Gemeinde ist nicht einfach die : hinausgehen, um einzuladen und hereinzuholen in die eigene Gemeinde, ihre Gottesdienste und ihre sonstigen Lebensformen. Warum nicht? Weil das für den Hereingeholten in den meisten Fällen das Herausgeholtwerden aus seinem Milieu, aus seiner gewohnten, ihn bestimmenden Umwelt mit ihren durchschnittlichen Verhaltensweisen, Umgangsformen, Denkungsarten, ihren ungeschriebenen Gesetzen und die Einfügung in ein ihm völlig fremdes Milieu bedeutet. Wenn ein Kirchenfremder in das übliche Milieu Hoekendijk, a. a. 0 . , S. 18: „Wir erwarten, daß in Mission etwas Neues geschieht, daß Menschen neue, vielleicht unvorhergesehene Formen finden, in denen sie den ,Gehorsam ihres Glaubens' zum Ausdruck bringen (vgl. 1. Kor. 15,360.). Es könnte dann sein (und tatsächlich geschah es schon oft so), daß der neue Leib aus Gottes Wahl einen frühzeitigen Tod erleidet aufgrund der Ungeduld des Missionars, der die, die den Glauben angenommen hatten, möglichst bald in den alten Leib eingliedern wollte." Vgl. auch W. Freytag, Das Ziel der Missionsarbeit (in: Reden und Aufsätze, T. II, 1961, S. 185). 11 W. Freytag, Mission und Ökumene (in: Reden und Aufsätze, T. II, S. 121).

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einer traditionellen Gemeinde hineinkommt, so würde er sich in vielen Fällen nicht so sehr viel anders vorkommen wie ein Eingeborener, dem erst die Fremdsprache des Missionars beigebracht, europäische Kleidung umgehängt und europäische Sitten und Gebräuche aufgenötigt werden.19 Das Wort von der „soziologischen Gefangenschaft der Kirche" ist doch nicht nur eine böswillige Behauptung, sondern entspricht ganz einfach den Tatsachen.20 Es kann nicht das Ziel der missionarischen Bewegung der Kirche sein, Menschen aus ihrem Milieu heraus- und in das ihnen fremde kirchliche Milieu hereinzuholen und sie da zu assimilieren, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil der auf diese Weise „Gewonnene" seinem sozialen Milieu entfremdet wird - die biblische „Fremdlingschaft" ist nicht identisch mit Milieuentfremdung, sondern wird im alten Milieu gelebt (1. Kor. 7,20f.)! a - , sondern weil das Milieu, dem er entzogen worden ist, „nachher nur noch etwas schwächer, niedriger, heidnischer als vorher" ist.19 „Die Sektengemeinschaft reißt die Menschen aus ihrer Umgebung heraus und pflegt dann ein intensives Zusammengehörigkeitsgefühl abseits von den Begegnungen zwischen den Menschen, welche die Alltagsarbeit mit sich bringt" (G. Wingren).22 Die missionarische Bewegung geht also in das fremde Milieu hinein, um dort durch Wort und Dienst Christus zu bezeugen und die zum Glauben Kommenden dort an- und aufzunehmen (wobei „dort" nicht nur und nicht zuerst einen geographischen, sondern den geschichtlichen, soziologischen „Ort" meint, an dem die anderen existieren). Im alten Milieu soll das neue Leben gelebt werden, im alten Milieu soll Gemeinde Christi werden, soll Einleibung in den Leib Christi, in die Kirche, geschehen. Die missionierende Gemeinde wird dies nicht einfach dem Selbstlauf überlassen, sondern trotz, nein: in ihrer Gewißheit, daß Gott und nicht sie „gewinnt" und zu seiner Kirche hinzutut - Formen entwickeln, die die durch ihr Zeugnis Gewonnenen möglichst ohne Milieuverlust gerade in ihrer fruchtbaren Fremdheit, ihrer Frische, Unbekümmertheit, Weltlichkeit an- und aufzunehmen vermögen. Mit der missionarischen Aufgabe der Bezeugung der So hat H. Godin den Milieuwechseleines Proletariers beschrieben (zit. bei H, J . Margull, Theologie, S. 167). 2 0 Vgl. T. Rendtorff, Die soziale Struktur der Gemeinde, 1958, besonders das Kapitel über „Das soziale Bild der Gemeindekreise", S. 109Ö. - R. Köster, Die Kirchentreuen (in: Soziologie der Kirchengemeinde, hrsg. von D. Goldschmidt, F . Greiner und H. Schelsky, 1960, S. 144ft., besonders S. 152). 19

a 22

Vgl. hierzu G. Wingren, Die Predigt, 1956, S. 232 f. Ebd., S. 235f.

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Liebe Gottes in Jesus Christus ist die Aufgabe der Entwicklung von Auflangformen gestellt, in denen die neu Gewonnenen in ihrer zu erwartenden Fremdheit auf- und angenommen werden, in denen sie nicht sofort und möglichst überhaupt nicht in ein kirchliches Klischee hineingezwungen werden. 23 Erstes Kennzeichen missionarisch strukturierter gemeindlicher Lebensformen ist ihre Aufnahmefähigkeit. Ein Historiker der Bewegung der französischen Arbeiterpriester hat darauf hingewiesen, daß die Mission dieser Pioniere auch dann zu Ende gegangen wäre, wenn die Kurie nicht eingegriffen hätte ; sie hätte ihr Ende an der nicht vorhandenen Aufnahmefähigkeit der bestehenden Gemeinde gefunden. 24 Sind unsere bestehenden gemeindlichen Lebens- und Arbeitsformen missionarisch strukturiert, sind sie also aufnahmefähig? (Der Sinn des „Besuchsdienstes" hängt weitgehend von der Beantwortung dieser Frage ab !) Von dem - theologisch natürlich völlig richtig, dem wirklichen Tatbestand nach leider doch sehr zu Unrecht - als Mitte des gemeindlichen Lebens bezeichneten sonntäglichen Gottesdienst wird man das kaum sagen können. Selbstverständlich ist er für jedermann offen - aber wird ernsthaft mit dem Fremden gerechnet oder gar auf ihn Rücksicht genommen? Im Gottesdienst der neutestamentlichen Gemeinde war das offenbar anders: Da wurde auf den Uneingeweihten nicht nur Rücksicht genommen, sondern er bildete geradezu den Maßstab, an dem Verkündigung und Gebet zu messen sind: „Wenn du mit dem Geiste preisest, wie soll der, welcher den Platz des Uneingeweihten einnimmt, das Amen zu deiner Danksagung sprechen? E r versteht j a doch gar nicht, was du s a g s t . . . Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkommt, und alle reden in Zungen, es kommen aber Uneingeweihte oder Ungläubige herein, werden sie nicht sagen, ihr seiet von Sinnen?" (1. Kor. 14,16.23.) Der nicht an das kirch2 3 H. D. Wendland, Alte und neue Gemeindeformen (in: Sammlung und Sendung. Festgabe für H. Rendtorff, 1958), S. 96 : „Neuchristen . . . sind zumeist nicht in der Lage, sich positiv mit den traditionellen Frömmigkeitsformen, der religiösen Sprache und dem Lebensstil bzw. dem sozialen Charakter der durchschnittlichen Kirchengemeinde soweit positiv (sie!) auseinanderzusetzen, daß sie dies kirchliche Erbe sich aneignen und es verarbeiten könnten . . . Es ist daher ein Gebot der Barmherzigkeit, unseren neuen Brüdern nicht Lasten aufzulegen, die sie nicht tragen können, und sie nicht in Formen zu zwängen, die sie nicht verstehen können. Deshalb sind gegenüber denen, die . . . in die verbindliche Bindung zur Kirche eintreten, Auffangformen in Gestalt neuer christlicher Gemeinden eine dringende geistliche Notwendigkeit, ein missionarisches und diakonisches Gebot." Daß diese Gedanken auch auf lutherischem Boden möglich sind, zeigen die Literaturhinweise bei H. J . Margull, Theologie, S. 199, Anm. 340, und S. 203, Anm. 357. 2 4 Mitgeteilt bei H. J . Margull, Die missionarische Struktur der Gemeinde (ZdZ, 17. Jg., 1963, S. 99).

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liehe Milieu Gewöhnte wird also iil die Überlegungen nach der rechten Gestaltung des Gottesdienstes entscheidend einbezogen. Lieber fünf Worte, die er verstehen kann, als zehntausend, die ihm spanisch vorkommen (1. Kor. 14,19) ! Das ist missionarisch strukturierter Gottesdienst, der aufnahmefähig sein will, in dem der dem kirchlichen Milieu Fremde es sofort spürt: Hier wirst du erwartet. Hier ist mit dir gerechnet. - Natürlich ist hier mit beißend geäußertem Mißbehagen gar nichts gewonnen, aber ebensowenig mit dem Programm einer „Erziehung zum Gottesdienst". Es wäre Blindheit, nicht sehen zu wollen, daß ein großer Teil der nicht im kirchlichen Milieu Aufgewachsenen in diesen Gottesdienst nicht zurückzuholen ist. Er ist nicht missionarisch strukturiert, nicht aufnahmefähig. Sind dann wenigstens die anderen vorhandenen Lebensformen der Gemeinde aufnahmefähig? Auch von den üblichen Gemeindekreisen - mit Ausnahme der Jungen Gemeinde - wird man das schwerlich sagen können : ihre altersmäßige und soziale Zusammensetzung und die damit gegebene Milieuverengung, ihre Introvertiertheit und der Stil ihrer Zusammenkünfte machen sie als Auffangformen ungeeignet.28 Ausnahmen - die es natürlich beglückenderweise gibt - bestätigen aber auch hier nur die Regel. Eine wirkliche Lösung der Frage nach gemeindlichen Lebensformen, die neu Gewonnene in ihrem fremden Milieu aufzunehmen vermögen, scheint mir die Gestalt der „Hausgemeinde" zu sein,86 denn sie ist Gemeinde im weltlichen Milieu; hier emigriert man nicht aus der Alltagswelt in einen kirchlichen „Raum", sondern kommt an dem Ort des gelebten Lebens zusammen; hier kann man so reden und sich so geben, wie man es gewöhnt ist. Da der Mensch in der heutigen Gesellschaft immer in mehreren oikoi haust, werden sich diese Hausgemeinden entweder aus nachbarlich beieinander wohnenden Menschen oder aus Menschen benachbarter beruflichsozialer Gruppen zusammensetzen. Die verschiedenen Hauskreise werden von daher sehr verschieden geprägt sein, so daß hier eine Vielfalt gelebter Jüngerschaft vorhanden ist und es dann nicht schwer sein dürfte, einen neu Gewonnenen in den Kreis einzuführen, der für sein Milieu am gemäßesten ist und ihm die meisten Chancen bietet, sein Jüngersein nicht in klischierter, sondern in eigenwüchsiger Weise zu realisieren. Die Hausgemeinden Vgl. die von T. Rendtorfî verarbeiteten Urteile von Pfarrern über die Gemeindekreise in seinem Aufsatz: „Die Kerngemeinde im Verständnis des Gemeindepfarrers" (in: Soziologie der Kirchengemeinde, 1960, S. 156f. und 159); vgl. auch oben Anm. 20. 2 8 Der Gedanke der „Hauskirche" wird in einer durchdachten Konzeption vorgetragen vor allem von H. R. Weber, Die Hauskirche (in: Das missionarische Wort, 1958, H. 11, S. 33ff.); vgl. die Übersicht bei H. J . Marguli, Theologie, S. 198ff. 25

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wären die Stellen, in denen einer Fuß faßt und beheimatet wird in der Gemeinde. Hier wird er beim gemeinsamen Lesen der Bibel erfahren, daß er mit seinen Lebenserfahrungen vorkommt im Evangelium; hier ist der Ort des mutuum colloquium und der mutua consolatio fratrum, und hier geschieht die sofortige Indienstnahme des neu Gewonnenen. In großer sachlicher Nähe zu derartigen Hausgemeinden stehen die von H. D. Wendland beschriebenen „Dienstgruppen der weltlichen Christenheit" mit den von ihnen geschaffenen „Übergangsformen und Vorstadien künftiger christlicher Gemeinden". 2 3 Vielleicht wird die zukünftige Ortsgemeinde sich einmal zusammensetzen aus solchen kleinen, bruderschaftlichen Gemeinschaften, solchen Zellen kommunikativen Lebens, die zusammengehalten werden durch den sonntäglichen Gottesdienst der ganzen Gemeinde. Dann würde aus dem theologisch richtigen Satz, daß der Gottesdienst die Mitte des Gemeindelebens sei, auch wieder ein empirisch richtiger S a t z ; denn in diesen Gottesdienst würden die - ermutigenden und enttäuschenden Erfahrungen der kleinen Gemeinschaften aus ihrem Dienst an den Orten der Welt eingebracht, und es käme dort zu erhöhtem Lob und zu konkreterer Fürbitte, zu bewußterem Hören und zu neuer Dankbarkeit für das Geschenk brüderlicher Gemeinschaft (Apg. 4,24ff.; Eph. 6,18ff.; Kol. 4,2ff.). Solche bruderschaftlichen Gemeinschaften und der durch sie erneuerte Gottesdienst der Gemeinde würden das zweite Merkmal missionarisch strukturierter gemeindlicher Lebens- und Arbeitsformen an sich haben können: sie würden ausstrahlungskräftig (oder - von der anderen Seite her gesehen: anziehungskräftig, attraktiv) sein. Anziehungskräftig ist das Gegenteil von abstoßend wirkend. Die ökumenische Diskussion hat gezeigt, daß am Leben der vorfindlichen Gemeinde besonders das Fehlen der Koinonia, die Gemeinschaftslosigkeit als abstoßend empfunden wird. In einem Überblick über die Evangelisation in Holland steht der schlimme S a t z : „Ihre Gemeinschaft spricht eine so laute Sprache, daß wir ihre Botschaft nicht hören können." 2 7 Und das ist doch wohl nicht nur in Holland so. Ausstrahlungskräftig ist eine Gemeinde mit ihren Lebensformen dann, wenn die Art, in der man hier miteinander lebt, umgeht und dient, auffällt und die Außenstehenden zum verwunderten Fragen bringt. Apg. 2,47 wird von der Gemeinde gesagt: „ S i e hatten Gunst bei dem ganzen V o l k " ; mit anderen Worten: Sie waren für die anderen eine reine Freude. Und es ist kein Wunder, daß es sofort im Anschluß daran heißt: „ u n d der Herr tat hinzu täglich, die gerettet wurden, zu der Gemeinde". Diese Gemeinde war also « Zit. bei H. J . Margull, Theologie, S. 155.

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missionarisch ohne besondere missionarische Aktion, sondern durch Ausstrahlung bzw. Anziehung. Darum die Mahnungen an die Gemeinde, den anderen keinen abstoßenden Anstoß zu geben (1. Kor. 10,32f.; 2. Kor. 6,3; 1. Tim. 5,14; 6,1). 28 Die Frage, worin die Ausstrahlungskraft bestehe, was das Attraktive sei, läßt sich wahrscheinlich nicht generell beantworten. Aber das Attraktive, nicht zu Übersehende (Matth. 5,14 ff. !), wird wohl immer darin bestehen, daß die Menschen außerhalb der Gemeinde merken : Hier ist ein Wort wirksam, das es bei ihnen nicht gibt; hier ist ein Stück Schalom verwirklicht, um dessen Verwirklichung sie sich selber vergeblich bemühen. In einer Welt der Entzweiung wird es das versöhnende Wort und das Leben als Versöhnte sein, was auffällt; in einer Welt der Selbstrechtfertigung durch Leistung und Moral das ehrliche Bekenntnis der Schuld und das Leben in der rückhaltlosen Buße und im Verzicht auf allen Selbstapplaus; in einer Welt des Konformismus das schlichte Zeugnis der Wahrheit und das selbstverständliche Eintreten für die Geächteten; in einer Welt der Selbstbehauptung das Wort von der Liebe, die nicht das Ihre sucht, und das Leben in hingebendem Dienst. Nicht durch spektakuläre, sondern durch sehr bescheidene Dinge wird die Gemeinde auffallen. Nicht im Besonderen oder Absonderlichen, sondern im Alltäglichen ist sie ausstrahlungskräftig. „Die Gemeinschaft der Heiligen ist dadurch Mission, daß sie Alltagsleben ist" (Wingren).29 In ihrem Alltagsleben, das eben gerade „nicht alltäglich", in ihrem weltlichen Dasein, das gerade nicht „verweltlicht" ist, 30 strahlt sie etwas wider von dem Frieden Gottes, dem Schalom, den die Welt nicht geben kann, strahlt in ihr etwas auf von der neuen Schöpfung, so daß andere angezogen werden (vgl. Jes. 55,5). Natürlich ist Ausstrahlungskräftigkeit nicht einfach die Folge einer bestimmten Strukturierung Aber dies kann man sagen: Es gibt gemeindliche Lebensformen, die so strukturiert sind, daß sie nicht ausstrahlungskräftig sein können. Es sind alle diejenigen Formen, in denen es zu keiner Koinonia kommt oder in denen man nur mit sich selbst beschäftigt, auf sich selbst bedacht ist und sich nicht zurüstet für den Dienst in der Welt. Missionarisch strukturiert sind solche Formen, in denen es zur Gemein28 Vgl. H. Greeven, Die missionierende Gemeinde nach den apostolischen Briefen (in: Sammlung und Sendung, 195S, S. 65). 28 G. Wingren, a.a.O., S. 242, Anm. 103. 80 Verweltlicht ist eine Gemeinde nicht, wenn sie die kirchlichen Absonderlichkeiten abgestreift hat, sondern wenn sie — u. U. gerade in ihren kirchlichen Sonderheiten - es macht wie alle Welt: sich um sich selbst sorgt, sich selber behauptet, alles zur Selbsterhaltung tut, sich selbst rechtfertigt.

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schaft, zum Dienst aneinander kommt und die doch nicht in sich selbst verkrümmt sind : sie haben die Chance, ausstrahlungskräftig zu sein. Damit ist bereits auf das dritte Kennzeichen missionarisch strukturierter gemeindlicher Lebens- und Arbeitsformen hingewiesen: sie machen aussendungstüchtig. Unsere herkömmlichen Formen gemeindlichen Lebens haben fast durchweg pastorale, und das heißt Betreuungsstruktur. Man ist darauf eingestellt, etwas geboten zu bekommen, und bleibt im wesentlichen rezeptiv. Hier vollzieht sich allerdings allmählich ein beachtlicher Wandel. Die Durchbrechung des „Einmannsystems" ist in vollem Gange ; die Mitarbeit des „Laien" wird gewünscht, und er wird auch in einer Fülle von Rüstzeiten dafür zugerüstet. Freilich ist das weithin durchaus noch ganz „pastoral" gedacht, indem die „Laien" verstanden werden und sich selbst verstehen als Handlanger des Pfarrers, als seine „Arbeitsmannschaft", die das tun, was er als zu seinem allumfassenden Amte gehörend eigentlich selber tun müßte, infolge seiner Überlastung aber leider nicht selbst tun kann. Auch die Überlegung, was der Pfarrer an Aufgaben „abtreten", welche Funktionen von „Laien" „übernommen" werden könnten, entspricht pastoraler Struktur. Ein wirkliches Umdenken hat nur da stattgefunden, wo die Gemeinde als Leib Christi, als „charismatische Gemeinschaft" wiederentdeckt ist, in der jeder, der seine Taufe im Glauben angenommen hat, den Heiligen Geist in einer bestimmten Konkretion als Charisma empfangen hat, in der also jeder etwas beizutragen hat, was für das Leben der Gemeinde unentbehrlich ist, und in der jeder darauf angewiesen ist, daß der andere seine Gabe betätigt. Zurüstung zum Dienst geschieht sachgemäß nur unter der Voraussetzung der Gemeinde als charismatischer Gemeinschaft, in der es niemand gibt, der immer nur zu geben, und niemand, der immer nur zu empfangen hätte (wobei das unaufgebbare Gegenüber des Hauptes zum Leibe in dem autoritativ verkündigten Wort und in den dargereichten Sakramenten und also in den Funktionen des pastoralen Amtes zum Vollzuge kommt). Die Zurüstung besteht dann darin, daß die Charismen entdeckt werden (man muß sie wirklich suchen; denn sie äußern sich nicht notwendig unwiderstehlich), daß sie gefördert werden (denn sie sind nicht sofort voll ausgebildet da) und daß ihnen nicht nur Betätigungsraum zugestanden, sondern ihnen eine bestimmte Aufgabe zugewiesen wird. Freilich - und darauf kommt es in diesem Zusammenhang entscheidend an - ist die Gemeinde erst dann wirklich als Leib Christi ernst genommen, wenn nicht nur gesehen ist, daß die Glieder des Leibes einander zugeordnet sind in wechselseitigem Geben und Empfangen zur „Auferbauung" des 122

Leibes, sondern wenn auch erkannt wird, daß Christus durch diesen seinen Leib - die Gemeinde mit ihren Gliedern - sich der Welt in allen Gestalten ihres Elends annehmen, sie barmherzig angreifen will, wenn also auch mit Charismen für den Dienst in der Welt, für Aufgaben der „Gesellschaftsdiakonie" gerechnet wird. Wenn wir von „Zurüstung" sprechen, meinen wir eigentlich durchweg nur Zurüstung für den Dienst in der Gemeinde (Lektoren, Kirchenvorsteher, Bibelgruppenleiter, Frauendienstleiterinnen usw.), über deren Notwendigkeit kein Wort zu verlieren ist. Aber wo geschieht Zurüstung zum Zeugnis in den Strukturen der Welt? Ein „aktiver Laie" ist in unserer Optik doch immer noch der, der außerhalb seiner Berufsarbeit und zusätzlich zu ihr noch „etwas für die Kirche t u t " . Aber „Laiendienst" ist nicht der Dienst von McAí-Ordinierten, 7Víc/¿í-Theologen, nicht hauptberuflich in der Kirche Beschäftigten in der Gemeinde (wie denn der „Laie" überhaupt nicht von einem innerkirchlichen Gegenüber her, also negativ als der „Nicht-", zu definieren ist), sondern Laiendienst ist der Dienst des Christen in den Strukturen, an den Orten, in den Sachbereichen der Welt. 31 Dazu bedarf es sachkundiger, im wachen Hören auf die Schrift geschehender Zurüstung, die nur im Gespräch, im Erfahrungsaustausch, in der wechselseitigen Fürbitte zu leisten ist. Lebens- und Arbeitsformen, in denen dies geschehen kann, sind missionarisch strukturiert. Zusammenfassend kann also gesagt werden: Gemeindliche Lebens- und Arbeitsformen zeigen sich darin als missionarisch strukturiert, daß sie aufnahmefähig und ausstrahlungskräftig sind und aussendungstüchtig machen. 82

IV Mit diesen Darlegungen meine ich, mich im wesentlichen in Übereinstimmung zu finden mit der Konzeption, die Landesbischof D. Noth in seinem grundlegenden Aufsatz „Volkskirche heute" 33 vertreten hat. In 31

H. R.Weber, Mündige Gemeinde (ökumenische Rundschau, 1960, H. 1, S. 6): „Laiendienst bedeutet ..., die ganze tägliche Arbeit und Freizeit als eine christliche Berufung zu erkennen." 32 Die Zusammenstellung dieser drei Prädikate habe ich erstmalig bei einer Tagung der Bezirkskatecheten der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens im März 1963 und dann bei der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Strukturfragen der Gemeinde vorgetragen. Sie ist seitdem in verschiedenen Papers aufgetaucht. 33 G. Noth, Volkskirche heute (ZdZ, 14. Jg., 1960, S. 166ff.).

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ihm wird festgestellt, daß „Volkskirche in der alten Form heute nicht mehr möglich" ist, aber entgegen der akuten Versuchung zu einer inneren und äußeren Emigration wird das dem volkskirchlichen Entwurf zugrunde liegende Moment der Verpflichtung und Verantwortung für das Ganze als unaufgebbar festgehalten: „Der missionarische und diakonische Auftrag, den die Kirche hat, verwehrt es ihr, sich bei der kleinen Zahl zu beruhigen. Sie ist geradezu an ,das ganze Volk' gewiesen." „Wer beobachtet, in wie vielen umfassenden Bindungen sich das Leben des modernen Menschen vollzieht, der kann erkennen, wie wenig sich gerade heute der Dienst der Kirche in der persönlichen Seelsorge erschöpfen kann." Um die Wahrnehmung ebendieses Dienstes der Kirche und ihrer Glieder in der Welt und für die Welt ging es in meinen Darlegungen. Daß dabei nicht an eine Auflösung, sondern an eine Umwandlung der Ortsgemeinde gedacht war, dürfte deutlich geworden sein. Das hier Entfaltete scheint mir durchaus in der Richtung zu liegen, die D. Noth in dem erwähnten Aufsatz folgendermaßen angegeben hat: „Erkennt die Ortsgemeinde nüchtern die heutige Situation, wird sie sich neuen Wegen kirchlichen Dienstes und kirchlicher Sammlung nicht verschließen, wie sie in den Paragemeinden beschritten werden." Aber auch dann, wenn das Maß der Übereinstimmung geringer sein sollte, als ich annehme, so ist das Dargelegte doch aus derselben Liebe zur Kirche und aus derselben Dankbarkeit für die Kirche geschrieben. Wir sollten dankbar sein für das, was wir haben, aber wir sollten vor allem aus sein auf das, was uns noch fehlt.

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Die Gemeinde Jesu Christi in der Welt* (Thesen) I Die Kirche, die sich in CA VII als die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinschaft der Glaubenden beschrieben hat, war von der Frage angefochten : Sind unsere der bischöflichen Autorisierung ermangelnden und an kultischen Handlungen ärmer gewordenen Gottesdienste noch Versammlungen der wahren Kirche? Die bedrängende Anfrage an uns heute kommt nicht vom Gottesdienst der anderen Kirche, sondern von der Gottlosigkeit der Welt her. Die Frage, der wir standzuhalten haben, lautet : Sind wir noch die Kirche des Herrn, den der Vater aus Liebe zur Welt gesandt und für sie dahingegeben hat und der uns als Boten und Werkzeuge seiner Liebe in der Welt haben will? Sind wir Kirche für uns oder Kirche für die anderen? Dieser Bußfrage standhalten könnte der Anfang zu einer Erneuerung der Kirche sein. Es bedeutet den Verzicht 1. auf jede Form von S e l b s t r e c h t f e r t i g u n g , die das gegenwärtige soziologische Bild der Gemeinde als Ergebnis des Druckes von außen, als Zeichen des endzeitlichen Abfalls oder als den in 1. Kor. l,26ff. vorgesehenen Normalzustand erklärt; 2. auf alle Formen der S e l b s t b e s c h w i c h t i g u n g , die sich bei dem Gedanken beruhigt, eine ideale Kirche habe es nie gegeben, Kritik an der Kirche sei billig, Gott habe seine Freude sehr wohl auch noch an der kümmerlichsten Gemeinde, und der Ruf nach einer durchdachten Konzeption sei das Zeichen eines Aktivismus, der der Führung durch den Heiligen Geist nichts mehr zutraut und die Verheißung der Unüberwindlichkeit der Kirche nicht ernst nimmt ; 3. auf alle Formen der S e l b s t t ä u s c h u n g , die sich mit ekklesiologischen Richtigkeiten und liturgischen Überschwenglichkeiten den nüchternen Blick für die Tatsächlichkeiten verstellt; 4. auf den Willen zur S e l b s t e r h a l t u n g , der sich dem Wagnis des * Veröffentlicht in: Die Zeichen der Zeit 1967; Das missionarische Wort 1967.

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abrahamitischen Aufbruchs aus dem Bekannten in das Ungesicherte verweigert und lieber im Gewohnten fortfährt.

II Die Gemeinde Jesu Christi lebt von der S e n d u n g d e s S o h n e s zur Versöhnung der Welt und in der S e n d u n g d u r c h den S o h n zum „Dienst der Versöhnung" (2. Kor. 5,IS) in der Welt. Sie hat ihr Sein v o n der Sendung des Sohnes und seines Geistes (Gal. 4,4-6) und in der Sendung durch den Sohn vermöge der Gabe seines Geistes (Act. 1,8; Joh. 20,21 ff.). In dieser von Gott ausgehenden, sie begründenden und durch sie weitergehenden Sendungsbewegung (Joh. 17,18) existiert die Kirche bis zum endgültigen Kommen des Herrn Jesus Christus (Matth. 28,20). Sie ist nicht erst Kirche und dann auch noch Sendung, sondern sie empfängt sich als Sendung aus der Sendung des Sohnes vom Vater. Diese Sendungsbewegung strukturiert die Kirche. III Weil die Gemeinde von der Sendung des Sohnes und in der Sendung durch den Sohn existiert, bedarf sie des S i c h - V e r s a m m e l n s . Ihre Versammlungen sind nicht das erste, dem dann als zweites die Sendung folgt, sondern sie geschehen auf dem Wege der Sendung und sind von vornherein Versammlungen der Gesendeten. Hier versammelt der Herr seine in die Welt gesandte Schar, um den unterwegs Blessierten aufs neue seine Gemeinschaft zu schenken in der Vergebung ihres Versagens, in der Stärkung ihres Glaubens an seine Verheißungen, in der Segnung zu neuer Sendung. Nur diejenigen, die sich senden lassen, wissen überhaupt, wie sehr sie immer wieder und wozu sie je neu der Sammlung bedürfen. Ihre Gesichtspunkte für die Gestaltung der Versammlungen sind daher ebenso sachhaltig wie die der liturgischen Fachleute. Versammlungen der Gemeinde auf dem Weg der Sendung werden folgende Merkmale haben : 1. Es wird damit gerechnet, daß alle etwas beizutragen haben ; neben dem liturgischen Gut, das den geistlichen Zusammenhang der gegenwärtigen Gemeinde mit dem wandernden Gottesvolk aller Zeiten sichtbar macht, ist viel freier Raum für das Spontane (1. Kor. 14,26fl.). Es gibt kein Redemonopol. 2. Lobpreis und Fürbitte sind konkret und ergeben sich weithin aus den auf dem Wege der Sendung gemachten Erfahrungen (Act. 11,18; Rom. 126

15,6ff. - Act. 4,29; 12,5; Rom. 15,30; Kol. 4,3; l.Thess. 5,25; 2.Thess. 3,1; Hebr. 13,18). Über das Vorankommen oder Steckenbleiben des Evangeliums wird die Gemeinde immer frisch informiert (Act. 14,27; 1. Thess. 1,9; 2,14; 2. Kor. 8,1 ff.). 3. Die Versammlungen des Gottesvolkes sind vielgestaltig und werden nicht nach einem quantitativen liturgischen Soll gemessen und gewertet („Vollgottesdienst"). Ihr einziger Wertmaßstab ist der, ob sie sendungsgemäß sind. 4. Es wird das Herrenmahl gefeiert in der Freude auf das Große Abendmahl, an dem die „vielen" teilhaben sollen, um derentwillen Jesus gesandt ist und für die er sein Blut vergossen hat (Mark. 14,24 - Luk. 13,29; 14,23 f.) und die die Gemeinde darum nie aus dem Blick verlieren darf. „Lauts des Evangelii" (CA VII) wird das Abendmahl nur in der missionarischen Gemeinde gefeiert, die das für die vielen vergossene Blut Jesu nicht eigensüchtig für sich genießt und die sich vor der schlimmsten Schändung des Leibes Christi (außer der Leugnung seines Für-uns-Charakters) hütet: dem unsozialen Verhalten seiner Glieder untereinander (1. Kor.ll,20ff.). Daß die Gemeinschaft am Tisch des Herrn und an den Tischen in den Häusern zusammenhängt, muß sichtbar werden. 5. In den Versammlungen der Gemeinde fördern die Gemeindeglieder einander mit ihren je verschiedenen Gaben zum eigenen geistlichen Wachstum (1. Thess. 5,11; Kol. 3,16). Es geschieht Erbauung (Rom. 14,19; 1. Kor. 14,4f. 12), um für die Sendung geeigneter zu werden. Auferbauung des Leibes Christi meint nicht Körperpflege, sondern Ertüchtigung der Glieder des Leibes Christi für den Dienst (Eph. 4,12; Rom. 6,19), Zurüstung zum Gottesdienst im Alltagswerk (Rom. 12,1ff.; Haustafeln). Die Gemeinde ist der Leib des erhöhten Gekreuzigten und also seine Dienstgestalt in der Welt. Hierzu braucht sie heute Sammlungsformen, in denen sachkundig über gesellschaftliche und arbeitsbezogene Fragen informiert wird, in denen ein Gespräch darüber möglich ist, inwiefern diese weltlichen Fragen mit dem Glauben an und dem Gehorsam gegenüber Jesus Christus zusammenhängen und welche Weisungen vom Worte Gottes dazu gegeben werden, in denen zu Entscheidungen aus Glaubensgehorsam ermutigt und Hilfe dazu angeboten wird, solche Entscheidungen mit allen ihren möglichen Konsequenzen durchzuhalten, in denen Menschen in ihrer natürlichen „Weltlichkeit" sofort heimisch werden können. 6. Die Gemeinde möchte in ihren Versammlungen nicht unter sich bleiben, sondern sie stellt sich darauf ein, daß der eine oder andere von denen, zu denen sie gesandt ist, mitkommen wird. Sie bezieht darum die „Fremden" 127

in ihre Überlegungen nach der rechten Gestaltung ihrer Zusammenkünfte mit ein. Die Verständlichkeit des Geschehens für den Uneingeweihten ist ein entscheidender Gesichtspunkt (1. Kor. 14,16-19.23-25).

IV Die Gemeinde Jesu ist zur W e i t e r g a b e des E v a n g e l i u m s gesandt, von dem sie selber lebt. Sie ist apostolisch, indem sie nicht nur die apostolische Überlieferung bewahrt, sondern indem sie sich wie die Apostel mit dieser Botschaft auf den Weg macht. Eine Gemeinde hat genau so viel Erkenntnis des apostolischen Evangeliums, als sie die apostolische Bewegung vollzieht. Ob eine Gemeinde ihre Hauptaufgabe, das rettende Evangelium weiterzugeben, erfüllt, wird man an folgendem merken: 1. Sie erkennt, daß für ihr Leben als Zeugen Jesu Christi der Predigtoder Bibelstundenmonolog des Pfarrers nicht mehr ausreicht. Sie braucht das echte (also nicht das katechetisch gesteuerte) Gespräch, in dem es um die Gewinnung von Erkenntnis und um Austausch geistlicher Einsichten und Erfahrungen geht und in dem nicht fertige Antworten auf selbstgestellte Fragen gegeben werden, sondern gemeinsam die Antwort des Evangeliums auf die wirklichen Fragen gesucht wird (vgl. I I I , 5.). Das Gespräch - das mutuum colloquium - wird neben Predigt und Katechese eine gleichwertige Form, in der Verkündigung geschieht. 2. Sie weiß, daß die reine Weitergabe des Evangeliums (CA VII) nicht in der bloßen Wiedergabe biblischer oder reformatorischer Formulierungen besteht, sondern daß nur im liebenden Hören und Sicheinlassen auf die anderen die Sprache zu gewinnen ist, in der sie die Frohe Botschaft so sagen kann, daß sie für die anderen keine bloße Formel mehr ist. Die Gemeinde sucht also den Dialog mit den anderen, anstatt sie zu Objekten ihrer vermeintlichen Missionspredigt zu machen. 3. Sie weiß, daß sie das Wagnis der eigenen Sprache eingehen muß und verdächtigt darum nicht sofort als „anderes Evangelium", was anders klingt als das kirchliche Normalvokabular. Weil sie aber nichts mehr fürchtet, als das Evangelium zu verderben, übt sie in ihrer Mitte das Beurteilen der Lehre und hört sie auf das Urteil derer, die Sachkenntnis und geistliches Urteilsvermögen haben (1. Kor. 14,29; 10,15; Gal. 1,6ff.; Offb. 2,2.20; l.Joh. 4,1 ff.). Dabei weiß sie um die Gefahr, daß die fehlende apostolische Bewegung in die Welt durch bissige Auseinandersetzungen über die apostolische Lehre in der Kirche kompensiert werden will. 128

ν

Die Gemeinde Jesu ist zum D i e n s t gesandt, der aus der Hoffnung auf das Gottesreich heraus geschieht und das Reichsheil signalisiert. Als Gemeinde derer, die gesandt sind, um das Erbe des Reiches anzutreten (Matth. 25,34; Luk. 12,32; Hebr. 9,15), also als eschatologisches Gottesvolk, verkündet sie nicht nur das Evangelium von dem Reich ohne Tod, ohne Tränen, ohne Weh- und Haßgeschrei (Ofïb. 21), sondern richtet sie reale Zeichen der Hoffnung auf dieses Reich auf im Kampf gegen den Tod in allen seinen Gestalten, in der Tröstung der Traurigen und im Freudemachen, im Einsatz für die Verringerung des Leidens in der Welt und für die Versöhnung. Merkmale einer sich zum Dienst gesandt wissenden Gemeinde : 1. Sie wird diesen Dienst nicht nur in der Gestalt institutionalisierter Diakonie im Rahmen der christlichen Caritas tun, sondern auch in nicht ekklesiastischer Form, auch in der Form verantwortlicher - und also kritischer und konstruktiver - Zusammenarbeit mit Nicht-Christen. 2. Sie wird vor allem Dienste tun, für die sich sonst keiner findet, und insofern doch eine unverwechselbare Diakonie üben. Sie wird im Dienst für die von der Gesellschaft Übersehenen oder Benachteiligten zum Leiden bereit sein. 3. Sie wird diesen Dienst grundsätzlich nicht als Werbemittel benützen, es aber Gott zutrauen, daß er ihn benützt, um Menschen für die Botschaft des Reiches aufzuschließen. VI Die von dem Herrn in die Welt gesandte Gemeinde ist u n t e r w e g s d u r c h die Z e i t e n , bis sie zu der verheißenen Ruhe kommt (Hebr. 4,5). Sie ruht unterwegs im Lobpreis, aber sie setzt sich nicht vorzeitig zur Ruhe. Sie siedelt sich nicht in einem geschichtlichen Räume an und wird dort seßhaft. Sie bleibt nicht hinter der geschichtlich fortschreitenden Menschheit zurück, sondern geht deren Weg mit. Sie gestaltet ihre Lebens-, und Arbeits- und Organisationsformen so, daß sie den Menschen in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Situation am besten dienen kann. Sie hat keine Ein-für-allemal-Strukturen, sondern flexible, den missionarischen Erfordernissen angepaßte Strukturen. Missionarische und also geschichtlich wandelbare Strukturen sind, recht verstanden, inkarnatorische Strukturen, so wahr der inkarnierte Christus als Gottes Gesandter in die Geschichte eintrat und die Gestalt einer sich wandelnden Welt annahm. Merkmale einer Gemeinde unterwegs : 9

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1. Sie ist das Volk der Pilger und Fremdlinge; ihre Fremdlingschaft besteht aber nicht in kirchlichen Befremdlichkeiten, sondern darin, daß sie es anders macht als die Welt : sie besteht im Verzicht auf das die Welt bestimmende Gesetz des Gegenschlages (Matth. 5,44f.; 1. Petr. 3,9; Rom. 12,7; 1. Thess. 5,15) und der Selbsterhaltung (1. Kor. 13,5,: Matth. 16,24f.) und auf die übliche Zuchtlosigkeit (1. Petr. 4,3f.). Die Fremdlingschaft der Gemeinde reizt die anderen nicht zum Lächeln, sondern zum Lob (1. Petr. 2,11 f.) oder zur Lästerung (1. Petr. 4,4). 2. Sie fragt, welche Sammlungs-, Dienst- und Organisationsformen sie in der heutigen Gesellschaft braucht, um möglichst in allen Bereichen, in denen sich das Leben des heutigen Menschen abspielt, mit dem Evangelium anwesend sein und ihm dienen zu können. Sie weiß, daß Formen, die sie einst im Eingehen auf die Bedingungen einer relativ stabilen und einheitlichen Gesellschaft für ihre missionarische Wirksamkeit ausgebildet hat, sich heute unter den Bedingungen einer mobilen und differenzierten Gesellschaft als missionsverhindernd auswirken können. Wenngleich die Parochie auch weiterhin unentbehrlich sein wird, werden sich neue Lebens- und Arbeitsformen entwickeln und entwickeln müssen, über deren ekklesiologischen Status sich noch nichts sagen läßt; nur soviel, daß die Ortsgemeinde wird aufhören müssen, sich als normativ zu betrachten, und sich wird darauf einstellen müssen, Gemeinden anderen Typs anzuerkennen. 3. Sie wird in neu entstehenden Siedlungsgebieten die Herausforderung an ihre Liebe und an ihre Phantasie sehen, neue Lebens- und Arbeitsformen (Hauskreise, Hauskatechumenat) zu erproben, und wird nicht gedankenlos das Parochialsystem dorthin verpflanzen. 4. Sie wird aufhören, alle Kraft für die Aufrechterhaltung des Status quo zu verausgaben, und frei dazu sein, sinnlos Gewordenes, ökonomisch nicht mehr zu Verantwortendes, organisatorisch Anachronistisches, geistlich Fragwürdiges (Praxis der uneingeschränkten Kindertaufe, Verweigerung von Kasualien an Kirchensteuerschuldner) aufzugeben. Der Gesichtspunkt der missionarischen Beweglichkeit und Glaubwürdigkeit wird ihr höher stehen als der der leichten Administrierbarkeit. 5. Sie wird als von der Sendung des Sohnes und als aus der Rechtfertigung lebend dazu befreit sein, nicht alles richtig machen zu wollen und zu müssen, sondern auch einmal stolpern zu dürfen. Sie wird also das verantwortlich unternommene, immer mit dem Risiko des Scheiterns verbundene Experiment nicht nur widerwillig zulassen, argwöhnisch beobachten und durch vorschnelle Erfolgserwartungen die darin Engagierten lahmen, sondern derartige Experimente weitschauend planen und unterstützen. 130

VII Die von der Sendung des Sohnes und in der Sendung durch den Sohn existierende Gemeinde ist u n t e r w e g s zu dem Ziel der S e n d u n g , dem Leben der Christus gehörenden neuen Menschheit in der künftigen Polis. 1. Die Kirche als das wandernde Gottesvolk möchte auf ihrem Wege in die Freude des Reiches Gottes möglichst viele mitnehmen ; denn in ihr und durch sie sammelt sich der Herr die neue Menschheit. Insofern ist die Kirche nicht nur Werkzeug der Sendung, sondern auch deren vorläufiges Ziel. Eine Kirche, die es nicht mehr als ihre Aufgabe ansähe, Menschen für Christus und damit für seine Gemeinde zu gewinnen und sie ihr einzugliedern durch die Taufe, wäre der Sendung ungehorsam. Aber diese Eingliederung ist nicht einfach Integration in die Kirche, wie sie ist, und in ihre ererbten Sammlungsformen. Das wäre Mission ohne Buße, ohne jeden Sinn für Realitäten. Mission heißt nicht einfach: gehen und die anderen einladen, in unsere traditionellen Versammlungen zu kommen, sondern erst fragen, ob man es den anderen zumuten könne, dahin zu kommen. Mission stößt ins Leere, wenn nicht für aufnahmefähige Versammlungsformen gesorgt ist. 2. Durch das von der Kirche zur Welt gebrachte Evangelium von der Versöhnung entstehen schmerzlicherweise Scheidungen, insofern Menschen das Evangelium abweisen und außerhalb der Kirche bleiben. Aber über „Drinnen" und „Draußen" entscheidet nicht die juristische Kirchenzugehörigkeit. Das Buch des Lebens ist nicht mit der Kirchkartei identisch. Die Kirche hat von sich aus kein Interesse an Grenzziehungen zu anderen hin. Die Einteilung in Kerngemeinde und Randsiedler ist fragwürdig, Kirchenzucht an Konventionschristen notwendig mißverständlich und nur sinnvoll in einer Gruppe, die bereits als Dienstschar konstituiert ist, besonders also bei den kirchlichen Amtsträgern.

VIII Die Gemeinde Jesu Christi ist eine c h a r i s m a t i s c h e G e m e i n s c h a f t , die für ihren Dienst in der Welt die jeweils erforderlichen Gaben erhält. Der Dienst der Versöhnung - die diakonia tes katallages (2. Kor. 5,18) - ist der ganzen Gemeinde überantwortet. Dieser Dienst ist das eine der Kirche anvertraute Amt, an dessen Wahrnehmung alle Glieder des der Welt dienenden Christusleibes aufgrund der ihnen gemeinsamen Taufe, zufolge und 131

nach dem Maße ihres je besonderen Charisma oder kraft konkreter Berufung auf verschiedene Weise beteiligt sind. Das eine Amt der Kirche ist funktional aufgegliedert und differenziert in verschiedene Gestalten, von deren keiner gesagt werden kann, sie sei für sich genommen das eine Amt. Eine besondere Gestalt des der Kirche gegebenen und aufgegebenen Amtes sind diejenigen Dienste, die auf die Gesamtgemeinde ausgerichtet sind, die in der Bewahrung der apostolischen Überlieferung ihre besondere Aufgabe haben und deren Aufgabe es ist, die Gemeinde instand zu setzen für den von ihr wahrzunehmenden Dienst (Eph. 4 , l l f . ) . Eine Ausprägung dieser besonderen Gestalt des einen Amtes ist das des Hirten, das bei Paulus weder das Privileg der Wortverkündigung, noch das der Sakramentsverwaltung, noch das der organisatorisch-rechtlichen Leitung der Gemeinde einschließt, noch erkennbarerweise auf Lebenszeit übertragen wird. Die Gemeinde ordnet das ihr anvertraute eine Amt jeweils so, daß es maximal ausgerichtet werden kann. Merkmale der heute notwendigen Ordnung: 1. Abbau der Gleichsetzung des Pfarramtes mit dem einen Amt der Kirche. Abbau des Denkeins in der Kategorie von „Hirt und Herde", das die Vorstellung des ständigen Gegenübers des Pfarrers als des immer nur Gebenden zur Gemeinde als der immer nur Empfangenden und bleibend auf Betreuung, Versorgung und Leitung durch den Pastor angewiesenen, fest umgrenzten und unter sich bleibenden Schar suggeriert. 2. Berücksichtigung der Erfordernisse missionarischer Gemeinden in den kirchlichen Ausbildungsstätten (Einübung in Gruppenarbeit, Probleme der Kooperation und Koordination usw.). 3. Entdeckung der vorhandenen, wegen Nicht-Inanspruchnahme verkümmerten Charismen und deren Indienstnahme und damit Abbau der pastoraleii Betreuungsstruktur und des Gemeindeaufbaus „von oben", der dauernden Gefährdung der Gemeinde bei einem Pfarrerwechsel. 4. Zurüstung der „Laien" nicht als Hilfsmannschaft des Pfarrers für kirchliche Innenfunktionen nach Dienstschluß, sondern zu Boten und Werkzeugen Jesu Christi in den Sachbereichen der Welt.

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Die Kirche für andere Der Ertrag der ökumenischen Diskussion über die Frage nach Strukturen missionarischer Gemeinden* Die Frage nach Strukturen, die dem missionarischen Charakter der Gemeinde Jesu Christi entsprechen, ist aus der ökumenischen Studienarbeit über die Evangelisation erwachsen. Alle Beschäftigung mit dem Problem der missionarischen Verkündigung stieß immer wieder auf das Problem der Gemeinde und führte zu der Frage nach den Gründen für die ihr offensichtlich fehlende Bereitschaft und Fähigkeit zum Aufbruch mit dem Evangelium. Als entscheidender Grund wurde „die überkommene Struktur der Gemeinde" sichtbar, „die sie daran hindert, Werkzeug der Verkündigung zu sein" und die „auch die geistliche Erweckung der Gemeinde unmöglich zu machen scheint". 1 Damit war die Frage nach missionsgemäßen Strukturen der Gemeinde gestellt, deren Untersuchung die Dritte Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen 1961 dem Referat für Fragen der Verkündigung auftrug. 2 Es ist wichtig, sich diese Genese vor Augen zu halten; denn damit ist jedem etwaigen Verdacht, man erwarte jetzt offenbar von Strukturwandlungen, was man dem verwandelnden Wort nicht mehr zutraue, von vornherein der Boden entzogen. Man ist vielmehr gerade bei der Beschäftigung mit den Fragen der Verkündigung auf den elementaren Zusammenhang mit dem Strukturproblem gestoßen3 und hat entdeckt: Es gibt offensichtlich Strukturen, die dem Wort den Zugang zur Gemeinde, der Gemeinde den Zugang zu den anderen und den anderen den Zugang zur Gemeinde erschweren oder gar verunmöglichen. Die Gemeinde predigt nicht nur mit ihrer Verkündigung, sondern auch mit ihren Strukturen, und diese können sich geradezu gegenmissionarisch auswirken. * Abgedruckt in: Herbert T. Neve / Werner Krusche, Quellen der Erneuerung. Ökumenischer Rat der Kirchen, Genf 1968. Englisch: Herbert T. Neve, Sources for Change. Searching for flexible Church structures. WCC, Geneva 1968. 1 Salz der Erde. Eine theologische Besinnung über die Evangelisation, Genf 1963 2 , S. 55 f. 2 Neu-Delhi 1961, hrsg. v. W. A. Visser't Hooft, Stuttgart 1962, S. 211. 3 Mission als Strukturprinzip. Ein Arbeitsbuch zur Frage missionarischer Gemeinden, hrsg. v. H. J . Margull, Genf 1965. Für dieses Arbeitsbuch, dessen Titel dem Thema des Aufsatzes von S. 109 ff. nachgebildet wurde, wird im folgenden das Sigel MSt verwendet.

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Wir stehen am Ende der ersten Runde des 1963 aufgenommenen weltweiten Gesprächs. Der breite Widerhall, den die Einladung zur Beteiligung a n diesem Gespräch gefunden hat, die Intensität und theologische Leidenschaft, in der es geführt worden ist, macht die Virulenz der verhandelten Frage sichtbar. Dieses Gespräch haben Menschen geführt, die voll Unruhe und Scham über den Wirklichkeitsverlust der Kirche sind, denen es schwer zu schaffen macht, daß die Kirche mit dem ihr anvertrauten Evangelium von der Versöhnung so wenig ausrichtet und daß sie so abseits der entscheidenden Vorgänge und Zusammenhänge, die das Leben der Menschen bestimmen, ein insulares, in sich selbst verschlossenes und vollauf mit den eigenen Problemen beschäftigtes Dasein fristet. Die wichtigsten Beiträge dieses Gesprächs finden sich in den Publikationen des Referats für Fragen der Verkündigung unter dem Titel CONCEPT und in dem Sammelband „Mission als Strukturprinzip". Nachdem ein so breites Material vorliegt, ist es zweifellos der richtige Zeitpunkt, daß der Lutherische Weltbund sich mit dem bisherigen Ertrag dieser ökumenischen Diskussion eingehend befaßt. Natürlich kann man darauf hinweisen, daß sich die lutherischen Kirchen bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren intensiv mit der Frage des missionarischen Gemeindeaufbaus beschäftigt haben. In der Tat: es ist gründlich über Volksmission, Haushalterschaft, Besuchsdienst nachgedacht worden. Es braucht für die Arbeit, die in der lutherischen Kirche geleistet worden ist, nur auf die Spandauer Thesen über „Die missionierende Kirche" von 1958 und die diese Gedanken weiterführende Schriftenreihe „Missionierende Gemeinde" hingewiesen zu werden.4 Hier sind ganz ohne Zweifel viele brauchbare Erkenntnisse gewonnen worden. Aber gerade ein Vergleich dieser unter dem Stichwort „missionarischer Gemeindeaufbau" unternommenen Bemühungen mit der ökumenischen Studie läßt den Unterschied in Ansatz und Zielrichtung deutlich hervortreten : Die Bemühungen unter der Losung „Missionarischer Gemeindeaufbau" lassen sich folgendermaßen charakterisieren: a) ihr Ausgangspunkt ist die vorhandene (Orts-) Gemeinde mit ihren überkommenen Strukturen und ererbten Sammlungsformen; man versucht, durch Verbesserungen innerhalb dieser alten Strukturen - durch Intensivierung und Aktivierung der in ihnen liegenden Möglichkeiten - das missionarische Moment zum Zuge kommen zu lassen (sinnvollere Aufgliederung der Gemeinde, zweckmäßigere Aufgabenverteilung, aktuellere Themengestaltung, attraktiverer Stil); b) es wird von innen nach außen gedacht unter der Frage : Wie erreichen wir die der Kirche EntDie Spandauer Thesen und eine Handreichung dazu finden sich in der Schriftenreihe „Missionierende Gemeinde", H. 1, Berlin 1961. 4

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fremdeten mit dem uns anvertrauten und bekannten Evangelium? c) es wird vom Amt her zu den Laien hin - also pastoral - gedacht unter der bezeichnenden Frage : „Was kann der Pfarrer an Gemeindeglieder abgeben?" d) das direkte Aktionsziel ist die Rückgewinnung verlorenen kirchlichen Terrains, die Re-Integration der der Kirche Entfremdeten in das Leben der Gemeinde. - Demgegenüber hat die ökumenische Studie von vornherein „sehr weit ,draußen'" 8 angesetzt, nämlich bei der Frage nach der sich wandelnden Welt und den in ihr lebenden Menschen, für die die Kirche dasein soll. Man könnte Ansatz und Duktus der ökumenischen Studie etwa so charakterisieren: a) Ausgangspunkt ist nicht die Gemeinde mit ihren vorhandenen Strukturen und damit die Fragestellung: Was ist zu tun, damit das Moment des Missionarischen - wenn es schon nicht strukturbildend war - gestaltungswirksam werden kann?, sondern Ausgangspunkt ist die Frage: Was will der Herr heute in der sich wandelnden Welt von seiner Gemeinde konkret getan haben, und wie müßten Strukturen einer Gemeinde aussehen, die dieser Aufgabe gehorsam sein und damit auf die Herausforderungen ihrer Zeit eingehen möchte? b) es wird nicht einlinig von innen nach außen, sondern korrelativ, dialogisch gedacht, also nicht unter der Frage: Wie bringen wir das uns bekannte Evangelium von der Versöhnung zur Welt?, sondern: Wie sieht die Welt aus, für die das Evangelium von der Versöhnung bestimmt ist, und wie muß das Evangelium aussehen, damit es für sie relevant wird? c) es wird nicht gefragt, welche innergemeindlichen Aufgaben der Pfarrer den Gemeindegliedern abtreten könne, sondern welche Funktion der Pfarrer im Blick auf die weltlichen Aufgaben der Gemeindeglieder haben könnte; d) das Ziel wird nicht unter der Fragestellung anvisiert: Wie können wir Menschen in die vorhandene Kirche integrieren?, sondern unter der Frage: Wie können wir Menschen die Chance zu einer frischen, eigenwüchsigen Antwort auf das Evangelium geben, ohne sie der Gesellschaft zu desintegrieren?6 Es geht also in der ökumenischen Studie nicht bloß um den Ruf nach ein paar neuen Aktivitäten oder gewissen Strukturen unserer Kirchen, sondern um eine tiefgreifende Umorientierung des Denkens und Planens.7 Nach dieser groben Kennzeichnung des Charakters der ökumenischen Studie auf dem Hintergrund dessen, was sonst unter dem Stichwort „missionarischer Gemeindeaufbau" läuft, ist es meine Aufgabe, ihre hauptsächMSt 5. « Ebd., 196f. The Church for others. Final report of the Western European Working Group. CONCEPT, Speziai Issue 11, Genf 1966. - Im folgenden wird dieser Bericht mit dem Sigei C zitiert. 5

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lichen Gedanken präzis in unser Blickfeld zu rücken - ich tue das in der Entfaltung einer Anzahl von Thesen, denen ich ein Stichwort voranstelle - , um dann in einem kürzeren zweiten Teil kritisch dazu Stellung zu nehmen.

I 1. Nicht Mission der Kirche, sondern Mission Gottes T h e s e : Mission wird nur da recht verstanden, wo als ihr theologischer Ort nicht die Ekklesiologie, sondern die Gotteslehre erkannt wird. Mission ist nicht eine Funktion der Kirche, sondern Kirche ist eine Funktion der Mission Gottes. Gott ist als ein missionarischer Gott nicht einfach der Initiator der Mission der Kirche, sondern er will die Mission der Kirche an seiner Mission beteiligen. Die Kirche hat sich in ihrer Sendung an seinem Gesandten - an Jesus Christus, dem Missionar - zu orientieren. Daß Mission nicht sekundär zur Kirche hinzukommt als eine Aufgabe, die die Kirche außer ihren sonstigen Aufgaben zusätzlich auch noch zu erfüllen habe, die sie aber notfalls auch unterlassen könnte, ohne deswegen aufzuhören, Kirche zu sein, ist überall anerkannt. Die Kirche ist missionierende Kirche, oder sie ist keine Kirche. 8 Aber der Begriff der „missionierenden Kirche" ist nicht eindeutig: er könnte bestimmt sein von der Vorstellung, daß die Kirche Subjekt der Mission und also Mission ein Handeln der Kirche sei - typische Redeweise für diese Vorstellung: „Die Kirche treibt Mission." Wo aber Mission als Mission der Kirche verstanden ist, als ihre Lebensäußerung, ist damit unvermeidlich die Auffassung verbunden, daß Mission zwar eine lebensnotwendige Aufgabe der Kirche sei, daß die Kirche außer der Mission aber auch noch anderes zu tun habe; daß Mission zwar wesensmäßig zur Kirche gehöre, daß aber sie allein nicht das Wesen der Kirche ausmache. Wo von der Mission als einer Funktion der Kirche ausgegangen wird, ist natürlich eine Definition der Kirche als Mission unsinnig; denn die Kirche kann ja nicht in einer ihrer Funktionen aufgehen. Mission kann immer nur ein Aspekt der Kirche sein. Im bewußten Gegensatz zu dieser Auffassung von „missionierender Kirche" definiert die ökumenische Studie die Kirche als Mission. Die Kirche treibt nicht Mission, sondern sie ist Mission bzw. ereignet sich in Mission.· Dieses Verständnis 8 Missionierende Gemeinde, H. 1, S. 58. Fast wörtlich ebenso bei G. C. Vicedom Missio Dei, München 1958, S. 13. 9 Salz der Erde, S. 17.

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der Kirche als Mission ergibt sich daraus, daß die ökumenische Studie nicht von der Mission der Kirche, sondern von der Mission Gottes (missio Dei) ausgeht - und zwar nicht nur im Sinne eines Hinweises auf Gottes zuvorkommende Initiative (Gott als der große Erfinder und Beweger der von der Kirche betriebenen Mission), sondern so, daß Mission ein Prädikat Gottes ist. Gott ist ein „missionarischer Gott". „Er wirkt selber und macht sich selbst bekannt durch seine alles umfassende Sendungsökonomie."10 In diese in der Sendung des Sohnes und des Geistes zentrierten und auf die Zusammenführung aller Dinge in Christus (Eph. 1,10) zielenden Mission Gottes11 ist die Kirche von vornherein einbezogen, ohne daß die missio Dei etwa in ihr aufginge oder sich ausschließlich durch sie vollzöge.12 Die missio Dei als Zuwendung Gottes zur Welt ist nicht einzuschränken auf die Kirche, sondern ist über die Kirche (und ihre Missionen) hinaus wirksam in den Geschichtsbewegungen, durch die Gott die Welt seit Anbruch der messianischen Zeit ihrem in der Schöpfung gewollten Ziele zutreibt.13 Die Kirche „ist Gottes Mission an die Welt", 9 aber Gottes Mission ist nicht einfach identisch mit der sich als Mission verstehenden und in Mission (bzw. Missionen) tätigen Kirchen, sie geht nicht darin auf, sondern ist viel umfassender. Die Kirche steht in der missio Dei, ist an ihr beteiligt, folgt und dient ihr; ihre Mission ist (bzw. ihre Missionen sind) zu verstehen als unter den Herausforderungen durch die jeweilige Gegenwart entstehende Formen des Gehorsams gegenüber der missio Dei.14 Dieser Ansatz bei der missio Dei in ihrer Unterschiedenheit von und ihrer Vorordnung vor der Mission (bzw. den Missionen) der Kirche bestimmt entscheidend die ganze ökumenische Studie. Als durchgängig anzutreffende Konsequenzen dieses Ansatzes lassen sich stichwortartig nennen: a) die Hochwertung der Geschichte: Ist Gott in seiner missio, in seiner Zuwendung zur Welt, nicht nur durch die von ihm gesendete Kirche, sondern darüber hinaus auch in den geschichtlichen Prozessen tätig, in denen er, der die Welt durch Christus geschaffen hat und sie durch ihn regiert, die Welt seinem Heil zuführt, so wird Geschichte zum primären Kontext der Kirche-in-Mission und bedeutet ihre Teilhabe an der missio Dei : Eintreten MSt 33, 25. Vgl. schon: Salz der Erde, S. 18. 11 MSt 41; C 26. Ebd., 35: „In keinerlei Hinsicht kann sich die Kirche entweder als Subjekt von Mission noch als deren einzige (und ausschließliche) institutionelle Form verstehen." 13 C 12: „Hence the missio Dei is at work beyond the churches (and various missions). It embraces both church and world. The churches serve the missio Dei in the world when, on the basis revelation, they point to God at work in world history." Vgl. fast wörtlich MSt 42 ; ferner C 10. « C 10; MSt 41. 10 12

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in die Partnerschaft mit Gott in der Geschichte, Bezeichnen des Wirkens Gottes im Weltgeschehen auf der Grundlage der Offenbarung16 (vgl. Thesen 3-5) ; b) die Zweitrangigkeit der Kirche: Ist die missio Dei Gottes Weltzuwendung und geschieht sie nicht ausschließlich durch die Kirche, so spielt die Kirche zwar eine notwendige und unersetzbare, aber nur eine sekundäre Rolle; 16 sie ist nur Werkzeug der missio Dei, aber in keinem - auch nicht in einem vorläufigen - Sinne deren Ziel. „Mehr Kirche!" ist das falsche Ziel der sich als Subjekt von Mission mißverstehenden Kirche. 17 Es ist geradezu der Grundtenor der ganzen ökumenischen Studie, einer Überbewertung der Kirche zu wehren, es zu bestreiten, daß sie einen eigenen selbständigen Stellenwert habe (vgl. Thesen 2,5,6); c) die Offenheit für das Überraschende: Ist Gott und nicht die Kirche Subjekt der Mission, dient die Kirche mit ihrer Mission (bzw. ihren Missionen) der Mission Gottes, so ist das, was dabei als Ergebnis zu erwarten ist, nicht von vornherein wißbar, insofern Gott stets Neues und also Überraschendes schafft. Wird Mission dagegen als Mission unserer jeweiligen Kirche verstanden, so wird als ihre Frucht lediglich die Wiederholung des uns von unserer Kirche her bereits Bekannten erwartet und gibt es keine Offenheit für Ungewohntes und Ungewöhnliches18 (vgl. These 7) ; d) die Maßgeblichkeit der missionarischen Existenz Jesu : Ist die missio Dei das Handeln Gottes, in dem er durch die Sendung des Sohnes die Welt in, mit und unter ihren geschichtlichen Bewegungen ihrer heilvollen Bestimmung zuführt, so bedeutet das für die Kirche, die in ihrer Mission der Mission Gottes dienen will, daß sie ihr Leben „gemäß dem Messianischen", also orientiert an der missionarischen Existenz Jesu, gestalten muß, und das heißt praktisch, daß sie sich selbst entäußern, die forma servi annehmen und sich gerade um die Krisenherde in der Welt gruppieren muß19 (vgl. Thesen 3 u. 5).

2. Zentrum nicht die Kirche, sondern die Welt T h e s e : Gottes missionarisches Handeln richtet sich nicht primär auf die Kirche und durch sie auf die Welt, sondern es richtet sich primär auf die von ihm geschaffene Welt, die auch als von ihm abgefallene nicht aufgehört hat, seine Welt zu sein. Nur innerhalb dieser Polarität Gott-Welt hat die Kirche ihren C 10; MSt 34, 42. « MSt 117. 1 7 Ebd., 25. « Ebd., 26. Ebd., 35, 62, 8 7 ; ferner Colin W.Williams, Gemeinden für andere. Orientierung zum kirchlichen Strukturwandel, Stuttgart 1965, S. 36 ff. 15

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Sinn. Da Gottes Mission sich auf die Welt konzentriert, lebt die Kirche exzentrisch - als Paroikie der Welt. Das Reden von zentrifugaler oder zentripetaler Mission entspricht ekklesiozentrischem Denken. Die Welt ist nicht für die Kirche, sondern die Kirche ist für die Welt da. Der Ansatz bei der missio Dei, bei Gottes Zuwendung zur Welt, läßt als solcher durchaus offen, welche Rolle dabei die Kirche spielt. Die westeuropäische Arbeitsgruppe, die sich in der ökumenischen Studie besonderes Gehör verschafft hat, hat die Frage nach der Rolle der Kirche in der missio Dei entschieden durch die inzwischen zu einer Art Schibboleth gewordene Entgegensetzung der beiden Schemata Gott-Kirche-Welt und Gott-WeltKirche.20 Ihr zufolge ist bislang in dem ersten Schema gedacht worden: Gott bewegt sich durch die Kirche zur Welt. Er handelt zuerst an der Kirche und dann durch sie bzw. mit ihr zusammen an der Welt, so daß also die Welt das Objekt eines gemeinsamen Handelns von Gott und Kirche ist. In dem Barthschen Schema der zwei konzentrischen Kreise gedacht: Gott ist primär auf den inneren Kreis, die Kirche, bezogen, und erst mittels der Kirche auf den äußeren Kreis, die Welt. Aber dieses Schema verfälscht nach Meinung seiner Kritiker die biblische Beschreibung der Gott-WeltBeziehung: Es macht die Kirche zum Zentrum und die Welt zum Vorhof bzw. zur Paroikie der Kirche. In der Konsequenz dieses ekklesiozentrischen Denkens liegt die Vorstellung von der Mission als einer Bewegung von innen nach draußen, als Vorstoß aus dem Raum der Kirche in den Raum der Welt, aus dem Bereich des Glaubens in den Bereich des Unglaubens (zentrifugale Bewegung), um aus diesem Bereich Menschen in die Kirche hineinzumissionieren (zentripetale Bewegung). Als Gefahren dieses kirchenzentrischen Denkens, das die Gott-WeltBeziehung als eine durch die Kirche vermittelte ansieht, werden genannt: a) die Gefahr, Gott im wesentlichen an der Kirche interessiert und mit ihr beschäftigt zu sehen und damit sich selber für berechtigt zu halten, die Frage nach der Kirche als das zentrale Thema ansehen und die Frage nach der Welt nur beiläufig behandeln zu dürfen (aufgeblähte Ekklesiologie!); b) die Gefahr, Gottes Aktivität auf die Kirche zu beschränken, ihn also in der Kirche ansässig zu machen, so daß seine Aktivität in der Welt nicht mehr ist als die der Kirche selber; c) die Gefahr zu meinen, Gott beginne alle Veränderungen von innerhalb der Kirche zu den „Außenseitern" in der Welt, während Gott mit 20

Vgl. MSt 36, 121, 117, 184; C 12f.; J. Chr. Hoekendijk, Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft, Stuttgart-Berlin 1964, S. 118, 120 f.

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Israel doch oft durch seine Taten in Ereignissen von außerhalb redete (z.B. durch die Aktion des Cyrus oder der Babylonier) ; d) die Gefahr, daß die Bewegung vom vermeintlichen Zentrum zur Peripherie Mission zur Propaganda verfälscht, nämlich dazu, Menschen nach unserem Bild von einem Christen und gemäß unserer kirchlichen Ähnlichkeit formen zu wollen; e) die Gefahr, daß die sich als Mittler-Zentrum des Heils verstehende Kirche zur proselytierenden Kirche wird, als oikos, in den Menschen nur gelangen können, wenn sie aus ihrem weltlichen oikos emigrieren; f) die Gefahr, daß die sich in Mittelpunktstellung befindlich wähnende Kirche sich der Illusion hingibt, schon die Institutionen und Strukturen zu haben, die wir heute brauchen (von einigen innerkirchlich zu arrangierenden Verbesserungen natürlich abgesehen). Das Denken in diesem Schema ist darum entschlossen aufzugeben. Sachentsprechend ist das Schema Gott-Welt-Kirche: daß Gott primär auf die Welt bezogen, daß die Welt das Zentrum seines Handelns ist, zeigt schon die Voranstellung der „Welt"-Geschichte (Gen. 1-11) vor die Bundesgeschichte, besonders aber die Kardinalstelle Joh. 3,16 (ferner 2. Kor. 5,19; Kol. 1,17-21). Nicht ist also die Welt Paroikie, die unserem kirchlichen oikos hinzugetan würde, sondern die Kirche ist Paroikie, hinzugetan zu dem oikos der Welt. Die Kirche hat also nicht eine zentrale, sondern eine exzentrische Position; ihr wirkliches Zentrum liegt außerhalb ihrer selbst, nämlich in der Welt 21 „als Gottes bewegter Schöpfung und als Situation und Ziel seines Sendungshandelns".22

3. Kirche nicht der Welt gegenüber, sondern der übrigen Welt voraus, nicht im Gegensatz zu ihr, sondern in Solidarität mit ihr T h e s e : Die Kirche ist als Werkzeug der missio Dei der Teil der Welt, der die im Auferstehungstod Jesu Christi vollzogene Versöhnung ¿1er Welt erkannt hat und Christi universale Herrschaft bejaht. Diese Erkenntnis ist es, was die Kirche der übrigen Welt voraus hat. Ihre Distanz zur übrigen Welt ist also nicht ein ontisches Anderssein, sondern dieses erkennende Voraussein. MSt 36: „In unserer Arbeit für missionarische Strukturen werden wir immer wieder im Zentrum beginnen müssen, in der Welt." C 13: „Its real centre lies outside itself; it must live ,ex-centredly'." 22 So wird MSt 40 „ W e l t " definiert. 21

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Sie ruft der Welt darum nicht aus dem Gegenüber zu, daß sie ohne Christus verloren sei, sondern sie ruft der übrigen Welt von vorn zu, daß sie in Christus bereits gerettet ist, und lädt sie ein zu sein, was sie durch Christus schon ist. Sie ist nicht bestimmt vom Gegensatz zur Welt, sondern wird mit ihr solidarisch, ohne sich in ihr zu verlieren. Sie riskiert die hier lauernden Gefahren angesichts der für sie tödlichen Gefahr des Kontaktverlustes mit der Welt. Erst im Dialog mit der Welt lernt sie sich selber recht verstehen. Wo sich die Kirche von der Welt abgrenzen muß, geschieht es, um sich ihr besser zuwenden zu können. Ist die Kirche mit ihrer Mission beteiligt an der missio Dei, an Gottes Zuwendung zur Welt, so muß sie selber der Welt zugewandt sein. Sie kann diese ihre Zuwendung zur Welt freilich sehr verschieden verstehen und wahrnehmen. Die in der ökumenischen Diskussion stimmführende westeuropäische Arbeitsgemeinschaft ist der Auffassung, daß sich die Kirche bislang in ihrem Weltverständnis und ihrem Weltverhältnis einseitig von denjenigen neutestamentlichen Aussagen hat bestimmen lassen, die die Welt als den Ort der Feindschaft gegen Gott und sein Volk und als den Ort der Verlorenheit beschreiben. 23 Dementsprechend hat sich die Kirche entweder als Arche verstanden, die auf dem stürmischen Meer der Welt dahinzieht und außerhalb deren die Menschheit untergeht, so daß es nur eine Sicherheit gibt: aus der Tiefe in das Schiff der Kirche hineingefischt zu werden. Oder die Kirche ist angesehen worden als ein Heerlager und die einzelnen Christen als Soldaten des Herrn der Heerscharen, die von Zeit zu Zeit von ihren Palisaden ausbrechen, um möglichst viele aus der feindlichen Umgebung zu befreien. 24 Wiewohl Stellen wie 2. Kor. 6,14.i7; J a k . 1,27 dieses Verständnis ermöglichen, können sie nicht den Ausgangspunkt für das Nachdenken über die Kirche und ihr Verhältnis zur Welt bilden. Die Welt ist ja nicht nur der Ort des Aufruhrs gegen Gott, sondern sie bleibt trotz ihrer Auflehnung gegen ihn seine Schöpfung und das Gegenüber seiner Liebe. 26 Die dieser Liebe entspringende Sendung des Sohnes hat die Welt neu qualifiziert. In Aufnahme von Gedanken K . Barths und O. Cullmanns wird in der ökumenischen Diskussion behauptet, daß in den 23 Ebd., 120: „Die augenblickliche theologische Sackgasse ist das Resultat einer fehlgeleiteten Theologie, welche die Welt als Ort der Verdammnis und der Gefahr für die Kirche betrachtet. Diese .insulare' Betrachtungsweise bringt die Kirche dazu, wechselnd in die Verteidigung und in den Angriff zu gehen, also der Strategie von Rückzug und , Kreuzzug' zu folgen."

« C 13. MSt 121.

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Tod und die Auferstehung Jesu Christi die ganze Welt hineingezogen, daß dadurch die ganze Menschheit aus der Gefangenschaft herausgeführt und jeder Mensch zu einem Glied der neuen Menschheit gemacht worden sei.26 Die Kirche wird von daher mit Nachdruck als ein Teil der Welt (= Menschheit) definiert, und zwar als derjenige, der im Unterschied zu der übrigen Welt um die Versöhnung weiß, die universale Herrschaft Christi bekennt und sich der radikalen Umwandlung der Welt und ihrer Hinbewegung auf das endgültige Ziel zu bewußt geworden ist. 27 Kirche und Welt sind also nicht ontisch unterschieden. 28 Die Besonderheit der Kirche ist vielmehr die, daß sie dies alles weiß. Sie ist von der Welt - genauer : von der übrigen Welt - durch ebendiese cognitio unterschieden und ihr durch diese cognitio voraus - sie ist in diesem Sinne „Avantgarde ihrer Zeitgenossen". 29 Dieses cognitive Voraussein darf freilich nicht intellektualistisch verengt mißverstanden werden : Es schließt ein, daß sich die Kirche zuerst und allen voran umwandeln läßt und damit vorwegnimmt und vor-anzeigt, was Gott mit der Welt vorhat und worauf er mit ihr hinarbeitet. „Dieses Voraussein ist ihre Distanz zur Welt." Insofern sich in ihr ankündigt und abspiegelt, was Gott mit der ganzen Welt vorhat, ist sie das eschatologische Volk Gottes, Erstlingsfrucht der ganzen Schöpfung. 30 Ist die Kirche der erkennende Teil der durch Christus versöhnten Welt, so ist klar, daß sie dieser Welt nicht aus dem Gegenüber ihre Verlorenheit ohne Christus deutlich zu machen hat, sondern daß sie der übrigen Welt von vorn ihre bereits geschehene Rettung zu bezeugen hat. 31 Die Kirche kann dann also eigentlich der Welt nicht mehr zurufen: „Lasset euch versöhnen mit Gott!", sondern sie kann die übrige Welt nur einladen: „Seid, was ihr durch Christi Tod und Auferstehung längst seid! Lebt als Versöhnte!" Diese positive Wertung der Welt und das dementsprechende Verständnis von Kirche als Teil der Welt hat sich in der ökumenischen Diskussion durchEbd., 44f., 58; C 11. MSt 131, 118, 87; C 9f., 13. 28 Ebd., 69: Wo die Kirche als heilsvermittelnd verstanden wird, ist sie „nicht als ein Teil der Welt begriffen, sondern als ein grundsätzlich anderes Element". 28 Ebd., 88. 80 Ebd., 76, 131: Die Kirche „ist berufen, das Reich Gottes anzuzeigen und vorwegzunehmen, was sein wird. Sie ist . . . Spiegel und Verheißung der neuen Schöpfung, Zeichen und Zeugnis dafür, daß das Böse besiegt und die Gnade stärker ist als die Verdammnis". C 9, 34: „The Church is that segment of the world which reveals the final goal towards which God is working for the whole world. Herein is the glory of the Church." 81 MSt 76. 27

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gesetzt, wenn es auch an anderslautenden, die Diskontinuität von Kirche und Welt stärker betonenden Stimmen nicht ganz fehlt.82 Aber aufs Ganze gesehen, spielen die neutestamentlichen Aussagen über die Welt als den Inbegriff der Feindschaft gegen Gott so gut wie keine Rolle. Das hat offenbar zwei Gründe; einmal: man möchte dem ekklesiologischen Pharisäismus entgehen, der die Kirche als eine Art Enklave ansieht, die säuberlich von der gottfeindlichen Welt geschieden ist, während in Wirklichkeit diese Welt doch sehr kräftig auch in der Kirche anzutreffen ist. Und sodann und vor allem: die Aussagen über die Welt als Machtbereich des Teufels (1. Joh. 5,19; Joh. 12,31; 2. Kor. 4,4) sollen nicht den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses Kirche - Welt bilden, weil dann das Verhältnis der Kirche zur Welt von vornherein ausschließlich vom Gegensatz her und also Mission als Vorstoß in Feindesland mit dem Ziel von Geländegewinn verstanden werden müßte. Demgegenüber nimmt die ökumenische Studie als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Verhältnisses Kirche - Welt ein Verständnis von Welt, das diese als Gottes Schöpfung und damit als „verheißungsvolles Auftragsfeld des Menschen",33 als Gegenstand der Liebe Gottes und seiner Gnadenzuwendung, als unter der Herrschaft Christi stehend ansieht. Mission geschieht dann nicht aus dem Gegensatz zur Welt, sondern aus der Solidarität mit ihr.34 Sie ist in streng christologischem Sinne Identifizierung mit der Welt, also: Eingehen in ihr Versagen, ihre Not, ihr Leiden, ihre Sehnsucht, ohne in ihr aufzugehen und sich in ihr zu verlieren.36 Solidarität mit der Welt ist nicht möglich ohne offenen und demütigen Dialog mit ihr; in diesem Dialog ist die Kirche nichts anderes als Partner und hat sie mindestens ebensoviel zu hören und zu empfangen, wie sie zu sagen und zu geben hat.3® Daß hier für die Kirche die Gefahr von Verwischungen und Anpassungen lauert, wird durchaus gesehen, aber ebenso, daß Ebd., 123. Ebd., 122; C 29: We have to replace the neo-Platonic wordlessness, which sees the world as a foreign country and as being in a state of defiency, by a discipleship which is creative in its relation to the world . . . We need a fresh appreciation of the world as the creation of God." 32

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MSt 118; ähnlich C 9, 29. Ebd., 88: „Diese Identifizierung bedeutet, in ihrer streng christologischen Analogie, Kenosis ; wie Christus ganz für die Welt da war und sich erniedrigte und doch blieb, was er war, so bedeutet Kenosis der Kirche nicht, daß sie aufhört, das zu sein, was sie ist, oder sich einfach in die Welt zu verlieren. ,Wo es kein klares Leben gibt, kann es auch kein klares Zeugnis geben.'" 31 35



MSt 118; C 35.

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dieses Risiko eingegangen werden muß angesichts der für die Kirche wirklich und eigentlich tödlichen Gefahr des Kontaktverlustes mit der Welt und des Sich-Einrichtens in einer kirchlichen Sonderwelt mit einer nur den Eingeborenen verständlichen Sondersprache. 37 Was das Evangelium heute konkret sagen will, lernt sich nur im Kontext weltlicher Erfahrung. 88 Die Kirche, die aus dem Gegensatz auf die Welt zugeht, bringt es zu keinem Dialog mit der Welt; aber die Kirche, die sich auf den Dialog mit der Welt einläßt, gerät zu ihr in Gegensatz. Davon sagt die ökumenische Studie nicht eben viel, aber sie verschweigt es auch nicht. 39 In dem unvermeidlichen Konflikt mit der Welt bewahrt die Kirche ihre Besonderheit jedoch nicht durch eine sorgfältige Absonderung von der Welt, sondern dadurch, daß sie das die Welt beherrschende und ruinierende Gesetz der Selbstbehauptung - der Abweisung der Versöhnung - radikal durchbricht. Eine verweltlichte Kirche ist unfähig zur Mission. Sie bedeutet der Welt nichts mehr. Aber: verweltlicht ist eine Kirche eben nicht dann, wenn sie auf die Errichtung einer kirchlichen Sonderwelt verzichtet, „sondern wenn sie - u. U. gerade in ihren kirchlichen Sonderheiten - es macht wie alle Welt : sich um sich selbst sorgt, sich selber behauptet, alles zur Selbsterhaltung tut, sich selber rechtfertigt". 40

4. Kirche nicht abseits der Wandlungen der Geschichte, sondern verantivortlich verwickelt in die Wandlungen der Geschichte T h e s e : Durch die Mission Gottes - die Sendung des Sohnes in die Welt und die Ankündigung seines endgültigen Kommens - ist die Welt als eschatologische Geschichte qualifiziert worden und hat sie eine unumkehrbare Bewegungsrichtung nach vorn bekommen und damit eine unerhörte Positivität. Die Wandlungen der Geschichte sind kein zielloses Geschehen, sondern Transformationen unter der Herrschaft Christi auf seine Zukunft hin. Die Kirche hat in Wahrnehmung ihres prophetischen Amtes die Aufgabe, ihre Hoffnung für die Welt zu bezeugen und Christi befreiendes und einendes Werk in den geschichtlichen Bewegungen und gesellschaftlichen Prozessen zu entdecken und konkret zu be» Ebd., 113, 98 f., 89. 3 » Ebd., 175; C 19. » Ebd., 172, 75 f., 98, 72. 40 Vgl. W. Krusche, Das Missionarische als Strukturprinzip (in: Verantwortung. Zum 60. Geburtstag von Landesbischof D. Gottfried Noth, Berlin 1964), S. 136.

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zeichnen, wo es geschieht, um befähigt zu sein, verantwortlich - und das heißt kritisch und konstruktiv - sich am Weltgeschehen zu beteiligen. Wir sind bisher immer wieder auf das zentrale Anliegen der ökumenischen Studie gestoßen: auf die Betonung der Einheit von Gottes Handeln, die der Begriff der missio Dei zum Ausdruck bringen will. Gott handelt nicht auf je eigene Weise in Kirche und Welt als in zwei verschiedenen Räumen, hier, indem er durch Gesetz und iustitia civilis die Menschenwelt vor dem Chaos und der Selbstzerstörung bewahrt, um dort durch das Evangelium und den Glaubensgehorsam Menschen eschatologisch zu retten vor dem Gericht. Vielmehr ist Gottes Handeln eines, nämlich sein geschichtliches Handeln, mit dem er die Welt ihrem Ziele zu bewegt - der Zusammenführung aller Dinge in Christus, der Aufhebung aller Gegensätze und alles Widereinander, dem Schalom. Mit der Sendung des Sohnes ist in endgültiger Weise offenbar geworden, worauf Gott mit der Welt hinaus will, und hat er zugleich die Welt in eine nicht mehr rückgängig zu machende und nicht mehr aufzuhaltende Bewegung auf dieses Ziel zu versetzt. E r hat der Welt ein Vorn, eine Zielrichtung gegeben und sie damit als eschatologische Geschichte qualifiziert. Seit Christi Tod und Auferstehung hat die Welt ein unaufhaltsames Gefälle bekommen auf die endgültige Epiphanie Christi hin. 41 Seit Christus ist die Welt nicht nur in Veränderungen, sondern in der Verwandlung begriffen, die fortgesetzt vom Alten zum Neuen führt. Es ist Geschichte unter der Herrschaft Christi und darum positive Geschichte, Geschichte voll Zukunft. 42 Die Zukunft der Welt, das Reich Gottes, ist nicht ein die Geschichte radikal transzendierendes Geschehen. 43 Die Geschichte läuft nicht ihrem Ende, sondern ihrer Vollendung entgegen; die neue Welt bricht nicht in die Geschichte herein, indem sie sie abbricht, sondern sie bricht aus der Geschichte hervor, indem sie die verborgen wirksame Herr" 41 MSt 131: „Mit der Erhöhung Christi ist die Welt in die Endgeschichte eingetreten. Die Welt ist radikal verändert, ihrem Lauf ist eine von Grund auf neue Richtung gegeben, sie ist in Bewegung auf das Reich Gottes hin." S. 69 f., 40, 72 f., 7 4 ; C 10. 4 2 MSt 131: „Geheim, und ohne daß uns die Kontinuität erkennbar wäre, ist Geschichte der Welt positive Geschichte, weil Jesus Christus in ihr gegenwärtig ist und in ihr handelt." S. 40: „Die missio Dei, die ihre Mitte in Kreuz und Auferstehung Jesu hat, bringt das Weltgeschehen in die Krise; sie führt in der Geschichte fortgesetzt vom Alten zum Neuen." Ebd., 55, 73, C 10: „As God leads history out the old into the new, he creates hope, in the sense of an expectation of God in the transformation of the world for Christ's sake." 4 8 MSt 123: „Die Welt ist nicht gleichsam die Bühne, auf welcher das Drama der Erlösung stattfindet. Die Schöpfung ist nicht die Bereitstellung eines Zeitraumes für ein Zeit und Raum radikal transzendierendes Geschehen." Ebd., 28f., 99.

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schaft Christi offenbar macht. Der Begriff der gubematio mundi ist zur Bezeichnung des Geschichtshandelns Gottes unzureichend, insofern er die Vorstellung nicht ausschließt, daß Gott die Welt erhält und regiert lediglich im Sinne der Bewahrung vor der Selbstvernichtung und also der Bereitstellung eines Zeit-Raumes für seine besondere, für die „eigentliche" Geschichte der Rettung durch das verkündigte Evangelium. Es gibt nur die eine Geschichte, in deren Prozessen Gott ständig das Alte überwindet und das Neue verwirklicht. Die gubernatio mundi geschieht also als zielgerichtete transformatio mundi. 44 Es gibt hier eine zwar verborgene, aber nichtsdestoweniger tatsächliche Kontinuität und Teleologie des Geschichtsgeschehens, für das freilich geschichtsimmanente Begriffe wie Entwicklung, Fortschritt, Wachstum, Reife völlig unangemessen sind, weil es sich hier um ein Geheimnis handelt, für das uns die Begriffe fehlen und über das Jesus selbst nur in Gleichnissen sprechen konnte (z.B. im Gleichnis vom Sauerteig). 46 An eine geradlinige, glatte und aufweisbare Bewegung der Geschichte auf das Reich Gottes zu ist dabei nicht gedacht; vielmehr wird diese Bewegung als ein fortschreitendes, im Kampf gegen die Mächte sich durchsetzendes Ergreifen der Herrschermacht durch Christus verstanden. 4 ' Da die Kirche - im Unterschied zur übrigen Welt - Gott in den geschichtlichen Wandlungen am Werke weiß, kann sie den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nicht gleichgültig oder abwartend oder besserwisserisch oder gar mißtrauisch und ängstlich gegenüberstehen 47 und natürlich auch nicht in einem unkritischen Enthusiasmus. Die Bejahung der Herrschaft Christi bedeutet für sie die Übernahme kritischer und konstruktiver Verantwortung für die Welt. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung besteht zunächst in der Ausübung ihres prophetischen Amtes : Sie hat aufgrund der Offenbarung aufzuzeigen und anzusagen, wie und wo Gott am Werke ist in den geschichtlichen Bewegungen und gesellschaftlichen Vorgängen. 48 Daß dies ein gewagtes Unternehmen ist, weiß man in der ökumenischen Studie durchaus „denn in jedem Ereignis sind göttliche und dämonische Kräfte am Werk" 4 9 -; MSt 90, 100, 132; vgl. Anm. 42. « Ebd., 70, 73, 131 f. " Ebd., 73. 47 C 10: „To say ,yes' to the movement of history does not mean to approve of everything nor does it mean keeping silence before the horrors and tragedies which mar human existence." « MSt 42; C9f., 12. *» Ebd., 46. 41

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man ist sich sogar darüber im klaren, daß „im Ernstfall... bestimmte Ereignisse oder Ideologien das Wort der Heiligen Schrift ersetzen" könnten 60 - die Warnung von Joh. Hamel ist also offenbar nicht überhört worden51 - , aber man meint, daß die Kirche nicht aus Furcht vor falscher Prophetie darauf verzichten dürfe, der Interpret von Gottes Geschichtshandeln zu sein.49 Voraussetzung dieser prophetischen Geschichtsdeutung ist die Gewißheit, daß Gott durch Christus und seinen Geist nicht nur intra, sondern auch extra muros ecclesiae wirksam ist. 62 Dabei wird in der ökumenischen Studie nicht eindeutig klar, ob die Wirkungen Christi und seines Geistes außerhalb der Kirche, in den geschichtlichen Veränderungen, als Auswirkungen des in und von der Kirche verkündigten Evangeliums zu verstehen sind, das bestimmte geschichtliche Entwicklungen und gesellschaftliche Prozesse ausgelöst hat und noch immer auslöst, ob es sich also um die weiterführende, eschatologische Kraft des „durch die Ritzen der Kirche gedrungenen Christus" (Hollenweger) handelt63 oder ob an ein unvermitteltes Wirken Christi und seines Geistes in der Geschichte gedacht ist. 64 Klar ist jedenfalls: Wenn Christus bereits jenseits der Kirche am Werke ist, so hat die Kirche-in-Mission nicht die Aufgabe, Christus zur Welt zu bringen, sondern ihn in der Welt zu entdecken, dann redet er zu ihr nicht nur im Gottesdienst, sondern auch in der Begegnung mit den Zeitgenossen und dem Gegenwartsgeschehen.65 Die Kriterien für die Entdeckung der Herrschaft Christi im Weltgeschehen werden gewonnen aus der Offenbarung: aus dem Leben des sich zum Diener des Menschen erniedrigenden Jesus, aus seinem am Kreuz und in der Auferstehung errungenen Sieg über die die Menschen versklavenden Ebd., 133. Ebd., 47 ff. 52 Ebd., 47: „Der auferstandene Christus handelt in souveräner Freiheit durch seinen Geist sowohl in der Kirche als in der Welt . . . Wir müssen ... positiv von den Werken Christi und des Geistes außerhalb der Kirche reden." Ebd., 118; C 8. M Ebd., 77, 74. 84 Ebd., 69: „Auf Grund einer fehlenden Lehre über den Heiligen Geist scheint es ... überall so zu sein, als ob Christus in der heutigen Welt nur durch das verbindende Glied von Kirche oder Bibel, Sakrament und Glauben handeln kann, womit Institutionen selber als Hüter der Sakramente oder des Buches zu Vermittlern werden . . . Wenn wir Christus ... allein an die Bibel und an eine Ewigkeit ketten, die Abwesenheit von der Welt und von der Geschichte bedeutet, so können wir ihn nicht dort erkennen, wo er in der Welt gegenwärtig ist." 66 Ebd., 148, 132: „Die Kirche gTüßt ihn (Christus) mit Freude und barmherziger Tat an denen, die ihn nicht kennen, und die, ohne es zu wissen, in seinem Dienst stehen und seinen Willen erfüllen." 60

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und entzweienden Mächte, aus der verheißenen Zusammenführung aller Dinge in Christus in der künftigen Polis. Dabei wird die Herrschaft Christi deutlich vom Kreuze her verstanden als die Herrschaft dessen, der die Zeichen des Karfreitag zu dem Kennzeichen seiner Herrschaftsausübung gemacht hat 88 (im ausgesprochenen Gegensatz zu der unter Konstantin ausgebildeten „politischen Christologie", die sich ihre Kriterien von dem nachirdischen, dem himmlischen Christus in Macht und Glorie holt 57 ). Die Kirche, die um die Herrschaft des gekreuzigten Christus weiß, nimmt ihre prophetische Aufgabe in der Weise wahr, daß sie der übrigen Menschheit ihre Hoffnung beieugt : Die prophetische Verkündigung ruft nach vorn, reißt Menschen aus der Resignation eines geschichtslosen Daseins, ermutigt sie zur Wahrnehmung von Verantwortung und steckt sie an mit Hoffnung.68 Diese prophetische Verkündigung geschieht freilich nicht nur in allgemein formulierten kerygmatischen Sätzen, sondern in ganz konkreten Hinweisen darauf, wo und in welchen Ereignissen und Entwicklungen das befreiende, versöhnende und einende Werk Christi geschieht und wo Unterwerfung anter falsche Autoritäten stattfindet. 59 Es sind vor allem drei Vorgänge, die als durch das Christusgeschehen ausgelöst anzusprechen und jeweils konkret zu bezeichnen sind: der Vorgang der Humanisierung (a), der Säkularisierung (b) und der Urbanisierung (c). a) Mit Jesus Christus ist ein humanisierendes Element in die Geschichte hinein entbunden worden. Sein Menschsein hat Folgen für die Menschheit in Richtung auf eine Vermenschlichung der Welt. 80 Wo darum Menschen Christen und Nichtchristen - sich unter Opfern einsetzen für den Menschen und sein volles Lebensrecht, wo sie den Kampf aufnehmen gegen alle unmenschlichen Praktiken und Tendenzen im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, da ist die lebenspendende Aktion Christi im Gange, wie umgekehrt in allen Formen der Vergewaltigung des Menschen der Tod am Werke ist. Heute geschehen Zeichen der Herrschaft Christi etwa in den Befreiungsbewegungen der Farbigen und im Kampf gegen den " Ebd., 70, 135 ; C 10; vgl. Anm. 23. Ebd., 93 f. 5 8 Ebd., 27: „Missiohist Hoffnung in Aktion . . . Mission kann nur recht beschrieben werden im Hinweis auf unsere Hofftrung, daß Gott das letzte Wort in dieser Welt hat und immer haben "wird. Diese Hoffnung muß inmitten der vielfältigen Versuchungen konkretisiert ^verdea, sie als hoffnungslos aufzugeben." Ebd., 34, 46. 59 C 8: „The Church may . . . scrutinize historical developments with open mind, realizing th'at in these developments it can discern subordination to false authority as toèll 'as traces'of èod -who is at work in the history of men." MSt 74. 57

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Rassenhaß, in den Bemühungen um die Entwicklung auf dem Lande, im Streben nach intellektueller Redlichkeit usw. 61 b) Das Evangelium von Jesus Christus hat einen Prozeß der Säkularisierung - der Entgötterung und Entzauberung und damit der Entsakralisierung der Welt - ausgelöst und damit ein Weltverständnis und Weltverhältnis ermöglicht, in dem die Welt als dem Menschen zur freien Erforschung und verantwortlichen Gestaltung und Indienstnahme übergebene S ach Wirklichkeit genommen wird. „Wo Welt Welt, Sache Sache, profan profan gelassen wird und damit der freien Verfügung des Menschen offenbleibt" - wo also die vom Evangelium ausgelöste Säkularisierung sich nicht verfestigt als Säkularismus - , wo immer in der Verwaltung der Welt Sachlichkeit der bestimmende Gesichtspunkt ist, „dort ist Christus am Werk" 6 2 . c) Die Zusammenfassung aller Dinge in Christus ist im Gange; die Geschichte bewegt sich auf das Ziel zu, das in der Vision der neuen Stadt -> Offb. 21 — umschrieben wird. In dem durch die zunehmenden Kommunikationsmöglichkeiten und den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch vorangetriebenen Prozeß der „Urbanisierung der Welt" sind die „Umrisse, der Neuen S t a d t " - wenn auch unklar - zu erkennen. 83 Durchbrechung von Schranken und Beschränktheiten entspricht dieser Bewegung auf die Stadt Gottes zu, in der die neue Menschheit wohnt. Dieses eben skizzierte prophetische Bezeichnen der geschichtlichen Bewegungen und gesellschaftlichen Vorgänge, in denen Christus extra muros ecclesiae wirksam ist, geschieht nicht aus theoretischem (geschichtstheologischem) Interesse, sondern in der sehr praktischen Absicht, der Gemeinde zu zeigen, daß sie ihren Gehorsam gegenüber Christus in der Form aktiver Beteiligung an den gekennzeichneten Bewegungen zu vollziehen habe,· 4 und zwar nicht nur in der Weise, daß die Glieder der Gemeinde als einzelne sich zu engagieren haben, sondern so, daß die Gemeinde auch korporativ in Aktion treten soll. 65 Würde sich die Gemeinde nicht in diese Entwicklung verwickeln lassen, so würde sie nicht nur ihren „Unglauben an die weiterführende, eschatologische Kraft des Christus intra muros ecclesiae dokumentieren", 8 2 sondern sich auch schuldhaft um die Verantwortung für den heilsamen Verlauf dieser Bewegungen drücken ; denn diese von Christus extra muros ecclesiae " C H ; vgl. MSt 44, 47 (Zitat). • 2 MSt 57; C 6ff. M Ebd., 45. " C l l ; MSt 46. «5 Vgl. die konkreten Hinweise C 15ff., vor allem die Punkte 6; 7, 10, 11.

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bewirkten Entwicklungen sind in Gefahr, sich zu verselbständigen und damit zerstörerisch zu entarten : (a) Das durch Christus in die Geschichte hinein entlassene Humanum kann nicht wieder aus ihr entfernt, aber es kann pervertiert werden. „Mächte des Unmenschlichen werden gerade bei den humanen Strukturen ansetzen und so das Gesicht der Welt zum Schlimmen verändern. Die Welt ist also auch böser, gefährlicher, abgründiger geworden, seitdem Christus, der neue Mensch, sich ihr hingegeben hat." 4 9 Die Gemeinde wird darum sich kühn auf Geschichte einlassen und dabei zugleich wissen, daß Mißerfolg nahezu unvermeidbar ist. (b) Die Säkularisierung ist durch das Evangelium ausgelöst, aber wo sie vom Evangelium iosgelöst wird, da wird die Freiheit gegenüber der Welt zu einer neuen Versklavung unter sakralähnliche Mächte67 verkehrt. Da der Prozeß der Säkularisierung durch das Evangelium ausgelöst ist, wird die Kirche die Probleme im Auge behalten müssen, die sich durch eine zunehmende Loslösung dieses Prozesses vom Evangelium ergeben. Es kann ihr nicht gleichgültig sein, wie der vom Evangelium losgelöste Prozeß weiterläuft. Es ist keine selbstverständliche Fähigkeit des Menschen, die Welt Welt sein zu lassen, sie als S ach Wirklichkeit zu nehmen. Die Kirche wird sich darum zu bemühen haben, den Zusammenhang zwischen einem sachlichen Verhältnis zur Welt und der Befreiung von den Dämonen durch Jesus Christus immer wieder aufzudecken. 68 (c) Das Fortschreiten weltweiter Kommunikationsmöglichkeiten und globalen Austausches kultureller und wirtschaftlicher Güter kann „zu massiver Mittelmäßigkeit führen". Hier bedarf es der „Mitarbeiter Gottes", die diese Entwicklung mitgestalten als Menschen, die um das Ziel der „Neuen S t a d t " wissen, in der die neue Menschheit wohnt.69 Weil die Kirche weiß, daß die Welt durch Christus irreversibel gewandelt und in beständige Wandlungen versetzt worden ist, und weil sie das Woraufzu dieser Veränderungen kennt, hat sie ihren Wandel in den Wandlungen der Welt und muß sie sich verantwortlich in die weltverändernden Entwicklungen verwickeln lassen. Diese aktive Teilnahme an den gesellschaftlichen Prozessen in der Zusammenarbeit mit Nichtchristen ist Dienst an der missio Dei und also selbst Mission. Der Begriff der Mission muß so ausgeweitet werden, daß er diese weltlichen Aktivitäten mit einschließt.70 So ist z.B. die Beteiligung an der Freiheitsbewegung im Süden der USA als „Beispiel für einen nicht-ekklesiastischen Versuch von Mission" anzusehen, als „Mission durch politisches Handeln". 71 ββ MSt 76. · ' Ebd., 109. " E b d . , 57; C 8. « Ebd., 45. ' · Ebd., 160. n Ebd., 41.

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5. Nicht Ausbreitung der Kirche, sondern Aufrichtung

des Schalom

T h e s e : Das Ziel der Mission Gottes ist nicht die weltumspannende Kirche, sondern der weltumspannende Schalom, das heile und erfüllte menschliche Miteinander in einer versöhnten Gemeinschaft, die endgültige Zusammenführung aller Dinge in Christus (Eph. I ß f . ) und damit die Verwirklichung des Schöpfungssinnes der Welt. Die Kirche-in-Mission dient der missio Dei, indem sie an der Errichtung des Schalom mitarbeitet, ohne daß der Gedanke an eine Vergrößerung ihres Einflusses oder ihrer Mitgliedschaft dabei eine Rolle spielen dürfte. Mission ist nicht gleich Missionierung. Die genannten Vorgänge und Bewegungen, in denen Christus extra muros ecclesiae am Werke ist, geschehen auf ein letztes Ziel zu: auf die Aufrichtung des Schalom, des „Reichsheiles" (Hoekendijk) 72 als auf den Endzweck der missio Dei. 73 Die missio Dei kommt zur Erfüllung in der „Verwirklichung der vollen Möglichkeiten der ganzen Schöpfung und ihrer endgültigen Versöhnung und Einheit in Christus", in der Überwindung aller Zertrennung und Feindschaft unter den Menschen74 und also in dem heilen Zusammenleben und Füreinanderdasein der Menschen in einer befriedeten Welt. Schalom ist der Inbegriff aller Gaben der messianischen Ära, die Zusammenschau aller Aspekte menschlichen Lebens in seiner vollen und gottgegebenen Reife, das Zusammensein von Barmherzigkeit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede, Güte und Fülle, des Menschen Heil und Gottes Ehre. 76 Das Ziel der missio Dei, der Schalom, ist also nicht einzuschränken auf den Frieden des einzelnen mit Gott, auf den „Herzensfrieden", den einer für sich genießt, sondern Schalom ist ein „vielfältiges soziales Geschehen", „ein Ereignis zwischenmenschlicher Beziehungen, eine Angelegenheit der Mitmenschlichkeit". 7 · Mit dieser Interpretation von Schalom als umfassendem Heil-Sein, das zugleich das Moment der Öffentlichkeit enthält, kann man sich durchaus auf das Alte und Neue Testament berufen. 77 So gewiß es diesen Schalom nur in Jesus Christus gibt, durch den Gott das Evangelium des Schalom hat verkündigen lassen (Act. 10,36; Eph. 2,17), 78 so gewiß ist

72

L. Chr. Hoekendijk, a.a.O., S. 120. '* MSt 34, 61; C 11. " C H ; C. W. Williams, a.a.O., S. 40ff. « C 11; MSt 61. 76 MSt 41, 35, 108 („ein gesellschaftliches Ereignis"). 77 Vgl. G. v. Rad/W. Foerster, Artikel „eirene", THWNT II, S. 404, 40ff.; 410, 36ff.; 412, 27ff.; 414, 4ff. 78 MSt 61.

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er nicht nur für die Kirche bestimmt und nicht nur in der Kirche zu finden.79 Und so gewiß der volle Schalom erst mit dem kommenden Christus kommt, so gewiß ist er doch nicht ein geschichtsjenseitiger Zustand, den wir ab-zuwarten hätten, sondern eine Hoffnungswirklichkeit, die wir tätig zu erwarten, auf die wir also in geschichtlichen Realisierungen hinzuweisen haben. „Das Evangelium zielt auf Schalom in der Veränderung der Welt."*0 Ist die Aufrichtung des Schalom - des Heiles und des Wohles der Menschen (beides gehört zusammen) - das letzte Ziel der missio Dei, so kann die Kirche, die in ihrer Mission der missio Dei dienen und an ihr teilhaben will, kein anderes Ziel haben wollen als ebendieses. Sie verwirklicht Schalom, indem sie ihn verkündigt, indem sie in ihrer Gemeinschaft an ihm partizipiert und indem sie an den Krisenherden, an den Zerreißstellen der Gesellschaft ihren Dienst am Zustandekommen von Schalom anbietet, 81 wobei gerade dieses letztere keinesfalls fehlen darf. Die Kirche hat nicht Schalom an Außenstehende abzugeben, sondern sie hat ihn zusammen mit den anderen zu finden und zu bilden. Die Frage, was für sie dabei herauskommt, was sie selbst von solchem Einsatz hat, hat dabei grundsätzlich auszuscheiden. 82 Eine Kirche, die Mission unter dem Gesichtspunkt der Selbstvergrößerung, der Sicherung oder Ausweitung von Ansehen und Einfluß betreiben wollte, als Investition, die sich später bezahlt machen muß, wäre zur Teilnahme an der missio Dei im Zustandebringen von Schalom gänzlich ungeeignet. Einsatz für den Schalom bringt das Risiko der Einbuße an Finanzen und Mitgliederzahlen mit sich, des Scheiterns von Experimenten, des Verlustes an Sympathie. 83 Apostolische Weltsendung und katholische Weltkirche sind nicht zur Dekkung zu bringen. Ist das letzte Ziel der missio Dei die Aufrichtung des Schalom, so sind die traditionellen Verständnisse vom Ziel der Mission daraufhin zu überprüfen, inwieweit ihre Intentionen der missio Dei heute dienstbar gemacht werden können: wird als Ziel der Mission die Einzelbekehrung angesehen, 79

C 11: „The Church is always tempted ... to think that shalom is only to be found within them (sc. the boundaries it draws round itself)." 80 MSt 41. 81 J. Chr. Hoekendijk, a.a.O., S. 120: „Inhalt des Apostolats ist es, Zeichen des Reichsheiles, des Schalom, aufzurichten, und seine Verwirklichung geschieht im Kerygma, der verkündigten Repräsentation des Schalom, in der Koirwnia, der korporativen Partizipation am Schalom, und in der Diakonia, der dienenden Demonstration des Schalom." Vgl. MSt 35. 82 C 15. 83 Vgl. den Abschnitt über „Kosten der missionarischen Existenz", MSt 214if. 152

so ist zu beachten, daß das Evangelium zwar die persönliche Antwort des einzelnen fordert und bewirkt, daß es aber - insofern es Schalom als soziales Geschehen bringt - die einseitige Sorge um das eigene Seelenheil verbietet, daß es den einzelnen also nicht von seinen Weltbeziehungen ab-, sondern ihn ihnen neu zuwenden will. - Wird das Ziel der Mission in der Gründung von Kirche gesehen, so ist zu bedenken, daß in der Antwort auf das Evangelium sich zwar Menschen in Kirchen sammeln, daß diese Kirchen aber in den weiteren Vollzug von Mission hineingenommen werden und daß die Früchte des Evangeliums sich nicht nur binnenkirchlich, sondern auch weltverändernd gestalten. 80 Die beiden Definitionen des Zieles von Mission als Einzelbekehrung und als Kirchengründung sind nicht falsch, aber sie sind zu eng, insofern in ihnen die mannigfaltigen Engagements von Christen in der Welt als Gehorsamsformen gegenüber der missio Dei nicht wirklich zum Tragen kommen. Eine am Ziel der missio Dei - der Aufrichtung des Schalom - orientierte Definition des Zieles der Mission der Kirche muß zum Ausdruck bringen, daß Mission nicht eine Aktion zur Selbstausweitung der Kirche, zum Einbringen eines Stückes Welt in die Kirche ist, sondern Öffnung der Kirche zur Welt hin mit dem befreienden Evangelium des Schalom. 84

6. Nicht Integration in die vorhandene Kirche, sondern Erwartung neuer Kirche T h e s e : Die Mission der Kirche geschieht als Teilnahme an der missio Dei zwar nicht in der Absicht und mit dem Ziel, Menschen für die Kirche zu gewinnen und sie der Kirche einzuverleiben, aber die Kirche-in-Mission hat die Zuversicht, daß Gott ihr Zeugnis und ihren Dienst dazu benutzen kann, Menschen zum Glauben an das Evangelium und zur Gemeinschaft im Namen Jesu zu bringen. Die Kirche wird sich davor hüten, diejenigen, die dem Evangelium geantwortet haben, so schnell wie möglich in ihren überkommenen Sammlungsformen zu vereinnahmen, sondern wird vielmehr in Geduld dem Heiligen Geist die Freiheit lassen, sie zu neuen - vielleicht sehr ungewohnten und ungewöhnlichen - Formen zu führen, in denen sie ihren Glaubensgehorsam aus-leben können. In der ökumenischen Studie wird immer wieder die Befürchtung ausgesprochen, alle Reformen und Aktivitäten, die die Kirche heute unter der Firmierung „Mission" unternimmt, könnten letztlich doch wieder nur darM

C 32.

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auf hinzielen, möglichst viele Menschen auf die normalen Kirchenbänke zu bringen ; die vollen Kirchen früherer Zeiten könnten das heimliche (wenn auch nie zugegebene) Ziel sein, auf das nicht nur der ganze sogenannte „missionarische Gemeindeaufbau", sondern auch die radikaleren Bestrebungen in Wirklichkeit hinauslaufen. Es sei die fatale Vorstellung leitend, daß dem Reiche Gottes am besten gedient sei, wenn es uns gelingt, möglichst viele Leute zu gewissenhaften Kirchgängern und treuen Teilnehmern an kirchlichen Veranstaltungen zu machen.88 Wo Mission unter der Frage geschieht: „Was müssen wir tun, damit sie (die Entfremdeten) wieder kommen? Wie bringen wir den Sonntag früherer Zeiten mit seinen vollen Kirchen zurück?" 88 , wo der Erfolg von Mission an steigenden Mitgliedsoder Gottesdienstbesucherzahlen oder an wachsender Teilnahme an binnenkirchlichen Aktivitäten gemessen wird, da wird Mission zur Propaganda verfälscht87 und mit Proselytismus verwechselt - dem Gewinnen von Überläufern. Wenn wir unsere Mission darauf richteten, daß sich die anderen uns anschließen, dann hätten wir in verhängnisvoller Weise übersehen, daß nicht die anderen sich uns, sondern daß wir uns ihnen entfremdet und entzogen haben,88 daß nicht sie aus der Kirche ausgewandert sind, sondern daß die Kirche nicht mitgewandert, sondern stehengeblieben ist. Ein einfaches Zurückholen der anderen in die Kirche, so wie sie jetzt ist, wäre Mission ohne Buße. Integration in die vorhandene Kirche würde - realistisch gesprochen - ja nicht nur heißen, daß der Integrierte sich den „verschiedenen Formen des denominationellen Chaos anzupassen" hätte, 89 sondern auch, daß er sich dem ihm fremden kirchlichen Milieu assimilieren müßte, was in den meisten Fällen einer Herauslösung aus seinem alten Milieu gleichkäme. Aber die biblische Fremdlingschaft ist nun eben einmal nicht identisch mit Milieuentfremdung, sondern wird im alten Milieu gelebt (1. Kor. 7,20f.). Für die Kirche, die ihre Mission als Teilnahme an der missio Dei versteht, ist die Frage, was geschehen müsse, damit Menschen Glieder der Kirche werden können, allenfalls zweitrangig. J a , es ist ernsthaft zu fragen, ob wir wirklich als letztes Ziel Gottes die Inkorporation aller Menschen in die MSt 197. So formuliert W. Hollenweger, Die Kirche der Zukunft - eine Realutopie (in: Reformatio, 15. Jg., H. 2, 1966, S. 92) die abzulehnende falsche Fragestellung. Vgl. auch C 5, 15. 87 MSt 36, 27. 8 8 Ebd., 112. 88 Ebd., 37. 95

86

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Kirche annehmen müssen.90 Wenn es stimmt, daß durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi alle Menschen schon zur neuen Menschheit gehören, kann ja doch der Satz „extra ecclesiam nulla salus" nicht mehr gelten. 91 Die Zugehörigkeit zur Kirche kann dann nicht mehr heilsentscheidend sein. Aber auch wenn die Kirche-in-Mission nicht mit sich selbst beschäftigt ist, so ist sie doch der zuversichtlichen Gewißheit, daß Gott ihr Zeugnis und ihren Dienst dazu benützen wird, daß Menschen dem Evangelium antworten werden und dabei Gemeinschaft im Namen Jesu entstehen kann (oder sogar: entstehen wird). Die Entstehung von Kirche ist dann aber eben nicht direkt angegangenes Aktionsziel, sondern in Geduld erwartetes Hoffnungsziel. Diese Geduld der Hoffnung wird sich darin äußern, daß strikt alle Unternehmungen unterlassen werden, diejenigen, die das Evangelium angenommen haben, so schnell wie möglich der vorhandenen Kirche einzugliedern und sie in ein überkommenes kirchliches Schema hineinzudrängen. „Weil wir in unserer Mission an der Mission Gottes teilhaben, sollten wir in zuversichtlicher Hoffnung - erwarten, daß Menschen neue, vielleicht beispiellose, Formen finden werden, ihren Gehorsam gegenüber Gott auszudrücken." Gegenüber allem Proselytismus, der nicht warten kann, „muß für die Freiheit plädiert werden, daß neue Gemeinschaften, die als eine Frucht von Mission enstehen könnten, die volle Möglichkeit haben sollten, ihr eigenes Leben zu gestalten". 92 Es gilt, offen zu sein für das, was der Heilige Geist an Neuem, Eigenständigem und Eigenwüchsigem hervorbringen will. Es ist die Testfrage an unser Verständnis von Mission, ob wir bereit sind, als Frucht von Mission eine Kirche je anderer, neuer Art zu erwarten und anzunehmen, 93 oder ob wir unser Schema von Kirche allgemein verbindlich machen wollen.

7. Nicht normative Ein-für-allemal-Strukturen, sondern flexible, differenzierte und kohärente Strukturen T h e s e : Die Kirche muß alle ihre Lebens-, Arbeits- und Organisations formen laufend daraufhin überprüfen, ob sie noch der missio Dei dienlich sind, 90

Ebd., 45 ; C 12 : „In the past... it had been held that God relates himself to the world through the Church in order to gather everyone possible from the world into the Church." 91 MSt 37: „Die proselytierende Kirche versteht sich selbst als das Mittler-Zentrum des Heils und extra ecclesiam nulla salus." Ba C 15; MSt 37. »» MSt 26.

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und sie, wenn nötig, verändern oder durch andere ergänzen bzw. ersetzen. Es gibt keine normativen, Strukturen

ein für allemal gültigen Strukturen ; normativ für alle

ist vielmehr ihre Tauglichkeit

für die missionarische

Bewegung.

In der Gesellschaft, in der heute die Kirche lebt, entsprechen flexible (α), differenzierte (b) und kohärente (c) Strukturen

dieser Norm.

Die Ortsgemeinde ist

nicht mehr länger in der Lage, den Menschen in all den verschiedenen Bereichen, in denen sich ihr Leben abspielt, dienen zu können, sondern nur noch in dem schmalen Bereich familiärer

und nachbarschaftlicher

Beziehungen.

Neben ihr oder an ihrer Stelle bedarf es einer Vielzahl funktionaler die in vollem Sinne als Gemeinde anzuerkennen sind. An die Stelleder alen Struktur müssen raumgemäße (zonale) Strukturen

Gruppen, parochi-

treten.

a) W i l l die Kirche in ihrer Mission der Mission Gottes dienen, so hat das einschneidende Konsequenzen für ihre Gemeinschafts-, Dienst- und Organisationsformen. Ist „Mission als Strukturprinzip" anerkannt, so muß das Moment der Weltzuwendung gestaltbestimmend und strukturbildend sein. Und da die „ W e l t " , der es sich zuzuwenden gilt, kein statisches Ordnungsgefüge ist, das sich überall und immer gleich bleibt, sondern sich in ständigen Umformungen bewegende Geschichte, und da sie also immer in der Gestalt je dieser Gesellschaft begegnet, muß die Kirche-in-Mission ihre Lebens- und Dienstformen immer im Eingehen auf „ i h r e " Welt, auf die jeweilige Situation der Gesellschaft gestalten, in die sie der Herr geführt und die sie als Herausforderung an ihre Liebe und ihre Phantasie anzunehmen hat. Ist Mission strukturbildend, so verlangt das von der Kirche die Bereitschaft, ihre Formen ständig daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie noch zur Ausrichtung des „Dienstes der Versöhnung" (2. K o r . 5,18) in der W e l t , in der sie lebt, tauglich sind.' 4 Formen, die die Kirche im Eingehen auf die Bedingungen einer relativ stabilen und einheitlichen Gesellschaft für ihre missionarische Wirksamkeit ausgebildet hat, können sich unter den Bedingungen einer mobilen und differenzierten Gesellschaft als missionsverhindernd auswirken. Die Kirche als Mission bedarf flexibler

Strukturen, mit

denen sie in der Lage ist, den jeweils gegebenen Situationen der Gesellschaft mit ihrem Zeugnis und ihrem Dienst zu begegnen. 96 Flexibilität der Strukturen schließt ein, daß sie immer provisorischen, transitorischen und nieM

C 10, 30, 14; MSt 199: „Alle kirchlichen Strukturen... sind ... danach auszuwerten, ob sie christliche Männer und Frauen befähigen, unterstützen und herausrufen können, so daß sie ihrem Amt eines dienenden Zeugnisses gerecht werden in jedem der zahlreichen Bereiche öffentlicher und privater Verantwortung, die in dem komplizierten Gebilde der modernen Großstadtwelt wahrgenommen werden müssen." MSt 223,163; C 17.

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mais definitiven Charakter haben. Die Kirche hat keine ein für allemal gültigen Strukturen für ihren Dienst und ihre Organisation eingestiftet bekommen; es kann daher auch nicht ihr Ziel sein, „an allen Orten und zu allen Zeiten ein institutionelles Schema zu verwirklichen, das ein für allemal gegeben ist". 98 Es ist „morphologischer Fundamentalismus", der das Festhalten an der überkommenen Gestalt der Kirche für Treue zu der einen und selben Kirche hält,97 während die Kirche gerade um ihrer Identität und Kontinuität willen sich unter dem Heiligen Geist wandelt entsprechend den Wandlungen des Lebens der menschlichen Gesellschaft.98 Flexible Strukturen sind „inkarnatorische Strukturen", so wahr der inkarnierte Christus die Gestalt einer sich wandelnden Welt annahm, ihr Gewand trug, ihre Sprache sprach, sich ihrer Ordnung unterstellte und ihre sozialen Probleme durchlitt.89 b) Müssen Strukturen missionarischer Gemeinden flexibel sein, so schließt Flexibilität unter den Bedingungen der heutigen Gesellschaft das Moment der Differenzierung ein. Strukturen einer missionarischen Gemeinde müssen differenziert sein, wenn deren Zeugnis und Dienst den Menschen in seinen verschiedenen „Bereichen", in denen er zugleich zu leben und zu arbeiten hat und in denen durchaus unterschiedliche Wertmaßstäbe gültig sein können, erreichen soll.100 Die herkömmliche Ortsgemeinde ist der Herausforderung durch die Gesellschaft, der die Gemeinde Jesu Christi heute ihren Dienst schuldig ist, nicht mehr gewachsen. Die Parochialstruktur war in ihrem Ursprung missionarisch entworfen, und die Kirche konnte in dieser Struktur missionarisch existieren, solange Wohn- und Arbeitswelt zusammenfielen, solange also die Parochie der „Ort" war, an dem sich das Leben der Menschen in seiner Ganzheit abspielte.101 Mit dem Fortschreiten der technischen Revolution hat sich die Welt des Menschen vielfältig differenziert in ein komplexes Gebilde hochgradig spezialisierter Lebensbereiche. Der „Ort", an dem sich heute das Leben der Menschen in seiner Totalität vollzieht, ist schon längst nicht mehr der Wohnort, sondern der „Raum", die „Region", also dasjenige territoriale Gebiet, „innerhalb dessen eine Bevölkerung in ihrer Mehrzähl in einem komplexen Verflechtungszusammenhang (network) von Bewe"« Ebd., 132, 63. « V g l . Mst 127 ff. ; C 14 f. •8 MSt 222. M Ebd., 63. 100 Ebd., 223, 210. Ebd., 224 f., 208.

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gung und Beziehung lebt und arbeitet" 102 (z.B. ein Großstadtraum, das Einzugsgebiet eines Industriekombinats, eine Stadt mit Dörfern). Erreichte die lokale Gemeinde einst die Menschen an dem „Ort", an dem sich ihr volles Leben in all seinen Vollzügen abspielte, der also ihren Lebens-Raum bildete, so bekommt die heutige Ortsgemeinde die Menschen nur noch in einigen ihrer vielfältigen Lebensbereiche zu Gesicht. Die territoriale Parochie ist heute einfach nicht mehr groß genug, um den Rahmen für die Ganzheit des Lebens hergeben, und sie ist nicht differenziert genug, um den Menschen in all den Bereichen dienen zu können, in denen sie heute ihr Leben leben.103 Will die Kirche heute die missionarische Intention, die der ererbten Struktur der Ortsgemeinde zugrunde liegt, aufnehmen, nämlich dem Ganzen des menschlichen Lebens zu dienen (und das muß sie!), so muß sie den Menschen an dem „Ort" erreichen, an dem er heute sein Leben als Ganzes vollzieht, der also heute seinen Lebens-Raum darstellt, eben in dem „Raum", der „Region" im oben bezeichneten Sinne. Die Gemeinde muß in der Tat einen „Ort" haben, also „Orts"-Gemeinde sein; aber dieser „Ort" ist heute eben nicht mehr der Wohnort, sondern der „Raum". 1 0 4 Das heißt aber, daß die parochiale Struktur durch raumgemäße (zonale) Strukturen ersetzt werden muß, daß also die grundlegende organisatorische Einheit der „ R a u m " ist 105 und daß es entsprechend der Differenzierung der Lebensbereiche in diesem „ R a u m " einer Vielzahl sehr verschieden gestalteter kirchlicher Dienste bedarf,106 in denen Christen, aus Wort, Sakrament und Gebet lebend, vom Evangelium her zu handeln und Antwort zu geben versuchen. Für solche Gemeinschaften hat sich in der ökumenischen Diskussion der Begriff „Kleine Gemeinden" durchgesetzt,107 nachdem die zunächst gebrauchte Bezeichnung „Paragemeinden" als falsch erkannt wurde,108 insofern sie die Normativität der traditionellen Ortsgemeinde zur selbstverständlichen Voraussetzung hatte, eine Voraussetzung, die in der ökumenischen Studie auf das entschiedenste bestritten wird.109 Die „Kleinen Gea * C 25; MSt 209, 225. 103 C 32 ; MSt 208. 1W MSt 225. w» Ebd., 208ff. ; C 24 f. 104 Darüber, welche verschiedenen Gestalten diese Dienste haben können, orientiert MSt 211f., 154f.; C 26. κ" MSt 160f., 224, 155f. ιοβ Vgl. H. J . Margull, Kleine Gemeinden (in : Anruf und Aufbruch. Festgabe für Günter Jacob, Berlin 1965), S. 184 ff. * » MSt 155; C 27.

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meinden" sind nicht als Sekundärformen oder als Übergangslösungen, sondern als Gemeinden im vollen ekklesiologischen Sinne anzusehen. Würde die Parochialstruktur weiterhin als normativ angesehen, so würde die Kirche immer mehr zu einer Insel werden, die abgeschnitten ist von den entscheidenden Vorgängen der Gesellschaft.110 Sie würde damit ihre Gaben für sich selbst gebrauchen und die „Kleinen Gemeinden" zwingen, ohne Unterstützung der Kirche und ohne sichtbare Einheit mit ihr zu existieren.111 Dabei wird in der ökumenischen Studie in keiner Weise abschätzig von den lokalen Gemeinden herkömmlicher Struktur gesprochen; ihre - freilich begrenzten - missionarischen Möglichkeiten werden gesehen,112 ihre Willigkeit zur Mission, die sich in ernsthaften Aktionen (wie etwa dem Besuchsdienst) äußert, wird durchaus anerkannt. Es wird freilich auch gesehen, daß diese missionarischen Unternehmungen immer wieder in der Enttäuschung enden müssen, weil die Ortsgemeinde die Last eines göttlichen Auftrags trägt, die sie beim heutigen Stand der Gesellschaft nicht mehr zu tragen vermag, und weil sie dies noch nicht in ihr Bewußtsein aufgenommen hat. U3 Und darauf, daß dieses letztere geschieht, wird alles ankommen. Der ökumenischen Studie schwebt also nicht die Auflösung der Ortsgemeinde vor, sondern sie zielt auf ihre Freisetzung zu dem ihr heute Möglichen und Gebotenen durch die Anerkennung der Tatsachen, daß sie in der heutigen Gesellschaft den Auftrag zur Mission nicht mehr allein auszuführen vermag und nicht mehr allein auszuführen braucht. „Wenn die Ortsgemeinde anerkennte, daß sie kein Monopol als Träger der ganzen Last des der Kirche gegebenen Auftrages hat, und wenn sie darauf vorbereitet ist zu akzeptieren, daß die neuen Gemeinden, die dazu bestimmt sind, der Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexität zu dienen, ebenso die Kirche sind, die die ursprüngliche Intention der Parochialkirche zu verwirklichen sucht, so wird sie befreit zu einem neuen und relevanten Leben... Wenn sie... dazu geführt werden kann, die neue Situation, der sie jetzt gegenübersteht, richtig einzuschätzen, so würde sie freigesetzt werden, ihren eigenen begrenzten C 23; MSt 163, 221. MSt 163. 112 Ebd., 141: Wir setzen voraus, „daß die bestehenden Gemeinden, so wie sie sind, einem nützlichen Ziel dienen. Sie ermöglichen, freilich in begrenzter Weise, kooperativen Gottesdienst, Predigt des Wortes, Verwaltung der Sakramente, ein gewisses Maß von Gemeinschaft, christliche Erziehung für Kinder und Jugendliche . . . Eine begrenzte missionarische Verkündigung individualistischer Art findet in ihnen statt, die in Beziehung zum privaten Leben des einzelnen steht." C 23. 110

111

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Wirkungsbereich anzunehmen, d.h. ihre Stellung (place) als eine Gestalt von Gemeinde unter anderen zu entdecken, mit bestimmten Funktionen, die in der Gesamtmission der Kirche von heute auszuführen sind." 114 Sie würde das Ausmaß an Aufgaben erkennen, die innerhalb ihres Aktionsradius anzugreifen sind.U6 Die Notwendigkeit der Differenzierung betrifft nicht nur die Gestalt der Gemeinde, sondern auch die Gestalt des der Kirche gegebenen Amtes. Das monopolistische AmtsmißVerständnis, wonach das eine Amt der Kirche identisch ist mit dem Amt des Pfarrers, ist entschlossen aufzugeben.11® Das der ganzen Kirche gegebene eine Amt muß sich entfalten in eine Vielzahl von Ämtern und Diensten, um in einer durch Differenzierung und Spezialisierung charakterisierten Gesellschaft sich an allen erforderlichen Stellen einsetzen zu können. Die traditionelle Unterscheidung von „Geistlichen" und „Laien" kann dabei nur als „Unterschied in der ,Art des Dienstes' (Congar) oder als sekundäre, nur funktional begründete Unterscheidung" verstanden werden.117 Jedenfalls ist der Laie nicht vom Pfarrer her zu definieren (als der Nicht-Ordinierte, der Nicht-Theologe, der nicht hauptamtlich Beauftragte), sondern Aufgabe und Stellung des Pfarrers muß in Beziehung zu den konkreten Erfordernissen des Laien als des „eigentlichen Missionars der Kirche in der Welt" beschrieben werden; er ist nicht allround-man, sondern Mithelfer, theologischer Ausbilder (enabler),U8 Die Laien sind nicht seine Helfer bei der Durchführung innerkirchlicher Aufgaben,119 sondern er ist ihr Helfer für ihre missionarische Aufgabe in der Welt. c) Daß die Bildung mannigfaltiger, der differenzierten Gesellschaft von heute angemessener „Kleiner Gemeinden" zur Unordnung und zu einer Bedrohung der Einheit der Kirche führen kann, wird in der ökumenischen Studie natürlich gesehen.120 Darum ist das dritte Merkmal von Strukturen missionarischer Gemeinden, daß sie kohärent genug sind, „um bei höchst verzweigten Diensten die je notwendige Einheit des Glaubens und Lebens in der Kirche zu gewährleisten".121 Es stellt sich also die Frage der Inte114 C 24; MSt 211. us C 24. " · MSt 135. Ebd., 165, 167. u e Ebd., 37, 148, 165; C 21. 118 Ebd., 191. Ebd., 155f.; C 27. m Ebd., 223.

16Ò

gration. Dabei scheidet für die ökumenische Studie der etwaige Gedanke, daß die „Kleinen Gemeinden" den bestehenden Ortsgemeinden integriert werden könnten, aus den obenerwähnten Gründen von vornherein aus. Die Integrationsstruktur wird vielmehr von dem „Raum" als der kleinsten territorialen Einheit ausgehen, in der heute missionarisch sachgemäß nämlich auf das ganze Leben der Menschen bezogen - gehandelt werden kann. Voraussetzung dafür ist, daß die verschiedenen Gemeindetypen im vollen Sinne als Kirche-in-Mission anerkannt werden und sich gegenseitig als solche anerkennen. Einheit der Kirche ist nicht gleich Einheitlichkeit. Trotz ihrer sehr großen Unterschiedlichkeiten haben die verschiedenen Gemeindetypen bestimmte, die Einheit der Kirche bezeichnende Gemeinsamkeiten : 1. Sie haben einen bestimmten Verantwortungsschwerpunkt in der Welt; 2. sie haben Weisen, die großen Taten Gottes in Christus zu feiern; Wort und Sakrament, in denen sich die Ganzheit der Kirche ereignet ; 3. sie haben Diener (Amtsträger) - ordinierte oder nicht-ordinierte ; 4. sie tragen Verantwortlichkeit gegenüber der Aufsicht (episkope), die durch ein Team bestehend aus Vertretern der verschiedenen Gemeindetypen - in einem bestimmten Raum ausgeübt wird.182 Integration heißt nicht nur, daß die verschiedenen Gemeindetypen einander zur Kenntnis nehmen und einander als Kirche-in-Mission anerkennen (die konfessionellen Unterschiede sind im Vollzug von Mission bedeutungslos*28), sondern auch, daß sie zueinander in Beziehung und in lebendigen Austausch treten - zu gemeinsamem Studium, gemeinsamer Beratung und Planung und zu gemeinsamem Gottesdienst. Wiewohl die einzelnen funktionalen Gruppen Gottesdienst halten werden, wo immer sie sich treffen, so ist doch der Gottesdienst der ganzen Kirche eines Gebietes notwendig, damit alle Gruppen einander in den Blick bekommen und ihrer Einheit und ihrer Einsetzung in die ganze Mission der Kirche gewahr werden. Diese gemeinsamen Zusammenkünfte sind auch deswegen erforderlich, weil sich für viele die Zugehörigkeit zu mehreren Gruppen notwendig machen wird. Am Schluß dieser These über die Strukturen missionarischer Gemeinden sei auf die in der ökumenischen Studie ausgesprochene Warnung vor einer Verabsolutierung von Konzeptionen - also auch der der raumgemäßen Integrationsstruktur - hingewiesen124 sowie auf die Feststellung, daß unsere Aufgabe nicht erfüllt ist, wenn wir einfach versuchen, alte Strukturen durch 122 12S 124

11

Ebd., 2 1 2 f . ; C 2 7 . Ebd., 3 8 ; C 28. Ebd., 208f.

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neue zu ersetzen ; denn dies wäre nichts anderes als die Ersetzung des traditionellen Mißverständnisses von Strukturen als zeitloser Ordnung durch eine utopische Fehlkonzeption von Struktur als neuer Ordnung für die Zukunft. 126 Damit ist aber nun nicht etwa am Schluß erklärt, daß die Frage nach den in unserer Zeit erforderlichen Strukturen missionarischer Gemeinden so ernst denn nun doch nicht zu nehmen sei. Es gibt Strukturen, die die Kirche daran hindern, der Mission Gottes in ihrer Ausrichtung auf die Ganzheit des menschlichen Lebens zu folgen - und die Strukturen der Kirche sind heute weithin von dieser Art (Komm-Struktur anstatt GehStruktur; Betreuungsstruktur anstatt Dienststruktur 126 ). Die Kirche darf nicht in Strukturen verharren, die die Gemeinde zum Schisma mit der Welt (dem gefährlichsten aller Schismen!) verführen und sie zu einer nach innen gerichteten, in einer von den entscheidenden Zusammenhängen des Lebens der Menschen abgeschnittenen kultischen Sonderwelt lebenden, das Evangelium nur für sich selbst genießenden Vereinigung machen.

II Ich habe versucht, die in der ökumenischen Diskussion sich abzeichnende Konzeption in ihren theologischen Zusammenhängen und ihren praktischen Konsequenzen darzustellen. Es ist ein in sich durchdachter, nach vorn orientierter, von der Unruhe der Liebe bewegter Entwurf, der eine ernsthafte theologische Überprüfung verdient. Es wäre ein Verhängnis, wenn man diesen Entwurf mit theologischen Richtigkeiten „erledigte", sich hochmütig der Beunruhigung durch ihn und der Auseinandersetzung mit ihm entzöge mit der Erklärung, es handle sich bei diesem Entwurf um das Werk von ein paar theologischen Freibeutern, die, von der Vision einer missionarischen Kirche berauscht, nach vorn flüchteten, für das Vorhandene nur ein paar lieblose Bemerkungen übrig hätten, die Kirche mit einer „Gemeinschaft von Menschen mit Pioniergesinnung" verwechselten und im Grunde nur das social gospel aufwärmten. Für die rechte Beurteilung der dargestellten Konzeption muß man sich klarmachen, daß sie sich theologisch nicht nach allen Seiten hin hat absichern wollen, um möglichst „unangreifbar" zu sein, sondern daß sie unüberhörbar - und darum notwendig mit einseitig gesetzten Akzenten das sagen möchte, was heute in der Kirche unabdingbar fällig ist. Dieses iae c 29. 162

1M

C 14.

Konzept will angriffig sein, will aus selbstverständlich gewordenen Denkgewohnheiten herausrufen und Anstöße zum Nach- und Umdenken geben, während es ganz sicher nicht den Text für eine dogmatische Analyse liefern will.127 Gleichwohl liegen diesem Entwurf natürlich ganz bestimmte theologische Prämissen zugrunde, die sichtbar gemacht und auf ihr biblisches Recht (nämlich auf ihre Übereinstimmung mit dem Evangelium) hin befragt werden müssen. Die angemessenste Form hierfür wäre die des Dialogs - der Erwägung und kritischen Befragung - , wie ich sie in meinen Fragen an die Westeuropäische Arbeitsgemeinschaft versucht habe. 128 Wenn in diesem Referat stärker thetisch geredet wird als dort, dann um mit einer gewissen Nachdrücklichkeit auf bestimmte Voraussetzungen, Tendenzen und Konsequenzen des ökumenischen Konzeptes hinzuweisen, im Blick auf die wir unsere Besorgnis nicht zu verschweigen vermögen. Wenn diese Urteile allerdings dazu benützt würden, um das notwendige Gespräch abzuwürgen und sich der eigenen Infragestellung zu verweigern, so wären sie mißverstanden und mißbraucht. 129 1. Zunächst ist festzustellen, daß der Einsatz der ökumenischen Studie bei der Welt grundsätzlich richtig ist, und zwar aus einem doppelten Grund : a) Würde bei der Kirche eingesetzt und bei dem Verständnis, das sie von sich selbst und vom Evangelium hat, so leistete das dem Mißverständnis Vorschub, daß die Kirche immer schon vor und unabhänig von dem Hingehen in alle Welt ausreichend wüßte, was Kirche und was das Evangelium ist, während es in Wirklichkeit so ist, daß ihr Verständnis der Kirche und des Evangeliums in dem Maße wächst, als sie sich mit dem Evangelium in die Welt aufmacht. Wir verstehen so viel von der apostolischen Kirche und dem 127 J . Morikawa, What needs to be done in the future (CONCEPT, Spec. Issue 12, Dec. 1966), p. 9: „ I n a reformation crisis, truths which need special recovery must be isolated and given particular attention, even at the risk of heretical over-emphasis. The development of a comprehensive ecclesiology is not the aim of the Missionary Structure Study, but to identify those issues of mission which are the crucial for the 20th century." 1 2 8 Vgl. CONCEPT V, Sept. 1966, S. 29ff. 12a Ich hatte den zweiten Teil meines Vortrages in dieser thetischen Weise formuliert, weil ich hoffen konnte, in den vorgesehenen Diskussionen dem etwaigen Mißverständnis, es handle sich dabei um abschließende Sätze, wehren zu können. Da ich an der Konsultation nicht teilnehmen konnte, war die Gefahr dieses MiBVerständnisses offenbar nicht ganz auszuschließen. Im Interesse der unbedingt notwendigen Offenhaltung des Gespräches werde ich darum einiges umformulieren - trotz des Rates einiger erfahrener Ökumeniker, die die in Järvenpää verlesene Fassung des 2. Teiles meines Referates angesichts eines bestimmten „Genfer Trends" genau für das Richtige und Notwendige hielten.

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apostolischen Evangelium, wie wir die apostolische Bewegung in die Welt vollziehen. b) Würde bei der Kirche eingesetzt, so bestünde die Gefahr, daß man bei der Kirche stehenbleibt. Es ist aber wahr, daß Gott die Welt liebt und nicht eine Vor-Liebe für die Kirche hat, daß er als Erlöser die Welt zum Ziele bringen will, deren Schöpfer er ist, und daß er dazu die Kirche haben will. Im Blick auf eine separatistische Kirche, die abseits der Welt existiert und sich in der Hauptsache mit innerkirchlichen Problemen befaßt, die Kirchefür-sich oder Kirche-für-Gott, aber nicht Kirche-für-die-Welt sein will oder jedenfalls faktisch nicht ist, hat das Schema Gott-Welt-Kirche sein volles Recht. Als polemische Formel verstanden, ist es richtig und notwendig. Ohne Zweifel trifft sich hier die ökumenische Studie mit dem genuin reformatorischen Verständnis der Welt als Schöpfung und Auftragsfeld des Christen und als Ort seiner Heiligung und dem Protest gegen alle Vorrangigkeit und Selbstzwecklichkeit der Kirche, ein Anliegen, das in der heutigen lutherischen Theologie besonders eindrucksvoll von G. Wingren vertreten wird in seinem Einspruch gegen die (pietistische und hochkirchliche) Verwechslung der Kirche mit einer Sektengemeinschaft, deren Kennzeichen es ist, daß sie die Menschen aus ihrer weltlichen Umgebung herausreißt und dann „ein intensives Zusammengehörigkeitsgefühl abseits von den Begegnungen zwischen den Menschen, welche die Alltagsarbeit mit sich bringt", pflegt. Wingren formuliert pointiert: „Die Gemeinschaft der Kirche ist Gemeinschaft des natürlichen Lebens"; „die Gemeinschaft der Heiligen ist dadurch Mission, daß sie Alltagsleben ist", 1 8 0 „eine Kirche, die wahrhaft kirchlich lebt, lebt für die Welt". 181 2. Die Formel „Kirche für die Welt" ist freilich nur darin eindeutig, daß sie ein negatives Verhältnis zur Welt ausschließt (das der Absonderung, der Feindschaft oder der Beherrschung, also ein sine-, contra- oder supra-Verhältnis), und das Verhältnis der Kirche zur Welt als Dienst bestimmt (pro). Worin inhaltlich dieser Dienst besteht, den die Kirche der Welt schuldet, hängt entscheidend davon ab, Avas unter „ W e l t " verstanden wird. Ist es die Welt, die in der Gewalt des Bösen liegt (1. Joh. 5,19), ist es also die in der Empörung gegen Gott und darum im Aufruhr gegeneinander lebende Menschenwelt - oder hat sie seit Christi Tod und Auferstehung aufgehört, dies 130 G. Wingren, Die Predigt, Berlin 1956, S. 235; vgl. den ganzen Abschnitt „Die Gemeinschaft der Heiligen", S. 224 ff. Ders. Evangelium und Kirche, Göttingen 1963, S. 161-198. 111 Ders,, Welt und Kirche unter Christus, dem Herrn (Kerygma und Dogma, 3.«Jg.> 1957) S. 55.

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zu sein? Stimmt die entscheidende theologische Prämisse des ökumenischen Konzepts, daß durch Tod und Auferstehung Jesu Christi faktisch alle Menschen zur neuen Menschheit gehören, auch wenn sie es gedanklich noch nicht wissen? Vielleicht soll mit dieser Behauptung ja nur - in Aufnahme der universalistischen Aussagen des Neuen Testaments wie Rom. 5,18, 1. Kor. 15,22; 2. Kor. 5,14.19; Joh. 1,29 - sichergestellt werden, daß Gottes Erwählen weiter greift als unsere Klassifizierungen und daß das Buch des Lebens nicht aus unseren Kirchenkarteien abgeschrieben ist. Vielleicht sollen wir mit dieser Behauptung ja „nur" beschworen werden, jeden Menschen im Lichte der auch für ihn geschehenen Versöhnung und der auch über ihm aufgerichteten Hoffnung zu sehen und also die Kirche weit offenzuhalten, auf alle voreiligen Fixierungen und Grenzziehungen zu verzichten und die iustificatio impii sola fide nicht als Devise zur Bildung einer Partei der Rechtgläubigen oder der recht Gläubigen zu mißbrauchen. Dieser beschwörende Ruf wäre wahrhaftig alles andere als überflüssig. Aber die Aussage, daß alle Menschen bereits zur neuen Schöpfung gehören, könnte auch heißen - und sie muß fast notwendig so verstanden werden - , daß alle extra periculum seien, weil es ein Gericht nicht gibt. Jedenfalls sagt die ökumenische Studie nichts davon, was es bedeutet, wenn einer, der - laut ihrer Prämisse - durch Christi Tod und Auferstehung zur neuen Menschheit gehört, nichts von dieser Tatsache erfährt oder diese Mitteilung für belanglos hält und ihr den Glauben verweigert. Wird darüber nur deswegen nichts gesagt, weil man meint, daß der Unglaube der anderen uns nur insoweit anzugehen habe, als er eine Bußfrage an uns darstellt - eine Anklage gegen unser undeutliches Zeugnis, das die anderen gar nicht vor eine echte Glaubensentscheidung gestellt hat? Oder ist nicht vielleicht doch die Tatsache der allen geltenden Zugehörigkeit zur neuen Menschheit von solcher Gewichtigkeit, daß die Frage, ob oder wieviel einer davon bewußt weiß, kein letztes Gewicht mehr hat? Ob einer bewußt oder ohne es zu wissen ein Glied der durch Christus erlösten Menschheit ist, wäre dann also zwar für sein gegenwärtiges Leben nicht einfach belanglos, aber für seine ewige Zukunft nicht mehr entscheidend? Wenn dies die Meinung der ökumenischen Studie wäre (und sie hat - wie gesagt - nichts dagegen unternommen, so verstanden zu werden132), so müßte ihr widersprochen werden; denn im Neuen 1 3 2 Auch N. A. Dahl macht in seinem gewichtigen und in seinem Urteil treffenden Beitrag „Über das Normative in den neutestamentlichen Gemeindeformen" (Papier des LWB, Sekretariat für Haushalterschaft und Evangelisation), S. 5, auf die in der ökumenischen Diskussion zu beobachtende Tendenz in Richtung auf eine Apokatastasislehre aufmerksam.

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Testament wird nirgendwo gesagt, daß jeder - zufolge des für ihn geschehenen Heilstodes Jesu Christi - bereits zur neuen Menschheit gehöre, also kainë ktisis sei und sich dies nur durch die Taufe bestätigen zu lassen brauche.133 Vielmehr ist es nach dem übereinstimmenden Zeugnis des Neuen Testaments so, daß einer ein neues Geschöpf ist, also der neuen Menschheit zugehört, wenn er „in Christus" ist, und daß dieses Sein in Christus als Existenzgemeinschaft mit ihm, dem auferstandenen Gekreuzigten, und als Einfügung in seinen Leib jeweils (erst) in der im Glauben ergriffenen Taufe Wirklichkeit wird als in einem Geschehen, in dem ein totaler Herrschaftswechsel stattfindet und sich die Errettung aus der alten Menschheit (die es also auch post Christum noch gibt !) ereignet.134 Daß Menschen zum Glauben kommen und sich taufen lassen, ist im Neuen Testament Grund zu jubelnder Freude,136 daß Menschen im Unglauben bleiben, ist für die neutestamentlichen Zeugen etwas Schreckliches, unfaßbar Trauriges ;13e denn an der Stellung zu Christus entscheidet sich Lebensgewinn oder Lebensverlust im eschatologischen - und also nicht nur das Jetzt, sondern alle Zukunft einbegreifenden - Sinne. Daß dabei nach 1900 Jahren Kirchengeschichte die Tatsache des Unglaubens viel stärker eine Anfrage an uns als eine Anklage gegen die Ablehnenden darstellt, werden wir uns wohl zu merken haben. Wir können nicht mehr so entschlossen den Staub von den Füßen schütteln und die Verbindung mit den Ablehnenden aufheben, wie das die ersten Missionare, denen noch nicht der Schmutz einer langen kirchengeschichtlichen Vergangenheit an den Schuhen klebte, tun durften (Matth. 10,14). Aber das ändert nichts daran, daß die Welt, der die Kirche ihren Dienst schuldet, die Welt des von Gott abgefallenen und darum mit den anderen zerfallenen Menschen ist, die Welt, in die einer nicht als Glied der neuen Menschheit, sondern als von Fleisch geborenes Fleisch (Joh. 3,6; Eph. 2,3), als Knecht der Todesfurcht (Hebr. 2,15) und also der Lebensgier (1. Kor. 15,32b) eintritt ; die verlorene Welt, in der Gott die rettende Gegenaktion eingeleitet hat in der Sendung des Sohnes, der in seinem Auferstehungstod das diese Welt 133 Das NT ruft nicht: „Laßt durch die Taufe euch bestätigen, daß ihr schon zur neuen Menschheit in Christus gehört!" (MSt 45), sondern: „Tut Buße, und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen J esu Christi zur Vergebung der Sünden !" (nämlich der Sünde der Abweisung Jesu, Act. 2,38 cf.36). Es liegt auf der Hand, daß in der ökumenischen Studie die Tauflehre K. Barths sich bestimmend durchgesetzt hat. 131 2. Kor. 5,17; Rom. 6,3ff.; 1. Kor. 12,13; Tit. 3,5; Act. 2,40f. 135 Act. 16,29-34 (34!) 8,35-39 (39!); 9,17-19 vgl. Gal. l,23f.; 10,44-48 (46!); 11,15-18 (18!) 13e Joh. 12,370.; Luk. 19,41; Rom. 9,Iff.; Phil. 3,18; 2. Kor. 4,3f.; Eph. 2,Iff.; Matth. 22,3 (Luk. 14,21); Offb. 21,8.

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beherrschende und ruinierende Todesgesetz durchbrochen hat und Leben schenkt in der Freiheit vom Zwang der Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung. 3. Wenn dies die Welt ist, in und mit der die Kirche zusammen ist und für die sie dasein soll, so geraten bestimmte Positionen der ökumenischen Konzeption in ein kritisches Licht : a) Die missio Dei ist präzis zu fassen als die Sendung des Sohnes in die Welt zu ihrer Rettung und als die Sendung der Kirche in die Welt durch den Sohn mit dem rettenden Evangelium (Joh. 17,18; 20,21 ff.). Die missio Dei, verstanden als Gottes eschatologische Rettungsaktion, vollzieht sich ausschließlich durch die von Jesus Christus mit dem Evangelium ausgesandte Kirche, weswegen es tatsächlich besser ist, mit M. L. Kretzmann von der Kirche als der missio Christi zu sprechen.137 Daß die Bibel an einzelnen Stellen auch von anderen „Gesandten" spricht (z.B. Nebukadnezar: Jer. 25,9; Cyrus: Jes. 45,1 ff.; die Träger der staatlichen Macht: 1. Petr. 2,14), deren sich Gott für sein Geschichtshandeln bedient, berechtigt nicht dazu, den Begriff der missio Dei so weit zu fassen, daß er Gottes gesamtes Handeln mit der Welt bezeichnet, wie es in der ökumenischen Studie geschieht. Auch wenn Gottes actio als Erhalter der Welt durch das Gesetz (nämlich durch seine - ! - im Lebensanspruch des Nächsten begegnende und Leistungen zu dessen Wohl erzwingende und damit den ganzen sozialen Gestaltungsprozeß bewirkende Forderung) Weltzuwendung und auf die Welterlösung bezogen ist, so ist doch der Begriff der missio streng auszusparen für Gottes Tun als Erlöser mittels des die Kirche begründenden und von ihr verkündigten Evangeliums, durch das er Menschen zu neuen Geschöpfen macht und sie zu einem neuen Tun in der alten, durch sein Gesetz erhaltenen und bewegten Schöpfung befreit. Nicht alle weltzugewandte actio Gottes ist missio, sondern nur die in dem Erwählungshandeln an Israel in ihren Strukturen vorgeformte Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes und die aus ihr folgende Sendung der Kirche in die Welt zu deren Heil. Wird der Begriff der missio Dei streng als Sendung des Sohnes (und des Geistes) und als Sendung durch den Sohn (und den Geist) in die Welt aufgefaßt, so hat die Reihenfolge Gott-Kirche-Welt ihr Recht, insofern darin festgehalten ist, daß Gott rettend an der Welt ausschließlich durch das von der Kirche zur Welt gebrachte Evangelium handelt. b) Folgt die Mission der Kirche der so verstandenen missio Dei, so ist damit entschieden, daß ihr ausschließlicher Inhalt das Evangelium von der 1 3 7 M. L. Kretzmann, Report of Mission Self-study and Survey (The Lutheran Church Missouri Synod, 1965).

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Rechtfertigung des Sünders, von dem Geschenk der Versöhnung und damit eines neuen Lebens in der Gemeinschaft mit ihm und unter seiner Herrschaft ist. Dieses Evangelium gilt dem einzelnen und betrifft alle seine Weltbeziehungen mit. Die Kirche kann der Welt vieles schuldig bleiben, aber nicht das Evangelium, das weiterzugeben ihr ausschließlicher Existenzzweck ist. Daß sich das Evangelium nur von einer Kirche artikulieren läßt, die sich wirklich auf die Wélt einläßt, in der gesündigt wird, ist dabei wohl zu beachten. Eine Kirche, die immer alles richtig machen will und sich darum möglichst aus allem heraushält, was riskant ist und wobei es Flecken auf die weiße Weste geben könnte, eine Kirche also, die nicht selber wirklich von der Rechtfertigung des Sünders leben möchte, wird den wirklichen Sündern auch nicht das Evangelium der gnädigen Bejahung und Befreiung predigen können. Nur eine sich in die Welt hinauswagende Kirche erkennt den Fragehorizont des säkularen Menschen und kann erhorchen, welches seine Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, seine Illusionen und Resignationen sind und wie das Evangelium lauten müßte, das sich darauf beziehen möchte.138 Die Mission der Kirche, die der Welt das Evangelium zu bringen hat, geschieht in der Gestalt der (zur Taufe führenden oder an die Taufe erinnernden) Verkündigung der großen Taten Gottes (martyria) und des das Elend der Welt in allen seinen Formen angreifenden, das Reichsheil signalisierenden Dienstes (diakonia). Das eine nie ohne das andere, wobei allerdings im ganzen Neuen Testament dem existenzwandelnden Wort der Vorrang zukommt; Mark. 16,17f.20: die Zeichen sind Begleiterscheinungen des Wortes, und nicht ist etwa das Wort Begleiterscheinung der Zeichen! Der „Dienst der Versöhnung" (2. Kor. 5,18) geschieht durch das „Wort von der (in Christus geschehenen) Versöhnung" (V. 19f.). Gegenüber dem Mißverständnis von Mission als Unternehmung zur Weltverbesserung ist auf die unmißverständliche Rangordnung von Luk. 10,20f. hinzuweisen: Grund zur Freude ist nicht das, was durch uns auf Erden, sondern was mit uns im Himmel geschehen ist! Das Thema des persönlichen (onoma!) - freilich nicht individualistisch mißzuverstehenden - Heils kann nicht zugunsten des Themas Weltgestaltung an die zweite Stelle gerückt werden. In der iss Vg]_ hierzu die wichtigen Aufsätze von W . Joest, E x fide vita - allein aus Glauben Gerechtfertigte werden leben (in: Zur Auferbauung des Leibes Christi. Festgabe f. P. Brunner, hrsg. v. E . Schlink und A. Peters, Kassel 1965), S. 153ff.; G. Gloege, Die Grundfrage der Reformation - heute (in: Kerygma und Dogma, 1966), S. 1 0 . Ferner: Gepredigte Rechtfertigung. 15 Predigten über Gal. 2,16-21, hrsg. v. M. Fischer, Göttingen 1965.

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ökumenischen Studie hat man den Eindruck, daß diese Stelle eigentlich lauten müßte: „Freuet euch nicht darüber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind (wie kann man nur so heilsegoistisch und weltlos denken ! Als ob man sich seines Heils freuen könnte, solange es auf der Welt noch Elend gibt!); freuet euch aber vielmehr darüber, daß durch den Einsatz von Christen die Quälgeister der Menschheit vertrieben, Lethargie und Resignation überwunden, Vorurteile abgebaut, Spannungen beseitigt werden und alles sachlicher und menschlicher wird!" Diesen Einwand gegen einen bestimmten Trend in der ökumenischen Studie kann freilich nur eine Kirche erheben, die sich mit dem Evangelium in die Welt aufgemacht und dort die Kraft des Namens Jesu über die Mächte wirklich ausprobiert und erfahren hat - nur sie kann ja überhaupt in Gefahr geraten, die (in der Macht des Namens Jesu geschehenen!) Taten der Weltveränderung auf Kosten der Hauptsache zu überschätzen.139 Unsere Kritik wird hier außerordentlich zurückhaltend sein müssen; ehe wir von einer Verwechslung des Glaubens an das Evangelium mit einem sozialreformerischen Aktivismus sprechen, werden wir gut tun, den in der ökumenischen Studie ergehenden Ruf zur Mission in der Gestalt des sich in die Welt wagenden und sie verändernden Dienstes - und zwar nicht nur in der Form institutionalisierter Diakonie im Rahmen der christlichen Caritas, sondern auch im verwechselbaren „nicht-ekklesiastischen" Engagement zugunsten des anderen - als eine ernste Anfrage an uns zu hören. Daß von den lutherischen Kirchen keine nennenswerten Impulse zur Sozialgestaltung, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ausgegangen sind, wird man ja nicht gut bestreiten können. Woran liegt das? Ist die Rechtfertigung allein durch den Glauben isoliert gepredigt worden unter Vernachlässigung der Predigt vom neuen Gehorsam? Ist vergessen worden zu verkündigen, wofür die Rechtfertigung freisetzt? Ist das Gericht nach den Werken verschwiegen oder als nur uneigentlich gemeint gepredigt worden, so daß jeder schon wußte: Das gilt nicht wirklich ; das Heil ist nicht dadurch in Frage zu stellen, daß man sich nicht für das Wohl der anderen einsetzt?140 Sendung mit dem Evangelium geschieht immer im Miteinander von Verkündigung und Dienst. Vorrangigkeit des Wortes heißt unter keinen Umständen : noch mehr predigen und noch weniger tun. Die Vorrangigkeit des Wortes meint zwar prinzipielle, aber keineswegs immer auch chronologische Vgl. meine Meditation über Luk. 10,17-20 (GPM 1964/65). Zum Problem: Rechtfertigung nicht aufgrund von Werken und Gericht nach den Werken, vgl. die wichtigen Ausführungen bei W. Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1951, S. 155ff. 138

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Priorität der Verkündigung. In einer Zeit, in der die Worte billig geworden sind, wird vielleicht ein Wort, das am Rande des Neuen Testaments steht, in unser Blickfeld rücken müssen: 1. Petr. 3,1, wo die Möglichkeit von Mission ohne Worte durch ein bestimmtes soziales Verhalten immerhin ins Auge gefaßt worden ist - freilich mit dem deutlich ausgesprochenen Ziel: der Gewinnung von Menschen für Christus und seine Gemeinde.141 c) Mission als Weitergabe des Evangeliums zielt auf das ewige Heilsein und Mission in der Gestalt des Dienstes auf das zeitliche Wohlsein des Menschen, beide zusammen also auf den Schalom, in dem des Menschen Heil und des Menschen Wohl beieinander sind und der endgültig und vollständig erst in der Auferstehung der Toten Gestalt gewinnt. Der Schalombegriff in der ökumenischen Studie bringt nicht deutlich genug zum Ausdruck, daß Schalom als Wohl etwas zu tun hat mit der Wiederherstellung der gestörten Gemeinschaft des Menschen mit Gott. (Jes. 48,22; 57,21; Joh. 14,27; 16,33). Daß die ökumenische Studie die soziale Komponente im Begriff des Schalom herausstellt, ist im Hinblick auf das übliche individualistische Mißverständnis richtig und notwendig. Entscheidend bleibt freilich sein christologischer Grund. Und es muß auch deutlich bleiben: Es können Menschen in dieser Welt Schalom als Heil haben, auch wenn ihnen das Wohl versagt bleibt (als erbmäßig oder gesellschaftlich Benachteiligte). Solange die Auferstehung der Toten nicht geschehen ist, ist für den Begriff des Schalom das Moment des Heils konstitutiv, nicht aber im gleichen Sinne das des Wohls. Freude als Ausdrucksform des Schalom gibt es aüch in der sozialen Entrechtung-wenn auch natürlich nie an der sozialen Entrechtung. d) Das von der Kirche-in-Mission zur Welt gebrachte Evangelium der Rettung und des Friedens (Eph. 1,13; 6,15) ruft - schmerzlicherweise Widerstand hervor (Act. 14,3f.) und bewirkt Scheidungen von éschatologischer Tragweite (1. Kor. 1,18; 2. Kor. 2,15f.). Menschen nehmen das Geschenk des Schalom - der Gemeinschaft mit Gott - an, andere schlagen es aus (Matth. 10,13ff. ; Luk. 19,42). Ein Reden vom Schalom, das gerade diese Tatsachen verschweigt, hat ganz und gar nichts mit Jesus Christus zu tun (Matth. 10,34). Mission ist immer ein eminent kritisches Geschehen. Diejenigen, die das im Evangelium überbrachte Geschenk der Gemeinschaft mit Gott annehmen, bilden die Kirche, die Schar derer, die in Jesus Christus und durch ihn Schalom hat (Joh. 16,33) - mit Gott (Rom. 5,1) und untereinander (Eph. 4,3; Kol. 3,15; 1. Petr. 5,14) und - soweit es auf sie ankommt 1 4 1 kerdainein ist missionarischer Terminus, vgl. 1. Kor. 9,19 ff. ; Matth. 18,15, möglicherweise auch Matth. 16,26. Vgl. D. Daube, kerdaino as a missionary term (in: The Havard Theological Review, 1947), S. 109 ff.

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mit allen Menschen (Rom. 12,18). Insofern ist die Kirche nicht nur Werkzeug der missio Dei, sondern auch deren vorläufiges Ziel. 1 " In ihr, der für alle offenen, schafft und sammelt sich Gott sein Eigentumsvolk, die neue Menschheit (Eph. 5,25ff.; Tit. 2,14; 1. Petr. 2,9). Daß die Kirche Werkzeug und Ziel der missio Dei ist, zeigt besonders deutlich Joh. 21,1-14 (im Zusammenhang mit Luk. 5,10) : das Netz ist sowohl das Werkzeug, mittels dessen, als auch das Behältnis, in das hinein Menschen gesammelt werden zur neuen Menschheit. Die Kirche ist das wandernde Gottesvolk, das auf seinem Weg in die Freude des Reiches Gottes möglichst viele mitnehmen möchte. Eine Kirche, die es nicht mehr als ihre Aufgabe ansähe, Menschen für Christus und damit für seine Gemeinde zu „gewinnen" 141 und sie ihr einzugliedern (zu „integrieren"), wäre der missio Dei ganz einfach ungehorsam. Zur missio Dei gehört es, daß Menschen „hinzugetan" werden (Act. 2,41; 5,14; 11,24) - zu Christus und zu seiner Gemeinde (vgl. Act. 11,24 mit 2,47). Eine missionarische Kirche wird immer auch eine missionierende Kirche sein. Mission und Missionierung lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Das in der ökumenischen Studie gern gebrauchte Verdikt des „Proselytismus" trifft nur dann, wenn die Kirche in einem derartigen (selbst verschuldeten143) Schisma zur Welt (als Gesellschaft) existiert, daß ihr integriert zu werden gleichbedeutend wäre mit : aus der Gesellschaft zu emigrieren. Ob es Kirchen gibt, die sich an diesem Punkt für völlig unbetroffen halten wollen? Eine Kirche, die missionarisch sein und also missionieren will, wird sich sehr ernsthaft die Frage nach der Aufnahmefähigkeit der Gemeinde in ihren derzeitigen Strukturen vorlegen müssen.144 Eine missionarische Gemeinde muß Sammlungsformen entwickeln, in denen a) ein Gespräch über gesellschaftliche und speziell arbeitsbezogene Probleme möglich ist, inwieweit diese weltlichen Fragen mit dem Glauben an und dem Glaubensgehorsam gegenüber Jesus Christus zusammenhängen; in denen b) zu Entscheidungen aus Glaubensgehorsam ermutigt und Hilfe dazu angeboten wird, solche Entscheidungen mit allen ihren möglichen Konsequenzen durchzuhalten; in denen c) Austausch von Erfahrungen, Fürbitte füreinander, gegenseitige Tröstung und Ermahnung, konkreter Lobpreis geübt werden können; in denen d) jeweils notwendige und befristete Aufgaben gemeinsam in Angriff genommen werden können ; in die e) Menschen in ihrer N. A. Dahl, a.a.O., S. 12; er verweist auf Joh. 17,19.23; Act. 20,29; Eph. 5,25ff.; Tit. 2,14. 1 4 3 Es gibt in der Verfolgungssituation allerdings eine Isolierung der Kirche und eine gesellschaftliche Ächtung ihrer Glieder (Offb. 13,16f.). 1 4 4 Vgl. W. Krusche, a.a.O., S. 128ff. ( = 5. 118ff. dieses Buches). 142

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natürlichen Weltlichkeit sogleich aufgenommen werden können, ohne sich erst kirchliche Konvention angeeignet haben zu müssen.145 Eine einfache Eingliederung in die Kirche, so wie sie ist, in ihre ererbten Sammlungsformen, wollen, hieße nicht nur, Mission ohne Buße, sondern auch ohne jeden Sinn für Realitäten betreiben zu wollen. Diejenigen, die das Evangelium angenommen haben, müssen die Chance einer eigenen Antwort haben. Eine Kirche-in-Mission muß bereit sein, immer wieder neue, andere Kirche zu erwarten und anzunehmen. e) Der Entscheidungscharakter des von der Kirche-in-Mission zur Welt gebrachten Evangeliums bestimmt nun auch näher, was unter „Solidarität" der Kirche mit der Welt zu verstehen ist. Die Kirche als die Gemeinschaft der Menschen, die durch das Evangelium gerettet worden sind, ist mit der Welt darin solidarisch, daß sie zusammen mit der ganzen Menschheit auf demselben Wege ist, nämlich auf dem Wege zum Jüngsten Gericht (von dieser Solidarität ist in der ökumenischen Studie kaum die Rede148). Diese Solidarität vor dem Richter der Welt macht allen ekklesiologischen Pharisäismus, aber auch die Verharmlosung des Bösen unmöglich. Die Kirche ist zudem mit der Welt darin solidarisch, daß ihre Glieder ja in der durch Gottes Gesetz bewegten Welt leben und also wie alle anderen in die Probleme der sich weiter entwickelnden Gesellschaft verwickelt sind. Alles, was in der ökumenischen Studie über den „demütigen Dialog mit der Welt" gesagt ist, ist wohl zu beachten. Dialog heißt: Schluß mit dem permanenten Angebot von theologischer Fertigware, mit dem „herkömmlichen Kram falschgestellter Fragen" (Henri Perrin),147 mit aller Besserwisserei. Wiewohl wirkliche Solidarität (nicht die gespielte des Sich-Anbiederns) die „Bescheidenheit des Verzichts auf Distanzierung", 147 die unbedingte Willigkeit zur Kommunikation mit den anderen einschließt, bedeutet sie doch nicht einfach totale Grenzenlosigkeit. Die Kirche hat von sich aus kein Interesse an Grenzziehungen und Trennlinien, aber sie entstehen - schmerzlicherweise - durch das Evangelium, das uns freilich zugleich verbietet, sie als endgültig anzusehen. Aber es gibt nach dem Neuen Testament solche, die „draußen" sind und die Gemeinde beobachten und denen sie ein exemplarisches Leben schuldig ist (Kol. 4,5; 1. Thess. 4,12; 1. Tim. 3,7; 1. Kor. 1 4 5 So ist es in dem Zwischenbericht der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Strukturfragen der Gemeinde in der D D R vom Frühjahr 1966 formuliert (abgedruckt in: ökumenische Diskussion, 1967, S. 113-122) ι « Vgl. die Kritik von Ν. A. Dahl hierzu, a.a.O., S. 6. 1 4 7 Zit. in dem provozierenden und zum Nachdenken nötigenden Aufsatz von H. J . Schultz, Christen unter Nichtchristen (ZdZ, 20. J g . , 1966), S. 422.

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5,12f.). Die in der ökumenischen Studie ausgesprochene Befürchtung, daß die Gemeinde, die ein exemplarisches Leben führen wolle, damit in illegitimer Weise die Aufmerksamkeit auf sich selber ziehe,148 ist dem Neuen Testament fremd (Matth. 5,14ff.; 1. Petr. 2,12f.; Phil. 2,14f.; Eph.5,7f!.; Joh. 13,34f.). Ihr exemplarisches Leben strahlt aus und zieht an und ist als solches missionarisch (Act. 2,47). Dieses exemplarische Leben ist nicht das kultisch-religiöse Sonderleben einer esoterischen Gemeinschaft, sondern es ist beispielhaftes Miteinander-Umgehen im Alltäglichen. Der dem Neuen Testament völlig fremden Parole, aus Solidarität mit der Welt die Kirche zu verlassen (Hebr. 10,25!), ist die Parole entgegenzusetzen: um der Solidarität mit der Welt willen wirklich Kirche zu sein, nämlich so miteinander umzugehen, daß die geschlechtlichen, sozialen, nationalen, rassischen, bildungsmäßigen Unterschiede die Gemeinschaft nicht mehr zu bedrohen vermögen (Gal. 3,28; Eph. 2,14ff.). Vielleicht bedürfte es dann gar nicht mehr so sehr der „nicht-ekklesiastischen Versuche von Mission"149? Natürlich läßt sich heute die Weltverantwortung der Kirche nicht allein auf die Weise wahrnehmen, daß die Kirche exemplarisch lebt und Modelle sozialen Verhaltens liefert, aber hat die ökumenische Studie den Gesichtspunkt, daß die Gemeinde das Übungsfeld für das weltliche Verhalten der Christen ist, nicht allzusehr übersehen?16^ Im übrigen geschieht im Neuen Testament Solidarität mit der Welt immer mit dem ganz bestimmten Ziel der Rettung. Wer diese gezielte Solidarität als eine gespielte perhorreszieren wollte, würde damit auch die gesamte Missionsarbeit des Apostels Paulus treffen (1. Kor. 9,19ff. ; 10,33: hina kerdeso, hina soso, hina sotosin141). f) Die Kirche weiß, daß Mission als martyria und diakonia zum Ziele kommt erst in der Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag, auf den hin die Weltgeschichte sich unaufhaltsam bewegt. In der Zeit bis zu seiner Parusie übt der erhöhte Christus seine Herrschaft durch das Evangelium aus, durch das er Menschen von der Todesfurcht und Lebensgier erlöst und zu einem Leben im hingebenden Dienst für den anderen Menschen befreit. Indem durch das Evangelium zu diesem neuen Handeln befreite Menschen MSt 35. N. A. Dahl, a. a. 0 . , S. 13 : „Das, was die Gemeinde ihrer Umwelt nächst dem Evangelium schuldet, (ist) vor allem dies, daß sie eine rechte Gemeinde ist. Wenn - um nur ein Beispiel zu nennen - die Gemeinden das gewesen wären, wozu sie als Gemeinden Christi bestimmt sind, würden in ihrer Mitte keine Rassengegensätze bestehen. Für die Welt hätte dies wahrscheinlich viel mehr bedeutet als besondere kirchliche Kundgebungen und Aktionen für eine politische Lösung der Rassenprobleme." 150 Vgl. den überzeugenden Aufsatz von M. Ziegler, Auf dem Wege zu einer missionierenden Gemeinde (ZdZ, 18. Jg., 1964), S. 204ff. 149

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an den Orten und in den Sachbereichen der Welt tätig sind und dort einen verändernden Einfluß ausüben, ist Christus tatsächlich über die Kirche hinaus wirksam im geschichtlichen Geschehen. Die Früchte des Evangeliums gestalten sich in der Tat nicht nur in der Kirche, sondern in wirksamen Veränderungen in den Bereichen der Welt. Aber sie sind als solche nicht eindeutig aufweisbar, sondern ihre Wirksamkeit ist so verborgen wie die des Sauerteigs (Luk. 13,21: ekrypseti). Die Kirche hat also nicht die Aufgabe, die Gegenwart Christi in weltlichen Ereignissen oder Bewegungen nachzuweisen (Luk. 17,20). Die Betonung der prophetischen Aufgabe, wie sie in der ökumenischen Studie geschieht, kann uns zwar von einem „geschichtsmißtrauenden Denken" 181 wegrufen, aber sie hat doch unverkennbar enthusiastische Züge.152 Was die Kirche des Evangeliums für die Weltverantwortung ihrer Glieder leisten kann und darum leisten muß, ist zweierlei: 1. sie weiß vom Evangelium, daß es Gott um den Menschen geht. Sie wird sich also dafür mitverantwortlich wissen, daß der Mensch in den Strukturen der Gesellschaft sein Menschsein verwirklichen kann; 2. sie weiß aus dem Evangelium, daß die neue Welt nicht vom Menschen hervorgebracht wird, sondern Tat des Totenauferweckers ist. Sie wird darum zur Nüchternheit, Sachlichkeit und Vernunft rufen. Sie versucht nicht, Christus im Weltgeschehen zu entdecken, sondern sie weiß, daß Gott durch sein Gesetz bereits im Weltgeschehen wirkt und dort immer wieder zur Vernunft und Sachlichkeit zwingt. Wo immer in den weltlichen Lebens- und Sachbereichen sich Menschen - Christen oder Nichtchristen - um vernünftige, sachliche Lösungen und Entscheidungen mühen, werden die Glieder der Kirche mit ihnen in einer großen Bereitschaft zusammenarbeiten. Da es sich dabei um Werke für den Nächsten handelt, zu denen sowohl Gottes Gesetz treibt, als auch das aus dem Evangelium kommende Gebot ermuntert (das neue Gebot ist zugleich das alte, allen bekannte: 1. Joh. 2,7f.), gibt es gemeinsames Handeln von Christen und Nichtchristen. Christen müßten dazu bereit sein, sich im Dienst für den anderen opfern zu können und auf persönliche Vorteile zu verzichten; ihr Leben wird nicht durch ihre erbrachten Lebensleistungen gerechtfertigt, da es in Christus gerechtfertigt ist; sie können darum dem Karrieredenken absagen und Fehler zugeben. Sie können gewiß sein: Gott kommt mit seiner Welt auf alle Fälle zum Ziele, darum brauchen sie bei Fehlschlägen nicht zu resignieren.

m Vgl. den besonnenen Aufsatz von Jan M. Lochmann, Die Bedeutung geschichtlicher Ereignisse für ethische Entscheidungen ( ZdZ, 17. Jg., 1963), S. 398. 152 Mit Ausnahme des schon erwähnten Warnrufs von J . Hamel, MSt 49.

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g) Die ökumenische Studie hat darin recht, daß die Gemeinde Strukturen braucht, die es ihr ermöglichen, dem Menschen in allen seinen Lebensbereichen zu dienen. Daß in der heutigen Gesellschaft die traditionelle Ortsgemeinde dazu nicht mehr allein in der Lage ist und also nicht mehr fraglos als normativ gelten kann, ist sicher richtig. Ob sie - zumal wenn man die Ausweitung des Freizeitraumes bedenkt - wirklich nur die Rolle spielen kann, die ihr in der ökumenischen Studie zugedacht ist, bleibt abzuwarten. Eine künftige „Orts"-Gemeinde, die eine Vielfalt verschiedener Gemeindetypen zusammenfaßt, liegt zweifellos nicht außerhalb aller Realitäten. In jedem Falle wird das Amtsmonopol des Pfarrers aufzugeben sein. Insofern das Bild von „Hirt und Herde" die Vorstellung des ständigen Gegenübers des Pfarrers als des immer nur Gebenden zur Gemeinde als der immer nur Empfangenden und bleibend auf Betreuung, Versorgung und Leitung durch den Pastor angewiesenen, fest umgrenzten und unter sich bleibenden Schar suggeriert und die pastorale Betreuungsstruktur erzeugt hat, bedarf es einer Neuorientierung an 1. Kor. 12 und Eph. 4. 145 Die Kirche der Reformation ist eine Kirche, die in der Buße lebt, die also bei allem Dank für das, was es bei ihr auch noch in ihrer kümmerlichsten Gestalt zu empfangen gibt, sich ständig fragt, ob und womit sie dem Evangelium im Wege steht, und die bereit ist, sich tiefgreifend wandeln zu lassen. Die Frage nach missionsgemäßen Strukturen ist eine Bußfrage. Als Kirche der Rechtfertigungspredigt müßte die lutherische Kirche in besonderer Weise frei sein für das Wagnis, bereit zum verantwortlichen Experiment, weil sie ja nicht immer alles richtig machen muß, sondern auch einmal stolpern und etwas versuchen darf, was sich später als verfehlt herausstellt. Eine letzte Sorge : Es darf nicht geschehen, daß mit dem Eifer um neue Strukturen unsere Armut in der Sache der Verkündigung zugedeckt wird. Die Aporie, in der wir hier stehen, ist nicht nur eine Frage der Strukturen. Die Beschäftigung mit der Strukturfrage darf nicht zur Flucht vor dieser Aporie werden, sondern sie muß des ursprünglichen Zusammenhangs mit der Frage nach der missionarischen Verkündigung eingedenk bleiben.163 iss Vgl. das eingangs Gesagte.

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Missio - Präsenz oder Bekehrung?* Edmund Schlink zum 65. Geburtstag am 6. März 1968

Die Erkenntnis, daß die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist, ist erstaunlich schnell wiedergewonnen worden. Man weiß wieder: Die Kirche lebt von der Sendung des Sohnes und in der Sendung durch den Sohn. Sie ist, indem sie in dieser von Gott ausgehenden und auf die Welt zugehenden Bewegung ist. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Muß eine missionarische Kirche notwendig eine missionierende Kirche sein? Hat die missionarische Kirche unabdingbar ihren Auftrag darin zu sehen, daß durch ihr Zeugnis möglichst viele einzelne Menschen für Christus gewonnen und so ihres Heils gewiß werden, damit in einer wachsenden Kirche das Volk Gottes gesammelt werde als die Reichsgenossenschaft der Basileia? Oder läßt sich der missionarische Auftrag anders umschreiben, ohne dieses intentionale Moment und also ohne daß die Ausbreitung des Evangeliums und seine Ausrichtung auf die Gewinnung des einzelnen und damit das zahlenmäßige Wachstum der Kirche als Aktionsziel im Blick stünden? Um zwei in der jüngsten ökumenischen Diskussion verwendete Stichworte aufzugreifen: Ist die missionarische Kirche aus auf Bekehrung oder auf Präsenz?1

I T h e s e 1 : Mit den Stichworten „Bekehrung" und ,,Präsenz" sind zwei Antworten auf die Frage nach dem Daseinssinn (dem Wozu) der von Jesus Christus berufenen und gesendeten Gemeinde gekennzeichnet. Die eine Antwort lautet : Die Gemeinde Jesu Christi ist dazu da, in seinem Namen als seine Botenschar das Evangelium von der Rettung des Sünders zu den Menschen zu bringen, um sie * Veröffentlicht in: Kerygma und Dogma 1968. Das wichtigste Material zum Thema „Präsenz" findet sich in Student World 1965, vor allem H. 3 ( = StW), zum Thema „Bekehrung" in The Ecumenical Review 1967 No. 3 ( = ER), in Ökumenische Diskussion, Bd. I, Nr. 2, 1965 ( = ÖD) und in dem Aufsatz von E. Castro, Conversion and Social Transformation (in: Christian Social Ethics in a changing World. Edit. John C. Bennett, London 1966). 1

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zu einer persönlichen Lebensentscheidung für Jesus Christus und damit zum Bruch mit der Welt in einem geheiligten Leben zu rufen und sie in die Gemeinschaft der Glaubenden zu bringen, die sich der Herr als sein Eigentumsvolk sammelt. - Die andere Antwort lautet : Die Gemeinde Jesu Christi ist dazu da, um in seinem Namen als seine Dienstschar in geistlicher Verantwortlichkeit für die Welt, in der sie lebt und deren Nöte die ihren sind, zu erkunden und in Angriff zu nehmen, was der Herr von ihr als Einsatz ihrer Liebe und als Signal ihrer Hoffnung auf das Reichsheil für die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse getan haben will, ohne daß dabei auf die Gewinnung von Menschen für die Gemeinde abgezielt wäre. Diese Antworten stellen schon so etwas wie eine echte Alternative dar, wie sie sich etwa in dem Satz von H. J. Schultz ausspricht: „ A n die Stelle der Bekehrung tritt die Begegnung." 2 Freilich ist bei dieser Konfrontation der beiden Positionen ein ganz bestimmtes - nämlich das uns vom Pietismus her geläufige - Verständnis von Bekehrung vorausgesetzt, dessen individualistische Verengung aufzudecken und aufzubrechen das Ziel der neueren ökumenischen Untersuchung des biblischen Begriffs der Bekehrung ist. Das dort gewonnene Verständnis von Bekehrung ist dann allerdings nicht mehr in eine Alternativstellung zu dem zu bringen, was mit dem Stichwort „Präsenz" gemeint ist. Aber noch bestimmt die in der These wiedergegebene Auffassung von Bekehrung das Denken und Handeln von vielen, und darum ist es gerechtfertigt und lohnend, die spezifischen Merkmale dieser Position herauszustellen, um die Intentionen der anderen Position möglichst genau in den Blick zu bekommen. 1. Wenn nunmehr in einem ersten Punkt die entscheidenden Momente des uns vom Pietismus und der Erweckungsbewegung her geläufigen Verständnisses von Bekehrung aufgezeigt werden sollen, so ist es wichtig, im Bewußtsein zu haben, daß Bekehrung hier sowohl die Voraussetzung als das Motiv als auch das Ziel der missio ist: Nur ein Bekehrter kann Missionar sein (Voraussetzung), ein Bekehrter will Missionar sein (Motiv), und ein Bekehrter möchte, daß er als Missionar anderen zur Bekehrung verhilft (Ziel). Bei der Konzeption der „Präsenz" wird man auch sagen dürfen, daß Voraussetzung und Motiv eine persönliche Lebensorientierung an Jesus Christus ist, nicht hingegen wird es als das direkt anzugehende und primäre Aktionsziel angesehen, anderen zu dieser gleichen Lebensorientierung zu verhelfen. 2 H. J . Schultz, Christen unter Nichtchristen (in: Die Zeichen der Zeit = ZdZ, 20. J g . , 1966), 405, 411.

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Für das uns bekannte Verständnis von Bekehrung wird man als die wesentlichen Merkmale die folgenden herausheben können: a) Bekehrung als Antwort auf das Kerygma : Nicht durch Argumentation, sondern durch Proklamation der Tatsachen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi in ihrem Fiir-uns-Charakter kommt es zu Antworten des Glaubens. Hermeneutische Erwägungen scheinen überflüssig zu sein. Die soziale und kulturelle Situation der Hörer ist für die Ausrichtung des Evangeliums belanglos; das Evangelium schafft sich selber Situationen. Die stereotype Frage jeder Evangelistenkonferenz: „Wie können wir das Evangelium unserer Zeit mitteilen?" übersieht: Nicht wir teilen mit, der Heilige Geist teilt mit. Wo das Evangelium nicht problematisiert, sondern assertorisch verkündigt wird, kommt es durch ihn zu Antworten des Glaubens, zu Bekehrungen - unabhängig vom kulturellen Kontext und dem sozialen Status der jeweiligen Hörer. Es wird berichtet, daß die soziale Gruppierung derer, die dem Evangelium geantwortet haben, prozentual dem Verhältnis entspricht, das in der jeweiligen Gesellschaft herrscht. Es wird also nicht etwa nur eine bestimmte soziale Schicht erreicht. b) Bekehrung als persönliche Lebensentscheidung des einzelnen für Christus. Für das Geschehen der Bekehrung ist die Kategorie des „einzelnen" und die Kategorie der „Entscheidung" konstitutiv. Die Proklamation des Evangeliums und der in ihm enthaltene Umkehrruf erfordern unausweichlich die persönliche Entscheidung des einzelnen Menschen. Er ist hier schlechterdings unvertretbar. Diese Entscheidung ist inhaltlich eine totale Selbstübergabe und Lebensbindung an Jesus Christus, die radikale Absage an die bislang das Leben beherrschenden Mächte der Sünde und des Bösen und die totale Ubereignung an Christus für die Zukunft. Diese persönliche Entscheidung muß normalerweise jeder Mensch vollziehen, auch der bereits Getaufte, wobei die Bekehrung die letzte und eigentliche Erfüllung alles dessen sein kann, was die Taufe für ein Kind bedeutete. 3 Wie die Bekehrung geschieht, ob spontan oder allmählich, ist dabei nebensächlich ; die Hauptsache ist, daß sie geschieht. c) Bekehrung als erfahrene und wahrnehmbare Lebensumwandlung. Bekehrung hat es nicht nur mit der emotionalen Schicht des Menschen zu t u n ; sie entzieht sich der psychologischen Erklärbarkeit, aber sie bildet einen Erfahrungsinhalt, der durchaus variabel ist und sich nicht auf einen Nenner bringen läßt. Eins scheint jedoch gleich zu sein: es ist die Erfahrung einer Lebensumwandlung, der Eröffnung einer völlig neuen Dimension zu leben. 8

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Daß sich in ihrem Leben ein wunderhafter Eingriff ereignet hat, bildet nicht nur den Erfahrungsinhalt der Bekehrten, sondern auch den Wahrnehmungsinhalt derer, die ihnen begegnen. „Niemand", so heißt es, „kann diesen bekehrten Leuten in jedem Kontinent nahekommen, ohne früher oder später zu erkennen, daß hier eine Tat übernatürlichen Charakters geschehen ist. Kein heutiger Wissenschaftler hat ein Mittel entdeckt, durch das ein zerbrochenes Leben bleibend wiederhergestellt werden kann." 4 d) Bekehrung als Inanspruchnahme zu Zeugnis und Dienst und damit zu weltverwandelndem Tun. Bekehrung ist nicht ein Geschehen, das bei sich selber endet ; insofern sie die Herstellung eines Herrschaftsverhältnisses ist, schließt sie die Inpflichtnahme durch den Kyrios und Soter ein. Die Proklamation des Evangeliums und der in ihm enthaltene Umkehrruf sollen durch die Bekehrten weitergeschehen als „persönlicher Appell zur uneingeschränkten Selbstübergabe an die Person Jesu Christi (Luk. 9,57)", 6 wobei das Moment der Andringlichkeit und des werbenden Zuredens (persuasion) durchaus sachgemäß ist (Act. 19,8.26; 26,28; 28,23), und als Ruf zum Tun. Keine Rede davon, daß die Bekehrung den einzelnen weltflüchtig und gleichgültig mache gegenüber den Nöten der Gesellschaft. Im Gegenteil: „Ganz offensichtlich sind Evangeliumsverkündigung und biblische Bekehrung beständig die Triebkraft zu sozialem Handeln gewesen."8 Das social gospel wollte durchaus etwas Richtiges, nur : es gibt kein doppeltes Evangelium - ein persönliches und ein soziales - , sondern es gibt nur ein einziges, „und dieses Evangelium ist die Kraft Gottes, den einzelnen zu wandeln und durch den einzelnen die Gesellschaft. Das Evangelium hat die Macht, den einzelnen zurechtzubringen, und ebenso die Macht, die Gesellschaftsordnung zurechtzubringen (redeem)."® Die Bekehrung als „persönliche Revolution" - also die radikale und totale Umwandlung des einzelnen Menschen in seinem Verhältnis zu Gott und in seinem Verhältnis zu den anderen Menschen - erscheint als die wirkliche Umwandlung, die die Welt braucht. Daß Bekehrung in die Gemeinschaft der Kirche führe oder die bereits bestehende Zugehörigkeit zur Kirche verlebendige, wird nicht gesagt. Die Frage nach missionsgemäßen Strukturen der Kirche ist offenbar nicht wichtig: Missionsgemäß sind diejenigen Strukturen, die auf Bekehrung zielen. Die Zuversicht und Gewißheit, die aus diesem ganzen Konzept spricht, ist schon eindrücklich. Das Ziel, die Welt mit dem Evangelium bekanntzu« ER 282. 5 ER 275. « ER 281. 179

machen, scheint durchaus realisierbar. In einer Erklärung des „Weltkongresses für Evangelisation" 1966 heißt es: „ E s bleibt unser unveränderliches Ziel, die Menschheit noch in dieser Generation zu evangelisieren, und zwar mit allen Mitteln, die G o t t dem menschlichen Verstand und Willen zur Verfügung gestellt h a t . " 7 Es erscheint alles in einer erstaunlichen Weise einfach und unproblematisch. Man weiß genau, was die Welt braucht und was man also zu tun hat: ihr das Evangelium von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus als d e m Herrn und Heiland der Welt zu bringen. Man weiß auch, wie man es ζ u sagen hat. Hermeneutik und Soziologie erzeugen letztlich nur Scheinprobleme oder komplizieren jedenfalls unnötig die Dinge. Es ist im Grunde alles einfach und klar. Persönliche Bekehrung zu Jesus Christus - und die Weltprobleme beginnen sich zu lösen, 2. Wenn wir nun in einem zweiten Punkte in ähnlicher Weise die entscheidenden Momente des Präsenz-Konzeptes ins Auge fassen, so ist zunächst einmal als erster Eindruck der zu nennen, daß man hier offenbar viel stärker tastet, als schon weiß, fragt, als schon behauptet. Soll man sagen: Man ist bescheidener, zurückhaltender, weniger selbstbewußt - oder soll man sagen: Man ist seiner Sache nicht mehr so ganz sicher, man ist kleinlaut geworden? Aber das wäre schon eine Wertung, während es jetzt erst einmal um das Verstehen geht. Deutlich ist auf alle Fälle eines: Man hat sich hier in einem ungleich stärkeren Maße von den geistigen und gesellschaftlichen Bewegungen, in die wir hinein gerissen sind, und von ihren Problemen angehen und sich von der Tatsache anfechten lassen, daß die Kirche abseits dieser Prozesse existiert, daß sie nicht wirklich verwickelt ist in die Entwicklungen der Gesellschaft. Sie mag noch hier und da repräsentativ sein, aber sie ist nicht mehr präsent. Der Gedanke (vielleicht auch der Begriff) der Präsenz des Anwesendseins - stammt ja aus der schockierenden Erfahrung des Abwesendseins, der Abständigkeit von der neuen Gesellschaft, wie die Christen in Frankreich sie gemacht haben und aus der die Mission de France entstand. 8 In dem Artikel eines ihr zugehörigen Priesters heißt es : „Die Entchristlichung der Welt des Arbeiters war ernster, als man gedacht hatte. Die hingehendste missionarische Bemühung konnte nicht einmal die Oberfläche ankratzen. Die Kirche blieb außerhalb dieser Welt; sie war abwesend; und dieses Wort ,abwesend' kehrte immer wieder wie ein Leitmotiv." 9 Auf dem Hintergrund dieser - nun wahrlich nicht auf die röm.-kath. Christen FrankS. Kiilling, Der Weltkongreß für Evangelisation (in: Bibel und Gemeinde, 67. Jg.), 46. J . Dimnet, Towards the Discovery of a Genuine Presence (StW), 223. » Ebd., 266. 7 8

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reichs beschränkten - Erfahrung der Abwesenheit der Kirche, ihrer faktischen Bedeutungslosigkeit für das Leben, die Bewegungen, Entscheidungen und Bemühungen der heutigen Gesellschaft muß man das Konzept der „Präsenz" sehen, das der Christliche Studentenweltbund ins Gespräch gebracht hat zur Beschreibung der Aufgabe der christlichen Gemeinde in der (akademischen) Welt, nämlich „den Glauben zu bezeugen, daß in Jesus Christus Gott die Welt mit sich versöhnt hat". 1 0 Der Begriff „Präsenz" wird bewußt anstelle der Begriffe Evangelisation, Zeugnis oder Mission verwendet mit der Begründung, daß in diesen Begriffen eine Haltung der Überlegenheit, der Anmaßung oder sogar der Aggressivität zum Ausdruck komme, die uns nicht mehr länger anstehe, weil damit der andere nicht mehr als Partner ernst genommen sei, sondern zum Objekt unserer Aktivität degradiert werde. In diesen Begriffen stecke einfach zu viel Gekonntheit und zu viel Absichtlichkeit. Wenn jetzt versucht wird, die wesentlichen Momente des Präsenz-Konzeptes aufzuzeigen, so bedeutet das, daß man zu fixieren versucht, was noch im Fluß ist. Ein solcher Versuch ist indessen nicht nur nicht unerlaubt und voreilig, sondern notwendig, wenn man nur weiß, daß es sich dabei um etwas Unabgeschlossenes und jederzeit Korrigibles handelt. a) Präsenz - lebendiges Dasein der Christen in der Welt - als Entsprechung zu dem lebendigen Dasein Gottes in der Welt in dem Menschen Jesus. Die Präsenz der Christen in der Welt hat ihren Grund und ihr Maß in dem incarnatus, in dem Gott selber präsent ist. Gott, dessen Selbstprädikation in Exod. 3,14 Gegenwärtigkeit ist - „Ich bin, der ich bin", „I am he who is present" - ist in dem Menschen Jesus gegenwärtig. Und er ist in ihm den Übersehenen, Übergangenen, Überfahrenen - den Elenden und den Geächteten - gegenwärtig als der Diener, als der sich ihnen Solidarisierende und ihr volles Menschsein Wiederherstellende, der auch als der Erhöhte nicht aufhört, der Diener zu sein, durch dessen Gegenwärtigkeit die Geschichte der Menschheit irreversibel signiert ist. Diejenigen, die in ihm ihren Gott erkannt und angenommen haben, haben an seiner Knechtsgestalt ihr Maß ; ihr Dasein in der Welt ist Widerspiegelung des Seinen, Entsprechung, Analogie. Präsenz ist also nicht einfach bloß dasein, sondern Dasein in seinem Namen und also Nachfolge des Dieners. b) Präsenz - lebendiges Dasein der Christen in den Strukturen und Situationen der Gesellschaft - als Voraussetzung für das Erkennen ihrer Aufgabe. Präsenz heißt Aufhebung der Distanz. Man ist noch nicht präsent, wenn 1» The Christian Community in the Academic World (StW), 233.

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man zwar da ist, sich aber heraushält aus dem Getriebe des Lebens der Gesellschaft. Präsenz heißt : sich mitten hineinbegeben ins Geschehen, sich einlassen auf die konkreten Situationen der Gesellschaft, sich verwickeln lassen in die harten Auseinandersetzungen, die es da gibt. Die so geartete Gegenwärtigkeit ist die Voraussetzung allen Dienstes der Christen. Man muß erst einmal an Ort und Stelle sein - und zwar nicht als harmloser oder verwunderter Zuschauer, sondern als Engagierter - , um klar erkennen zu können, wie die Aufgabe lautet. Sonst gibt es nur die üblichen belanglosen, weil an der Situation vorbeigehenden Richtigkeiten. Nur in Präsenz wird die rechte Artikulation des Evangeliums gefunden. Die Sprache des Evangeliums lernt sich nur im Zugehen und Eingehen auf die Menschen und im Mitgehen mit ihnen in das ganze Beziehungsfeld hinein, in dem sie existieren. Hier gibt es eine echte Priorität :„Da-sein (presence) geht dem Zeugnis voraus." 11 Man weiß eben gerade nicht immer schon vorweg, was zu sagen und ob überhaupt zu reden ist. Wer als Christ an dem wirklichen alltäglichen Leben der Menschen teilnimmt, hört erst einmal lange zu, horcht sich in die Situation hinein und erfragt, welches hier seine Aufgabe sei. Es kann das furchtlose Zeugnis von Christus und es kann ebenso ein „authentisches Schweigen" sein, so daß die Präsenz als solche Zeugnis ist. Authentisches Schweigen unterscheidet sich vom Verstummen dadurch, daß es um des rechten Wortes willen geschieht: Es ist der Verzicht auf die vorfabrizierte Formel, das Unterlassen des Geredes und der Überredung, der Ausdruck der Sorge, daß Jesus nicht zur Sprache kommen könnte in unseren Worten, und es geschieht in Erwartung des neu geschenkten Wortes. 12 c) Präsenz - lebendiges Dasein der Christen in den Strukturen der Gesellschaft — als Offensein, als dialogische Existenz im Verzicht auf Grenzziehungen. Präsenz ist Da-Sein, Bei-Sein, Mit-Sein, Für-Sein. Mit einem Wort: Präsenz ist grenzenlose Bereitschaft zur Kommunikation, der Verzicht auf alle Absonderung und Absonderlichkeit, das Wagnis des Offenseins als Partner im Dialog. In diesen Zusammenhang gehören die so sehr dem Mißverständnis ausgesetzten Begriffe der Anonymität und der Solidarität. Es heißt in dem Präsenz-Dokument des Christi. Studentenweltbundes, daß wir „oft anonym" dasein müßten in der Gesellschaft.11 Aber Anonymität, Inkognito, meint nicht die Verheimlichung oder Verleugnung des Namens, sondern „Verzicht auf Selbstabgrenzung". 13 Es gibt zweifellos ein falsches 11

Ebd., 234. G. Rist, The Silence of the Word (StW), 246, 249. 18 H. J. Schultz, a.a.O., 409: „Namen gibt man sich nicht selbst. Sie werden einem gegeben als Antwort darauf, was man ist." 12

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Inkognito: aus Angst oder als Missionsmethode zum Einschieichen getarnter Christen (Infiltrationstaktik) oder Inkognito als Prinzip, als Dauerzustand. Der Verdacht, die Vertreter des Präsenz-Gedankens könnten Anonymität in diesem letzteren Sinne verstehen, ist doch wohl unbegründet. Sie würden sicher H. R. Weber zuzustimmen vermögen, der das Inkognito des Christen als ein Durchgangsstadium bezeichnet, als eine Etappe auf dem Wege zum Offenbarwerden Christi.14 Freilich: Direkt gesagt wird das nirgends, und es müßte eigentlich gesagt werden. - Ähnlich wie Anoymität bedeutet auch Solidarität zunächst einmal nichts anderes als „die Bescheidenheit des Verzichts auf Distanzierung".16 Man kommt nicht als Überlegener, prall voll Glaubenserfahrung, sondern als einer, der um die Schwachheit seines Glaubens und die Fragwürdigkeit seines Gehorsames weiß und der mit den anderen nach den Problemen in einer hochgradig differenzierten Welt fragt. Er kommt als Partner, der bereit ist zum offenen Dialog, in dem er zunächst einmal zuzuhören hat und in dem er keineswegs nur der Gebende ist. Solidarität heißt nicht Anpassung oder gar Anbiederung an die Welt und auch nicht Bestätigung in ihrem So-Sein; Solidarität ist nicht gleich Konformität. Sie ist uneingeschränktes und absichtsloses Für-Sein. Der Gedanke der Solidarität hat seine biblische Begründung natürlich in 1. Kor. 9,19. Freilich ist dort von zwei Merkmalen der Solidarität die Rede, von denen in dem Präsenz-Konzept keine Rede ist; einmal: Die Solidarität ist dort nicht grenzenlos - Paulus ist zwar den Juden ein Jude, nicht aber den Griechen ein Grieche geworden.14 Die von ihm praktizierte Solidarität ist also nicht schrankenlos, und sie ist zweitens auch nicht absichtslos, jedenfalls nicht richtungslos und nicht ziellos:hina kerdeso,hinasoso. Sie ist keine gespielte und doch eine gezielte Solidarität. Sie ist kein missionarischer Trick, nicht Mittel zum Zweck, aber sie hat einen Horizont : Ein Christ bliebe dem anderen die letzte Solidarität schuldig, wenn er sich nicht mit ihm auf dem Wege zum Gericht wüßte. Davon, daß die Solidarität nicht schrankenlos und nicht ziellos ist, wird in dem Präsenz-Konzept nichts gesagt, und vielleicht doch nicht nur versehentlich. Mit der Sorge vor der Wiederaufrichtung von Barrieren, Trennwänden, Abgrenzungen und der Verfälschung der Solidarität durch eine damit verfolgte Absicht hängt es doch wohl zusammen, daß in dem ganzen Konzept nicht von der Kirche die Rede ist als von der Gemeinschaft, die Christus durch sein Wort und durch die Sakramente erhält und in der er die neue Menschheit sammelt. In einem sehr instruk-

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H. R. Weber, Mission inkognito? (ZdZ, 21. Jg. 1967), 138. H. J . Schultz, a.a.O., 410.

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tiven Aufsatz über christliche Präsenz unter Menschen anderen Glaubens wird von der „größeren Gemeinschaft" (the wider communion) gesprochen; wir sollten die Grenzen nicht enger ziehen als Jesus selbst in Mark. 3,35. Christus sei größer, als ihn die Kirche glaubt, und seine Jüngerschaft um* fassender, als die Kirche sie darstellt. Er sei auch in anderen Religionen gegenwärtig und sein Geist auch in ihnen wirksam.16 In der nächsten These wird darauf hingewiesen werden, daß nach der hier vertretenen Auffassung die Gegenwart des „größeren Christus", des Christus extra muros ecclesiae, nicht nur in den anderen Religionen, sondern im Weltgeschehen überhaupt auszumachen sei. Es ist nur folgerichtig, wenn es dann nicht als eine notwendige Aufgabe angesehen werden kann, Menschen der Kirche einzugliedern.17 Man würde indessen nun doch den Vertretern des Präsenz-Konzeptes Unrecht tun, wenn man ihnen vorwürfe, ihre Solidarität mit den anderen ende in sich selbst. Es sei Solidarität um der Solidarität willen. Es stimmt schon : Ihre Solidarität hat kein Ziel, aber sie hat doch eine Richtung ; sie verfolgen nicht die Absicht, aber sie haben die Hoffnung, daß durch ihr Da-Sein Menschen zu Jesus finden, ihn „erkennen als den, der er ist und der bleibt, wo sie sind", 11 freilich: der bleibt, wo sie sind, und der also nicht von ihnen verlangt, ihren Ort in der Gesellschaft zu verlassen und in eine sich von der Abgrenzung her verstehende Kirche auszuwandern, als sei Seine Gegenwart auf diese Enklave beschränkt. Es wird jedenfalls offengelassen, was aus denen wird, die Jesus Christus erkannt haben. d) Präsenz - lebendiges Dasein der Christen in der Gesellschaft - als Dienst in geistlicher Verantwortlichkeit für eine Welt-in-Bewegung aus Glauben an den im Weltgeschehen gegenwärtigen und ankünftigen Christus. Daß das Präsenz-Konzept so sehr über eine sich im Gegenüber zur Welt verstehende, sich mit der Frage der Abgrenzung zur Welt beschäftigte Kirche hinausdrängt ins Freie, in das offene Beziehungsfeld der Gesellschaft, daß es in einer für manche Ohren so penetranten Weise vom Sich-Einlassen auf und Sich-Kümmern um die Welt spricht, hängt offenbar mit einer ganz bestimmten christologisch begründeten Geschichtsauffassung - oder sagt man richtiger : mit einer von der geschehenden Geschichteher neu verstandenen Christologie? - zusammen. Einmal: die Befreiung der Welt von den den Menschen versklavenden Mächten des Bösen durch Christus hat den Prozeß des Weltlich16 H. J a i Singh, Christian Presence amid Men of Other Faiths: Deenebandhu C. F. Andrews (StW), 277 ff. 17 Mission als Strukturprinzip, hrsg. v. H. J . Margull, 1965, 45: „Wir fragen uns ernsthaft, ob wir wirklich als letztes Ziel Gottes die Inkorporation aller Menschen in die Kirche annehmen müssen."

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werdens der Welt, den Prozeß der Säkularisierung in Gang gebracht und damit den Weg für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik eröffnet. Insofern die Kirche diesen Säkularisierungsprozeß ausgelöst hat, bleibt sie - gerade weil dieser Prozeß sich zunehmend vom Evangelium losgelöst hat - verantwortlich beteiligt an dieser durch das Evangelium ausgelösten Entwicklung. Das Weltlichsein der Welt ist offenbar alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der von der Säkularisierung bestimmte gesellschaftliche Prozeß hat geistlichen Rang, und deshalb geschieht die Präsenz von Christen in der Gesellschaft aus geistlicher Verantwortung. 11 Wo also für Versachlichung im Beziehungsgefüge der Gesellschaft gekämpft wird, geschieht ein geistlicher Kampf. Von hierher muß die von der PräsenzTheologie als so unabweisbar empfundene Verantwortung für die Gesellschaft verstanden werden. Es ist eine geistliche Verantwortung. Der Vorwurf eines bloßen sozialen Aktivismus wäre ganz einfach zu billig. Kommt das Verantwortungsbewußtsein von dorther, so kommen die Impulse für den Einsatz in der Gesellschaft aus dem Glauben an den im Weltgeschehen gegenwärtigen und es seiner Zukunft zutreibenden Christus, der nie aufhört, der Mensch gewordene Diener des Menschen zu sein. Jesus Christus hat sich dazu mit dem leidenden Menschen identifiziert, um ihn wiederherzustellen zu seinem vollen Menschsein. Mit seinem Kampf gegen alles den Menschen um sein volles Menschsein Bringende hat er eine humanisierende Bewegung in der Geschichte ausgelöst,18 für die er seine Gemeinde als seine Dienstschar gebraucht, die er aber auch durch andere menschliche Bemühungen um Freiheit, Frieden, Versöhnung, Vermenschlichung vorantreibt, seiner Zukunft entgegen. Nur seine Gemeinde weiß darum ; sie ist der erkennende Teil der Menschheit und als dieser der übrigen Menschheit voraus. Ihr Dienst ist darum vor allem ein prophetischer, insofern sie - und nur sie - in der Lage ist, auf die gesellschaftlichen Bewegungen hinzuweisen, in denen Christus extra muros ecclesiae durch seinen Geist am Werke ist, um der jeweils lebenden Menschheit zu einem menschlicheren Dasein zu verhelfen. Die Geschichte vollzieht sich darum in dauernden Transformationen, die die Gemeinde prophetisch anzuzeigen und an denen sie verantwortlich - und also kritisch und konstruktiv - teilzunehmen hat in der „Uberwindung der bösen Strukturen der Gesellschaft". 19 Darum 18

H. J. Schultz, Konversion zur Welt (ZdZ, 20. Jg., 1966), 15. A. J. Singh, a.a.O., 277; J. Dimnet, a.a.O., 231; H. Cox, Säkulares Reden von Gott (ZdZ, 21. Jg., 1967), 248: „Weltliches Reden von Gott ist also eine politische Sache. Es verlangt, daß wir danach suchen, wo Gott wirkt, und daß wir uns diesem Wirken eingliedern. Wer Streikposten steht, redet. Indem er so etwas tut, redet ein Christ über Gott." 19

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heißt es in dem Präsenz-Dokument: „Für uns bedeutet dazusein im Namen Christi: Tod dem status quo, sowohl in der Gesellschaft als in der christlichen Gemeinde. Wir werden nicht ermüden, für die Wiederherstellung des wahren Menschseins, wie wir es in Jesus sehen, einzutreten und zu wirken." 11 Die holländische Soziologin Mady Thung zeigt, wie eine so verstandene Präsenz von Christen in der Gesellschaft praktisch wahrgenommen werden kann in der qualitativen Veränderung von Strukturen und Funktionen des kollektiven Lebens, etwa einer korrupten Geschäftsatmosphäre. Dabei wird die Präsenz der Christen sich als Kooperation mit Nichtchristen vollziehen ; denn in Präsenz macht der Christ die Entdeckung, daß die Aktionen von Nichtchristen Gottes Ziel mit der Welt nicht so entgegenlaufen müssen, wie er das vorher angenommen hat. Der Unterschied zu den Aktivitäten der anderen und also das Spezifische und Unverwechselbare der Präsenz der Christen besteht nicht in christlichen Sonderaktionen, sondern in der Qualität ihrer Hoffnung für die Zukunft der Gesellschaft : sie wissen, daß ihr Tun und das der anderen „eingeschlossen ist in das Tun Gottes, der in verborgener und nicht berechenbarer Weise sein Werk der Rettung und Neuschöpfung treibt". 20 Daß es hier eine Differenz zu den gesellschaftlichen Aktivitäten der Nichtchristen gibt und daß also von einer Auflösung der christlichen Gemeinde in die Gesellschaft hinein, von einem restlosen Auf- und Untergehen im gesellschaftlichen Engagement nicht die Rede sein kann, hängt mit einem Letzten zusammen, das unter keinen Umständen bei der Charakterisierung des Präsenz-Konzeptes übergangen werden darf. Präsenz als Gegenwärtigkeit von Christen in der Gesellschaft enthält als integrierendes Element ihre Kommunikation am Evangelium im Hören des Wortes, im Empfang des Abendmahles, in der Fürbitte und im Lobpreis. Gerade weil es sich beim gesellschaftlichen Einsatz um einen geistlichen Kampf handelt, bedarf es dieser geistlichen Mitte. H. J . Schultz hat im Blick auf die neuen bruderschaftlichen Ordensgründungen die ausgezeichnete Formulierung gefunden : „ E s geht ihnen um die innerste Konzentration für die äußerste Partizipation am wirklichen Geschehen." 2 Und der französische Arbeiterpriester Jean Dimnet schreibt: „Wir entdeckten, daß zunehmend der Akzent auf eine Präsenz zu liegen kam, die beides einschloß : Spiritualität und Solidarität." 21 In einer Studie über die biblischen Wurzeln des Präsenz-Gedankens heißt es im Blick auf Gen. 18,24ff.: „Christliche Präsenz heißt nicht nur: unter den 20 21

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M. A. Thung, Christian Presence and Collective Choices (StW), 274. J . Dimnet, a.a.O., 229.

Menschen einzustehen für die Menschenwürde ihrer Mitmenschen, sondern ebenso bei Gott einzustehen für den Wert der Menschen und ihrer Welt", alles vor ihm geltend zu machen, was für die Menschen spricht, damit sie noch einmal eine Chance erhalten.2® Freilich, man darf nicht vergessen: diese Spiritualität, diese geistliche Konzentration ist nur ad usum proprium gedacht ; jedenfalls ist von einer Verstärkung der Fürbitte durch das Hinzutreten anderer, von einer Vermehrung des Lobpreises durch das Einstimmen der anderen, jetzt noch nicht zum Gotteslob Bereiten, nicht die Rede. Rein quantitativ betrachtet, steht das, was über die Kommunikation am Evangelium wie über das explizite Christuszeugnis gesagt wird, in keinem Verhältnis zu den breiten Aussagen über das gesellschaftliche Engagement. Aber in dieser Feststellung steckt noch kein Werturteil. Man muß den Mut haben, einseitig zu reden, wenn man die Chance haben will, gehört zu werden. Fragt man nach den geistigen und geistlichen Ahnherren dieser Konzeption, so ist natürlich D. Bonhoeffer zu nennen mit seiner Betonung der Diesseitigkeit des Christentums, der nicht-religiösen Interpretation, dem Gedanken der Arkandisziplin, mit seinem Satz, daß die Kirche stille sein solle im Beten und im Tun des Gerechten. Es ist K. Barth zu nennen mit seiner christologischen Konzentration, es ist wahrscheinlich Hegel zu nennen mit seinem Gedanken der Offenbarung Gottes als weltgeschichtlicher Prozeß ; es ist die historisch-kritische Forschung zu nennen mit ihrem Bild des historischen Jesus. Einer fehlt auf alle Fälle in dieser Ahnenreihe: R. Bultmann. Ihn würden die Vertreter des Präsenz-Gedankens mit seiner Konzentration auf die Existenz, mit seiner Interpretation von Geschichte als Geschichtlichkeit und mit seiner Kategorie der Entscheidung ausgesprochenermaßen auf der Seite der Bekehrungstheologie stehen sehen.

II T h e s e 2 : Die Vertreter der beiden unterschiedlichen Auffassungen vom Wozu der Gemeinde Jesu Christi haben sich gegenseitig im Verdacht, daß jeweils beim anderen entscheidende Momente des Evangeliums zu kurz kommen. Die Optik, in der die beiden Seiten einander erscheinen, ließe sich - vergröbernd - etwa mit folgenden Schlagworten kennzeichnen: Jenseitsorientierung Inkarnationshumanismus ; Heilsegoismus - WeÜverbesserungsaktivismus ; Entscheidungsmethodismus - Unentschiedenheitsrelativismus ; Distanzierung 22

E. Roland, Present Like Abraham (StW), 220.

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- Nivellierung·, oder mit der Parole: „Nur selig !" - „Seid menschlich!"

Die

damit angedeuteten Unterschiede lassen sich auf eine christologische Grunddifferenz zurückführen.

Trotz der gemeinsamen Uberzeugung, daß Voraus-

setzung und Motiv der missio die persönliche Lebensorientierung an Jesus Christus ist, muß das Ziel der missio jeweils verschieden bestimmt werden, weil man jeweils Jesus Christus verschieden im Blick hat: hier den stellvertretend für unsere Sünden gekreuzigten Heiland, dort den zur

Wiederher-

stellung der Menschheit handelnden Diener. Es ist doch wohl so, daß die Vertreter der beiden Konzeptionen ein ganz bestimmtes Bild voneinander haben. Man ist jedenfalls ziemlich fest davon überzeugt, daß der andere es zwar vielleicht ehrlich meinen mag, daß es aber so nicht geht. Man könnte einmal versuchen, die Sicht, die man voneinander hat, so zu fixieren, daß man - anstelle der in der These genannten Schlagworte - die Anfragen formuliert, die man jeweils an den anderen zu richten hat. Es soll im folgenden versucht werden, einen Katalog solcher wechselseitiger Anfragen aufzustellen, wobei a) die Anfrage der Bekehrungstheologen an die Präsenztheologen beinhaltet, b) die entgegengesetzte Fragerichtung anzeigt: 1. a) Macht ihr wirklich damit Ernst, daß die Welt in der Gewalt des Bösen ist (1. Joh. 5,19) und unter dem Zorn Gottes steht (Rom. 1,18)? Überseht ihr nicht die radikale Sündigkeit und Verlorenheit der von Gott abgefallenen Welt? - b) Macht ihr damit Ernst, daß Gott die Welt mit sich versöhnt hat (2. Kor. 5,19) und daß sie das Gegenüber von Gottes Liebe geblieben ist (Joh. 3,16)? Überseht ihr nicht, daß Gott seine Schöpfung zur Vollendung bestimmt hat und daß die Welt darum das verheißungsvolle Auftragsfeld des Menschen ist? 2. a) Habt ihr genügend zur Kenntnis genommen, daß Jesus Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen (1. Tim. 1,15; Luk. 19,10)? - b) Habt ihr genügend bedacht, daß Jesus Christus in die Welt gekommen ist, um den von den Frommen Geächteten seine Gemeinschaft zu schenken, um sich der Not des ganzen Menschen in allen ihren Gestalten anzunehmen und ihm das Leben in seiner Fülle zu schenken (Matth. 9,10f.; Heilungsgeschichten; Joh. 10,11)? 3. a) Kommt bei euch überhaupt zur Geltung, daß Jesus Christus uns durch sein Opfer am Kreuz von unserer Schuld losgemacht hat (Rom. 3,24f.)? - b) Bringt ihr genügend zum Ausdruck, daß Jesus Christus uns durch seinen Tod von unserem Zwang zur Selbstbehauptung und damit zum Dienst befreit hat? 4. a) Vergeßt ihr nicht, daß die Heilsfrage die erste und wichtigste ist? Wißt ihr nicht, daß man das Heil haben kann, ohne das Wohl zu haben (Luk. 6,20ff.)? - b) Vergeßt ihr nicht, daß die Frage nach dem Heil und die nach dem Wohl zusammengehören?

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Wißt ihr nicht, daß man das Heil verspielen kann, wenn man sich nicht um das Wohl des anderen kümmert (Matth. 25,44ff.)? 5. a) Ethisiert ihr nicht das Evangelium zu einer Weltverbesserungslehre? Verliert ihr euch nicht an die Welt? - b) Individualisiert ihr nicht das Evangelium zu einer Lehre vom Seelenheil des einzelnen? Überlaßt ihr nicht die Welt sich selbst? 6. a) Erspart ihr den Menschen nicht die bewußte Entscheidung für Christus und damit den Bruch mit der Welt? - b) Versteht ihr nicht, daß die Entscheidung für Jesus Christus Nachfolge heißt, daß der Bruch mit der Welt der Bruch mit der sie qualifizierenden Selbstbehauptung und also hingebender Dienst an der Welt ist, daß Buße sich im sozialen Tun äußert (Luk. 3,8ff.)? 7. a) Wie werdet ihr eigentlich damit fertig, daß nach dem NT die Gemeinde Gottes erwähltes und erlöstes Volk ist, daß hier Trennungen unvermeidlich werden (2. Kor. 6,14), daß es hier ein deutliches Bewußtsein von Drinnen und Draußen gibt (1. Kor. 5,12f.; 1. Thess. 4,12; Offb. 22,15) und ein klares Fremdheitsbewußtsein gegenüber der Welt herrscht (1. Petr. 2,11 ; Phil. 3,20)? - b) Wie könnt ihr eigentlich so ungebrochen diese Schriftstellen auf euch beziehen, als hätte es inzwischen keine Kirchengeschichte gegeben, als sei die Kirche nicht inzwischen zerspalten und die Welt nicht in sie eingedrungen? Woher nehmt ihr die Maßstäbe für Drinnen und Draußen? Und wißt ihr nicht, daß Fremdlingschaft nichts mit Befremdlichkeit zu tun hat, sondern als Christusnachfolge im alten Milieu gelebt wird? 8. a) Übergeht ihr nicht die Hauptaufgabe der Gemeinde, die nach Matth. 28,19 darin besteht, daß durch die Verkündigung des Evangeliums und den Vollzug der Taufe Menschen für Jesus gewonnen und seiner Gemeinde hinzugetan werden (Act. 2,41.47), der der Herr das Erbe seines Reiches verheißen hat (Kol. l,12f.; Jak. 2,5)? - b) Meint ihr nicht, daß uns Christus mit der Entwicklung der Welt - z.B. durch das explosive Wachstum der Weltbevölkerung und den Prozeß der Säkularisierung etwas sagen will? Nicht vielleicht dies, daß sein Ziel nicht die universale Kirche, sondern die am Schalom teilhabende Menschheit ist, und daß er dazu seine kleine Gemeinde als die in die Welt hineingestreute Dienstschar gebrauchen will? 9. a) Wartet ihr eigentlich noch auf den wiederkommenden Herrn und damit auf den Abbruch der Geschichte und die Aufrichtung seines Reiches? Denkt ihr im Grunde nicht doch evolutionistisch? - b) Meint ihr nicht, daß wir neu zu begreifen haben, daß die parousia Jesou Christou, seine Ankunft und seine Zukunft, zusammen gesehen werden müssen, daß er also mit seinem Kommen als Diener und Befreier der Menschen die Geschichte seiner Zukunft entgegenzuführen begonnen hat und daß dabei all das, was in der Geschichte für den Menschen getan wird, sein Werk ist 189

und in seine Zukunft eingebracht wird? Gibt es nicht auch Kontinuität von Weltgeschichte und neuer Schöpfung? Man könnte den Katalog noch fortsetzen; aber vielleicht sind dies doch die wichtigsten Fragen, die man aneinander zu richten hat. Freilich bin ich mir nur für die jeweils unter a) angeführten Fragen einigermaßen sicher, daß sie etwa so lauten werden. Längst nicht so sicher bin ich mir, ob die Vertreter des Präsenz-Denkens ihre Fragen so formuliert hätten. Ich habe diese Unsicherheit darin zum Ausdruck gebracht, daß die Gegenfragen von Frage 7 an eine andere Struktur bekommen haben als die vorangehenden : E s wird nicht mehr ein biblisches Gegenargument angeführt, sondern von der Geschichte her argumentiert. Wahrscheinlich entspricht dies stärker dem Denkansatz der Präsenz-Theologen. Sie würden den Bekehrungstheologen vermutlich sagen: Mögt ihr, im Blick auf den biblischen Wortlaut gesehen, hundertmal recht haben mit euren Fragen und den dahinterstehenden Behauptungen, aber ihr denkt im Grunde geschichtslos oder allenfalls im Schema einer Heilsgeschichte, die sich als eine Art Übergeschichte oberhalb des Weltgeschehens bewegt. Nicht, daß wir die Geschichte als eine Offenbarungsquelle ansehen - aber die geschehene und im Augenblick geschehende Geschichte stellt uns Fragen und fordert uns heraus. Und mit diesen Fragen im Ohr und mit diesen Herausforderungen vor Augen stehen wir dem Evangelium noch einmal ganz neu gegenüber; im Kontext unserer Geschichte geht uns am Text der Schrift manches ganz neu auf, nicht zuletzt dies, daß die Schrift selbst einen unvertauschbaren, unübertragbaren geschichtlichen Kontext hat, so daß es eben nicht angeht, die inzwischen geschehene Geschichte zu überspringen und sich in vermeintlicher Bibeltreue auf den biblischen Wortlaut zu berufen. So können ζ. B. die neutestamentlichen Aussagen über die scharfe Abgrenzung der Gemeinde zur Welt, über Drinnen und Draußen, nicht mehr einfach auf den geschichtlichen Ort, an dem wir existieren, übertragen werden; diese Aussagen waren damals sinnvoll und notwendig, insofern es ein klar erkennbares Heidentum g a b ; nach 2000 Jahren abendländischen Christentums mit seinen Erscheinungsformen von Volks- und Staatskirchen geht das nicht mehr so einfach. Die neutestamentlichen Anweisungen, mit den das Angebot des Evangeliums Abweisenden jede Verbindung abzubrechen und des zum Zeichen den Staub von den Schuhen zu schütteln, sind, nachdem der Schmutz von zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte an diesen Schuhen klebt, nicht mehr so einfach anwendbar. Die neutestamentlichen Ekklesia-Aussagen setzen die damals bestehende Einheit der Kirche voraus; man muß sich doch fragen, was die Tatsache der Zerspaltenheit der Kirche in Konfessionskirchen für 190

die Geltungskraft dieser Stellen heute bedeutet. Der neutestamentliche Bußruf schließt zwar die personalen Relationen, in denen ein Mensch steht, mit ein; man muß sich aber doch fragen, ob Veränderungen der Personalrelationen in einer hochdifferenzierten Gesellschaft ausreichen können, in der das soziale Leben eben nicht mehr die Gesamtheit der Beziehungen zwischen einzelnen ist, in der also nicht Personal-, sondern Strukturprobleme die entscheidenden sind, so daß es auf Veränderungen der Strukturen und nicht nur auf Veränderungen der persönlichen Beziehungen innerhalb der Strukturen ankommt. 23 Man wird die Präsenz-Konzeption schwerlich verstehen, wenn man sich diesen Fragehorizont nicht deutlich macht. Wenden wir uns noch einmal den wechselseitigen Anfragen zu, so wird deutlich, daß in ihnen eine Differenz im Verständnis von Welt (Frage 1), im Verständnis der Christologie und Soteriologie (Fragen 2-6), im Verständnis von Kirche (Fragen 7-8) und im Verständnis von Eschatologie (Frage 9) zum Ausdruck kommt. Man kann diese Unterschiede auf eine Grunddifferenz in der Christologie zurückführen. Ganz klar steht im Mittelpunkt des Bekehrungskonzeptes Jesus Christus als der für die Sünden der Welt gekreuzigte Heiland, der crucifixus. Er hat sich von dem den Sünder vernichtenden Nein des Zornes Gottes zuTode treffen lassen. Der Gottverlassenheitsschrei am Kreuz ist ein Schrei aus der Hölle; Christi Tod am Kreuz hat die Qualität der ewigen Verdammnis. In der Auferweckung des Gekreuzigten hat Gott diesen Opfertod als an unserer Statt geschehenen gültig gemacht. Wer an den für ihn gekreuzigten und auferweckten Heiland glaubt, und d.h.: wer in Existenzgemeinschaft mit ihm eintritt, bekommt Anteil an allem, was er zu geben h a t : das neue Sein unter Gottes Ja, ein Leben in der Freiheit der Kinder Gottes, in der Heiligung des Geistes, in der Gemeinschaft der Gläubigen, die sich der Herr als seine Zeugen und als Erben seines Reiches sammelt. Ebenso deutlich steht im Mittelpunkt des Präsenz-Konzeptes Jesus Christus als der zur Wiederherstellung des Menschen gekommene Diener, der incarnatus. Er hat sich zu den an ihrem vollen Menschsein Gehinderten - den Sündern, den Notleidenden, den von der Gesellschaft Geächteten gestellt in einer letzten Solidarität; er hat ihnen durch die Vergebung der Sünden, durch Heilung ihrer Not und durch das Geschenk seiner Gemeinschaft zum ganzen Menschsein verholfen und so den Kampf aufgenommen gegen alles, was den Menschen um sein volles Menschsein bringt. In diesem 23

Vgl. R. Mehl, Die Grundlagen der christlichen Sozialethik (in: Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, 1966), 24ff.

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Dienst für den Menschen hat er den Tod am Kreuz auf sich genommen als den äußersten Hingabeakt. Sein Tod ist, wiewohl es ein ganz menschlicher Tod ist, von dem unseren - auch von dem eines Märtyrers - darin qualitativ unterschieden, daß es kein Tod gegen jemand war, sondern ein Tod im reinen Für-Sein. Dieser Dienst Jesu hört mit seiner Selbsthingabe am Kreuz nicht auf, sondern geschieht weiter. Hier werden die Dinge nun leider einfach unklar. Im Präsenz-Dokument steht der merkwürdige Satz: „Und sogar nach seinem Tod ist er gegenwärtig (present), wie man uns sagt, und geht er seinen stillen Weg durch die Geschichte." 11 An solch einer Stelle wäre Präzision besser als Lyrik. Dieser Satz könnte heißen: Jesu Sache geht trotz seines Todes weiter in der Präsenz seiner Gemeinde, in ihrem Dienst, der dem seinen analog ist. Er könnte freilich auch heißen - und ich möchte ihn gern so verstehen - , daß Jesus Christus auch als der Erhöhte nicht aufhört, der Diener des Menschen zu sein. Seine Erhöhung macht seine Menschwerdung nicht rückgängig. Er bleibt als der Erhöhte der incarnatus, der dem Menschen Dienende und zum vollen Menschsein Verhelfende. Dazu braucht er seine Gemeinde als Werkzeug, als Dienstschar (serving-corps21), die in den Geschichtsprozessen seine Sache, d.h. die Sache des Menschen, betreiben soll und dabei wahrnehmen wird, daß auch andere bei dieser Sache sind, ohne zu erkennen, daß es Jesu Sache ist.16 Die Gemeinde trifft in der Welt auf ihren Herrn: in denen, mit denen er sich identifiziert hat, trifft sie auf seinen Anspruch, in allen, die sich für den Menschen einsetzen, auf seine Herrschaft als des dienenden Messias.24 Von dem endgültigen Kommen Jesu Christi, von der Auferweckung der Toten, wird in dem Präsenz-Konzept explizit nicht gesprochen; nur dies wird gesagt, daß der Christus, der heute gegenwärtig ist, es auch morgen und immer sein wird: He who is present is he who will be present. Die Gegenwart Jesu Christi ist zukünftige Gegenwart. Sie hört nie auf, während die Präsenz der Gemeinde an ein Ende kommt, und dieses Ende schließt das Gericht ein.26 Zu der eben skizzierten Christologie des Präsenz-Konzepts wird man sagen müssen, daß sie zumindest unklar ist. Die Intention der Verfasser des Präsenz-Dokuments, derselben Realität Ausdruck zu geben, wie die Väter es taten, nämlich ihren Glauben zu bezeugen, „daß in Christus Jesus Gott die Welt mit sich versöhnt hat", ist m. E. nicht gelungen.26 Der entschei2 4 A. Scheurer, Theological Questions to Part II of „The Christian Community in the Academic World" (StW), 244. 26 Ph. Potter, Christian Presence (StW), 214. 2® J . Hempel hat in seinem sehr abgewogenen Urteil über dieses Dokument geschrieben: „Die Christologie des Dokumentes, und das ist doch ein entscheidender Punkt, ist

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dende Einwand gegen diese Christologie ist der, daß hier der Tod Jesu keine Heilsbedeutung mehr hat. Jesu Tod ist zwar Tod für uns : Tod als Folge und als äußerste Bewahrheitung seines Dienens, aber nicht in sich selbst ein Dienst, nicht Tod in Stellvertretung für uns (das pro nobis ist nicht durch vice nostri interpretierbar). Nun hat freilich E. Käsemann in seinem Kirchentagsvortrag über „Die Gegenwart des Gekreuzigten" gerade die Rede von Jesu Tod als Opfer, Sühne, Lösegeld als „ausgesprochen theologische und höchst zeitgebundene Deutungen seines Todes" erklärt. 27 Unzählige Prediger quälten sich jetzt zu Karfreitag damit ab, klarzumachen, daß der sterbende Jesus der Begründer unseres Heils sei, indem er unsere Schuld auf sich nimmt und Gottes Zorn für uns trägt. Aber sie quälten sich vergeblich damit ab. Wir hätten uns an diese Deutung des Kreuzes so sehr gewöhnt, daß wir darin das Herzstück unseres Glaubens erblickten und nichts glühender meinten verteidigen zu müssen. Matthäus indessen zeige, daß man vom Kreuz auch anders als mit den theologischen Formeln vom Opfertod und von der Sühne sprechen könne und dürfe. Und Käsemann fragt: „Sollten wir uns um der Barmherzigkeit wie um der Mission willen... nicht endlich von der geheiligten Sprache lösen, wenn es uns wirklich um Jesus und sein Kreuz geht, statt um dogmatische Traditionen und private Überzeugungen?"28 Man wird sich dem Bohrenden dieser Frage nicht leichtfertig entziehen können, zumal sie von einem Manne gestellt ist, dessen ganze Theologie nichts anderes sein will als Kreuzestheologie. Es bedarf keines Wortes, daß sein Kreuzesverständnis viel tiefgründiger ist als das des Präsenz-Dokumentes. Es heißt bei ihm: „Der Todesschrei Jesu zeigt, wo Gott und die Gottlosen zusammenkommen und beieinander bleiben, nämlich allein dort, wo Christus den Vater nicht läßt und für uns stirbt, die Welt auf Gnade stellend." 29 Aber mir ist der Sinn dieses „Für uns" bei Käsemann nicht wirklich deutlich geworden.30 Es geht nicht um das Festhalten eine merkwürdig unausgeglichene Mischung von Konzentration auf den historischen Jesus einerseits und von Ausweitung eben der Inkarnation in die Weltgeschichte hinein ; theologiegeschichtlich - eine Mischung aus dem Jesus-Bild der historisch-kritischen Forschung und auf Jesus umgemünzter Hegelscher Gedanken über das Verhältnis Gottes zur Weltgeschichte" (ZdZ 1967), 185. 27 In: Christus unter uns. Vorträge in der Arbeitsgruppe Bibel und Gemeinde des 13. Deutschen Evang. Kirchentags Hannover (1967), 6. 28 Ebd., 8. 29 Ebd., 11. 30 Man wagt das angesichts der ungewöhnlich scharfen Reaktion E. Käsemanns auf den kritisch zu seinem Kirchentagsvortrag Stellung nehmenden Aufsatz von U. Asendorf, Zum Kreuzesverständnis bei Ernst Käsemann (LM 1967), 545ff., kaum mehr zu äußern 12 A

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orthodoxer Formeln - aber wo der Tod Jesu nicht mehr als Tod für uns im Sinne von „uns zugut" und „an unserer Stelle" verkündigt wird, ist doch wohl der Christusbotschaft das Herzstück genommen.31 Es muß unter allen Umständen feststehen : Jesus ist den Tod gestorben, den wir verdient hätten, den Tod des Gottlosen. Und nun brauchen wir diesen Tod nicht mehr zu sterben. „Jesus ist den Tod gestorben, den alle verschuldet haben, den Tod des Gotteslästerers. Und er ist in diesem Sinne für uns, für unsere Sünden gestorben. Niemand (muß) mehr den Tod der gänzlichen Ausstoßung sterben, den Jesus gestorben ist. Jesu Tod bedeutete ja seinen Ausschluß von der Gemeinschaft mit G o t t . . . Er ist gestorben als ein Ausgestoßener... Diesen Tod der ewigen Verdammnis braucht niemand mehr zu sterben, sofern er Gemeinschaft mit Jesus hat." „Jesus hat durch seinen Tod... anstelle der ganzen Menschheit die Folge der Absonderung von Gott, die Strafe der Sünde getragen. Durch i h n . . . ist die Gottverlassenheit des Todes für alle Menschen überwunden worden." 32 Hier, in diesem innersten Zentrum des Kreuzesverständnisses, entscheidet sich der Inhalt der missio. Wenn man nicht bis hierhin vorstößt, bleibt man im bloß Methodisch-Pragmatischen. Es ist der Vorzug des Bekehrungskonzeptes, daß an diesem entscheidenden Punkte Klarheit herrscht. Daß das Kreuz Jesu Christi nicht nur Folge seines Dienstes an den Menschen, sondern selber Dienst ist, nämlich Stellvertretung des Sünders, ist hier das Einundalles. Freilich - und das muß nun sofort hinzugefügt werden - : das Kreuzesgeschehen ist hier in einer unerlaubten Weise privatisiert worden als bedeutsam nur für das persönliche Heil des einzelnen. Das im Kreuz Jesu Christi vollzogene Rechtfertigungsgeschehen muß aus dem „Prokrustesbett des Individualismus" befreit, es muß aus dem Verständnis als „Vorgang oder Geschehen im unmittelbaren inneren Bereich der menschlichen Person hinausgeführt (werden) in das weite Feld der Geschichte, in der und durch die Gott am (vgl. LM 1967), 595ff. - Die Frage, ob sich die Heilsbedeutung des Kreuzes Jesu ohne den Opfer- und Sühnegedanken sachgemäß aussagen läßt, wird uns freilich nicht loslassen dürfen. Jeder Versuch, in anderen Kategorien vom Kreuze Jesu zu reden, muß mit unserem aufmerksamsten Hören rechnen dürfen. Das Gespräch mit Käsemann ist keineswegs zu Ende. 81 Vgl. die Erklärung der Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen zum Reformationsgedenken 1967, III: „Wir werden darauf aufmerksam gemacht, daß der gekreuzigte Herr uns auf den Weg der Nachfolge ruft. Wenn aber dabei verneint wird, daß der Kreuzestod unseres Herrn und Heilandes sein stellvertretendes Leiden ist, um dessentwillen uns die Rechtfertigung im Glauben zuteil wird, so ist damit der Boden der Schrift verlassen." 82 W. Pannenberg, Cristologie, 1964, 270, 277.

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Menschen handelt".3® Die für die Bekehrungskonzeption charakteristische individualistische Grundstruktur, die Verengung des Kreuzesgeschehens im Sinne einer individuellen Schuldablösung, muß aufgebrochen und sein universaler Horizont wiedergewonnen werden.

III T h e s e 3 : Die mit dem Stichivort „Bekehrung" gemeinte Sache-die persönliche Lebensbindung an und die Umorientierung auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heiland Jesus Christus, der Wechsel von einer alten zu einer neuen Existenz - ist unaufgebbar. Der psychologische Erlebnisvorgang ist dabei theologisch ohne jede Relevanz. Weil die Bekehrung ein Ereignis in der persönlichen Lebensgeschichte eines Menschen ist, schließt sie die Wandlung aller seiner sozialen Beziehungen ein. Sie geschieht in einem gesellschaftlichen Kontext und in einem universalen eschatologischen Horizont. Sie ist Bekehrung zu dem Herrn, den Gott aus Liebe in unsere Welt gesandt und durch den er die Welt mit sich versöhnt hat und in dem er die Schöpfung zum Ziel bringen will in dem Reich ohne Tod, ohne Tränen, ohne Haß- und Wehgeschrei. Es gibt nicht eine zweifache Bekehrung - erst zu Christus und dann zur Welt -, sondern die Bekehrung ist als solche Bekehrung zu dem Herrn und in seine Jüngerschaft, durch deren Dienst er die Not der Welt in allen ihren Gestalten angegriffen und Zeichen seines Reichsheiles in der seiner Zukunft entgegenlaufenden Geschichte aufgerichtet haben will und die stellvertretend für die Welt Gott den Neuschöpfer lobt. In dem Begriff „Bekehrung" in seinem protestantisch-evangelikalen Verständnis schwingt eine Reihe von Untertönen mit, die seine Brauchbarkeit ernstlich in Frage stellen. Es liegt nichts an diesem Begriff, der durchaus durch Begriffe wie Umorientierung, Existenzerneuerung oder auch Befreiung zu ersetzen wäre. Wir behalten ihn bei als einen abgekürzten Ausdruck für ein biblisches Konzept, das auch bei denen anerkannt ist, die diesen Begriff ablehnen. Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, daß das Substantiv „Bekehrung" in der Bibel nur ein einziges Mal vorkommt (epistrophe Act. 15,3), während sonst durchweg nur die Verbal-

M

W. Dentine, Rechtfertigung und Gottesgerechtigkeit (ZdZ, 21. Jg., 1967), 369, 365. - H. Thielicke, Ethik II/2, § 1116: „Das Herz der Theologie Luthers, seine Rechtfertigungslehre, hat gleichsam den Blutstrom noch nicht bis in die Extremitäten seiner Kosmologie, seiner Ordnungs- und Soziallehre gepumpt." 13

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form gebraucht wird.84 Damit ist schon deutlich, daß es nicht um ein abgeschlossenes Ereignis, sondern um das Einschlagen und Einhalten einer Richtung geht. Das Wort ist niemals vom Erlebnis, sondern immer von seiner Beziehungsgröße her bestimmt, woraus wiederum erhellt, daß Bekehrung nicht einen Zustand, sondern eine Beziehung meint. Es muß also unter allen Umständen unterbleiben, einen bestimmten psychologischen Erlebnisablauf zur Norm zu machen.36 Wo dies geschieht, wird ein Gesetz aufgerichtet. Wenn W. de Boor den „Bußkampf" zu den Implikamenten der Bekehrung rechnet und jeden, der hier den Einwand des Methodismus erhebt, verdächtigt als einen, der „nicht in den Tod will und die Schmerzen des Sterbensweges scheut", 86 so ist das unerträglich. Die mit der Bekehrung gemeinte Sache kann sich sehr wohl - wie bei August Winnig - „im Zuge eines Nachdenkens" ereignen. Der Bekehrungsbegriff bleibt nur brauchbar, wenn auf jegliche Dogmatisierung psychischer Vorgänge radikal verzichtet wird. Aber der Bekehrungsbegriff muß nicht nur frei gehalten werden von Normcharakter beanspruchenden emotionalen Elementen, sondern er muß überhaupt aus seiner individualistischen Verengung befreit werden. Um die Überwindung dieser Verengung und um die Wiedergewinnung der biblischen Dimensionen der Bekehrung geht es in den jüngsten ökumenischen Untersuchungen zu diesem Thema, in denen das, was die Bibel über Bekehrung sagt, in unserem geschichtlichen Kontext neu durchdacht wird. Dabei kommt es zu überraschenden Überschneidungen mit dem Präsenz-Konzept in dem gemeinsam gebrauchten Begriff der Nachfolge. Es wird durchweg die Notwendigkeit der Bekehrung als einer persönlichen Umorientierung anerkannt. Der orthodoxe Theologe Nikos Nissiotis spricht von „Bekehrung als persönliche Umkehr zu dem persönlichen Gott". 3 7 Die sog. konservativen Evangelikaien seien völlig im Recht-und die historischen Kirchen hätten hier viel zu lernen - , wenn sie ihre Aktivität als Gruppen der Erneuerung innerhalb des traditionellen Christentums auf diese absolute Notwendigkeit der Bekehrung zentrierten. „Ein getaufter Christ - besonders in Kirchen mit Kindertaufe - muß sich persönlich für " Vgl. den wichtigen Aufsatz von H. W. Wolff, Das Thema „Umkehr" in der alttestamentlichen Prophetie (ZThK 1951), 129ff. 35 £ . Sehlink hat in seinen Untersuchungen zur theologischen Anthropologie eindrücklich auf die Abhängigkeit emotionaler Heilserlebnisse von menschlichen Erlebensund Verhaltensformen und bestimmten psychischen Strukturen aufmerksam gemacht, vgl. : Emotionale Gotteserlebnisse, ein Beitrag zum Problem der natürlichen Religion, 1931, und: Der Mensch in der Verkündigung der Kirche, 1936, bes. 165fi. 38 W. de Boor, Der Pietismus im lutherischen Bekenntnis, 1955, 15. 37 Ν. A. Nissiotis, Conversion and the Church (ER), 261, 260. 196

den christlichen Glauben entscheiden, den er von seiner christlichen Umgebung her geerbt hat." 87 Gegenüber einer bestimmten Koketterie mit der Parole, man wolle sich immer offenhalten, hat das Moment der bewußten und entschiedenen Richtungnahme auf Christus hin sein unaufgebbares Recht. Freilich darf Bekehrung nicht auf einen inneren religiösen Vorgang reduziert werden. Die Parole: „Ändert das Herz des Menschen, dann wird sich die Gesellschaft ändern", ist irrig, weil es ein von der Gesellschaft isoliertes Herz des Menschen nicht gibt.88 Wenn einer sich bekehrt, wenn einer die Richtung auf Jesus Christus hin einschlägt und einhält, dann wird nicht nur sein Herz bekehrt, sondern dann geraten seine sämtlichen sozialen Beziehungen mit in die Kehre. Weder ist der, der sich bekehrt, eine isolierte Person, sondern einer, der in lauter sozialen Relationen steht, noch ist Jesus Christus, zu dem er sich bekehrt, eine isolierte, von seiner Geschichte ablösbare Person, sondern er ist der, der für alle Menschen da war und für alle gestorben ist und der alle in seiner Gemeinschaft haben möchte. Wer die Richtungnahme auf ihn vollzogen hat, kann nichts und niemand mehr oline ihn sehen. In der Bekehrung zu Jesus Christus ist immer der andere, der Nächste, mit präsent. Das neu gewonnene Verhältnis zu Jesus Christus impliziert ein neues Verhältnis zum Nächsten. Aber wir müssen dazu sagen : Ich finde diesen Nächsten heute in der Gesellschaft. Bekehrung vollzieht sich immer in einem sozialen Kontext: Die Gesellschaft, die im NT in personalen Beziehungen faßbar war und in der sich Liebe einen direkten Ausdruck schaffen konnte - als Verhalten von Mensch zu Mensch -, ist heute in eine Gesellschaft umgeformt worden, in der Liebe sich nicht mehr nur in zwischenmenschlichen Beziehungen äußern kann - etwa als Hilfe gegenüber dem konkreten Nächsten - , sondern in der Liebe sich verwirklichen muß im Einsatz in den gesellschaftlichen Institutionen und Gruppierungen, im Einsatz für menschliche, gerechte Lebensbedingungen und Gesellschaftsverhältnisse.39 Nicht, daß die Liebe der Christusgehörigen sich nicht mehr in personalen Relationen verwirklichen dürfte - gerade die, die in ihrer persönlichen Entscheidung für Jesus Christus den Wert des einzelnen, seine Unersetzbarkeit und Unvertauschbarkeit erfahren haben, werden in eine Unpersönlicher werdende Gesellschaft, in der stärker kollektiv gedacht werden muß, unersetzbare Werte einbringen und mitgestaltenden Einfluß nehmen - , aber wir haben neu zu lernen, daß die Liebe zum Nächsten in der technisierten Gesellschaft nicht mehr ohne mit- bzw. umgestaltende Ein39

E. Castro, a.a.O., 349. » Ebd., 355.

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flußnahme auf die sein Leben entscheidend bestimmenden gesellschaftlichen Faktoren verwirklicht werden kann. Nächstenliebe verlangt heute Kenntnis der gesellschaftlichen Prozesse. Diese Sachkenntnis ist durch persönliche Freundlichkeit nicht zu ersetzen. Bekehrung zu Jesus Christus und also der Bruch mit dem alten, dem bisherigen Leben bezieht sich nicht nur auf die persönliche Sündhaftigkeit, auf die sündigen Taten, sondern sie schließt auch den Bruch mit alten Vorstellungen, mit traditionellen Vorurteilen, mit der Verhaftung an bestimmte gesellschaftliche Ordnungsmuster ein. Daß für den, der in Christus ist, „das Alte vergangen" ist, bedeutet doch wohl auch die Befreiung aus der Bindung an alte Denk- und Sozialmodelle.40 Diese Dimension der Bekehrung wird ganz neu zu durchdenken sein. Eine Kirche, die die Bekehrung zu Jesus Christus verkündigt, wird Lebens- und Arbeitsformen entwickeln müssen, in denen die, die ihr Leben auf Christus haben umorientieren lassen und damit ein völlig neues Koordinatensystem erhalten haben, miteinander beraten können, was Nächstenliebe in unserer Gesellschaft heißt und wie sie als Dienstschar wirksam werden können. Wie die Bekehrung zu Jesus Christus eine Bekehrung zu dem Herrn ist, der nicht ohne die durch ihn mit Gott versöhnte Welt gesehen werden will, so ist sie zugleich die Bekehrung zu ihm, der nicht ohne seine Gemeinde gesehen werden will. Bekehrung zu ihm ist immer gleichzeitig Bekehrung hin zu der von ihm nicht im Stich gelassenen Welt und in die von ihm erwählte und gesandte Gemeinde. Bekehrung zu Jesus Christus geschieht durch die Gemeinde, die das Evangelium verkündigt, und in die Gemeinde, in der es verkündigt wird. Der Satz extra ecclesiam nulla salus ist zweifellos mißverständlich im Sinne einer unbußfertigen kirchlichen Selbstbewußtheit, weswegen auch H. Küng vorschlägt, ihn aufzugeben. Man wird nicht bestreiten dürfen, daß der Raum der Gnade größer ist als der Raum der Kirche und daß es vielleicht Gliedschaft im Reiche Christi auch außerhalb der Kirche gibt. Aber wir sind nicht beauftragt, hierüber zu spekulieren oder gar Feststellungen zu treffen, sondern das Evangelium zu verkündigen. Die Entscheidung darüber, ob solche Gnade außerhalb der Kirche bereits am Werke ist, wird dann fallen, wenn das Evangelium dort angenommen wird. Im übrigen wird dieses Geheimnis am Jüngsten Tag enthüllt werden. Für uns gilt in jedem Falle der Satz „sine ecclesia nulla salus" - ohne die 40

E. Schlink hat in seinen denkmorphologischen Untersuchungen gezeigt, wie durch das Getroffenwerden von der Offenbarung die mitgebrachten Denkformen durchbrochen werden, vgl.: Der Mensch in der Verkündigung der Kirche, 1936, bes. 49ß.; 66ff.; 83.

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Kirche, nämlich ohne das von ihr verkündigte Evangelium einschließlich des in ihm enthaltenen Umkehrrufs, gibt es kein Heil. Es gibt keine Bekehrung zu Jesus Christus ohne die Kirche und an ihr vorbei. Weder die Tatsache, daß die missionarische Kirche zahlenmäßig gegenüber dem Wachstum der Weltbevölkerung immer mehr ins Hintertreffen gerät, noch die Tatsache, daß die Kirche nur in voneinander getrennten Konfessionskirchen existiert, gibt uns das Recht, die Einladung in die Kirche zu unterlassen. Die missionarische Kirche kann nicht von sich aus darauf verzichten, missionierende Kirche zu sein.41 Freilich werden wir liier sehr bescheiden, sehr demütig zu sein haben. Ein steiles kirchliches Selbstbewußtsein steht uns wirklich nicht an. Der Umkehrruf, der Ruf zu Jesus Christus in die Gemeinde, kann nur durch eine Gemeinde geschehen, die selber in der Umkehr steht, die sich von ihm wandeln läßt, damit sie „gewinnend" wird. Nichts ist gewinnender als eine Kirche, die in der Buße lebt, die also mit ihrer Einladung nicht einfach die Eingliederung in ihre vorhandenen Gemeinschaftsformen beabsichtigt, sondern sich auf die Eingeladenen einstellt und ihnen die Chance zu einer eigenen Antwort auf das Evangelium gibt. Diese Chance müßte vor allem darin bestehen, daß die Zugehörigkeit zur Kirche nicht die Auswanderung aus dem bisherigen gesellschaftlichen Milieu bedeutet, sondern daß sie in diesem gelebt werden kann. Das Endziel der missio und damit der Bekehrung ist nicht die Kirche, sondern das Reich Gottes. Es ist beachtlich, daß es ein orthodoxer Theologe ist, der schreibt: „Die Kirche... kann nicht... das endgültige Ziel der Bekehrung sein. Obwohl sie der einzige Kanal ist, durch den Menschen die Gnade des dreieinigen Gottes empfangen können, so ist sie doch nur ein Kanal und muß als solcher verstanden werden, um alle Arten von Ekklesiastizismus zu vermeiden, der im Licht der biblischen Offenbarung nichts anderes als eine globale Sektiererei darstellt." 42 Aber wiewohl Kirche und Reich Gottes nicht identisch sind, darf man sie doch nicht gegeneinander ausspielen. Hier besteht Kontinuität. Die Kirche ist nicht nur Werkzeug der 41

Vgl. den Diskussionsbeitrag von H. Berkhof (ÖD), 105: „Es gibt gegenwärtig einen weitverbreiteten Zug in den christlichen Kirchen, der Welt hauptsächlich den Dienst anzubieten, den die Welt selbst verlangt, selbst festlegt und sich teilweise selbst gewährt. Das mag richtig sein, besonders in Gegenden, wo der Ausgleich zwischen den Nöten und denjenigen Menschen fehlt, die fähig und bereit sind, ihnen zu begegnen. Dennoch sollte die Kirche nicht vergessen, daß, was sie der Welt schuldet, zuerst und zuletzt das ist, was sie und sie allein geben kann und zu was sie vom Herrn gerufen ist: die Menschheit einzuladen, durch Bekehrung in Kommunion mit Gott in Christus zu treten." « Ν. A. Nissiotis, a.a.O., 268f.

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Basileia, sondern in aller ihrer Kümmerlichkeit deren antizipierte geschichtliche Präsenz. „In der Kirche ist die kommende neue Schöpfung schon gegenwärtige Wirklichkeit " ( E . Schlink).43 Wer in die Kirche bekehrt ist, ist durch Antizipation bereits zum Reiche Gottes bekehrt. Und zugleich ist jede einzelne Bekehrung zu Christus und in seine Gemeinde eine repräsentative Antwort auf die am Kreuze Jesu Christi potentiell geschehene Erlösung der ganzen Menschheit. Die Bekehrung eines Menschen zu Christus und in seine Kirche ist nicht der individuelle Akt eines isolierten einzelnen, kein Winkelereignis, sondern sie ist ein Akt von repräsentativer Bedeutung. Durch jede Bekehrung wird der Lobpreis vermehrt, den die Kirche in Stellvertretung für die Welt Gott, dem Neuschöpfer, darbringt. Und dieser Lobpreis ist begleitet von dem Dienst der Glieder in der Welt und für die Welt, mit dem sie ihre Hoffnung auf das Reich ohne Tod, ohne Tränen, ohne Haß- und Wehgeschrei signalisieren. Zusammenfassung: „Bekehrung" und „Präsenz" sind nicht notwendig Alternativen, sich gegenseitig ausschließende Antworten auf die Frage nach dem Ziel der missio. Sofern Bekehrung nicht individualistisch und psychologistisch mißverstanden, sondern in ihren vollen biblischen Dimensionen gesehen ist als Bekehrung zu Jesus Christus, den Gott aus Liebe zur Welt gesandt hat und der also nicht ohne die Welt gesehen sein will, sind die entscheidenden Anliegen des Präsenz-Konzeptes aufgenommen und dessen mögliche christologische Verkümmerungserscheinungen ausgeschlossen. Eine billige Synthese ist das nicht. Die hier bestehende Spannung kann nicht aufgelöst, aber sie kann und muß ausgehalten werden. E. Schweizer hat die Sache so ausgedrückt: „Eine Kirche, die nicht mehr aufbräche in die Fabriken und Hinterhöfe..., ginge an frommer Inzucht ein, und eine Kirche, die nichts mehr zu sagen hätte, als was jedermann sagt, daß es nett sei, nett zu sein zueinander, lockte keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Die Spannung zwischen solcher Weltoffenheit und solcher eindeutigen Ausrichtung auf Gott zu tragen ist nicht leicht. Aber anders kann Kirche nicht sein." 44 E. Schlink, Christus - die Hoffnung der Welt (in: Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, 1961), 214. 44 E . Schweizer, Die Gegenwart Christi: Die Kirche (in: Christus unter uns, 1967). 43

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Die Reformation geht weiter* Mit diesem Satz kann man etwas sehr Verschiedenes meinen. Es könnte ein Satz protestantischer Selbstgefälligkeit sein. Er würde dann besagen: Die Reformation, die Erneuerung der Kirche durch Gottes Geist geht weiter; sie hat nun auch - wie das II. Vatikanische Konzil zeigt - die römisch-katholische Kirche ergriffen, also den Teil der Christenheit, der sich der Reformation damals - vor 450 Jahren - widersetzte und sich der Buße verweigert hat. Die Reformation, die sich gegenwärtig in der römischkatholischen Kirche vollzieht, ist eine späte Frucht der Reformation von damals. - Ein solches Verständnis des Satzes von der weitergehenden Reformation wäre - auch wenn dabei nicht der leiseste Anflug von Überheblichkeit mitschwänge - dennoch fatal. Damit wäre ja doch gesagt, daß die Erneuerung der Kirche bei uns zum Ziele gekommen und nur noch bei den anderen notwendig sei. Eine Kirche aber, die meinte, bei ihr habe sich die Reformation vollendet, hätte den geistlichen Zusammenhang mit der Kirche verloren, die damals in der Buße erneuert wurde. „Die Reformation geht weiter" - das könnte freilich auch ein Satz katholischer Selbstgefälligkeit sein. Er würde dann besagen: Das, was damals begann - die Auflösung der kirchlichen Lehreinheit - geht rasant weiter. Wer die unfehlbare Autorität des kirchlichen Lehramtes bestreitet und behauptet, die Bibel lege sich selber aus, wird früher oder später vordemonstriert bekommen, daß nicht die Bibel sich selber, sondern daß jeder sich selbst die Bibel auslegt und daß das Ergebnis einer solchen Reformation ein immer heilloser werdendes Lehrchaos ist, wie es jetzt in dem gehässigen Streit um die Bibel in der evangelischen Kirche offen zutage tritt. Wo katholischerseits die Meinung bestünde, den Satz von der weitergehenden Reformation im Sinne einer fortschreitenden Auflösung der Lehrsubstanz zu verstehen, da wäre solche katholische Selbstgefälligkeit nicht minder fatal als die protestantische. Sie würde ganz einfach übersehen, daß die Einheitlichkeit der * Vortrag' zum Reformationsjubiläum 1967, gehalten in Leipzig, Halle, Erfurt (Aus zug erstmalig abgedruckt in: Die Potsdamer Kirche, 1968, Nr. 43).

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katholischen Kirchenlehre in einem hohen Maße der scharfen kirchlichen Zensur zu verdanken ist und daß im übrigen seit dem letzten Konzil in der katholischen Kirche dieselben theologischen Probleme virulent werden wie bei uns, wenn auch ein wenig geräuschloser als bei uns. „Die Reformation geht weiter" - das könnte auch ein Satz protestantischer Polemik sein, ein Schlachtruf sozusagen. Kardinal Bea, der Leiter des Sekretariats für die kirchliche Einheit, hat auf dem römischen Konzil erklärt, die Gegenreformation sei zu Ende. Aber ich könnte mir streitbare Protestanten - namentlich in überwiegend katholischen Ländern - vorstellen, die dagegen einwerfen: Solange es die Terrorisierung evangelischer Minderheiten gibt - wie in Spanien - , solange es einen militanten politischen Katholizismus gibt, der fanatisch für katholische Privilegien kämpft - wie etwa im Kampf um die konfessionelle Schule in der Bundesrepublik - , solange es eine intolerante katholische Mischehengesetzgebung gibt, so lange ist die Gegenreformation eben nicht zu Ende. Und darum muß also auch die Reformation weitergehen. Aber solch eine Parole wäre ganz einfach ungeistlich, nicht nur, weil die Reformation damit als Antikatholizismus mißverstanden wäre, sondern vor allem deshalb, weil man damit die ökumenische Offenheit der besten und wachsten Katholiken übersähe. Für sie ist die Gegenreformation, die Bekämpfung der evangelischen Kirche, ehrlich zu Ende. Für sie ist an die Stelle der Polemik der Dialog, an die Stelle der Zwietracht die Zwiesprache getreten. Wo darum also Reformation als antikatholische Haltung verstanden, d.h. mißverstanden wäre, dürfte sie nicht weitergehen, sondern müßte sie aufhören. „Die Reformation geht weiter" - das könnte viertens ein Satz kirchlicher Mittelmäßigkeit sein. Er würde die Überzeugung ausdrücken, das kirchliche Leben in unseren Gemeinden sei ein deutlicher Beweis dafür, daß die Reformation weiter lebendig ist. Wir leben weiter aus dem reichen reformatorischen Erbe: Wir haben die alte unüberbietbare Lutherbibel nun schonzum soundsovielten Male philologisch auf den neuestenStand gebracht ; wir haben die alten glaubensstarken Lieder aus dem Reformationsjahrhundert ins neue Gesangbuch übernommen ; wir haben uns in unserer neuen Gottesdienstordnung die alte reformatorische Ordnung neu angeeignet. Die Reformation geht weiter, indem wir jeder neuen Generation das alte reformatorische Erbe neu lieb und lebendig machen. Ich befürchte, es wird solche kirchliche Mittelmäßigkeit geben, die so denkt und sich damit zufriedengibt. „Die Reformation geht weiter" - das könnte auch die Parole reformerischer Ungeduld sein. Die Reformation muß weitergehen, weil sie damals 202

nicht weit genug gegangen oder jedenfalls nicht weit genug gekommen ist. Die Reformation ist auf halbem Wege stëckengeblieben. Sie hat nicht radikal genug mit dem Überkommenen gebrochen und ist in ihrer Lehre von der Kirche, vom Amt und von den Sakramenten die mittelalterlichen Eierschalen nie wirklich losgeworden. Sie ist nicht weit genug gegangen, und darum muß sie weitergehen. Jedenfalls ist sie nicht weit genug gekommen : Die revolutionären Ansätze sind in restaurativen Schlußsätzen steckengeblieben ; die Ausrufung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen endete mit der Aufrichtung einer Pastorenkirche ; die Abschüttelung der Herrschaft des Papstes über die Kirche endete mit der Aufrichtung der Herrschaft des Landesherrn in der Kirche. Die sozialkritischen Ansätze des Anfangs versandeten in einem obrigkeitsfrommen Konservatismus. Und darum muß die Reformation weitergehen, weiter, als sie damals gehen wollte, oder jedenfalls weiter, als sie damals zu gelangen vermochte; Wer hier gar nichts von Ungeduld, von dem schmerzenden Unmut darüber verspürte, daß entscheidende Ansätze der Reformation nicht verwirklicht worden sind, der wäre ob seiner kirchlichen Behäbigkeit zu bedauern oder zu beneiden - je nachdem. Aber mit Unmut, mit beißender Kritik an der Kirche ist hier gar nichts getan. Eine Kritik an der Kirche, der man nicht abspürt, daß sie aus einer tiefen Liebe zur Kirche kommt, erreicht gar nichts. Im übrigen kann man eine Reformation der Kirche nicht machen, sondern man kann sie nur demütig erbitten, sehnsüchtig erwarten, sich gehorsam auf sie einstellen. „Die Reformation geht weiter" - das könnte endlich die Feststellung einer geistesgeschichtlichen Analyse sein. Die Reformation als geistiger Umbruch und Aufbruch ist weiter geschichtswirksam. Das, was die Reformation an geistigen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Impulsen in die Weltgeschichte hinein entlassen, was sie an globalen Bewegungen und Umwandlungen ausgelöst hat, kann nicht mehr aufgefangen und zurückgenommen werden, sondern wirkt unaufhaltsam weiter. Die Reformation hat der Kirche bestritten, daß sie weltliche Macht haben dürfe. Sie hat die Welt aus der Vormundschaft der Kirche entlassen. Sie hat damit einen geschichtlichen Prozeß ausgelöst, dessen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind: Wir nennen ihn den Prozeß der Säkularisierung, in dessen Verlauf die aus der Vormundschaft der Kirche entlassene Welt sich zunehmend selbst als mündig versteht und also als fähig, ihre Probleme in die eigene Verantwortung zu übernehmen. Ein unerhörter Prozeß der Aufklärung, der die gigantischen Fortschritte der Naturwissenschaften ermöglicht und die Entwicklung von Industrie und Technik als in der Gesellschaft wirkende 14

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Faktoren vorangetrieben hat. Dieser Prozeß des Weltlichwerdens der Welt ist nicht mehr rückgängig zu machen. Erst wenn wir diese von der Reformation ausgelöste Entwicklung, in die wir alle unentrinnbar hineinverwickelt sind, vor Augen haben, wird uns das ganze Gewicht der Problematik des Satzes von der weitergehenden Reformation voll erkennbar. Solange wir nur auf die Entwicklung in der römisch-katholischen Kirche oder gar nur auf die eigene kirchliche Wirklichkeit blickten, bekämen wir das ganze Ausmaß der Herausforderung, der wir gegenüberstehen, gar nicht zu Gesicht. Was heißt angesichts des durch Wissenschaft und Technik vorangetriebenen Prozesses der Säkularisierung, der mit der Reformation begann und der sich zunehmend von ihr abgelöst hat, der Satz: Die Reformation geht weiter!? Es gibt da eine überraschende, bestechende, avantgardistische Anwort, die namentlich auf einen Teil der studentischen Jugend ihre Wirkung auszuüben beginnt. Sie lautet: Die Reformation geht weiter nicht trotz des Prozesses der Säkularisierung, sondern in ihm. Das Evangelium der Befreiung der Welt von den den Menschen versklavenden Mächten des Gesetzes durch Jesus Christus, dieses Evangelium, das in der Reformation wieder ans Licht kam, hat seine Früchte zunächst auf kirchlichem Boden und in kirchlicher Gestalt getragen ; aber es hat dann auf weltlichen Boden übergegriffen und dort seine eigentlich zukunftsträchtigen Schößlinge getrieben in den geistigen und politischen Freiheitsbewegungen, in der Befreiung der Welt von allen sakralen Bindungen zur echten Profanität, zur wirklichen Weltlichkeit. Das Evangelium von der Befreiung und Versöhnung will seinem Wesen nach über die Kirche hinaus und sich in den geistigen, politischen, gesellschaftlichen Prozessen gestalten. Die Reformation hat dié Beendigung der Geschichtsepoche eingeleitet, in der das Evangelium sich auf kirchlichem Boden und in religiösen Formen äußerte. Wir treten in die nachkirchliche Zeit, in das religionslose Stadium des Evangeliums ein, das jetzt als ein im Dienste des humanum stehendes Element in den gesellschaftlichen Prozessen wirksam wird. Die Sache des Evangeliums wird in in der jetzt beginnenden nachkirchlichen Zeit weniger in den Beratungen kirchlicherSynoden als in den Verhandlungen weltlicher Parlamente, weniger in theologischen und liturgischen Bewegungen als in politischen und sozialen Aktionen vertreten. Die Reformation Martin Luthers geht geradlinig weiter im Kampf Martin Luther Kings für die Gleichberechtigung der Neger. Das ist die wirklich legitime Fortsetzung der Reformation. Die Reformation geht nicht weiter in der Verstärkung des kirchlichen Lebens, sondern in der Vermenschlichung des gesellschaftlichen Lebens, nicht so, daß Menschen

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sich zur Kirche bekehren, sondern so, daß die Kirche sich zur Welt bekehrt. Daß die Kirche kleiner, ihr Einfluß geringer und die Gottesdienste leerer werden, ist nicht etwa ein Zeichen dafür, daß die Reformation nicht mehr weitergeht, sondern nur ein Zeichen dafür, daß sie anders weitergeht, als wir bislang angenommen haben. Das ist die eine Antwort auf die Frage nach dem Weitergehen der Reformation angesichts der Herausforderung durch den Prozeß der Säkularisierung, der Auswanderung der Gesellschaft aus der Kirche. - Die entgegengesetzte Antwort lautet etwa so: Daß wir in einer sich atemberaubend schnell verändernden Welt leben, weiß jeder. Die Menschheit macht geradezu eine Mutation durch. Aber lassen wir uns davon nur ja nicht täuschen ! Der Mensch bleibt in all diesen Veränderungen derselbe. Mögen sich seine Lebensverhältnisse und Lebensanschauungen radikal und total gewandelt haben - er selbst bleibt der alte, wie ihn die Bibel auf ihren ersten Seiten beschreibt : der, der Gott das Vertrauen und den Gehorsam verweigert und dessen erste Tat der Brudermord ist. Er bleibt derselbe: der sich selber rühmende, sich selbst behauptende und sich selber rechtfertigende Mensch. Und darum braucht er nichts nötiger als das Evangelium von der Rechtfertigung und Erneuerung des Menschen, wie es die Reformation wieder neu entdeckt hat. Die Reformation geht weiter in einer Kirche und durch eine Kirche, in der das Evangelium wie bisher lauter gepredigt und die Sakramente wie bisher recht verwaltet werden. Daß dabei manches in der Kirche geändert werden kann und manches vielleicht sogar geändert werden muß, soll gar nicht bestritten werden. Aber bloß keine Torschlußpanik ! Bloß sich nicht zu sehr beeindrucken lassen von der angeblich mündig gewordenen Welt! Keine Angst davor, als rückständig verschrieen zu werden! Die Kirche darf sich ihrer Fremdlingschaft in dieser Welt nicht schämen. Das also sind die beiden extremen Antworten. Ich vermute doch wohl mit Recht, daß die meisten von uns in der Richtung der zuletzt gegebenen Antwort denken werden. Warum? Weil wir Sorge haben, daß eine Kirche, die den Weg der Reformation so verstünde wie in der ersten Antwort, aufhören müßte, eine eigene Größe zu sein, und sich in die Gesellschaft hinein auflösen müßte, so wie sich das Salz in die Speise hinein auflöst und nun zwar wirksam in der Speise drin ist, aber gestaltlos, nicht mehr unterscheidbar von der Speise, und natürlich auch mengenmäßig nicht mehr zunehmend. So wäre dann die Kirche inkognito anwesend in der Gesellschaft, verborgen, ohne eigene Ordnungsgestalt, ohne auf Wachstum bedacht zu sein. Wir schütteln mit Recht den Kopf: Soll die Reformation so weitergehen, daß sie dahin führt? 205

Aber haben wir une schon überlegt, wohin es führt, wenn die Reformation so weitergeht, wie es die zweite Antwort ausspricht? Führt ein solcher Fortgang der Reformation nicht mit Sicherheit ins Ghetto, in die Absonderung? Wird eine solche Kirche nicht zur Insel, abseits der gesellschaftlichen Bewegungen, ohne Kontakt mit der Welt und ihren Problemen, und also belanglos für sie? Daß der heutige Mensch kein anderer ist als deir Mensch früher - nämlich der Sünder - , ist ja wahr. Aber die Sünde hat heute feehr andere Gestalten als früher. Daß der heutige Mensch das Evangelium genauso braucht wi« der Mensch früher, ist ebenfalls wahr. Aber die Weitergabe des Evangeliums besteht eben nicht in der Wiedergabe reformatorischer Formulierungen. Es ist ja auch dies wahr, daß die Kirche in dieser Welt ein Leben der Fremdlingschaft zu führen hat ; aber die biblische Fremdlingschaft hat nichts zu tun mit kirchlichen Befremdlichkeiten, die Besonderheit der Kirche ist etwas anderes als anachronistische Absonderlichkeiten. Günter Jacob hat in einem aufregenden Aufsatz mit dem Thema „Die Zukunft der Kirche in der Welt des Jahres 1985" folgende Prognose gestellt : „Gewiß scheint, daß es das gegenwärtige Volkskirchentum so nicht mehr geben wird. Es mag dann noch letzte Reste heutigen Kirchentums in Gestalt abgekapselter Konventikel und introvertierter Zirkel geben. Man wird sie in ihrem stillen Zufluchtsort am äußersten Rande der Gesellschaft auch nicht stören" (ZdZ 12/1967, S.441). Wir brauchen gar nicht bis ins Jahr 1985 vorauszudenken - wir müssen doch schon heute die Frage stellen, ob die Kirche nicht jetzt schon am Rande der Gesellschaft existiert, ob sie nicht den Kontakt mit der geschichtlich fortschreitenden Menschheit verloren hat? Wird nicht das, womit die Kirche beschäftigt ist und was sie anzubieten hat, als belanglos angesehen, weil es in keinem erkennbaren Zusammenhang steht mit dem, was das Alltagsleben der Menschen ausmacht und womit sie sich herumzuschlagen haben? Ich denke, daß hier in der Tat der eigentliche Grund für die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem kirchlichen Leben und der kirchlichen Verkündigung zu suchen sein wird. Und darum möchte ich folgende Hauptthese : formulieren: Die Kirche vor 450 Jahren hatte das Evangelium verloren^ die Kirche heute hat die Welt verloren. In der Reformation hat die Kirche die, Mitte des Evangeliums neu empfangen; heute muß die Kirche die Empfänger des, Evangeliums neu ermitteln. Damals ging es um die Gewinnung des Inhalts, heute geht es um die Gewinnung des Adressaten des Evangeliums. Damit ist die Grundrichtung angegeben, in der die Reformation heute wird weitergehen müssen. Ich möchte das in der Entfaltung von drei thesenartigen Sätzen noch etwas genauer ausführen.

1. T h e s e : Die Reformation will weitergehen, weil das Evangelium weiter gehen will als nur bis zu den Grenzen der Kirche. Das Evangelium, wird aber nur dann weitergehen, wenn wir es neu hören mit den Fragen des Zeitgenossen. Die Kirche ist durch das Evangelium und um des Evangeliums willen da. Es gibt sie aus keinem anderen Grunde und zu keinem anderen Zwecke. Nur weil und insofern sie das Evangelium hat - das nicht von Menschen erdachte, aus der anderen Richtung kommende Wort von Gottes umsonst geschenktem Heil - , ist sie für die Welt von Belang. Es kann darum für die Kirche schlechterdings nichts Schlimmeres geben, als wenn sie das Evangelium verliert oder verdirbt. Das war in der Kirche vor 450 Jahren geschehen. In der Reformation kam das Evangelium dann wieder neu zur Herrschaft in der Kirche. Daß das Evangelium seitdem bei uns rein gepredigt wird, scheint außer aller Frage zu stehen. Aber auch wenn es hier wirklich gar nichts zu fragen gäbe, so beginnen wir zu lernen, daß die Kirche das Evangelium auch anders verlieren kann: nämlich so, daß sie zwar dessen Inhalt scheinbar unversehrt behält - es klingt noch genauso wie vor 400 Jahren - , daß sie aber die Adressaten des Evangeliums verliert. Und die Adressaten des Evangeliums, die, zu denen es hin will, sind ja nicht nur wir, die kirchliche Stammkundschaft, sondern das sindunsere Zeitgenossen, sie alle, mit denen wir Tag um Tag zu tun haben. Unsere Situation ist doch die, daß in der Kirche das Evangelium zwar dogmatisch richtig gepredigt wird und daß wir es für uns schon verstehen, aber daß der Zeitgenosse, für den das Evangelium bestimmt ist, es nicht mehr versteht und wir ihm nicht mehr verständlich zu machen vermögen, inwiefern das etwas mit den Fragen seines Lebens in der Welt zu tun haben soll. Wir kennen die Rede, daß die Frage Martin Luthers „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" nicht mehr unsere Frage sei. Und das dürfte wohl stimmen. Aber was heißt das? Wir sollen doch wohl nicht etwa warten, bis Menschen wieder einmal die Frage nach dem gnädigen Gott stellen? Das Evangelium ist doch nicht etwa nur etwas für Leute, die diese Frage haben? Wäre es so, dann stünde es freilich schlimm ; denn dann müßten wir ja versuchen, diese Frage wieder bei unseren Zeitgenossen lebendig zu machen. Aber das geht nicht. Wir Menschen können uns unsere wesenhaften Fragen nicht nach Belieben aussuchen. Wir können Luthers Frage nicht imitieren. Das ergäbe etwas ganz Gekünsteltes. Luthers Frage war eine elementare Frage, die er mit seinen Zeitgenossen gemeinsam hatte. Auf diese Frage bekam Luther die überraschende Antwort des Evangeliums, daß es eine völlig falsche Frage sei. Diese Frage lautete nämlich im Sinne seiner Erfurter Lehrer: "Wie schaffe ich mir einen gnädigen Gott? Was muß ich tun, damit mir Gott gnädig wird?" Und die 207

Antwort des Evangeliums auf diese falsche Frage hieß : Du brauchst dazu überhaupt nichts zu tun. Gott hat längst alles für dich getan. Gott ist dir gnädig in Jesus Christus - nicht weil, sondern obwohl du so bist, wie du bist. Er sagt ja zu dir - ohne alle Vorleistungen. Wir können Luthers Frage nicht wiederholen, und wir sollen sie auch gar nicht wiederholen ; denn es ist eine durch das Evangelium erledigte Frage (vgl.G.Gloege, Die Grundfrage der Reformation - heute, KuD, 12. Jg. 1966, S.lff.). Wir brauchen also unseren Zeitgenossen nicht Fragen zu suggerieren, die sie haben müßten, damit wir ihnen darauf die Antwort des Evangeliums geben könnten. Sie dürfen wie Luther - mit ihren eigenen elementaren Fragen kommen. Und das Evangelium wird diese Fragen nicht überspringen. Das Evangelium ist nicht auf richtig gestellte, ja, es ist überhaupt nicht auf unsere Fragen angewiesen, aber es geht auch nicht an unseren wirklichen Fragen vorbei. Unsere elementaren Lebensfragen sind heute doch wohl die: „Wie bewältige ich mein Leben?" und „Wie können wir in unserer Welt in Frieden miteinander leben?" Daß unsere Zeitgenossen es so wenig erwarten, von uns als Kirche oder von uns als einzelnen Christen etwas wirklich Belangreiches zu hören, hängt doch wohl damit zusammen, daß wir ihnen fertige, vorfabrizierte Antworten geben auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben, sondern die wir ihnen untergeschoben haben. Einer hat es einmal drastisch so ausgedrückt: „In der Kirche wird man dauernd da gekratzt, wo es einen gar nicht juckt." Die Reformation wird nur weitergehen, wenn wir es lernen, mit dem Adressaten des Evangeliums, mit dem Zeitgenossen, so von der frohen Nachricht zu reden, daß er merkt: das hat mit meinem Leben und mit seinen Fragen zu tun. Es lohnt sich, darauf zu hören. Wir werden die Sprache des Evangeliums für unsere Zeitgenossen überhaupt nur zu finden vermögen, wenn wir die Bibel nicht mehr nur allein, sondern zusammen mit den anderen in der Gemeinde lesen und bedenken (was freilich voraussetzt, daß wir sie überhaupt lesen - wenn wir das nicht tun, wird die Reformation bestimmt nicht weitergehen, dann können wir uns alles Nachdenken ersparen), und zwar geradeauch mit den „anders anderen", mit den Zeitgenossen, die die Kirchensprache nicht beherrschen. Sie machen mit, wenn sie merken, daß sie mit ihren Fragen kommen können, daß man nicht fromm die Nase rümpft über soviel Unglauben, daß wir ihnen nicht unsere fertigen, genormten Antworten vorsetzen; wenn sie merken, daß wir selber Fragende und vom Evangelium Gefragte sind, Leute, die mit dem Evangelium genausowenig fertig sind und oft genausowenig fertig werden wie sie selbst. Für den Zeitgenossen ist nicht eine Kirche überzeugend, die auf alles eine Antwort parat hat, sondern die redlich fragt und ehrlich zugeben kann, was 208

ihr selber Schwierigkeiten macht, eine Kirche, in der man ein Christ sein kann, ohne aufhören zu müssen, ein kritisch fragender, redlich denkender Zeitgenosse zu sein. Der Zeitgenosse findet keinen Zugang zu einer Kirche, in der er nur angepredigt, aber nicht auch angehört wird. Wenn die Reformation weitergehen soll, dann ganz sicher so, daß nicht mehr der Predigtmonolog des Pfarrers die vorherrschende Weise ist, in der das Evangelium in der Kirche laut wird, sondern das offene Gespräch, in dem man einander Anteil gibt und miteinander Anteil gewinnt am Evangelium. So hoch die Reformation die Predigt eingeschätzt hat, so hat sie sie doch nicht monopolisiert. Luther hat neben der Predigt und den Sakramenten ausdrücklich auch das mutuum colloquium, das wechselseitige Gespräch, als eine eigene Kommunikationsform des Evangeliums genannt. Soll das Evangelium heute wieder seinen Adressaten, den Zeitgenossen, erreichen, so wird das sicher nur gelingen, wenn der Predigtmonolog des Pfarrers zugunsten wirklich dialogischer Kommunikationsformen des Evangeliums eingeschränkt wird. Wenn das richtig ist - und es ist richtig! - , dann hat das natürlich erhebliche Konsequenzen für die herkömmliche Gestalt der Kirche und ihre Lebensformen. 2. These : Die Reformation will weitergehen, weil das Evangelium weiter gehen will als nur bis zu den Grenzen der Kirche. Das Evangelium wird aber nur dann weitergehen, wenn sich die Kirche von ihm wandeln läßt und ihm nicht mehr mit ihrer überkommenen Gestalt im Wege steht. Daß das Evangelium nicht zu seinen Adressaten gelangt, zu denen, für die es bestimmt ist und zu denen es hin will und hin soll, zu den säkularen Zeitgenossen, daß es nur uns, die kirchlichen Stammkunden, erreicht und daß es also in die Kirche eingesperrt ist, das hat seinen Grund nicht etwa nur in Hindernissen, die ihm von außen in den Weg gelegt würden. Wir lebten in einer verhängnisvollen Selbsttäuschung, wenn wir hierin den Hauptgrund für die kirchliche Gefangenschaft des Evangeliums sähen. Vermutlich sind wir selber mit unseren überkommenen kirchlichen Lebensformen dem Evangelium am meisten im Wege. Damit dies von niemand als typischer Satz einer bestimmten protestantischen Kritiksucht verdächtigt werden kann, zitiere ich ein Wort des am 20. Juli 1944 hingerichteten Paters Alfred Delp : „Die Kirchen stehen durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise sich selbst im Wege. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig von dieser Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender Blitz treffen." Luther hat in seiner Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" die drei papistischen Mauern berannt, die dem Evangelium den 209

Zugang in die Kirche versperrten. Ich möchte jetzt auf drei Hindernisse aufmerksam machen, die dem Evangelium den Weg aus der Kirche hinaus, den Weg zu seinen Adressaten in der Welt versperren. 1. Das erste und wohl schwerste Hindernis ist die pastorale Betreuungsstruktur unserer Kirche. Es ist uns völlig selbstverständlich, daß der wichtigste, weil unentbehrlichste Mensch in der Kirche der Pfarrer ist. Unser kirchlicher Sprachgebrauch ist verräterisch: von einer Gemeinde, bei der die Pfarrstelle nicht besetzt ist, sagen wir, sie sei verwaist - so wie die Kinder einer Familie ohne den Vater verwaist sind. Es fehlt die Hauptperson. Umgekehrt wird von einer Gemeinde, die einen Pfarrer hat, gesagt, sie sei versorgt, so wie eine Schar unmündiger Kinder versorgt ist, wenn der Vater da ist. Auch derSprachgebrauch des Pfarrers ist bezeichnend: Die Gemeinde, die er zu versorgen hat, nennt er ganz selbstverständlich „seine" Gemeinde. Das ist gar nicht etwa überheblich gemeint. Es ist aber bezeichnend. Er ist der verantwortliche Mann in der Gemeinde. Er repräsentiert sie. Wo ein Pfarrer und ein Kirchturm ist, da ist die Kirche. Wir wollen jetzt nicht lange untersuchen, wie es zu der evangelischen Pfarrerkirche gekommen ist. Klar ist nur, daß die entscheidende reformatorische Erkenntnis vom Priestertum aller Gläubigen in den reformatorischen Kirchen niemals verwirklicht worden ist. Luther hatte gelehrt, daß nicht die bischöfliche Ordination zu Priestern mache, sondern die Taufe, daß also jeder Getaufte kraft seiner Taufe teilhabe am Amt der Kirche, nämlich an der Bezeugung des Evangeliums. Aber daraus sind nie wirklich Konsequenzen gezogen worden. Nicht das Bild der Kirche als dem Leibe Christi, an dem jedes Glied eine notwendige, unersetzbare Funktion hat, sondern das Bild von Hirt und Herde hat seit über 400 Jahren einseitig und ausschließlich das Selbstverständnis des Pfarrers und der Gemeinde und ihres Verhältnisses zueinander bestimmt. Dieses Bild hat sich dem Bewußtsein eingeschliffen und suggeriert fortwährend die Vorstellung eines ständigen Gegenübers des Pfarrers als des immer nur Gebenden zur Gemeinde als der immer nur Empfangenden. Es ist gar nicht zu bestreiten, daß unter dem Eindruck dieses Bildes Generationen von Pfarrern zu einer hingebenden Treue und zu einem letzten Einsatz für die ihnen anvertraute Gemeinde erweckt worden sind, Aber es ist ebensowenig zu übersehen, daß dieses Bild das Verständnis der Gemeinde als einer bleibend unmündigen, auf Versorgung, Betreuung und Leitung durch den Pastor angewiesenen Schar erzeugt und damit die pastorale Betreuungsstruktur des EinmannSystems verschuldet und das Verständnis der Gemeinde als einer gesendeten Schar verhindert hat. Nun ist freilich inzwischen der Laie entdeckt worden. 210

Aber was heute unter der Firmierung „Laienschulung" läuft, was an Zuriistung und Einsatz von Mitarbeitern geschieht, ist weithin noch im Sinne der pastoralen Betreuungsstruktur gedacht: Es sind seine - des Pastors Mitarbeiter, seine Helfer, es ist seine Arbeitsmannschaft. Er tritt Aufgaben an sie ab. Diese Art von Laienmitarbeit ist vom Pfarramt her gedacht ; sie ist nicht auf wirklich selbständige Verantwortung hin entworfen. Mir scheint eines klar zu sein : Die Reformation wird nicht weitergehen in solchen kleinen Reformen am alten System. Aber was denn dann? Ich kann nur ein paar viel zu knappe Sätze sagen: Wir müssen aufhören, die Pfarrer nach dem Leitbild der Pfarrergestalten von Jeremias Gotthelf auszubilden. Die heutigen Pfarrer müssen lernen, daß ihre Hauptaufgabe in Eph. 4 beschrieben ist: Sie sollen die „Heiligen zurüsten für das Werk des Dienstes", und zwar nicht nur für kirchliche Innenfunktionen, sondern auch für ihre Aufgabe als Zeugen Jesu Christi in den Sachbereichen der Welt. Dazu werden sie als Theologen gebraucht. Eines müßten die Pfarrer und die anderen Glieder der Gemeinde begreifen: Der Missionar in unserer säkularisierten Gesellschaft, der also, der das Evangelium über die Grenzen der Kirche hinausträgt in die Welt, zu den Zeitgenossen, wird nur noch in geringem Umfange der Pfarrer sein, sondern das werden die Glieder der Gemeinde sein, die einen weltlichen Beruf haben. Ob wir zu wenig Pfarrer haben, weiß ich nicht so sicher ; sicher weiß ich nur, daß wir viel zuwenig wirklich mündige Zeugen und Diener Jesu Christi an den Orten der Welt haben. Alles, was dazu dient, daß Glieder der Gemeinde mündig werden, also zu Leuten, die das Evangelium selber verantworten, ist richtig. Alle bloße pastorale Betreuung ist falsch. Die Reformation geht weiter, indem sich die Pfarrerkirche unter dem Evangelium wandeln läßt zur Kirche des allgemeinen Priestertums, indem die betreute Gemeinde sich wandeln läßt zu einer Schar von Menschen, die sich selber verantwortlich wissen für das Evangelium und die es selber verantworten können. Die Pfarrer werden dadurch keineswegs etwa überflüssig oder arbeitslos; Zurüsten ist beträchtlich schwieriger als Betreuen. 2. Das zweite Hindernis auf dem Wege des Evangeliums über die Grenzen der Kirche hinaus in die Welt des säkularen Menschen ist das zähe Festhalten an unserem reichen kirchlichen Erbe. Wir sind eine Kirche mit einem reichen Erbe. Wir haben von den Vätern herrliche Schätze überkommen. Wir brauchen nur an unsere ehrwürdigen Gotteshäuser mit ihren Altären, ihren Orgeln und Glasfenstern und an unsere schönen Gottesdienste mit ihrer Liturgie und ihren Chorälen zu denken. Wir scheuen keine Mühe und keine Kosten, diese ererbten Schätze zu pflegen und zu bewahren. Keiner 211

wird uns vorwerfen könen, wir seien undankbar und ehrfurchtslos. Nein, das sind wir nicht. Aber vielleicht sind wir unrealistisch und gedankenlos. Wir sehen nicht oder wollen nicht sehen, daß die Zahl der Menschen rasant wächst, die mit diesem Erbe nichts mehr anzufangen wissen. Wir nehmen es diesen Menschen meist schwer übel, daß sie dieses ehrwürdige, tiefe, köstliche Glaubensgut der Väter nicht zu schätzen wissen, und schieben es auf ihre Oberflächlichkeit und ihren Schwund an menschlicher Substanz. Wie töricht und wie ungerecht! Stellen wir uns ein jüngeres Ehepaar vor, das vom Dorf in die Neubauwohnung einer Großstadt zieht. Es hat bisher in dem elterlichen Bauernhof gewohnt mit den großen, schönen Möbeln aus Eiche, die seit Generationen dort standen. Diese Eheleute haben nur die Wahl, entweder diese herrlichen alten Möbel in die neue Wohnung mitzunehmen - falls sie sie überhaupt durch die Türen kriegen - und sich dann in ihrem neuen Zuhause nicht mehr bewegen zu können, oder die Möbel dort zu lassen, wo sie stehen. Sie werden sie vielleicht nicht zerhacken, sondern denen überlassen, die in geräumigeren älteren Häusern wohnen und mit ihnen hantieren können. Ist das undankbar, oberflächlich, ehrfurchtslos? Nein - es ist nur vernünftig. Und so haben Unzählige, die aus den alten Verhältnissen ausgewandert sind, auch ihr kirchliches Erbe nicht mitgenommen. Gibt es leichtere, einfachere, praktikablere kirchliche Möbel, die wir ihnen anzubieten haben, oder versuchen wir nur, ihnen die alten, soliden, kostbaren, kunstvollen Sachen aus dem Vätererbe lieb zu machen und ihnen zu zeigen, wie sie durchaus auch in den neuen Verhältnissen noch gut zu gebrauchen sind und wieviel haltbarer sie sind als das neumodische Zeug? Ohne Bild: Haben wir für den säkularisierten, aus der christlichen Tradition ausgewanderten Menschen nur das Programm, ihn zurückzugewinnen in den Gottesdienst, ihm die Liturgie lieb zu machen? Schwebt uns als Ziel vor, unsere schönen Kirchen wieder voll zu bekommen? Es wäre schlimm, wenn wir so an das Erbe gebunden wären. Denn die Rückgewinnung der Ausgewanderten in den uns persönlich liebgewordenen Gottesdienst wird nicht gelingen. Unsere Gotteshäuser werden vermutlich nie wieder voll werden. Wir müssen wohl doch dem standhalten, was Romano Guardini, der sich doch wahrhaftig für die Erneuerung der katholischen Liturgie eingesetzt hat, an die Mitglieder des liturgischen Kongresses 1964 geschrieben hat: „Ist vielleicht der liturgische Akt und mit ihm überhaupt, was Liturgie heißt, so sehr historisch gebunden - antik oder mittelalterlich oder barock - , daß man sie der Ehrlichkeit wegen ganz aufgeben müßte? Sollte man sich nicht zu der Einsicht durchringen, der Mensch des industriellen Zeitalters, der Technik und der durch sie bedingten soziologischen 212

Strukturen sei zum liturgischen Akt einfach nicht mehr fähig? Und sollte man, statt von Erneuerung zu reden, nicht lieber überlegen, in welcher Weise die heiligen Geheimnisse zu feiern seien, damit der heutige Mensch mit seiner Wahrheit in ihnen stehen kann?" Gerade weil das von einem in der liturgischen Bewegung verdienten Katholiken gesagt ist, sollten wir das hören. Wir werden das Erbe wahrlich nicht leichtfertig wegwerfen, aber wir werden es erst recht nicht krampfhaft festhalten. Man kann an einem Erbe auch kaputtgehen. Man kann durch das zähe Festhalten am Ererbten Jesus die Nachfolge verweigern, wie der reiche Jüngling, der nicht loslassen wollte; „denn er hatte viele Güter". Die Reformation wird nur dann weitergehen, wenn wir bereit werden preiszugeben, loszulassen, auch wertvollen, nur unter Schmerzen aufzugebenden Besitz. Eine Kirche, die sich durch das Evangelium und um des zu den anderen hin wollenden Evangeliums willen reformieren läßt, wird mit leichterem Gepäck wandern müssen. Sie wird noch einmal alles sichten, was sie mitnehmen und was sie zurücklassen will. Die Formen, in denen sie ihren Glauben zum Ausdruck bringt, werden schlichter, einfacher werden. Wir werden gar nicht mutwillig zerstören, aber wir werden aufhören müssen, alles, was neu entstehen will, an der Norm des überkommenen Erbes zu messen und zu werten. Gemessen am reformatorischen Choral, sind die Lieder, die die Junge Gemeinde zur Schlaggitarre singt, textlich und musikalisch natürlich geistliche Schnadahüpfl. Aber was für ein dummes und vermessenes Urteil ist das eigentlich? Eine Kirche, in der die Reformation weitergeht, wird die liturgischen Schatzgräber und die Bewahrer des Erbes wahrlich nicht geringachten, aber sie wird vor allem denen Mut machen, die sich darum mühen, daß sich das Evangelium bei den säkularisierten, aus der christlichen Tradition ausgewanderten Menschen neue Formen der Kommunikation schafft. Sie wird verantwortliche Experimente nicht bremsen, sondern sie wird dazu ermutigen. Sie wird nicht durch kirchliche Bestimmungen das Leben hindern, das neu entstehen will. Die Gemeinde der Zukunft wird bei uns wohl so aussehen, wie Martin Luther sie in seiner Vorrede zur Deutschen Messe anvisiert, aber noch nicht zu verwirklichen gewagt hat. Er schreibt: „Diejenigen, so mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen (man beachte die Reihenfolge : mit Hand und Mund, nicht : mit Mund und Hand!), müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause alleine sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen. 213

Hier könnte man auch ein gemeinsames Almosen den Christen auferlegen. Hier bedürfte es nicht viel und groß Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten." Was für eine Bereitschaft, den ganzen kirchlichen, liturgischen Reichtum preiszugeben! Was für eine Bereitschaft zu einer radikalen Reduktion! Das also schwebte Luther vor: die kleine Gemeinde, die sich in einer Wohnung versammelt, in der man einander kennt und verbindlich miteinander unter dem Evangelium zusammen ist, in der nicht einer predigt und die anderen zuhören, sondern in der man miteinander die Bibel liest und einander Anteil gibt an dem, was einem am Evangelium aufgegangen ist, in der man miteinander bedenkt, wie man das Evangelium am besten weitergibt durch Hand und Mund, durch Tat und Wort, wie man als Christ seinem Herrn im weltlichen Alltag treu ist, gar nicht introvertiert, sondern enorm missionarisch, in der man aneinander Seelsorge übt, einander stärkt und hält und rät und mahnt, miteinander Abendmahl feiert und tauft,in der man monatlich einen bestimmten Betrag seines Einkommens in eine gemeinsame Kasse tut, um helfen zu können. Ob in dreißig Jahren Gemeinden noch werden anders existieren können als so? Ob sich in dreißig Jahren ein Christ noch wird halten können, ohne zu solch einer kleinen Gemeinde verbindlich miteinander lebender Christen zu gehören? Eine Kirche, in der die Reformation weitergeht, die sich also durch das Evangelium reformieren läßt, wird sich bei uns wohl in Richtung auf diese kleinen Gemeinschaften kommunikativen Lebens zubewegen. In jedem Schritt auf diese kleinen, diasporafesten Gemeinden zu geht die Reformation weiter. 3. Das dritte Hindernis auf dem Weg des Evangeliums über die Grenzen der Kirche hinaus zu den Menschen unserer Zeit ist unsere kirchliche Zerrissenheit. Das Evangelium des Friedens, der Versöhnung, der Einheit wird uns von der Welt nicht geglaubt, solange wir ihr das Bild von lauter getrennten, im besten Falle nebeneinander herlaufenden, im schlimmsten Falle einander bekämpfenden Konfessionskirchen bieten. Wir werden ja sofort gefragt: Wer hat denn die Wahrheit des Evangeliums? Wem soll man denn nun glauben, wo sie doch alle behaupten, sie hätten das Evangelium lauter und rein? Wer hat denn nun eigentlich recht mit dieser Behauptung? Schön wäre es ja, wenn wir darauf antworten könnten: Wir haben das Evangelium, aber die anderen haben es auch. Das Evangelium erzeugt eben keine langweilige Uniformität, sondern es gestaltet sich in einer großen Mannigfaltigkeit. Die verschiedenen Kirchen sind lauter Zweige, die aus einem Stamm 214

erwachsen sind. Aber so können wir ja eben leider nicht sagen. Die Mannigfaltigkeit der Kirchen ist ja eben keine Mannigfaltigkeit in der Einheit, sondern eine Mannigfaltigkeit in der Trennung voneinander. Und es ist leider nicht zu bestreiten, daß die Spaltungen innerhalb der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen am zahlreichsten sind. Woran liegt das? Enthält die Reformation vielleicht ein Element der Spaltung? Ich glaube nicht. Wir leiden vielmehr an einem aus der westlichen, römischen Kirche mitgebrachten Erbe, nämlich an einem überzogenen Einheitsbegriff, der Einheit im Sinne von Einheitlichkeit, der Einheit in der Lehre als Einheit in der Lehrformulierung mißversteht. Und dieser überzogene Einheitsbegriff wirkt kirchenspaltend. Man muß eben nicht bis in die letzte Lehrformulierung hinein miteinander übereinstimmen, um kirchliche Gemeinschaft miteinander haben zu können. Sicher gilt nach Gal. 1,16: Wo ein anderes Evangelium verkündigt wird, da gibt es keine Kirchengemeinschaft. Aber die Frage ist eben die : Hat die andere Kirche wirklich ein anderes Evangelium, oder hat sie das Evangelium vielleicht nur anders als wir? Diese Frage hat ein neues Hören der Kirchen aufeinander erzeugt, ein sehnsüchtiges Hineinhorchen in die andere Kirche, ob dort nicht vielleicht doch auch das Evangelium hörbar wird, ob unsere Trennungen vielleicht gar nicht Trennungen von Kirchen, sondern Trennungen in der Kirche sind. Dadurch ist ein völlig neues Klima zwischen der römischen Kirche und den Reformationskirchen entstanden, und seit der Gründung des ökumenischen Rates der Kirchen hat die Kirchengeschichte aufgehört, eine Geschichte der Kirchenspaltungen zu sein, und begonnen, eine Geschichte der Bemühungen um die Überwindung der Spaltungen zu werden. Und es geschehen Vereinigungen bisher getrennter Kirchen in großem Ausmaß. Man wird es den lutherischen Kirchen nicht nachsagen können, daß sie besonders unionsfreudig wären. Sie haben die Sorge, man könnte eine Kircheneinheit eingehen, ehe man sich im Verständnis des Evangeliums ganz einig ist. Ich kenne die Probleme zu gut, um hier einfach den Vorwurf eines selbstgenügsamen Konfessionalismus, eines lutherischen Provinzialismus erheben zu wollen. Aber eines muß gesagt werden: Solange man nur auf die andere Kirche - z. B. die reformierte - sieht, werden die Unterschiede beachtlich. In dem Augenblick aber, in dem man die Blickrichtung verändert und auf die nicht-glaubende Welt sieht, der man das Evangelium schuldig ist, in dem Augenblick also, in dem man die vom Evangelium gebotene Blickrichtung einnimmt, wird ein solch hohes Maß an Übereinstimmung im Evangelium sichtbar, daß es einfach ein Stück Ungehorsam wäre, wenn man weiter in der Trennung voneinander verharrte. Man sollte 215

es dem Heiligen Geist zutrauen, daß er die Übereinstimmung im Evangelium vertieft und klärt und voranbringt, wenn man nicht mehr getrennt voneinander, sondern miteinander in einer Kirche ist. Ob in einer Kirche die Reformation weitergeht, wird sich daran zeigen, ob man nur „Ökumene, Ökumene" ruft und dann doch vor dem Wagnis auch nur des kleinsten konkreten Schrittes zurückzuckt und das Opfer immer nur den anderen zumutet, oder ob man es dem Heiligen Geist zutraut, daß er in die volle Wahrheit des Evangeliums führt und dabei Trenngräben überwindet und uns zu tapferen, opferbereiten Schritten aufeinanderzu ermächtigt. In jedem derartigen Schritt geht die Reformation weiter, 3 . T h e s e : Die Reformation will weitergehen, weil das Evangelium weiter gehen will als nur bis zu den Grenzen der Kirche. Das Evangelium wird aber nur dann weitergehen, wenn unser Zeugnis in der Einheit von Wort und Dienst ergeht. Die Reformation hat das Wort Gottes neu entdeckt, das gepredigte, verkündigte Wort des Evangeliums, das dem Menschen zuruft: Du bist bejaht, von dem Gott, der Nein zu dir sagen müßte, der aber sein gnädiges J a zu dir sagt, weil Jesus Christus das dich vernichtende Nein Gottes auf sich genommen hat. Um die Geltung und um die Weitergabe dieses Wortes ging es der Reformation. „Das Wort sie sollen lassen stahn." „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort." So sind die Reformationskirchen Kirchen des Wortes geworden. Die Predigt ist aus ihnen überhaupt nicht fortzudenken. Hauptsache: Es wird gepredigt und es wird die Hauptsache gepredigt. Daß das verkündigte Evangelium die Hauptsache in der Kirche ist, ist nicht zu bestreiten. Aber wir leben nicht mehr im Reformationszeitalter. Es gibt inzwischen Zeitungen, Radio, Film, Fernsehen. Es gibt ein riesiges Angebot an Worten. Man darf nicht erwarten, daß in dieser Situation der Predigt und also dem, was in den reformatorischen Kirchen als die Hauptsache gilt, eine Sonderstellung eingeräumt wird. Nun können wir natürlich sagen: Die Predigt des Evangeliums ist kein bloßes Wort, sie ist gedeckt durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Richtig! Nur: daß das stimmt, weiß man erst, wenn man zum Glauben gekommen ist. Die bloße Behauptung, durch geschichtliche Tatsachen belegt und gedeckt zu sein, reicht für die Glaubwürdigkeit des Wortes nicht mehr aus. Für den Menschen unserer Zeit gilt nur das Wort etwas, das gedeckt ist durch die harte Währung der Bewährung. Ein Wort wird für ihn nur sprechend, wenn es in einem entsprechenden Leben zur Sprache kommt. Und das dem Evangelium allein entsprechende Leben ist das Leben in der Liebe, ist das Leben als Dienst. Hier erfährt nun der Satz von der weitergehenden Reformation seine persönliche Zuspitzung. Wir werden kaum behaupten mögen, daß unsere 216

Gemeinden im gleichen Sinne Dienstgemeinschaften sind, wie sie Glaubensgemeinschaften sind. Hier ist doch etwas auseinandergerissen, was zusam-r mengehört. Auch in unserem persönlichen Leben ist das so. Wir haben aus dem biblisch-reformatorischen Kardinalsatz : „Allein aus Glauben nicht aus den Werken" die fatale, die von Luther leidenschaftlich bekämpfte Konsequenz gezogen: „Also sind wir vom Tun befreit." Wir singen seit Luthers Zeiten in unserer Kirche: „ E s ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben" - und haben daraus gefolgert: „Also brauchen wir damit gar nicht erst anzufangen." Und so ist es denn dazu gekommen, daß bei uns Glaube und Liebe, Wort und Dienst, Rechtfertigung und Heiligung, Sammlung und Sendung in einer verhängnisvollen Weise auseinandergetreten sind, daß in unserem Leben als Gemeinde und als einzelne Glieder der Gemeinde faktisch der ganze Ton jeweils nur auf dem ersten liegt. Darum hat die Kirche, aufs Ganze gesehen, im vergangenen Jahrhundert in der sozialen Frage so schmählich versagt, darum sind große Teile der Arbeiterschaft aus ihr ausgewandert und sind ihr bis heute ferngeblieben. Die Reformation wird nur weitergehen, wenn es bei uns zu der Einheit von Wort und Dienst, von Glauben und Liebe kommt. Gewiß hat der moderne Staat eine Menge von dem, was die Kirche einst als ihren ureigensten Dienst ansah - das Schulwesen, die Krankenversorgung, die Hilfe für die sozial Schwachen - , in eigene Regie übernommen. Aber es ist doch gar keine Frage, daß hier noch genug zu tun bleibt. Es gibt noch so viele, die unseren Dienst brauchen. In zunehmendem Maße werden es wohl die alten Menschen sein, für die wir die Phantasie unserer Liebe einsetzen müßten. Ich kann das hier nur andeuten. Eines ist jedenfalls sicher: Das Evangelium wird nur dann weiter gehen als bis zu den Grenzen der Kirche, es wird nur dann für die anderen interessant, wenn unsere Gemeinden wieder eine Einheit von Glaubensgemeinschaft und Dienstgemeinschaft werden, wenn unser Zeugnis in der Einheit von Wort und Dienst geschieht. „Die Reformation geht weiter." Das ist kein Programm, das wir zu verwirklichen hätten. Die Reformation der Kirche ist das Werk des Heiligen Geistes. Aber es gilt, für ihn offen zu sein. Bischof Robinson hat in seinem Buch „Eine neue Reformation?" den Satz geschrieben: „Eine echte Reformation ist die Antwort auf einen Anstoß des Heiligen Geistes. Das erste Erfordernis für eine Reformation ist eine empfindliche Aufmerksamkeit, gewissermaßen ein Fingerspitzengefühl für das, was der Heilige Geist den Kirchen und der Welt sagt." Die Reformation geht weiter in einer Kirche, die im Glauben und die glaubwürdig singt: „Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit seinem Geist und Gaben." 217

KARL GEORG

KUHN

Rückläufiges Hebräisches Wörterbuch i 44 Seiten, Leinen DM 3 2 Das von Κ. G. Kuhn herausgegebene „Rückläufige Wörterbuch" ist ein wertvolles Hilfsmittel 2ur Rekonstruktion beschädigter Texte. Die Heidelberger QumranArbeitsgemeinschaft hat das Wörterbuch geschaffen, um eine Übersicht über den gesamten hebräischen Wortschatz zu gewinnen. Die zahllosen Lücken und Bruchstücke der am Toten Meer gefundenen Texte und Textfragmente können nun mit Hilfe dieses Wörterbuches bearbeitet werden. Verkündigung und Forschung KARL GEORG

KUHN

Konkordanz zu den Qumrantexten 237 Seiten, Leinen DM 72,In gemeinsamer Arbeit ist diese Konkordanz von einem Mitarbeiterkreis der neutestamentlichen Seminare von Louvain und Heidelberg entstanden und von Professor Kuhn, einem der besten Sachkenner der Qumrantexte, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgelegt worden. Die Konkordanz umfaßt alle nichtbiblischen Texte der Funde vom Toten Meer einschließlich der Damaskusschrift und bietet so die Möglichkeit, den Sprachgebrauch der Gemeinde von Qumran gut zu übersehen. Das Neueste

Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde FESTSCHRIFT

FÜR JOACHIM

JEREMIAS

Hrsg. v. Christoph Burchard, Eduard Lohse, Bernd Schaller 1970. 289 Seiten, kartoniert DM 39,INHALT

Bibliographie JOACHIM JEREMIAS 1923-1970 • CHRISTOPH B U R C H A R D : Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Uberlieferung · CARSTEN COLPE : Der Spruch von der Lästerung des Geistes · CHRISTIAN DIETZFELBINGER : Das Gleichnis vom ausgestreuten Samen · O L A Ν HANSSEN: Zum Verständnis der Bergpredigt. Eine missionstheologische Studie zu Mt. 5,17-18 · HARALD HEGERMANN: Er kam in sein Eigentum. Zur Bedeutung des Erdenwirkens Jesu im 4 . Evangelium · O T F R I E D H O FIUS : Inkarnation und Opfertod Jesu nach Hebr. 10, 19 f. · CLAUS-HUNNO H U N ZINGER: Zur Struktur der Christus-Hymnen in Phil. 2. und 1. Petrus 3 · K L A U S P E T E R J Ö R N S : Die Gleichnisverkündung Jesu. Reden von Gott als Wort Gottes · BERNHARD L O H S E : Meliton von Sardes und der Brief des Ptolemäus an Flora · E D U A R D L O H S E : „Ich aber sage euch" · NORMANN P E R R I N : The use of (para) didonai in connection with the Passion of Jesu · FRIEDRICH R E H K O P F : Grammatisches zum Griechischen des Neuen Testaments. Die Umarbeitung der Grammatik Blaß-Debrunner · B E R N D SCHALLER: Die Sprüche über Ehescheidung und Wiederheirat in der synopt. Uberlieferung · RAINER S T O R C H : Was soll diese Verschwendung? Bemerkungen zur Auslegungsgesch. v. Mk. 1 4 , 4 · H A N S - T H E O W R E G E : Jesusgeschichte und Jüngergeschick nach Joh. 12, 20-33 und Hebr. 5,7-10. V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N U N D ZÜRICH