Schreibforschung interdisziplinär: Praxis - Prozess - Produkt 9783839449615

Schreiben ist eine der wichtigsten menschlichen Kulturtechniken und beeinflusst maßgeblich die sozialen, kulturellen, po

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Schreibforschung interdisziplinär: Praxis - Prozess - Produkt
 9783839449615

Table of contents :
Inhalt
Schreibforschung interdisziplinär
I THEORIE UND PRAXIS
Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten
Der Schreibprozess als Dialog
Perspektiven auf Schreibsituationen
Digitale Bild-Text-Konstrukte
»Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein«
Schreiben und Emotion
II ASSEMBLAGEN UND SCHREIBSZENEN
Korrespondenzen mit Objekten
Seelenorte
Schreibszene, Schreibfeld, zwei Kriegsreden und Lebensanschauung
III TEXTFORMATIONEN UND KONSTELLATIONEN
Der literarische Satz
Recht gerecht schreiben?
Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken
Das Schreiben von und über Tanz
Autorinnen und Autoren

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Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger (Hg.) Schreibforschung interdisziplinär

Edition Kulturwissenschaft  | Band 214

Susanne Knaller (Prof. Dr. phil.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Kulturwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz und ist Leiterin des dortigen Zentrums für Kulturwissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien und Geschichte von Authentizität, Realitätskonzepte in der Moderne sowie Schreib- und Emotionsforschung. Doris Pany-Habsa (Dr. phil.) leitet das Schreibzentrum der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind wissenschaftliches Schreiben, Schreibdidaktik und Schreibpraktiken an Hochschulen. Martina Scholger (Dr. phil.) ist Senior Scientist am Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities an der Karl-FranzensUniversität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Digitale Edition, Datenmodellierung und Semantic-Web-Technologien.

Susanne Knaller, Doris Pany-Habsa, Martina Scholger (Hg.)

Schreibforschung interdisziplinär Praxis – Prozess – Produkt

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: Land Steiermark (Referat Wissenschaft und Forschung) und Karl-Franzens-Universität Graz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Manuskripterstellung: Caterina Richter, Graz Korrektorat: Caterina Richter, Graz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4961-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4961-5 https://doi.org/10.14361/9783839449615 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Schreibforschung interdisziplinär Susanne Knaller/Doris Pany-Habsa/Martina Scholger (Graz) ................................ 9

I THEORIE UND PRAXIS Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten Schreibverfahren im Forschen Christoph Hoffmann (Luzern) .............................................................. 19

Der Schreibprozess als Dialog Eine Perspektive am Schnittpunkt von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie Andrea Karsten (Paderborn) ............................................................... 31

Perspektiven auf Schreibsituationen Das PROSIMS-Schreibprozessmodell für professionelles Schreiben in mehreren Sprachen Sabine Dengscherz (Wien) ................................................................ 49

Digitale Bild-Text-Konstrukte Schreiben multicodal und symmedial Elke Höfler (Graz)......................................................................... 65

»Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein« Ein reflexiv-praxeologischer Blick auf das wissenschaftliche Schreiben Doris Pany-Habsa (Graz)................................................................... 81

Schreiben und Emotion Vorschläge für ein literaturwissenschaftliches Modell Susanne Knaller (Graz) ................................................................... 97

II ASSEMBLAGEN UND SCHREIBSZENEN Korrespondenzen mit Objekten Liebesbriefe und ›sprechende Dinge‹ bei Goethe und Mallarmé Cornelia Ortlieb (Berlin)................................................................... 117

Seelenorte Literarische Produktion zwischen schreibenden Köpfen und denkenden Händen Daniel Ehrmann (Salzburg) .............................................................. 137

Schreibszene, Schreibfeld, zwei Kriegsreden und Lebensanschauung Beobachtungen zu Georg Simmel Harro Müller (New York) ................................................................. 157

III TEXTFORMATIONEN UND KONSTELLATIONEN Der literarische Satz Eine Skizze Christian Schärf (Hildesheim)............................................................. 177

Recht gerecht schreiben? Die Ambivalenz der Recht-Schreibung in den Protokollen Albert Drachs Doris Pichler (Graz)...................................................................... 189

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken Eine digitale Spurensuche Martina Scholger (Graz).................................................................. 207

Das Schreiben von und über Tanz Schrift-Bewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten Rita Rieger (Graz) ....................................................................... 223

Autorinnen und Autoren........................................................... 241

Schreibforschung interdisziplinär Susanne Knaller/Doris Pany-Habsa/Martina Scholger (Graz)

1 Schreiben ist ein Thema von großer gesellschaftlicher, politischer und kultureller Relevanz. Als eine der wichtigsten menschlichen Kulturtechniken beeinflusst es maßgeblich die jeweiligen sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Möglichkeiten des modernen Menschen und lenkt entscheidend kognitive Entwicklungen und kreative Kapazitäten. In den letzten Jahrzehnten hat die Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand stetig an wissenschaftlicher Bedeutung gewonnen und wird in unterschiedlichen Disziplinen produktiv beforscht. Angesichts der Komplexität der mit dem Thema verbundenen Problembereiche scheint es jedoch unausweichlich, sich den Fragestellungen zu »Schreiben« aus einer umfassenden interdisziplinären Perspektive zu stellen. Daher hat sich an der Karl-Franzens-Universität Graz die »Plattform Schreiben« formiert, eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe bestehend aus Forschenden des Zentrums für Kulturwissenschaften (ZfKu), des Zentrums für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities (ZIM-ACDH), des Fachdidaktikzentrums (fdz) der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, des Forschungsbereichs Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) und des Schreibzentrums der Universität Graz. Zentrale Anliegen der Plattform sind die Bestandsaufnahme und Reflexion unterschiedlicher disziplinärer Modelle und Ansätze in der Schreibprozessforschung sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Fragen des Schreibens und der Schreibforschung. Denn es fällt auf, dass Interdisziplinarität zwar vielfach und äußerst ergebnisreich stattfindet, jedoch meist entlang spezifischer Linien verläuft: So arbeitet die Fachdidaktik bevorzugt mit Psychologie und Sprachwissenschaft zusammen, während wiederum Schreibdidaktik und Literaturwissenschaft (etwa im Kontext des Kreativen Schreibens) (vgl. Abraham 2014; Wörner/Rau/Noir 2012) und besonders Schreibforschung und Psychologie (vgl. Hayes/Flower 1980; Gallego Castaño/Castelló Badia/Badia Garganté 2016) ertragreich kooperieren. Eine gemeinsame Interessenslage gibt es zudem zwischen den Literaturwissenschaften, Kunstwissenschaften, Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften und Digitalen Geisteswissenschaften. Hier treten immer

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wieder verstärkt Aspekte der Rezeption, der Lektüre wie des Mediums Schrift in den Vordergrund. Der von Jutta Müller-Tamm, Caroline Schubert und Klaus Ulrich Schubert herausgegebene Sammelband »Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift« (2018) ist ein Beispiel dafür. Fragen zu Literalität/Schriftsprachlichkeit wiederum werfen im Kontext der Digitalisierung und digitaler Praktiken verstärkt die Notwendigkeit auf, Schreibsysteme und Schreiben in ihren multimedialen und multilingualen Bedingtheiten zu verstehen und zu erklären. Wolfgang Hallet (2015; 2018) fordert daher, dass angesichts der digitalen Medien, die Ton, Bild und Text integriert bearbeiten können, Literalität als ein jenseits von Schriftsprache angesiedeltes, pluralisiertes Phänomen verstanden werden muss und schlägt eine Kombination aus Semiotik, medienphilosophischen und kognitionspsychologischen Zugängen vor. Die Forschungsgruppe um Martin Stingelins Projekt »Zur Genealogie des Schreibens« wiederum analysiert historisch und systematisch wichtige prozessuale Momente, die konstituierende Schreibbedingungen (biografisch, institutionell, technisch-materiell, poetologisch) wie daraus entstandene Texte umfassen (Stingelin/Giuriato/Zanetti 2004; Zanetti 2012).

2 Um bestehende und mögliche Interdisziplinarität ausloten zu können, organisierte die Grazer »Plattform Schreiben« am 28. und 29.11.2018 an der Karl-FranzensUniversität eine internationale Fachtagung mit dem Titel »Schreibforschung interdisziplinär«. Das Ziel dieser Veranstaltung war es, schreibtheoretische Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenzuführen und auf produktive Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Funktions- und Objektbereiche zu befragen. Dabei ging es vor allem darum, die jeweils eigenen Ansätze vorzustellen und die Relevanz der daraus resultierenden Ergebnisse für andere Fächer zu diskutieren. Mit dem vorliegenden Sammelband werden die in den Vorträgen und Diskussionen dargestellten disziplinären Kongruenzen, Divergenzen und Potentiale weiter verdeutlicht, ergänzt durch neue Beiträge von Susanne Knaller, Harro Müller, Doris PanyHabsa und Doris Pichler. Die einzelnen Aufsätze reflektieren disziplinäre Überschneidungen und auch Differenzen, die sich etwa im Hinblick auf Theorien und Objektbereiche ergeben können. Die Überlegungen betreffen Zielsetzungen, Funktionen und Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit z.B. Fragen zu Mehrsprachigkeit, literarischem Schreiben und digitalen Medien. Damit lassen sich produktive Schnittstellen und Synergien aufzeigen, die für das jeweils eigene Fach effektiv angewendet werden können. Der Schwerpunkt des Sammelbandes liegt somit auf einem theoretischen Erkenntniszugewinn nicht nur für die jeweils eigene Disziplin, sondern auch für andere Fachbereiche, und eröffnet damit die Frage nach

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dem Transfer und der Anwendbarkeit der jeweiligen Modelle in der Forschungsund Vermittlungspraxis. Die Beiträge des Sammelbandes, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen, sind in drei größere Abschnitte zu Theorie und Praxis, Assemblagen und Schreibszenen und Textformationen und Konstellationen unterteilt.

3 Der erste Abschnitt Theorie und Praxis versammelt Beiträge, die verschiedene Formen und Aspekte des Schreibens in den Blick nehmen, unterschiedliche theoretische Hinsichten darauf entwerfen und deren Konsequenzen für die Schreibforschung anhand von konkreten Beispielen aufzeigen. Der erste Beitrag stammt vom Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann und beschäftigt sich mit Schreibpraktiken im Forschungsprozess, die zumeist unter der Wahrnehmungsschwelle der Forschenden bleiben. Hoffmann geht davon aus, dass Schreibverfahren wie etwa das Annotieren von Texten oder das Erstellen von Listen und Übersichten entscheidend dafür sind, wie Forschende sich ihrem Gegenstand annähern, wie sie sich ihn verfügbar machen und ihn bearbeiten. Anhand einer Reihe von Beispielen – den Annotationen von Martin Heidegger in seinem Handexemplar von Ernst Jüngers Der Arbeiter, dem Beobachtungsjournal des Zoologen Karl von Frisch und den Notizen des Physikers und Philosophen Ernst Mach – arbeitet Hoffmann heraus, in welcher Weise diese Formen des Schreibens das Denken und Handeln im Forschungsprozess stützen und instruieren. Die Schreibdidaktikerin Andrea Karsten betrachtet in ihrem Beitrag »Der Schreibprozess als Dialog« das Schreiben aus einer Perspektive, die von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie inspiriert ist. Für Karsten lässt sich Schreiben insofern als eine dialogisch gesteuerte Praxis fassen, als es stets auf frühere und nachfolgende Äußerungen des oder der Schreibenden und anderer Personen sowie auf situationsübergreifende Genres und kulturell typische sprachliche Formen bezogen ist. Die verschiedenen Ebenen dieser dialogischen Struktur (Dialog mit Lesenden, mit den Konventionen einer Diskursgemeinschaft, mit sich selbst) veranschaulicht die Autorin anhand von Ergebnissen, die sie in empirischen Studien mittels der qualitativen Methode der Videokonfrontation gewonnen hat. Der Beitrag von Sabine Dengscherz ist im Forschungsbereich Schreiben in der Mehrsprachigkeit angesiedelt. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie erfolgreiche mehrsprachige Schreiberinnen und Schreiber in akademischen Kontexten vorgehen, wenn sie Texte (in einer Fremdsprache) verfassen. Dazu hat Dengscherz ein empirisch fundiertes Schreibprozessmodell entwickelt, das sie in ihrem Beitrag theoretisch wie praktisch erläutert. Das Modell beruht auf der Unterscheidung

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zwischen einer heuristischen und einer rhetorischen Dimension des Schreibens sowie auf der Differenzierung von im Schreibvorhaben begründeten Anforderungen und individuell unterschiedlich definierten Herausforderungen. Diese rhetorischen und heuristischen An- und Herausforderungen begründen nach Dengscherz Schreibsituationen, die Schreibende durch den Einsatz von Strategien und Routinen in neue Schreibsituationen mit ihrerseits spezifischen An- und Herausforderungen überführen. Aus diesem Ansatz ergibt sich eine flexible Modellierung, die individuelle und situative Variationen von Schreibprozessen berücksichtigt. In ihrem Beitrag »Digitale Bild-Text-Konstrukte. Schreiben multicodal und symmedial« stellt die Fachdidaktikerin Elke Höfler Überlegungen zum Schreiben im Web 2.0 an. Sie geht dabei davon aus, dass im Mitmach-Web Bild-TextKonstrukte dominieren, die als multimodale oder multicodale Artefakte eine spezifische Art der Rezeption und Produktion bedingen. Dies drückt sich für die Autorin unter anderem darin aus, dass der Literalitätsbegriff im Kontext der digitalen Medien mithilfe von Begriffen wie visual literacy oder digital literacy ausgeweitet wurde. Anhand des Phänomens Internet Meme zeigt Höfler auf, wie im digitalen Raum Schreibprozesse zu Konstruktionsprozessen, Leseprozesse zu Decodierprozessen werden, die einen souveränen Umgang mit intertextuellen, visuell-piktoralen und audiovisuellen Verweisungskontexten erfordern. Doris Pany-Habsa widmet sich aus einer schreibdidaktischen Perspektive der Frage nach dem Ineinandergreifen von kognitiven, affektiven und sozialen Momenten beim wissenschaftlichen Schreiben. Diese Momente werden in der sich zunehmend ausdifferenzierenden schreibdidaktischen Forschung häufig isoliert voneinander betrachtet, wenngleich Konsens über ihre Verschränktheit besteht. Angesichts dieser Forschungslage wird in den letzten Jahren die Erarbeitung integrativer Theoriekonzepte immer wieder als Desiderat benannt. Um diesem Desiderat zu begegnen, schlägt Pany-Habsa eine interdisziplinäre Öffnung vor und skizziert mit der kultursoziologischen Praxistheorie einen möglichen integrativen Zugang zum wissenschaftlichen Schreiben. Wie sich der praxeologische Ansatz konkret für die schreibdidaktische Forschung produktiv machen lässt, verdeutlicht sie anhand eines Essaybands, in dem Hochschullehrende Studierenden Tipps für das wissenschaftliche Schreiben geben. Den Abschluss des Abschnitts Theorie und Praxis bildet der Beitrag »Schreiben und Emotion. Vorschläge für ein literaturwissenschaftliches Modell« von Susanne Knaller. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin stellt die Frage nach der Bedeutung von Emotionen beim Schreiben; konkret lotet sie die epistemologische, ästhetische und poetologische Rolle von Emotionen im Schreibprozess aus und entwickelt einen theoretischen Beschreibungsansatz für das Verhältnis von Schreiben und Emotion. Dabei fasst Knaller produktionsrelevante Emotion als ein Interface zwischen kulturellen Handlungsräumen, zwischen den medialen Momenten des Schreibens, des Körpers und des Wissens sowie zwischen psychophysischem

Schreibforschung interdisziplinär

und sozialem Leben. Ihre theoretischen Überlegungen exemplifiziert die Autorin anhand von Essays von Roland Barthes, François Bon und Marguerite Duras und zeichnet an den Texten nach, wie die Schreibenden im Schreibprozess auf Emotionsparadigmen, affektive Schlüsselszenen und ästhetische Emotionsmuster zurückgreifen, diese reformulieren und neu zur Disposition stellen. Die Autorinnen und Autoren des zweiten Abschnitts zu Assemblagen und Schreibszenen eröffnen mit ihren Beiträgen einen vieldimensionalen Blick auf das literarische Schreiben. Als wesentliche Parameter werden die Schreibszene, das Schreibfeld, die Schreibsituation und die Materialität ausgewiesen und anhand unterschiedlicher Schreibpraktiken aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive exemplifiziert. Cornelia Ortlieb entwirft in ihrem Beitrag »Korrespondenzen mit Objekten. Liebesbriefe und ›sprechende Dinge‹ bei Goethe und Mallarmé« eine Literaturgeschichte der Objekte, die sich sowohl der Schrift als auch der sie begleitenden Gegenstände als untrennbares Ensemble widmet. Der Beitrag verbindet auf diese Weise eine literaturwissenschaftliche Objektforschung mit neueren Ergebnissen der Schreibprozessforschung. Anhand der Umwerbungen und Liebesbezeugungen in den Korrespondenzen von Johann Wolfgang von Goethe und Ulrike von Levetzow sowie von Stéphane Mallarmé und Méry Laurent lässt sich zeigen, wie Schrift und Objekt in einen Dialog treten und erst gemeinsam rezipiert ihren vollen Bedeutungsumfang entfalten. In seinem Beitrag »Seelenorte. Literarische Produktion zwischen schreibenden Köpfen und denkenden Händen« widmet sich Daniel Ehrmann den Praktiken poetischen Schreibens. Der Literaturwissenschaftler betrachtet das Schreiben als kontextsensitive Praxis, die sich aus unzähligen Schreibpraktiken und historisch wandelbaren Medialisierungen zusammensetzt. Mit seinem Beitrag wagt er einen Versuch zur Un-Bestimmung literarischen Schreibens, indem er die Liste der Eigenschaften, Aktionen und Interferenzen erweitert. Schreiben rückt in Anlehnung an Bruno Latour als interaktionistische Tätigkeit die Schreiberin, den Schreiber und das Material in den Fokus. Ehrmann exemplifiziert seine Überlegungen zu Inszenierungen devianten Schreibens in den lyrischen Dichtungen und Selbstzeugnissen von Johann Wolfgang von Goethe und Johann Christian Günther. In seinem zunächst von einer literaturwissenschaftlichen Perspektive ausgehenden Beitrag widmet sich Harro Müller der Schreibszene von Georg Simmel, seinem Schreibfeld und seinem Schreib- und Argumentationsverfahren. Anhand von zwei Textbeispielen Simmels, den performativen Kriegsreden von 1917 und der stärker metatheoretisch angelegten letzten Publikation Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel von 1918 eröffnet Müller neben den literaturwissenschaftlichen vor allem auch kulturwissenschaftliche, historische, philosophische, soziologische und politologische Denkpositionen Simmels und gibt über einen interdisziplinär

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orientierten Zugang Einblick in die Relevanz von Schreibprozessen für Simmel im Besonderen und für theoretisches Schreiben im Allgemeinen. Die Beiträge des dritten Abschnitts nehmen unterschiedliche Textformationen und Konstellationen in den Blick. Während der erste Beitrag explizit die Frage nach der Bestimmung von literarischen Sätzen in Abgrenzung zu nichtliterarischen stellt, befassen sich die nachfolgenden Beiträge mit wenig beachteten Textsorten und -formen jenseits des literarischen Schreibens: dem Protokollieren in der Rechtsprechung, der konzeptionellen Künstlernotiz und der Aufzeichnung von Tanzchoreografien. Auf der Suche nach der Essenz des literarischen Satzes bestimmt der Literaturwissenschaftler und Autor Christian Schärf in seinem Beitrag jene Parameter, die literarisches von nichtliterarischem Schreiben unterscheiden. Ausgehend von der doppelten Anschließbarkeit eines Satzes, der sich zugleich in den vorgegebenen Kontext stellt und einen neuen Kontext eröffnet, lässt sich laut Schärf ein literarischer Satz am Grad seiner Selbstreflexivität messen: zum einen in Bezug auf das bestehende Literatursystem und zum anderen als performative und manipulierende Geste gegenüber seinem Modellleser. Damit sieht Schärf den literarischen Satz von der Pragmatik der Sprechakte suspendiert und durch seine Selbstreflexivität in einer Pragmatik zweiter Ordnung verankert. Doris Pichler befasst sich in ihrem Beitrag »Recht gerecht schreiben? Die Ambivalenz der Recht-Schreibung in den Protokollen Albert Drachs« aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive mit der Textsorte ›Protokoll‹ als verbindendes Element zwischen Rede und Schrift im Recht. Das ambivalente Verhältnis dieser beiden Aussageformen bzw. Dokumentationsweisen demonstriert die Literaturwissenschaftlerin anhand der im Protokollstil verfassten Werke des österreichischen Autors Albert Drach, der in seinen Texten die Rechtssicherheit der Schrift und die Unmittelbarkeit der Sprache gegeneinander ausspielt und dessen Texte sich als Kritik an gängigen Praktiken der Rechtsprechung verstehen lassen. In ihrem Beitrag »Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken. Eine digitale Spurensuche« widmet sich Martina Scholger aus Sicht der Digitalen Geisteswissenschaften dem Notizbuch als Ideenspeicher künstlerischer Werkkonzeption und betrachtet es als eigenständiges Metakunstwerk auf ästhetisch-materieller, konzeptionell-inhaltlicher und dokumentarischer Ebene. Am Beispiel der Notizen des österreichischen Konzept- und Objektkünstlers Hartmut Skerbisch demonstriert sie die digitalen Repräsentations- und Nachnutzungsmöglichkeiten des Notizbuchs und schreibt dieser nichtliterarischen Gattung folgende primäre Eigenschaften zu, die auch ihre Analyse leiten: fragmentartig, prozesshaft, verteilt. Erst die Synthese von Methoden aus Editionswissenschaft, Digitalen Geisteswissenschaften und Informationswissenschaft ermöglicht die Dokumentation des künstlerischen Schaffensprozesses zwischen Konzeption und Manifestation.

Schreibforschung interdisziplinär

Der Sammelband schließt mit dem Beitrag »Das Schreiben von und über Tanz. Schrift-Bewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten« von Rita Rieger. Ausgehend von der Entwicklung von Tanztexten seit dem 17. Jahrhundert untersucht sie aus einer philologischen Perspektive das Verhältnis zwischen Tanzen und Schreiben in zeitgenössischen Tanztexten und analysiert die Begriffe ›Choreografie‹ und ›Notation‹ im Kontext aktueller philologisch-kulturwissenschaftlicher Modelle von Roland Barthes, Rüdiger Campe und Martin Stingelin. Anhand eines Beispiels der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und der Tanz- und Musikwissenschaftlerin Bojana Cvejić zeigt Rieger die Verschränkung unterschiedlicher Aufzeichnungsformate und Schriftaspekte, in denen alphabetsprachliche Textpassagen, Notationszeichen, Schematisierungen, gezeichnete Figuren und Fotos gleichermaßen zur Darstellung und Analyse von Bewegung eingesetzt werden und dynamische Schrift-Bild-Szenen erzeugen. Die vorliegende Publikation ist erst durch die finanzielle und organisatorische Unterstützung von verschiedenen Seiten möglich geworden. An dieser Stelle möchten wir sehr herzlich dem Land Steiermark, dem Vizerektorat für Forschung und Nachwuchsförderung der Karl-Franzens-Universität Graz, dem Vizerektorat für Studium und Lehre der Karl-Franzens-Universität Graz sowie der Stadt Graz für die großzügige finanzielle Förderung danken. Dem gesamten Organisationsteam der Tagung danken wir für die hervorragende Unterstützung vor Ort und Caterina Richter für die professionelle Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Susanne Knaller Doris Pany-Habsa Martina Scholger

Bibliografie Abraham, Ulf (2014): »›Kreatives‹ und ›poetisches‹ Schreiben«, in: Helmuth Feilke/Thorsten Pohl (Hg.), Schriftlicher Sprachgebrauch – Texte verfassen (Deutschunterricht in Theorie und Praxis Band 4). Baltmannsweiler: Schneider, 364-381. Gallego Castaño, Liliana del Pilar/Castelló Badia, Montserrat/Badia Garganté, Antoni (2016): »Faculty feelings as writers: relationship with writing genres, perceived competences, and values associated to writing«, in: Higher Education 71 (5), 719-734. Hallet, Wolfgang (2015): »Viewing Cultures: Kulturelles Sehen und Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht«, in: Carola Hecke/Carola Surkamp (Hg.), Bilder im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr Francke Attempto, 26-54. — (2018): »The Multiple Languages of Digital Communication«, in: Judith Buendgens-Kosten/Daniela Elsner (Hg.), Multilingual Computer Assisted Language Learning. Bristol: Multilingual Matters, o.S.

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Hayes, John R./Flower, Linda S. (1980): »Identifying the Organization of Writing Processes«, in: Lee W. Gregg/Erwin R. Steinberg (Hg.), Cognitive Processes in Writing. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates, 3-30. Müller-Tamm, Jutta/Schubert, Caroline/Schubert, Klaus Ulrich (Hg.) (2018): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Paderborn: Fink. Stingelin, Martin/Giuriato, Davide/Zanetti, Sandro (Hg.) (2004): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum.« Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Fink. Wörner, Ulrike/Rau, Tilman/Noir, Yves (2012): Erzählendes Schreiben im Unterricht: Werkstätten für Skizzen, Prosatexte, Fotografie. Velber: Klett/Kallmeyer. Zanetti, Sandro (Hg.) (2012): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp.

I THEORIE UND PRAXIS

Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten Schreibverfahren im Forschen1 Christoph Hoffmann (Luzern) Between scientists and chaos, there is nothing but a wall of archives, labels, protocol books, figures, and papers. Bruno Latour & Steve Woolgar, Laboratory Life (1979).

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Schreiben als Bearbeiten

Das Verb ›schreiben‹ kann eine Reihe unterschiedlicher Tätigkeiten bezeichnen. Ich kann ein Formular ausfüllen, etwas notieren, einen Eintrag im Kalender machen, ein Tagebuch führen, ein Diplom unterschreiben, eine Sitzung protokollieren, eine Einkaufsliste aufstellen, eine Nachricht verschicken, ich kann einen Brief schreiben, einen Vortrag und zur Not auch ein Gedicht. Jedes Mal verbinden sich dabei mit ›schreiben‹ etwas andere Bedeutungen: Mal geht es darum, etwas mitzuteilen, mal mit Stil und Eleganz, mal rasch und ohne Aufwand, mal muss man nur einfüllen, was verlangt ist, mal müht man sich damit ab, die richtigen Worte zu finden, mal geht es bloß darum, schnell etwas festzuhalten, bevor man es wieder vergisst. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erfahren, dass ich mich für das Schreiben im Forschen interessiere, erzählen sie mir oft spontan von dem Aufsatz oder Buch, an dem sie gerade sitzen. Offenkundig identifizieren sie Schreiben mit einer Formulierungstätigkeit. Diese Reaktion ist nicht verwunderlich. Wohin man schaut, wird Schreiben mit der Produktion von Texten gleichgesetzt, es ist in den westlichen Gesellschaften die kulturell – befördert durch den Schulunterricht – privilegierte Form des Schreibens. Entsprechend ist es beinahe zu erwarten, dass für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schreiben erst dann über die Schwelle der Aufmerksamkeit gerät, wenn es darum geht, zu publizieren. Gleichwohl wird in den Wissenschaften nicht nur in solchen Momenten geschrieben. Die

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Die folgenden Ausführungen übernehmen Überlegungen, die ich in Hoffmann 2018 entwickelt habe.

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Christoph Hoffmann (Luzern)

Science Studies haben seit den 1980er-Jahren hinreichend gezeigt, dass im Forschen viel mehr Schreibtätigkeiten vorkommen, als bloß das Ausarbeiten von Publikationen. Einschlägig ist Bruno Latours Wort vom paperwork, das alle Aktivitäten begleitet (Latour 1990: 52-60). Einige Szenen aus dem Alltag einer Arbeitsgruppe von Fischbiologen: Auf einem Tisch liegt die typische Laborkladde, in der Versuchsbedingungen, technische Anordnungen und kleine Kniffe festgehalten werden. Nicht weit daneben liegt ein Klemmbrett, auf dem Taucheinsätze notiert worden sind. Gehen wir weiter ins Meeting: Der Teamleiter hat vor sich eine kleine Skizze liegen, er zeigt auf ein Detail, alle Augen hängen am Stift. Kurz darauf steht er am Whiteboard und entwirft ein Schema, eine Mitarbeiterin schreibt in ihrem Spiralheft mit. Drüben in dem kleinen Büro steht auf dem Schreibtisch ein aufgeklapptes Notebook, daneben Streichwurst, Margarineschachtel, Marmeladenglas, ein Teller, Frühstücksmesser, ein Kugelschreiber und Papier. Hier wird in allen möglichen Situationen und mit ganz verschiedenen Zwecken geschrieben. Wie das Klemmbrett zeigt, sogar draußen vor der Küste auf dem kleinen Forschungskutter der Arbeitsgruppe. Doch all dies erscheint nicht so wichtig, dass man daran denkt, wenn es um das Schreiben in den Wissenschaften gehen soll. Im Folgenden werde ich an drei Beispielen zeigen, in welcher Weise diese unter der Schwelle der Aufmerksamkeit stattfindenden Schreibtätigkeiten für den Forschungsprozess relevant sind. Ich setze dabei voraus, dass Schreiben im Forschen ein Instrument unter anderen darstellt und, wie jedes Instrument, spezifische Effekte zeitigt. Genauer gesagt: Schreiben meint, im Forschen etwas zu bewirken. Das ist übrigens gar nicht ungewöhnlich. Es kommt genauso in unserem Alltag vor, etwa wenn ich einen Vertrag unterschreibe; dadurch wird ein Geschäft abgeschlossen, die Unterschrift bewirkt, dass der Vertrag Gültigkeit erlangt. Anders als in diesem Beispiel wird im Forschen durch Schreiben allerdings weniger etwas final bewerkstelligt, auch wenn dieser Aspekt nie fehlt, sondern im Schreiben wird eine Sache bearbeitet. Durch Schreiben (aber natürlich nicht allein dadurch) stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Kontakt mit ihrem Gegenstand der Forschung, und durch Schreiben wird dieser Gegenstand zur Verfügung gebracht, geordnet und entfaltet; diese meist ineinander verwickelten Tätigkeiten werden im Folgenden aus analytischen Gründen getrennt.

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Ordnen

In Band 90 der Gesamtausgabe von Martin Heideggers Schriften, in dem seine Aufzeichnungen zu Schriften Ernst Jüngers versammelt sind, ist eine Seite aus Heideggers Handexemplar von Der Arbeiter im Faksimile wiedergegeben (vgl. Heidegger 2004: 344-345). Die Druckseite ist zwischen den Zeilen und an den Rändern

Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten

mit zahllosen Hervorhebungen und Zusätzen gefüllt. Zugegeben, nicht jede Seite sieht so aus, aber die Dichte der Anstreichungen und Randbemerkungen ist durchaus typisch. Dieses Gewimmel wirkt reichlich undurchdringlich: vier verschiedene Farben, schwarze Tinte, gelber, roter und grüner Buntstift, zwei Grundtypen von Markierungen, unterstreichen und einrahmen, vier räumliche Positionen für Anmerkungen, links, rechts, oben, unten. Fast alle möglichen Kombinationen sind auf der Seite eingelöst und auch wenn das Gegenteil möglich ist, darf man vermuten, dass verschiedene Farben, Markierungen und räumliche Positionen mit verschiedenen Bedeutungen verknüpft sind. Nur welche dies sind, lässt sich nicht ohne Weiteres rekonstruieren (ein Versuch findet sich in dem Katalog Ordnung 2007: 195). Dies ist aber nicht entscheidend, wichtig ist, dass Heidegger systematisch vorgeht, oder, wie ich es nenne, ein Verfahren benutzt. Was wir sehen, wird in der Regel als Lektürespuren bezeichnet, richtiger ist es jedoch mit Roland Barthes’ Wendung von einem »Lese-Text« zu sprechen (Barthes 1970/2006: 30). Heideggers Markierungen und Notizen treten zu Jüngers Schrift in Konkurrenz, sie überschreiben seinen Text, der ursprüngliche Fluss der Sätze wird vielfach grafisch unterbrochen, einzelne Worte werden hervorgehoben, das Druckbild wird nicht vollständig zerstört, aber abgeschwächt, überall wuchern Heideggers Bemerkungen. Insgesamt legt sich Heidegger Jüngers Überlegungen zurecht. Nicht was Jünger sich gedacht haben mag, steht im Mittelpunkt, sondern was Heidegger für bemerkenswert gehalten hat, welche Verbindungen er zieht und was für ihn aus dem Text hervorgeht. Drastisch ausgedrückt zerlegt Heidegger Jüngers Schrift in kleine Happen und bereitet ihre weitere Verarbeitung vor. Das geht so weit, dass sich Heidegger auf einer leeren Seite am Anfang von Jüngers Buch ein eigenes Register eingerichtet hat (vgl. Heidegger 2004: 304-306). Worin besteht der Effekt dieses Vorgehens? Erstens wird der gelesene Text neu geordnet, seine Einheiten gewinnt er nun durch Heideggers Hinzufügungen. Zweitens steht der Text dadurch anders zur Verfügung, nämlich als Material für Heideggers zukünftige Argumentationen. Diese Effekte sind auf die Markierungen und Randbemerkungen zurückzuführen. Natürlich denkt sich Heidegger etwas, während er Jüngers Buch studiert, besser gesagt, auswertet. Aber ohne die vier Stifte und was sich mit ihnen anstellen lässt, wäre dieses Lesen und Nachdenken fruchtlos. Ich habe Heideggers Vorgehen ein Verfahren genannt. Der Name für dieses Verfahren lautet bekanntlich Annotation. Für mich wird durch Annotation allerdings eine Methode bezeichnet, d.h. eine abstrakte, angebbare Regel. Ein Verfahren realisiert eine Methode in einem konkreten Zusammenhang. Aus Vorgaben, wie man sie z.B. in der Ratgeberliteratur für wissenschaftliches Arbeiten findet, formt sich nach und nach bei der Arbeit ein spezifisches Verfahren, nämlich Heideggers Weise des Annotierens: nicht einfach Anstreichungen, sondern Unterstreichung und Einrahmung, nicht eine Farbe, sondern vier usw. Verfahren sind in die-

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Christoph Hoffmann (Luzern)

sem Sinne immer situativ, lokal und häufig auch idiosynkratisch; gleichwohl besteht der unabweisbare Eindruck, dass Heidegger verfahrensmäßig vorgegangen ist. Wenn ich so viel Wert darauf lege, die Effekte von Schreibereien im Forschen mit Verfahren zu verknüpfen, dann deshalb, weil Schreiben für sich noch nicht den Charakter eines Instruments hat. Zum Instrument wird Schreiben dadurch, wie geschrieben wird. Dieses wie versuche ich mit dem Wort Verfahren einzufangen. Ein solches Verfahren kann, wie in Heideggers Fall, auf vorgegebenen Weisen des Vorgehens (Methoden) aufbauen; neben dem Annotieren wäre z.B. an das Exzerpieren, das Anfertigen von Listen und Synopsen oder das Protokollieren zu denken. Ein solches Verfahren kann sich aber auch spontan in der Arbeit gleichsam unter der Hand herausbilden und allmählich über die Schwelle einer Verfahrensmäßigkeit geraten (vgl. Campe 2012). Von Verfahren zu sprechen hat darüber hinaus noch einen zweiten Sinn. Als analytischer Begriff steht er gegen den Begriff des Schreibprozesses. Wo von solchen die Rede ist, richtet sich das Augenmerk auf die Hervorbringung eines finalen Produkts; was auf dem Weg dahin geschieht, wird als Schritt in diese Richtung verstanden, selbst wenn der Schritt scheitert oder ins Abseits führt. Darin steckt die enge Verknüpfung der Untersuchung von Schreibprozessen mit der Untersuchung von Textproduktionen. Im Forschen entstehen aber in den allermeisten Momenten nicht Texte, es sei denn, man würde den Begriff des Textes bis ins Inhaltsleere ausdehnen, sondern möglichst neutral gesagt Aufzeichnungen, die nicht Zwischenprodukt auf dem Weg zu einem Text sind, sondern einen eigenen an die augenblickliche Situation mit ihren Aufgaben geknüpften Stellenwert besitzen.

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Eingrenzen und verfügen

Vom Ordnen haben wir eben schon gesprochen. Heidegger liest Jünger ja nicht zum Vergnügen, er beschäftigt sich mit einem Gegenstand, und wenn man einwenden möchte, er sei aber gar kein Wissenschaftler, dann mag man an die Germanistin denken, die ganz dasselbe mit irgendeinem literarischen Text macht. Ich will nun einen Schritt zurückgehen und auf etwas noch Einfacheres eingehen: das Verfügbar-Machen. Ich schlage ein Beobachtungsjournal des Zoologen Karl von Frisch auf: Auch wenn grafische Hervorhebungen und räumliche Verteilung der Aufzeichnungen nicht unwichtig sind, soll diesmal im Vordergrund stehen, was auf den zwei Seiten links und rechts festgehalten wird. (Frisch: Ana 540, A III, 1944 III, Bl. 12Rs13Vs). Da wären das Datum des Beobachtungstags, Bemerkungen zum Wetter (allgemeine Wetterlage, Temperaturangaben, Windrichtungen), Art und Menge eines Futters »Zu.«, das an einem Futterplatz gegeben wird, ein Duftstoff, »Lavendelöl«,

Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten

der an zwei Beobachtungsplätzen A und B bereitgestellt wird, die Lage aller drei Plätze und ihr Abstand zu einem »Stock«, die Namen der Beobachterinnen an den Beobachtungsplätzen A und B (»Frl. Langwald« und »Frl. Walter«), Anflugrichtungen, Beginn und Ende der Fütterung, Beginn und Ende der Beobachtungen, weiter jede Menge Zahlen, von denen einige »Flüge« bedeuten, andere Uhrzeiten, wir sehen außerdem Summen und schließlich Bemerkungen zum Prozedere, z.B. die Bemerkung: »Es wird Anflug der direkt im Gras in unmittelbarer Nähe der Duftplatte gesucht haben, geschlängelt unterstrichen«. Das steht im Beobachtungsjournal des Zoologen von Frisch unter dem Datum 12. August. Ich kann es nachlesen und mit etwas Kenntnis der Umstände auch teilweise verstehen. Gleichzeitig steht dort eine ganze Menge nicht. Das fängt an mit dem Jahr, in dem wir uns befinden. Es ist auf dem Deckel des Schulhefts vermerkt, das als Beobachtungsjournal dient: 1944. Weiter wissen wir trotz verschiedener räumlicher Angaben nicht, wo das aufgezeichnete Geschehen stattfindet. Ebenso gibt es keinerlei Hinweise darauf, mit welcher Absicht hier »Flüge« gezählt werden. Und es wird anscheinend nirgends erwähnt, was hier fliegt, wobei es gleich zu Beginn der Aufzeichnungen heißt: »B kommen sehr zögernd«. Es fehlen mit anderen Worten: Ort, Forschungsfrage und Forschungsmaterial (und noch ein paar Dinge mehr). So geht es allen, die diese Aufzeichnungen unbefugt lesen, die nicht dazugehören, nicht von Frisch heißen oder wenigstens Frl. Walter oder Frl. Langwald. Aus meiner Sicht sind diese Aufzeichnungen voller Auslassungen. Will ich nicht vermuten, dass von Frisch nachlässig gearbeitet hat, muss ich voraussetzen, dass alles, was mir fehlt, ihm klar gewesen ist. Es musste nicht eigens hingeschrieben werden, dass mit »B« Bienen gemeint waren, dass von Frisch sich dafür interessierte, was passiert, wenn der Futterplatz in einer bestimmten Entfernung vom Stock aufgestellt wird und die zwei Beobachtungsplätze später, wenn die Bienen von dem reichen Futter angeregt wieder ausschwärmen, einmal in derselben Entfernung und einmal viel näher zum Stock aufgebaut werden, und von Frisch war auch klar, dass die Beobachtungen auf einer Wiese hinter seinem Sommerhaus am Wolfgangsee stattfinden. All das weiß er und fügt es in Gedanken hinzu, wenn er die Aufzeichnungen wieder liest. Wir sehen also, dass das Journal keineswegs alles enthält, was ich brauche, um die Aufzeichnungen zu verstehen. Die Aufzeichnungen sind selektiv. Das gilt auch in einer zweiten Hinsicht: Wir wissen nun, die Szene spielt sich auf einer Wiese an einem luftigen Sommervormittag ab. Doch wir erfahren nichts darüber, welche anderen Lebewesen dort unterwegs waren, ebenso Schweigen über die Geräusche und Gerüche in der Luft oder über die Flora auf den Wiesen. Temperatur, Windrichtung, Bienen, Anflüge, Uhrzeiten, Futter, Duftstoff, Lage der Plätze, darauf konzentrieren sich die Aufzeichnungen, der Rest wird ausgeblendet. Einerseits

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wird damit sehr viel, sehr detailliert festgehalten, andererseits wird, zu Ende gedacht, sehr wenig festgehalten, das Journal ist ein Engpass. Dieser Filtereffekt realisiert sich im Aufzeichnen, aber die Einstellung des Filters hängt von den Annahmen und Interessen von Frischs ab. Es ist, wenn man so will, ein kognitiver Filter. Einen besonderen Beitrag zum Forschungsprozess wird man dem Schreiben in diesem Fall nicht zubilligen wollen, die Leistung scheint sich aufs Speichern zu beschränken. Im Kern stimmt das, doch darf man nicht übersehen, dass mit den Aufzeichnungen die Vorgänge auf der Wiese, wie HansJörg Rheinberger sagt, »redimensionalisiert werden« (Rheinberger 2006: 352). Was sich an verschiedenen Orten über einen Zeitraum von etwa zwei Stunden abspielt und von einer Person nicht überblickt werden kann, findet nun auf der Doppelseite eines Schulheftes Platz. Erst derart verdichtet kann von Frisch die Arbeit eines Vormittags in Besitz nehmen, erst in diesem Format steht ihm zur Verfügung, was verstreut über die Wiese stattfindet. Dieser Effekt ist genuin an die Aufzeichnung gebunden und noch in einer zweiten Weise ist das Aufzeichnen epistemisch wirksam. Dafür muss man sich klarmachen, dass das Journal in von Frischs Forschungspraxis einen Zwischenspeicher darstellt: Was dort hineingeht, wird wiederum zum Gegenstand weiterer Auswertungen. Das ist wahrscheinlich erst im zeitlichen Abstand geschehen, am Ende des Sommers, wenn die Beobachtungen mit den sinkenden Temperaturen aufhören. In von Frischs Nachlass finden sich verschiedene andere Papiere, die zeigen, wie die Beobachtungen im Journal durchgearbeitet und in Bedeutungszusammenhänge gebracht werden (vgl. Hoffmann 2013). Aufgegriffen werden kann jedoch nur, was im Journal bereitgehalten wird. Speichern bedeutet in diesem Sinne zu entscheiden, was im Weiteren in Betracht gezogen werden kann. Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es naheliegt, den Effekt von Aufzeichnungen im Forschungsprozess auf die Speicherfunktion zu reduzieren. Wie sich herausgestellt hat, ist dieser Vorgang aber mitnichten trivial. Wo Dinge festgehalten werden, werden sie vor allem eingegrenzt und verfügbar gemacht. Hinter das Journal kommt von Frisch nicht mehr zurück. Mit dem Journal in der Hand schrumpfen mehrere Wochen Beobachtungstätigkeit auf den Umfang eines Schulheftes zusammen.

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Entfalten

In meinem dritten Beispiel möchte ich dem Aspekt der Zeitlichkeit etwas nähertreten. Dafür nehme ich ein Notizbuch des Physikers und Wissenschaftstheoretikers Ernst Mach zur Hand. Es enthält Aufzeichnungen aus dem Frühjahr und Sommer 1895, nach etwa einem Drittel beginnt Mach mit einer Aufstellung. Die Überschrift zu den ersten Stichworten lautet: »Zufälliges Zusammentreffen in einem Kopfe«

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(Mach 1895/1910: Notizbuch 38, Bl. 31Vs.). Auf den nächsten acht Seiten folgen weitere Notizen, alle von derselben Art, listenförmig aufgereihte Stichworte, selten ganze Sätze, teils, wie hier im ersten Absatz, unter eine Überschrift gepackt. Aus philologischer Sicht könnte man von ersten Überlegungen zu Machs Vortrag »Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen« sprechen, zugleich seine Antrittsvorlesung an der Universität Wien im Herbst 1895 (Mach 1895/1910). Einiges, nicht alles, was in den Stichworten angetippt wird, taucht dort wieder auf. Allerdings hat dieser Zugang einen Haken: Um die Notizen als Keim des Vortrags qualifizieren zu können, muss der Vortrag vorliegen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Stichworte hat der Vortrag aber nur als Datum im Terminkalender existiert. Greift man vom Späteren her auf das Frühere zu, verwandeln sich die Notizen in einen ersten Schritt zum letzthin erhaltenen Ergebnis. Es ist dies die Perspektive, die im Aufgezeichneten den Schreibprozess isoliert und als Entwicklungsgang verfolgt. Bleibt man hingegen bei den Notizen und blendet alles aus, was erst noch kommen wird, muss man sich als Erstes fragen, wie dieser Wust von Aufzeichnungen auf dieser und den folgenden Seiten überhaupt zusammenhängt. Zwar gibt es, wie erwähnt, Überschriften, aber diese sind relativ abstrakt und ergeben untereinander kein Gefüge. Es gibt auch keine formale Strukturierung, z.B. durch Ziffern oder Buchstaben, die einzelne Abschnitte trennen. Mein Vorschlag ist, diese listenartigen Aufstellungen als eine Art paper storming zu begreifen; ein brain storming mit Stift und Papier. Der Befehl mag in etwa gelautet haben: Schreibe alles auf, was dir zur Rolle des Zufalls im Lernen und Erkennen einfällt. Einmal auf dem Blatt kann Mach über diesen Vorrat – genauso wie von Frisch über seine Bienenbeobachtungen – verfügen. Anders als die Aufzeichnungen in von Frischs Beobachtungsjournal werden die Notizlisten nun aber zunächst fortlaufend durchgearbeitet. Jack Goody hat darauf hingewiesen, dass Listen dazu auffordern, mit ihnen weiterzuarbeiten. Wichtig ist, schreibt Goody, »daß die Liste dazu anhält, die einzelnen Elemente zu ordnen, nach Anzahl, nach Anlaut, nach Kategorie etc.« (Goody 1977/2012: 349). Eben dies passiert in Machs Notizbuch. Er überzieht die Aufzeichnungen mit einem Geflecht von Unterstreichungen, Anstreichungen, Klammern, Haken, setzt neue Einträge hinzu, streicht andere durch usw. Wir sehen genauer gesagt auf den Blättern des Notizbuchs in den vielen grafischen Spuren ein Suchverfahren bei der Arbeit. Es besteht aus den Schritten Auflisten, Durchgehen, Markieren, und dieses Verfahren dürfte über mehrere Runden ausgeführt worden sein, aber das ist Spekulation, weil über die genauen zeitlichen Verhältnisse der Markierungen nichts gesagt werden kann. Auch dieses Beispiel ist banal. Listen aller Arten kommen im Alltag andauernd vor. Speziell scheint mir an Machs Aufstellungen zu sein, dass der innere Zusammenhang der Einträge – jenseits einer groben Idee – nicht feststeht. Was fehlt, ist das, was man üblicherweise den einigenden Gesichtspunkt nennt, von dem her die

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Einträge in den Listen den Charakter von Elementen eines Vortrags gewinnen. Dieser Gesichtspunkt bildet den Einsatz der Vorgehensweise; Mach kalkuliert damit, dass sich im Ablauf des Auflistens und Durcharbeitens etwas ergeben wird. Zeit ist hier nicht eine neutrale Maßeinheit, Zeit gewinnt eine qualitative Bedeutung; man geht mit seinen Absichten und Hoffnungen durch die Zeit. Interessanterweise findet sich auf der letzten Seite dieser Notizen eine weitere Zusammenstellung, diesmal nach der Art von Überschriften. Diese Überschriften sind schon ziemlich nah zum Inhalt des späteren Vortrags. Interessant an diesen Überschriften ist: Keine von ihnen findet sich schon auf den Seiten zuvor. Irgendetwas ist dazwischen geschehen, man mag es auf die Rechnung eines Geistesblitzes setzen, aber dessen Bedingung der Möglichkeit, behaupte ich, besteht in Machs Verfahrensweise.

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Effekte

Nach dem Durchgang durch die drei Beispiele stellt sich eine Frage: Muss nicht, was ich als Effekt des Schreibverfahrens bezeichne, eher auf die Rechnung kognitiver Operationen gesetzt werden? Schließlich ist da ja immer jemand, der den Stift in der Hand hält und entscheidet, was markiert, notiert, aufgezeichnet oder hingeschrieben wird. Ich halte eine solche Gegenüberstellung aber für falsch. Wenn ich von Verfahrenseffekten spreche, versuche ich hervorzuheben, in welcher Weise kognitive Tätigkeiten wie Lesen, Beobachten oder, im letzten Beispiel, ›Herumdenken‹ ins Schreiben verwickelt sind und wie Schreibvorgänge als Fokussierung, Begrenzung und/oder Strukturierung in Denkvorgänge intervenieren. Ich kann nicht belegen, dass sich ohne die gewählte Vorgehensweise oder mit einem anders organisierten Schreibverfahren andere Denk- und Handlungsmöglichkeiten ergeben hätten; eine Gegenprobe ist nicht möglich. Aber das erste Beispiel lässt vornehmlich die strukturierenden Effekte von Schreibverfahren deutlich werden, das zweite stärker die limitierenden und das dritte unterstreicht den generativen Charakter von Schreibverfahren. Erkennt man aber an, dass die Vorgehensweise restriktive und produktive Effekte zeitigt, liegt es nicht völlig fern, dass andere Vorgehensweisen andere Effekte und in der Folge andere ›Resultate‹ mit sich bringen. Wie hätte wohl Machs Vortrag ausgesehen, wenn er gleich los geschrieben hätte? Ich möchte mein Argument in einer Hinsicht noch etwas stärker machen. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass Schreibverfahren die Aktivitäten der Forschenden regelrecht triggern. Ich denke an einen Punkt, den Pierre Bourdieu erwähnt. In der Einleitung von Le sens pratique widmet er sich ausführlich den Widersprüchen, in die man gerät, wenn man eine Praxis in ihrer Logik systematisch erschließen möchte. Bourdieu bekennt:

Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten

Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, daß man die Logik der Praxis nur mit Konstruktionen erfassen kann, die sie als solche zerstören, solange man sich nicht fragt, was Objektivierungsinstrumente wie Stammbäume, Schemata, synoptische Tabellen, Pläne, Karten oder, nach den neueren Arbeiten Jack Goodys, schon die einfache Verschriftung eigentlich sind, oder besser noch, was sie anrichten. (Bourdieu 1980/1987: 26) Ausgangspunkt hierfür war eine Beobachtung aus seinen soziologischen Studien: Bei der schriftlichen Bearbeitung des von ihm erhobenen Materials zeigten sich zahlreiche Ambivalenzen, die Bourdieu auf einen Synchronisationseffekt zurückführte. Was im Feld zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen bemerkt worden war, geriet auf dem Schreibtisch zur gleichen Zeit nebeneinander. Schreibverfahren wie die Tabelle oder die Synopse, typische sozialwissenschaftliche Instrumente, verschärfen diesen Effekt weiter, insofern sie eine eindeutige Zuordnung von Einträgen zu einem Feld in der Tabelle verlangen, respektive Vorgänge aus ihrer je eigenen Zeit herausnehmen und parallel stellen. Auf diese Weise können Schreibverfahren zum einen Artefakte produzieren. Dinge, die in der Praxis nie zusammen auftreten, geraten auf dem Papier nebenund dort eventuell in Widerspruch zueinander. Zum anderen forcieren Schreibverfahren wie die Synopse oder die Tabelle ein Verlangen nach Vollständigkeit und Eindeutigkeit; für jedes Feld der Tabelle braucht es eine Füllung, für jedes Feld der Synopse ein Seitenstück. Das Auftreten von Ambivalenzen im Beobachtungsmaterial, das Bourdieu gequält hat, rührt derart aus dem eingesetzten Schreibverfahren. Für ihn folgt daraus, dass »man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat.« (Bourdieu 1980/1987: 157) Für mich folgt daraus, dass Schreiben im Forschen niemals epistemologisch neutral zu verstehen ist. Etwas aufzuschreiben, bedeutet, das Aufgeschriebene unter eine bestimmte Verfügbarkeit, Ordnung und damit unter eine Logik zu bringen.

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Am Rechner

Alle Beispiele, die ich eben benutzt habe, gehören der Epoche von Stift und Papier an. Nun haben wir eingangs gesehen, dass diese Schreibmittel zusammen mit weiteren Gerätschaften dieser Epoche, etwa der Tafel, auch heute zum Alltag einer Forschungsgruppe in den Biowissenschaften gehören, aber sehr viel findet natürlich am Rechner statt. Das Basler Projekt von Martin Stingelin hat in den 2000er-Jahren für literarische Schreibszenen argumentiert, dass Schreibmittel je spezifisch in Schreibvorgänge verwickelt sind (vgl. Stingelin 2004). Daraus ergibt sich die Frage, ob sich etwas – und wenn ja, was sich – an meinen Überlegungen ändert, wenn heute alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie Michel

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Serres geschrieben hat, vor »Computerbildschirmen sitzen und auf ihre Tastaturen hämmern.« (Serres 1997/2001: XI) Das ist eine sehr große Frage, auf die ich noch einmal mit einem Beispiel eingehen möchte. Ich befinde mich im Arbeitsraum der eingangs erwähnten Gruppe von Fischbiologen. Früher war dies einmal ein Labor, jetzt scheint es schon länger nicht mehr benutzt worden zu sein, nur an der Fensterfront stehen drei Rechner. Auf einem der Bildschirme ist, eingelagert in ein Auswertungsprogramm, eine Fotografie zu sehen, die ein automatisch arbeitendes Unterwasserobservatorium aufgenommen hat. Aufgabe der Forscherinnen und Forscher ist es, alle im Foto erkennbaren makroskopischen Lebewesen, also Fische, Seeschnecken, Quallen usw., auszuzählen, zu vermessen und nach ihrer Art zu bestimmen. In diesem Augenblick wird ausgezählt, der Leiter der Arbeitsgruppe klickt mit dem Zeiger der Maus nacheinander eine Reihe von Schaltflächen an. Das Foto gehört zu einem Langzeitunternehmen, in dem die Zusammensetzung eines Ökosystems an der Küste Spitzbergens untersucht wird. Jeden Tag werden 48 Aufnahmen angefertigt, über die Jahre sind das tausende Aufnahmen. Jedes Foto wird in einer Reihe von Schritten verarbeitet und alle diese Schritte erfolgen am Bildschirm und werden über Schaltflächen des Programms gespeichert. Als ich diesem Vorgang zugeschaut habe, hat mich interessiert, wie aus Fotos Daten werden. An Schreiben habe ich zunächst nicht gedacht. Das hat sich erst geändert, als mir der Leiter der Forschungsgruppe das Produkt der Bildauswertung gezeigt hat: eine schlichte CSV- oder Tabellendatei. Während ich gebannt auf den Bildschirm gestarrt habe, hat der Leiter der Forschungsgruppe die ganze Zeit geschrieben, ein Wort, eine Ziffer, nicht mit dem Stift, sondern mit der Maus in der Hand, nicht auf Papier, sondern vermittelt über die Klicks auf die Schaltflächen in eine Datei. Dass ich dies erst in diesem Augenblick bemerkt habe, liegt daran, dass sich der Vorgang im Verborgenen abspielt. Die Datei wird im Programmhintergrund gefüllt, man muss die Darstellung eigens aufrufen. Das Schreiben hört also auch in den hochtechnischen Umgebungen nicht auf, nur muss ich dafür eigens Aufmerksamkeit entwickeln. Allerdings ist die Ansicht der Tabelle auf dem Bildschirm in einer Hinsicht irreführend. Die Forscherinnen und Forscher schauen sich diese Tabelle nämlich nur sehr selten an. Wenn geforscht wird, wenn also die gespeicherten Daten weiter analysiert werden, geht niemand die Tabelle von Hand respektive per Auge durch. Vielmehr wird die Tabelle mithilfe eines Statistikprogramms erschlossen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Tabelle umfasst viele hundert, vielleicht sogar tausende Zeilen, die kein Auge durchdringen kann. D.h. aber zugleich, dass ein alteingespieltes Schreibverfahren – die Tabelle – mit den neuen Schreibmitteln Maus und Computerprogramm erstellt, eine wesentliche Veränderung erfährt. Lange Zeit bestand der Effekt von Tabellen darin, viele Dinge, Zahlen, Beobachtungen etc., zusammenzuführen, um in ihnen auf einen Blick Muster entdecken zu können. Tabellen im

Eingrenzen, verfügen, ordnen, entfalten

Rechner kennen hingegen kein Augenmaß. Zwar bilden sie weiter ein Schreibverfahren der Verdichtung, aber sie sind nicht mehr länger darauf berechnet, angeschaut zu werden. Der ursprünglich charakteristische Verbund von Anordnen und Überblicken ist gesprengt. Das Statistikprogramm übernimmt den zweiten Schritt – und produziert nicht mehr nur Zahlenreihen, sondern bevorzugt Diagramme. Schreibverfahren können, wie eben gesehen, in den digitalen Raum übertragen ihre hergebrachte Konfiguration verändern; einzelne Leistungen werden durch den Rechner substituiert, als Schreibmittel dient keineswegs nur die Tastatur. Gleichzeitig lassen sich neue Arbeitsteilungen beobachten. Wie anfangs erwähnt, vertiefen der Leiter oder andere Mitglieder der Arbeitsgruppe einzelne Aspekte ihrer Arbeit nicht selten an einer Wandtafel. Meist geschieht das im Meeting oder wenn Besucherinnen und Besucher mit anderem Hintergrund (z.B. ich) nach Dingen fragen, die gewöhnlich unausgesprochen bleiben. Die Tafel oder hilfsweise ein Blatt Papier bilden eine Art erweiterten Denkraum. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler treten hier in einen Prozess der Selbstverständigung ein; nicht am Rechner, sondern mit einem Stift in der Hand. Damit verbindet sich keine Hierarchie, ich möchte nicht sagen, dass Tafel und Blatt Orte komplexerer Tätigkeiten sind. Vielmehr scheint es mir so, dass es um Flexibilität geht. Tafel und Blatt sind leicht zur Hand, können ohne viel Aufwand gefüllt werden, setzen im Gegensatz zu den Rastern von Programmoberflächen der Verteilung und Gestaltung von Aufzeichnungen nur durch ihre Maße eine Grenze. Es wäre allerdings ebenfalls ein Irrtum, ginge man davon aus, dass Tafel und Blatt gewissermaßen Orte ›freien Schreibens‹ seien. Denn wie in diesem Aufsatz gezeigt werden sollte, fügt sich Schreiben im Forschen (und sicherlich nicht nur dort) in Schreibverfahren, die das Denken und Handeln stützen und instruieren; selbst da, wo anscheinend vollkommen regellos gekritzelt wird.

Bibliografie Barthes, Roland (1970/2006): »Das Lesen schreiben«, in: ders. (Hg.), Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 29-32. Bourdieu, Pierre (1980/1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übers. von Günter Seib. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Campe, Rüdiger (2012): »Verfahren. Kleists Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: Sprache und Literatur 43 (2), 2-21. Goody, Jack (1977/2012): »Woraus besteht eine Liste?«, in: Sandro Zanetti (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp, 338-396.

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Heidegger, Martin (2004): Gesamtausgabe. 4. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen. Bd. 90. Zu Ernst Jünger, hg. von Peter Trawny. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Hoffmann, Christoph (2018): Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte. Tübingen: Mohr Siebeck. — (2013): »Retenir et Reprendre. L’Écriture dans la Pratique de Recherche du Zoologiste Karl von Frisch«, in: Genesis. Revue Internationale de Critique Génétique 36, 189-199. Latour, Bruno (1990): »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice. Cambridge, MA/London: MIT Press, 1968. — / Woolgar, Steve (1979): Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts. Beverly Hills/London: Sage Publications. Mach, Ernst (1895/1910): »Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen«, in: ders. (Hg.), PopulärWissenschaftliche Vorlesungen. 4. Aufl. Leipzig: Barth, 290-312. Nachlass Karl von Frisch (1944): unpaginiert; Ana 540, A III, 1944 III, Bl. 12Rs-13Vs, München: Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftensammlung. Nachlass Ernst Mach: unpaginiert; NL 174/0542, München: Archiv des Deutschen Museums. Ordnung. Eine unendliche Geschichte (= Marbacher Katalog 61) (2007), hg. vom Deutschen Literaturarchiv. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft. Rheinberger, Hans-Jörg (2006): »Zettelwirtschaft«, in: ders. (Hg.), Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 350-361. Serres, Michel (1997/2001): »Vorwort«, in: ders./Nayla Farouki (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften (1997). Übers. von Michael Bischoff und Ulrike Bischoff. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, IX-XXXIX. Stingelin, Martin (2004): »›Schreiben‹. Einleitung«, in: ders. (Hg.), »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Fink, 7-21.

Der Schreibprozess als Dialog Eine Perspektive am Schnittpunkt von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie Andrea Karsten (Paderborn) Anstatt der gewünschten Eingrenzung unseres Untersuchungsobjekts hat unsere Analyse seine außerordentliche Ausweitung und Komplizierung zum Ergebnis. Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie (1929/1975: 97).

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Präludium

Stellen wir uns folgende Szene vor: Eine junge Frau sitzt an ihrem Schreibtisch, vor sich ihr Laptop, der Blick ist konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Die Finger rasen über die Tastatur – es ist gar nicht so sehr die kaum wahrnehmbare Bewegung der Hände, die uns das verrät, sondern das schnelle arrhythmische und doch melodiöse Klackergeräusch der Tasten. Wir sehen, wie das Produkt dieses Klackerns im Verarbeitungsprogramm wächst, erkennen dies an der auf den Bildschirm fließenden Buchstabenschlange, die immer am Ende der Zeile eine ruckartige Bewegung nach links unten macht, bevor sie sich von dort wieder längt und eine wohlbekannte Figuration entstehen lässt: den Text. Und nun stelle ich die Frage – ich leihe sie von Erving Goffman (vgl. 1974/1980: 16), der sagen würde, dass jeder Mensch, der eine solche Szene beobachtet, sie sich ohnehin stellen würde –: Was geht hier eigentlich vor? Und: Was könnte man tun, um herauszufinden, was vor sich geht? Und schließlich eine dritte, vielleicht etwas ungewöhnliche Frage: Wer ist eigentlich dieses ›man‹? Wer blickt hier auf das Schreiben? Von welcher Warte aus?

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Schreiben. Eine Positionsbestimmung

Schreiben ist ein Gegenstand am Schnittpunkt vieler Disziplinen, Untersuchungsund Theorietraditionen. Von welcher Warte aus Schreiben untersucht wird, hat Einfluss auf die Art und Weise, wie Fragen gestellt und Erkenntnisse erzielt werden, und damit auf das Bild von Schreiben, das entsteht. In diesem Beitrag untersuche ich Schreiben als Prozess schreibender Akteurinnen und Akteure, ähnlich wie im eingangs angeführten Beispiel angedeutet. Ein solcher Blick ist typisch sprachpsychologisch oder psycholinguistisch. Doch auch innerhalb eines sprachpsychologischen Blicks auf Schreiben sind verschiedene Perspektiven denkbar. Mit der hier verfolgten theoretischen und methodologischen Perspektive auf den Schreibprozess verorte ich meinen Beitrag am Schnittpunkt von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie, d.h. am Überschneidungsbereich einer jeweils bestimmten Form der Sprachwissenschaft und der Psychologie. Die dialogische Sprachwissenschaft steht in der Tradition Michail Bachtins (1895-1975) und Valentin Vološinovs (1895-1936). Die beiden Autoren verstehen Sprache als sprachliche Tätigkeit zwischen Menschen. Im Zentrum ihrer Theorie steht als Untersuchungsgegenstand die dialogische Äußerung (vgl. Bachtin 195354/2004; vgl. Vološinov 1929/1975). Dialogisch bedeutet, dass Sprecher mit ihren Äußerungen immer einen spezifischen Standpunkt, im Sinne einer wertenden Haltung und einer sozialen Positionierung, einnehmen. Und es bedeutet, dass sich jede Äußerung auf vorhergehende und nachfolgende eigene und fremde Äußerungen bezieht, d.h. ihren Standpunkt nur in Relation zu anderen Standpunkten ausdrücken kann. Dieser Prozess braucht immer eine semiotische Form, in der er sich vollziehen kann. Es geht also nicht um den Austausch ›bloßer‹ Bedeutungen, sondern um die im weiten Sinne sprachliche (dies bedeutet u.a. auch: lautlich-intonatorische, mimische, gestische und grafische) Konstruktion dieser. Die dialogische Sprachwissenschaft heute (vgl. Linell 2009; vgl. Marková et al. 2007) ist sowohl theoretisch als auch methodologisch anschlussfähig an die Ethnografie der Kommunikation (vgl. Hymes/Gumperz 1972) und an konversationsund diskursanalytische Vorgehensweisen (vgl. Schiffrin/Tannen/Hamilton 2001; vgl. Sidnell/Stivers 2013). Sprache wird anders als in traditionellen linguistischen Ansätzen nicht primär als System mit inhärenten Regeln, sondern als sprachliche Praxis in situativen und sozialen Kontexten verstanden. Die Komplexität sprachlicher Praxis und insbesondere die engen Bezüge und die feine Abstimmung zwischen einzelnen Äußerungen rücken in den Blick. Es interessiert sowohl, wie Menschen sprachliche Praxis gestalten, als auch, wie sie damit ihre soziale Welt konstruieren. Beachtung finden dabei nicht nur sprachliche Mittel im engeren Sinne, sondern auch stimmliche und körpersprachliche Ausdrucksweisen. Ein besonderes Augenmerk gilt dialogischen Bezügen auf einer übergeordneten sozialen Ebene, d.h. dem Bezug einzelner situativer Äußerungen zu typischen

Der Schreibprozess als Dialog

Äußerungsformen und personen- und situationsübergreifenden sprachlichen Gattungen bzw. Genres (vgl. Bachtin 1953-54/2004; vgl. Luckmann 1986). Sprachliche Tätigkeit wird so nicht ›an sich‹ untersucht, sondern gerade in ihrer konstruktiven Funktion und in ihrer Wirkungsmacht auf Menschen und ihre Beziehungen. Hierin teilt die dialogische Sprachwissenschaft ihr Verständnis des Menschen mit der soziokulturellen Psychologie. Die soziokulturelle Psychologie (vgl. Cole 1996; vgl. Valsiner/Rosa 2007; vgl. Wertsch 1991) steht in der Tradition des sowjetischen Psychologen Lev Vygotskijs (1896-1934), eines Zeitgenossen Bachtins und Vološinovs. Grundgedanke dieser Psychologietradition ist, dass der Mensch in aktuell-situativen, soziokulturellen und historischen Kontexten situiert ist und sein Handeln und Denken nicht losgelöst von dem anderer Menschen verstanden werden kann. Psychologische Prozesse werden als in soziale Interaktionen eingebettet, von diesen beeinflusst und zu diesen beitragend verstanden (vgl. Cole/Engeström/Vasquez 1997). Damit zusammenhängend werden immer wieder Fragen nach der interpersonalen Organisation psychologischer Phänomene (shared cognition) und nach dem Einfluss sozialer Machtverhältnisse auf sie aufgeworfen (vgl. Resnick/Levine/Teasley 1991). Typisch ist ein genetischer Blick, der psychologische Phänomene in ihrer Entwicklung untersucht, um so zu Erkenntnissen über das Phänomen zu kommen, zu denen ein rein situativer Blick nicht führen würde (vgl. Vygotsky 1931/1997; vgl. Wertsch 1996). Methodisch wird auf labor-experimentelle Forschung verzichtet, und qualitative Analysen ›natürlicher‹ Tätigkeit, oft in Form von Fallstudien, überwiegen. Eng verwandt mit der soziokulturellen Tradition sind diskursive Ansätze in der Psychologie (vgl. Edwards/Potter 1992; Harré/Moghaddam 2003), die psychologische Phänomene nicht nur als diskursiv konstruiert verstehen, sondern diese auch in sozialen Interaktionen untersuchen. In der Konsequenz umfassen soziokulturelle psychologische Ansätze auch ein dialogisches Verständnis des Selbst (vgl. Bertau/Gonçalves/Raggatt 2012; vgl. Hermans/Gieser 2012). Sprache kommt eine zentrale Rolle für die Interaktion zwischen Menschen – hier zeigt sich deutlich die Überschneidung mit der dialogischen Sprachwissenschaft – und für intrapersonale Prozesse (vgl. Bertau/Karsten 2018; vgl. Fernyhough 1996; vgl. Vygotskij 1934/2002) zu. An diesem Schnittpunkt von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie hat sich eine sprachpsychologische Perspektive entwickelt, welche die sprachliche Tätigkeit von Menschen nicht nur in ihrer kommunikativen, sondern auch in ihrer kognitiven Funktion untersucht und zu diesem Zweck auch Äußerungen von Sprecherinnen und Sprechern, die diese für sich allein und oft still, im ›Inneren‹, vollziehen, erfassen möchte (vgl. Bertau 2011; vgl. Bertau/Werani 2011; vgl. Karsten 2014a). Teil dieser soziokulturell und dialogisch interessierten sprachpsychologischen Perspektive ist auch die in diesem Beitrag vorgestellte Untersuchung des Schreibens. Der Schreibprozess kann genau an dem angesprochenen Punkt zwischen Kommunikation und Kognition und zwischen Menschen verortet werden: Er ist

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eine sprachliche Tätigkeit eines in vielfältigen sozialen Beziehungen stehenden Selbst, auch wenn meistens ein großer Teil des Schreibprozesses ›im Stillen‹ stattfindet. Eine interessierte Person kann wie im Beispiel oben die Vor- und Zurückbewegungen des entstehenden Schreibproduktes beobachten. Sie sieht die Körperhaltung der Schreiberin und manchmal auch einen Blick, einen Gesichtsausdruck oder eine Geste. Doch anders als in mündlicher Interaktion zwischen mehreren Personen wird nicht sicht- und hörbar, was ›im Inneren‹ der schreibenden Person passiert. Meine These ist, dass der Schreibprozess genau wie andere sprachliche Tätigkeiten dialogisch ist und sich auf frühere und nachfolgende Äußerungen derselben oder einer anderen Person sowie auf situationsübergreifende Genres und kulturell typische sprachliche Formen bezieht. Eine weitere These ist außerdem, dass Sprache im Sinne einer dialogischen Tätigkeit beim Schreiben auch den psychologischen Prozess begleitet und durchdringt. Diese Thesen beziehen nicht nur theoretische Überlegungen, sondern auch Erkenntnisse anderer Forschungsansätze zum Schreibprozess ein, wie der nächste Abschnitt zeigen wird. Sie werfen Fragen an diese Ansätze auf, was das Einnehmen einer dialogischen und soziokulturellen Perspektive auf sprachliche Tätigkeit für eine Konzeption des Schreibprozesses bedeuten könnte. An diese Fragen schließen in den darauffolgenden Abschnitten einige Ausschnitte aus einer Studie mit drei Schreiberinnen und Schreibern an, welche die dialogische Qualität des Schreibprozesses vorführen sollen. Nimmt man diese dialogische Qualität des Schreibens zur Grundlage, hat dies auch Implikationen für die Schreibdidaktik und -beratung als eines der größten Praxisfelder der Schreibforschung, die ich schließlich im letzten Abschnitt dieses Beitrags skizzieren möchte.

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Perspektiven auf den Schreibprozess

Wenn Schreiben als Forschungsgegenstand am Schnittpunkt von dialogischer Sprachwissenschaft und soziokultureller Psychologie lokalisiert wird, ergeben sich daraus eine Reihe von Annahmen über diesen Gegenstand: Schreiben ist als eine Tätigkeit zwischen sozial situierten Personen zu verstehen. Soziale Praktiken prägen die Art und Weise, wie diese Tätigkeit abläuft, gleichzeitig trägt jeder Schreibprozess immer wieder zur jeweiligen sozialen Praxis bei, deren Teil er ist, und gestaltet diese mit. Und als sprachpsychologischer Prozess hat Schreiben sowohl ›von außen‹ beobachtbare als auch ›stille‹ Anteile in verschiedenem Ausmaß u.a. abhängig davon, wie stark die Tätigkeit intra- oder interpersonal ausgerichtet ist. Einige dieser Annahmen teilt sich meine Untersuchung des Schreibprozesses mit anderen Traditionen der Schreibforschung, die meinen eigenen Zugang zum Schreiben entscheidend geprägt haben. Theorien zur gesellschaftlichen Auswir-

Der Schreibprozess als Dialog

kung von Literalität (vgl. Goody/Watt 1936; vgl. Ong 1987; vgl. Scribner/Cole 1981) haben auf konzeptioneller Ebene sehr genau den Einfluss schriftlicher Praktiken auf das Schreiben, aber insbesondere auch auf das Denken des Individuums modelliert. Allerdings lassen sie empirische Forschung mit konkreten Akteurinnen und Akteuren vermissen, die solche Mikro-Auswirkungen auf der Ebene des Selbst sichtbar machen. Dagegen sind entsprechende konkrete Schreibprozesse einzelner Personen der gängige Gegenstand der kognitionspsychologischen Schreibprozessforschung der ersten Generation (vgl. Bereiter/Scardamalia 1987; vgl. Hayes/Flower 1980).1 Diese berücksichtigen jedoch nicht die jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und situativen Kontexte des Schreibens und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Praktiken, zu denen jeder individuelle Schreibprozess gehört. Anders ist dies bei der US-amerikanischen tätigkeitstheoretischen Schreibforschung (vgl. Bazerman/Russell 2003; vgl. Bazerman/Prior 2004). Soziale Praktiken und Entwicklungsprozesse werden sowohl mit Blick auf die jeweiligen Akteurinnen und Akteure als auch mit Blick auf soziale Dynamiken untersucht. Allerdings werden Sprache und Texte sehr oft als ›fertige‹ und dinghafte Artefakte verstanden, mit denen man handeln kann, und nicht entsprechend einer dialogischen Perspektive als Modus der Interaktion mit sich und anderen. In der bisherigen psychologischen und sprachwissenschaftlichen Schreibforschung fehlt so eine Konzeption, welche die Schreibprozesse einzelner Akteurinnen und Akteure als sprachliche Praxis und mit Blick auf dialogische und soziokulturelle Prozesse fasst und dies auch empirisch in kohärenter Weise umsetzt. Meinen Vorschlag für einen solchen Zugang möchte ich in den nächsten Kapiteln vorstellen.

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Methodischer Zugang

Ein dialogisch und soziokulturell fundiertes Verständnis von Schreiben macht eine qualitative Herangehensweise mit intro- bzw. retrospektivem Fokus nötig, um Prozesse auf Mikroebene und in ihrer komplexen sozialen Bedeutung sichtbar zu machen. Eine Methode, die diese Kriterien erfüllt und mit dem skizzierten theoretischen Ansatz kohärent ist, ist die Videokonfrontation (vgl. Karsten 2014a; vgl. Karsten 2017). Die Methode umfasst zwei Phasen, nämlich eine zweischrittige Materialgewinnung und eine diskursanalytische Interpretation des Materials. Die Materialgewinnung besteht aus der Videografie eines Schreibprozesses in einer natürlichen Schreibsituation und aus der gemeinsamen Analyse dieses Schreibprozes1

Neuere Arbeiten in diesem Bereich legen den Fokus auf die Ebene basaler kognitiver Prozesse (in Opposition zu higher level thinking processes, Galbraith/van Waes/Torrance 2007: 3), insbesondere auf den Einfluss des Arbeitsgedächtnisses auf den Schreibprozess.

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ses durch Forscherin bzw. Forscher und beforschte Person in Form eines videogestützten Interviews. Die erste Phase ähnelt äußerlich dem stimulated recall, also dem videogestützten Erinnern (vgl. Calderhead 1981). Theoretisch und methodologisch wurde sie allerdings aus einer tätigkeitstheoretischen Methode der Arbeitspsychologie heraus entwickelt, welche die erinnerten Prozesse als dialogisch auf das Erlebte bezogene Konstruktionen versteht (vgl. Clot 2008). Das Analyseinterview wird deshalb in der zweiten Phase, oft mit Rückgriff auf das entsprechende Schreibprozessvideo, diskursanalytisch ausgewertet, um die Rekonstruktionen der beforschten Personen als solche sichtbar und in ihren Bezügen zum Erlebten verstehbar zu machen. Abb. 1: Schritt 1 und 2 der Videokonfrontation

Abbildung 1 illustriert das Setting der ersten Phase. Im ersten Schritt sind ein Schreiber und zwei Kameras zu sehen, von denen eine – mit Blick über die Schulter des Schreibers – von mir als Forscherin geführt wird. Im zweiten Schritt sieht man den Schreiber und mich zusammen mit der Videoprojektion, die den Schreibprozess zeigt. Die Videokonfrontation schafft einen neuen dialogischen Kontext, in dem die vorangegangene – durch meine Anwesenheit auch schon veränderte – Schreibsituation reflektiert wird. Reflektieren des Schreibprozesses findet als sprachlich-dialogische Widerspiegelung und als Re-Konstruktion statt (vgl. Karsten 2014b). Das Wandern sprachlicher Äußerungen von einem Kontext (dem Schreibprozess) in den nächsten (die Videokonfrontation) ist zentral für die diskursanalytische Interpretation, wie Beispiele aus dem Material im nächsten Abschnitt zeigen werden. Ebenso entscheidend ist meine Rolle als ›neugierige‹ Forscherin, die an der dialogischen Rekonstruktion des Schreibprozesses beteiligt ist. Meine Fragen sind meist offen – »Was passiert hier?«, »Was denkst du da gerade?« – und doch habe ich großen Anteil daran, wie der Schreibprozess erzählt wird. Dies, und auch der jeweils erzeugte Abstand zwischen erlebtem und rekonstruiertem Schreibprozess, muss in der Analyse des Interviews diskursanalytisch aufgezeigt und ›dekonstruiert‹ werden.

Der Schreibprozess als Dialog

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Der Schreibprozess als Dialog. Drei Einblicke

Wird durch Videokonfrontation der Schreibprozess von Schreiberinnen und Schreibern aufgefächert, erscheint Schreiben in mehrerlei Hinsicht als Dialog. Verschiedene Einblicke in die Interviews mit meinen drei Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern Elli (27, angehende Journalistin), Martin (33, Wissenschaftler in der Postdoc-Phase) und Katharina (15, Schülerin in der Mittelstufe) sollen die dialogische Qualität von Schreiben aufzeigen. Die Einblicke sind nach drei unterschiedlichen Spielarten dieser dialogischen Qualität gruppiert.

5.1

Schreiben als Dialog mit Anderen

Eine erste Spielart des Dialogs ist der Schreibprozess als Gespräch mit Anderen, also mit Leserinnen und Lesern, die antizipiert oder erinnert werden, wenn die Personen nicht anwesend sind. In den videogestützten Interviews konnten die Schreiberinnen und Schreiber teils einzelne Sätze und Phrasen als an bestimmte Personen adressiert identifizieren. Ein Text muss also nicht eine umfassende Leserschaft haben, sondern einzelne Äußerungen können sich mehr oder weniger explizit und bewusst an unterschiedliche Personen wenden. Eine solche Adressierung identifiziert der Wissenschaftler Martin, während er mir erklärt, worüber er an der Stelle in seinem Schreibprozess, die wir auf dem Video betrachten, gerade schreibt. Auf der Aufnahme sind die folgenden, teils noch entstehenden Sätze zu sehen: »It is well known that salience saturates and cannot be increased beyond a certain asymptote (Tozzi 1994, Hust, Constantinidis & Radzikovskaya 2008). That is, at a certain level of salience«. Transkript 1 gibt Martins Kommentar im videobasierten Interview zu dieser Sequenz seines Schreibprozesses wieder.  

Transkript 1: »Ich möchte aber den Leuten sagen« (Martin) 1 M: das find ich jetzt auch interessant

2

2

also ich ich weiß was saturieren ist

3

ich hab n kon ich hab n mentales konzept dazu

4

°h und i ich möchte aber den leuten sagen die das konzept nicht haben

5

was heißt eigentlich saturieren2

Alle Transkripte folgen den Konventionen von GAT2 (Selting et al. 2009).

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In diesem Interviewausschnitt wird deutlich, dass Martin sich mit seinem zweiten, hier noch unvollständigen Satz an eine bestimmte Zielgruppe innerhalb seiner Leserschaft richtet: »ich möchte aber den Leuten sagen, die das Konzept nicht haben, was heißt eigentlich saturieren« (Z. 4-5, H.v.A.K.). Das zweite Beispiel stammt aus dem Schreibprozess zum Praktikumsbericht der Schülerin Katharina. Es zeigt, dass Katharina sich an einer Stelle deutlicher als in anderen Momenten überlegt, was ihre Leserinnen und Leser von ihrem Text erwarten. Wer genau diese Leserschaft ist, das machen wir im Videokonfrontationsinterview gemeinsam explizit.  

Transkript 2: »Wer sind eigentlich ›die‹?« (Katharina) 1 K: also das ist jetzt inhaltlich glaub ich ähm 2

hab ich mir überlegt

3

also ich hab ja schonmal praktikum gemacht im kindergarten

4

dass wir da so schauen mussten

5

was uns an den einzelnen kindern auffällt

6

was haben die für eigenschaften

7 A: mhm 8 K: und dass ich das da vielleicht auch anwenden kann 9 10

=so diese fragestellung dies zwar da nicht gab aber dass es vielleicht dann die doch interessiert

11 A: mhm 12 K: was mir an den kindern aufgefallen ist 13 A: mhm 14 K: =und deswegen hab ich das geschrieben 15 A: ähm 16

wer ist eigentlich die?

17 K: achso 18

((beide lachen))

19 K: 20 A: weil du da ein [((unverständlich))]

Der Schreibprozess als Dialog

21 K: [die von mir den] bericht fordern dann 22 A: aha Das Beispiel zeigt nicht nur, dass Katharina ganz konkrete Leserinnen und Leser hat, »die LEHrer« (Z. 19). Es wird auch deutlich, dass Katharina versucht, deren Erwartungen zu antizipieren: »dass es vielleicht dann die doch interessiert […], was mir an den kindern aufgefallen ist« (Z. 10-12). Gerade weil es keine konkrete Fragestellung für ihren Praktikumsbericht gegeben zu haben scheint (Z. 9), muss Katharina von früheren Schreibsituationen und vergangen Leserinnen und Lesern (Z. 3-6) auf die Erwartungen ihrer aktuellen Adressatinnen und Adressaten – »die« (Z. 10) – schließen. Meine Nachfrage »wer ist eigentlich die?« (Z. 16) löst bei uns beiden Lachen aus (Z. 18). Die Antwort ist eigentlich schon klar, die Frage typisch ›spitzfindig‹ für ein qualitatives Interview – es geht um »die LEHrer […], die von [Katharina] den bericht fordern« (Z. 19-21). Diese Sequenz lässt darauf schließen, dass das Adressierungssetting für Katharinas Text sehr viel selbstverständlicher ist als das von Martins Text. Es gibt hier konkrete Personen, die Katharina gut kennt, während Martin zwar auch für konkrete Leserinnen und Leser schreibt, von denen er jedoch nur wenige persönlich kennen wird. Dennoch müssen beide nur an manchen Stellen ihres Schreibprozesses die Erwartungen und Bedürfnisse ihrer, teils heterogenen, Leserschaft reflektieren. An diesen Stellen aber wird die dialogische Qualität des Schreibprozesses besonders sichtbar.

5.2

Schreiben als Dialog auf Makroebene

Das folgende Beispiel aus dem Videokonfrontationsinterview mit der Journalistin Elli verdeutlicht im Gegensatz zu den Beispielen oben eine Form des interpersonalen Dialogs, die auf Makroebene stattfindet. Damit gemeint sind dialogische Bezüge, die über die konkrete Kommunikationssituation zwischen schreibender und adressierter Person hinausgehen und auf gesellschaftlicher oder kultureller Ebene stattfinden. Einzelne konkrete Personen als Adressatinnen und Adressaten spielen hier eine weniger starke Rolle. Dafür treten verallgemeinerte Positionen und Genrekonventionen im Hinblick auf Inhalt und Textform in den Vordergrund, die für eine größere Gruppe typisch sind, z.B. für eine Profession oder eine fachliche Diskursgemeinschaft.  

Transkript 3: »Und es ist auch offiziell so besser« (Elli) 1 A: als du gesagt hast 2

adjektive MAG ich nicht (…)

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3 E: genau 4

erstmal

5 A: [((unverständlich))] 6 E: [erst n VERB] 7 A: aha 8 E: weils halt dann e eher besser 9 10

also ich finds immer besser und es is auch offiZIELL so

11 A: mhm 12 E: (.) keine adjektive benutzt (xxx xxx) 13

also jetzt im im journalismus

14 A: aha 15 E: äh sondern eben VERben (…) 16 E: verben sind unmittelbarer einfach 17 A: aha 18 E: ja 19 A: ja 20

cool

21

wusst ich nicht

22

((lacht)) (…)

23 E: ja=das is lernst 24

also wenn du so handbücher liest

25

so::

26 A: aha 27 E: wie man äh schreiben soll 28

dann is steht das da auch drin

Der Schreibprozess als Dialog

29 A: [steht dann da] 30 E: [also nicht die] erklärungen 31

sondern besonders dass es halt so is (…)

32 E: die gehen davon aus dass man das vom sprachgefühl her irgendwie wahrscheinlich schon 33

(- -)

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ja

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das klingt fast so wie ne dokTRIN gell sonst

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((lacht))

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Das Transkript beginnt damit, dass ich als Gesprächsaufhänger eine vorangehende Aussage von Elli zitiere, sie möge keine Adjektive (Z. 1). Daraufhin formuliert Elli einen Satz, der in Form und Inhalt an eine allgemeingültige Regel erinnert: »erst n VERB« (Z. 6). Ihre eigene Präferenz, wenig Adjektive zu verwenden, scheint sich auf diese Regel zu beziehen. Ellis Erklärung ist, dass sie es selbst besser findet, Verben statt Adjektive zu benutzen (Z. 9) und es auch »offiZIELL so […] besser« (Z. 10) sei, »also jetzt im […] journalismus« (Z. 13). Hier benennt Elli die Diskursgemeinschaft, auf die sich ihre Schreibentscheidung bezieht: ihre Profession, den Journalismus. Meine etwas naiv anmutende Reaktion »cool, wusst ich nicht« (Z. 20-21) fasst Elli offensichtlich als Einladung auf, aus Sicht einer Insiderin dieser Diskursgemeinschaft zu berichten: »wenn du so handbücher liest […], wie man äh schreiben soll, dann is steht das da auch drin […]« (Z. 24-28) – nicht die Erklärung (Z. 30), sondern »dass es halt so is« (Z. 31). Interessant ist, dass diese Gesprächssequenz in der Videokonfrontation einen Reflexionsprozess bei Elli auszulösen scheint, der sie zu einer kritischen Position ihrer eigenen Diskursgemeinschaft gegenüber führt: »das klingt fast so wie ne dokTRIN gell sonst […] wenn die einem nicht sagen wieso« (Z. 35-37). Die Sequenz zeigt nicht nur die Identifikation Ellis mit ihrer Diskursgemeinschaft und ihre sich entwickelnde kritische Position, sondern sie lässt auch Machtstrukturen innerhalb dieser Gemeinschaft erahnen, z.B. die Rolle von Regeln zu gutem Deutsch und die Art und Weise, wie junge Journalistinnen und Journalisten diese Regeln lernen bzw. in ihrem Schreiben berücksichtigen.

5.3

Schreiben als dialogisch gesteuerte Praxis

Die Beispiele aus dem dritten Einblick in die Schreibprozesse der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer legen schließlich nahe, dass das Schreiben nicht nur

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dialogisch ist, insofern es sich auf vorhergehende und nachfolgende Äußerungen bezieht, sondern dass es auch als Praxis durch einen intrapersonalen, meist nicht laut geäußerten, aber exteriorisierbaren Dialog gesteuert wird (vgl. Karsten 2014c). Das folgende Transkript des videogestützten Interviews mit Katharina erweckt den Eindruck eines Gesprächs zwischen zwei Positionen: einer fragenden, prüfenden Position einerseits und einer bestätigenden und motivierenden andererseits.  

Transkript 4: »Ist es jetzt besser als beim ersten Mal?« (Katharina) 1 K: ich glaub ähm das ist einfach dass ich mir nochmal gedacht hab 2

ja

3

ist es jetzt gut

4

ist es jetzt besser als beim ersten mal

5 A: mhm 6 K: und dann irgendwie gedacht hab 7

ja

8

jetzt so kannst dus lassen

9 A: mhm 10 K: und jetzt schreib den text einfach weiter Katharinas Äußerungen haben hier die Form eines re-constructed dialogue, erkennbar an der Redepartikel »ja« (Z. 2 und 7) und am Wechsel der Pronomina von »ich« (Z. 1) zu »du« (Z. 8). Meine These ist, dass Katharina ihr handlungsbegleitendes sogenanntes »inneres Sprechen« (Vygotskij 1934/2002) beim Schreiben widerspiegelt (vgl. Karsten 2014b). Auffallend ist die dialogische Struktur: prüfende Fragen, »ist es jetzt gut« (Z. 3) und »ist es jetzt besser als beim ersten mal« (Z. 4), die darauf folgende bestätigende Antwort »jetzt so kannst dus lassen« (Z. 8), und eine motivierende Aufforderung zum Weitermachen »und jetzt schreib den text einfach weiter« (Z. 10). Eine strukturell weniger komplexe Abfolge, allerdings eine deutlichere stimmliche Markierung des re-constructed dialogue weist das folgende Beispiel aus dem Gespräch mit Elli auf.  

Transkript 5: »Weg, weg!« (Elli) 1 E: irgendwie PASST das eigentlich [gar nicht] 2 A: [mhm]

Der Schreibprozess als Dialog

3 E: wenn ich da von seiner liebe spreche (…) 4 E: ich glaub da bin ich jetzt auch grade 5

deswegen

6

((beide lachen))

7 E: ja 8

((film läuft 45 sek))

9 E: weg weg 10

((beide lachen))

Während Elli in der Videokonfrontation »WEG« (Z. 5) sagt, ist auf dem Video zu sehen, wie sie einen Abschnitt ihres Texts löscht. Ellis Ausruf ist stimmlich markiert als wörtliches Zitat. Die kurze Äußerung ist lauter und betonter als das »deswegen« (Z. 5) davor, und sie ist in der Stimmqualität deutlich von dem zuvor Gesprochenen unterschieden. Elli wiederholt ihr »weg« (Z. 9) 45 Sekunden später in reduplizierter Form, während wir still das Video nachverfolgen. Aufgrund der nun stimmlich anders geformten, aber wiedererkennbaren Form liegt nahe, dass dieses zweite »weg weg« (Z. 9) nun eine an Elli selbst gerichtete Äußerung ist, und zwar in der Form eines Direktivs an sich selbst – ähnlich wie Katharinas Aufforderung »und jetzt schreib den text einfach weiter« (Transkript 4, Z. 10). Eine weitere wie ein interpersonaler Dialog anmutende Sequenz findet sich im Gespräch mit Martin.  

Transkript 6: »Schau doch im Hust nach!« (Martin) 1 M: das ist es nicht (- -) 2

das AUCH nicht

3

mensch

4

nein

5 A: 6 M: 7

((film läuft 6 sek))

8 M: schau doch im hust nach

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An dieser Sequenz ist bemerkenswert, dass Martin seine Äußerungen zeitlich und inhaltlich eng mit seinem Tun im Schreibprozessvideo verschränkt. All seine Bemerkungen, von »das ist es nicht (- -)« (Z. 1) bis »da bin ich nicht sicher« (Z. 6) sind jeweils daran gekoppelt, dass Martin auf dem Schreibprozessvideo mit der Suchfunktion seines Textverarbeitungsprogramms jeweils eine Fundstelle zu einem Suchbegriff weiter springt (vgl. die genaue Analyse dieser Sequenz in Karsten 2014b). Seine Betonung des »AUCH« (Z. 2), sein Ausdruck »mensch« (Z. 3) und seine leise Artikulation in Zeile 6 lassen eine recht direkte Widerspiegelung seines inneren Sprechens, genauer seiner suchenden Stimme, vermuten. Ein Wechsel der Dialogposition und ein Verlassen der suchenden Stimme findet mit dem Imperativ »schau doch im hust nach« (Z. 8) statt. Martin wechselt vom »ich« (Z. 6) zum Du und gibt sich aus dieser wissenden Position einen Hinweis, in welchem Text der von ihm gesuchte Inhalt stattdessen zu finden ist. Meine schon erwähnte These ist, dass das, was Katharina, Elli und Martin hier rekonstruieren und inszenieren, Widerspiegelungen ihres handlungsbegleitenden inneren Sprechens sind. Damit würde es sich bei diesen inneren Äußerungen um interiorisierte Formen zwischenmenschlicher Dialoge handeln (vgl. Bertau/Karsten 2018). Die hier gezeigten und viele weitere Beispiele aus den videogestützten Interviews mit Katharina, Elli und Martin ähneln in ihrer Form triadischen Interaktionen, wie sie Charles Goodwin sehr detailliert analysiert und beschrieben hat (vgl. Goodwin 2007, Goodwin 2012): Zwei Personen interagieren sprachlich, stimmlich, mimisch und gestisch und richten in ihrem Dialog ihre Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Objekt. Eine passende Beschreibung des Schreibprozesses gibt Donald Murray (1982). Schreiben ist ihm zufolge a conversation between two workmen muttering to each other at the workbench. The self speaks, the other self listens and responds. The self proposes, the other self considers. The self makes, the other self evaluates. The two selves collaborate: a problem is spotted, discussed, defined; solutions are proposed, rejected, suggested, attempted, tested, discarded, accepted. (Murray 1982: 140) Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gewinnen die sozialen Kontexte, in denen Schreiben stattfindet und in denen über Schreiben gesprochen wird, noch einmal mehr an Bedeutung. Aus diesem Grund möchte ich abschließend einen Blick in eines der Praxisfelder des Schreibens werfen: die Schreibdidaktik und Schreibberatung an Hochschulen.

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Ein Blick in die Praxis. Implikationen für Schreibdidaktik und Schreibberatung

Wenn andere Menschen als mitgedachte oder konkret adressierte Leserinnen und Leser, als Mitglieder einer Diskursgemeinschaft mit ihren Normen und Konventionen und als signifikante interiorisierte Andere für die Steuerung des individuellen Schreibprozesses wichtig sind, dann liegt es nahe, diese Anderen in ihrer Rolle für die Entwicklung des Schreibens ernst zu nehmen. Eines der großen Praxisfelder mit Menschen, die ihr Schreiben weiterentwickeln möchten oder müssen, ist die Schreibdidaktik und Schreibberatung an Hochschulen. Den Schreibprozess als Dialog zu verstehen, heißt unter anderem, neben dem Schreiben die andere Seite, das Lesen, in den Mittelpunkt schreibdidaktischer und -beraterischer Praxis zu stellen. So können sich Studierende wie Lehrende durch genaues, reflektierend-analytisches Lesen von Fachtexten über die Textkonventionen ihres eigenen fachlichen Kontexts klar werden. Analysiert werden können hierbei beispielsweise typische (und untypische) Positionierungen von Autorinnen und Autoren und ihren Leserinnen und Lesern (vgl. Karsten 2019) oder die gängige Genrestruktur wissenschaftlicher Texte (vgl. Swales 1990). Fachlich geprägtes Lesen kann außerdem, in Textfeedback auf Peer-Ebene vermittelt (vgl. Frahnert/Karsten 2018), die Stimme des other self stärken und produktive Schreibprozesse unterstützen. Doch auch über das Lesen hinaus kann eine Perspektive auf den Schreibprozess als Dialog Impulse für schreibdidaktisches und -beraterisches Handeln geben. Eine einfach umzusetzende Idee ist, Vor- und Nebentexten zu akademischen Texten in Schreibworkshops, in Schreibberatungssitzungen und in der ›normalen‹ Fachlehre (vgl. Lahm 2016) mehr Raum zu geben. So können Studierende im intrapersonalen Dialog – und auch im Austausch mit anderen – Sachverhalte und Diskurse, über die sie schreiben, formulieren und reformulieren, Gedanken schärfen und fachlich wie persönlich passende Schreibstile entwickeln. Eine nicht ganz so einfach umsetzbare, aber zielgenaue Anwendung des dialogischen und soziokulturellen Blicks auf den Schreibprozess ist schließlich Schreibberatung, welche die komplexen sozialen Beziehungen ernst nimmt, in denen schreibende Personen stehen. Prädestiniert dafür ist ein systemischer Beratungsansatz (vgl. Lange/Wiethoff 2014), der sich erst langsam in der deutschsprachigen Schreibberatungsszene verbreitet. Damit können Fragen adressiert werden, die gerade in asymmetrischen Machtverhältnissen stehende Schreiberinnen und Schreiber z.B. im Hinblick auf Betreuungsbeziehungen oder interdisziplinäre Leserschaften häufig äußern. »Für wen schreibe ich (alles)?«, »Als wer möchte ich schreiben?«, »Wie gehe ich mit widersprüchlichen Positionen relevanter Disziplinen um?« und »Auf wen kann ich mich stützen und von wem will ich mich abgrenzen?« sind nur einige typische

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Fragen von Ratsuchenden in der hochschulischen Schreibberatung, die einen dialogisch-systemischen Blick nahelegen.

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Einleitung

Schreiben findet in spezifischen Situationen statt – und wird aus spezifischen Situationen und Perspektiven heraus betrachtet. Diese wiederum bestimmen mit, welche Aspekte in den Mittelpunkt gerückt werden und wie Schreiben (als Vorgang, als Kompetenz, als Haltung etc.) betrachtet wird. In diesem Beitrag skizziere ich das empirisch fundierte PROSIMS-Schreibprozessmodell und verorte es an einer Schnittstelle interdisziplinärer Diskurslinien. Im FWF-Projekt PROSIMS (Strategien und Routinen für professionelles Schreiben in mehreren Sprachen)1 wurden Schreibprozesse von Studierenden und im Wissenschaftsbetrieb tätigen Schreibenden explorativ erforscht. Im vorliegenden Beitrag wird zunächst auf einige wichtige Diskurslinien eingegangen, bevor das dreiteilige PROSIMSSchreibprozessmodell vorgestellt wird. Es fokussiert auf die Wechselwirkungen von Strategien/Routinen und heuristischen bzw. rhetorischen Anforderungen und Herausforderungen in Schreibsituationen. Abschließend möchte ich mein Verständnis von Schreibsituation mit den Konzepten ›Schreibszene‹/›Schreib-Szene‹ (vgl. Campe 1991, Stingelin 2004) in Beziehung setzen. Der Beitrag beschäftigt sich 1

Das Projekt PROSIMS wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF im Elise RichterProgramm unterstützt (Projekt-Nr. V-342). Darüber hinaus danke ich den Probandinnen und Probanden in den Fallstudien und meiner Mitarbeiterin Melanie Steindl für die gute Zusammenarbeit und konstruktive Diskussionsbereitschaft und Robert Dengscherz für seine graphische Expertise bei der Visualisierung des PROSIMS-Schreibprozessmodells.

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vor allem mit Konzept- und Theoriebildung; zum besseren Verständnis werden aber stellenweise Beispiele aus den empirischen Fallstudienanalysen des Projekts PROSIMS herangezogen. Was tun wir, wenn wir schreiben? Wie gehen erfolgreiche mehrsprachige Schreiberinnen und Schreiber vor, wenn sie anspruchsvolle Texte (in einer Fremdsprache) produzieren? Worauf konzentrieren sie sich in bestimmten Situationen im Schreibprozess? Welche Anforderungen sind jeweils zu bewältigen und inwiefern kommt es dabei – individuell und situativ unterschiedlich – zu heuristischen und/oder rhetorischen Herausforderungen? Wie können diese Anforderungen und Herausforderungen bewältigt werden, welche Strategien und Routinen haben sich für individuelle Schreiberinnen und Schreiber in spezifischen Situationen bewährt? Welche Rolle spielen unterschiedliche Sprachen dabei? Mit diesen Forschungsfragen habe ich mich im Projekt PROSIMS auseinandergesetzt. Im Fokus steht die Produktion von anspruchsvollen Texten in akademischen Kontexten: Einbezogen wurden sowohl wissenschaftliches Schreiben als auch die Produktion von Kurztexten mit professionellem Anspruch, wie sie im Bachelorstudium »Transkulturelle Kommunikation« am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien verfasst werden (vgl. Dengscherz 2018a: 10-11). PROSIMS steht für »Strategien und Routinen für Professionelles Schreiben in mehreren Sprachen« und fokussiert auf Real Life Writing in akademischen Kontexten. Das Kernstück des Projekts besteht aus insgesamt 17 Fallstudien mit mehrsprachigen Schreibenden. Die Probandinnen und Probanden, 13 Studierende und vier Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, arbeiten dabei an Texten, im Rahmen ihres Studiums bzw. ihrer beruflichen Tätigkeit, auf ihren eigenen Computern in selbst gewählten Schreibumgebungen und zu selbst gewählten Zeiten. Es wurden Textproduktionsprozesse in den Zielsprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Ungarisch berücksichtigt. Screen-Capturing-Videos (mit dem Programm Snagit ©Techsmith) und (retrospektive) Interviews (vgl. Dengscherz 2017) geben Einblick in Schreibprozesse sowie in den individuellen und situativen Einsatz von Strategien, Routinen und Sprachen in spezifischen Schreibsituationen. Das Material umfasst insgesamt 111 Stunden Schreibprozess und ca. 21 Stunden Interviews und wurde zunächst in Einzelfallstudien integrativ analysiert, die von den Probandinnen und Probanden gegengelesen und kommentiert werden konnten, bevor sie für die abschließende Cross-Case-Analyse und Theoriebildung herangezogen wurden (für eine genaue Beschreibung und Evaluierung des Forschungsprozesses vgl. Dengscherz 2019a). In den analysierten Schreibprozessen zeigen sich deutlich individuelle und situative Unterschiede hinsichtlich der Teilaktiviäten in einzelnen Schreibsituationen sowie im Umgang mit Wissen und Textgestaltung. Hinsichtlich der situativen Komponenten spielen auch Unterschiede in den Zielsetzungen und Anforderungen der Zieltexte eine Rolle.

Perspektiven auf Schreibsituationen

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Umgang mit Wissen und Textgestaltung

Wenn wir einen Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven betrachten, gewinnen wir ein detaillierteres, plastischeres Bild davon. Auf welche Weise der disziplinäre Hintergrund mitbestimmt, aus welchem Blickwinkel wir einen Gegenstand betrachten, zeigt sich an den Perspektiven von Daniel Perrin (1997) und Renate Resch (2006) auf spezifische Schreibformen: Perrin betrachtet journalistisches Schreiben »aus textprozeduralem Blickwinkel«, als »Text-Reproduktion« (Perrin 1997: 167, Kursivierung: SD), während Resch betont, dass es sich bei translatorischer Textproduktion um Text-Neuproduktion handelt. Somit würde beim Übersetzen ein neuer Text geschaffen, beim journalistischen Schreiben jedoch ›nur‹ reproduziert? Auf den ersten Blick scheinen diese Positionen sich in ihrer Herangehensweise an Textproduktion zu widersprechen. Dieser ›Widerspruch‹ wird jedoch produktiv, wenn die Positionen vor ihrem jeweiligen disziplinären Hintergrund betrachtet werden: So betont Perrin aus schreibwissenschaftlicher Perspektive die Abgrenzung vom wissenschaftlichen Schreiben, das in einer vor allem am Schreiben in Bildungskontexten ausgerichteten Schreibwissenschaft als eine Art Königsdisziplin konzipiert wird und zeigt, dass Professionalität im journalistischen Schreiben auf einer anderen Ebene zu verstehen ist: Im Bereich der Textgestaltung. Und um diesen Bereich geht es auch Resch (2006): Sie grenzt sich vor dem Hintergrund der Entwicklungslinien der Translationswissenschaft von Äquivalenz-Ansprüchen an Zieltexte ab und betont die Skopos-Orientierung und die kreative Leistung der Translatorinnen und Translatoren in der Textproduktion als holistisches Handeln (vgl. dazu auch Vermeer 2006). Sie positioniert sich im Diskurs an einer Stelle, die Erich Prunč folgendermaßen markiert: »Aus dem Tod des Originals wächst nicht nur die Geburt des Lesers, sondern auch die Geburt des Translators« (Prunč 2007: 282). Beiden – Perrin (1997) und Resch (2006) – geht es also um den spezifischen Umgang mit Wissen und Textgestaltung bei der Textproduktion in verschiedenen Kontexten: dem journalistischen Schreiben bzw. dem Übersetzen. Synergien zwischen Schreib- und Translationswissenschaft wurden mehrfach festgestellt (vgl. Risku 1998; vgl. Ehrensberger-Dow/Perrin 2015). Dam-Jensen/Heine (2013) stellen zwischen Schreiben und Übersetzen eine Familienähnlichkeit im Sinne von Wittgenstein fest: Beide Aktivitäten seien als Design-Aktivitäten zu verstehen, wie sie von Goel/Pirolli (1992: 395) beschrieben wurden; es gehe um den Schaffensaspekt, die kreative Gestaltung. Was geschaffen wird, ist im professionellen Schreiben nicht zwingend neues Wissen, sondern vor allem ein neuer Text. Wissen wird im journalistischen Schreiben häufig reproduziert, darauf bezieht sich Perrin (1997). Die skizzierten Perspektivierungen von Perrin (1997) und Resch (2006) können als Hinweis darauf interpretiert werden, dass sich in den Ansprüchen an unterschiedliche Formen und Arten der Textproduktion unterschiedliche Dimensionen abzeichnen. Häufig geht es vor allem um Professionalität in der Textgestal-

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tung: Professionelle Textproduktion ist also nicht immer Wissen schaffendes Schreiben. Der Umgang mit Wissen wurde in der Schreibwissenschaft vor allem anhand der Unterscheidung von Knowledge Telling und Knowledge Transforming (Bereiter/Scardamalia 1987: 10-12) diskutiert, die Kellogg (2008) aufgegriffen und um Knowledge Crafting erweitert hat. Mit Knowledge Telling ist gemeint, dass beim Schreiben Wissen wiedergegeben wird, das bereits vorliegt und auch entsprechend strukturiert ist, beim Knowledge Transforming kommt hingegen die epistemischheuristische Funktion des Schreibens zum Tragen, und das Wissen wird beim Schreiben und durch das Schreiben weiterentwickelt. Bei Knowledge Crafting kommt wiederum eine andere Perspektive ins Spiel, nämlich die Adressatinnenund Adressaten-Orientierung: Es geht um die Darstellung von Wissensinhalten für Leserinnen und Leser (vgl. Kellogg 2008: 4). Werden diese Konzepte für professionelles Schreiben herangezogen, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die Textqualität. Bereiter/Scardamalia betonen, dass die Unterscheidung zwischen Knowledge Telling und Knowledge Transforming sich nicht auf die Qualität des Zieltexts bezieht, sondern auf die Komplexität des Schreibprozesses, also auf die Aktualgenese. Auch Knowledge Telling kann zu guten Texten führen, wenn das Wissen bereits in dem für den Text notwendigen Ausmaß vorhanden und vorstrukturiert ist. Dies kann der Fall sein, wenn erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Themen schreiben, die sie sich in früheren Prozessen erarbeitet haben. Beispiele dafür finden sich auch in den PROSIMS-Fallstudien: So spricht etwa der Wissenschaftler Lajos2 über die »Verwurstelung« seiner Dissertation in kleineren Fachbeiträgen und auf Konferenzen: Er gewinnt dabei selbst nur mehr in geringem Ausmaß neue Erkenntnisse, es geht vielmehr darum, dass er seine Erkenntnisse aus der Dissertation auch anderen zugänglich macht (vgl. Dengscherz 2019a). Dafür reicht nun – weitgehend – Knowledge Telling, denn Knowledge Transforming hat bereits zuvor stattgefunden: beim Verfassen der Dissertation, auf der die weiteren Texte basieren. Ähnlich verhält es sich bei Kerstin, die ein Abstract im Rahmen eines Antrags für ein Forschungsprojekt schreibt – und zwar, nachdem sie den Antrag selbst bereits ausgearbeitet hat. Das Anspruchsvolle beim Verfassen des Abstracts besteht nun für Kerstin vor allem in der geforderten Kürze: Sie muss ihr komplexes Vorhaben in einem Text von 700 Zeichen verdichten. Das ist eine rhetorische Herausforderung (vgl. Dengscherz 2018b), aber keine heuristische. Die »epistemisch-heuristische Funktion des Schreibens« (Molitor 1985: 335) und damit Knowledge Transforming wird hingegen dann bedeutsam, wenn durch das Schreiben und im Schreibprozess neue Erkenntnisse generiert werden sollen. Im wissenschaftlichen Schreiben ist dies der Regelfall: Wenn sich Studierende in einer 2

Alle Namen wurden anonymisiert.

Perspektiven auf Schreibsituationen

Seminararbeit ein Thema erschreiben und Wissen aus unterschiedlichen Quellen integrieren, dann sollen dadurch individuelle Erkenntnis- und Lernprozesse ablaufen. Wenn es beim Schreiben gelingt, Knowledge Transforming zu vollziehen, dann bedeutet dies allerdings noch nicht zwingend, dass die Arbeit insgesamt gelungen, also im Hinblick auf ihre Gestaltung und Darstellung auch Knowledge Crafting (Kellogg 2008: 4) geglückt ist. Kellogg bezieht sich mit Knowledge Crafting nicht nur auf die Aktualgenese (den Schreibprozess), sondern auch die Ontogenese (die Schreibentwicklung) und die Qualität der Texte. Er betont damit die Expertise, die Schreiberinnen und Schreiber brauchen, um Wissensinhalte in der nötigen Professionalität darzustellen. Damit beginnen hier die Grenzen zwischen Ontogenese und Aktualgenese zu verschwimmen. Einerseits ist es zwar durchaus einsichtig, dass es einer gewissen Schreiberfahrung bedarf, um komplexe Schreibprozesse vollziehen zu können und die nötige Orientierung an »the reader’s needs« (Kellogg 2008: 6) im Knowledge Crafting zu meistern. Andererseits lässt sich daraus nicht ableiten, dass erfahrene Schreiberinnen und Schreiber auch aktualgenetisch immer Knowledge Transforming vollziehen müssen, um Knowledge Crafting betreiben zu können. Die Beispiele von Lajos und Kerstin haben gezeigt, dass hier nicht nur die persönliche Schreibentwicklung und die prinzipiellen Ansprüche an bestimmte Zieltexte, sondern auch die Schreibsituation im Kontext von Vorarbeiten und früheren Schreibprozessen eine Rolle spielen. An diese Überlegungen knüpfe ich nun mit meinem eigenen Konzept der Heuristischen und Rhetorischen Anforderungen und Herausforderungen (HRAH) an.

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Das HRAH-Konzept

Aus den Überlegungen zum Umgang mit Wissen sowie mit Leserinnen- und LeserOrientierung lässt sich nun auf eine heuristische und eine rhetorische Dimension des Schreibens schließen. Wird diese Konzeption situativ eingebettet, wird zudem die Unterscheidung zwischen Anforderungen und Herausforderungen wesentlich. Dies soll nun im Folgenden noch genauer ausgeführt werden. Die heuristische Dimension bezieht sich auf den individuellen Erkenntnisprozess des Knowledge Transforming: Schreiben kann dazu dienen, Zusammenhänge zu verstehen, Muster zu erkennen oder auch Inhalte überhaupt erst einmal zu generieren. Die heuristische Erkenntnisdimension ist dabei nach innen gerichtet: Textteile (z.B. Notizen oder Skizzen), die auf den Erkenntnisprozess abzielen, müssen in erster Linie die Schreiberinnen und Schreiber selbst voranbringen, für andere müssen sie nicht verständlich sein – und sind es auch häufig nicht. Sollen die individuellen Erkenntnisse intersubjektiv nachvollziehbar dargestellt werden, kommt die rhetorische Dimension ins Spiel. Nun geht es um die Ge-

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staltung von Texten, und es werden weitere Aspekte wichtig, beispielsweise Verständlichkeit für bestimmte Zielgruppen, Positionierung, (Textsorten-)Konventionen oder ästhetische Überlegungen. Dadurch tun sich neue Spannungsfelder auf, etwa im Hinblick auf Konventionalität und Positionierung oder Verständlichkeit und Ästhetik. Gestaltungsentscheidungen sind als Aushandlungsprozesse innerhalb dieser Spannungsfelder zu sehen (vgl. Dengscherz 2019a). Die Unterscheidung einer heuristischen und einer rhetorischen Dimension sollte allerdings nicht als Dichotomie zwischen Inhalt und Form oder zwischen Proposition und Lokution missverstanden werden. Inhalt und Form, Proposition und Lokution sind sowohl in der heuristischen als auch in der rhetorischen Dimension miteinander verknüpft: Auch heuristisch orientierte Notizen, die für andere nicht verständlich sind, werden in irgendeiner Form von Zeichensystem festgehalten. Umgekehrt können in leseorientierten Darstellungen neben der sprachlichen Ausarbeitung ebenfalls zusätzliche Zeichensysteme herangezogen werden (etwa Formen der Visualisierung durch Zeichnungen, Grafiken etc.). Es ist also nicht das Notationssystem, das die beiden Dimensionen unterscheidet, sondern der Fokus nach innen (heuristisch) und nach außen (rhetorisch). Die Unterscheidung zwischen einer heuristischen und einer rhetorischen Dimension bedeutet auch nicht, dass diese beiden Dimensionen im Schreibprozess zwingend getrennt werden müssen. Im Gegenteil: Schreiberinnen und Schreiber empfinden es häufig als ganz besonders effizient, wenn es ihnen gelingt, beide gleichzeitig und integriert im Blick zu behalten und vernetzt an Erkenntnis und Darstellung zu arbeiten. Wichtig ist aber, dass die beiden Dimensionen getrennt werden können – falls es nötig ist bzw. sich in einer Schreibsituation als zielführend erweist. An dieser Stelle wird nun eine weitere Unterscheidung wichtig, nämlich jene zwischen Anforderungen und Herausforderungen. Anforderungen sind im Schreibvorhaben begründet. Im professionellen Schreiben, verstanden als Produktion von Gebrauchstexten, sind die Anforderungen häufig aus einem von außen vorgegebenen Textauftrag abzuleiten, das Maß an Selbstbestimmung variiert (z.B. auch im Hinblick auf zeitliche Rahmenbedingungen, Deadlines). Für individuelle Schreiberinnen und Schreiber ergeben sich aus diesen Anforderungen nun unterschiedlich definierte Herausforderungen. Dies soll durch ein weiteres Beispiel aus dem Projekt PROSIMS veranschaulicht werden: Andrea, eine Masterstudentin, verfasst eine Rezension für eine Fachzeitschrift. Andreas Erstsprache ist Ungarisch, der Zieltext erscheint auf Deutsch. Die Anforderung, eine druckreife Fachbuchrezension zu schreiben, wäre für erfahrene Rezensentinnen und Rezensenten wahrscheinlich eine Routineaufgabe, für Andrea ist es jedoch ein herausfordernder Auftrag. Sie hat noch nie eine Rezension verfasst, Schreiben findet sie insgesamt schwierig, sowohl auf Ungarisch als auch

Perspektiven auf Schreibsituationen

auf Deutsch, und auf Deutsch fühlt sie sich zudem sprachlich unsicher. Andrea empfindet die Aufgabe also als sehr fordernd. Die Wahrnehmung von Herausforderungen hat wiederum Auswirkungen auf den Einsatz von Schreibstrategien (vgl. Bräuer/Brinkschulte/Halagan 2017: 52). Dies zeigt sich auch in Andreas Brainstorming. Die folgenden Notizen zeigen einen Ausschnitt daraus (CS1 Aufnahme REZ1 #00:14:58#): •

• •

Einleitung o Historische Diachronie (Ung. Dt) + synchron-kontrastiver Ansatz o Ziel: »Anregungen für Theorie und Praxis des Deutschunterrichts in Ungarn zu entwickeln« allgemein zur Verhältnis von Theorie und Praxis: olvasmänyos stb egyik legfontosabb erv a Forschungsfrage fontossäga mellett, h a 60as evek ota a Kontrastivität hangsulozäsa fele billent a merleg, ez a dissz. kezdemenyezes a merleg visszaällitäsära, mert a hasonlosägokra is eppugy fektet hangsulyt, mint az interferenz/transfer etc. aktuälis forsch.stand kifejtesere3

Es ist zu sehen, dass Andrea in ihren Notizen Deutsch und Ungarisch mischt. Auf dem Video lässt sich nachvollziehen, wie Andrea auf Deutsch zu schreiben beginnt und dann ins Ungarische wechselt, weil das für sie offenbar effizienter ist. Fachtermini wie ›Forschungsfrage‹, ›Kontrastivität‹, ›Forschungsstand‹ oder ›Interferenz/Transfer‹ hat Andrea jedoch in der Sprache des Zieltexts (Deutsch) belassen, sie sind nun eingebettet in Überlegungen auf Ungarisch. Die Spracheinstellung im Hintergrund ist Deutsch geblieben, die ungarischen Stellen sind rot unterwellt. Auch die Tastaturbelegung belässt Andrea auf Deutsch – und passt die ungarische Rechtschreibung entsprechend an. Wir sehen hier offenbar ein Beispiel dafür, wie das »Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen […] Auswirkungen« hat »auf die Schreibökonomie« (Stingelin 2000: 90). Ungarische Sonderzeichen wie das lange ›ő‹ oder ›ű‹ werden in Andreas Notizen zu ›ö‹ oder ›ü‹,4 und auch die Längen auf anderen Zeichen werden weggelassen. Eine Besonderheit stellt das lange ›á‹ dar, es wird hier zu ›ä‹, einem Zeichen, das 3

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Die unterstrichenen Passagen sind in Andreas Textverarbeitungsprogramm rot unterwellt. Übersetzung der ungarischen Textstellen: lesenswert usw. eines der wichtigsten Argumente neben der Wichtigkeit der Forschungsfrage, d seit den 60er Jahren die Waage in Richtung einer Betonung der Kontrastivität ausschlägt, diese Dissertation ist eine Initiative für ein Zurechtrücken dieser Waage, weil sie den Schwerpunkt ebenso auf Ähnlichkeiten legt wie auf das Ausführen des aktuellen forsch.stands zu interferenz/transfer (übersetzt von S.D., Kursivierung verweist auf Orginalsprache Deutsch, Kürzel im Deutschen verweisen auf verwendete Kürzel im ungarischen Text). Diese Zeichen kommen im Ausschnitt auf der Abbildung nicht vor, aber an anderen Stellen von Andreas Notizen.

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in der ungarischen Orthografie nicht existiert. Durch die Anpassung ungarischer Rechtschreibung an die deutsche Tastaturbelegung erreicht Andrea, dass sie für jedes Zeichen nur einen einzigen Tastenklick braucht – dies erhöht die Effizienz beim Tippen (vgl. Dengscherz 2018b: 220-221 und Dengscherz 2019a: 617-619). Andrea konzentriert sich in ihren Notizen auf die heuristische Herausforderung, eine Position zum Buch zu entwickeln. Dabei verwendet sie nicht nur die Zielsprache Deutsch, sondern greift auch auf Ungarisch zurück.5 Die leseorientierte Darstellung ist an dieser Stelle noch nicht wichtig, die rhetorische Dimension wird also zunächst weitgehend ausgeklammert (und spielt nur in Überlegungen zur Informationsauswahl eine Rolle). Der makro- und mikrostrukturellen Textgestaltung, also der rhetorischen Dimension widmet Andrea sich später. Das Zerlegen des Schreibprozesses in Teilfokusse erleichtert es Andrea, die Herausforderungen beim Schreiben der Rezension zu bewältigen. Was Schreiberinnen und Schreiber in einer spezifischen Schreibsituation tun, hängt also mit den heuristischen und rhetorischen Anforderungen und Herausforderungen (HRAH) zusammen, die sich in Schreibsituationen ergeben – und sich im Laufe des Schreibprozesses beständig verändern. Eine Modellierung dieser Zusammenhänge und weiterer Einflussfaktoren wird im PROSIMSSchreibprozessmodell vorgenommen.

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Das PROSIMS-Schreibprozessmodell

Schreibprozessmodelle sind häufig auf Teilaktivitäten ausgerichtet. So stellen etwa Hayes/Flower (1980) in ihrem einflussreichen Modell Planen, Formulieren und Überarbeiten in den Mittelpunkt. In der Rezeption des Modells wurden diese Teilaktivitäten – vor allem im Hinblick auf schulische Schreibdidaktik – auch als Phasen im Schreibprozess (miss-)interpretiert (vgl. Baurmann 1995: 52), obwohl Hayes/Flower (1980) in ihrem Artikel sehr deutlich machen, dass sie die genannten Aktivitäten rekursiv in einem kleinräumigen Wechsel verorten. In der Kritik an der ›Phasen-Lesart‹ (vgl. Ortner 2000: 68) wurde betont, dass Schreibprozesse individuell sehr unterschiedlich ablaufen können (vgl. Ortner 2000; vgl. Keseling 2004). Situative Bedingungen und individuelle Herangehensweisen bestimmen mit, was Schreiberinnen und Schreiber während des Schreibprozesses tun und wie sie Strategien, Routinen und Sprachen in einer spezifischen Schreibsituation einsetzen. Die Wechselwirkungen zwischen Einflussfaktoren in einer Schreibsituation sind dabei sehr komplex und während des Schreibprozesses dynamischen 5

Für genauere Ausführungen zum Einsatz unterschiedlicher Sprachen beim Schreiben vgl. Dengscherz 2019a und 2019b.

Perspektiven auf Schreibsituationen

Veränderungen unterworfen. In diesem Sinne können Schreibprozesse als dynamische Systeme verstanden werden (vgl. De Angelis/Jessner 2012: 48). In meinem Schreibprozessmodell, einem Situationen-Modell für anspruchsvolle Textproduktion in mehrsprachigen Kontexten (vgl. Dengscherz 2019a), werden diese dynamischen Veränderungen und komplexen Wechselwirkungen berücksichtigt und visualisiert. Dabei verstehe ich den Schreibprozess zunächst als eine Abfolge von Schreibsituationen (Sit1 , Sitn, Sitn … Sitz ), in denen sich jeweils spezifische heuristische und rhetorische Anforderungen und Herausforderungen (HRAH) ergeben. Durch den Einsatz von Strategien und Routinen, von Teilaktivitäten aller Art, bewirken Schreiberinnen und Schreiber Veränderungen in der aktuellen Schreibsituation und schaffen dadurch wieder eine neue Situation – mit ihrerseits spezifischen HRAH: Abb. 1: PROSIMS-Schreibprozessmodell Teil 1 – Situationen-Abfolge-Modell (SAM) (Dengscherz 2019a: 161) HRAH : Heuristische und Rhetorische Anforderungen und Herausforderungen S R T : Strategien, Routinen, Teilaktivitäten

Schreibaufgabe Ausgangssituation

SR

T

Sit7 HRAH

T

SRT

Sit4 Sit3 S R T HRAH HRAH

Sit… HRAH

Sitn HRAH SRT

SR

Sit5 HRAH

SRT

T

Sit2 HRAH

SR

SRT

Sit1 HRAH

Sit6 HRAH

Ziel Textgestalt am Ende

Eine solche Art der Modellierung bietet viel Raum für individuelle und situative Variation. Der Schreibprozess kann als komplexe Größe betrachtet werden, in der Teilaktivitäten zwar nicht vorhersagbar oder berechenbar sind, aber eben auch nicht zufällig oder beliebig vollzogen werden, sondern in Wechselwirkung mit spezifischen Einflussfaktoren in der jeweiligen Schreibsituation. Darauf fokussiert der zweite Teil des Modells:

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Abb. 2: PROSIMS-Schreibprozessmodell Teil 2 – Situationen-Zoom-Modell (SZM) (vgl. Dengscherz 2019a: 167)

Heuristische Dimension ,Ma

Vor a

rbe

iten

bisher Text, N produzierte r otizen …

Schreibsituation Anforderungsniveau

Wahrnehmung

al‘,

Wahrnehmung

teri

Schreibaufgabe Anforderungen

HRAH

Persönliche Ressourcen und Kompetenzen

Rhetorische Dimension

te

,Ma

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est

‘, G rial

en

utin

ro ngs

ierter produz bisher otizen … Text, N Einstellungen und Selbstwahrnehmung

ntverfassung

Problembewuss

Tages- und Mome

tsein

Rahmenbedingungen

Die Anforderungen des Schreibvorhabens sind ein wichtiger Faktor, der sich über die heuristische und rhetorische Dimension erstreckt und über die Wahrnehmung individueller Schreiberinnen und Schreiber in die Schreibsituation hineinwirkt und dort zu spezifischen HRAH führt. Sowohl in der heuristischen als auch der rhetorischen Dimension kann es Vorarbeiten oder Material aus früheren Schreibprozessen geben, und in beiden Dimensionen kann auch bereits produzierter Text (ausformuliert oder in Form von Notizen) vorliegen. Darüber hinaus spielen persönliche Ressourcen (Kompetenzen, Erfahrungen, Schreibexpertise etc.) und Einstellungen (Vorannahmen über das Schreiben, Motivation, Selbstwahrnehmung etc.) eine Rolle, und auch Tages- und Momentverfassung sowie das Problembewusstsein der Schreiberinnen und Schreiber wirken in die Situation hinein, die wiederum eingebettet in weitere Rahmenbedingungen (z.B. Deadlines, institutionelle Kontextualisierung o.Ä.) vorgestellt werden kann. Die heuristische und die rhetorische Dimension sind als zwei Felder visualisiert, deren Ränder durchlässig sind und die einander überlappen. Im dritten Teil des PROSIMS-Schreibprozessmodells wird auf Wechselwirkungen innerhalb der Schreibsituation fokussiert. Im Kontext von produktorientierten

Perspektiven auf Schreibsituationen

Zielsetzungen und individuellen Herangehensweisen werden die Bedingungen einer Schreibsituation mit dem Aktualverhalten in Beziehung gesetzt:

Abb. 3: PROSIMS-Schreibprozessmodell Teil 3 – Situationen-Wechselwirkungen-Modell (SWM) (Dengscherz 2019a: 172)

Individuelle Herangehensweisen Institutionelle Rahmenbedingungen Produktorientierte Zielsetzungen

e rig he Bis

ibsitu

en

Individuelle Bedürfnisse

Persönliche Ziele

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Em

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kti

hlu

ida

ng

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en

hre

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ation

Aktualverhalten

Schreibstrategien Einsatz von Sprachen Routinen

HRAH

ibsitu

ation

Individuelle biographische Rahmenbedingungen

ng

hru

Motivation

Schre

Habitualverhalten Gewohnheiten

Schre

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sn

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de

for

An

us

a ive

Strategienrepertoire Sprach(en)repertoire

be rei

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A

n

ge

run

e ord

h Sc

Schreibaufgabe

Weitere Rahmenbedingungen für das Schreiben: Schreiborte, Schreibzeiten etc.

Wechselwirkungen zwischen den Bedingungen der Schreibsituation und dem Einsatz von Schreibstrategien, Routinen und unterschiedlichen Sprachen im Schreibprozess werden durch bisherige Schreiberfahrungen beeinflusst sowie durch schreibdidaktische Empfehlungen und Annahmen darüber, was beim Schreiben ›funktioniert‹. Motivation und persönliche Ziele sind ebenfalls wesentliche Aspekte. Darüber hinaus ist das Aktualverhalten in einer spezifischen Schreibsituation eingebettet in das Habitualverhalten zu sehen und steht damit im Kontext des individuellen Strategien- und Sprach(en)repertoires, aber auch in Beziehung zu individuellen und institutionellen bzw. gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.    

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Schreibsituation, ›Schreibszene‹ und ›Schreib-Szene‹

Das PROSIMS-Schreibprozessmodell fokussiert auf Faktoren, die das Schreiben bedingen, ermöglichen und beeinflussen. Ähnliche Fragen wurden aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive im Hinblick auf ›Schreibgeste‹, ›Schreibszene‹ und ›Schreib-Szene‹ diskutiert. So hat sich Vilém Flusser etwa mit der »Geste« (Flusser 1991: 40) des Schreibens auseinandergesetzt, indem er Schreibwerkzeuge wie Papier und Füllfeder mit Zeichen, Konventionen, Sprachsystem, Regeln und Ideen in Verbindung bringt und dabei feststellt, dass die Komplexität weniger in der Vielzahl der Faktoren als vielmehr in ihrer Heterogenität liege. Campe konzipiert in diesem Zusammenhang eine »fundamentale sprachlich-gestische Beziehung« als »Schreibszene« (Campe 1991: 759), die er einer »Schreib-Szene« gegenüberstellt, die »keine selbst-evidente Rahmung der Szene, sondern ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste bezeichnet« (Campe 1991: 760). Stingelin führt diese Unterscheidung noch weiter aus und versteht unter ›Schreibszene‹ die historisch und individuell von Autorin und Autor zu Autorin und Autor veränderliche Konstellation des Schreibens, die sich innerhalb des von der Sprache (Semantik des Schreibens), der Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und der Geste (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam gebildeten Rahmens abspielt, ohne dass sich diese Faktoren selbst als Gegen- oder Widerstand problematisch würden; wo sich dieses Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert, sprechen wir von ›Schreib-Szene‹. (Stingelin 2004: 15). ›Schreibszene‹ hebt also vor allem die individuelle Variation hervor, ›Schreib-Szene‹ stärker die situative. Stingelin fokussiert auf textimmanente Konstruktionen. Wird die Perspektive gewechselt und die Textproduktion in den Fokus gerückt, dann lassen sich individuelle und situative Variation in ihren dynamischen Wechselwirkungen im Schreibprozess modellieren: Die Situation wirkt auf die Schreibenden, und die Schreibenden wirken auf die Situation. Wir steigen nicht zweimal in denselben Schreib-Fluss, die beständige Veränderung ist wesentliches Moment dynamischer Systeme. Schreiberinnen und Schreiber agieren im situativen Handlungsraum im Rahmen des Möglichen und gestalten den Handlungsraum durch ihr Agieren aktiv mit, verändern ihn, schaffen neue situative Handlungsräume. So fügen sich Situationen aneinander zum Schreibprozess. Die »Risse« im »Beziehungs- und Bedingungsgefüge« (Giuriato 2012: 317), die den Übergang von der ›Schreibszene‹ zur ›Schreib-Szene‹ markieren, sind in der dynamischen Konzeption der sich beständig wandelnden Schreibsituationen von vornherein mit angelegt. Ein Vergleich des PROSIMS-Schreibprozessmodells mit ›Schreibszene‹ und ›Schreib-Szene‹ muss allerdings berücksichtigen, dass die Konzepte verschiede-

Perspektiven auf Schreibsituationen

nen Disziplinen entstammen und sich auf unterschiedliche Arten des Schreibens beziehen – wenn auch eine klare Grenzziehung problematisch ist (so hat etwa Hanspeter Ortner, 2000, in seiner Studie zu Schreiben und Denken wissenschaftliches und literarisches Schreiben gemeinsam untersucht). Eine Schlüsselfrage ist hier wohl jene nach der ›Inspiration‹: Im Zusammenhang zwischen Schreiben und Denken, im Hinblick auf den kreativen Schaffensprozess, bleibt hier in der Modellierung oft eine black box, ein blinder Fleck, der in metaphorischer Annäherung umkreist wird – wie etwa bei Flusser: »[…] schreiben heißt, sich der magischen Macht der Wörter zu überlassen und dabei doch eine gewisse Kontrolle über die Szene zu bewahren« (1991: 45). Dieses Spannungsfeld zwischen Einflussfaktoren und Selbstbestimmung der Schreiberinnen und Schreiber wird auch im PROSIMS-Schreibprozessmodell deutlich. Die Schreibsituation bezeichnet Momente und Ausschnitte aus dem Schaffensprozess. Sie ist jedoch weder Szenerie noch Rahmung, sondern ein Aktionsraum, in dem die Schreiberinnen und Schreiber kognitiv und körperlich in einem Geflecht sozialer Beziehungen vor dem Hintergrund ihrer (Bildungs-)Biografien agieren. Kognitive Prozesse werden situated, embedded und embodied reflektiert, und auch extended cognition (vgl. Risku 2014) wird mitberücksichtigt (z.B. durch vielfältigen Input und/oder Materialisationen im Schreibprozess). Mit »agieren« soll dabei nicht gesagt sein, dass alle Aspekte des Tuns zielgerichtet und bewusst sein müssen. Das PROSIMS-Schreibprozessmodell wurde aus der empirischen Analyse von Schreibprozessen entwickelt und kann als Analyseinstrument für weitere Schreibprozesse herangezogen werden. Es ist aus dem Feld der Transkulturellen Kommunikation entstanden, aber sicherlich auf andere Felder übertragbar – und wohl auch noch erweiter- und adaptierbar. Die HRAH in einer Schreibsituation können für unterschiedliche Arten des Schreibens konkretisiert werden: In spezifischen Situationen zeigt sich, wie sie als Anknüpfungspunkte für den Einsatz von Strategien und Routinen fungieren und in Wechselwirkung mit dem Einsatz unterschiedlicher Sprachen stehen. Durch den Fokus auf die Bedingungen und Wechselwirkungen in Schreibsituationen wird nachvollziehbar, welche Funktion Teilaktivitäten im Schreibprozess in einer spezifischen Schreibsituation haben (können) – ohne dass dabei der Schreibprozess in starre Ablaufschemata gepresst würde. In diesem Sinne versteht sich das Modell einerseits als Anknüpfungspunkt für Schreibberatung und Selbstreflexion, andererseits aber auch als Ausgangspunkt für weitere explorative Analysen zum Schreiben in verschiedenen Kontexten und Disziplinen.

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Digitale Bild-Text-Konstrukte Schreiben multicodal und symmedial Elke Höfler (Graz) The medium is the message. Marshall McLuhan

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Einleitung

Vom 21. Jahrhundert, auch gerne als das Wissens- oder Informationszeitalter bezeichnet, wird fälschlicherweise immer wieder behauptet, die Halbwertszeit des Wissens werde immer kürzer (vgl. Siemens 2005). Vielmehr ist es jedoch so, »dass sich die Menge wissenschaftlicher Erkenntnis etwa alle fünf bis zehn Jahre verdoppelt« (Walter 2013), wie der Physiker Ulrich Walter festhält. Wissenschaftliche Theorien würden nicht durch neue Theorien abgelöst, sondern um diese ergänzt oder erweitert, so der Autor. Nicht also die Halbwertszeit des Wissens nehme ab, sondern die Wissensproduktion kontinuierlich zu. Diese Zunahme beschränkt sich jedoch nicht nur auf das von Walter beschriebene Wissenschaftssystem, sondern ist als allgemeines Phänomen über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme, beispielsweise das Literatursystem oder auch die Presse, zu betrachten (vgl. H. Rosa 2005: 176-194). Gleichzeitig brechen im Zeitalter der Digitalisierung alte Dichotomien wie Realität und Virtualität durch Konzepte wie die Augmented, die Virtual und die Mixed Reality auf (vgl. Wössner 2019), traditionelle dichotomische Rollenstrukturen, wie der Autor oder die Autorin gegenüber dem Leser und der Leserin, werden im Web 2.0 aufgelöst (vgl. Kerres 2012: 202-203). Für dieses, auch als Mitmach-Web bezeichnete, Web 2.0 wird eine allgemeine demokratische Struktur angenommen, da es potentiell beinahe jedem Individuum – Kulturzugangsgerät (vgl. L. Rosa 2014), Stromversorgung und Internetzugang vorausgesetzt – erlaubt, Inhalte nicht nur zu konsumieren, sondern sie auch zu produzieren und aktiv mitzugestalten. Die Menschen ›prosumieren‹ und erzeugen dabei immer neue Informationen, die Anschlusskommunikationen auslösen und zu Wissen verarbeitet werden können. Für die einzelnen Plattformen des Web 2.0, besonders in den Social Media, gelten im Produktions-, Rezeptions- und auch Publikationsprozess zum Teil klar

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definierte Regeln und Vorgaben, die es zu beachten gilt, um kommunikativ interagieren zu können. Zudem haben sich auf diesen Plattformen neue mediale Ausdrucksformen entwickelt, die dem veränderten Konsumverhalten Rechnung tragen1 . Entsprechend sehen Peter Gendolla und Jörgen Schäfer schon früh als Aufgabe der Kultur-, Literatur-, Sozial- und Medienwissenschaft die »Netzliteratur2 als eine[] Art Sensorsystem für aktuelle soziale Entwicklungen aufzuspüren, wahrnehmbar und begreifbar zu machen« (Gendolla/Schäfer 2001: 85). Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, dieser Forderung nachzukommen, Schreibprozesse im digitalen Raum zu beschreiben und die Analyse eines multicodalen und symmedialen Produktes in den Mittelpunkt zu stellen. Der Fokus wird auf das in den unterschiedlichen Social-Media-Kanälen zurzeit aktuelle Phänomen Internet Meme gelegt. Es wird exemplarisch herangezogen, um die Ebene der Rezeption eines digitalen Bild-Text-Konstrukts als Produkt eines Schreibprozesses im weitesten Sinne zu untersuchen. Um dieses Vorhaben zu erfüllen, wird zunächst ein kurzer Einblick in Social Media und die im digitalen Zeitalter notwendigen Kompetenzen gegeben. Ein weiterer die Rahmenbedingungen des Beitrags absteckender Abschnitt wirft einen Blick auf das Schreiben im digitalen Raum, das als multimodal, multicodal und multimedial gesehen werden kann.3 Anschließend wird anhand des Beispiels Internet Meme eine multicodal und symmedial zu interpretierende Ausformung der digitalen Literatur beschrieben, um mit deren Relevanz und Implikationen im Sinne der Herausbildung einer Schreib- und Medienkompetenz im Web 2.0 abzuschließen.

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Web 2.0 & Social Media

Social Media spielen im Leben heutiger Jugendlicher und Erwachsener eine zentrale Rolle. Sie dienen nicht nur der Kommunikation, sondern sind zunehmend auch eine Möglichkeit der Informationsbeschaffung und Unterhaltung, was der Heterogenität des unter dem Sammelbegriff »Social Media« zusammengefassten Medienangebots geschuldet ist. Das Web 2.0 nimmt als Mitmach-Web konkrete Gestalt in Form einer sich ständig weiterentwickelnden Social-Media-Landschaft an. Andreas Kaplan und Michael A. Haenlein haben 2010 versucht, die damals vorhandenen 1 2

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Als Beispiel seien exemplarisch das im folgenden Beitrag aufgegriffene Internet Meme und Twitteratur (vgl. Kreuzmair 2016) genannt. Eine terminologische Unschärfe: Netzliteratur, digitale Literatur, Interfictions, Hypertext werden nicht trennscharf verwendet, zeigt Zimmermann tabellarisch auf (vgl. Zimmermann 2015: 14). Auf sie soll an dieser Stelle nur verwiesen werden. Der Versuch einer Abgrenzung der Begriffe Multicodalität, Multimodalität, Multimedialität und Symmedialität wird im entsprechenden Abschnitt dieses Beitrags vorgenommen.

Digitale Bild-Text-Konstrukte

Social-Media-Anwendungen in eine zweidimensionale Taxonomie zu überführen und dieser zwei Parameter zugrunde gelegt: Media Richness/Social Presence und Self Disclosure/Self Presentation (vgl. Kaplan/Haenlein 2010: 62). Dabei unterscheiden die Autoren folgende sechs Kategorien:4 Blogs, Collaborative Projects, Social Networking Sites, Content Communities, Virtual Social Worlds und Virtual Game Worlds. Die der Einteilung 1) zugrunde gelegten Theorien, die Medienreichhaltigkeitstheorie und die Theorie der sozialen Präsenz, stehen der 2) Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung gegenüber. Während die unter Punkt 1 genannten Parameter auf die formale, d.h. mediale, Ebene zielen, sind die unter Punkt 2 genannten Parameter auf den Inhalt bezogen. Sollen komplexe, mehrdeutige Informationen transportiert und in Anschlusskommunikationen überführt werden, ist eine hohe Reichhaltigkeit des Mediums notwendig. So sind geschriebene Nachrichten weniger reichhaltig als das persönliche Gespräch am Telefon. Dabei spielt auch die soziale Präsenz eine Rolle, die die Nähe beschreibt, die zwei interagierende Personen trotz Trennung durch einen Bildschirm verspüren können. Nonverbale Kommunikationsformen, wie Gestik, Mimik und Sprachmelodie spielen hier ebenso eine Rolle wie der Augenkontakt, den man mit seinem Gegenüber aufnimmt oder die Nähe, die simuliert wird. Gerade Jugendliche nutzen Social-Media-Kanäle als primäre Informationsund Unterhaltungskanäle5 , wofür es einer digitalen Kompetenz (vgl. Fadel/Bialik/Trilling 2017: 120) bedarf, die vielfach als – neben dem Lesen, Schreiben und Rechnen – vierte Kulturtechnik bezeichnet wird. Hierzu schreibt Lisa Rosa: Der Computer als physisches Ding ist nur das Gerät für den Zugang dazu [zur Kultur, Anm.E.H.], die allerunterste Voraussetzung, aber trotzdem schon das Ding, das den Unterschied macht. Wer solchen Zugang nicht hat, bleibt in Zukunft, was früher Analphabet hieß. Wer solchen Zugang zur Teilhabe am Dauergespräch der Kultur mit sich selbst nicht nutzt, obwohl er ihn hat, wählt die Unmündigkeit für die Kultur des 21. Jahrhunderts. (L. Rosa 2014)

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Wenngleich die Taxonomie mittlerweile einer dringenden Überarbeitung u.a. in Hinblick auf die Erweiterung um professional networks, akademische Netzwerke und Messaging Dienste bedarf, zeigt sie dennoch eine Sache deutlich: Gerade in den letzten Jahren hat sich die inhaltliche Ausrichtung der genannten Plattformen und Anwendungen zum Teil drastisch geändert (vgl. Simanowski 2017). Wie wichtig Social-Media-Anwendungen nicht nur zur Kommunikation, sondern vor allem zur Information und Unterhaltung sind und welche Rolle sie für Jugendliche aber auch Erwachsene spielen, zeigen aktuelle Studien wie die deutsche Jugend-Information-MedienStudie (mpfs 2018) und die Oberösterreichische Jugend-Medien-Studie (EduGroup 2019). Obgleich Suchmaschinen wie Google auf dem ersten Platz zu finden sind, so folgen auf den weiteren Plätzen YouTube, Wikipedia und Informationen auf Facebook bzw. Twitter (vgl. mpfs 2018: 52).

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Eine allgemeingültige und verbindliche Definition dieser vierten Kulturtechnik fehlt zwar weitgehend, Lisa Rosa spricht jedoch mehrere zentrale Punkte an: Das Smartphone als mobiles Device ermöglicht die Teilhabe an Kultur in einem weiten Begriffsverständnis. Dies kann rezeptiv, beispielsweise in Form einer virtuellen Reise dank Google Expeditions in ein Museum freier Wahl, geschehen. Kultur kann aber auch aktiv mitgestaltet werden. Mit dem Smartphone lassen sich Fotos, Videos oder beispielsweise Sprachnachrichten erstellen, Fotos zu digitalen Bild-Text-Konstrukten verarbeiten und über unterschiedliche Social-Media-Kanäle teilen. Die Entscheidung darüber, ob und wenn ja in welcher Form und Intensität man partizipieren möchte, obliegt dem Individuum.6

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Schreiben im digitalen Raum

Spricht man vom Schreiben im digitalen Raum, so fallen zunächst unterschiedliche Beobachterperspektiven auf. Wenn Ulf Abraham seinen Artikel ›Digitale Schreib-, Präsentations- und Publikationsmedien‹ mit den Worten »[d]igitale Medien trennen, erstmals in der Geschichte des Schreibens, Prozess und Resultat materiell voneinander und ›entkörperlichen‹ das Schreiben« (Abraham 2016: 269) beginnt, so weist er auf die Trias aus Prozess, Resultat und Medium hin. Dieser Trias wird in der Erforschung des Bereichs ›Schreiben im digitalen Raum‹ großes Interesse entgegengebracht. So befassen sich Autorinnen und Autoren mit der Frage der Neuausrichtung des Literaturbegriffs unter Berücksichtigung veränderter Rollenstrukturen nach Verschwimmen der Rollengrenzen in der Dreiheit Autorin/Autor, Leserin/Leser, Verlegerin/Verleger (vgl. Bolter 2015; vgl. Heibach 2003; vgl. Simanowski 2010; vgl. Zimmermann 2015). Philippe Wampfler löst das Syntagma ›digitale Literatur‹ wie folgt auf: »Digitale Literatur meint Texte, deren Herstellung und Lektüre am Computer erfolgen muss und die in einem weiten Sinne interaktiv sind oder erscheinen« (Wampfler 2017: 52). Der Schweizer Medienpädagoge fokussiert dabei sowohl das Schreiben als produktiven als auch das Lesen als rezeptiven Prozess. Der technologische Aspekt, der u.a. Überlegungen der Kollaboration, Intermedialität, Hypertextualität und somit Non-Linearität erlaubt, ist hierbei die Basis der Unterscheidung (vgl. Abraham 2016; vgl. Becker-Mrotzek/Böttcher 2015; vgl. Raunig/Lackner 2016; vgl. Zimmermann 2015). Wird der Prozess des Schreibens in den Mittelpunkt gestellt, so lässt sich erkennen, dass die Flexibilität und die Non-Linearität des Schreibens durch das Ausschneiden und Einsetzen einzelner Textpassagen und die einfachen, mehrmalig wiederholbaren Überarbeitungs6

Die Möglichkeit der Partizipation zieht jedoch vor dem Hintergrund von Fake News und Bildmanipulationen die Notwendigkeit weiterer zentraler Kompetenzen nach sich, die vor allem im Bereich Medienkritik und Mediengestaltung anzusetzen sind.

Digitale Bild-Text-Konstrukte

möglichkeiten neben den gestalterischen Möglichkeiten durch Formatierung oder Einfügen anderer Medien immer wieder betont werden (vgl. Becker-Mrotzek/Böttcher 2015: 41-42; Petko 2014: 54). Den meisten Autorinnen und Autoren ist dabei ein weites Textverständnis gemein: »Einigkeit besteht heute darüber, dass der prototypische Text gegenwärtig kein rein sprachlicher mehr ist, sondern ein genuin multimodaler« (Stöckl 2004: 5). Was Hartmut Stöckl unter multimodal versteht, erläutert er wie folgt: Das Verschwinden der klassischen Monomodalität (nur geschriebene Sprache) hat seine Ursachen in einer immer stärkeren Integration von Bildern verschiedenster Art einerseits – die ehemals der Sprache vorbehaltene Funktionen übernehmen – und einer Hinwendung zu den visuellen Aspekten von Schrift (wie Typographie, Layout), d.h. einem systematischen Textdesign […]. (Ebd.) Diese Multimodalität ist, wie Torben Schmidt festhält, eine der Beschreibungskriterien von Multimedialität: »›Multimedia‹ beschreibt dabei die digitale Zusammenführung verschiedener Medienformate und dient im öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs als Sammelbegriff« (Schmidt 2010: 280). Und weiter: »Eine allgemeingültige Definition existiert bis dato allerdings nicht. Dennoch können durch die Begriffe ›Multicodierung‹, ›Multimodalität‹, ›Interaktivität‹ und ›Adaptivität‹ […] eindeutige Beschreibungskriterien und Merkmale für eine Definition herangezogen werden« (ebd.). Dabei folgt Schmidt (2010) in seinem Begriffsverständnis Paul Klimsa (1997), der bereits früh zwischen dem Code, also beispielsweise der geschriebenen oder gesprochenen Sprache und dem Bild, und den Wahrnehmungskanälen unterscheidet. Die Begriffswahl entspringt somit der Perspektive, die eingenommen wird. Steht das Medium im Vordergrund, so wird die Multicodalität in den Fokus genommen, stehen die Rezipierenden im Vordergrund rückt die Multimodalität in den Blick. Dabei bringt Schmidt das Potential auf den Punkt: Durch […] charakteristische Merkmale der Multicodierung werden beim Nutzer mehrere Wahrnehmungskanäle (zurzeit vor allem das Hören und Sehen) gleichzeitig angesprochen (Multimodalität der Inhalte). Durch Weiterentwicklungen insbesondere im Bereich virtueller Realitäten dürften zukünftig auch weitere Sinneskanäle stärker angesprochen werden wie die Proxemik (Wahrnehmung des Körpers im Raum), der Tastsinn, das Riechen und das Schmecken. (Schmidt 2010: 281) In Schmidts Verständnis ist mit Stöckl (2004) folglich eher von einer Multicodalität denn einer Multimodalität zu sprechen. Bild-Text-Konstrukte bleiben, ob ihres Verhaftet-Seins in einem Wahrnehmungskanal, somit multicodale Artefakte. Das Produkt des Schreibprozesses ist im digitalen Raum – in einem sehr weiten Sinne gedacht – folglich ein multicodales bzw. multimodales. Als multicodal werden

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dabei Produkte bezeichnet, die unterschiedliche Zeichensysteme verbinden, multimodal sind Produkte, wenn sie unterschiedliche Sinnesorgane aktivieren (vgl. Petko 2014: 64-65). Dabei gilt es zu beachten, dass »[d]ie Kodierung […] unabhängig vom Wahrnehmungskanal« (Kerres 2012: 168) erfolgen kann. Wir können einen Text beispielsweise sowohl sehen (visueller Kanal) als auch hören (auditiver Kanal), beim Bild entfällt diese Möglichkeit. Wie schwierig die begriffliche Eindeutigkeit zu erreichen ist, zeigt auch Wampfler, der sich beim Versuch einer Definition von digitaler Literatur gegen enge Parameter ausspricht, da er meint: […] oft erwähnte Eigenschaften wie der doppelte Text (Code und Oberflächentext), die Multimedialität, Hypertextualität, Kooperativität oder die narrative Struktur dürften als Beschreibung einzelner Texte hilfreich sein, sind aber keine hinreichenden oder notwendigen Kriterien für das Vorliegen digitaler Literatur […]. (Wampfler 2017: 52) Dies überrascht insofern wenig, als er neben »im Internet publizierten Texten auch Computerspiele, Bild-Text-Kombinationen wie Memes oder Graphic Novels sowie YouTube-Vlogs« (ebd.) als Beispiele digitaler Literatur anführt. Er schließt mit der Feststellung, »die Forderung, digitale Literatur müsse primär schriftlich fixiert sein, [ist] abzulehnen« (ebd.). In die gleiche Kerbe schlagen Anfang des 21. Jahrhunderts auch Gendolla und Schäfer, die feststellen: »Im Netz ›erweitert‹ sich Literatur wieder einmal und integriert dabei tatsächlich Bild, Bewegtbild und Sound zu unerwarteten Kombinationen« (Gendolla/Schäfer 2001: 85). Dass die Kombination aus Wort und Bild eine für das Schreiben im digitalen Raum zentrale aber wenig innovative ist, verdeutlicht Jay David Bolter: »Nichtsdestoweniger bricht die Unterscheidung von Wort und Bild im elektronischen Schreiben nicht vollständig zusammen. Oder besser: Die Unterscheidung kollabiert – nur, um sich immer wieder aufs neue [sic!] zu bestätigen.« (Bolter 2015: 335) Während Bolter hier als Beispiel einer langen multicodalen Tradition den »mittelalterlichen, illustrierten Kodex« (ebd.) nennt und auf die Kraft des Videos als multimodales Artefakt hinweist, wird deutlich, dass er die multicodale Verbindung von Bild und Text als eine aufeinander referenzierende aber dennoch getrennte sieht.7 Beide Ebenen haben eine eigene Aussage und können separat decodiert werden, durch die Kombination ergeben sich weitere Möglichkeiten. Der Medienpädagoge Dominik Petko betont, dass eine »Doppelcodierung von Lerninhalten« als »lernförderlich« (Petko 2014: 59) zu sehen ist, da die Lernenden als Beobachtende die Informationen auf unterschiedlichen Kanälen über die unterschiedlichen Codes decodieren und in Wissen umwandeln können. Er sieht »[…] den Vorteil

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Einen Einblick in das Dekodieren von Bild-Text-Konstrukten liefert Stöckl (2004).

Digitale Bild-Text-Konstrukte

[darin], dass Menschen aus unterschiedlich codierten Informationen ein vielfältiger repräsentiertes Wissen aufbauen und die Einsichten aus beiden Kanälen miteinander abgleichen können« (ebd.). Beide Elemente haben ihr jeweiliges Zeichensystem als Hintergrund, für dessen Decodierung u.a. Welt-, Erfahrungs- und Fachwissen notwendig sind. Betrachtet man Social-Media-Kanäle und die dort veröffentlichten Beiträge, so wird die Rolle des Paratextes augenscheinlich. In schriftbasierten8 Medien wie Blogposts, Wiki-Einträgen und Facebook-Posts spielen Bilder und Überschriften eine zentrale Rolle. Ziel ist es, den jeweiligen Eintrag aus der algorithmisch bestimmten Timeline herauszuheben, »ihn präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum« (Genette 1989: 9) zu befördern. Neben dem Erregen von Aufmerksamkeit sollen auch Gefühle angesprochen und Nähe transportiert werden. Wolfgang Hallet erweitert vor diesem Hintergrund das Verständnis von Schreiben, denn »das Schreiben wird abgelöst von oder ist nur noch Bestandteil der komplexeren Fähigkeit, einen Hypertext zu konstruieren (weshalb ›Schreiben‹ nunmehr ›construction‹ heißt)« (Hallet 2010: 68). Texte, in einem weiten Sinne, werden nicht mehr geschrieben, sondern konstruiert. Sie können dabei multimodale oder multicodale, also multimediale, Formen annehmen.9

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Dominanz des Visuellen: Visual Literacy

Diese Dominanz des Visuellen wird auch durch die Taxonomie von Kaplan und Haenlein herausgestrichen: Wenn die Autoren von Media Richness als zentralem Parameter sprechen, betonen sie die Rolle und gleichzeitig die Funktion des Mediums (vgl. Kaplan/Haenlein 2010).10 Durch paratextuelle Elemente wird die im Text enthaltene Information gestützt oder ihr wird widersprochen. So schreibt Michael Meyer: »Das jeweils genaue Verhältnis von Bild und Sprache muss in Augenschein genommen werden, damit verschiedene Bedeutungsbildungen über Analogie, Komplementarität oder gar Opposition nicht unterschlagen werden« (Meyer 2013: 159). Sibylle Krämer prägt für die Verschmelzung von Schrift und Bild den Begriff der »Schriftbildlichkeit«. Nachrichten werden nicht mehr monomedial, sondern multicodal und multimodal konsumiert (vgl. Krämer 2003: Titel). Vor allem das Bild-Text-Konstrukt rückt in den Vordergrund. In Social Media kommt es 8

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In bildbasierten Anwendungen, wie Instagram und Snapchat (vgl. Simanowski 2017: 97), spielt der Text eine untergeordnete Rolle. Einen Einblick in das »Internet« als ein Medium des Erzählens gibt Doris Tophinke (2017) im gleichnamigen Artikel. Eine Engführung von Bild und Text unternimmt Stöckl, wenn er festhält: »Bilder verhalten sich […] wie Texte, weil sie als komplexe Gebilde in sich strukturiert und kommunikativ-situativ bestimmt sind« (Stöckl 2004: 381). Auch Stöckl verweist auf den »medialen Siegeszug« (Stöckl 2004: 3) des Bildes.

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zu einer »Marginalisierung der Schriftlichkeit als Erzählmedium« (Tophinke 2017: 71) und einer Dominanz des Visuellen, da »die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie keine langen Berichte erlaubt« (Simanowski 2017: 96). Auf Ebene der Rezeption, so Meyer, »scheint Konsens zu sein, dass visuelle Kompetenz multimodal ist« (Meyer 2013: 159), wobei der Autor die Interdependenz von Bild und Text betont, wenn er festhält, »dass Schrift sichtbar und Bilder lesbar sein müssen« (ebd.: 160), da »Bild und Sprache jeweils über die Grenzen des anderen Mediums hinausgehen« (ebd.). Aufgrund des wahrnehmungsorientierten Verständnisses der BildText-Interpretation spricht Meyer die ausgebliebene begriffliche Verschiebung von visual literacy11 , zu multimodaler Kompetenz an, und nennt als möglichen Grund, »dass Multimodalität bereits im Bildverstehen angelegt ist« (ebd.). Mit visual literacy, übrigens auch mit digital literacy, wird der Literalitätsbegriff über den geschriebenen und/oder gedruckten Text hinaus erweitert.12 Grundsätzlich – und in einem weiten Sinne gedacht – versteht man darunter die Kompetenz des Decodierens von Bild- und Text-Konstrukten und folglich eine spezifische Medienkompetenz13 (vgl. Schmidt 2010: 282). Im Sinne der visual literacy können also auch Bilder gelesen, die in ihnen transportierte Information kontextualisiert und somit zu Wissen werden: »Bilder unterliegen dem gleichen Prozeß der Dekonstruktion und Rekonstruktion wie Elemente des verbalen Textes« (Bolter 2015: 325), wie Bolter konstatiert. Die Nähe zu semiotischen Verfahren der Texterschließung wird deutlich, ebenso die kulturwissenschaftlich und mediendidaktisch interessante Verbindung zum Konstruktivismus.14 Laut Umberto Eco (1991) entscheidet der Rezipierende darüber, welche Codes und welchen semantischen Rahmen er auf ein Bild anwenden möchte, wodurch im Zuge des Lektüreprozesses die Aktualisierung von Bedeutungen zwischen dem Aktuellen und dem Möglichen (vgl. Pauliks 2017: 52), immer jedoch vor dem Hintergrund der vermeintlich eigenen Landkarte, erfolgen kann. Konstruktivistisch betrachtet, kreiert ein Bild-Text-Konstrukt zwei Wirklichkeiten: ei11

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Die Problematik des Begriffs visual literacy wird von Meyer aufgegriffen, der von einem »Bedeutungswirrwarr« (Meyer 2013: 157) spricht. Der Autor gibt dabei einen konzisen Einblick in verschiedene Lesarten des Begriffs (vgl. ebd.) und spricht sich in diesem Zusammenhang für die Verwendung des Begriffs visual literacy aus, »da dieser die Notwendigkeit und den Widerspruch des Sehens und Lesens von Bildern enthält« (ebd.: 160). Welche Implikationen diese Erweiterung für den Unterricht hat, kann bei Hallet vertieft werden (vgl. Hallet 2007). Wie zentral dieser Aspekt von Medienkompetenz ist, zeigt die Dichte an bildorientierten Beispielen in der vom Bundesministerium für Bildung in Auftrag gegebenen und von Mediamanual (2016) erstellten Sammlung Medienkompetenz. Prototypische Aufgaben. An dieser Stelle sei auf Bernd Weidenmanns Unterscheidung von Verstehen erster und zweiter Ordnung verwiesen: Ersteres beschäftigt sich mit dem Bild an sich und kann über Alltagswissen erzielt werden, für zweiteres ist Fachwissen in Hinblick auf die Produktion, Verwendung und Gestaltung des Bildes notwendig (vgl. Weidenmann 1988).

Digitale Bild-Text-Konstrukte

ne Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung (vgl. Watzlawick 2017: 142-144). Während die erste objektiv und mit allgemeinen Beschreibungskategorien deskriptiv fassbar ist, ist die zweite auf einer individuellen und somit subjektiven Ebene verankert. Auf dieser Ebene des Explikativ-Interpretatorischen spielen individuelle Aspekte wie kulturelle Faktoren, Erfahrungen und (Aus-)Bildung eine Rolle, woraus unterschiedliche Lesarten eines Bildes oder eines Textes resultieren: »Erzählungen werden […] zum sozio-kulturellen Spiegel, geben Einblick in Wertsetzungen, Einstellungen und kulturelle Orientierungen« (Tophinke 2017: 72). Es ist diese Ebene, auf der intertextuelle oder allgemeiner intermediale Interdependenzen und kulturelle Verweisungszusammenhänge identifiziert, decodiert und kommuniziert werden (oder nicht).

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Internet Memes: multicodal & symmedial

Wie gezeigt wurde, ist das Schreiben im digitalen Raum ein über das Literale hinausgehender Prozess, der durch die Integration des Piktoralen oder auch Auditiven oder Audiovisuellen eine multicodale und in der Wahrnehmung multimodale Form annimmt. Auf semiotischer Ebene werden folglich unterschiedliche Bedeutungsebenen integriert und vor dem Hintergrund einer verminderten Aufmerksamkeitsspanne in komplexen Formen realisiert. Dieses weite Verständnis von Text sowie des Prozesses des Schreibens und Lesens sollen am Beispiel eines weitverbreiteten Phänomens, des Internet Meme, besprochen werden. Als Internet Meme wird dabei ein Bild-Text-Konstrukt bezeichnet, das in einen intertextuellen bzw. intermedialen Verweisungskontext der Variation eingeflochten ist.15 Es handelt sich um ein Bild, oftmals einer bekannten Persönlichkeit oder einer Figur aus einer viralen Serie, das um ein textuelles Element erweitert wird. Wie etabliert Internet Memes sind, zeigt die Breite der Publikationen, die in den letzten Jahren entstanden sind. So befasst sich Kevin Pauliks mit der Serialität von Internet-Memes und zeigt, dass »Memes [sich] als semantische Strukturveränderungen beobachten lassen« (Pauliks 2017: 117). Der Autor führt zudem eine klare Unterscheidung zwischen Meme und Internet Meme ein.16 Wampfler beschäftigt sich mit

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Auf Gérard Genettes in Palimpseste geäußerte Gedanken zur Beziehung, die Texte – im weitesten Sinne – zueinander aufweisen können, sei an dieser Stelle verwiesen (vgl. Genette 1993). Sie liefern auch für die Deutung von Internet Memes wichtige Hinweise. Aus ökonomischen Gründen wird auf die Einführung der Unterscheidung zwischen Meme und Internet Meme verzichtet. Eine Gegenüberstellung auf semantischer und historischer Ebene kann bei Pauliks nachgelesen werden (vgl. Pauliks 2017). Zur eindeutigen Lesbarkeit wird in diesem Beitrag Internet Meme verwendet, wenngleich der Begriff im Netzjargon keine Verbreitung kennt; hier wird Meme verwendet.

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dem Internet Meme vor dem Hintergrund einer Entwicklung von Medienkompetenz im Deutschunterricht und zeigt Möglichkeiten der methodischen Einbettung in die konkrete Unterrichtssituation auf (vgl. Wampfler 2017, 2019). Shifman verortet Internet Memes als Produkte digitaler Kultur und grenzt sie von Virals ab: Geht es bei Virals um das Wiederholen, so zeichnen sich Memes durch die Variation aus (vgl. Shifman 2014a, b). Wampfler unterscheidet zwei Typen von Internet Memes, ein »[r]egelgesteuertes Text-Bild-Meme« und ein »[ä]sthetisches Text-Bild-Meme« (Wampfler 2017: 136), für das es keine fixen Regeln gibt und bei dem »[d]er Wiedererkennungseffekt […] nicht vorausgesetzt« (ebd.: 137) wird. Für das regelgesteuerte Internet Meme gilt: Aus einem beliebig erweiterbaren Bilderpool können Bilder gewählt werden, die Textelemente werden unter Berücksichtigung klarer Regeln individuell ergänzt.17 Meist handelt es sich um ein zweiteiliges Textelement, sozusagen eine Kopf- und Fußzeile, die zueinander in Analogie oder Kontrast stehen können und ihrerseits auch in Analogie oder Kontrast zum gezeigten Bildelement zu sehen sind (vgl. Davison 2012: 127). Dabei lassen sich, auf Ebene der Wirklichkeit erster Ordnung, sowohl Bild als auch Text separat voneinander beschreiben, das Interpretatorische ist jedoch erst in der Wirklichkeit zweiter Ordnung möglich, weshalb infolge der Untrennbarkeit der beiden Aussagen mit McLuhan von »the medium is the message« (McLuhan 2005: 7) gesprochen werden kann. Wie die einzelnen Elemente gekoppelt werden, erscheint nur auf den ersten Blick kontingent, »[d]ie Kopplungen, die ein Medium zuläßt, sind […] keineswegs beliebig, gleichwohl aber unvorhersehbar« (Luhmann 2017: 49). Dabei gilt im regelgesteuerten Text-Bild-Meme das Bild als Konstante18 , der Text wird variiert. Doch hat der Text die Funktion, dass »die inhärente Mehrdeutigkeit und Polyvalenz von Bildern eingeschränkt wird« (Stöckl 2004: 382). Die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz ist zentral. Wenngleich Bild und Text scheinbar getrennt voneinander verstanden werden können, erschließt sich die Aussage eines Internet Memes erst durch die multimodale Einbettung, die, so Meyer, »in der generellen Intertextualität, oder besser, Intermedialität von Bild/Texten gefunden werden [kann], d.h. in der vielfältigen Beziehung zu anderen Bildern und Texten« (Meyer 2013: 159).

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Das Konfuzius-Meme kann als klassisches Beispiel gesehen werden. Wampfler legt die Regeln offen: »Es ist erstens in Engrish abgefasst, einer humoristischen rassistischen Bezeichnung für das fehlerhafte Englisch von Menschen mit asiatischer Muttersprache. Zweitens klingt der erste Teil nach einer Weisheit […] – während der zweite Teil klar macht, dass es sich um ein (oft anzügliches) Wortspiel handelt […]« (Wampfler 2017: 135). Ein zweites Beispiel beschreibt Pauliks mit dem Socially Awkward Penguin (Pauliks 2017: 75-86). Davison schränkt ein »all of these remain constant (with consistent variation) from image to image« (Davison 2012: 130).

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Volker Frederking sieht dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Medien als »Emergenz-Phänomen« (Frederking 2016: 6), das er symmedial nennt, wenn gilt: »[D]as entstehende Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« (ebd.). Die volle Bedeutung des Internet Memes ergibt sich erst, wenn die beiden Textelemente mit dem Bildelement als Einheit wahrgenommen und in einen Verweisungszusammenhang zu weiteren Ausprägungen des Internet Memes gestellt werden. In diesem Zusammenhang »weitet sich mit ›symmedial‹ das Blickfeld, insofern neben der Divergenz und Spezifik medialer Formen auch ihr Verschmelzen und die dadurch ausgelösten Effekte in den Blick genommen werden« (ebd.). Die unterschiedlichen Medien werden weder in ihrer Divergenz noch Konvergenz, sondern in ihrer Emergenz als Konstrukt gesehen und interpretiert. Die Aussage des Textes und in weiterer Folge des Text-Bild-Konstrukts hat dabei »gruppenbildende Funktionen und dient der Herstellung eines gemeinsamen, geteilten Wissenshintergrunds« (Tophinke 2017: 72). Vor diesem Hintergrund haben »Formen […] immer eine innere Seite, die feste Kopplung, und eine äußere Seite, die all das offenläßt, was im Medium sonst noch möglich wäre« (Luhmann 2017: 49). Die Decodierung der Aussage eines Internet Memes obliegt der partizipierenden Gruppe: »Nur wer die dahinterstehenden Regeln versteht und die Wirkung von Memes erfasst, kann das Muster verändern und eigene Memes herstellen« (Wampfler 2019: 93). Vor der Produktion ist somit das Verstehen als Leistung anzusetzen.19 Internet Memes sind Symptome einer »jugendkulturelle[n] Ästhetik […] und rufen jugendkulturelle Vorstellungen und Einstellungen als Verstehenshintergrund auf«20 (Tophinke 2017: 73). Dabei lässt sich festhalten: Die Invarianz des Mediums ist […] nur eine Rahmenbedingung für einen ständigen Gestaltswitch in der Wahl der Formen, die das Medium zuläßt. Dank der Ausnutzung des Formenrepertoires eines Mediums können beobachtende Systeme sich an laufend sich ändernde Umstände anpassen und dabei zugleich durch den ständigen Formwechsel das Medium, das im Hintergrund bleibt, reproduzieren. (Luhmann 2017: 49) Neue gesellschaftliche, politische oder ökonomische Rahmenbedingungen erlauben, fordern und führen zu neuen Internet Memes.21 Die Kontingenz der Deutung lässt sich konstruktivistisch erklären, sind doch »Formenbildungen Konstruktionen eines Beobachters ohne Entsprechungen in der Außenwelt« (ebd.) und somit auf individueller oder auf Ebene der sozialen Gruppe anzusetzen. Folglich lässt sich 19 20 21

Dass dabei auch Fehler passieren, sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene, zeigt Pauliks anhand exemplarischer Beispiele (vgl. Pauliks 2017: 106-109). Wampfler unternimmt aufgrund dieses gruppenspezifischen Deutungsraums eine Engführung zwischen Internet Meme und barockem Emblem (vgl. Wampfler 2017: 137). Als Beispiel dieser Reaction-Memes, wie Pauliks und Shifman sie nennen, sei der Tourist Guy angeführt (vgl. Pauliks 2017: 86-90; vgl. Shifman 2014b: 344-345).

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nicht vorhersehen, ob ein digitales Bild-Text-Konstrukt zum Internet Meme wird und Variation erlaubt bzw. hervorruft (vgl. Pauliks 2017: 14; vgl. Wampfler 2019: 91-92). Die Entscheidung wird von der Gruppe getroffen, die als Prosumierende Internet Memes nicht nur konsumiert, sondern auch (re-)produziert und variiert. Für den Schreibprozess bedeutet dies zwar das Verhaften an vorhandenen Strukturen – primär auf formaler Ebene – bei gleichzeitiger Vielfalt der inhaltlichen Ausgestaltung. Die Aussage eines Internet Memes ist jedoch nur dann in ihrer Emergenz zu verstehen, wenn im Schreiben sowohl die bildliche als auch die textuelle Seite berücksichtigt und im Sinne der Varianz des Möglichen realisiert werden. Wird die formale Ebene durchbrochen, beispielsweise durch die Verwendung eines neuen Bildelements oder einer semiotischen Umdeutung des Textelements, zerbricht das symmediale Konstrukt.

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Fazit

Wenngleich Internet Memes nicht selten auf ihre humoristische Funktion (vgl. Prescher/Thees 2015) oder ihren Charakter als »apparently insignificant embodiments of silliness and whimsicality« (Shifman 2014b: 340) reduziert werden, so gilt dennoch, dass sie »according to a cultural logic« (ebd.) operieren, nämlich jener der digitalen (Jugend-)Kultur in Social Networks. »[They] serve as valuable keys for understanding broader dimensions of digital culture« (ebd.), da sie Themen aufgreifen, die die Vertreterinnen und Vertreter der Netzkultur bewegen. Nicht selten wird auf formaler, wie bei den Reaction-Memes, oder inhaltlicher Ebene Kritik geübt; Ryan Milner verdeutlicht dies anhand aktueller politischer, ökonomischer, juristischer und medizinischer Beispiele (vgl. Milner 2013). Die Impulse können dabei aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen kommen, die Aufnahme und anschließende Verteilung und Variation durch Erzeugen von Anschlusskommunikationen ist kontingent und nicht vorhersagbar. Als digitale Text-Bild-Konstrukte zeichnen sich Internet Memes durch ihren multicodalen und symmedialen Charakter aus, der Verweisungszusammenhänge aufbaut und in die Interpretation integriert. Zum Decodieren ist nicht nur visual literacy sondern auch Weltwissen notwendig. Gerade im Produktionsprozess ist somit eine weite Form der Literalität Voraussetzung. Der Schreibprozess wird zum Konstruktionsprozess, der Leseprozess zum Decodierprozess. Die volle Erkenntnis öffnet sich nur dem, der auch den Variations- und Selektionsprozess wahrnimmt und die Verweisungszusammenhänge mitdenkt. Wenngleich die Forschung im Bereich Internet Memes schon fortgeschritten ist, so bleiben dennoch Desiderate, die sich aus der rasanten Weiterentwicklungszeit ergibt. Die von Shifman (vgl. Shifman 2014b) oder Pauliks (vgl. Pauliks 2017) identifizierten Typen sind zu überarbeiten und mit Genettes in Palimpseste formulier-

Digitale Bild-Text-Konstrukte

ten Gedanken engzuführen, um das Internet Meme als künstlerische und gleichzeitig alltagskulturelle Ausdrucksform des 21. Jahrhunderts weiter zu etablieren. Eine über die einzelnen Manifestationen, wie Konfuzius oder den Socially Awkward Penguin, hinausgehende Typologie der regelgesteuerten Internet Memes wäre wünschenswert. Pauliks Analyse der Serialität, die einen stark semiotischen Fokus zeigt (vgl. Pauliks 2017), und Shifmans kommunikationstheoretische Analysen (vgl. Shifmans 2014b) sind ein Anfang, bedürfen jedoch einer Vertiefung, die vor allem den Konstruktionsprozess fokussiert. Diese Überlegungen könnten in Form von Implikationen für eine Aufnahme in den schulischen Unterricht fruchtbar gemacht werden. Gerade die didaktische Nutzung ist zwar bereits erforscht, bleibt jedoch vielfach auf einzelne Unterrichtsfächer beschränkt. Sie böte dabei zahlreiche Möglichkeiten der interdisziplinären Beschäftigung, wenn beispielsweise der von Davison angesprochene Aspekt der urheberrechtlichen Verortung reflektiert würde (vgl. Davison 2012). Letztlich scheint in der Forschungsliteratur auch ein stark westlicher Fokus erkennbar, eine trans- bzw. interkulturelle Beschäftigung mit dem Thema steht ebenfalls noch aus.

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»Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein« Ein reflexiv-praxeologischer Blick auf das wissenschaftliche Schreiben Doris Pany-Habsa (Graz)

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Einleitung

Wer das wissenschaftliche Schreiben erlernt oder betreibt, kommt selten ohne Kränkungen davon. Kränken kann etwa die Kritik, die andere an mühevoll geschriebenen Texten üben; enttäuschend sein kann aber auch das eigene Unvermögen, einen wissenschaftlichen Text in der erstrebten Qualität hinzubekommen; und es kann auch verletzen, wenn nahestehende Personen für die Schwierigkeiten des wissenschaftliches Schreibens keinerlei Verständnis aufbringen. Solche Kränkungserfahrungen sind immer wieder Thema in Schreibberatungen, wie sie universitäre Schreibzentren Studierenden anbieten, um sie beim Erlernen des wissenschaftlichen Schreibens zu unterstützen. In solchen Beratungssituationen wird nicht nur deutlich, wie sehr Kränkungen, Selbstzweifel oder das Unverständnis des Umfelds Studierende beim Schreiben hemmen können, sondern auch, dass sich Widerstände und Unbehagen häufig an der Sperrigkeit der mitgebrachten Texte zeigen. Erkennbar wird also ein Wechselspiel von kognitiven, affektiven und sozialen Aspekten beim Schreiben, das in Texten zuweilen manifeste Spuren hinterlassen kann. Diesem Ineinandergreifen von kognitiven, affektiven und sozialen Momenten beim wissenschaftlichen Schreiben gilt in vorliegendem Beitrag mein Interesse. Dieses verdankt sich zum einen Erfahrungen aus der schreibdidaktischen Praxis, zum anderen ist es bedingt durch die Beobachtung, dass die didaktische Forschung zum wissenschaftlichen Schreiben das skizzierte Wechselspiel bisher nur unzureichend beleuchtet hat. Ich nehme daher die interdisziplinäre Ausrichtung dieses Bandes zum Anlass, um der Frage nachzugehen, inwieweit Ansätze aus anderen Richtungen der Schreibforschung Anregungen für die Entwicklung eines theoretischen Zugriffs auf dieses Verschränkungsphänomen liefern können. Um umgekehrt auch die schreibdidaktische Forschung dem interdisziplinären Blick von Leserinnen und Lesern aus anderen Feldern der Schreibforschung zu erschließen, skizziere ich dabei zunächst die zentralen

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Ansätze der didaktischen Forschung zum wissenschaftlichen Schreiben. Dann wende ich mich zwei theoretischen Konzepten aus anderen Disziplinen zu, die sich für das umrissene schreibdidaktische Forschungsdesiderat produktiv machen lassen: dem literaturwissenschaftlichen Konzept der ›Schreibszene‹ und dem kultursoziologischen Praxisbegriff. Abschließend möchte ich anhand eines Beispiels das analytische Potenzial verdeutlichen, das der praxeologische Ansatz für die schreibdidaktische Forschung hat.

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Didaktische Zugänge zum Schreiben: Produkt, Prozess, sozial situierte Handlung

Die schreibdidaktische Forschungsperspektive ist geleitet von dem Interesse, das wissenschaftliche Schreiben so zu analysieren, zu erfassen und zu beschreiben, dass es zu einem lehr- und erlernbaren Gegenstand wird. Sie verfolgt dieses Ziel auf drei verschiedene Weisen: Erstens beschäftigt sie sich mit Produkten wissenschaftlichen Schreibens – in der Regel mit fertigen Texten –, um ihnen ihre spezifischen Merkmale abzulesen und diese so zu beschreiben, dass Lernende sie reproduzieren können. Dieser Ansatz wird als produktbezogen bezeichnet. Zweitens stellt sich die schreibdidaktische Forschung die Frage, wie Schreibende im Einzelnen vorgehen, wenn sie wissenschaftliche Texte verfassen. Aus dieser prozessorientierten Perspektive beschreibt sie konkrete Teilaufgaben, die beim Schreiben bewältigt werden. Drittens setzt sich die didaktische Schreibforschung mit dem Handlungsaspekt des wissenschaftlichen Schreibens auseinander, indem sie dieses als ›sozial situierte Handlung‹ analysiert, mit der Schreibende in eine Beziehung zu dem Umfeld treten, in dem sich ihr Schreiben vollzieht. Betrachtet man diese Zugänge nun etwas näher, so zielen produktorientierte schreibdidaktische Ansätze darauf ab, typische Strukturen und sprachliche Charakteristika wissenschaftlicher Texte zu beleuchten. Untersucht werden Aspekte wie Strukturierungsschemata, Mittel zur Herstellung von Text-Kohärenz, ThemaRhema-Figuren, der Einsatz von Konnektoren oder die phraseologische Umsetzung von Sprachhandlungen wie Beschreiben, Argumentieren, Erklären, Analysieren oder Vergleichen. Betrieben wird diese in den 1950er Jahren entstandene Forschung vor allem aus linguistischer Perspektive. In didaktischer Hinsicht beruht der produktorientierte Zugang auf der Prämisse, dass Studierende das wissenschaftliche Schreiben erlernen können, wenn man ihnen die entsprechenden strukturellen und sprachlichen Mittel an die Hand gibt. Zu den aktuell einflussreichsten Ansätzen in diesem Bereich gehören einerseits die Systemic Functional Linguistics (SFL), für die die Funktion sprachlicher Einheiten in wissenschaftlichen Texten den Ausgangspunkt der Analysen bildet (vgl. Matthiessen/Halliday 1997); andererseits sind die Forschungen aus dem Bereich English for Academic Purposes

»Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein«

(EAP) zu nennen – hier steht das Identifizieren und Aufzeigen typischer Textroutinen der englischen Wissenschaftssprache im Fokus (vgl. Hyland 2000). Gegen diesen produktorientierten Ansatz wurde zurecht eingewendet, dass das Wissen um die sprachliche und strukturelle Beschaffenheit des Textprodukts Lernende noch lange nicht dazu befähigt, die kognitiven, epistemologischen und praktischen Operationen auszuführen, derer es bedarf, damit ein wissenschaftlicher Text entstehen kann (vgl. Grésillon 2015: 159). Auf dieses Defizit reagierte der prozessorientierte Ansatz1 . Er hebt darauf ab, verschiedene Momente und Schritte der Textproduktion zu identifizieren, zu konzeptualisieren und sie so für Lernende reproduzierbar zu machen. Die wichtigste Bezugswissenschaft war hier die Kognitionspsychologie, wie sie sich in den 1970er Jahren als Gegenbewegung zum behavioristischen Paradigma herausgebildet hat. Entsprechend hat dieser Forschungsansatz Konzeptualisierungen des Schreibprozesses hervorgebracht, in denen kognitive Aspekte im Zentrum stehen. Grundlegend für den prozessorientierten Ansatz ist die Annahme, dass sich Schreibende ihrem Schreibprojekt wie einem Problem nähern, das es zu lösen gilt, und dass sie im Zuge der Bearbeitung dieses Problems die kognitiv und rational gesteuerten Operationen ›Planen‹, ›Formulieren‹ und ›Überarbeiten‹ vollziehen. Der prozessorientierte Zugang wurde vor allem aufgrund seiner Vernachlässigung der affektiven Dimension des Schreibens kritisiert (vgl. Grésillon 2015: 162; vgl. Stingelin 2012: 283) und von seinen prominentesten Propagatoren Linda Flower und John R. Hayes in der Folge auch in dieser Richtung überarbeitet (vgl. Flower/Hayes 2014; Hayes 2014). Wenngleich die kognitivistische Prozessorientierung mittlerweile mit kritischer Distanz betrachtet wird, gibt sie nach wie vor die Grundlage für die schreibdidaktische Vermittlungspraxis ab. Die meisten Schreibdidaktikerinnen und Schreibdidaktiker verfolgen die Strategie, Lernenden Arbeitstechniken für die Bewältigung von Teilaufgaben im Schreibprozess (Exzerpieren von Literatur, Textüberarbeitung usw.) an die Hand zu geben. Das Interesse an der Erforschung des Schreibprozesses hält daher weiter an, wobei in aktuellen Studien häufig versucht wird, über Screencapturing-Verfahren den Prozess in seinem Zusammenspiel von psycho-physischer und kognitiver Aktivität zu erfassen (vgl. Breuer 2017, Dengscherz in diesem Band). 1

Die schreibdidaktische Forschung bedient sich der teleologisch grundierten Begriffe ›Schreibprozess‹, ›Schreibprodukt‹, ›Textproduktion‹ etc. zum einen aufgrund des referenziellen, produktorientierten Charakters des wissenschaftlichen Schreibens, dessen übergeordnetes Ziel darin besteht, anderen Erkenntnisse zugänglich zu machen. Entsprechend denken wissenschaftlich Schreibende das Schreiben in der Regel von seinem Ziel her – eine Perspektive, die die schreibdidaktische Forschung in weiten Teilen übernommen hat. Zum anderen dürfte die Begriffsverwendung auch dem Ziel schreibdidaktischen Handelns geschuldet sein, bei dem es letztlich darum geht, Lernende in die Lage zu versetzen, Texte zu verfassen, die im hochschulischen Kontext bestehen können. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Texte den Status eines abgeschlossenen Produkts erreicht haben.

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Die kognitionspsychologische Modellierung des Schreibprozesses von Flower und Hayes fasst die sozialen, institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen des Schreibens lediglich als task environment. Diese ›Aufgabenumgebung‹ spielt allerdings gerade beim wissenschaftlichen Schreiben eine fundamentale Rolle: Studierende verfassen wissenschaftliche Texte, um von Universitäten verliehene Bildungszertifikate zu erlangen, die in der Folge über Chancen am Arbeitsmarkt und Verdienstmöglichkeiten entscheiden. Und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwerben mithilfe der Texte, die sie schreiben, Positionen in der akademischen Hierarchie. Richtet man den Blick auf diese Aspekte, so erweist sich Schreiben als ›sozial situiertes Handeln‹. Dieser Zugang fand seit den 1980er Jahren vor allem im englischsprachigen Raum Verbreitung und wird oft als social turn in der schreibdidaktischen Forschung bezeichnet. Zugrunde liegt hier eine umfassendere Konzeption von Schreiben, was sich begrifflich darin ausdrückt, dass von literarcy/literacies bzw. von literacy practices (vgl. Barton/Hamilton 2000) die Rede ist. Mit diesen Begriffen wird ein Komplex von Praktiken gefasst, die im Umgang mit Texten zum Tragen kommen: Zusammenzudenken sind dabei nicht nur Schreiben und Lesen, sondern auch kulturell und sozial geprägte Gewohnheiten sowie habituelle Bedeutungszuschreibungen und Wertvorstellungen, die für Individuen und Gruppen im Umgang mit Texten charakteristisch sind. Aus Sicht des praxis- oder handlungsorientierten Ansatzes partizipieren Individuen an unterschiedlichen literacies (z.B. der literarcy der Herkunftsfamilie, die fachspezifische literarcy im Studium etc.); diese literacies können in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und dabei Fragen von Identität und Zugehörigkeit virulent werden lassen. Dieser Zugang betont, dass Schreiben immer von den sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen sowie von den Machtverhältnissen, unter denen es sich vollzieht, abhängig ist. Zentral ist für diese Perspektive folglich auch die historische, soziale und kulturelle Instabilität des Schreibens sowie die Fokussierung von Spannungsfeldern, die sich in bestimmten sozialen oder institutionellen Kontexten aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher literacies ergeben können (vgl. Barton/Hamilton 2000). In didaktischer Hinsicht ist für diesen Ansatz die Annahme konstitutiv, dass es für das Erlernen des wissenschaftlichen Schreibens im Hochschulkontext entscheidend ist, Studierenden das Funktionieren der akademischen literacies, an denen sie partizipieren, transparent zu machen und sie dabei zu unterstützen, in diesen handlungsfähig zu werden.

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Jenseits von Produkt, Prozess und sozial situierter Handlung

Mit ›Produktorientierung‹, ›Prozessorientierung‹ und ›Orientierung am Schreiben als sozial situierter Handlung‹ sind zunächst drei zentrale schreibdidaktische Forschungsgebiete umrissen; diese Zugänge dienen darüber hinaus aber auch als Ord-

»Seien Sie sicher, das wird für Sie kränkend sein«

nungskategorien für die Systematisierung schreibdidaktischer Forschung und sie bilden das Grundgerüst für die Periodisierung der relativ jungen Disziplin2 . Diese Ordnungs- und Periodisierungsfunktion ist derzeit im Begriff brüchig zu werden. Zu verzeichnen ist eine zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Forschungslinien, die sowohl Spezialisierungs- als auch Überlappungseffekte mit sich bringt. Zweitere erschweren die Zuordnung einer wachsenden Zahl von Studien zu einer der drei Forschungslinien und lassen auch den Blick auf die hergebrachte Periodisierung kritischer ausfallen. Die Spezialisierungstendenzen innerhalb der einzelnen Teilgebiete nähren wiederum die Besorgnis, dass von bestimmten Punkten des Forschungsfeldes aus die Forschungsgegenstände der jeweils anderen Teilgebiete nicht mehr gesehen werden (vgl. Lillis/Scott 2007: 21-22). Zusätzlich entwickeln sich neue Forschungsbereiche zu Phänomenen, wie etwa dem wissenschaftlichen Schreiben unter den Bedingungen der Digitalisierung oder dem Schreiben in der Mehrsprachigkeit. Auch regionale Ausdifferenzierungen sind dazu angetan, den Eindruck von Unübersichtlichkeit und Zentrifugalität zu verstärken. Denn die Anwendungsorientierung der schreibdidaktischen Forschung bringt es mit sich, dass bei der Rezeption von Studien aus anderen kulturellen Kontexten stets Selektionseffekte zum Tragen kommen. In diesem Zusammenhang fällt etwa besonders auf, dass die deutschsprachige Schreibdidaktik die in den USA und Großbritannien so wichtige Forschung zum Schreiben als ›sozial situierte Handlung‹ bisher kaum beachtet hat.3 Umgekehrt bleibt ein großer Teil der europäischen Studien US-amerikanischen Forschenden aufgrund von Sprachbarrieren unzugänglich. Angesichts dieser Ausdifferenzierung der schreibdidaktischen Forschung lässt sich sowohl in den USA als auch in Europa deutlich eine Suchbewegung wahrnehmen, die darauf ausgerichtet ist, neue Ordnungsrahmen und theoretische Bindeglieder für das Forschungsfeld zu finden. In neueren Forschungsüberblicken wird gerne das Bild des Kartografierens benutzt (vgl. Prior/Thorne 2014: 31-32), denn offensichtlich geht es derzeit sowohl um ein Verzeichnen, Kategorisieren und Ordnen als auch um das Herstellen eines gemeinsamen (theoretischen) Bezugsrahmens. Der Ordnungs- und Kategorisierungsbedarf zeigt sich etwa an der Tendenz, Forschungsüberblicke mit Überblicken über Forschungsüberblicke einzuleiten, oder umfangreiche matrizenartige Darstellungen zu wählen, mittels derer Studien anhand einer Vielzahl von Aspekten eingeordnet werden können (vgl. Donahue/Lillis 2014: 71; Perrin/Jakobs 2014: 27; Prior/Thorne 2014: 36-37). Bemühungen um neue Ordnungsrahmen lassen sich auch auf institutioneller Ebene fest2

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Eine verbreitete Periodisierung setzt die ›Produktorientierung‹ in den 1950er und 1960er Jahren an, die ›Prozessorientierung‹ ab den 1970er Jahren und die ›Orientierung am Schreiben als sozial situierter Handlung‹ ab den 1980er Jahren. Sie wird weder in neueren Überblicken (vgl. Brinkschulte/Kreitz 2017; vgl. Girgensohn/Sennewald 2012) genauer behandelt, noch spielt sie in Anthologien (vgl. Dreyfürst/Sennewald 2014) eine Rolle.

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stellen: So setzt sich etwa die schreibdidaktische Community des deutschsprachigen Raums seit einiger Zeit dafür ein, ›Schreibwissenschaft‹ als neue Disziplin zu etablieren.4 Was das Herstellen eines gemeinsamen Bezugsrahmens betrifft, so wird der Ruf nach Grundlagenforschung und einer systematischen theoretischen Fundierung schreibdidaktischer Forschung lauter. Artikuliert wird vor allem der Bedarf an Theoriekonzepten, die es erlauben, die verschiedenen Dimensionen des Schreibens aufeinander zu beziehen und in ihrer Relation zueinander zu fassen. So konstatieren etwa Paul Prior und Steven L. Thorne 2014 in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel »Research paradigms: Beyond product, process, and social activity«: »Given the complexity and diversity of writing phenomena, we believe it is critical for writing research to develop broad frameworks that link textual forms, literate and semiotic practices, identities, and social formations in dynamic, dispersed, and historical trajectories« (Prior/Thorne 2014: 48). Die Erarbeitung solcher integrativer Theoriekonzepte für die schreibdidaktische Forschung ist ein komplexes und umfassendes Desiderat, das sich langfristig nur über regional und intradisziplinär übergreifende Grundlagenforschungsprojekte einlösen lässt. Vorab kann aber der Blick auf die Schreibforschung anderer Fachgebiete dabei helfen, weiterführende Überlegungen in dieser Richtung anzuregen.

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Literaturwissenschaftliche Schreibforschung: die ›Schreibszene‹

Einen interessanten Anknüpfungspunkt bietet die literaturwissenschaftliche Schreibforschung, denn sie verfügt über ein theoretisches Bezugskonzept, das verschiedensten literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen des Schreibens als gemeinsame Verständnisgrundlage dient. Es handelt sich um das Konzept der ›Schreibszene‹, das der Germanist Rüdiger Campe 1991 bereitgestellt hat. Campe fasst die ›Schreibszene‹ als »ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« (Campe 2015: 271) und konturiert damit die Gesamtheit dessen, was Schreiben ausmacht: das Umgehen mit Sprache und Texten, den Einsatz von Medien bzw. Schreibgeräten und den Körper der schreibenden Person. Das Zusammenspiel dieser drei Momente bringt in unterschiedlichen historischen, kulturellen und medialen Kontexten jeweils spezifische Ausprägungen des Schreibens hervor, die sich anhand von Selbstzeugnissen von Autorinnen und Autoren, mithilfe von Poetiken oder literarischen Thematisierungen von Schreiben

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Vgl. die im Sommer 2019 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt von den drei Berufsverbänden der deutschsprachigen Schreibdidaktikerinnen und Schreibdidaktiker veranstaltete Tagung »Schreibwissenschaft – Eine neue Disziplin – Diskursübergreifende Perspektiven« (https://conference.aau.at/event/169 03.11.2019).

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untersuchen lassen. Seine analytische Produktivität hat das Konzept der ›Schreibszene‹ in einem Forschungsprojekt erwiesen, das Martin Stingelin gemeinsam mit einer Forschergruppe von 2001 bis 2007 unter dem Titel »Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart« an der Universität Basel durchgeführt hat. Dabei hat Stingelin das Konzept der ›Schreibszene‹ um das der ›Schreib-Szene‹ erweitert, um die Aufmerksamkeit auf den instabilen, heterogenen, man könnte sogar sagen prekären Charakter von ›Schreibszenen‹ zu lenken, der besonders dann zutage tritt, wenn beim Schreiben Widerstände wahrgenommen und thematisiert werden, was nach Stingelin besonders häufig an Epochenschwellen oder unter den Bedingungen medialen Wandels geschieht (vgl. Stingelin 2004: 15). Die Produktivität des Konzepts der ›Schreibszene‹ bzw. der ›Schreib-Szene‹ besteht vor allem darin, dass die Vorstellung der »Ensemblebildung« (Campe 2015: 271) davor bewahrt, bei der Betrachtung von Schreiben eines der beteiligten Momente zu verabsolutieren und die anderen auszublenden. Das Konzept hält vielmehr immer die Gesamtheit dessen gegenwärtig, was Schreiben als Zusammenwirken von Sprache, Medium und schreibendem Körper ausmacht. Selbst wenn in konkreten Analysen von ›Schreibszenen‹ einzelne dieser Momente (z.B. das Medium, die Geste) in den Fokus gerückt werden, bleibt ihre Bezogenheit auf die jeweils anderen Momente präsent. Wie Campe bemerkt, ruft das Konzept analytisch nutzbare Unterscheidungen auf und lädt gleichzeitig dazu ein, sie wieder zu übergehen (vgl. Campe 2015: 270). Das Konzept der ›Schreibszene‹ kann daher als theoretisches Bezugsmodell dienen, wenn es in der schreibdidaktischen Forschung darum geht, der Tendenz zur isolierenden Betrachtung einzelner Dimensionen des Schreibens zu begegnen und die Zugänge ›Produkt‹, ›Prozess‹ und ›sozial situierte Handlung‹ aufeinander bezogen zu denken. Ob dieser integrativen Qualität lässt sich das Konzept der ›Schreibszene‹ aber auch für die theoretische Fundierung methodologischer Fragen der didaktischen Schreibforschung nutzen. So könnte es etwa als Bezugsrahmen dienen, wenn es darum geht, den epistemologischen Status und die Relationalität unterschiedlicher Material- bzw. Datentypen zu klären, mit denen die schreibdidaktische Forschung arbeitet (z.B. abgeschlossene wissenschaftliche Texte, PrewritingDokumente, Beobachtungen oder Videoaufzeichnungen von Schreibaktivitäten, Think-aloud-Protokolle, retrospektive Äußerungen über Schreibvorgänge, Screencapturing-Aufzeichnungen, Keystroke-Logging-Protokolle etc.). Als ›Schreib-Szenen‹ ließen sich aber auch Beobachtungskonstellationen und Versuchsanordnungen reflektieren, die eingesetzt werden, um Schreiben der Analyse zugänglich zu machen. So könnte man z.B. fragen, welche erkenntnistheoretischen Implikationen es hat, wenn unter Laborbedingungen ein Interface zwischen Hand- und Augenbewegungen, kognitiven Prozessen und materialen Texten hergestellt wird. Denkbar wäre außerdem die Erforschung wissenschaftlicher ›Schreibszenen‹ von

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bekannten Forschungspersönlichkeiten, zu deren Arbeits- und Schreibtechniken ediertes oder noch unediertes Material vorliegt.5 Ebenso ließen sich ›Schreibszenen‹ bzw. ›Schreib-Szenen‹ von Studierenden in verschiedenen Stadien des Studiums oder in verschiedenen Fächern analysieren. Schon diese kleine Liste zeigt, dass es für die schreibdidaktische Forschung lohnend wäre, sich das Konzept der ›Schreibszene‹ anzueignen.6

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Der praxeologische Blick

Das theoretische und methodologische Potenzial des Konzepts ›Schreibszene‹ lenkt den Blick auf einen weiteren Zugang, der sich für die schreibdidaktische Forschung als interessant erweisen könnte. Die Praxistheorie oder Praxeologie stammt aus der Kultursoziologie und wurde besonders von Andreas Reckwitz als Theorie- und Analyseprogramm ausgearbeitet. Als Theorieprogramm bietet die Praxeologie einen ähnlichen Vorteil wie die ›Schreibszene‹, denn sie erlaubt über den Begriff der ›Praktik‹ das Zusammendenken von Artefakten, Produkten, Medien, Wissensformen bzw. Diskursen und Körpern und kommt damit dem schreibdidaktischen Bedarf nach einem integrativen Theoriekonzept entgegen. Aus Sicht der anwendungsorientierten didaktischen Schreibforschung hat die Praxistheorie als Analyseprogramm aber auch den Vorteil, dass sie noch ausdifferenziertere Beobachtungskategorien bereitstellt als das Konzept der ›Schreibszene‹. Kurz gefasst versteht Reckwitz7 Praktiken als sozial geregelte, typisierte Verhaltensroutinen, die auf verschiedenen Formen impliziten Wissens beruhen und zwei materielle Instanzen umfassen: einerseits die Körper, die die Praktik ausführen, und dabei inkorporiertes Wissen zur Anwendung bringen, anderseits die Artefakte, mit denen die Praktik ausgeführt wird. Praktiken sind getragen von kulturellen Codes und bringen bestimmte Subjektivierungsformen hervor, die jeweils spezifische Formen der Identität, Affektivität und Wahrnehmung umfassen. Als Teil von historisch und kulturell spezifischen Praxisformationen stehen sie stets in einem Spannungsfeld von Routinisiertheit und Offenheit und sind daher veränderbar und historisch instabil. Alle genannten Aspekte sind für die Erforschung wissenschaftlichen Schreibens interessant: die Betonung des impliziten Wissens, das zum Einsatz kommt, 5

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Ein Beispiel hierfür wäre etwa Niklas Luhmanns berühmter Zettelkasten, der seit Sommer 2019 in einer digitalen Ausgabe online verfügbar ist. (https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/suche 03.11.2019) In diesem Band macht Sabine Dengscherz einen Schritt in diese Richtung und nutzt die Konzepte ›Schreibszene‹/›Schreib-Szene‹, um ihr didaktisch inspiriertes Schreibprozessmodell zu reflektieren. Diese Darstellung verarbeitet Reckwitz (2003, 2008 und 2009).

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wenn eine Praxis vollzogen wird; die Materialität der Praxis, die die Verwobenheit des Wissens mit Körpern und Artefakten hervorhebt; die Subjektivierungsformen, die sich mit den Praktiken verbinden; die Instabilität bzw. Veränderbarkeit der Praktiken. Was die Formen impliziten Wissens betrifft, so sind Praktiken von Wissensbeständen getragen, die in der Regel nicht verbalisiert oder in explizites Aussagewissen übergeführt, sondern nur im Modus des Handelns aktiviert werden. Reckwitz unterscheidet dabei erstens die Wissensform des Know-how, ein methodisch ausgerichtetes script-förmiges Wissen, das sich auf das Vorgehen beim Vollzug der Praxis bezieht. Mit Blick auf das wissenschaftliche Schreiben könnte man dabei etwa an das Annotieren oder Exzerpieren eines Textes denken, die Bedienung eines Literaturverwaltungsprogramms oder das Zehn-Finger-Tippen auf einer Computer-Tastatur. Wie im ersten Teil des Beitrags dargelegt, interessiert sich die schreibdidaktische Forschung für genau diese Art von script-förmigem Prozesswissen in besonderem Maße. Denn wenn es ihr gelingt, dieses Wissen in eine explizite Form überzuführen, es analytisch auszufalten und im Detail zu beschreiben, schafft sie die Grundlage dafür, dass diese Wissensbestände bewusst angeeignet und systematisch eingeübt werden können. Die zweite Wissensform umfasst für Reckwitz alle Formen interpretativen Verstehens, die beim Vollzug einer Praxis zur Anwendung kommen; beim wissenschaftlichen Schreiben handelt es sich dabei um das, was man alltagssprachlich am ehesten als die ›Erfahrung‹ einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers beschreiben würde. Denken lässt sich beispielsweise an die Fähigkeit, bestimmte Stilgesten mit Schulzugehörigkeiten innerhalb des Fachs in Verbindung zu bringen oder Verlage als Indikatoren für die Qualität einer Publikation zu lesen. Praktiken implizieren nach Reckwitz immer den Gebrauch von Gegenständen und Bewegungen von Körpern. Mit diesem Aspekt der Materialität der Praktiken ist genau jene Verschränkung der Dimensionen des Schreibens gegeben, deren Potenzial für die schreibdidaktische Forschung sich schon anhand der ›Schreibszene‹ erwiesen hat. Vom Schreiben als materialer Praktik aus gedacht, löst sich nicht nur die problematisch gewordene schreibdidaktische Trichotomie von Produkt, Prozess und sozialer Situiertheit auf, sondern es können auch mediale Aspekte und vor allem die stark vernachlässigte Körperlichkeit des Schreibens präsent gehalten werden. Was die von Reckwitz beschriebenen Subjektivierungsformen der Praktik betrifft, so sind sie für die schreibdidaktische Forschung insofern bedeutsam, als sich das wissenschaftliche Schreiben mit spezifischen Dispositionen, Haltungen und Motivationslagen verbindet und bestimmte Emotionen und Selbstbilder der Schreibenden voraussetzt bzw. hervorbringt. Dabei handelt es sich um Momente, die vor allem für die schreibdidaktische Praxis fundamentale Bedeutung haben, in der produkt- und der prozessorientierten Perspektive aber ausgeblendet bleiben. Der Aspekt der Instabilität und Veränderbarkeit der Praktiken ist aus schreibdidaktischer Perspektive in zweierlei Hinsicht wichtig: Er macht zum einen die

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historische Spezifik wissenschaftlicher Schreibpraktiken fassbar und kann hilfreich sein, wenn es beispielsweise darum geht, Plagiatsvorwürfe zu bewerten, die in längerem zeitlichem Abstand zur Erstellung der Arbeit erhoben werden. Zum anderen erweist sich die Konzeptualisierung der Veränderbarkeit von Praktiken für die Schreibdidaktik insofern als bedeutsam, als auch die Vermittlung wissenschaftlichen Schreibens an Hochschulen als Praktik betrachtet werden kann. Wenn man Reckwitz folgend die Veränderbarkeit von Praktiken durch Neuinterpretation voraussetzt, lässt sich das Handeln von Schreibdidaktikerinnen und Schreibdidaktikern als Reinterpretationsversuch bestehender Vermittlungspraktiken untersuchen. Im Folgenden möchte ich anhand eines Beispiels das Potenzial der Praxistheorie für die schreibdidaktische Forschung verdeutlichen. Als Untersuchungsmaterial ziehe ich Essays und Beiträge heran, die der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr und der Hochschuldidaktiker Joachim Stary 1999 unter dem Titel Lust und Last des wissenschaftlichen Schreibens. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer geben Studierenden Tips herausgegeben haben. Der erfolgreiche Band wurde seit seinem Erscheinungsjahr viermal wieder aufgelegt, zuletzt im Jahr 2016. Vom Genre her nehmen die Beiträge eine Zwischenstellung ein zwischen manualhaften Praktikenbeschreibungen und klassischen Egodokumenten, denn die Beiträger und Beiträgerinnen wurden dazu aufgefordert, nicht nur Tipps zum wissenschaftlichen Schreiben zu geben, also sich nicht nur normativ zu äußern, sondern vor allem dazu, ihre eigenen Schreiberfahrungen mit den Leserinnen und Lesern zu teilen. Die formale Mannigfaltigkeit der 22 für den Band verfassten Texte ist groß: Neben den Essays stehen mehrere Beiträge in Briefform, ein Dialog und sogar eine Parabel. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort schreiben, lässt sich aus den Texten durchaus »kein mühelos benutzbarer Fahrplan fürs Schreiben zusammenstellen« (Narr/Stary 2016: 10), denn es überwiegen Berichte vom und Reflexionen und Zugänge zum jeweils eigenen wissenschaftlichen Schreiben der Beiträgerinnen und Beiträger. Das gewählte Material gibt den Blick auf eine spezifische historische und kulturelle Form des wissenschaftlichen Schreibens frei, denn die Texte stammen durchgängig von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum, die zum Großteil in den 1930er und 1940er Jahren geboren sind. Zahlenmäßig überwiegen die Beiträge von Männern bei weitem, von den 22 Texten stammen nur drei von Frauen. Für die Analyse habe ich 15 dieser Beiträge herangezogen, nämlich jene, die fachübergreifend gehalten sind oder sich auf das Schreiben in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern beziehen. An die Texte habe ich zum einen die an Andreas Reckwitz angelehnte Frage herangetragen, ›Was genau tun, können, wissen Personen, die wissenschaftlich schreiben?‹ Diese Frage soll dabei helfen, Teil- oder Mikropraktiken des geschilderten Schreibens und das in ihnen enthaltene implizite Wissen zu identifizieren. Zum anderen habe ich die kulturellen Codes und Subjek-

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tivierungsformen betrachtet, die in der Praktik des wissenschaftlichen Schreibens der Beiträgerinnen und Beiträger wirksam sind. Nur teilweise berücksichtigt habe ich den Materialitätsaspekt; denn zum einen wird die mediale Dimension wissenschaftlichen Schreibens derzeit schreibdidaktisch umfassend beforscht und zum anderen spielt zwar im Folgenden der Aspekt der Körperlichkeit in rein physischer Hinsicht nur eine untergeordnete Rolle, fließt jedoch über die psychischen Grundlagen der Subjektivierungsformen indirekt ein. Wendet man sich den Teil- oder Mikropraktiken zu, aus denen sich die Schreibpraktik der Beiträgerinnen und Beiträger zusammensetzt, so scheint eine Bemerkung von Georg Rückriem zunächst auf gewohnte schreibdidaktische Kategorien zu verweisen. Rückriem stellt fest, er habe davon profitiert, das wissenschaftliche Schreiben als System von Handlungen bzw. als einen Komplex von Operationen zu betrachten, der sich in viele isolierbare Elemente wie Notieren, Sortieren, Klassifizieren, Entwerfen, Entwickeln, Strukturieren, Gliedern, Kommunizieren, Beurteilen, Korrigieren etc. zerlegen lässt. (Rückriem 2016: 125) Diese einzelnen Fertigkeiten, so führt er weiter aus, können durch konsequentes Üben erlernt werden und schließen sich dann zu einer automatisierten Routine zusammen (vgl. Rückriem 2016: 126). Soweit befindet sich Rückriem noch ganz in Übereinstimmung mit Einsichten der prozessorientierten Schreibdidaktik. Seine Ausführungen nehmen jedoch dann eine überraschende Wendung. Aus Sicht der schreibdidaktischen Prozessorientierung stünde zu erwarten, dass Rückriem die erwähnten Teilpraktiken im Folgenden ausführlich beschreiben und charakterisieren würde, um sie den Leserinnen und Lesern näherzubringen. Er tut allerdings nichts dergleichen, sondern belässt es bei der zitierten Aufzählung, um sich sofort ganz anderen Dimensionen des Schreibens (übrigens u.a. seiner ›psychischen Seite‹) zuzuwenden. Auch sonst bedenkt unter den Beiträgern und Beiträgerinnen kaum jemand diese Teilfertigkeiten mit mehr als eher beiläufigen Nebenbemerkungen. Dies legt die Vermutung nahe, dass für den Erwerb wissenschaftlicher Schreibpraxis weniger die tatsächliche Einübung einzelner Fertigkeiten entscheidend ist, als das pure Wissen um die Zerlegbarkeit des Schreibens in einzelne Teilschritte und -handlungen. Wenn das Entscheidende für das Ausüben der Praktik ›wissenschaftlich Schreiben‹ nun aber nicht allein die Beherrschung von Arbeitsschritten wie Entwickeln einer Fragestellung, Klassifizieren, Strukturieren etc. ist, stellt sich relativ drängend die Frage, welche Teil- oder Mikropraktiken es dann sind, die in den Beiträgen als bedeutsam hervortreten. Interessanterweise kristallisieren sich vor allem Aspekte heraus, die die affektive und soziale Seite des Schreibens betreffen. Ich greife zwei Beispiele heraus: Die erste Mikropraktik könnte man als die Fertigkeit bezeichnen, sich den Gegenstand, über den man schreibt, bedeutsam zu machen;

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die zweite ließe sich beschreiben als das Zurechtkommen mit dem Wechselspiel von Ermächtigung und Unterwerfung. Fast alle Beiträgerinnen und Beiträger betonen als absolute Gelingensbedingung für das wissenschaftliche Schreiben das Generieren und Aufrechterhalten von Interesse am Schreibinhalt. So heißt es etwa bei Wolf-Dieter Narr: »Am wichtigsten ist, sich zu interessieren. Also sich in irgendeine Sache, irgendein Thema einzumischen, daran Anteil zu nehmen« (Narr 2016: 95). Diese Äußerung mag zunächst trivial erscheinen. Sie verliert aber an Trivialität, wenn man in Betracht zieht, was die Herausgeber des Bandes konkret darunter verstehen. So schreiben Narr und Stary in ihrer Einleitung, dass man, wenn man zu schreiben beginnt, etwas wollen muss (vgl. Narr/Stary 2016: 11); nötig ist also eine innere Beteiligung bzw. eine emotionale Affiziertheit, von der fast egal ist, woraus sie sich speist. Noch weiter geht Narr in seinem eigenen Beitrag, wenn er konstatiert, man müsse sich, »jedenfalls solange man an einer Sache arbeitet, deren Relevanz und die Relevanz der eigenen Bearbeitung unablässig vorgaukeln« (Narr 2016: 97). Es geht also darum, den Funken der emotionalen Affiziertheit, der Bedeutsamkeit wenn nötig auch künstlich am Leben zu halten. Für die Praxis des wissenschaftlichen Schreibens bedarf es also einer Art illusio, die es mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten gilt. Die Relevanz dessen, was man tut, darf keinesfalls infrage gestellt werden, der Zweifel würde zu einer Schwächung und einer mangelnden Bereitschaft führen, die Praktik auszuführen. Offenbar braucht man das Empfinden von Bedeutsamkeit, um sich den Anstrengungen des wissenschaftlichen Schreibens zu stellen, aber wohl auch, um die Fremdbestimmtheit und die institutionellen Zwänge zu ertragen, die dem wissenschaftlichen Schreiben inhärent sind. Letzteres ist ein Aspekt, der in den Beiträgen äußerst häufig thematisiert wird. Als Mikropraktik könnte man ihn als die Fähigkeit beschreiben, mit dem Wechselspiel von Ermächtigung und Unterwerfung zurechtzukommen, in das die Praktik des wissenschaftlichen Schreibens zwingt. Dieses Wechselspiel scheint verschiedenste Ebenen des wissenschaftlichen Schreibens zu betreffen. Es beginnt auf Ebene der Sprache bzw. des Stilgestus und reicht bis zu der Einsicht, dass es sich beim wissenschaftlichen Schreiben um eine Tätigkeit handelt, die ausgeübt wird innerhalb einer Institution und, wie es bei Rückriem heißt, »zur Beschaffung oder wenigsten Ergänzung der Subsistenzmittel« (Rückriem 2016: 115-116). Beim wissenschaftlichen Schreiben ist jedenfalls ein Dilemma auszuhalten: Man betreibt Erkenntnisproduktion, aber eben unter den Bedingungen des Wissenschaftssystems. Dieses hält auf unterschiedlichsten Ebenen (von der Sprache bis zur Epistemologie) starke Vorgaben bereit und impliziert die Einbindung in ein Machtgefüge, das Regelverstöße sanktioniert. Diese Vorgaben und Bedingungen ermöglichen einerseits das Schreiben, das Erheben der Stimme, aber sie drohen gleichzeitig auch immer die Stimme zu ersticken. Eine Beiträgerin spricht von Wissenschaftshörigkeit und Wissenschaftsmächtigkeit (vgl. Schiek 2016: 130). Wissenschaftliches

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Schreiben ermöglicht in diesem Sinne als Praktik eine Ermächtigungserfahrung, die aber ohne Unterwerfung nicht zu haben ist. Was nun abschließend die kulturellen Codes und Subjektformen betrifft, so fällt an der Textoberfläche der Beiträge zunächst folgende Dreiecksbewegung auf: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisieren allesamt die Leiden, Mühen, Anstrengungen, narzisstischen Kränkungen, die das wissenschaftliche Schreiben bereithält. Geschildert werden Erfahrungen »der Leere, des Nichts, des Alleinseins« (Krippendorff 2016: 28), die Rede ist von »harter und mühsamer Anstrengung« (Rückriem 2016: 119) oder »Selbstvergewaltigung« (Emrich 2016: 55). Als Gegenmittel empfehlen die Beiträgerinnen und Beiträger Selbstdisziplin, Selbstkontrolle, Gewissenhaftigkeit, Ernsthaftigkeit und strenges Berufsethos, wobei auch hier bei der Begriffswahl große Übereinstimmung herrscht. Schließlich schildern sie immer wieder, wie man über das Aushalten der Leiden und über den Prozess der Selbstdisziplinierung beim wissenschaftlichen Schreiben zu einer ganz anderen Art von Erleben kommt; ein Erleben, das die Beiträgerinnen und Beiträger auffällig häufig mit Wortmaterial aus dem semantischen Feld der Libido/Lust beschreiben. Von »befriedigenden Erfahrungen« (Krippendorff 2016: 30) wird gesprochen, von einem »Pakt, der die Libido des genußsüchtigen und zur Faulheit neigenden Selbst nicht untergehen läßt« (Emrich 2016: 57) und von »Sinnlichkeit im Text, Lust am Text, Lust am wissenschaftlichen Schreiben« (Artène & Artegrame 2016: 67). Daran ist bemerkenswert, dass hier offenbar einerseits Haltungen, Werte und Einstellungen wie Selbstdisziplin, Gewissenhaftigkeit, Ernsthaftigkeit, Berufsethos eine Rolle spielen, die deutlich aus dem klassischen bürgerlichen Tugendkatalog stammen, ja sogar zurückverweisen auf die protestantische Ethik, wie wir sie seit Max Weber zu verstehen gewohnt sind (planmäßige Reglementierung der Lebensführung, Verstärken der Arbeitsanstrengung als Reaktion auf Zweifel, bestimmte Diätetiken etc.) (vgl. Weber 2017: 180-198). Andererseits finden wir eine Betonung des intensiven inneren Erlebens, das das wissenschaftliche Schreiben ermöglicht: Es reicht von Leiden, Angst, Einsamkeitsgefühlen bis zu euphorisierenden, tranceartigen Zuständen. Es scheint also, als würde die Praktik des wissenschaftlichen Schreibens zwei scheinbar konträre Subjektivierungsformen bereithalten: das der bürgerlichen Disziplin, Ernsthaftigkeit und Moderatheit einerseits und andererseits die romantische Subjektform, für die inneres Erleben und affektive Intensität konstitutiv sind (vgl. Reckwitz 2006: 97-266). Beide Subjektformen kommen zum Tragen und müssen, auch das wird in den Beiträgen gesagt, immer wieder aufs Neue ins Gleichgewicht gebracht werden. Für die Beiträgerinnen und Beiträger scheint die Attraktivität der Praktik des wissenschaftlichen Schreibens darin begründet, das in ihr beides zu haben ist: hohes bürgerliches Ethos und das mit ihm verbundene Sozialprestige wie auch

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die Erlebnisintensität und die emotionalen Grenzerfahrungen des romantischen Künstlersubjekts. Die Analyse der Beiträge aus dem Band Lust und Last des wissenschaftlichen Schreibens ergibt das Bild einer historisch und kulturell sehr spezifischen Ausformung wissenschaftlicher Schreibpraxis. Es handelt sich um die Art und Weise, wie Forschende das wissenschaftliche Schreiben betrieben und empfunden haben, die in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind und ihre wissenschaftliche Laufbahn vor 1968 in einem ausnehmend hierarchisch und elitär geprägten Universitätssystem begonnen haben. Zweifellos würde sich ein anderes Bild ergeben, wenn man Schilderungen untersuchen würde, die etwa in den 1970er Jahren geborene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von ihre Schreibpraxis geben. Mit höchster Wahrscheinlichkeit würden diese Praxisbeschreibungen Spuren jüngerer soziokultureller Entwicklungen aufweisen. Erkennen ließen sich vermutlich Spuren des Übergangs von der Ordinarien- zur Gremienuniversität, der zunehmenden Verbreitung projektorientierter Arbeitsformen oder einer aus größerem Wertepluralismus resultierenden geringeren Bereitschaft, sich überkommenen Normen zu unterwerfen. Mithilfe der praxeologischen Perspektive lassen sich also einerseits Einsichten in historisch spezifische Ausformungen wissenschaftlichen Schreibens gewinnen; andererseits zeigt sich auf einer theoretisch-methodologischen Ebene, wie sehr kognitive, affektive und soziale Aspekte beim wissenschaftlichen Schreiben ineinandergreifen. Der praxeologische Zugang ermöglicht es damit, grundlegende Dimensionen des wissenschaftlichen Schreibens in ihrer Verwobenheit zu betrachten und auch bei der Fokussierung eines einzelnen Aspekts die anderen präsent zu halten. In diesem Sinne kann die interdisziplinär inspirierte Entlehnung eines integrativen kultursoziologischen Theoriekonzepts die schreibdidaktische Forschung dazu anregen, Fragen von implizitem Wissen, Affektivität und sozial wie kulturell geformten Subjektivierungsweisen genauer zu fassen und in ihrem Wechselspiel in den Blick zu nehmen.

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Schreiben und Emotion Vorschläge für ein literaturwissenschaftliches Modell Susanne Knaller (Graz)

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Modelle ästhetischen Schreibens

Aus Sicht der Literaturwissenschaft bieten die Modelle der Schreibprozessforschung viele sinnvolle Anhaltspunkte für ihre Fragestellungen. So greifen schreibtheoretische Ansätze vielfach auf Roland Barthes’ Begriff der écriture zurück,1 um auf affektive und körperliche Momente der Textproduktion und die Handhabung von Schreibwerkzeugen einzugehen, während sie sich gleichzeitig damit von einer nur metaphorischen Verwendung von Schreiben (im Sinne von Stil, als je besonderes Verfahren) absetzen können.2 Folgende Aspekte lassen sich mit Barthes’ écriture in der Literaturwissenschaft weiter verfolgen: ›Schreiben‹ als ästhetisches Moment; die Diskussion von Gattungs- und Textgrenzen; das Verhältnis von Schreiben und mitlaufendem Leben; Schreiben als kognitiv-physischer Prozess und als eine Praktik; die Relevanz von Texten des Schreibens (Hefte, Tagebücher, Notizen usw.); die Verhandlung von Autor-, Werk- und Textbegriffen; die Intransitivität von Schreiben; die affektive Komponente des Schreibens (vgl. Barthes 1984b: 344-345). Grundlegend für den écriture-Begriff aus medialer Sicht ist Barthes’ Entwurf eines Schreibens, in dem sich das Subjekt unmittelbar zeitgleich mit dem Schreiben 1

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Barthes verwendet den Begriff immer wieder (vgl. Barthes 1984a und 1984b). Neben Barthes’ écriture lassen sich als Wegbereiter der Schreibforschung Kittlers Aufschreibesysteme (vgl. Kittler 1985) nennen und die critique génétique (vgl. Hay 1984; vgl. Grésillon 1997, 1999, 2012). Die Forschergruppe um Martin Stingelins Projekt »Zur Genealogie des Schreibens« betont den Konnex von Schreiben und Leben (oder Schreiben als Leben). Dieses prozessuale Moment inkludiert die Schreibbedingungen (biografisch, institutionell, technisch-materiell, poetologisch) und die Texte selbst (vgl. Stingelin 2004, 2012; Zanetti 2012a, 2012b, 2012c). Vgl. neuerdings etwa die Beiträge in Lubkoll/Öhlschläger 2015a, Stingelin 2004: 13 und Brink/Sollte-Gresser 2004: 18-19. Campe erkennt in Barthes’ écriture-Begriff folgende Aspekte der Moderne: die Auflösung der Grenze literarischer Gattungen, insofern als Schreiben als Prozess und Praktik auch in nicht-künstlerische Bereiche Einzug gehalten hat; als Spur einer Praktik und damit einer Neuaufstellung des Autors gleichkommend; als differentielles Spiel des Textes selbst (vgl. Campe 1991: 759).

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konstituiert und – wie er es nennt – in Mitleidenschaft zieht (vgl. Barthes 1984a: 30; vgl. für die dt. Ü.: Barthes 2006a: 27). Weltbegriff wie Selbstbegriff sind nur über einen medial selbstbewussten, darstellerischen Akt möglich: »Contrairement à l’illusion courante des autobiographies et des romans traditionnels, le sujet de l’énonciation ne peut jamais être le même que celui qui a agi hier: le je du discours ne peut plus être le lieu où se restitue innocemment une personne préalablement emmagasinée«3 (Barthes 1984a: 24). Auf diesem écriture-Begriff baut das von Rüdiger Campe (1991) entwickelte Modell der ›Schreibszene‹ auf, die schon in Barthes’ Konzept enthalten ist. Mit Szene meint Campe eine Bewegung zwischen Körper und Werkzeug/Instrument/Medium, zwischen literarischen Gattungen wie zwischen Text und Kommentaren/Kritik und schließlich das differentielle Spiel des Textes (der damit kein festes Produkt eines Autors ist) (vgl. Campe 1991: 759). Martin Stingelin erweitert diesen Vorschlag um das Konzept der ›Schreib-Szene‹, die im Text selbst das Ensemble der Schreibszene in all ihrer Heterogenität und Nicht-Stabilität problematisiert (vgl. Stingelin 2004: 15). Dabei entsteht eine explizite Inszenierung von Schreiben. Berücksichtigt man, dass es sich dabei um ein textkonstituierendes Moment handelt, das auch kontextualisiert und konkret im Hinblick auf dargestellte Rollenverteilung und beteiligte Institutionen wie Medien, Körper- und Medienspuren usw. untersucht werden kann, lassen sich Schreib-Szenen jeweils analysieren, historisieren und typologisieren. Denn Schreiben ist Resultat institutioneller, medialer und physischer Bewegungen. Dahinter steht ein Arbeitsprozess, der sich medial in Spuren wie Vorarbeiten, Entwürfen, Fassungen, Druckfahnen zeigt. Zu den rhetorischen Kategorien des Änderns wie Hinzufügen, Streichen, Ersetzen, Umstellen kommen Begleitumstände wie Schreibgeräte, -medien, -gewohnheiten, Biografien, Ästhetikkonzepte, politische Einstellungen (vgl. Stingelin 2004: 15-16). Das alles bündelt Stingelin in sechs Elemente, aus denen die historisch wie individuell singulären Schreibszenen hervorgehen: Sprache (Semantik des Schreibens), Instrumentalität (Technologie des Schreibens), Geste (Körperlichkeit), Rahmen, Rollenverteilung und Regie (vgl. ebda.: 8). Die literaturwissenschaftliche Tauglichkeit des Begriffs ›Schreibszene‹ prüft auch der Sammelband von Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger, wobei es in den Beiträgen vor allem um die »Kontaktzone zwischen Autor, Schrift und Text« (Lubkoll/Öhlschläger 2015b: 9-10) geht, in die Leserinnen und Leser unweigerlich involviert wären. Gerhard Neumann, dem der Band als Festschrift gewidmet ist, definiert z.B. den Begriff als (grundlegendes kulturelles, soziales) Ereignis, als

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»Im Gegensatz zur gängigen Illusion der Autobiographien und der traditionellen Romane kann das Subjekt der Äußerung niemals mit dem identisch sein, das gestern agiert hat – das ich des Diskurses kann nicht mehr der Ort sein, an dem sich eine zuvor angesammelte Person unbedarft wieder zusammenfügt« (Barthes 2006a: 24).

Schreiben und Emotion

Raumgefüge, als ›eingebettet‹ in einen Schreibtisch, als theatrale Szene und als Spiel. Schreibszenen beschreibt er großflächig als Denk- und Deutungsräume innerhalb einer Kultur (vgl. Neumann 2015: 25-29). Die skizzierten Ansätze eröffnen u.a. drei Möglichkeiten: 1) zum einen eine neue Auseinandersetzung mit Begrifflichkeiten wie Autor/Autorin, Werk und Text, also theoretische Fragestellungen. Sandro Zanetti z.B. kann feststellen, dass tradierte Werkkomponenten wie Strukturiertheit, Gattungszugehörigkeit und Individualität überdacht werden müssen (vgl. Zanetti 2012: 245). Damit löst sich für ihn auch die Orientierung auf das Produkt Text auf, die seit dem 18. Jahrhundert (im materiellen wie immateriellen Sinn) entsteht. Zanetti versteht unter ›Werk‹ gleichermaßen die Arbeit an einem Produkt wie das im Verlauf Produzierte (vgl. ebda.: 247). Die Schreibprozessforschung interessiert sich für den gesamten Prozess des Schreibens. Sie zeigt auch, dass ästhetische Momente nicht streng vom produktiven (Lebens-)Handeln getrennt werden können. Dieser Zugang ermöglicht 2) wiederum einen offenen, nicht nur auf die Künste beschränkbaren Ästhetik-Begriff. Mit diesem gehe ich davon aus, dass gesellschaftliche und kulturelle Praktiken immer auch ein physisches, sinnliches, affektives, materiales Wahrnehmen und Handeln implizieren. Ein solcher Ästhetik-Begriff berücksichtigt also die wechselseitigen Relationen der sprachlich organisierten Texte und sozialen Felder und ihrer Praktiken und Wissenssysteme. Schreiben ordnet sich in diesen Ästhetik-Komplex ein und ist damit auch im künstlerischen Kontext von nicht-künstlerischen Praktiken und Vorgängen nicht trennbar, wie umgekehrt nicht-künstlerische Praktiken von künstlerischen nicht isoliert stehen. Für die Literaturwissenschaft bedeutet das eine Verlagerung des Interesses von besonderen Merkmalen als Konstituens von Literatur hin zu Prozessformen. Literatur wird damit weder – wie Gérard Genette es nennt – konstitutiv (essenzialistisch) noch konditionalistisch (vom individuellen Geschmacksurteil oder Lustempfinden abhängig) definiert, sondern umfänglich als produktives, formales, mediales wie rezeptives Ereignis in Prozessen beschreibbar (vgl. Genette 2004: 94; vgl. Knaller 2018: 195). Die relationalen Bewegungen zwischen diesen Instanzen sind mehrfach bestimmt. Sie betreffen diskursive und formale, poetologische und empirische, sprachliche und nicht-sprachliche Momente wie solche, die sich weder in das eine noch das andere einordnen lassen. Es muss folglich statt von einem Literatur- von einem Literarizitätsbegriff ausgegangen werden, der sich nicht an tradierter werkhafter Gestalt oder spezifischen ästhetischen Wesensformen orientiert, sondern – wie Genette es ausdrückt – danach fragt, wann und wie Literatur geschieht und nicht, was Literatur ist (Genette 2004: 94).4

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Auch Jacques Rancière bietet mit seinen Untersuchungen zum ästhetischen Regime der Moderne einen Anknüpfungspunkt. Dieses zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass es Kunst und

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Ein solcher Blick auf Literatur und ›Schreiben‹ erlaubt neben den skizzierten theoretischen Überlegungen zum anderen auch, sich 3) den Herausforderungen der Literatur selbst zu stellen. Richtet man den Blick auf Literatur in ihrem Zusammenhang mit (medialen) Kulturtechniken und Praktiken, so werden nicht nur die gegenwärtigen Texte in ihrem Spiel mit dokumentarischen, autobiografischen und fiktiven Komponenten analytisch greifbar. Es werden Arrangements und Verschränkungen von Alltags-, künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken und Formationen sichtbar. Damit zeigt sich, dass ein solcherart gefasster literaturwissenschaftlicher Zugang auch im strengen Sinn nicht-literarische Texte neu lesen lässt. Das heißt, die Orientierung an literaturwissenschaftlicher Schreibprozessforschung ermöglicht es, sich in die Analyse nicht-literarischer Texte produktiv einbringen zu können und auch strenge Kategorisierungen in Gattungen und Textsorten in Frage zu stellen, zu diskutieren und gegebenenfalls umzuschreiben. Die literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung aus der Perspektive praxeologischer Zugänge ermöglicht damit einen Textbegriff, der weder von einer absoluten Besonderheit der Systeme (etwa der Künste oder der Wissenschaften) noch von einer geschlossenen Begriffstrias Autorin/Autor, Leserin/Leser und Werk/Text ausgeht. Daraus folgt zunächst, dass sich Textanalysen nicht auf Formalismus oder Ideen-Hermeneutik beschränken müssen, sondern bei einem Analyseprogramm ansetzen können, das Texte als eine Assemblage von Materialitäten, Formationen, Praktiken und Diskursen versteht. Ein solcher Zugang macht deutlich, dass Texte materiale, mediale, diskursive, formale und in Praktiken eingebundene Komplexe darstellen. Auf diese Weise wird die Ebene der Produktion literaturwissenschaftlich neu fassbar und geht über Fragen nach den Funktionen und Wirkungen von Autorschaft und die Kategorie Autor hinaus, wie sie biografisch-positivistische, psychoanalytische, semiotische und empirische Modelle mit unterschiedlichen Zielen und Fragestellungen untersuchen. Der Blickwinkel der Schreibprozessforschung und der praxeologischen Ansätze eröffnet darüber hinaus einen Blick auf Assemblagen von ›Schreiben‹, die literarische Texte bedingen bzw. sie als solche erkennbar und lesbar machen. Um auf die Frage von produktivem (ästhetischem) Schreiben genauer einzugehen, wende ich mich im Folgenden einem Aspekt zu, der die skizzierten Ansätze nicht nur weiter verdeutlichen kann, sondern auch eine Leerstelle der Schreibprozessforschung aufgreift: die Frage nach dem Stellenwert von Emotionen im Prozess des Schreibens, ihre ästhetische Kraft und poetologischen Möglichkeiten.

Nicht-Kunst in ein unabdingbares Spannungsverhältnis setzt (vgl. Rancière 2000: 14, 2008: 27).

Schreiben und Emotion

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Emotionen im Prozess ästhetischer Textproduktion

Grundsätzlich sind im Kontext der Emotionsfrage von Seiten der Literaturwissenschaft mehrere Interessenslagen möglich: a) die (historische, systematische und/oder analytische) Untersuchung von Emotionskonzepten in ästhetischen Theorien und in Poetiken b) die (historische, systematische und/oder immanente) Analyse von Emotionskonzepten und -verfahren in künstlerischen und literarischen Texten; c) die rezeptive und Wirkungsseite; d) die (anthropologisch, kulturell, neurologisch, phänomenologisch, biologisch und/oder psychologisch motivierte) Annahme von Emotionen in Produktionen von künstlerischen/literarischen Arbeiten. Produktive Emotionsebenen gehören dabei zu den am wenigsten untersuchten Feldern. Es lassen sich im Hinblick auf die produktiven Ebenen zwei Kategorien unterscheiden: 1) die im Schreibprozess jeweils spezifisch generierten und erfahrenen sowie die 2) allgemeinen produktionsrelevanten Emotionsmodelle. Erstere können durch direkte empirische Experimente, durch Dokumente, Selbstund Fremdbeobachtungen sowie über oftmals stark spekulative Rückschlüsse auf Basis von allgemeinen sozialen Mustern, biografischen Umständen, poetologischen Eigenheiten usw. benannt werden. Zweitere, die produktionsrelevanten Emotionsmodelle, sind von allgemeiner Natur und daher abhängig von jeweiligen epistemologischen Vorgaben und zeitspezifischen ästhetischen Modellen. Daher ist im Hinblick auf produktive Emotionen immer auch zu klären, welche allgemeinen Emotionsbegriffe in den künstlerischen Arbeiten zum Ausdruck kommen, in welchem Verhältnis sie zu formalen Textstrategien und mit der jeweilig von der Autorin oder dem Autor verfolgten Poetik stehen. Im Kontext von literarischen Texten geht es um ästhetisch reflektierte Versprachlichungen von Emotionsmodellen und Gefühlsparadigmen. Es gilt daher, eine »poetics of emotion« (Andringa 2011: 152) herauszufiltern, die sich – wie Emotionsmuster generell – nicht auf einzelnen oder besonderen formalen wie inhaltlichen Ebenen realisiert oder auf solche reduzieren lässt. Was in der Literatur zur Sprache kommt, ist das Auslösen, Erfahren, Benennen, Beschreiben, Verstehen, Regulieren, Kodifizieren von Emotions- und Gefühlsmodellen wie ihrer Praktiken (vgl. Knaller 2017: 20). Emotionen und Gefühle sind niemals, so eine grundlegende These meiner Überlegungen, Einzelphänomene, sondern mehrfach stratifizierte und relationierte Komplexe. Emotionen, so eine erste Definition, sind stets an Wissen, lebensweltliche wie lebenspraktische Handlungen und Bestimmungen gebunden. Sie haben ebenso eine konzeptuell-abstrakte Grundlage wie praktische Wirksamkeit. Das erklärt, warum literarisch präsentierten Emotionen ein starkes produktions- wie rezeptionslenkendes Potenzial inhärent ist. Von besonderem Interesse sind daher die Funktionen von Emotionen im Kontext ihrer jeweiligen Produktion wie Rezeption, und damit das reziproke Verhältnis zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Bestimmungsgründen. Ästhetische Emotionen

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wiederum werden auf Basis nicht-ästhetischer Emotionscodes, -formeln und -muster aufgebaut, sie bilden diese mit aus wie sie ihnen entgegenstehen, um so eine Neubestimmung von Emotionen und den damit verbundenen Diskursen/Modellen zu ermöglichen. Emotionen lassen sich deshalb aus dieser Sichtweise als Verhaltensmuster bestimmen, die innerhalb einer Gemeinschaft eng an den Erwerb von kommunikativen Kompetenzen gebunden sind, da Emotionsäußerungen durch die Ausdrucksfähigkeit einer Subjektpsyche wie durch reglementierende soziale und mediale Rahmenbedingungen bestimmt werden. Für die Literaturwissenschaft bedeutet das, komplexe produktive wie rezeptive Verstrickungen von Emotionen in psychophysische, epistemologische, praktische wie formale Bedingtheiten und deren literarischer Behandlung begreifen zu müssen (vgl. Knaller 2017: 18).

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Emotionen und der Prozess des (ästhetischen) Schreibens

Um der hier gestellten Frage nach den theoretischen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Schreibprozessen und Emotion nachgehen zu können, will ich zunächst das in diesem Komplex beobachtbare enge Verhältnis zwischen ästhetischen und lebensweltlichen Realitätsebenen betonen. Auf der Ebene Text müssen für künstlerisch generierte Objekte Voraussetzungen geschaffen werden, welche die emotionale Reaktion von Romanfiguren nachvollziehbar machen. Die Bedingungen dafür sind denen der empirischen und Alltagswelt ähnlich: Für Angst, Liebe, Hass, Neid, Schuld muss es Paradigmen geben, die diese generieren und als solche erkennen lassen. Ronald de Sousa hat aus einer kognitionsphilosophischen Perspektive dafür vorgeschlagen, konkrete und formale Objekte zu unterscheiden. Konkrete Objekte benennen die Auslöser (seien sie empirisch oder abstrakt, materiell oder intentional), formale Objekte dagegen sind eine zumindest für den emotionalen Verlauf des Moments nicht-kontingente Bewertung und Beschreibung konkreter Objekte. Er definiert formale Objekte so: »For each emotion, there is a second-order property that must be implicitly ascribed to the motivating aspect if the emotion is to be intelligible. This essential element in the structure of each emotion is its formal object« (De Sousa 1987: 117). So ist z.B. ›Wahrheit‹ das formale Objekt von ›Überzeugung‹, während ›Begehren‹ das von ›Wünschen‹ ist. Mit dem für Emotionszuschreibungen benötigten Vokabular und Begrifflichkeiten werde man aber erst durch sogenannte Schlüsselszenarien (paradigm scenarios, De Sousa 1987: 72) vertraut, die Zuordnungen, Bewertungen, Funktionen von Emotionen und im Grunde Emotionen als solche ver-

Schreiben und Emotion

stehen, bewerten und auch (re)produzieren lassen5 (vgl. Knaller 2017: 20-21). Paradigm scenarios archivieren, organisieren und aktivieren Vokabular und Praktiken. Sie führen auch zusammen, was Andreas Reckwitz den ›affektiven Habitus‹ (Schemata) und ›affektiven Stil‹ (Verhaltensformen) nennt (vgl. Reckwitz 2012: 255-256; Reckwitz 2016). Nun sind die Künste Beobachtungen dieser Schlüsselszenarien und ihrerseits abhängig von Bedingungen für ihre Beobachtungen. Insofern geht es im Schreibprozess nicht nur um Emotionen aus lebensweltlichen und kulturellen Schlüsselszenarien, sondern auch um ästhetische Paradigmen. Auch geht es in den Künsten nicht nur um Inhalte, also um Emotionen als körperliche oder kognitive Erfahrungen und Urteile oder um selbst- und fremdreferentielle Reaktionen von Figuren. Emotionen müssen hier auch stets eine besondere Form erhalten und sich in ein Verhältnis zu bestehenden und möglichen ästhetischen (Emotions-)Paradigmen/Poetiken setzen. Das ist der methodologisch am schwierigsten zu lösende Teil. Ästhetische Emotionen (als Inhalt, Form und im Schreibprozess) dienen nicht wie lebensweltliche und kulturelle in erster Linie der Kommunikation, der Fremd- oder Selbsteinsicht, der Bewältigung einer und der Reaktion auf eine Situation, dem Urteil. Sie beobachten Szenarien und deren Vokabular – die legitimierenden Diskurse wie auch die aus diesem Netzwerk resultierenden kulturellen, ökonomischen, politischen, machtvollen, wissenssteuernden Verhältnisse sowie den möglichen ästhetischen Umgang damit. Die Künste positionieren sich deshalb mit Emotions- und Gefühlsdarstellungen gleichermaßen epistemologisch wie poetologisch. Im Schreibprozess muss daher auf Emotionsparadigmen, Schlüsselszenen und ästhetische Emotionsmuster zurückgegriffen werden. Dem liegt ein Spiel mit der Wiedererkennung des Normalen/Vertrauten zugrunde, welches von einer zustimmenden oder ablehnenden Haltung gegenüber den Normen getragen wird. Deshalb sind ästhetisch generierte Gefühle in Kunst und Literatur niemals schlichte Widerspiegelungen oder Abbildungen lebensweltlicher Gefühle, sondern die Künste vermitteln Zustimmung oder Ablehnung, Rekonstruktionen oder Neu-

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An dieser Stelle lässt sich der Ansatz von Christiane Voss (vgl. Voss 2004) anführen. Sie zählt zur Beschreibung eines vollen Begriffs der Emotion intentionale (Repräsentationen), behaviorale (Handlungen), körperlich-perzeptive und hedonistische (individuell bestimmte subjektive) Komponenten. Diese Einheiten werden in der Auffassung von Voss narrativ verknüpft und erhalten dadurch ihren besonderen semantischen, kommunikativen Wert (vgl. Voss 2004: 185). Voss geht nicht davon aus, dass Gefühle stets schon semantisch aufgeladen sind, sondern versteht sie als Zusammenspiel von vorsprachlichen, körperlichen Erfahrungen und narrativer Einbettung, das es schrittweise zu erarbeiten gilt. Es sind Konstellationen, die zeitlich begrenzte, perspektivierte, partikuläre Sachverhalte betreffen.

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anordnungen von mit Emotionsbegriffen verbundenen Diskursen und ihres Vokabulars6 (vgl. Knaller 2017: 21-22). Es bietet sich daher an, Fragen im Hinblick auf das Verhältnis von Produktion und Emotion mit Blick auf den Komplex ›Schreiben‹ weiter zu verfolgen. Da mit dem Schreibbegriff die Produktion von Literatur als Prozess und als eine Praktik jenseits von rein semantischer Textarbeit verstanden wird, lassen sich die im Zusammenhang mit Emotionen stets engen Relationen von lebensweltlichen und ästhetischen Realitätsebenen beobachten. Denn schreibproduktive Emotionen bilden ein Interface zwischen kulturellen Handlungsräumen, zwischen den medialen Momenten des Schreibens, des Körpers und des Wissens, zwischen psychophysischem und sozialem Leben. Als psychophysischer Vorgang ist Schreiben an Emotionen als Voraussetzung für Selbst- und Fremderfahrungen, Urteile, Wertungen, Verstehen und Wahrnehmung geknüpft. Als Kulturtechnik ist es an Medien, Techniken und gesellschaftliche Vorgaben gebunden, als ästhetische Praxis von poetologischen Modellen und ästhetischen Eigenimpulsen bestimmt. Als lebensweltliche Praxis ist Schreiben schließlich von Umweltbedingungen, Kommunikationsmodellen und ökonomischen Voraussetzungen abhängig (vgl. Knaller 2017: 22-23). Ein kurzes Zwischenfazit: Künstlerischen Texten gehen – so die hier verfolgte These – aktive wie reaktive Handlungen unterschiedlicher Natur voraus, wie sie auch reaktive wie aktive Handlungen auslösen. Sie lassen sich – in Anlehnung an de Sousas Terminologie – als konkrete Objekte beschreiben, die auf formale Objekte zurückgehen und daher nur im Rahmen von verallgemeinerten Emotionsparadigmen produzier- wie rezipierbar sind. Literatur basiert sowohl im Produktionswie Rezeptionsprozess auf allgemeinen Emotionsmustern, sie geht aber gleichzeitig auf singuläre Auslöser zurück, wie sie solche bereitstellt. Das besondere Moment künstlerischer Texte ist dabei, dass sie Vorgaben nicht nur reproduzieren und wiederholbar machen, sondern immer wieder neue formieren. Sie sind im Hinblick auf ästhetische wie lebensweltliche Emotionsparadigmen daher konkrete wie formale Objekte in einem nicht auflösbaren interrelationalen Prozess. Daher sind produktive Emotionsprozesse, in denen stets Schreib- und Emotionsszenarien aufeinandertreffen, mit dem Begriff des Schreibens als Prozess fassbar. Denn Gefühle, unabdingbar im Schreiben präsent wie in den Texten selbst zur Sprache gebracht, verweisen in ihrer Eigenschaft als Bewertungen, Urteile, Einschätzungen, 6

In gemäßigten Fällen sollen Läuterungs-, Sensibilisierungs- und Aufklärungsprozesse stattfinden, in extremen Fällen der Entgrenzung von Lebenswelt und Künsten können direkte Interventionen die Folge sein. Poetiken der ersten Linie setzen auf Intensivierungen, zweitere oftmals auf zum Teil radikale Störungen der lebensweltlichen, alltäglichen wie ästhetischen Norm-Szenarien. Gerade in physischen, phänomenalen Gefühlen liegt oftmals ein (künstlerischer) Provokationseffekt durch Tabuüberschreitungen und Störungen von Erwartungshaltungen. Thomas Anz spricht in diesem Zusammenhang mit Recht davon, dass bei Artefakten Reaktionen wie Aktionen in Gang gesetzt werden (vgl. Anz 2006).

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Aktivierung wie Interpretation körperlicher und kognitiver Zustände darauf, dass künstlerische Texte auf epistemologisch und poetologisch motivierten, psychophysischen Reaktionen basieren und diese auch auslösen. Sie stehen in ihren/diesen Interrelationen in einem Spannungsverhältnis von Norm und Störung, Rolle und Aus-der Rolle-Fallen, in je unterschiedlicher Intensität, Re- und Neuformulierung.

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Texte des Schreibens (Barthes, Bon, Duras)

Die theoretischen und methodologischen Überlegungen möchte ich abschließend anhand eines Vorschlags konkretisieren. Ausgehend von dem hier verfolgten Schreib- und Emotionsbegriff lässt sich auf Texte blicken, in denen Autorinnen und Autoren (ihre) Schreibprozesse reflektieren und/oder performativ umsetzen. Dafür bieten sich mehrere Formationen an: a) Schwellentexte zwischen Fiktionalisierung, theoretischer Reflexion und performativer Umsetzung von Schreibprozessen, b) praktische Anleitungen zum Schreiben und c) explizite Darstellungen eigener Schreibverfahren in unterschiedlichen Formaten (Essay, Brief, Tagebuch etc.). All die genannten Textformen behandeln konkrete Schreibszenen, handeln von Texten und den damit zusammenhängenden Schreibprozessen. Im Folgenden ein paar Beispiele für diese grundlegenden Texte im Hinblick auf das Verhältnis von Schreiben und Emotion. Zunächst zu a) Formationen, die zwischen Reflexion und Ereignen changieren. Sie verkörpern das, was Barthes als affektbesetzt beschreibt und mit der Lust am Schreiben benennt – im ersten Zyklus seiner Vorlesungen am Collège de France definiert er Schreiben als eine Tätigkeit, in der Begehren und Praxis eins werden: Le ›Vouloir-Écrire‹ = attitude, pulsion, désir, je ne sais : mal étudié, mal défini, mal situé. Ceci bien suggéré par le fait qu’il n’existe pas de mot dans la langue pour cette ›envie‹ – ou plutôt, exception savoureuse, il en existe un, mais dans le bas latin décadent: scripturire, attesté une seule fois chez Sidoine Apollinaire, l’évêque de Clermont-Ferrand (Ve siècle) […] le vouloir-écrire ne relève que du discours de celui qui a écrit – ou n’est reçu que comme discours de celui qui a réussi à écrire. Dire qu’on veut écrire, voilà en fait la matière même de l’écriture; […] Ou encore: écrire n’est pleinement écrire que s’il y a renoncement au méta-langage ; on ne peut donc dire le Vouloir-Écrire que dans la langue de l’Écrire: c’est l’autonymie dont je parlais. (Barthes 2003: 32-33)7 7

»Das ›Schreibenwollen‹ = Haltung, Trieb, Begehren, ich weiß es nicht: wenig erforscht, schlecht definiert, schwer einzuordnen. Dafür spricht der Umstand, daß es für diese ›Lust‹ kein Wort in der Sprache gibt – oder vielmehr, köstliche Ausnahme, es gibt eines, aber nur im verfallenden Spätlatein: scripturire, ein einziges Mal belegt bei Sidonius Apollinaris, Bischof von Clermont-Ferrand (5. Jahrhundert) […]. Das Schreibenwollen fällt ganz in den Dis-

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Die Schreibszenen und Verfahren dieser Texte des Schreibens sind stets auf Emotionsszenarien hin geöffnet, lassen Schreiben und Emotion formal und reflexiv aufeinandertreffen. Daher haben diese Texte eine starke poetologische Komponente, die formal in einen ereignishaften Modus gesetzt ist. Sie gehen über ein anekdotisches, referentielles narratives Moment ebenso hinaus wie über auktoriale selbstreflexive und -referentielle Festlegungen und Subjektivierungsdiskurse. Autorschaft wird ersetzt durch Schreiben. Barthes beschreibt das in »La mort de l’auteur« als einen Wechsel der tradierten Vorstellung von Zeitverhältnissen: L’Auteur, lorsqu’on y croit, est toujours conçue comme le passé de son propre livre: le livre et l’auteur se placent d’eux-mêmes sur une même ligne, distribuée comme un avant et un après: l’Auteur est censé nourrir le livre, c’est-à-dire qu’il existe avant lui, pense, souffre, vit pour lui; il est avec son œuvre dans le même rapport d’antécédence qu’un père entretient avec son enfant. Tout au contraire, le scripteur moderne naît en même temps que son texte. […] il n’y a d’autre temps que celui de l’énonciation, et tout texte est écrit éternellement ici et maintenant. (Barthes 2002: 43)8 Die neuen Formationen ermöglichen daher, die besonderen Zeitstrukturen oder Zeitverhältnisse des Aufzeichnens, Beschreibens, Erzählens und Dokumentierens offenzulegen und zu beobachten. Sie stehen vor der Herausforderung, den Modus des Ereignens ebenso wie den Modus der Wahrnehmung in eine Form und/oder einen Begriff zu setzen. Das ist eine Voraussetzung, die auch für die Erfahrung und (Selbst-)Beobachtung von Emotionen und Gefühlen gilt, um sich überhaupt des emotionalen Moments bewusst zu werden und/oder ihn zu erkennen. De Sousas Modell reflektiert diesen Umstand, ohne dass es allerdings selbst auf formale und Zeitfragen eingehen würde. Vielmehr lässt sich nochmals auf Barthes verweisen. In seinem Essay »Écrire, verbe intransitif?« (1984a) spricht er von einer sprachlichen Zeit, deren treibender Mittelpunkt immer das Präsens der Äußerung wäre. Jedoch sei zu bedenken, dass das Präsens des Sprechenden von dem des Sprechens zu

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kurs dessen, der geschrieben hat – oder wird nur als dessen Diskurs wahrgenommen. Sagen, daß man schreiben will, wird damit selbst zum Stoff des Schreibens; […] Oder auch: Schreiben ist nur im vollen Sinne Schreiben, wenn es sich jeder Metasprache verweigert; man kann das Schreibenwollen nur in der Sprache des Schreibens aussagen; das ist die Autonymie, von der ich sprach.« (Barthes 2008: 39-40) »Der ›Autor‹ wird – wenn man denn an ihn glaubt – immer als die Vergangenheit seines eigenen Buchs angesehen. Autor und Buch siedeln sich von selbst auf derselben Linie an, die als vorher und nachher verteilt ist. […] er unterhält zu seinem Werk die gleiche Beziehung der Vorgängigkeit wie ein Vater mit seinem Kind. Der moderne Schreiber hingegen entsteht gleichzeitig mit seinem Text. […] Es gibt keine andere Zeit als die der Äußerung, und jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben.« (Barthes 2006c: 60)

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unterscheiden ist: Das Ich der Aussage ist nicht identisch mit dem Ich des Ausgesagten. Behält man diese Differenzen im Auge, gelangen im Präsens der Äußerung Ereignis und Schreiben nicht mehr zur völligen Deckung, es entsteht eine Differenz von Leben und Diskurs. Das Präsens, das Barthes auch in seinen eigenen Texten interessiert, ist das Präsens des Sprechens, das keine begriffliche oder rhetorische Fusion des Vorgängigen im Akt bewirken soll, sondern Nachträglichkeit, die paradoxal Einmaligkeit (des Ereignisses, des Individuums) und Allgemeinheit (des Diskursiven, der sprachlichen Handlung selbst) simultan hält9 (vgl. Barthes 1984a: 24). In seiner autobiografischen Arbeit Roland Barthes par Roland Barthes (1975) versucht er sich in dieser besonderen Art des Aussagens: »Je n’avais d’autre solution que de me ré-écrire – de loin, de très loin – de maintenant: ajouter aux livres, aux thèmes, aux souvenirs, aux textes, une autre énonciation, sans que je sache jamais si c’est de mon passé ou de mon présent que je parle«10 (Barthes 1995: 203). In einer Vorlesung am Collège de France schließlich entwirft Barthes 1978 ein autobiografisches Projekt, das er folgendermaßen beschreibt: »Je vais donc parler de ›moi‹. […] ce n’est personne d’autre que celui à qui nul ne peut se substituer, pour le meilleur et pour le pire«11 (Barthes 1984b: 340). Ein solcherart konzipierter Roman würde ermöglichen, was schon in Roland Barthes par Roland Barthes seinen Anfang nahm, nämlich die Einholung von Pathos und Affekt und eine gleichzeitig affektive und diskursive Form, die nur in einem Modus bewerkstelligt werden kann, der sich nicht auf eine strenge Trennung von Objekt- und Metasprache einlässt. Je me mets en effet dans la position de celui qui fait quelque chose, et non plus de celui qui parle sur quelque chose: je n’étudie pas un produit, j’endosse une production; j’abolis le discours sur le discours; le monde ne vient plus à moi sous la forme d’un objet, mais sous celle d’une écriture, c’est-à-dire d’une pratique […].12 (Barthes 1995: 346) Einen möglichen historischen Bezugsrahmen dafür bilden die Avantgarden. Produktionsästhetische Emotionen spielen hier eine geradezu formende Rolle und bilden künstlerische Arbeiten und Texte mit aus, die ein medial und formal varianten-

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Vgl. für die dt. Ü.: Barthes 2006a: 21. Vgl. dazu auch Knaller 2011. »Ich hatte nur eine Lösung: mich neu-schreiben – von weitem, von sehr weit weg – von jetzt: den Büchern, Themen, Erinnerungen, Texten eine andere Art des Aussagens hinzufügen, ohne daß ich jemals wüßte, ob ich von meiner Vergangenheit oder von meiner Gegenwart spreche« (Barthes 1978: 155). »Ich werde also über ›mich‹ sprechen. […] dieses Ich ist hier niemand anderer als derjenige, dessen Stelle auf Gedeih und Verderb niemand einnehmen kann.« (Barthes 2006b: 314) »Ich versetze mich in die Lage desjenigen, der etwas macht, und desjenigen, der über etwas spricht: Ich untersuche kein Produkt, ich nehme eine Produktion auf mich; ich hebe den Diskurs über den Diskurs auf; die Welt kommt nicht mehr in Gestalt eines Objekts auf mich zu, sondern in der eines Schreibens, das heißt einer Praxis […].« (Barthes 1978: 320)

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reiches Zusammenspiel von Schreibvorgängen und Kommentaren zeigen können. Dazu gehören neben Intertextualitäten, Selbstlesen, Eigenkommentaren auch die (Selbst-)Beobachtungen von Schreibprozessen. Dahinter steht ein Schreibprozess, der nicht mehr als ein auf ein finales Produkt orientierter Vorgang verstanden werden will. Der surrealistische Autor ist ein Dokumentarist seiner Emotionen und seiner Poetik, ein Offenleger des Schreibprozesses, ein Provokateur von Ereignissen des Schreibens und der Kunst, ein Entschlüssler des hasard, der Sprach- und Bildspuren und der unzähligen Zwischenräume in den Realitäten. Für das Format b) Schreibanleitungen lässt sich François Bon als Beispiel nennen, der in seinen Ateliers zum kreativen Schreiben den produktiven Prozess auf zwei Ebenen abhandelt (vgl. Bon 2009). Zum einen über Beispiele von Schreibprozessen und Schreibszenen in konkreten Texten von z.B. George Perec, Claude Simon und Franz Kafka. Dabei geht es Bon vor allem um Zonen der »rupture« (Bon 2009: 37) und des »risque« (Bon 2009: 169), um intensive »instants« (Bon 2009: 305), »intensité mentale« (Bon 2009: 170) und Emotionen (vgl. Bon 2009: 23, 163164). Zum anderen leiten diese in literarischen Vorlagen gestalteten Schreibszenen mitsamt der damit einhergehenden kognitiven, physischen und emotionalen Konsequenzen in eigenes, kreatives Schreiben über. Bon erfasst Schreiben dabei als eine notwendig konkrete Anbindung an Realitätserfahrungen und Erinnerungen. Die Literatur will er daher anhand ihrer Relationen zu Realitäten, der Rolle des Mentalen, der Stimme und von Bildern beschreiben und weniger nach Genres oder Epochen einteilen (vgl. Bon 2009: 8-9). Einen passenden Literaturbegriff findet Bon in Raymond Queneau: »L’enjeu: se saisir de l’immédiat pour franchir à la force du réel une porte dans l’écriture, le rythme même du réel et sa matière conditionnant la poétique instantanée du dire«13 (Bon 2009: 79). Auch hier geht es wie bei Barthes um eine Zeit des Schreibens (vgl. Bon 2009: 241) und weniger um die (Re-)konstruktion einer Geschichte oder Repräsentation. Produktionsprozesse und ihre Phasen bindet Bon an die besondere Lebenswelt des Schreibenden und provoziert mit dieser Methode die jeweiligen Spuren davon in den Texten und Entwürfen. Schreib- und Emotionsszenarien sind hier beobachtbare Grundlage für sprachgeleitete Kreativität wie auch den sprachlichen Ergebnissen selbst inhärent. Die Wechselwirkung oder Relationierung von Verfahrensprozessen und Texten, von Schreib- und Emotionsszenarien sind in Arbeiten zum kreativen Schreiben gut beobachtbar. Denn diese Anleitungen zeigen auch die jeweils unterschiedlichen poetologischen Umgangsweisen mit Emotionen und die Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden können. Emotionen und Schreiben enthalten z.B. bei Bon immer auch ein die sozialen Verhältnisse beobachtendes Moment. Das 13

»Das Spiel: das Unmittelbare ergreifen, um mit der Kraft des Realen eine Tür im Schreiben zu übertreten, der Rhythmus des Realen und sein Material bestimmen die Augenblickspoetik des Sagens.« (übersetzt von S.K.)

Schreiben und Emotion

gelingt gerade durch die experimentelle Arbeit an der Sprache und der eigenen Lebenswelt. Konkret inszenierte Realitätswahrnehmungen werden auf diese Weise zu Sprachexperimenten und normbrechenden Perspektiven, wie sie subjektive autobiografische Aspekte in dokumentarische umwandeln und damit die konkrete politische und soziale Lebenswelt treffen. Das Format der c) expliziten Darstellung von Schreibverfahren und Schreibszenen lässt sich abschließend an Marguerite Duras’ Essays zeigen, die in Écrire versammelt wurden (vgl. Duras 1993). Diese Texte zählen zu den letzten zu Lebzeiten veröffentlichten und enthalten Schreibreflexionen sowie nachträgliche schriftliche Umsetzungen von Interviews, Gesprächen und Notizen – auch zu Filmen, in denen Duras selbst erzählt (»La mort du jeune aviateur anglais«). Im titelgebenden Essay beschreibt Duras in kurzen Absätzen zentrale und konkrete Schreibszenen, die im Besonderen dem Verfassen von Le ravissement de Lol V. Stein und Le Vice-Consul vorausgingen. Diese in ihren räumlichen, medialen und physischkognitiven Dimensionen konkret beschriebenen Schreibszenen werden als unabdingbar an Emotionsszenarien gebunden. Letztere dienen geradezu als Voraussetzung für das Schreiben. Emotionen sind hier nicht nur die Stimmungsbasis. Auch ihre Reflexion, das Beobachten und die Konsequenzen von Emotionsszenarien für den Schreibprozess stehen im Zentrum des Essays. Die Szenarien sind dabei immer auf das Schreiben gerichtet und erlauben das, was Duras als Grundlage ihres Schreibens erkennt: die »écriture seche« (Duras 1993: 24), den Verzicht auf eine Programmation, auf Motivketten, auf Referenzialität. Die individuell erfahrenen und reflektierten Emotionen und damit verbundene Gemütslagen (peur, solitude, douleur, faim, désespoir, amour, bonheur) werden, wie bei Bon, erst im Kontext des Allgemeinen (der Geschichte, der Gesellschaft, der Politik) literarische Ereignisse. Diese Zusammenführung von konkreten, singulären Emotionsszenarien und ihrer Reflexion mit allgemeinen Katastrophen zeigt Duras verstärkt in »La mort du jeune aviateur anglais«. Ausgangspunkt ist der persönliche Schmerz und die nie endende Trauer um den früh gefallenen Bruder, die zusammentrifft mit der Entdeckung des Grabes eines jungen englischen Piloten, der in Vauville von der deutschen Wehrmacht abgeschossen wurde. Mehr noch als im vorhergehenden Essay benennt Duras hier explizit konkrete Emotionen und ihre Szenarien und unterscheidet damit das Geschichtenerzählen von der écriture: »Ce sont des émotions de cet ordre, très subtiles, très profondes, très charnelles, aussi essentielles, et complètement imprévisibles, qui peuvent couver des vies entières dans le corps. C’est ça l’écriture. C’est le train de l’écrit qui passe par votre corps. Le traverse. C’est de là qu’on part pour parler de ces émotions difficiles à dire, si étrangères et qui néanmoins, tout à coup, s’emparent de vous. […] J’écris à cause de cette chance que j’ai de me mêler de tout, à tout, cette chance d’être

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dans ce champ de la guerre, dans ce théâtre vidé de la guerre […].14 (Duras 1993: 98) Die Frage nach dem Verhältnis von Emotionen und Textproduktionsprozessen mit dem Begriff des Schreibens und damit zusammenhängenden Theoriemodellen zu verbinden, ermöglicht also nicht nur, so lässt sich abschließend festhalten, die Bedingungen psychophysischer, neurologischer und medialer Grundlagen des produktiven Prozesses aufzuzeigen, sondern auch die jeweiligen epistemologischen, politischen, sozialen und kulturellen Bedingtheiten von Emotionen und ästhetischer Produktion zu beschreiben. Verfolgt man einen Emotionsbegriff, der weder an Empfindsamkeits- und Geniediskurse anschließt noch streng biologisch-neurologisch definiert wird oder einem ausschließlich kognitiv-funktionalen Modell folgt, sondern Emotionen mehrdimensional, historisch und medial bedingt auffasst, und geht man des Weiteren davon aus, dass der Begriff des Schreibens (ästhetische) produktive Textprozesse in ihren praktischen wie poetologischen Komponenten und Grundlagen fassen kann, so ergibt sich ein Modell, das literatur- und kulturwissenschaftliche Kategorien wie Autorschaft, Rezeption, Text und Kontext bzw. das Verhältnis von Kunst und Leben/Realität immer wieder aufs Neue aktualisieren kann. Zu diesen Verbindungsstellen von Literatur, Emotionen und persönlichem, politischem und sozialem Leben abschließend noch einmal Duras: »On voudrait arriver quelque part avec cette émotion. Écrire par le dehors peut-être, en ne faisant que décrire peut-être, décrire les choses qui sont là, présentes. Ne pas en inventer d’autres. N’inventer rien, aucun détail. Ne pas inventer du tout. Rien comme tout«15 (Duras 1993: 84). Nichts (nur) erfinden, schreibt Duras, vielmehr die Dinge vor Augen beschreiben, wie auch Bon suggeriert, um mit den Emotionen an ein Ziel zu gelangen.

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»Es sind die Emotionen dieser Art, sehr subtil, sehr tief, sehr körperlich, auch essentiell und vollkommen unvorhersehbar, die ein ganzes Leben im Körper schwelen können. Das ist Schreiben. Es ist der Antrieb des Schreibens, der durch den Körper fährt. Er fährt durch ihn hindurch. Von dort aus beginnt man über diese so schwer auszudrückenden Emotionen zu sprechen, so fremd, und die doch mit einem Mal von uns Besitz ergreifen. […] Ich schreibe aufgrund der Möglichkeit, die ich habe, um mich in alles einzumischen, mich darunter zu mischen, diese Möglichkeit auf diesem Kriegsfeld zu sein, in diesem vom Krieg geleerten Theater […].« (übersetzt von S.K.) »Man möchte mit dieser Emotion wo ankommen. Vielleicht aus dem Außerhalb schreiben, vielleicht nur beschreiben, die gegenwärtigen Dinge beschreiben. Keine erfinden. Nichts erfinden, kein Detail. Überhaupt nichts erfinden. Gar nichts.« (übersetzt von S.K.)

Schreiben und Emotion

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II ASSEMBLAGEN UND SCHREIBSZENEN

Korrespondenzen mit Objekten Liebesbriefe und ›sprechende Dinge‹ bei Goethe und Mallarmé Cornelia Ortlieb (Berlin)

Das Schreiben ist in mehrfacher Hinsicht immer mit Dingen, Sachen, Gegenständen befasst, wie bereits der erste Brief-Satz Johann Wolfgang von Goethes an Charlotte von Stein eindrucksvoll belegt: »Ich muss Ihnen noch einen danck für das Wurst Andencken und eine Gute Nacht sagen«1 (Goethe 2014: 18). Die Entzifferung des Satzes gelangt mithin aber auch sofort an ihr Ende, denn welche Wurst und welches Andenken bezeichnet sind, erst recht, was damit impliziert gewesen sein mag, lässt sich nur ansatzweise rekonstruieren, und vor allem ist das Objekt, das den Schreibanlass und seinen ersten Gegenstand bildet, vermutlich längst für immer verschwunden. Neben den Schriftgebilden der Briefe und ihrem je eigenen Material wäre somit auch die der materiellen, stofflichen, körperlichen Dinge zu bedenken, die sie einstmals begleitet haben, wobei in dieser grammatisch uneindeutigen Formulierung offenbleiben kann, wer wen oder was begleitet hat. Das zitierte Beispiel etwa entstammt genau genommen nicht einem Brief, sondern einem Billett, einer kleinformatigen Briefkarte, die bis heute häufig mit Geschenksendungen versandt wird. Selbst im programmatisch asketischen Briefwechsel zwischen Goethe und Charlotte von Stein werden in vielen der insgesamt 1.700 Briefe unablässig Lebensmittel und Blumen, aber auch Manuskripte, Zeichnungen und Kleidungsstücke hin- und hergeschickt, zwischen zwei Häusern in Weimar, die nur wenige Fuß-Minuten voneinander entfernt sind. Ebenso sind Tausende von Dingen als kleine Gaben, kuriose Gegenstände oder wissenschaftliche Sammlungsobjekte in einem steten Strom von Post-Sendungen in Goethes Haus am Frauenplan gekommen; allein 4.500 Objekte umfasst das Sammelsurium der Varia neben den großen sortierten Sammlungen.

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Der Stellenkommentar kann diese spezielle Beilage nicht erhellen: »18, 15 Wurst Andencken, Das gegenseitige Beschenken insbesondere mit Lebensmitteln gehört seit der frühesten Zeit von Goethes Bekanntschaft mit Charlotte von Stein zu den festen Gepflogenheiten ihrer Beziehung.« (Ebd.: 85)

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Schon mit Blick auf diesen einzigartigen Bestand ist es vielversprechend, eine Literaturgeschichte der Objekte zu entwerfen, die mit der Fokussierung von Schreibprozessen nicht nur die Dinglichkeit von Schrift, sondern auch die Schriftlichkeit von Dingen in den Blick nimmt, wie im Folgenden exemplarisch gezeigt werden soll. Dabei lassen sich sozusagen klassische Untersuchungen des Schreibens – in Verlängerung längst etablierter Vorgehensweisen der Schreib(-prozess-)forschung – mit einer literaturwissenschaftlichen Objektforschung verbinden, die allerdings, wenn es, wie hier, um reale Gegenstände der wirklichen Welt geht, auch neuer Methoden der Betrachtung und einer anderen Art mitlaufender Selbst-Reflexion bedarf.

1 Dazu gehört bereits das mehr oder weniger willkürliche Herausgreifen einiger weniger Objekte aus dem in jeder Hinsicht einzigartigen Goethe-Nachlass, hier diejenigen, die offensichtlich eng oder sogar untrennbar mit der Reflexion von Schrift und Schreiben verbunden sind. Das sind beispielsweise ein Paar Handschuhe, ein Glas, zwei Taschenkalender und eine Serie von Billetts, die zusammen ein interessantes Ensemble aus Dingen und Schrift bilden. Im Nachlass Stéphane Mallarmés in der Pariser Sammlung Jacques Doucet und andernorts gibt es eine ähnliche Fülle von Schreibformen auf ungewöhnlichen Schriftträgern, wie etwa Visitenkarten, kleinformatigen Briefumschlägen und vorab gefalteten Papierfächern mit japanischen Motiven. In der Dauerausstellung des Goethe Nationalmuseums ist die Betrachtung solcher Dinge aber schon durch die explizite Rahmung entscheidend geformt und gelenkt. Denn im Museum sind auch aus konservatorischen Gründen die Stellwände der Ausstellung tiefschwarz vor abgedunkelten Fenstern, und die wenigen ausgewählten Objekte in den vereinzelt platzierten Vitrinen erscheinen erst im Moment der Betrachtung mit dann aktivierten Punktstrahlern im Lichtkegel (siehe Abb. 1). Auch unscheinbare Dinge wie ein einfaches Trinkglas oder ein Paar brauner Lederhandschuhe werden erst durch diese Isolierung und Hervorhebung, die noch durch den Einsatz anderer Präsentationsmittel wie Kissen, Sockel oder Aufsätze unterstützt wird, zu faszinierenden Objekten einer Betrachtung, die wiederum durch die Beschriftung an den Vitrinen in keinem Moment unmittelbar oder unvermittelt stattfindet (vgl. Grave et al. 2018). Solche parergonalen und paratextuellen Elemente rahmen nicht etwa nur äußerlich die Dinge, die sie erst durch diese Rahmung als solche besonderen Objekte für die Betrachtung zurichten oder gar erst konstituieren, sondern sie wirken auch im Inneren dieser Objekte mit und nach, wie ein Verbundprojekt der Klassik-Stiftung Weimar zur Sprache der Objek-

Korrespondenzen mit Objekten

Abb. 1: Vitrine mit Gegenständen (GNM)

te weiträumig untersucht hat.2 Vor den Glasvitrinen, aber auch in Schubladen, an den Wänden, auf Schränken oder Tischen, sieht man nämlich in der Regel stille Gemeinschaften von Dingen, die durch Schriftbeigaben hervorgehoben und teils auch dominiert werden, zumal dort, wo eine denkbar starke Autorschaft mit ihnen verbunden werden kann, wie das im Goethe-Kosmos ja per definitionem der Fall ist. Gerade weil die Goethe-Verehrung, auch in einer entsprechend interessegeleiteten Goethe-Philologie, lange eine Sicherung des Nachlasses mit einer solchen Perpetuierung der einzigartigen Bedeutung aller (Schreib-)Arbeiten des überlebensgroßen Verstorbenen verbunden hat, kann die Pointe einer literaturwissenschaftlichen Objektforschung an diesem Bestand jedoch nicht darin bestehen, gewissermaßen noch den kleinsten und unscheinbarsten Teil der Sammlungen dieser Super-Autorschaft zu unterwerfen. Vielmehr wird es darum gehen müssen, die 2

»Das Griechische verleiht hier der Vorstellung dieses Beiwerks (hors d’œuvre), das sich dennoch nicht einfach aus dem Werk heraushält (ne se tient pas hors d’œuvre), sondern vielmehr neben, ganz dicht am Werk (ergon) wirkt, eine quasi begriffliche Würde« (Derrida 1992: 74). Ist diese Würde der Übersetzung von para als ›neben, dicht bei‹ geschuldet, so bezieht Derrida aber auch die zweite, gleich gültige Übersetzung mit ›gegen‹ in sein Argument ein: »Ein Parergon tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen; wie eine Nebensache, die man verpflichtet ist, am Rande, an Bord aufzunehmen« (Ebd.). Ähnlich argumentiert Gérard Genette (vgl. Genette 2001; vgl. Knebel/Ortlieb/Püschel 2018: 16-18).

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Objekte und die Schriften zusammen zu lesen, womit im ersten, alten Sinn dabei zunächst das Auffinden und Einsammeln von Verstreutem gemeint ist, auch und gerade über die Grenzen von Museum, Archiv und Depot hinweg. Ob der erste ausgewählte Gegenstand mit guten Gründen einer solchen philologischen Re-Lektüre unterzogen werden kann, mag vorerst noch dahingestellt bleiben. Als prominentes Objekt der Betrachtung in der Dauerausstellung des Goethe Nationalmuseums ist er zugleich immer schon Teil einer ›wilden Philologie‹ gewesen, die ihn mit einer Reihe mehr oder weniger zweifelhafter Narrative einem einzigartigen Ensemble von Schriften zugeordnet hat: Ein Paar Handschuhe aus braunem Leder ist seit jeher Ulrike von Levetzow zugeschrieben worden, mithin einer historischen Person, die als ›Goethes letzte Liebe‹ aus verschiedenen Gründen quasi hinter den Mythen und Legenden, die ihr merkwürdig karges Leben umranken, verschwunden ist (siehe Abb. 2). Abb. 2: Braune Handschuhe

Auch ihre reale Existenz hat so etwas von einem Gerücht; man weiß, dass sie als 19-Jährige von dem 74-jährigen Goethe umworben wurde, womöglich bis zu einem Heiratsantrag, und bereits diese beiden Zahlen genügen gemeinhin, das in jeder Hinsicht Unpassende der Verbindung sinnfällig zu machen.3 Allerdings 3

Entsprechend gibt es bis heute eine Fülle historisch-biographischer Varianten von einem solchen »tragischen Liebesroman«, den womöglich erst »Philologen […] Goethe in den Mund gelegt« (Witte 2007: 92-93), haben. Dazu gehören etwa die eindeutig belletristischen Erzählungen von Friedemann Bedürftig (vgl. 2004) und Martin Walser (vgl. 2008). Zwei wissenschaftliche Biografien von Dagmar von Gersdorf (vgl. 2005) und Sigrid Damm (vgl. 2007)

Korrespondenzen mit Objekten

sind Besucherinnen und Besucher der Ausstellung hier auf die Beschriftung an der Vitrine angewiesen; der auch zum Download verfügbare Audioguide enthält keinen Hinweis auf die Handschuhe oder ihre ehemalige Besitzerin, womöglich, weil die Zuordnung von Ding und Person ihrerseits legendenhaft, ungesichert, nur indirekt zu erschließen ist (siehe Abb. 3). Abb. 3: Vitrinen-Beschriftung: Handschuhe Ulrike von Levetzows

Der Paratext an der Vitrinenseite hält sich mit solchen Bedenken jedoch nicht lange auf; er gibt in zwei Sprachen und gebrochenen Zeilen nur wenige markante Hinweise: »Handschuhe von Ulrike von Levetzow/Ulrike von Levetzow’s gloves//Um 1823/Leder/Klassik-Stiftung Weimar, Museen/Goethe hielt 1823 um die Hand der 19jährigen an.« (Klassik-Stiftung Weimar: Lebensfluten, Tatensturm. Dauerausstellung im Goethe Nationalmuseum, Vitrinenbeschriftung). Der gleichfalls nur legendenhaft überlieferte Heiratsantrag ist hier Teil einer Verdopplung des Wortes Hand, durch die der Blick auf die stillen Dinge hinter dem Fenster eine eigene poetische Qualität erhält. Die eigentümlich lebendig wirkenden Handschuhe sind aber bereits dort Teil einer größeren Zusammenstellung von Vitrinen-Objekten, die offenbar diese Liebesgeschichte von 1823 illustrieren sollen. konturieren zudem mit einem kunstvollen Arrangement von Quellenzitaten das Leben des ›alten Goethe‹.

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Diese ist ihrerseits von herausragendem philologischem Interesse, weil sie ein großes Gedicht, die mit vielen Superlativen gerühmte sogenannte Elegie von Marienbad inspiriert hat oder ihr zugehört. Wie der Gattungstitel schon anzeigt, handelt es sich bei diesem Text, der in verschiedenen Fassungen und einer spektakulär nach 150 Jahren des Verlusts wieder aufgefundenen Urschrift zu lesen ist, um eine Klage (vgl. Goethe 1983). Sie gilt dem Verlust der Geliebten oder auch der Hoffnung auf ein Wiedersehen und steigert sich zu einer geradezu kosmischen Überschau des eigenen Lebens und Leidens von einem nahezu finalen Punkt aus, so zumindest in ihrer letzten Gestalt, nach mehrfacher Bearbeitung. Kehrt man zu den Dingen zurück, die wiederum diesen großen Text überhaupt erst möglich gemacht haben, ist es erstaunlicherweise ein weiteres Paar für sich unscheinbarer Gegenstände, das von entscheidender Bedeutung ist: Auf seiner üblichen sommerlichen Kur-Reise nach Marienbad und Karlsbad hat Goethe 1823 zwei Taschenkalender mitgeführt, die von ihm und anderen Schreibern mit unterschiedlichen Notizen gefüllt wurden, zu denen, wiederum spektakulär, auch die ersten Verse der späteren Elegie gehören (vgl. zum ersten Kalender und den Vers-Entwürfen Ortlieb 2017: 228-249). Als Schreib=Calender betitelt, ist nicht nur dieser Kalender von 1822, sondern auch ein zweiter aus dem Jahr 1823 ein Gegenstand, der einen bestimmten Gebrauch vorschlägt oder einfordert: In einer eingeklebten Schlaufe war einstmals im hinteren Einband ein kleiner Bleistift befestigt, der als neues und von Goethe für bestimmte Zwecke stets bevorzugtes Schreibgerät auch das Notieren auf Schritt und Tritt, unter widrigen Umständen erlaubte. Auch dieser zweite, gleich ausgestattete Kalender beginnt mit Versen, die sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als Entwurfsnotizen einordnen lassen, nun aber nicht zu einem großen Gedicht, zu dem die Elegie-Verse buchstäblich erst durch die Abschrift auf Papierbögen werden konnten, sondern etwa für ein kleines Billett an Ulrike von Levetzow, auf das ich noch zurückkommen werde. Von solchen Zetteln oder Briefkarten gibt es im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv unter anderem eine einzigartige Serie, sechs von Goethe nummerierte Blättchen mit der typischen Randverzierung, die Goethe interessanterweise auch für die von ihm entworfenen Etiketten seiner geologischen und mineralogischen Sammlung verwendet hat.4 Gleich das erste Billett trägt ein Gedicht, das wie die Elegie aus dem September 1823 stammt. Und mit dem letzten dieser Billetts kehrt man dann wieder zum Trinkglas in der Vitrine zurück, das ausweislich seiner Beschriftung und anderer flankierender Schriften ein weiteres Mitglied dieser Ding-Gemeinschaft ist.

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Genauer gesagt, gibt es eine Fülle solcher Schmuckelemente auf den erhaltenen Billetts, die zu verschiedenen Zwecken regelmäßig an unterschiedliche Adressaten und Adressatinnen versandt, ihnen überbracht wurden, vgl. die kommentierte Dokumentation von Mick 1982.

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2 Eine solche Auslese und Zusammenstellung entspricht zunächst ungefähr dem, was seit jeher Praktik und Methode philologischer Forschung war, die Suche nach Parallelstellen, die Organisation von kleinen (materiellen) Elementen zu einem größeren Ganzen, die hermeneutische Zirkelbewegung von Vorannahme und Bestätigung, versammelnder Lektüre und Neuauswahl. Entsprechend hat auch die ältere Goethe-Philologie bestimmten Dingen, mehr oder weniger explizit im Kontext von Praktiken des Andenkens und Gedenkens, Raum gegeben, wie etwa die erste Veröffentlichung der Briefe Goethes an Levetzow und ihre Familie im Goethe-Jahrbuch von 1900 bezeugt. In seinem Vorwort Ulrike von Levetzow. * 4. Februar 1804 † 18. November 1899 rückt Bernhard von Suphan diese wenigen Briefe in enge Nähe zu einer Auswahl eigentlich alltäglicher Dinge aus dem Besitz der Verstorbenen, denen hier eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird: »Vor Jahren hatte sie einmal dem Hüter des Goethehauses ein trocknes Sträußchen zugesandt – Eichenlaub und wenige Blütenstengel – mit der Beischrift ›Der letzte kleine Rest der sehr vielen Blumen welche Goethe mir von seinen Spaziergängen im Marienbad 1822 mitbrachte. Trziblitz den 18. Januar 1894‹« (Suphan 1900: 4-5). Eine Anmerkung zur Jahreszahl 1822 ergänzt, ohne Begründung: »Wohl auch 1823« (ebd.: 5) und gibt dem eher unscheinbaren Pflanzenrest so den entscheidenden historischen Index. Mit den folgenden Sätzen wird dann der ›Rest‹ einer Gruppe von Dingen und Schriften zugesellt: Es [das Sträußchen, C.O.] liegt jetzt, sorgsam verwahrt neben dem krystallnen Becher, der in drei Medaillons die Namen der drei Schwestern, Ulrike, Amelie, Bertha eingeschliffen trägt, und in dem vorderen Felde die Worte: ›Andencken/Den 28. August/1823/in Carlsbad‹ – ein Zeuge glücklichster Stunden, ja vielleicht einer der letzten Stunden eines ganz reinen Glückes. Goethe hielt das Glas in seinem Schreibtische verschlossen, zugleich damit später die zwei Briefe, mit denen ihn an seinem nächsten Geburtstage die Mutter, Amalie von Levetzow, und gemeinsam die drei Schwestern beglückten. (Ebd.: 5) Sind hier auch die Briefe als Objekte einer bestimmten Form des ›Verwahrens‹, mithin als dreidimensionale, physische Gegenstände im Raum, der Reihe anderer Dinge eingegliedert, so ist doch diese Beschreibung dennoch geleitet von der selbstverständlichen Unterwerfung solcher Realien unter das Narrativ vom Glück ihres Besitzers, das sie bezeugen sollen, ergänzt um ›Zeitzeugen‹-Berichte wie eine Erzählung Johann Peter Eckermanns über den »himmlischen Frieden« und das »süß[e] Glück«, das er beim Anblick Goethes vor seinem »Arbeitstische« mit dem Becher erkannt haben will (ebd.: 5). Anders als in einem solchen Zugriff ›von oben‹, in der Moderne typischerweise mit einem Autor-Werk-Konstrukt, das Autorschaft als Werkherrschaft fasst (Bosse

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2014),5 betrachtet die Objektforschung ihre Gegenstände aber zunächst ›von unten‹, mit dem auch irritierenden Versuch, den Dingen selbst so viel wie möglich abzulesen, bevor sie, wie üblich, den (literarischen) Texten, die sie kommentieren, erklären oder überhaupt erst lesbar machen sollen, untergeordnet werden. Die Handschuhe sind bislang einer solch eingehenden Betrachtung und ›Lektüre‹ nicht unterzogen worden und wurden erst kürzlich im Rahmen einer größeren Projektuntersuchung von einer Textilrestauratorin eingehend materialtechnisch analysiert (vgl. Petzold 2017). Die Museumsdatenbank Klassik Stiftung Weimar vermerkt neben der Inventarnummer ›GVa/00049‹ und dem Standort ›Goethe Nationalmuseum Dauerausstellung 2. OG/Liebe/Vitrine 3‹ jedoch auch die skizzierte Zuschreibung und gibt ihr eine historische Evidenz im Rekurs auf die minutiöse Verzeichnung der Bestände des Goethehauses: »s. Verz. 1843 Nr. 7: ›Ein Paar Damenhandschuhe, worauf mit Dinte geschrieben ist = Karlsbad den 28. August‹. Die Handschuhe befanden sich nach Goethes Tode in seinem Arbeitszimmer. Im linken Handschuh unleserlich in heller Schreibschrift: ›Carlsbad den 28. August‹, ursprünglich laut altem Umschlag im rechten Handschuh ›S. V. U. N. 6.‹. 1998 leserlich: ›UN‹« (Klassik Stiftung Weimar 220385/GVa/00049). Die vorgeblich neutrale Bestandserfassung pointiert das Paradox, das die Handschuhe seit ihrem Auffinden an einem der prominentesten und implikationsreichsten Aufbewahrungsorte überhaupt begleitet: Sie weisen sich als ein besonderer – doppelter – Gegenstand durch eine unleserliche Beschriftung aus. Da der linke Handschuh zudem – zumindest phantasmatisch – denselben Text tragen soll wie das Trinkglas, in dessen unmittelbarer Nähe er für längere Zeit gelegen hat, ist hier auch eine poetische Schrift konserviert, die mit anderen korrespondiert, denn es ist naheliegend, vielleicht allzu naheliegend, die fehlende Jahreszahl 1823 auch diesem übereigneten Gegenstand hinzuzufügen. Wie das Glas, so würde in diesem Fall aber auch der Handschuh trotz der augenfälligen Ähnlichkeit zu Souvenirbeschriftungen seine Datierung nach Art eines Schriftstücks erhalten haben. Die bereits zitierte Gravur in einem der beschrifteten Ovale des Trinkglases »Andencken/Den 28. August/1823/in Carlsbad« formuliert das ›Andenken‹ geradezu als Imperativ und gibt, wie bis heute üblich, diesem Erinnern ein materielles Objekt, doch sie verzichtet auf die Ausrichtung mittels des sonst häufig anzutreffenden ›an‹, das in der Verdopplung der Vorsilbe eine Richtung vorgibt: Als übriggebliebener Rest oder entsprechend eigens hergestelltes Artefakt, ist ein solcher Gegenstand typischerweise der Platzhalter für ein bestimmtes erinnertes Geschehen oder einen Ort, auf das oder auf den es metonymisch verweist. Mit dem Fehlen der Richtungsangabe wird die Aufschrift hier jedoch zur Datierung,

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Gudrun Püschel wird im Rahmen einer Dissertation eine solche Lektüre erproben; vgl. ihre Überlegungen zu einem beschrifteten Schreibset Goethes (Püschel 2018)

Korrespondenzen mit Objekten

die wie bei einem Brief oder Billett den Zeitpunkt der Übereignung markiert und das Erinnerte selbst im Dunkeln lässt.6 Die ungewöhnlich dichte Überlieferung und Goethes eigene minutiöse Dokumentation seiner Lebensführung lassen dabei selbstredend keinen Zweifel daran, dass der Bezug zu seinem Geburtstag über den Anlass der Gabe hinaus entscheidend ist. Denn chiffriert erinnert wird auf dem Glas nicht dieses Datum selbst, sondern, nach allem, was historisch-philologische Rekonstruktionen bislang erwiesen haben, die kleine Feier, die zu diesem Anlass von den Levetzow-Schwestern und ihrer Mutter in Karlsbad veranstaltet wurde, als – vielzitierter – »Tag des öffentlichen Geheimnisses« (Urzidil 1962: 172). Goethe selbst hat mit diesem Paradox das Resümee des gemeinsam verbrachten Tages gezogen, der neben einem Ausflug nach Elbogen mit der Familie Levetzow und verschiedenen Besichtigungen beim gemeinsamen Mittagessen mit Kuchen, Wein und einem Blumenstrauß auch unverkennbar Elemente einer Geburtstagsfeier enthielt, offenbar ohne, dass explizit von diesem Ehrentag die Rede war (ebd.). Das gravierte Trinkglas ist nachweislich an diesem Tag als Geschenk überreicht worden und die Handschuhe mögen – als ›Geheimnis‹ oder ›öffentlich‹ – die Gabe ergänzt haben – das lässt sich nur spekulieren. Naheliegend ist es, beide Gegenstände als Medien der Berührung und des Entzugs zu lesen: Im Inneren des Handschuhs ist ein Abdruck der Hand der Geliebten bewahrt, wie auf dem von ihr überreichten Trinkglas, das zudem beim gemeinsamen Trinken auch eine indirekte Berührung der Lippen oder ihrer Spur ermöglicht. Mit einem neuerlichen Paradox könnte man beide Gegenstände auch als Medien der Präsenz bezeichnen; zumal im elegischen Modus erinnern sie schmerzlich an die Abwesenheit des realen Körpers, den sie zugleich metonymisch oder per Synekdoche – also in Verschiebung oder Teilhabe – mit ihrer eigenen Körperlichkeit vertreten.

3 Nicht als Reliquien gelebten Lebens oder Requisiten dieser biografischen Erzählung funktionalisiert, sondern als Teil eines größeren Ensembles von SchriftDingen, verweisen Handschuh und Glas aber zugleich in ihrer Beschriftung immer schon über sich hinaus, wie eben auf die bereits erwähnten Billetts und auf die beiden Kalender, die hier nicht eingehender betrachtet werden können (siehe Abb. 4). Im ersten Entwurf lauten die Verse für Ulrike von Levetzow im Kalender von 1823 noch mit verschiedenen Varianten: »Sonst schien ich lieb und wert zu sein/und

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Vgl. zu einer eingehenderen Betrachtung und Lektüre des Glases Ortlieb 2018: 172-193.

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Abb. 4: Goethes Schreibkalender

Dir gefiel die kleinste Gabe/und wenn ich deine Gunst nur habe/so ist kein Täfelchen zu klein« (GSA 27/68: 4). Nach einer weiteren Überarbeitung steht dann schließlich auf der übernächsten Seite, ohne Korrekturen: »Gewogen schienst du mir zu sein/Du lächeltest der kleinsten Gabe/Und wenn ich deine Gunst blos habe/So ist kein Täfelchen zu klein« (ebd.: 6). Wie schon angedeutet, sind diese Verse offensichtlich für ein Billett an Ulrike von Levetzow verfasst worden, und sie sollen wiederum einstmals eine Gabe begleitet haben, nämlich kleine Schokoladetafeln.7 Und auch die Serie von sechs Billetts, die Goethe eigenhändig nummeriert hat, wird einerseits eröffnet durch ein Gedicht, das wiederum mit den ersten Versen über das zarte Himmelswesen, die ferne Geliebte, aus dem Kalender von 1822 korrespondiert: »Aus der Ferne/Am heißen Quell verbringst du deine Tage,/Das regt mich auf zu innerm Zwist; Denn wie ich dich so ganz im Herzen trage,/Begreif ich nicht, wie du wo anders bist« (Goethe: GSA 29/30a). Als Gedicht, dessen Text mit der bezeichnenden Datierung »Den 10. September 1823« im Untertitel gleichfalls in die Propyläenausgabe aufgenommen wurde, unmittelbar im Anschluss an die Elegie,8 ist dies zugleich auch ein billet doux, oder billet d’amour, wie bereits die Reihe der Pronomen anzeigt: du – mich – ich – dich – ich – du. Andererseits wird Goethe in der von ihm eingerichteten Werkausgabe die fehlende Adressierung mit der Überschrift An Ulrike von Levetzow für mehrere Gedichte

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Die Begleitverse zur Schokoladengabe von 1822 hat Goethe mit entsprechender Adressierung und Datierung in die Propyläenausgabe aufgenommen: »An Ulrike von Levetzow/Marienbad, Juli 1822/Genieße dies auf deine eigene Weise,/Wo nicht als Trank, doch als geliebte Speise.« (Goethe: 1909ff.a: 211). Das Gedicht antwortet dort gleichsam auf den eindrucksvollen letzten Vers der Elegie: »Sie [die Götter] trennen mich – und richten mich zugrunde« (Goethe: 1909ff.b: 15).

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nachtragen und so eine Postanschrift in eine Widmung verwandeln. Das letzte Billett mit der Nummer 6 ist aber auch dazu geeignet, zumindest einen kleinen Kreis der Gaben-Korrespondenzen zu schließen, wenn es dort heißt: »Damit das Halbdutzend voll sei, muß ich noch aussprechen, daß die/köstliche Tasse, das holde Glas mich schon hier durch ihren Anblick er-/freut, nicht getröstet. Es war ein schöner Tag des öffentlichen Geheim-/nisses!/S. 1823. G.« (Goethe: GSA 29/30b). Denn offensichtlich wird hier einmal mehr auf das bekannte beschriftete Glas, das Geburtstagsgeschenk der Familie Levetzow, verwiesen. Die Aufforderung zum An-Denken geht in diesem bunten Reigen von Dingen mit Schrift somit von diesen selbst aus, hier profan als Hinweis, dass die je einzelne Inschrift ebenso Verweischarakter hat wie der Gegenstand selbst. Diese Objekte laden somit dazu ein oder fordern geradezu im Imperativ dazu auf, die Rekonstruktion von Schreibprozessen und das Lesen dessen, was geschrieben wurde, nicht mithilfe klassischer Text-Begriffe zu modellieren, sondern in neuen Kommentarformen solche Ensembles und Gemeinschaften zu formieren, etwa mit einem steten Wechsel von Überschau und Nahsicht, wie er hier erprobt wird. Dabei wäre allerdings stets präsent zu halten, dass diese Kommentare auch Leerstellen umkreisen, nicht nur, weil Wurst, Käse und Schokolade längst dorthin verschwunden sind, wo irgendwann alles stofflich-körperliche landet, nicht zuletzt auch alle Schriften.

4 Wie sehr Mallarmés langjähriges Umwerben der Schauspielerin, Tänzerin und Salondame Méry Laurent von der Reflexion auf Dinge des täglichen Lebens, der umgebenden Räume oder der luxuriösen Mode begleitet und geleitet ist, dokumentiert sein Schreiben allerorten, in Briefen, Billetts und zahllosen Gedichtversen.9 Diese dienen wiederum mehr oder weniger explizit häufig zur Begleitung von übereigneten Dingen, darunter auffällig oft die vergänglichen Gaben von Köstlichkeiten zum Essen und Trinken oder Blumen. Auf Briefumschlägen und Papierfächern mit sorgfältig gemalten Schriftzügen aufgetragen, eröffnen die vorgeblich beiläufig notierten Verse eine weitere Ebene der Reflexion auf die Medialität und Materialität solcher ›Verse unter Umständen‹.10 Und umgekehrt ist auch der Körper der umschwärmten Geliebten ein solch dinglicher Gegenstand der Dichtung, wenn

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Vgl. dazu ausführlicher Ortlieb 2013: 307-329 und Ortlieb 2014: 113-128. Vgl. zu Laurent den kleinen Katalog und Aufsatzband Chavanne/Harent 2005. Mallarmé hatte selbst noch vor seinem Tod eine Zusammenstellung von Briefkarten- und Adressen-Gedichten unter dem Titel Vers de circonstance entworfen, der sich auch, mit vielleicht zu starkem Goethe-Anklang als ›Verse zu Gelegenheiten‹ übersetzen ließe (übersetzt von C.O.; Mallarmé 1996a).

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Mallarmé in mehr als klassisch fetischisierender Fokussierung die Schönheit ihres Haares, ihrer weißen Haut oder auch ihrer durchsichtigen Fingernägel preist. Ein ihr gewidmetes RONDEL, erst der dritte Text der Briefausgabe, bringt diese verschiedenen Elemente bereits zusammen: Über dem Gattungstitel des Gedichts findet sich, wie eine erste Überschrift, in gebrochenen Zeilen die datierte Widmung »À ma chère Méry/Son ami/STÉPHANE MALLARMÉ/31 Janvier 1885« (Brief an Laurent, 31. Januar 1885: Mallarmé 1996b: 33). Bezeichnenderweise beginnt das Gedicht mit dem Wort »Rien«11 /»Nichts«, einem gleichsam alles löschenden und die leere Fläche des kommenden Gedichttexts eröffnenden überaus vielsagenden Chiffre-Wort, das bereits in Gérard de Nervals Übersetzung von Goethes Faust und in Gounods gleichnamiger Oper prominent im ersten Monolog Fausts platziert worden war (Nerval 1828: 28; Gounod/Barbier 1859).12 Mehr noch: Es ist hier eigentlich Teil einer paradoxen Fügung aus insgesamt drei Wörtern, denn gefolgt von »ici-bas«/»hier auf Erden« gibt es zugleich mit einigem Pathos sein Gegenteil zu erkennen, das Gesamte des »diesseitigen«, des irdischen Lebens, wie die übliche Fügung »vie ici-bas« in einem Wort das »Diesseits« bezeichnet. Mit einer doppelten Verneinung adressiert der erste Vers somit die »liebe Méry« des Titels als eine, der nichts Irdisches fremd ist, aber in einem, wie sich zeigen wird, sehr konkreten Sinn: »Rien ici-bas que vous n’ayez/Envisagé de quelque moue«, etwa: »Nichts hier, was du nicht hast/Betrachtet mit schiefem Gesicht«, wobei mit dem letzten Wort »la moue« offensichtlich die Stilhöhe des Gedichts nach unten hin durchbrochen wird, denn die eher umgangssprachliche Rede von diesem, wörtlich, »Maul« meint eine mimische Missfallensäußerung, das »schiefe Gesicht« kann somit, gleichermaßen idiomatisch auch die »Schnute« oder der »Flunsch« sein. Carl Fischer hat eine spätere Variante des Gedichts übersetzt, mit dem selben Beginn und diese offensichtlich beabsichtigte kleine Grobheit gemildert: »Nichts beim Erwachen das nicht dein/Empfinden kränkt mit schalen Dingen« (Mallarmé 1995: 87). In einem später veränderten dritten Vers wird der Satz im dritten und vierten Vers der Brieffassung ähnlich irritierend fortgeführt: »Ou du blanc rire qui secoue/Votre aile sur les oreillers« (ebd.). Hier erschwert die Unmöglichkeit eines buchstäblichen Verstehens, wiederum paradox, das Übersetzen der Metapher: »Oder mit weißem Lachen das ausschüttelt/Dein Flügel auf die Kopfkissen« ist eine wort- und satzfolgentreue Variante, die aber die entscheidende doppeldeutige Pointe verfehlt. Denn mit der Farbe Weiß und dem Flügel ist die Angeredete als Tier figuriert, das man zuallererst vermutlich als den Schwan, das

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»Für meine liebe Méry/Ihr Freund/STÉPHANE MALLARMÉ/31[.] Januar 1885. Alle folgenden Übersetzungen von Mallarmé 1996b von C.O. Ist bei Nerval das »rien« noch auf mehrere Verse verteilt, so ist es bei Gounod Fausts allererstes Wort, als Ausruf. Charles François Gounod, Jules Barbier: Faust. Oper in fünf Akten, Paris 1859, 1. Akt, 1. Szene.

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poetische Tier schlechthin und zugleich die klassische Metonymie des Dichters identifizieren würde. Schon im nächsten Brief vom (vermutlich) 4. April 1885 redet Mallarmé Méry Laurent jedoch einmal als Pfau und nochmals als »weißen Pfau« an, so dass man auch hier ein solch ungewöhnliches Tier vermuten darf.13 Das »weiße Lachen« ist aber nicht nur gewissermaßen die vorweggenommene Attribuierung des dann wiederum als Synekdoche eingeführten Flügels, sondern es weist unmissverständlich auf ein anderes Weiß, das die gleichermaßen buchstäblich wie metaphorisch verständliche letzte Wendung verstärkt. Denn »l’oreiller«, das Kopfkissen, ist hier in den Plural gesetzt, als werde der Flügel mit weißen Federn über einer Art Kissenlandschaft, die man sich wiederum typischerweise weiß vorstellen mag, bewegt, eine wiederum metonymische Verschiebung, denn üblicherweise werden Kissen »ausgeschüttelt«, nicht zuletzt, damit ihre Federfüllung gelüftet wird. Mit dem Plural ist »sur l’oreiller« aber eine eindeutig anzügliche Wendung, die so auch lexikalisiert ist: »In den Federn« wäre die geläufige Übersetzung, mit der sexuellen Konnotation des (weißen) Bettes. Es ist somit für das Verständnis dieser Liebessprache entscheidend, dass und wie die Körperlichkeit und Stofflichkeit solcher Dinge plastisch gemacht wird, indem sie zum Teil einer Bildsprache werden, die ihrerseits nicht auf Transzendenz und Immaterialisierung abstellt, sondern immer wieder an die materiellen Grundlagen von (sprachlichen) Bildern oder auch schon deren Andeutungen erinnert. Die zweite Strophe bringt außer dem identischen Refrain in der zweiten Hälfte zwei neue Verse, die das Anstößige der ersten Anrede in einer witzigen Umkehrung modifizieren und korrigieren: »Princesse au berceau, sommeillez!/Sans voir parmi tout ce qu’on loue/Rien ici-bas que vous n’ayez/Envisagé de quelque moue«, etwa: »Prinzessin in der Wiege, schlaf!/Ohne unter allem das zu sehen, was man rühmt/Nichts hier unten was du nicht/betrachtest mit schiefem Gesicht« (ebd.). Die »schalen Dinge«, wie Fischer das genannt hatte (Mallarmé 1995: 87), sind nun grammatisch und semantisch abhängig von der Voraussetzung ihrer NichtBetrachtung; wer im Schlaf nicht sieht, wird keinen Anstoß nehmen an dem, was man sonst nicht ohne Missfallen sehen würde. Zugleich enthält die Strophe ein angesichts der Bett-Szene gleichermaßen zudringliches wie in seiner angedeuteten Hyperbolik überaus höfliches Kompliment: Das, was man rühmt in dieser Umgebung, das, was die »Prinzessin« als rechtmäßiges Objekt solchen Rühmens per definitionem nicht sehen kann, ist natürlich sie selbst in ihrer nun kindlichunschuldigen Umgebung der »Wiege«.

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In schwarz-weißen Tuschezeichnungen, die sich zu regelrechten Bandes dessinés, den im Deutschen mit einem englischen Lehnwort als Comic bezeichneten Bildererzählungen erweitern können, hat Mallarmé sie häufig als ein solches königliches Mischwesen aus Dame und Pfau galant karikiert (vgl. Ortlieb 2013).

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Die dritte Strophe fügt diese gegenläufigen Anreden dann zur Synthese und Pointe des galanten Kompliments, das allerdings immer noch an die Erscheinung der Schönen in den Federn gebunden ist und indiskret nochmals an das Setting der Szene erinnert: »Nos vains souhaits émerveillés/De la beauté qui les déjoue/Ne connaissent, fleur sur la joue,/Dans l’œil diamants impayés,/Rien ici-bas que vous n’ayez!« Wörtlich lautet die Folge: »Unsere vergeblichen Wünsche entzückt/von der Schönheit die sie durchkreuzt/Kennen nicht, Blume auf der Wange,/im Auge unbezahlte Diamanten/Nichts hier unten was du nicht hast!« (Brief an Laurent, 31. März 1885: Mallarmé 1996b: 33). Die elliptischen Verse deuten offenbar eine bestimmte quasi bildliche Szene an: Der Betrachter, entzückt von der Schönheit der Schlafenden, sieht offenbar, wie sich ihre Wangen rosig färben, kann aber hinter den geschlossenen Lidern die eigentliche Kostbarkeit nur ahnen, ihre »unbezahlten«, womöglich gar nicht mit irdischen Mitteln aufzuwiegenden Diamantaugen. Auch hier sind es die verschiedenen Schichten des Textes, die ein eigentlich klassisches Sujet der Malerei und Dichtung, die schlafend hingestreckte Schöne, die gleichsam in aller Ruhe gerühmt werden kann, untergründig stören. Denn wenn die Schönheit, wie es explizit heißt, »Wünsche« weckt oder entzündet, dann ist sie es zugleich nicht nur im technischen Sinn, die ihre Erfüllung unmöglich macht, weil die Schlafende eben dem Begehren zumindest vorübergehend entzogen ist. Vielmehr ist die Schönheit als Subjekt des Satzes und Metonymie der Frau »in den Federn« selbst das, was alle weiteren Pläne durchkreuzt, denn in Verbindung mit »Plänen« würde das Adjektiv »émerveillés« so zu übersetzen sein, als transitives Verb bedeutet »déjouer« zunächst »sich entziehen«. Mit den Diamanten ist zudem nicht nur einmal mehr die weiße Farbe angesprochen, mitsamt ihren Assoziationen von Unschuld, Reinheit, aber auch, über die Federn und Kissen, deren sexuell konnotiertes Gegenteil. Vielmehr ist der Diamant als gepresster Kohlenstoff das härteste irdische Material, das deshalb bereits in der antipetrarkistischen rühmenden Dichtung des Barock symbolisch für die Kälte und Unnahbarkeit der Frau einstehen kann.14 In der elliptischen Wiederaufnahme des Refrains überbietet die negative Hyperbel des letzten Verses jedoch die augenfälligen Ambivalenzen der vorigen Liebesrede: Nun sind, wiederum paradox, sämtliche Dinge dieser irdischen Welt in der Schönen vereint und aufgehoben, da es »nichts gibt, das sie nicht hat«. Die letzte Strophe gibt mit dem doppelten »joue« als Wortbestandteil des konjugierten Verbs im zweiten Vers und seinem Reimwort »la joue« im dritten auch einen Hinweis auf den teils unernsten Charakter solcher Dichtung: »jouer« als Verb bedeutet »spielen«, die dritte Person Singular »joue« ist ein Homonym

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Ein berühmtes deutsches Beispiel für eine solche verkehrte Liebesrede ist Christian Hoffmann von Hoffmanswaldaus Sonett Vergänglichkeit der Schönheit von 1695, das in einer höhnischen Pointe das Herz der Geliebten als Diamant fasst, das somit, paradox, nach dem Zerfall des (irdischen) Körpers als einziges bestehen bleiben wird.

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zu diesen beiden Reimen, das man beim lauten Lesen mithören kann und muss. Spätestens in diesem Echo ist auch die ganze Szene der Annäherung, Betrachtung und projizierten Zurückweisung als ein galantes Spiel ausgewiesen, in das wiederum der reale Brief Mallarmés an Laurent, der offenbar ausschließlich aus diesem Gedicht besteht, eingelassen ist. Der plastischen Dinglichkeit fiktiver Gegenstände entspricht in einer weiteren Entgrenzung von Innen nach Außen die selbstreflexive Wendung des BriefSchreibens auf seine eigene Medialität und Materialität. Denn bereits der erste Text der Briefausgabe, der mit dem rekonstruierten Datum des 24. Mai 1884 versehen wurde, ist auf einem speziellen Schriftträger zu finden gewesen, einem kleinformatigen Briefumschlag, der sicher nicht leer verschickt wurde. Der typische Vierzeiler, das quatrain, dient hier in mehrfacher Hinsicht der Adressierung Laurents: »Que la Dame aux doux air vainqueur/Qui songe, neuf, Boulevard Lannes,/T’ouvre, ô mon billet, comme un cœur/Avec ses ongles diaphanes.« (Brief an Laurent, 24. Mai 1884: Mallarmé 1996b: 31) In einer wörtlichen Übersetzung, die allerdings das augenfällige Stilmittel der lautlichen Wiederholung und der verblüffenden Reime nicht adäquat nachbilden kann, ergibt sich etwa: »Dass die Dame mit dem sanften Blick des Eroberers/Die träumt, neun, Boulevard Lannes,/Dich öffne, o mein Billett, wie ein Herz/Mit ihren durchscheinenden Fingernägeln.« Auch hier ist in einer geradezu barocken Antithese die Dame, deren Postadresse und deren Anrede das Gedicht zusammenfügt, zugleich sanft und gewalttätig oder grausam in ihrer Zärtlichkeit und die alltägliche Geste des Umschlagöffnens, hier mit den als Werkzeug dienenden spitzen Nägeln, verweist metonymisch auf eine andere chirurgische Arbeit, das ›Öffnen‹ des Herzens, das wiederum ein Schneiden oder Stechen implizieren kann. Die Eindrücklichkeit dieses Bildes, das in einer anderen buchstäblichen Lesart auch für die wiederum alltäglichen Gesten arbeitender Frauen in der Küche einstehen kann, wenn das Herz als Teil eines tierischen Körpers zugleich ein zu verarbeitendes Objekt der Fleischküche ist, liegt selbstredend in der Geläufigkeit, mit der Herz und Schmerz in solchen Liebeskorrespondenzen auch dort assoziiert werden, wo (noch) nicht explizit von Verwundungen und Leiden die Rede ist. Dabei kann die leichte Verschiebung übersehen werden, die sich in der ironisch-pathetischen Anrede des Billetts zeigt: Geöffnet wird ja im technischen Sinn nicht das Billett, sondern der Umschlag, der es enthält, so dass einmal mehr das Innere des noch verborgenen Schriftträgers quasi nach außen projiziert oder verschoben ist. Dass die kleine Briefkarte, die der Umschlag enthalten hat, ihrerseits explizit als »Billett« benannt wird, eröffnet zudem eine weitere Ebene der Reflexion und Selbstreflexion des komplexen Gebildes. Denn seit seiner Emanzipation aus den postalischen Zwecken, denen es seit einer solchen institutionalisierten Versendung von Schriften und Dingen gedient hat, ist der ehemalige Begleit- oder Zoll-Zettel ein zunehmend eigenständiges Medium einer galanten Kommunikation, die glei-

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chermaßen vor aller Augen und im Verborgenen stattfindet. Das Billett müsste, auch noch nach den Salonkonventionen des späten 19. Jahrhunderts, so verfasst sein, dass es unbeschadet in Räumen liegen könnte, die zumindest einer eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich sind, und es wird offensichtlich bei Mallarmé zu einem wichtigen eigenen Medium des poetischen Liebesschreibens. Ein gleichfalls noch frühes Beispiel, das vierte Schreiben des Briefwechsels mit Laurent, macht diese Umdeutung sinnfällig. Mallarmé schreibt am 4. April 1885 nur wenige Zeilen, die erklärtermaßen nur performativen Charakter haben sollen: »Au revoir, paon, tout ceci était pour t’embrasser une dernière fois, avant le train«/»Auf Wiedersehen, Pfau, all dies war, um dich ein letztes Mal zu umarmen [zu küssen], vor dem Zug«, wobei der elliptische Schluss eine Zeit bestimmt, nicht etwa einen gemeinsamen Ort. Nach der Unterschrift folgt aber ein weiterer Satz, der angibt, einer neuerlichen Forderung oder Erinnerung Laurents zu folgen, »voici«/»hier« soll, wie von ihr gewünscht, »le quatrain du bouquet«/»der Vierzeiler des Buketts« folgen, der oder das sie bei ihrer Ankunft in ihrem Landhaus in Talus, wohl am 1. April hätte erwarten sollen. Eine Fußnote erläutert jedoch, dass dieser Ankündigung kein Gedicht folgt, sondern ein mit derselben Schrift auf einem neuen »Papier« im selben Format geschriebener passender Text, (Brief an Laurent, 4. April 1885: Mallarmé 1996b: 34) der im Anschluss veröffentlicht ist: »Chaque rose semblant/Presque une bouche nue/Te souhaite, Paon blanc,/Chez toi la bienvenue.«/»Jede Rose ähnelnd/Fast einem nackten Mund/Wünscht dir, weißer Pfau,/Willkommen zuhause.« Hier hat offenbar die kleine Karte, wie es bis heute üblich ist, als Gruß eine ihrerseits sprechende Gabe begleitet, den gleichermaßen konventionellen wie vielsagenden Blumenstrauß zur antizipierten Ankunft Laurents. Der nackte, also der ungeschminkte Mund, ist womöglich so hell oder gar fast weiß wie es die Rosen sein könnten, deren Farbenvielfalt so groß ist, dass jede Nuance menschlicher Haut von ihnen gespiegelt werden könnte. Die Adressierung des »weißen Pfaus« macht aber doch sinnfällig, dass auch die übersandten Blumen ähnlich hell gewesen sein mögen, mit quasi zum Sprechen geöffneten lippenartigen Blüten. Auch hier ist die eigentümliche Stofflichkeit der Dinge durch den Verweis auf die Ähnlichkeit zwischen Blume und Frauenkörper(-teil) hervorgehoben, aber zugleich sind ja auch die realen Rosen der Gabe nochmals fiktiv verdoppelt, wie auch die Adressatin in der Gestalt des königlichen weißen Tiers eine andere fiktionale Realität erhält.

5 Im Briefwechsel Mallarmés mit Méry Laurent sind Liebesgedichte auf Briefkarten, beigelegten Papieren oder Briefumschlägen ebenso zu finden wie Übereignungen und Widmungen, die ihrerseits häufig in Versform verfasst sind. Diese Schreibfor-

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men lassen sich somit weder nach den Grenzen von Gebrauchstext und Poesie noch nach den Materialien und Formaten der Schriftträger scheiden – und dabei sind die erstaunlichsten dieser Schreib-Kunstwerke, die von Mallarmé mit Gedichtversen beschrifteten Papierfächer, noch nicht einmal eigens berücksichtigt (vgl. Ortlieb 2015: 173-196). Offensichtlich bietet Mallarmé alle Mittel seines Schreibens für eine Kunst des Umwerbens, Rühmens und Annäherns auf, die auf eine reiche Tradition der Galanterie zurückgreifen kann und auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch kein Anachronismus ist. Vielmehr ermöglichen gerade die technischen Neuerungen seiner Gegenwart, wie die beschleunigte postalische Zusendung oder die massenhaft verbreiteten neuen Papierwaren im japanischem Stil, dass Mallarmés kunstvolles Umkreisen der unerreichbaren Geliebten in eine Literatur überführt wird, die mit leichter Hand ausgeführt scheint und zugleich ebenso leichthin auf ihre eigene Medialität und Materialität verweist. Dabei sind es gerade die körperlich-stofflichen Dinge, die aus einer oft banalen Alltagswelt herausgelöst und im doppelten Sinn zum Gegenstand des Liebesschreibens werden, die Blumen, geeiste Früchte oder Eier, die in Mallarmés Liebesbriefdichtung allesamt zu Verlängerungen und Metonymien des bewunderten und begehrten Körpers der Geliebten werden. Dagegen haben Goethes und Ulrike von Levetzows wechselseitig übereignete Dinge auf den ersten Blick eher konventionellen Charakter, weil sich ihr Austausch unter den Augen einer Öffentlichkeit vollzieht, die klare Regeln der Anstößigkeit kennt. Schokoladetafeln, Blumensträuße und gravierte Gläser werden hier erst durch ihre Begleitung, die Verse und Prosa-Zeilen eines dezenteren Umwerbens, zu mehrdeutigen, anspielungsreichen, ›sprechenden‹ Dingen. Als beschriftete und beschriebene Dinge sind die Handschuhe und das gravierte Glas jedoch nicht nur für sich bestehende fassliche Gegenstände des Erinnerns, sondern in den Schreibprozess eingebundene, geradezu eigenständige Aktanten. Welch immenses Feld einer objektbezogenen Schreibforschung mit der Betrachtung dieses Zusammenspiels von realen Dingen und ihrer fiktiven Verdopplung, von Liebessprache und Materialisierung im Prozess werbenden Schreibens, eröffnet sein könnte, ist schon am historischen Anfang solcher modernen Liebesbriefdichtung evident, in den Billetts und Briefen Goethes an seine Nachbarin Charlotte von Stein. Mallarmé hat diese Eigenart seines poetischen Schreibens an Méry Laurent im neuesten Medium des Festhaltens von Dingen selbst vorgeführt: Eine undatierte Porträtfotografie zeigt ihn am Tisch sitzend, mit der Feder in der Hand, die bereits einen Schriftzug auf einem weißen Blatt Papier hinterlassen hat, der sich als Anrede Méry Laurents entziffern lässt. Und wie im Zitat eines Briefs vom Sommer 1889, in dem Mallarmé ihr geschrieben hatte, ihre »gute Gegenwart

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umhülle ihn, besser denn je«15 , liegt in dieser bildlichen Schreibszene um seine Schultern ein breiter ›orientalischer‹ Schal, ein modisches Accessoire, Schutz und Ehrenzeichen in einem, ein Geschenk Méry Laurents.16

Bibliografie Bedürftig, Friedemann (2004): Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Ulrike von Levetzow und Goethe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bosse, Heinrich (2014): Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Neue, mit einem Nachwort von Wulf D. v. Lucius versehene Auflage. Paderborn: Fink. Chavanne, Blandine/Harent, Sophie (Hg.) (2015): Méry Laurent. Manet, Mallarmé et les autres. Nancy: ArtLys. Damm, Sigrid (2007): Goethes letzte Reise. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel. De Nerval, Gérard (1828): Faust. Tragédie de Goethe: Nouvelle Traduction complète. En prose et en vers. Par Gérard. Paris: Dondey-Dupré. Derrida, Jaques (1992): »Parergon«, in: ders. (Hg.), Die Wahrheit in der Malerei. Übers. v. Michael Wetzel. Wien: Passagen, 31-176. Genette, Gérard (2001): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gersdorf, Dagmar von (2005): Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike Levetzow. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel. Goethe, Johann Wolfgang von (1823): »[Damit das Halbdutzend voll sei…], Billett [Nr. 6] an Ulrike von Levetzow, 10.09.1823«, GSA 29/304,VI. — (1909ff.a): »An Ulrike von Levetzow«, in: Goethes sämtliche Werke. Propyläenausgabe. 45 Bde u. 4 Ergänzungsbände. Berlin: Georg Müller, München Propyläen. Bd. 35, 211. — (1909ff.b): »Aus der Ferne. Den 10. September 1823«, in: Goethes sämtliche Werke. Bd. 36, 15. — (1983): Elegie von Marienbad. Faksimile einer Urschrift. September 1823, hg. von Christoph Michel und Jürgen Behrens. Frankfurt a.M.: Insel. — (2014): »Brief an Charlotte von Stein, Weimar, 08.01.1776«, in: Georg Kurscheidt/Elke Richter (Hg.), Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 3. 8. November 1775-Ende 1779. Berlin: de Gruyter, 18.

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»Ta bonne présence m’enveloppe, mieux que jamais« (Brief an Laurent, 9. August 1889; Mallarmé 1996b: 47). Der Katalogtext verzeichnet auch die Widmungsinschrift von Mallarmés Hand, die auf dem Papierrahmen des Bildes, allerdings ohne Signatur, auch zu entziffern ist : »Monsieur Mallarmé/s’entoure de l’affectation et du châle de Méry/SM« (Tourmachon 2015: 52, Abb. 24).

Korrespondenzen mit Objekten

Grave, Johannes/Holm, Christiane/Kobi, Valérie/van Eck, Caroline (Hg.) (2018): Objects, Framings and Parerga. Dresden: Sandstein Verlag. Hofmann von Hofmanswaldau, Christian (1994): Vergänglichkeit der Schönheit, in: Gedichte, hg. v. Manfred Windfuhr, Stuttgart: Reclam, 95. Knebel, Kristin/Ortlieb, Cornelia/Püschel, Gudrun (Hg.) (2018): Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Dresden: Sandstein Verlag. Mallarmé, Stéphane (1995): »Rondels I«, in: ders. (Hg.), Sämtliche Dichtungen. Übers. v. Carl Fischer. München: Dtv, 87. — (1996a): Vers de circonstance, hg. v. Betrand Marchal. Mit einem Vorwort von Yves Bonnefoy. Paris: Gallimard. — (1996b): Lettres à Méry Laurent, hg. v. Bertrand Marchal. Paris: Editions Gallimard. Mick, Ernst Wolfgang (1982): Goethes umränderte Blättchen. Dortmund: Harenberg Kalender. Ortlieb, Cornelia (2013): »Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé«, in: Jörg Paulus/Renate Stauf (Hg.), SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin, Boston: de Gruyter, 307-329. — (2014): »Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder«, in: Lena Bader/Georges Didi-Hubermann/Johannes Grave (Hg.), Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache. Berlin/München: Deutscher Kunstverlag, 113-128. — (2015): Verse unter Umständen. Goethes und Mallarmés Schreib-Materialien«, in: Christiane Heibach/Carsten Rohde (Hg.), Ästhetik der Materialität. München: Wilhelm Fink, 173-196. — (2017): »Das Artefakt der Dichtung. ,Goethes Schreib-Calender 1822ʼ«, in: Ulrike Gleixner/Constanze Baum/Jörn Münkner/Hole Rößler (Hg.), Biographien des Buches. Göttingen: Wallstein, 228-249. — (2018): »Vor dem Glas. Reliquien der Berührung, Medien des Entzugs«, in: Kristin Knebel/dies./Gudrun Püschel (Hg.), Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk. Dresden: Sandstein Verlag, 172-193. Petzold, Laura (2017): Bericht vom 24.1.2017, Klassik Stiftung Weimar. Püschel, Gudrun (2018): »Objekte und ihre Sprache. Ein narratologischer Versuch«, in: Martina Wernli/Alexander Kling (Hg.), Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge. Winden im Elztal: Rombach, 205-223. Suphan, Bernhard (1900): »Ulrike von Levetzow. *4. Februar 1804 †18. November 1899«, in: Goethe-Jahrbuch 21, 4-6. Felix Tournachon, genannt Nadar: »Mallarmé au châle/Mallarmé im/mit Schal, Photographie 18,5 x 25 cm«, in: Chavanne/Harent (Hg.), Méry Laurent, 52. Urzidil, Johannes (1962): Goethe in Böhmen. Berlin/Darmstadt/Wien: Artemis & Winkler. Walser, Martin (2008): Ein liebender Mann. Roman. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt.

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Cornelia Ortlieb (Berlin)

Witte, Bernd (2007): Goethe. Das Individuum der Moderne schreiben. Würzburg: Koenigshausen & Neumann.

Seelenorte Literarische Produktion zwischen schreibenden Köpfen und denkenden Händen Daniel Ehrmann (Salzburg) In Vollstreckung des Willens der Seele ist der Leib ihr fast so fremde, als jeder andre Körper. Hemsterhuis (1781: 106).   Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung. Novalis (1798: 74).

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Schreiben, ein Plural

Schreiben gibt es nicht im Singular. Das ist die paradox anmutende Zusammenfassung der Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Schreibforschung, die im Kontext eines umfassenderen practical turns platziert werden kann.1 Die große Variation, die unzähligen unterschiedlichen Praktiken, die uns in diesen Untersuchungen und selbst im Alltag begegnen, machen aus der Distanz betrachtet eines deutlich: Der Begriff ›Schreiben‹ bezeichnet eine Vielzahl, obwohl er keine Pluralform besitzt. Daraus ergibt sich eine Schwierigkeit, wie sie analog von der diskursiven Dissoziation des Wissens ausgeht, auf die Michel Foucault aufmerksam gemacht hat, und die nicht anders als mit der eigentlich agrammatischen Plural-Form ›die Wissen‹ zu bezeichnen sein würde (vgl. Foucault 1986: 10-11). In ähnlicher Weise 1

Die Rede von einem ›practical turn‹ ist vor allem in den Sozialwissenschaften (Stern 2002) oder den Science Studies (Soler et al. 2014) verbreitet. Das Interesse für Schreiben als Produktions- und Inszenierungspraxis weist aber eine unübersehbare Nähe zu dieser größeren Tendenz in der sozialwissenschaftlichen Forschung auf und zeigt auch das Potenzial von Schreibforschung als Aspekt einer neuen ›Sozialgeschichte der Literatur‹ auf.

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Daniel Ehrmann (Salzburg)

ist man im Deutschen gezwungen, stets ›das Schreiben‹ zu sagen, bleibt damit aber inhaltlich weit von der Formulierung eines emphatischen Singulars entfernt. Jedenfalls dann, wenn man einmal die historischen, sozialräumlichen und medientechnischen Variationen bemerkt hat, denen es unterworfen ist. Es wird dann offensichtlich, dass Schreiben kein einheitliches Ding, sondern eine kontextsensitive Praxis ist. Darin liegt auch der wesentliche Grund für die interne Pluralisierung des Schreibbegriffs, der dann nur noch eine Grundhaltung oder Geste bezeichnet, aber nicht mehr eigentlich in der Lage ist, die unzähligen Schreibpraktiken und ihre historisch wandelbaren Medialisierungen wie Symbolisierungen zu bündeln. Doch selbst dieses gemeinsame Fundament schlicht zu benennen, fällt bisweilen schwer. Wenn man etwa Roland Barthes’ Vorschlag ernst nimmt, neben den transitiven Gebrauch von Schrift-Zeichen (›etwas schreiben‹) auch den intransitiven Gebrauch zu stellen, kann man selbst die kommunikative Funktion der Aufzeichnung nicht mehr global auf das Schreiben im Singular anwenden. Das erste Problem, das ich damit adressieren möchte, ist aber nicht einfach ein terminologisches – oder nur insofern, als Begriffsprobleme stets auch auf eine Veränderung oder Neukonturierung des Gegenstands verweisen: Wo Terminologien ins Leere gehen, öffnet sich bisweilen eine black box,2 d.h., man ist angehalten, eine bekannt geglaubte Sache noch einmal genau zu mustern. Schreiben wird unter einem solchen Blick – zugespitzt formuliert – zum Konglomerat von Sonderfällen. Um das ein wenig anschaulich zu machen, will ich einen solchen Sonderfall, der in sich wiederum selbst gar nicht so homogen und unkompliziert wäre, dass er nicht kulturräumlich oder historisch-diskursiv oder individuell-situativ differenziert werden müsste, ins Zentrum meines Beitrags stellen: das literarische Schreiben oder – um einen Plural zu formulieren: die Praktiken der Poesie. Es liegt auf der Hand, dass poetisches Schreiben eine zentrale Stellung im Kaleidoskop literaturwissenschaftlicher Interessen einnimmt, was bislang aber nicht verhindern konnte, dass es häufig gar nicht, und wenn, dann nur als heuristische Größe figurieren konnte, deren Kontur von jener »irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit« (Rheinberger 2001: 24) ist, die Hans-Jörg Rheinberger als Charakteristikum epistemischer Dinge ausgestellt hat. Will man es als ein solches begreifen, dann ist die Undeutlichkeit der Vorstellung, die man sich von literarischem Schreiben gemacht hat, weniger als Ungenügen, denn als Ausdruck seines Status als Wissensobjekt anzusehen. Das hat etwas für sich, denn literarisches Schreiben ist, obwohl es einen Namen hat, noch lange kein Ding, auf das sich eigentlich begrifflich verweisen ließe.3 Es ist vielmehr ein Bündel von Eigenschaften und Handlungen, ein – um die vorhergegangene Charakterisierung des Schreibens im Allgemeinen aufzugreifen – Konglomerat von Sonderfällen. 2 3

Lose an das bei Latour 1999 entwickelte Konzept angelehnt. Zu möglichen Formen epistemischer Dinge in der Literaturwissenschaft vgl. Martus 2015.

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Das begriffliche Problem, das ich eingangs entworfen habe, ist also vielleicht gar keines. Einem so heterogenen Gegenstand wie dem Schreiben scheint es ja durchaus angemessen, wenn man ihn in dieser Vagheit belässt. Es gibt aber zwei Formen der Unbestimmtheit, die sinnvoll zu unterscheiden sind. Die eine resultiert daraus, dass das Nichtwissen, das der Unbestimmtheit zugrunde liegt, gar nie problematisch wurde und damit eine Art blinden Fleck im Diskurs erzeugt; die andere ist eine reflektierte Unbestimmtheit, die sich mit Robert K. Merton auch als specified ignorance, als spezifisches Nichtwissen bezeichnen ließe (vgl. Merton 1987). Mit großer Sympathie für die zweite Form will ich im Folgenden auch gar keine Bestimmung literarischen Schreibens vornehmen, sondern einen Versuch zur Un-Bestimmung wagen. Ich will es also nicht als Ding festlegen, sondern – vorsichtiger – versuchen, die Liste seiner Eigenschaften, Aktionen und Interferenzen zu erweitern, durch die es sich vielleicht tentativ konturieren lässt. Es ist dies ein von Bruno Latour entlehnter Modus, der wiederum die Prozesse der Wissensgenerierung im Laborumfeld beschreiben sollte und daher möglicherweise nur mit sanfter Gewaltanwendung auch auf den Gegenstand des Schreibens appliziert werden kann. Latour jedenfalls bemerkt: »At the time of its emergence, you cannot do better than explain what the new object is by repeating the list of its constitutive actions […]. It has no other shape than this list. The proof is that if you add an item to the list you redefine the object, that is, you give it a new shape« (Latour 1987: 88). Was man von dieser Betrachtungsweise wohl mit Gewinn übernehmen kann, ist die Betonung der Handlungen und Interaktionen, durch die neben Menschen auch Dinge als Akteure sichtbar werden. Ich werde in Anlehnung daran versuchen, die Praxis des Schreibens in einem interaktionistischen Sinn zu verstehen. Damit treten zunächst jene Kontaktpunkte von Schreiberin und Material in den Blick, die mittlerweile durch Untersuchungen etwa von Martin Stingelin (vgl. exemplarisch Stingelin 2003), Sandro Zanetti (vgl. Zanetti 2004) oder auch Stephan Kammer (vgl. Kammer 2017) geläufig geworden sind. Betrachtet man nach einem von Rüdiger Campe gemachten Vorschlag, der zu einem der prominentesten Einsatzpunkte für die literaturwissenschaftlichen Debatten wurde, das Schreiben als Schreibszene, als »Repertoire von Gesten und Vorkehrungen« (Campe 1991: 759), dann rückt die inhärente Handlungsbeziehung zwischen Schreibmaterialien, Gesten, Ideen und eben auch Schreibern in den Blick. Schreiber meine ich hier als Neutralbegriff, als jenen Akteur, der ein Schreibwerkzeug bedient, unabhängig davon, ob er später Autor oder Sekretär oder Editor oder heimlicher Manipulator gewesen sein wird. Angesichts der neuesten Forschungen wäre es freilich unterkomplex, hier unkommentiert von ›Schreiberinnen‹ bzw. ›Schreibern‹ zu sprechen, hat sie doch jüngst Christoph Hoffmann gewinnbringend von Verfasserinnen und Verfassern sowie von Autorinnen und Autoren abgegrenzt. Er hat, in Erweiterung von Foucaults Überlegungen zur Autorfunktion, versucht, »verschiedene Schreibpositionen systematisch [zu] unterscheiden« (Hoffmann 2017: 165). Der Unterschied zwischen

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den drei Positionen ergibt sich dabei aus der Frage danach, »in welcher Beziehung die Produzenten von Schreibereien jeweils zu ihren Produkten stehen und – darin eingeschlossen – inwiefern sie mit dem fertigen Produkt verknüpft sind« (Hoffmann 2017: 165). Diese Systematik ist nicht trennscharf gedacht, sondern dient der Strukturierung eines Kontinuums von Mischformen. Die Verhältnisse lassen sich aber bereits grob danach sortieren, wie stark das Schreiben intrinsisch motiviert ist bzw. welche Freiheitsgrade bei der inhaltlichen und formalen Gestaltung es zulässt. Es geht – um hier zugleich einen konzeptionellen Wechsel einzuschmuggeln – um die Frage der Autonomie des Schreibens. Schreiberinnen und Schreiber sowie Verfasserinnen und Verfasser sind dabei erwartungsgemäß wenig problematisch, nur was Autorinnen und Autoren – die Urheberinnen und Urheber literarischer Werke – ausmacht, ist nicht so einfach zu klären. Hoffmanns Befund ist daher auch zunächst, dass »die meisten Produzenten von Schriftstücken […] keine Autoren [sind], die Schreibposition Autor ist ein Sonderfall« (Hoffmann 2017: 168). Ein Sonderfall ist der ›Autor‹ auch deshalb, weil sich sein Erscheinen offenbar nicht nur an bestimmte Möglichkeitsräume seiner Schreibpraxis bindet, sondern weil er erst zum Autor wird, wenn ihm »Autorschaft attestiert worden ist« (Hoffmann 2017: 182). Da Literatur spätestens seit dem 18. Jahrhundert an diese schwierige Kategorie geknüpft ist, kann auch literarisches Schreiben nicht eigentlich untersucht werden, ohne zugleich die Frage nach seinem Verhältnis zur Autorschaft zu stellen.

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Spurenlesen

Wenn Foucaults Vermutung zutrifft, dass Autorschaft »das Resultat einer komplexen Operation [ist], die ein bestimmtes vernünftiges Wesen konstruiert, das man als Autor bezeichnet« (Foucault 2001: 1017), dann muss literarisches Schreiben wohl als Teil dieser Operation begriffen werden. Es geht dann, in Erweiterung oder vielleicht eher Abwandlung des Begriffs der »Schreibszene« (Campe 1991), nicht nur um die Interaktionen aller am eigentlichen Schreibprozess beteiligten Akteure, vielmehr sollen darüber hinaus auch jene Interaktionen wahrgenommen werden, die vom Schreiben als spezifischer Handlung ausgehen. Weniger dann allerdings, wie es Stingelin vorgeschlagen hat, wenn es sich »an sich selbst aufzuhalten beginnt« und sich selbst »thematisiert« (Stingelin 2004: 15), sondern – vielleicht grundsätzlicher – immer schon auch dann, wenn das Schreiben oder seine Materialisierung in der Schrift in Handlungs-Beziehung zu anderen Akteuren tritt. Damit ist nicht nur gemeint, dass das Schreiben und seine Bedingungen auf das Geschriebene Einfluss nehmen. Zu denken ist etwa auch daran, dass die Schreibweise, der Schreibort, die Schreibsituation – und nicht etwa der Inhalt des Geschriebenen – zum Ausweis und Beleg von dichterischer Kraft oder Individualität werden können, dass diese

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Dinge unter bestimmten Umständen sogar darüber entscheiden können, ob man einen Text als Produkt autorschaftlichen Schreibens, als Werk mithin, bezeichnen wird. Es ist dann aber nicht mehr so einfach, zu behaupten, dass eine Autorin oder ein Autor ein Werk schreibe, vielmehr wird das Schreiben zum ›Quasi-Objekt‹ nach Michel Serres (vgl. Serres 1981: 344-360), zum Akteur, der eine Schreiberin, die sonst nur zufällig ein Mensch und kein Apparat wäre, zur Autorin macht. Ich will daher versuchsweise von Praktiken des Schreibens sprechen, die eben nicht nur den eigentlichen Schreibprozess umfassen, sondern auch alle Handlungen, die von diesem Schreiben als Szene, oder als Repräsentation, oder als Artefakt ausgehen. Diese Praktiken des Schreibens sind der Gegenstand meines UnBestimmungsversuchs, denn sie lassen sich vorerst nur als Aufzählung von Eigenschaften und Handlungsweisen umreißen. Es könnte gut sein, dass das eigentliche Pensum einer genuin literaturwissenschaftlichen Schreibforschung die Arbeit an einer solchen Liste von sozialen Praktiken des Schreibens ist. Diese Arbeit kann hier indes nicht geleistet werden. Nicht nur, weil der Platz dafür nicht ausreichen würde, sondern auch weil dem Literaturwissenschaftler weniger die fließenden Gesten, die rosigen Wangen und die klammen Finger lebendiger Schreibpraktiken zur Verfügung stehen, als vielmehr bloß deren Versteinerungen in der Schrift. Die methodisch prekäre Situation, Schrift untersuchen zu müssen, um über Schreiben reden zu können, ist dem Zuschnitt einer Disziplin geschuldet, die sich unter dem Namen der Philologie der Liebe zum Wort verschrieben hat – um diese allerdings fast ausschließlich an Graphie und durch Graphie zu praktizieren. Vielleicht kommt es aber auch nur auf den Blickwinkel an. Denn ein Text als Ergebnis eines Schreibakts, zumindest im Manuskript, ist immer auch materielle Spur dieser Tätigkeit, er ist – in der Terminologie von Charles Sanders Peirce – stets indexikalischer Verweis auf das Schreiben, das ihn hervorbrachte.4 Semiologisch betrachtet, implizieren handschriftliche Texte ihren Verfasser, indem sie ihn als ›anzeigendes Zeichen‹5 mit sich tragen. Das nicht zuletzt vom jungen Goethe mitbefeuerte Paradigma dichterischer Genialität macht sich diese Verweiskraft zunutze und verdoppelt das Zeichenverhältnis noch, indem die Dichterhandschrift nicht nur von einem Schreibprozess und einer Hand zeugt, sondern zugleich die Hand des Poeten und die eine Situation traumwandlerischer Niederschrift sichtbar macht, die zu einem (seit der Emphase des Kunstwerkcharakters von Literatur im 18. Jahrhundert) einzigartigen Werk geführt haben. Überschritten wird 4 5

Nach der Zeichendifferenzierung bei Peirce 1983: 64-67. Vgl. dazu auch Sonja Neef 2008: 4346. Jacques Derrida, räumt in Erweiterung von Edmund Husserls Begriff des Anzeichens ein, dass es auch natürliche Anzeichen geben könne, die ohne Bezeichnungsintention auf ihren (möglichen) Ursprung verweisen (vgl. Derrida 1979: 79). Für den Hinweis auf diese Erweiterung im Kontext einer Untersuchung von Derridas Spur-Begriff vgl. Wirth 2007.

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dabei sogar die bekannte graphologische Vorstellung des Selbstausdrucks durch die Schrift, die der semantischen Ebene des Textes die Semiotik der handschriftlichen Züge entgegenstellt.6 Die Handschrift verweist zwar indexikalisch auf ihr Geschriebensein, auf ihre Abstammung von einem bestimmten Individuum; auf zweiter Ebene kodiert sie aber auch – als Symptom7 – die Genialität ihrer Verfasserin oder ihres Verfassers, die sich eben nicht alleine im Text, sondern auch in den jeweiligen schriftbildlich manifestierten Schreibpraktiken offenbart. Nirgends wird diese Verdoppelung deutlicher vorgeführt als im vierten Band von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Goethe 1833), jenem Abschluss des spektakulären Versuchs einer Selbstbiographie, der erst 1833 als 48. Band der Ausgabe letzter Hand und zugleich als achter Band von Goethes nachgelassenen Werken erschien. Darin skizziert Goethe die Art, in der sich seine »Dichtergabe« vor allem in jungen Jahren äußerte. Sie konnte zwar »durch Veranlassung erregt und bestimmt werden« (Goethe 1833: 14), ordnete sich also durchaus jenem letztlich gelehrten Schreibparadigma ein, das auf einer Bändigung der inspiratorischen Kraft zum Vermögen beruht (vgl. Menke 2013). Er schließt indes eine entscheidende Einschränkung an, denn »am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.« (Goethe 1833: 14) Wenn das Schreiben gegen den Willen geschieht, trägt das Papier die Spuren einer Eruption.8 Die Charakteristik einer solchen Schrift wird zum indexikalischen Verweis auf jenen Kontrollverlust über die eigenen Produktivkräfte, der seit den ersten Konzeptentwürfen ästhetischer Genialität die Vorstellung von poetischem Schreiben prägt. Je ungünstiger die Lage, umso deutlicher tritt das Dichterische der Schreibpraxis hervor: »Auch bei’m nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wamms machen zu lassen, und mich zu gewöhnen im Finstern, durch’s Gefühl, das was unvermutet hervorbrach zu fixiren« (Goethe 1833: 14-15). Das ist der radikale Sonderfall des Schreibens, in dem es, der visuellen Kontrolle des Selbstlesens enthoben, zur rein taktilen Geste wird, deren Wiederlesbar-

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Siehe dazu etwa Kammer: »Die Kulturtechnik Schreiben ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Anspruch angetreten, dem Menschen sowohl semiotisch, in den Zügen seiner Handschrift, wie semantisch, im von ihm Geschriebenen, zum Ausdruck seiner innersten Natur zu verhelfen« (Kammer 2008: 64). Hier im Sinne von Sigmund Freud, demzufolge man von einem »Symptom« spreche, »wo es sich um eine ungewöhnliche Abänderung« einer Funktion oder »um eine neue Leistung handelt« (Freud 1926: 5-6; vgl. auch Wittmann 2009). Zum Modus des Erstaunens vor den Manifestationen des unbewussten Eigenen vgl. Max Frisch, der mit Blick auf den ›Sinn eines Tagebuchs‹ formuliert: »Man ist, was man ist. Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen« (Frisch 1991: 22).

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keit zweifelhaft bleiben muss.9 Schreiben als blindes Tasten ist wohl dem maximalen Widerstand des Ensembles der Kontexte ausgesetzt (hier gegen Stingelin 2004: 10). Dabei ist es ständig in Gefahr, gar nichts mehr zu schreiben bzw. das, was es schreiben sollte, nicht mehr lesbar halten zu können. Am Morgen zeigt das Blatt vielleicht ein unlesbares Gekrakel – es trägt also im Extremfall gar keinen Text mehr –, wird aber unter bestimmten Umständen, nämlich jenen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit Emphase Literatur genannt werden, als Spur eines dichterischen Schreibens lesbar. Diese Möglichkeit, nicht das Geschriebene, sondern das Schreiben selbst zu lesen, ist der eigentliche Grund, warum ich gerade das 18. Jahrhundert als Einsatzpunkt zur Veranschaulichung meiner These gewählt habe. Es fand darin nämlich eine interessante Ablösung statt. Bereits in der ersten Jahrhunderthälfte gab es im Anschluss an die Querelle des Anciens et de Modernes eine Debatte, die die darzustellenden Gegenstände vor allem der bildenden Künste neu verhandelte. Berühmt ist etwa die Forderung des Grafen Caylus, die bildende Kunst sollte ihre Stoffe aus den Homerischen Epen ziehen (vgl. Caylus 1757: 303-305). Gotthold Ephraim Lessing greift diese Forderung 1766 in seiner Laokoon-Schrift auf (vgl. etwa Lessing 1766: 214-219), macht sie aber von einer Frage der inventio zu einer der dispositio vielleicht sogar der elocutio. Denn durch seine medientheoretische Unterscheidung der Künste muss sich im Grunde bereits die Erfindung dem Diktat der ihr zu Gebote stehenden Mittel beugen. In Lessings Abhandlung spielt das eine untergeordnete Rolle, für meinen Zusammenhang ist es aber von einiger Bedeutung. Denn indem Dichtung hier von der Ausführung her gedacht wird, stellt sich eine ganz grundsätzliche Irritation der Produktionslogik der rhetorischen Tradition ein. Und der höchste Ausdruck dieser Irritation ist die Inszenierung von Dichtung als deviantes Schreiben. Diese Haltung begegnet schon Anfang des Jahrhunderts bei Johann Christian Günther, und zwar in einem – ähnlich wie bei Goethe – Jugendgedicht, das vor allem postume Verbreitung fand, also ebenfalls als eine Art Reflexionsfigur gelesen werden kann.10 In diesem Fall ist das Gedicht weniger aufschlussreich als der Titel – weil er eigentlich gar keiner ist: »Als er einen dichten Rausch hatte, dictirte er folgende Verse einem andern ex tempore in die Feder« (vgl. Günther 2013a: 331-332). Es ist die Skizze einer Schreibszene, die im damaligen Kontext unwahrscheinlich machte, dass ihr Ergebnis Dichtung sein würde. Die kritische Ausgabe

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Eine der zentralen (zur leichteren Memorierbarkeit versifizierten) Maximen der vom bayerischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph beauftragten Regeln der deutschen Schönschreibekunst lautet: »Die Augen auf die Schrift«! (Braun 1770: o.S.) Die ständige visuelle Kontrolle ist einer ›Schönschreibkunst‹ nötig, die sich zum Ziel setzt, »eine regelmäßige und lesbare Schrift zu lehren« (Braun 1770: unpag. Vorbericht). Das Gedicht erschien erstmals 1735.

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kommentiert dazu, es handle sich um eine »[z]um Narrenkleid des Sprechers passende Fiktion, die durch die gedankliche Dichte und sprachliche Qualität des Textes widerlegt wird.«11 Die Überschrift als gelehrtes Spiel zu deuten, ist sicher eine Möglichkeit; man sollte aber nicht übersehen, dass sie auch mit größerem Ernst gelesen werden kann. Der Rausch verhindert dann eben nicht »die gedankliche Dichte und sprachliche Qualität des Textes« (ebd.), sondern nur das Nachdenken und Nachforschen der inventio und das »ex tempore« überspringt eine gründliche dispositio. Das Gedicht setzt damit mit der elocutio bereits ein, und dass es trotzdem gelingt, zeigt nur an, dass es von einem Dichter im erst später nachdrücklich so gefassten Sinn stammt. Zudem erscheint es gewissermaßen als ›reine‹ sprachliche Äußerung, da das Diktat das Schreiben und damit eben den Widerstand des Materials und die mechanisch initiierte Reflexion überflüssig macht. Die Behauptung seiner Abkunft aus einer bestimmten devianten Form des Schreibens weist den Text emphatisch als Dichtung aus und markiert zugleich den nun wieder einmal dezisiv werdenden Unterschied zwischen Handwerk und Kunst. Gestützt wird diese Deutung auch von dem in den zeitgenössischen Ausgaben gleich anschließend abgedruckten Gedicht Aria. Als er gleichfalls zu einer andern Zeit dicht berauschet war. Die kritische Ausgabe bemerkt, dass die Überschrift »nicht recht zu dem Werbegedicht« passe und »willkürlich hinzugefügt« wirke (Günther 2013: 326). Die Irritation ergibt sich offenbar daraus, dass der Titel nicht mit dem Inhalt übereinkommt – und das ist gerade der Punkt. Denn es geht hier weniger um die Benennung eines Gedichts als um die Benennung einer Tätigkeit: der des Dichtens.

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Praktiken der Poesie: Dichtung

Das ist eine etwas prekäre Deutung, deren Triftigkeit aber durch die Entwicklung belegt wird, die man hier beginnen lassen könnte. Denn wenn sich ab dem Einschnitt von 1770 (vgl. Bosse 2019) in Deutschland gerade bei der jungen Generation solche Schreibszenen häufen,12 muss das auch als eine Textpolitik verstanden werden. Am besten lässt sich das aber vielleicht an dem bereits zitierten Text des alten Goethe zeigen, der den jungen Goethe so effektvoll in Szene setzt. Denn nicht nur bei Nacht und Dunkelheit, sondern auch am helllichten Tag führt das Unvorhersehbare des kreativen Moments zu devianten Schriftbildern, die dann als Zeichen auf diesen außergewöhnlichen poetischen Prozess rückverweisen. Denn es geschah, so berichtet Goethe weiter, »daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von

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So der Kommentar von Reiner Bölhoff in Günther 2013b: 211. So exemplarisch in Goethes Werther (Goethe 1774), Johann Gottfried Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (Herder 1776).

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Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb« (Goethe 1833: 15).13 Dieser unachtsame Umgang mit dem Schreibzeug führt zu weiteren semantischen Aufladungen der Schreibsituation. Da der poetische Impuls stärker ist als die Zwänge der disziplinierten Praxis des Schreibens, wird nicht auf die Lage des Papiers oder die Haltung des Körpers wie der Finger geachtet (vgl. Heinsius 1773: 36) und damit dem Material auch erhöhtes Störpotenzial zugestanden. Ein impulsives Schreiben wird sich zum einen durch die Spuren dieses materiellen Widerstands, der im schlimmsten Fall zum Misslingen der Aufzeichnung führt, zu erkennen geben; zum anderen in der gezielten Vermeidung der Störfaktoren. So weist nicht nur der blindgeschriebene oder schiefe Text auf einen Dichter-Schreiber hin, sondern auch bereits die Wahl der Schreib- und Beschreibstoffe: »In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Product in der Geburt erstickte« (Goethe 1833: 15). Stingelin hat diese berühmte ›Schreib-Szene‹ so gedeutet, dass die Wahl des Bleistifts die Widerstände des Materials behebt und damit das Schreiben gewissermaßen zum Verschwinden bringt: »Goethe vertritt […] machtvoll einen Begriff des Schreibens, das glaubt, nahezu gänzlich von seinen materiellen und körperlichen Voraussetzungen absehen zu können« (Stingelin 2004: 10). Das stimmt wohl dann, wenn literarisches Schreiben sich in der Niederschrift erschöpft und vollendet. Wenn aber literarisches Schreiben einer Autorin oder eines Autors bedarf – und das scheint zumindest seit dem Sturm und Drang der Fall zu sein –, dann muss das Werk auch immer oder jedenfalls bis zur vollständigen Etablierung der Autorschaft seine Autorin oder seinen Autor mitschreiben. Gute Texte schreiben kann auch der Lehrling der Poesie, individuelle Werke schöpfen hingegen nur der moderne ›Autor‹. Dem Schreiben scheint hier ein symbolischer Mehrwert zuzukommen, der das eigentlich unsichtbare Ingenium anzeigen kann – und zwar besser als Stil oder andere inhaltliche Aspekte, die der Bewertung durch die Kritik unterliegen. So gesehen ist es nicht entscheidend, dass Goethe den Widerstand der Feder vermeidet, sondern dass er den Blick auf die Ausführung, auf das Plötzliche lenkt, das alle Stufen der rhetorischen Textproduktion überspringt und bei der elocutio einsetzt. Gewiss zeigt ein solches Schreiben auch einen Text, es produziert einen literarischen Inhalt (und man hat ja auch versucht, den Text in Goethes Nachlass zu identifizieren). Der schiefgeschriebene Text thematisiert aber auf materieller, formaler Ebene auch sich selbst als ein ganz spezifisches (deviantes) 13

Dieser Selbstdarstellung folgt dann noch die Interpretation von der Weimarer GoetheAusgabe (Goethe 1897: 450-451), die in der Handschrift H3 zum Epenfragment Der ewige Jude genau diese Szene wiederzuerkennen glaubt.

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Geschrieben-Sein.14 Es zeigt sich dabei eine interessante Analogie zur strukturalistischen Sprachtheorie Roman Jakobsons. Er geht bekanntermaßen davon aus, dass Sprache unterschiedliche Funktionen ausüben kann und sprachliche Gebilde sich aus bestimmten Mischungsverhältnissen dieser Funktionen zusammensetzen. Er macht unter diesen auch eine poetische Sprachfunktion aus, die den Blick auf die Sprache selbst zurücklenkt und etwa Mehrdeutigkeiten provoziert. In Anlehnung daran könnte man dort, wo das Schreiben auf sich selbst als Schreiben, auf seine Funktionsweise und seine kulturelle Bedeutung verweist, von poetischem Schreiben sprechen. Entscheidend scheint mir dabei aber – zumindest so lange, bis sich eine einigermaßen stabile Normalform poetischen Schreibens herauskristallisiert hat – die Betonung oder Inszenierung von Devianz. Daher ist vielleicht das Interessanteste, dass alles an Goethes Szene dem Schreiben als historischer Praxis des 18. Jahrhunderts entgegensteht. Stingelin scheint es zu übersehen, weil er offenbar von einer bestimmten Form literarischen Schreibens bereits ausgeht und nicht zunächst die Handlungsweisen in ihrer kulturellen Breite betrachtet. Denn Goethes Eruptionen überspringen nicht nur die rhetorischen Entwurfsstadien, sondern arbeiten auch gegen beinahe alle Anweisungen zum (Schön-)Schreiben, die die tatsächlichen Praktiken so nachhaltig prägten. Er sitzt etwa nicht richtig, ja sogar überhaupt nicht, sondern schreibt am Pult, wie er gerade davor zu stehen kommt. Er kann also gar keinen ›sauberen‹ Text, die notwendige Form der schriftlichen Kommunikation, herstellen. Das scheint ein Spezifikum literarischen Schreibens seither zu sein. Viele moderne Autoren brauchten Reinschriften auch deshalb, weil die eigene, schwer lesbare Schrift zu Satzfehlern geführt hätte. Jeder, der einmal versucht hat, etwa Friedrich Nietzsches späte Manuskripte zu lesen, wird diese praktische Notwendigkeit einsehen. Zudem schreibt Goethe nicht streng linear, sondern in gewissem Sinne topologisch – er beginnt dort, wo die Feder das querliegende Papier trifft, und es ist dabei nur Zufall, wenn dort nicht schon ein Text gewesen ist. Damit sistiert er das mühsam antrainierte Schreiben im erst vorgezeichneten, dann imaginierten Netz des Linienspiegels. Auch das ist seither Ausdruck dichterischer Idiosynkrasie, einer bestimmten Form der Sinnproduktion, die nur in der konservierten, aufbewahrten Handschrift sichtbar wird.15 Bei Friedrich Hölderlin zeigt sich das besonders deutlich, wo spätere Editoren nicht einmal mehr die Textgrenzen einigermaßen sicher bestimmen können. Hier schreibt sich die Schrift beständig selbst fort, indem sie unterschiedliche Rekonfigurationen zulässt – und sie tut das (und wird nicht etwa

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Vgl. allgemein zur Schriftbildlichkeit Sybille Krämers Arbeiten, hier exemplarisch Krämer 2018. Vgl. auch Wilhelm Diltheys Forderung nach der Einrichtung von Archiven für Literatur (vgl. Dilthey 1970) sowie Benne 2015 und Sina/Spoerhase (Hg.) 2017.

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sinnlos oder ›falsch‹), weil sie sich offenbar als eine literarische zu erkennen geben kann. Von Bedeutung sind hierbei auch die Schreibwerkzeuge, die sich anhand ihrer jeweiligen Spuren noch im Manuskript unterscheiden lassen. So dient Goethes Wechsel des Schreibwerkzeugs eben nicht nur der Minimierung der Störgeräusche, sondern ist auch – im Kontext einer sozialen Praxis des Schreibens – ein entschieden unangemessenes Mittel. Der Bleistift ist als ordentliches Schreibgerät immer noch verpönt, selbst zum ›Geschwindschreiben‹ wird zwar der Gebrauch einer »weichern Feder« erlaubt und sogar angeraten, aber doch auf einem Schreibwerkzeug, das die dauerhafte Tinte verwendet, beharrt (Roßberg 1793: 466). Der Bleistift wird explizit in den Randbereich des Schriftgebrauchs verwiesen, indem er zum Ziehen der Hilfslinien dienen soll. Der Bleistift, der im 18. Jahrhundert eine gewisse Verbreitung vor allem für Notizen unterwegs (etwa unter Italienreisenden) erlangt, ist gar nicht als eigentliches Schreibmittel vorgesehen. Jedenfalls nicht, wenn etwas so Dauerhaftes wie ein Werk damit fixiert werden soll. Goethe weicht damit nicht nur dem Kratzen der Feder aus, er inszeniert zumindest auch eine Abweichung: Er wählt den Bleistift für sein Porträt des Schreibers als Autor. Die textproduzierende Figur, die solcherart eingeführt wird, erscheint gerade nicht in der gezwungenen Haltung der Schreib- und durchaus auch der Amts- und Gelehrtenstuben, sondern schreibt im Stehen oder gar im Liegen, auf der Wiese oder nachts bei schlechtem Licht; und sie gewinnt damit auch ungleich vitalere Gestalt. Viele, teils auch bildmächtige Stereotype des Gelehrten, wie seine notorische Gereiztheit oder die hagere Gestalt, lassen sich auf eine humoralpathologische Ätiologie zurückführen, die sich noch am Ende des Jahrhunderts in den Debatten um die Lesesucht findet. So analysiert der Pfarrer Karl Gottfried Bauer noch 1791 in seiner umfangreichen Abhandlung Über die Mittel dem Geschlechtstriebe eine unschädliche Wirkung zu geben Auswirkungen nicht nur der Lektüre, sondern auch der Haltung beim Lesen auf den Körper. Es ist kein Zweifel, dass überhäuftes, zumal ein solches Lesen, wobey die Seele ihre Ideen nicht mit einer gewissen Klarheit und Heiterkeit umfasst, […] den Körper schwächt und zerrüttet. Das gar nicht einmal gerechnet, dass es die Organe unmittelbar angreift, durch die der Verstand vorzüglich seine Wirksamkeit äussert, und also auch dadurch den Einfluss des letztern hemmet: erzeugt die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen, Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfungen in den Eingeweiden, mit einem Worte, Hypochondrie, die bekanntermaassen bey beyden, namentlich bey dem weiblichen Geschlechte, recht eigentlich auf die Geschlechtsteile wirkt, Stockungen und Verderbniss im Blute, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper. (Bauer 1791: 190-191)

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Dieser Katalog körperlicher Verfallserscheinungen beschreibt indes nur die Auswirkungen des Lesens als psychophysische Praxis, die schädlichen Auswirkungen der Unterhaltungsliteratur, die viel bekannter sind, führt er erst im Anschluss an. Nicht von dem, was, sondern davon, wie – körperlich – gelesen wird, geht hier die ursprüngliche Schwächung aus. Unschwer kann man diesen Zusammenhang auch auf die Praxis des Schreibens umlegen. Denn ungefähr zu der Zeit, als Goethe seine schiefen Bleistiftverse schreibt, hält Johann Conrad Heinsius in seiner Kurzen und gründlichen Anleitung zur Schreibe-Kunst von 1773 fest: Das Schreibbuch soll gerade und nicht schief liegen. Die Feder muß auf dem Mittel-Finger ruhen, doch daß sie nicht weiter hinauf liege, als bis zu Ende des Nagels […]. Man soll den Kopf nicht zu sehr auf das Papier hängen, sondern gerade sitzen, und den rechten Arm, so viel sich ungezwungen thun lässet, nahe am Leib halten. Dieses ist um so nöthiger, weil davon die rechte Lage der Buchstaben dependirt. (Heinsius 1773: 36) Die »rechte Lage der Buchstaben« wird erkauft mit einer gezwungenen, künstlichen Haltung. Die Schreib-Kunst war eine streng reglementierte Praxis. Das Schreiben musste deutlich sein, damit es kommunikativ werden konnte (Gelehrsamkeit, Juristerei, Bürokratie etc.); es musste strukturiert sein, damit es verständlich werden konnte. Damit bleibt es eingebunden in die Dispositive rhetorischen Schreibens, die mit Rahel Jaeggi als »soziale Praxis« (Jaeggi 2014: 94-104), also als eine breit geteilte kollektive Handlungsweise, die kaum reflektiert wird, mithin als black box erscheint. Die Thematisierungen können aber darauf hinweisen, wo die Praktiken auseinanderstehen. Das ist eine weitere Konnotation des schiefliegenden Blattes: Es zeugt – als Spur – nicht nur von einem eruptiven Schreibprozess, sondern auch von einer undisziplinierten Haltung. Eine Haltung aber, die all das vermeiden kann, was Bauer in seinem Katalog der Schwächung auflistet. Schreiberinnen und Schreiber, die sich dieser Schreib-Zwänge überheben, werden mit dieser Devianz auch symbolisch bedeutsame Distinktionen erzeugen. Sie drücken nicht nur ihr kreatives Potenzial aus, sondern schaffen ihr zugleich ihre Grundlage: Durch ihr wildes Schreiben, werden sie auch die fließenden Säfte, die freien Kräfte haben, die sie brauchen, um ihren selbst definierten Beruf auszuführen: nämlich Schöpfer sein. Die Thematisierung des Schreibens, vor allem, wenn es Abweichungen erzeugt, hat daher einen entscheidenden Hintersinn, der vielleicht aus den Beiträgen von Campe und Stingelin zur Schreibszene nicht ganz deutlich wird: Indem Autorinnen und Autoren ihr Schreiben als ›wilde‹, individuelle Praxis inszenieren und ausüben, wird auch ein ganz bestimmter Freiraum reklamiert, in dem nun vielleicht alle die zum Schreiben gar nicht nötigen Dinge Platz haben, aus denen sich die moderne Autorschaft zusammensetzt. Individuelle Produktion, der Imperativ der modernen Kreativität, braucht auch individuelles Schreiben, um sich kenntlich zu

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machen. Das erklärt auch die Bedeutung der Schrift als Spur, die auf das Schreiben und darin auf den poetischen als einen schöpferischen Prozess selbst verweist. Die Vorstellung, dass Autoren Schöpfer sind, wird gerade in den 1770er Jahren zu einer ziemlich handfesten Metapher. In der Frühphase der Diskussion um das Eigentum an schriftstellerischen Werken betont Simon Nicolas Henri Linguet, ein »Privilegium« gebe »dem Schriftsteller nichts« (Linguet 1778: 42), weil er immer schon Eigentümer eines Werkes gewesen sein muss, das ohne ihn gar nicht existieren würde. Daher ist die »Verfertigung eines Buchs, es sey was es für eins wolle, […] eine wahre Schöpfung, das Manuscript ist ein Theil seiner Substanz, welche der Schriftsteller aus sich herausbringt« (Linguet 1778: 48)16 . Die Übergängigkeit, ja Transsubstantiation von Fleisch und Geist in Papier und Schrift ist pointierter Ausdruck einer sich anbahnenden epistemischen Verschiebung des 18. Jahrhunderts, in der Autor und Werk in engsten (Verweis-)Zusammenhang gebracht werden. In diesem sich immer weiter verbreitenden Paradigma der Entäußerung erscheint dann der Text qua Schrift als der Autor selbst. Das ist mehr als eine Outrierung der eigenen Kreativität, es eröffnet eben auch einen bestimmten (freilich nur konzeptionell-imaginären) Modus des Schreibens, der vielleicht jener ist, aus dem der Autor am Ende hervorgeht.

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Schreiben mit und ohne Körper

Michel Serres hat in seinem Buch über die fünf Sinne eine Beobachtung gemacht, die diesen Zusammenhang vielleicht verdeutlicht. Er stellt eine große Frage, nämlich: »Wo entscheidet sich das Subjekt?«, um sie durch so etwas Profanes wie das Nägelschneiden zu beantworten. Wenn er nämlich die Schere in die Hand nimmt, dann versetze er sich »in den Griff der Schere hinein, das ›ich‹ befindet sich nun dort und nicht in der Spitze des Zeigefingers« (Serres 1993: 17). Das ist zunächst die Konzeptionalisierung des Werkzeugs nicht nur als Verlängerung des Körpers, sondern auch als Ort, an dem das Subjekt handeln kann. »Die Seele wohnt an jenem nahezu punktförmigen Ort, an dem das ›ich‹ sich entscheidet« (Serres 1993: 18-19), schreibt er und es ist also interessant, dass er diesen Punkt auch außerhalb des Körpers verorten kann. Der folgende Aspekt seiner Überlegung betrifft das Selbstbewusstsein, das der Körper in »der Berührung mit sich selbst erlangt«. »Ohne solche Einfältelungen, ohne die Berührung mit sich selbst, gäbe es keinen inneren Sinn, keinen wirklichen Körper, […] wir würden ohne Bewußtsein leben, glatt und stets in Gefahr, uns zu verlieren.« (Ebd.)17

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Bosse führt dieses Zitat an, allerdings ohne es weiter zu kommentieren (Bosse 1981: 10-11). Zur Falte als Reflexionsraum des Körpers vgl. auch Deleuze 2000: 139-161.

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Ziemlich genau dieses Verhältnis macht nun den frühen autorschaftlichen Schreibmodus aus, der sich einer Mischung von Neuentwürfen des Kreativitätsdispositivs, tatsächlichen devianten Schreibpraktiken und ihrer Darstellung verdankt. Indem nämlich der Text zur entäußerten Substanz des Autors erklärt wird, kommt es beim Schreiben zu einer Selbstberührung und damit zu solchen Szenen des Selbstbewusstseins, die Serres thematisiert und sich bis in die Zeit der emphatischen Aufwertung des Subjekts zurückverfolgen lassen.18 Die Spitze der Feder oder des Bleistifts wird zum Seelenort, wenn sie auf das Papier trifft, um den Körper des Autors weiter zu schreiben. Nur wenn die gedanklichen Operationen der inventio und dispositio irrelevant sind, kann aber das poetische Schreiben als eine solche wirklich materielle Praxis stattfinden. Der Autor verlagert sich dann in die Feder, die sich selbst in jenem Text berührt, den sie als Spur hinterlässt. Darin liegen auch ein guter Teil des Fetischcharakters der Handschrift und die seit 1800 stark zunehmende Praxis begründet, dichterische Nachlässe bewusst aufzubewahren. Das Skizzierte ist nun freilich der in diesen Distinktionsgesten inszenierte Normalfall der dichterischen Textproduktion, der einen Autor und einen Text in einem vor allem handschriftlichen Korrespondenzverhältnis voraussetzt. Das ist leicht mit den Ursprungskontexten des autorschaftlichen Paradigmas in Deutschland zu erklären. Textkulturell gibt es aber durchaus auch dichterische Praktiken, die dem entgegenstehen und so für Irritation sorgen. Wie steht es etwa mit Diktaten oder gar mit Kollaborationen? Wo sind – mit Serres gesprochen – die Seelen hier? Welche Auswirkungen hat es, wenn die Werktexte keine Dichterhandschriften sind? Offensichtlich stürzen sie den Autor keineswegs von jenem Thron, den er nicht zuletzt durch den gezielten Verweis auf seine Hand-Schrift besteigen konnte. Gerade bei Goethe finden sich spätestens um 1800 fast ausschließlich diktierte oder kollaborativ entstandene Texte. Die kunsttheoretische Fragen verhandelnde Brieferzählung Der Sammler und die Seinigen etwa setzt keineswegs eruptiv mit der Ausführung ein, sondern existiert zunächst als Entwurf, der noch dazu zum Großteil von Friedrich Schillers Hand stammt. Goethe ist damit ein Ausführender, noch dazu einer, der nicht einmal seine eigene disposito ausarbeitet, sondern zumindest eine kollaborativ erstellte. Auch die Form, in der er es tut, ist aufschlussreich. Denn er schreibt nicht quer, nicht einmal selbst, sondern diktiert einen Text, der nach

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Besonders bekannt ist die bereits als Motto zitierte Formulierung aus den Blüthenstaub-Fragmenten: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren« (Novalis 1798: 74). In Ludwig Tiecks und Friedrich Schlegels Zusammenstellung von Novalis’ Schriften findet sich eine für diesen Zusammenhang aufschlussreiche Erweiterung: »Der Sitz der Seele ist bald hier, bald da, bald an mehrern Orten zugleich« (Novalis 1802: 336).

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dem Vorbild amtlicher und juristischer Textpraktiken auf halbbrüchige Bogen geschrieben wird. Der Text wird damit bei seiner ersten Materialisierung schon als ein unfertiger entworfen, es wird ihm gleich der übermäßige Raum gegenübergestellt, in dem er seine Verbesserung erfahren soll. Diese schreibpraktische Kontradiktion der dichterischen Inszenierungen des Schreibens sollte aber nicht als Widerlegung verstanden werden. Ich denke, sie verweist vielmehr darauf, dass dichterisches Schreiben nur auf dem Papier existiert – dort aber häufig zweifach. Denn freilich schreiben Autorinnen und Autoren ihre Werke in unterschiedlichen Kontexten, mit unterschiedlichen Hilfsmitteln, in einem Zug, allein oder gemeinsam; diese Schreibweisen sind untersuchenswert, sie werden sich aber häufig nicht von den allgemein gepflegten Schreibweisen unterscheiden. All die kleinen oder auch großen Unterschiede, die sich bisweilen ausmachen lassen, müssen zudem erst symbolischen Wert erhalten. Das alles verweist darauf, dass es keiner bestimmten Praktik dichterischen Schreibens bedarf, um Dichtung hervorzubringen, wohl aber, um sie sichtbar werden zu lassen. Für eine literaturwissenschaftliche Schreibforschung ist es daher ebenso wichtig, die Szenen des Schreibens zu betrachten wie das Schreiben selbst. Und man muss wohl beiden, ganz unabhängig von ihrer materiellen Gegebenheit, den gleichen Realitätsstatus zugestehen, weil sie beide soziale Akteure zumindest im kulturellen Feld sind, deren Handlungen den kaum sichtbaren Unterschied zwischen Verfassern und Autoren ausmachen können.

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Schreibszene, Schreibfeld, zwei Kriegsreden und Lebensanschauung Beobachtungen zu Georg Simmel Harro Müller (New York) In diesem Essay1 werden erstens Simmels Schreibszene charakterisiert, zweitens sein Schreibfeld markiert und drittens an zwei späten Veröffentlichungen sein Schreib- und Argumentationsverfahren vorgestellt. Es sind die Kriegsreden »Deutschlands innere Wandlung« und »Die Krisis der Kultur« aus Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) und sein letztes von ihm zu Ende geschriebenes Buch: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918).2 Der Essay ist ein Beitrag zur interdisziplinären Forschung. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geschrieben, ist er zugleich an Kulturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Politologie adressiert und lädt dazu ein, jenseits üblicher Disziplinengrenzen so zu fragen: Was hat Simmel in seinen Texten aufgeschrieben? Wie hat Simmel seine Texte geschrieben? Innerhalb dieses Fragerahmens verwende ich neben literaturwissenschaftlichen auch kulturwissenschaftliche, historische, philosophische, soziologische und politologische Denkfiguren, alles in der Absicht, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu bestärken und zu weiteren Auseinandersetzungen mit Georg Simmel anzuregen.

1 Zur Schreibszene: Hier geht es zunächst darum zu beschreiben, wie Simmel seine Texte verfasst hat, und zwar auch in ganz konkretem Sinne. Der Sohn Hans Simmel berichtet über den Unterprimaner Georg Simmel Folgendes: 1 2

Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um eine erweiterte Umschrift zu Müller 2019. Die Texte von Georg Simmel werden im Folgenden zitiert aus: Georg-SimmelGesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. 24 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989-2015. Im Fließtext zitiert mit Bandnummer und Seitenzahl.

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Irgendwann einmal hatte jemand dem Gymnasium, das mein Vater besuchte, eine kleine Stiftung zugewendet mit folgender Bestimmung: In Unterprima war an einem bestimmten Tage ein Klassenaufsatz zu schreiben. Die beste Arbeit wurde mit zehn, die zweitbeste mit fünf Thalern prämiert. Mein Vater bekam den ersten Preis. (H. Simmel 1976: 250) Das scheint die Urszene für Simmels zukünftiges Schreiben gewesen zu sein. Ein Thema, eine Fragestellung, ein Problem, von der Schule vorgegeben und später selbst gewählt, werden in Aufsatzform behandelt. Arbeitsmittel das Schreibgerät (Feder oder Bleistift), der eigene Kopf mit seinem kognitiven Vermögen einschließlich erheblicher Gedächtnisleistungen und leere, mit Handschrift zu füllende Blätter. Keine weiteren Hilfsmittel, weder ein sich selbst denkender Zettelkasten (Luhmann), noch Berge von Literatur oder Stapel von Exzerpten auf dem Tisch. Ohne Hilfsmittel wird also bei dieser Aufsatzform methodisch-unmethodisch (Adorno), komparativ-divinatorisch (Schleiermacher) über einen Gegenstand geschrieben, der vom Henkel über Mode, Koketterie, Streit, Abenteuer, Schauspieler, Ruine, Landschaft, Lebensstil, Geschichtsphilosophie, Geld, Vergesellschaftung, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Goethe, George, Rodin, Rembrandt, Tod, Leben bis zum Denken des Denkens und zum Bedürfnis nach dem Absoluten reicht. Der Aufsatz als Schreibform behandelt die Relation zwischen dem Universalen und dem Besonderen, zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären stets auf individuelle und nicht auf generelle Weise. Deshalb ist auch kein Schulaufsatz mit anderen Schulaufsätzen zum selben Thema identisch, sie sind Ergebnisse individueller Produktivität. Nicht umsonst beginnt Simmel, dessen Lehrstuhldenomination in Straßburg »Philosophie und Pädagogik« hieß, in seiner Schulpädagogik das 8. Kapitel mit dem Titel »Vom deutschen Aufsatz« mit folgendem Satz: »Bei der Behandlung des Aufsatzes bedenke man immer, daß er die eigentlich einzige Gelegenheit ist, an der der Schüler Produktivität zeigen kann« (20, 431). Der Aufsatz als Ort von handschriftlicher Produktivität muss also sich stets mit der Relation Wiederholung/Innovation, Repetition/Variation auf individuelle Weise auseinandersetzen, und dieses Aufsatz-Spiel – so meine Vermutung zu Simmel – ist bei ihm sein Leben lang trotz aller Ambivalenzen stark lustbesetzt. Sein Schreiben ist also die stets affektiv positiv aufgeladene, ständige Wiederholung der Relation Wiederholung/Innovation. Dieses Spiel erzeugt keine demonstrativen Wahrheitsbeweise, sondern setzt auf Plausibilität, auf Evidenz, vielleicht am besten formuliert, auf Stringenz und weiß zugleich trotz des von Simmel kunstvoll und virtuos eingesetzten relationalen, stets auf Wechselwirkung achtenden Perspektivismus um das nicht ganz zu vermeidende Willkürliche dieses Verfahrens. Das kann ein Vergleich mit Mathematikarbeiten verdeutlichen. Wird Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division oder Prozentrechnung getestet, kann man schnell sehen, dass die Vorgehensweise unterschiedlich ist. Ein simples Beispiel: Schreibt ein Schüler 3 + 3 = 6, hat er die

Schreibszene, Schreibfeld, zwei Kriegsreden und Lebensanschauung

Aufgabe richtig gelöst. Schreibt ein Schüler 3 + 3 = 7, ist die Lösung falsch und verweist auf eine individuelle Fehlrechnung. Schreibt ein Schüler 3 + 3 = 7 − 1 ist das immer noch nicht das richtige Ergebnis, weil er die Additionsaufgabe mit einer Subtraktionsaufgabe beantwortet. Er müsste also schreiben: 3 + 3 = 7 − 1 = 6, dann hätte er umwegig die Aufgabe richtig gelöst; die Lösung gilt gestern, heute und morgen und für alle, die sich der Aufgabe unterziehen, drei und drei zu addieren. Die nicht auf demonstrative Gewissheit, sondern auf argumentativ erzeugte Stringenz abzielende Form des Aufsatzschreibens verknüpft Simmel dann später mit den Schreibformen Essay und Abhandlung. Im Zentrum steht bei ihm das Aufsatzschreiben, der Essay nähert sich verstärkt literarischen, die Abhandlung verstärkt wissenschaftlichen Schreibformen. Allerdings bewahren alle drei Schreibformen auf unterschiedliche Weise ihren akademischen Charakter. Aus ihrer geschickten Kombination können sich dann durchaus dicke Bücher ergeben wie Philosophie des Geldes (1900) oder Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Simmels Schreibmotto war: nulla dies sine linea, dazu passt gut folgende Anekdote, die Sohn Hans berichtet: Diese langen Ferien waren für ihn nicht nur Zeiten der Erholung, sondern gleichzeitig besonders ungestörter Arbeit. Ein kleines Päckchen Notizen oder ein halbfertiges Manuskript war alles, was er mitzunehmen brauchte. Wir reisten fast immer in die Schweiz. An Schönwettertagen wurden häufiger größere Wege, auch vereinzelte Besteigungen gemacht, an Schlechtwettertagen immer gearbeitet; oft sogar noch nach Touren, wenn sie nicht besonders anstrengend waren. (H. Simmel 1976: 252) Ein weiteres Beispiel für Simmels Schreibszene: leere Blätter und produktiver, formativer Einsatz seines Kopfes, seiner Schreibhand und seines Schreibgeräts. Simmel reiste gern zu Vorträgen, er verstand sich dabei als ›Wanderprediger‹. Nach getaner Vortragsarbeit bei der Rückreise im Zug verhielt er sich wie folgt: »Auf der Rückreise arbeitete er manchmal schon an einem anderen Vortrage« (H. Simmel 1976: 258). Simmel verbindet also Kopf- und Handarbeit. Der Kopf denkt unter Aktivierung von Gedächtnis- und Einfallskraft und formiert Sprache, die Schreibhand schreibt unter aktiver Teilnahme des Schreibgeräts mit (Nietzsche), formiert auf ihre Weise Sprache und schreibt den Text auf, indem sie ihn Zeile für Zeile, Seite für Seite auf das Papier bringt und so seine von Kopf, Hand und Schreibgerät erzeugte Linearität objektiviert. Wobei es zu Simmels Schreibpraktik gehört, den Text flüssig gemäß der Faustregel ›lass’ laufen‹ herunterzuschreiben und ihn anschließend kaum oder gar nicht zu korrigieren. Bei erneuter Verwertung der Vor-

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träge, der Aufsätze, der Texte werden diese entweder unverändert übernommen oder leicht bis gravierend umgeschrieben. Zu dieser Art des Schreibens passt auch Simmels Weise des Lesens. Karl Berger erinnert sich: Mein Glaube, daß Simmel immer noch viel lese, erwies sich als unrichtig. Ich fragte ihn, wo denn eigentlich seine Bibliothek sei? Er zog mich am Arm in den Korridor, wo eine sehr beschränkte Anzahl von Büchern auf einem recht unbedeutenden Regal aufgestellt war: ›Hier‹, sagte er, ›ich lese nicht mehr.‹ (Gassen/Landmann 1958: 248) Und Charles Hauter vermerkt: Er las keinen Text, ohne ihn mit der fundamentalen Lebenseinstellung des Autors zusammenzusehen. Ein Bücherleser im gewöhnlichen Sinne ist Simmel nicht gewesen. Er hat mir gesagt, daß er in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens kaum ein Buch ganz gelesen hätte. Eine Ausnahme machte Spenglers Untergang des Abendlandes, der Simmel sein Buch zugesandt hatte. Es war das letzte, das Simmel las. (Gassen/Landmann 1958: 252-253) Wenn sich die Schreibszene von Simmel so dargeboten hat, wie ich es vermute, dann kann man vielleicht besser erklären, warum Simmel Probleme mit dem Abschreiben, mit dem Zitieren hatte. Exemplarisch dafür sein Goethe-Buch. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Simmel als Philologe keine Universitätskarriere gelungen wäre. Kaum ein Zitat stimmt, Simmel lässt Worte aus, fügt Worte hinzu, verändert Groß- und Kleinschreibung, schreibt Syntax und Zeichensetzung um, keine Auslassungszeichen usf. Die Herausgeber des Goethe (1913) in der Gesamtausgabe haben sich zu diesem Tatbestand in ihrem editorischen Bericht Folgendes einfallen lassen: »Unberührt bleiben auch die von Simmel ausgewiesenen Zitate, die zumeist gemäß den heutigen wissenschaftlichen Standards unkorrekt sind; da Simmel in Hinblick auf seinen Gedankengang und seinen Satzrhythmus zitiert, sind die Zitate in seinen Texten nie als Autorenrede eines anderen zu verstehen« (15, 518). Hans-Peter Müller meint in seiner sehr lesenswerten Einleitung zum Simmel-Handbuch, dass Simmel in seinem großen Goethe-Buch offenkundig mehr oder weniger aus dem Gedächtnis zitiert habe (H.-P. Müller 2018: 18). Wilhelm Vosskamp bietet in seinem Goethe-Handbuchartikel eine moderne Form der Geistesgeschichte. Für ihn ist Simmels Zitattechnik ein »Mittel selbstreflexiver Distanz« (Vosskamp 2018: 724). Wenn hingegen meine Überlegungen stimmen, hatte Simmel deswegen so große Probleme mit dem Zitieren, weil er beim Zitieren sein Lieblingsspiel, Wiederholung der Relation Wiederholung/Innovation, stillstellen musste. Pure Wiederholung hat ihn vermutlich massiv gelangweilt; offensichtlich war er konstitutionell

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unfähig, die Mühsal korrekten Abschreibens auf sich zu nehmen, weil das ihn antreibende Innovationsbegehren beim sturen Kopieren keine Nahrung fand.

2 Zum zweiten Teil: Simmels Schreibfeld. Simmel verstand sich hauptsächlich als Philosoph, der grundsätzlich kein spezifisches Forschungsfeld wie z.B. Physik, Literaturwissenschaft oder Biologie, sondern Allzuständigkeit für sich reklamiert. Allerdings wusste er, dass Philosophie bei der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems der Kooperation mit anderen Wissenschaften bedarf: z.B. Soziologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, Evolutionstheorie. Nun gehört er zu den Mitbegründern einer Kooperationsform, die sich bis heute als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat. Es ist die zwischen Philosophie und Soziologie, und Simmel gilt nicht umsonst mit seiner Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung und seinen Grundfragen der Soziologie neben Max Weber und Émile Durkheim als einer der Gründerväter von Soziologie als Fachwissenschaft. Ich verweise nur im deutschen Traditionszusammenhang auf Horkheimer, Adorno, Kracauer, Habermas, Honneth, Plessner, Gehlen, Schelsky. So ist zumindest der langfristige Erfolg von Philosophie des Geldes auf diese Kooperationsform zurückzuführen; ähnliches gilt z.B. für Jürgen Habermas mit Theorie des kommunikativen Handelns, obwohl die jeweils gewählten Stilregister reichlich unterschiedlich ausfallen. Zudem ist anzumerken, dass Simmel an einer Kooperation mit der Psychoanalyse kein Interesse zeigte, obwohl 1900 sowohl Philosophie des Geldes als auch von Freud Die Traumdeutung erschienen sind und eine Zusammenarbeit zwischen Simmel als dem Philosophen der Tragödie, der Not der Kultur und Freud als Psychoanalytiker, der über das Unbehagen in der Kultur nachdenkt, epistemologisch ergiebig hätte sein können. Allerdings ist Simmel zugleich ein Philosoph, der während seiner Denkkarriere auch eigenständige Philosophie betreibt. Seine Religionsphilosophie, seine Kunstphilosophie, seine Lebensphilosophie, seine Beiträge zu Goethe, Rembrandt und Rodin kommen fast ganz ohne diachrone Perspektive aus; sie setzen auf synchrone, besonders auf panchrone Verfahren. Auf diese Weise wird die Kooperation mit der Soziologie massiv heruntergefahren, aber nie gänzlich aufgegeben, zumal Simmel niemals einen methodologischen Individualismus verfochten hat. Gleichviel stellen diese Texte eine Form des philosophischen Schreibens dar, die massiv einer spekulativen Metaphysik verpflichtet ist. Nietzsche verkündete den Tod Gottes, für Simmel hingegen währt in der Moderne ein Bedürfnis nach dem Absoluten fort: »Ich habe es nicht gesehen, aber es war da« (Groethuysen zitiert Simmel in: Gassen/Landmann 1958: 279). Simmel nimmt also dieses Bedürfnis nach dem Absoluten ernst, setzt es nicht einer Hermeneutik des Verdachts aus und unterstellt es ebenfalls dem von

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ihm adressierten Publikum. Es wird auf ähnliche und zugleich unterschiedliche Weise in Religion, Kunst und Philosophie behandelt. Simmel selbst denkt in seiner Religionsphilosophie, in seiner Kunstphilosophie, in seiner Lebensphilosophie über diese Zusammenhänge nach und sieht sich in Rede und Schrift in Verantwortung vor seinem und für sein Publikum (vgl. 17, 339-340). Insofern grundiert ein ethisch-existentielles Engagement sein Schreiben. Er ist deshalb kein Vertreter des Ästhetizismus in seinen vielen Spielarten. Nicht umsonst diskutiert er in seiner eigenwilligen Nietzsche-Rezeption intensiv Zur Genealogie der Moral, während Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik so gut wie gar keine Rolle spielt. Allen Positionen, die das Leben zum Kunstwerk erklären wollen, schreibt Simmel ins Stammbuch: »Leben kann und soll so wenig ein Kunstwerk sein, wie es ein logisches Schlußverfahren oder eine mathematische Rechnung sein kann und soll.« (15, 183) Zugleich positioniert er sich aufgrund seiner Denk- und Schreibweise eher am Rande des wissenschaftlich-philosophischen Feldes. Ihn interessieren weder strenge Fachwissenschaft noch strenge Fachphilosophie, die im Wesentlichen nur für die interne scientific community publizieren. Vielmehr schreibt er stets – und auch in seiner Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung – für ein breiteres, wissenschaftlich interessiertes, gebildetes und für Selbstbildung offenes Publikum, und die Sprachform, die er wählt, mischt in unterschiedlicher Dosierung Umgangs-, Bildungs- und Wissenschaftssprache. Weder diskutiert er den jeweiligen Forschungsstand, noch setzt er sich ernsthaft mit Kollegen in seinen zumeist zitat- und fußnotenfreien Texten auseinander; ich nenne nur als Beispiele seinen Berliner Kollegen Wilhelm Dilthey, seinen Heidelberger Kollegen und Siezfreund Max Weber oder auch seinen amerikanischen Kollegen Charles S. Peirce, den Simmel offensichtlich nicht kannte. So ist für Simmel die amerikanische Variante des Pragmatismus die »oberflächlichste und beschränkteste« (16, 196). Auf Henri Bergson, den er jubilatorisch als Stern am Philosophenhimmel feiert und den er massiv promoviert, geht er nur deswegen ein, weil er bei Bergson etwas findet, was er selbst lange gesucht hatte. Was die negativen Begrenzungen seines Schreibfeldes betrifft, ist schnell zu sehen, dass Simmel substanzielle Metaphysik, Essentialismus, objektive Teleologie, materiale Geschichtsphilosophie, Formen des radikalen Skeptizismus, des Nihilismus, des Irrationalismus, des Mystizismus, des historistischen Relativismus, des Kausalismus, des Mechanismus, des Positivismus, des Szientismus und nicht zuletzt des Marxismus mit seinem Basis-Überbau-Modell und des sich in letzter Instanz durchsetzenden ökonomischen Faktors ablehnt. Er plädiert hingegen für einen relationalen, stets auf Wechselwirkung achtenden Perspektivismus, der allerdings – und das ist entscheidend – mit einem gemäßigten Holismus verknüpft wird, der stets auf fragmentierte, damit auch umschreibfähige und insofern fallible Totalität verweist. Deshalb ist Simmels Schreibfeld auch von allen Positionen

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abzugrenzen, die auf Dissemination, auf Sinnzerstreuung setzen und Totalitätskonzeptionen jeglicher Provenienz z.B. wegen Nichtbeendbarkeit der Signifikantenkette negieren. In der Regel versucht er, wie gezeigt, stringente Texte zu produzieren, er ist zu Recht als Philosoph des Sowohl-als-auch, des Vielleicht, des Irgendwie, des Sozusagen beschrieben worden. Er lässt Argumente, ganze Argumentationsfelder in der Schwebe, er produziert subtile Beschreibungen, achtet sehr auf Parallelen, Ähnlichkeiten, benutzt binäre Oppositionen und leidet darunter, skizziert agonale und antagonistische Relationen und ist an der Konstruktion von Paradoxien interessiert, die stets starke Monosemieannahmen voraussetzen. Insgesamt bewegt sich also sein Schreibverfahren zwischen Monosemie und Polysemie oder besser, im Sinne von Simmel formuliert, in einem sprachlichen Kraftfeld, in dem Monosemie- und Polysemiebewegungen spannungsreich mit- und gegeneinander verknüpft werden. Sodann beruht die Wirksamkeit seiner Texte auch darauf, dass er, der sich nicht sehr um Narration schert, seine argumentativ angelegten Texte so strukturiert, dass er massiv die Verfahren von kontextueller Argumentation für sein Schreibverfahren ausnutzt und die damit verknüpften methodologischen Schwierigkeiten – interne und externe Unabschließbarkeit und den damit stets verbundenen Argumentationsabbrüchen – meisterlich durch einen Stil, der Eleganz mit Umständlichkeit mischt, und durch eine Tonlage, die auf gediegene Weise vertrauensbildend wirkt, fast zum Verschwinden bringt. Er ist an innovativen, frischen Beobachtungen erster Ordnung interessiert und verknüpft sie mit zahlreichen perspektivisch angeordneten Beobachtungen zweiter Ordnung und produziert so Textmuster, die auf raffinierte Form Geschlossenheit mit Offenheit verbinden. Insofern erzeugt er – zumindest im Regelfall – gemäßigt hybride Texte, die Ausdifferenzierung, Umdifferenzierung, Entdifferenzierung und Neudifferenzierung auf extrem gekonnte Weise mischen, die nicht zuletzt das Verfahren analoger Beziehungssetzung in ihren metaphorischen und synekdochischen Formen außerordentlich erfolgreich verwenden und kunstreich vorwiegend induktive, aber auch deduktive und besonders Innovation anzeigende abduktive Schlussverfahren miteinander verknüpfen. Auf diese Weise generiert er Texte von großer Kohärenz, allerdings kann er auf diese Weise keine konsistenten Texte herstellen. An streng metatheoretisch angelegten, eigenständigen Texten in Aufsatzform ist Simmel – anders als Max Weber – nicht interessiert, wohl kann man hin und wieder metatheoretische Anmerkungen bei ihm lesen. Auch Formen des personal essays mit seiner starken Betonung der ersten Person Singular lehnt Simmel ab; ebenso bewegt sich autobiografisches Schreiben mit seiner großen Akzentuierung der IchPerspektive jenseits seines Schreibfeldes. Das trifft auch auf strikt parteiisch ausgerichtete Textsorten wie Streitschrift, Pamphlet, Manifest zu, die stets antagonistisch angelegt sind. Insgesamt kann man seine Texte als Zwischentexte charakterisieren, die zwischen wissenschaftlichen, philosophischen, vorwissenschaftlichen

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und außerwissenschaftlichen Wissensformen in unterschiedlicher Dosierung und Gewichtung sich hin und her bewegen (vgl. Knaller 2019). Das hauptsächlich verwendete Darstellungsverfahren ist relationaler, auf Wechselwirkungen achtender Perspektivismus im Spannungsfeld von Monosemie und Polysemie. Simmels Texte – mit Ausnahme seiner nicht sehr gelungenen dichterischen Versuche – sind im Regelfall ironiefreie, ernste Texte, da ist er weit von Nietzsche entfernt, der sich seit Menschliches. Allzu Menschliches als ›Narr und Held‹, als ›Hanswurst und Weiser‹ begriff und der versuchte, eine tragische Philosophie des Schreckens und der Lust mit einer lachenden Philosophie des Lachens zu verbinden, d.h. ernste mit unernsten Formen der Philosophie zu verknüpfen (vgl. H. Müller 2016: 26-29). Beide sind Bewohner der Gutenberg-Galaxis, allerdings ist ein Unterschied zu verzeichnen. Während Nietzsche trotz seines kurzen Ausflugs zur Schreibmaschine ein exzellenter Vertreter einer Handschrift- und Buchschriftkultur ist, ist Simmel ein exzellenter Vertreter einer Handschrift- und Druckschriftkultur. Vertreter der Handschriftkultur ist er nicht nur wegen der handschriftlichen Produktion seiner im weiten Sinn wissenschaftlichen Texte, sondern auch als Briefschreiber. Simmel schrieb – statistisch gesehen – jeden Tag drei im Regelfall handschriftlich verfasste Briefe. Das sind pro Jahr 1095 Briefe. Leider sind über 80 % seiner Briefe den Turbulenzen des 20. Jahrhunderts zum Opfer gefallen. Die erhaltenen Briefe sind in den Bänden 22 und 23 der Georg-Simmel-Gesamtausgabe zu finden. Beide Bände zusammen ergeben 2335 Seiten. Dass er ein vorzüglicher Vertreter der Druckschriftkultur gewesen ist, kann man nicht zuletzt an seinen Veröffentlichungsorten absehen: Er publiziert in Zeitungen, in Zeitschriften, in Magazinen, in wissenschaftlichen Zeitschriften, in populärwissenschaftlichen und nicht zuletzt in wissenschaftlichen Verlagen. Nietzsche hingegen als Vertreter der Buchschriftkultur veröffentlicht fast nur Bücher. Handschrift- und Druckschriftkultur stellen Formen mittelbarer, zeit- und ortsversetzter Kommunikation dar. Bei Formen unmittelbarer, zeit- und ortsidentischer Kommunikation bevorzugte Simmel jenseits des Familienzusammenhangs zumeist gesellige, auf Distanz achtende Verkehrsweisen, von denen er sich auch Anregungen für seine Denk- und Schreibarbeit erhoffte. An fernmündlicher Kommunikation hatte er kein Interesse. Im Haushalt Simmel gab es nie ein Telefon. Als konsequenter Vertreter einer Handschrift- und Druckschriftkultur erweckte Fotografie – anders als bei Jacob Burckhardt und z.B. bei August Strindberg – als apparatgebundenes Reproduktionsmedium bei ihm ebenfalls kein Interesse. Er kanzelte sie als kunstunfähig ab: »sie ist ein Abklatsch der Wirklichkeit« (21, 145). Film: Ein Medium, das nicht auf individuelle Hand- und Kopfarbeit zurückgeführt werden kann und vielleicht das erfolgreichste Medium des 20. Jahrhunderts gewesen ist, ist von Simmel – wenn ich es recht sehe – noch nicht einmal erwähnt worden.

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3 Ehe ich mich den Texten zuwende, eine kurze Zwischenbemerkung. Bei interessanten und kognitiv herausfordernden Autorinnen und Autoren frage ich mich stets, welches die Fragen sind, die ihre Produktion stimulieren und sie immer wieder antreiben, die Denk- und Schreibarbeit fortzusetzen. Im Hinblick auf Simmel scheinen es mir zwei zu sein. Es handelt sich jeweils nicht um Was-, sondern um Wie-Fragen. Die erste lautet: Wie kann ich Gesellschaft, gegenwärtige Gesellschaft in ihren sachlichen, psychischen und sozialen Beziehungen und Prozessen beschreiben, verstehen und erklären? Die zweite, die Simmel häufig zwischen den Zeilen, implizit, aber auch explizit, behandelt, lautet: Wie und wozu leben in der Moderne, besonders in der jeweiligen Jetztzeit? Zur Beantwortung der ersten Frage sind u.a. deskriptive, interpretative und explanatorische Sätze notwendig, bei der Beantwortung der zweiten Frage ist ohne implizit oder explizit formulierte normative Sätze nicht auszukommen. Insofern möchte ich im materialen Teil dieses Essays zeigen, dass Simmel nicht dem Postulat der Werturteilsfreiheit folgt, sondern in seiner Rolle als Mitspieler und Beobachter seiner Gegenwart der Teilnehmerperspektive nicht entraten kann, für die er normative Annahmen braucht, die er häufig mit metaphysischen Fragestellungen und mit seinem ethisch-existentiellen Engagement verknüpft. In der Literatur zu Simmel ist es üblich geworden, ein Drei-Phasen-Modell zu favorisieren (vgl. H.-P. Müller 2018: 70-83). Das möchte ich nicht diskutieren, vielmehr darauf verweisen, dass 1914 für Simmel eine massive Bruchstelle darstellt. Nicht nur wechselt er von der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin zu der KaiserWilhelm-Universität Straßburg, auch Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieges haben ihn zunächst dermaßen hochgradig euphorisiert und massiv irritiert, dass man von einer heftigen Denormalisierungserfahrung im Sinne von Jürgen Link sprechen kann, die nicht folgenlos für sein weiteres Leben geblieben ist (vgl. Link 2018: 17). Margarete Susmann über Simmel nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: »Er hat den Krieg, den Ausbruch des Krieges, die ›absolute Situation‹ genannt, weil er eine unbedingte Entscheidung jedes einzelnen Deutschen forderte: die für den Krieg oder gegen den Krieg« (Gassen/Landmann 1958, 290). In diese Entscheidungssituation gestellt, engagiert sich Simmel an der Heimatfront, arbeitet wissenschaftsfern und fachfremd in der Straßburger Stadtverwaltung. Sohn Hans berichtet: »Auf der Zensurstelle des großen Straßburger Telegraphenamtes fehlte es bald an Arbeitskräften, besonders für den Spätdienst. So hat er in vielen Nächten von acht bis zwei dort gearbeitet« (H. Simmel 1976: 267). Die intensive Denormalisierungserfahrung bewirkt auch Folgendes. Zum ersten Mal in seinem Leben leidet er unter erheblichen Schreibschwierigkeiten, an Schreibblockaden. So schreibt er am 5. März 1915 an Margarete von Bendemann: »Seit dem Krieg ist meine Fantasie gelähmt, jeder Gedanke ist von der Schwere des deut-

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schen u. des europäischen Schicksals so beladen, dass er nicht vorwärts kommt« (23, 490). Dennoch hat er in der Kriegszeit weitergeschrieben und in Kontinuität mit seinen bisherigen Schreibverfahren z.B. Rembrandt (1916) und Grundfragen der Soziologie (1917) veröffentlicht. Allerdings verwandelt sich der Philosoph des Henkels nicht in einen Philosophen des Maschinengewehrs, und auch eine zumindest denkmögliche Philosophie des Weder-noch stellt für Simmel keine Option dar. Zugleich produziert er jedoch während der Kriegszeit zwei nicht sehr umfängliche Bücher, die sich stark einer Monosemierung auf unterschiedliche Weise annähern und sein Schreibfeld qualitativ verändern. Seine Kriegsschrift Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) ist ein performativer Text, in dem Simmel die Leser imperativisch dazu auffordert, seine Situationseinschätzung zu teilen und daraus auch lebenspraktische Konsequenzen zu ziehen. Auch seiner letzten Publikation Lebensanschauung (1918), die zum ersten Mal Metaphysik als Metaphysik in Buchform thematisiert, eignet allerdings auf andere Weise ein entschiedener Zug zur Monosemierung. Das möchte ich im Folgenden zeigen. Relativ kursorisch beschäftige ich mich mit seinen beiden Kriegsreden, ausführlicher mit Lebensanschauung, ein Buch, das Simmel für sein bestes hielt.

4 In seiner Rede »Deutschlands innere Wandlung« vom November 1914 tritt Simmel als radikaler Krisenphilosoph auf. Es ist Wendezeit: »Wir wissen, das Leben wird ein anderes sein« (16, 16). Die absolute Situation fordert absolute Entscheidung (vgl. 16, 22). Das hoffnungsvoll ersehnte Ergebnis des Krieges: Ersetzung des modernen Menschen durch den neuen Menschen, einem ganzen Menschen, der nicht mechanisch Daseinsvollzüge bestreitet, sondern organisch lebt (vgl. 16, 27). Simmel in überschwänglicher performativ-imperativer Rede: »Wir alle suchen und erhoffen gemeinsam den neuen Menschen« (16, 29). In seiner Rede vom Januar 1916 »Die Krisis der Kultur« ist der euphorische Tonfall gemildert, in der Sache bewegt sich Simmel auf komplexere Weise auf der Linie von 1914. Zunächst greift Simmel auf die Krisenanalyse zurück, die er 1911 in »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« (12, 194-223) geliefert hat. Allerdings bezieht sich diese Krisenanalyse auf Friedens- nicht auf Kriegszeiten. Wie ist der Befund? Aufgrund von Ausdifferenzierung, aber auch von Arbeitsteilung, haben sich in der Moderne die Zweck-Mittel-Ketten so verlängert, dass die eigentlichen Zwecke aus dem Blickfeld geraten und Mittel zu Zwecken, gar zu letzten Zwecken hochgerechnet werden. Sodann ist ein massiver Widerspruch zwischen subjektiver und objektiver Kultur festzustellen, der zwar Individualisierungschancen eröffnet, im Re-

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gelfall jedoch massive Entfremdungseffekte zeitigt, die zur Orientierungslosigkeit, zur Handlungsunfähigkeit führen können. Neudeutsch formuliert: Die überkomplexe moderne Wirklichkeit lässt kaum Komplexitätsreduktionen zu, die es erlauben könnten, Persönlichkeitsstrukturen zu erzeugen, die zumindest ansatzweise Formen von versöhnter Existenz zu praktizieren vermögen. Simmel diagnostiziert eine Pathologie der Kultur, sie ist erkrankt. Linderung, gar Formen der Genesung vermag nun der Krieg zu bieten. Diesen Genesungsprozess will Simmel als Arzt der Kultur aktiv unterstützen, deshalb schreibt er einen performativen Text und produziert folgende Sätze: Hinter dem Soldaten versinkt der ganze Apparat der Kultur, nicht nur weil er ihn tatsächlich entbehren muß, sondern weil Sinn und Forderung der Existenz im Kriege auf einer Leistung steht, deren Wertbewußtsein nicht erst den Umweg über Objekte nimmt. Ganz unmittelbar bewähren sich Kraft und Mut, Gewandtheit und Ausdauer als die Werte seiner Existenz, und ersichtlich hat die ›Kriegsmaschine‹ ein ganz anderes, unendlich und viel lebendigeres Verhältnis zu dem, der sie bedient, als die Maschine in der Fabrik. (16, 40) Dass die Friedenszeit massiv Krisenzeit ist, verdeutlicht ein Blick auf die Felder Kunst, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft, die zwar durch interne, nicht aufeinander abbildbare Logiken gekennzeichnet sind, jedoch jeweils massive Krisensymptome erzeugen. Ich beschränke mich auf die Felder Kunst und Wirtschaft. Zur Kunst. Naturalismus, Futurismus, Expressionismus zeigen große destruktive Kraft, allerdings setzen alle drei Kunstrichtungen auf unmittelbaren Ausdruck und können deshalb keine konstruktiv-formativen Energien entfalten, die Voraussetzung sind für ausdrucksintensive, vollendete Kunst, die das Wesen des Schöpfertums bezeugt (vgl. 16, 41-42) und weder dem herkömmlichen Mimesisgebot noch dem idealistischen Schönheitspostulat auf der Programmebene folgt (vgl. generell Meyer 2017). Auf dem wirtschaftlichen Feld vergleicht Simmel Friedens- und Kriegszeiten. Völlig im Gegensatz zu der in Philosophie des Geldes vorgenommenen Analyse, welche die Monetarisierung aller Lebensverhältnisse demonstriert, zeigt der Krieg nämlich das Geld als ohnmächtiges Mittel und durchbricht so massiv die Absolutheit des Geldwertes (vgl. 16, 47), die Simmel in »Deutschlands innere Wandlung« als Mammonismus, als Anbetung des Geldes geißelt (16, 17). Soldatische Existenz rechtfertigt er so. In friedlichen Zeiten sei Selbsterhaltung das Interesse der Menschen, in Kriegszeiten »hat nun der Krieg für Millionen von Menschen das Ziel des Sieges und der Erhaltung der Nation gesetzt, ein Ziel, für das auf einmal das eigene Leben ein bloßes Mittel wurde, und zwar sowohl seine Erhaltung wie seine Preisgabe« (16, 48). Das Ganze läuft auf eine Apologie der massiv komplexitätsreduzierenden, sinngenerierenden Fähigkeit des Krieges hinaus, weil sich im Krieg das Leben gegen die erstarrten, babylonischen, kulturellen Existenzformen empört, die

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für moderne Friedenszeiten charakteristisch sind, indem das Leben während der Kriegszeit eine teilnehmende, vereinfachende, auf einen Sinn sich konzentrierende Kraft gebiert. Nun ist ein interessanter Aspekt dieser Texte, dass sie trotz der markierten qualitativen Differenz zwischen Friedens- und Kriegszeiten eine Fort- und Umschreibung des Tragödientextes von 1911 zu sein scheinen. Im Gegensatz zu 1911 wird in beiden Reden die performative Dimension massiv hervorgehoben, nicht umsonst setzt Selbstdenker Simmel in diesen Schriften verstärkt auf die Wir-Perspektive, die suggeriert, dass Autor und Publikum eine gemeinsame Zukunftsperspektive haben, für die normative Annahmen unabdingbar sind und für die es sich zu kämpfen lohnt. Es geht um metaphysisch tingierte Existenzformen, die auf disjunktive Versöhnung, auf ein metaphysisch erahnbares Drittes verweisen. Freilich sind diese performativen Interventionstexte mit ihrem imperativen Gestus und ihrer strengen Betonung von Monosemie keine geschichtsphilosophischen oder utopisch aufgeladenen Texte. Auch gibt der Krieg keine objektive Teleologie vor. Das sind alles Negationsmuster, die bei Simmel von Anfang bis Ende durchlaufen. Die von mir in beiden Reden angenommene Monosemierung zeigt sich nicht nur auf der Objektseite der Schriften, sondern ist zugleich ein wesentliches Element des Schreibens und Argumentierens der Reden selbst, die eine normative Botschaft formulieren, die kriegerisches Leben als massiv sinnvolle Lebens- und Sterbensform legitimieren und somit ideologisch bestärken. Vieles wäre angesichts der industriell betriebenen Schlächterei des Ersten Weltkrieges, auf der allein auf deutscher Seite mehr als drei Millionen Tote zu beklagen sind, zu diesen Äußerungen von Simmel zu sagen, die ja keine Ausrutscher darstellen, sondern sich in die Gesamtbewegung seines Denkens und Schreibens einfügen. Darauf verzichte ich und möchte auch nicht diskutieren, dass Simmel als Liberaler und Bildungsbürger mit den ihm eignenden geistesaristokratischen Gesten und seiner massiven Betonung eines qualitativen Individualismus quer zur republikanisch-demokratischen Citoyen-Traditionslinie steht, für die die Annahme des formalen Individualismus „one person one vote« eine unabdingbare Voraussetzung ist (vgl. Hacke 2018: 7125). Schließen möchte ich die Diskussion des ersten Textbeispiels mit einem Zitat von Michael Landmann, der seinerseits Ernst Bloch herbeizitiert. Blochs Text ist allerdings eine Erfindung Blochs, die er Landmann unfairerweise als Tatsache untergeschoben hat. Dennoch enthält dieser Fake-Text Blochs eine Wahrheitspointe, auf dessen Zitierung ich nicht verzichten möchte: Während des Krieges empfand er extrem nationalistisch und hielt Reden an Soldaten. ›Unser aller Platz ist an der Front,‹ sagte auch Frau Simmel. […] Sein junger Freund Ernst Bloch warf ihm vor: ›Ein Leben lang sind Sie der Entscheidung ausgewichen – tertium datur –, und jetzt finden Sie das Absolute im Schützengraben!‹ Daraufhin verbot ihm Simmel das Haus. (Gassen/Landmann 1958: 13)

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Zu meinem zweiten Textbeispiel, Simmels letzte Schrift Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, das ungleich komplexer und raffinierter ausgefallen ist als sämtliche in Der Krieg und die geistigen Entscheidungen versammelten Texte, die darauf abzielen, den modernen Menschen durch den neuen Menschen ersetzen und auch aktiv herbeischreiben zu wollen. In ihnen hat sich Simmel mehr oder weniger von einer Philosophie des Sowohl-als-auch verabschiedet und sich einer Philosophie des Entweder-oder mit seiner starken Betonung der Entscheidungskategorie zugewandt, die er nicht genuin politisch, sondern geistig versteht. Dieser massiv performative Zug findet sich also in Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel nicht, dennoch setzt er die Tendenz zur Monosemierung fort, die allerdings zugleich ein sehr komplexes Spiel zwischen Monosemie- und Polysemiebewegungen eröffnet und – stärker als sonst – metatheoretisch angelegte Passagen ermöglicht. So schreibt Simmel z.B.: »Ich weiß nicht nur, daß ich weiß, sondern ich weiß auch, daß ich dies weiß, und diesen Satz niederschreibend, erhebe ich mich abermals über die bisherigen Stadien dieses Prozesses usf.« (16, 223). Zugleich erfährt die Verwendung der Wir-Perspektive eine erhebliche Steigerung, allerdings gemischt mit unterschiedlich eingesetzten Ich-Perspektiven, sodass sich der für Simmel konstitutive relationale, stets auf Wechselwirkung achtende Perspektivismus auf multiple Weise zeigt. Ich beginne etwas umwegig und wende mich zunächst einem Abschnitt aus seinem Text von 1918 zu mit dem Titel Der Konflikt der modernen Kultur, der die Ausgangsprämisse von Lebensanschauung besser darstellt, als es in Lebensanschauung geschieht. Simmel geht davon aus, dass man in jeder Kulturepoche einen Zentralbegriff wahrnehmen kann, der aus Simmels Perspektive der heimliche König der jeweiligen Geistesepoche ist (vgl. 16, 186-189). In der griechischen Klassik ist es der Begriff des Seins, im Mittelalter der Gottesbegriff, in der Renaissance der Naturbegriff, reformuliert im 17. Jahrhundert als Naturgesetz, im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert Rousseaus, als Naturideal. Am Ende des 18. Jahrhunderts wird Natur in seinen unterschiedlichen Lesarten durch das Ich als neuen Zentralbegriff abgelöst. Das 19. Jahrhundert fällt etwas aus der Reihe. Es gibt keinen heimlichen König mehr, allenfalls miteinander konkurrierende Vizekönige wie z.B. Gesellschaft, Individualität, Kollektivität. An der Wende zum 20. Jahrhundert ist jedoch die Zeit des Pluralismus, der Vizekönige vorbei, ein neuer Zentralbegriff betritt die Bühne der geistigen Bewegungen, es ist der Begriff des Lebens, er »strebt zu der zentralen Stelle auf, in der Wirklichkeit und Werte – metaphysische wie psychologische, sittliche wie künstlerische – ihren Ausgangspunkt und ihren Treffpunkt haben« (16, 188). Für Simmel ist als der Leitbegriff, das transzendentale Signifikat seiner Geistesepoche der Begriff des Lebens, er betreibt in Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel eine Metaphysik des Lebens, will also den paradigmatischen Term seiner Epoche exponieren und darlegen. Dabei ist das Buch in typisch Simmel’scher Form komponiert. Es besteht aus vier Kapiteln. Das erste Kapitel »Die Transzendenz des Le-

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bens« ist neu geschrieben, es entfaltet den metaphysisch angelegten Lebensbegriff, der in den anschließenden drei Kapiteln spezifiziert wird. Kapitel zwei bis vier sind Aufsätze, die Simmel zuvor in der Zeitschrift Logos publiziert hat. Kapitel zwei »Die Wendung zur Idee« ist vermehrt, aber nicht sehr verändert worden, Kapitel drei »Tod und Unsterblichkeit« und Kapitel vier »Das individuelle Gesetz« sind so umgeschrieben worden, dass sie bei festgehaltenen Grundmotiven als neue Arbeiten anzusehen sind (vgl. 16, 236). Diese Herstellungsweise ist für Simmels Bücher symptomatisch und erklärt zumindest zum Teil ihren sich auch z.B. in Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung zeigenden Reihungscharakter. Es sind also stets unvollendete, fragmentarische Werke, die zumindest prinzipiell fortgesetzt werden könnten und deshalb die Vorstellung eines gerundeten Werks, gar eines gerundeten Lebenswerks verunmöglichen. Deshalb laden seine Bücher dazu ein, kapitelweise wahrgenommen zu werden, man kann sie sowohl von vorne nach hinten als auch von hinten nach vorne lesen. Wenn ich es recht sehe, hat Simmel gegenüber Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung eine massive begriffliche Verschiebung vorgenommen. Die Leitdifferenz in Soziologie ist Form/Inhalt, in Lebensanschauung Leben/Form. Die anfänglich skizzierten Negationen laufen weiter fort: Lebensanschauung bietet Metaphysik; Metaphysik ist unverzichtbar Spekulation. Von welcher spekulativen Annahme geht Simmel nun aus? Er kann nicht mit der Unterscheidung transzendent/immanent beginnen, denn das würde substanzielle Metaphysik bedeuten, weil das Immanente dann als Schöpfung des Transzendenten zu denken ist. Diese spekulative Annahme wird von Simmel jedoch als dogmatische Metaphysik strikt verworfen. Deshalb wendet Simmel diese Unterscheidung invers, startet mit immanent/transzendent und schreibt die Unterscheidung erneut unter dem ersten Term ein. Folglich ist immanent zugleich immanent und transzendent, und dieses Paradox kann man, wenn man es verzeitlicht, gut benutzen, um kreative Freiheit als philosophischen, prozessual zu verstehenden Leitbegriff zu postulieren, den er anschließend mit einer asymmetrischen Zeitkonzeption kombiniert. Diese bedenkt stets, dass in der jeweiligen Gegenwart gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft miteinander spannungsreich verbunden sind, ohne dass man von vergangener Gegenwart oder von gegenwärtiger Gegenwart auf zukünftige Gegenwart strikt hochrechnen könnte (vgl. 16, 218-222). So ergibt sich mit Notwendigkeit die Möglichkeit innovativer Zukunftsgestaltung, ohne einen Nullpunkt des Beginnens (creatio ex nihilo) oder eine additive Zeitpunktreihe postulieren zu müssen. Jetzt gibt es neben immanent/transzendent z.B. auch die Unterscheidung Leben/Tod. Auch sie wird von Simmel rekursiv gewendet, Leben ist dann zugleich Leben und Tod. Insofern ergänzt er scharf- und tiefsinnig die dem Gedicht Selige Sehnsucht entnommene Goethe’sche Formel »Stirb und Werde« durch die inverse Formel »Werde und Stirb« (16, 184). Simmel zur formgebenden Bedeutung des Todes: »Er begrenzt, d.h. er formt unser Leben nicht erst in der Todes-

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stunde, sondern er ist ein formales Element unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt« (16, 299). Nun gibt es noch eine ganze Reihe von anderen wichtigen Unterscheidungen wie z.B. gut und böse oder schön und hässlich. Jetzt ist Simmel der Meinung – und das ist ein hochspekulativer Drahtseilakt –, dass diese Unterscheidungen nach oben letztlich wieder in einem einzigen Term vereinigt, aufgehoben werden können und müssen, der wiederum die Ausgangsbedingung für die getätigten Unterscheidungen ist. Und das ist der Begriff Leben, der als auf Dauer gestellter Wechsel, als ewig veränderliche Dauer, als einheitlich prozessuale Entwicklung des Wirklichen als stets vorgängig zu denken ist. Menschliches Leben als zeugendes, schöpferisches Leben ist stets Mehr-Leben und deshalb Ermöglichungsbedingung für Mehr-als-Leben, d.h. für menschliche Kultur, die das Leben als fortlaufendes, strömendes Leben stets zerstören muss, um auf destruktiv-konstruktive Weise neue Formierungen ins Werk zu setzen. Diese Form der Tragödie, der Not der Kultur wird nun zudem anthropologisch begründet, weil der Mensch als endliches, begrenztes Wesen zugleich zu Grenzüberschreitungen fähig ist, die allerdings neue Begrenzungen einfordern, die wiederum destruktiv behandelt werden müssen, um Neues produzieren zu können (vgl. 16, 212-218). Das monoseme, paradoxe, transzendentale Signifikat Leben ist zudem in der Moderne die Voraussetzung für die Konstruktion pluraler Welten mit ihren jeweiligen internen Logiken, in denen die Menschen in ihrem fragmentierten, von Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung bestimmten Leben sich einrichten müssen, um, was die Relationen universal/besonders, allgemein/singulär betrifft, sich auf die Suche nach produktiven Lösungen begeben zu können, die dem jeweiligen individuellen Gesetz zu entsprechen vermögen. Diese Suchbewegungen nach innovativen Anfängen (Arendt) innerhalb der und für die Sonntags- und Alltagswelt verweisen auf disjunktive Versöhnung, auf das Dritte und situieren sich innerhalb von fragmentierten, umschreibfähigen und somit falliblen Totalität(en). Sie stellen deshalb eine Form von prozessualisierter immanenter Metaphysik dar, die ihre eigene Historizität bedenkt und für die spekulative wie rekursive Vorgehensweisen unabdingbar sind. Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel ist ein reichhaltiger, komplexer Text, der zwar mit einer monosemen Prämisse startet, anschließend jedoch ein raffiniertes Spiel zwischen Mono- und Polysemieannahmen betreibt. Dennoch ist die Postulierung des transzendentalen Signifikats Leben hochproblematisch. Es fallen einem, was die Begründung monistischer Theorien betrifft, viele Gegenargumente ein. Ich erinnere nur an den Possibilismus, der gute Argumente dafür bringt, dass die hochkomplexe Wirklichkeit nicht auf einen Term rückführbar ist. Adorno war der Meinung, dass das Konstellationenspiel der Begriffe nicht auf einen zentralen Begriff bezogen werden darf (vgl. H. Müller 2009: 16-17). Luhmann war stets der Auffassung, dass zwischen Begriffen verbundene und unverbundene Beziehungen bestehen, welche die Annahme eines zentralen Signifikats verun-

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möglichen. Zudem hat er immer wieder gebetsmühlenartig betont, dass es Sinn macht, mit Differenzen zu beginnen und zu enden. Und in der Tat kann man sich fragen, ob das vormoderne, streng hierarchische Modell König/Untertan für komplexe begriffstheoretische Probleme innerhalb der Moderne kognitiv hinreichend ergiebig ist. Für Simmel hingegen war Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel sein »Testament« (23, 928); nach der Fahnenkorrektur verstarb er am 26. September 1918. Todesursache: Leberkrebs. Kurz vor seinem Tod blickte er auf sein Leben zurück. Natürlich kann kein Mensch für sein Leben das Prädikat ›vollendet‹ beanspruchen, wenn man Simmels anthropologischer Prämisse folgt. Simmel formuliert sie in Wir-Perspektive, die in diesem Fall eine Regel markiert, für die es keine Ausnahme gibt: »Wir alle sind Fragmente, nicht nur eines sozialen Typus, nicht nur eines mit allgemeinen Begriffen bezeichenbaren seelischen Typus, sondern auch gleichsam des Typus, der nur wir selbst sind« (16, 280). Deshalb wählt Simmel am Ende seines Lebens für seine individuelle Sinnpolitik die Rolle des nicht vom Leben besiegten Vizekönigs. Für Simmel ist das menschliche Leben durch permanente Kampfverhältnisse charakterisiert. Diese können auch unentschieden ausgehen. Dann gibt es weder Gewinner noch Verlierer; dem entspricht eine Philosophie des Sowohlals-auch. Simmel hingegen bevorzugt am Ende des Lebens das Modell Sieger/Besiegter; dem entspricht eine Philosophie des Entweder-oder. Er schreibt sich also in eine Liste der Sieger ein. Das könnte man so erklären: Er ist kein Besiegter, weil er nie einem schreib- und handlungsunfähigen Quietismus verfallen ist und auch keinem permanenten Aktivismus gehuldigt hat, der das Neue instrumentalisiert, fetischisiert, um sich an der Spitze des jeweiligen kulturellen Zeitgeistes positionieren zu können. Vielmehr hat das Leben ihn deswegen nicht besiegt, weil er sein Schreibprogramm Wiederholung der Relation Wiederholung/Innovation mit seinen iterativen, destruktiven und konstruktiven Verfahren siegreich durchgehalten und in seiner Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel dafür einen systematischen, anthropologisch abgesicherten Ort innerhalb einer hochgradig spekulativ verfahrenden Metaphysik gefunden hat. Um es noch einmal pointiert zu sagen: Die immer wieder von Simmel in seiner Schreibpraktik bestätigte reale Erfahrung, dass das Muster produktiven Schreibens die Wiederholung der Relation Wiederholung/Innovation sei, wird von ihm parabolisch transformiert und so in Metaphysik verwandelt (vgl. zu parabolischen Verfahren in Adornos Metaphysik H. Müller 2009: 30-34). Die für seine metaphysische Konzeption konstitutiven Annahmen, die Freiheit, Zeit und Anthropologie betreffen, sind also parabolische Umschriften seiner immer wieder bewährten Schreibpraktik. Insofern ist der mit seiner Schreibszene verknüpfte reale Erfahrungszusammenhang die Voraussetzung für die Formulierung seiner massiv spekulativen Metaphysik; er verleiht ihr Bodenhaftung und verhindert so, dass seine spekulative Metaphysik mit ihrem König/Gott

Schreibszene, Schreibfeld, zwei Kriegsreden und Lebensanschauung

Leben im himmlischen Wolkenkuckucksheim verortet werden müsste. Georg Simmel schreibt am 11. September 1918 an Sabine Lepsius: Ich habe das Bedürfniß, euch auszusprechen, daß ich dies Schicksal keineswegs beklage, sondern im Gegenteil. Mein Leben erscheint mir, grade mit diesem Abschluß, als in sich fertiges u. gerundetes, was noch gekommen wäre, wäre nichts Wesentliches mehr gewesen, grade im letzten Augenblick habe ich mein letztes Buch noch unter Dach gebracht. Die Welt hat mir gegeben u. ich habe ihr gegeben, was meinen Kräften entsprach. Ich scheide mit tiefer Dankbarkeit u. mit der Überzeugung, daß es der richtige Moment ist u. aufrechten Hauptes. Das Leben hat mich nicht besiegt. (23, 1015)

Bibliografie Gassen, Kurt/Landmann, Michael (Hg.) (1958): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Berlin: Duncker & Humblot. Hacke, Jens (2018): Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin: Suhrkamp. Knaller, Susanne (2019): »›Die Wirklichkeit ist zu stark für mich.‹ Georg Simmel im Kontext der neuen Texte der langen Jahrhundertwende«, in: https://www. avldigital.de/(open access). Link, Jürgen (2018): Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Meyer, Ingo (2017): Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Müller, Hans-Peter (2018): »Einführung«, in: ders./Reitz, Simmel-Handbuch. 11-90. — /Reitz, Tilman (Hg.) (2018): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin: Suhrkamp. Müller, Harro (2009): »Mimetische Rationalität. Adornos Projekt einer Sprache der Philosophie«, in: ders., Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne, Bielefeld: Aisthesis, 13-37. — (2016): »Taubenfüße und Adlerkrallen. Friedrich Nietzsches Sprach- und Stilkonzeption«, in: ders., Taubenfüße und Adlerkrallen. Essays zu Nietzsche, Adorno, Kluge, Büchner und Grabbe Bielefeld: Aisthesis, 13-34. — (2019): »Beobachtungen zu Georg Simmels Schreibszene, Schreibfeld und zu späten Schriften«, in: The Germanic Review 92 (2), 79-92. Simmel, Georg (1989-2015): Georg Simmel. Gesamtausgabe in 24 Bänden, hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Harro Müller (New York)

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III TEXTFORMATIONEN UND KONSTELLATIONEN

Der literarische Satz Eine Skizze Christian Schärf (Hildesheim)

1 Wenn die Rede vom ›Literarischen Schreiben‹ ist, darf man die Frage stellen, woran man das Literarische an dem Sprachmaterial eigentlich erkennt, das Schreibende hervorbringen. Auf den ersten Blick ist es ja eher so, dass wir an die Frage nach dem, was eine literarische Sprache ist und was nicht, alltagsintuitiv herangehen. Das tun gewiss auch Lektorinnen und Lektoren, die ja selten Rechenschaft über ihre Kriterien ablegen, so sie solche denn haben oder sie überhaupt für nötig halten. Da das Lektorat kein Ausbildungsberuf ist und auch kein genuines Studium zur Grundlage hat, kann jede Lektorin und jeder Lektor selbst darüber entscheiden, welche Maßstäbe sie oder er anlegt, wenn es darum geht, einen Text als einen literarischen zu identifizieren. Klar ist nur, dass es dabei kaum einmal um die Umsetzung bestimmter theoretischer Erkenntnisse geht. Die Kriterien des Literarischen sind diffus und erscheinen oft sogar recht willkürlich. Will man an dieses Phänomen kritisch herangehen, stehen einem zunächst allerlei Gewohnheiten, Konventionen und Täuschungsmanöver im Weg. Das betrifft den materiellen Rahmen von Texten (etwa das Buch) ebenso wie den paratextuellen (Gattungsangaben, Klappen- und Werbetexte, Autorennamen etc.), über den ein Text zu einem literarischen erklärt wird und fortan als ein solcher zu gelten hat. Zudem steht das Kriterium Literatur unmittelbar in einem Kommerzialisierungsfokus. Damit ist es dem wissenschaftlichen Zugriff zwar nicht enthoben, dieser wird aber durch den Fokus der Vermarktung in der Analyse zusätzlich eingetrübt. Vermarktungsstrategien können dann wie Qualitätsaussagen wirken, und eigentlich fragwürdige Standards des Rahmens Literatur wie große Kunst, das gelungene Werk, der originell verarbeitete Zeitgeist und die Innovation wirken gerade im Feuilleton wie alt erprobte Garantieerklärungen im Hinblick auf den Wertmaßstab Literatur. Dabei sind es meist Behauptungen auf der Grundlage subjektiver Lesarten. Das Literarische am literarischen Schreiben ist in unserer gegenwärtigen Praxis daher

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kaum etwas anderes als eine schwach begründete Aussage von Subjekten, die sich zu dieser Aussage berechtigt fühlen. Im Rahmen der sozialen Netzwerke und auf Rezensionsforen werden es immer mehr, die sich diese Berechtigung zuerkennen. Gerade angesichts der grassierenden Selbstermächtigung des digitalisierten Subjekts scheint es an der Zeit zu sein, das Literarische auch auf einer objektiveren Ebene zu bestimmen. Ich versuche daher das Problem von Grund auf anzugehen, und zwar indem ich weitgehend auf die Zuschreibung meines Ansatzes zu bereits bestehender und diskutierter Theorie verzichte oder mich ihr entziehe. Ich frage eben nicht wie ein engagierter Existenzialist oder eine ordnungsliebende Strukturalistin: Was ist Literatur? Ich frage vielmehr – ganz im Sinne des Lektorierens von Texten: Was ist ein literarischer Satz? Wie und worin unterscheidet er sich von anderen Sätzen? Die Frage, ob es denn sinnvoll ist, von Sätzen und nicht doch besser gleich von Texten zu sprechen, wenn man nach dem Literarischen fragt, stelle ich zurück. Über sie kann man diskutieren. Der Satz sei hier das Axiom, von dem ich ausgehe.

2 Der Satz ist aus Wörtern und Phrasen nach syntaktischen und semantischen Regeln gestaltet. Diese Parameter der Gestaltung werden danach ausgerichtet, dass der Satz in einer doppelten Kontextlage steht. Er stellt sich in einen bereits gegebenen Kontext und schafft neue Kontexte, deren wesentliches Kennzeichen wiederum ihre Anschließbarkeit ist. Zur Bauweise des Satzes gehört daher wesentlich das Moment der doppelten Anschließbarkeit. Der Satz ist anschließbar an bestehende Kontexte und schafft gleichzeitig neue Kontexte, die Anschließung fordern. Die doppelte Anschließbarkeit ist das Initiationsmoment des Satzbaus. D.h., jeder Satz wird in einem konsekutiven Textverlauf in eine Lücke zwischen zwei Anschlussstellen gelegt. Seine Erscheinung findet sich immer in einer Kontiguität zu anderen Sätzen. In dieser Nachbarschaft liegt schon ein wesentlicher Grundzug der literarischen Schreibweise. Mit der Nachbarschaft von Sätzen müssen Schreibende rechnen, und wenn sie ihr Metier verstehen, gehen sie damit virtuos um. Für das Schreiben und das Lektorieren ist es nützlich, einen literarischen Satz von einem nichtliterarischen unterscheiden zu können. Genauso wichtig ist es, einen nichtliterarischen Satz als einen literarischen zu setzen und ihn in einen literarischen Satz transformieren zu können. Worauf ist bei diesen beiden Operationen zu achten? Wie könnte man das Problem angehen, um schließlich die Feststellung: Das ist ein literarischer Satz nicht allein aus einem Gefühl heraus zu entscheiden, sondern nach Kriterien des Satzbaus, seiner Kontiguität und seiner Rahmungen?

Der literarische Satz

Ein literarischer Satz unterscheidet sich von einem nichtliterarischen Satz im Grad seiner Selbstreflexivität als Satz. D.h., der literarische Satz begreift sich selbst als Gesetztes, und zwar in doppelter Weise, 1. in der Selbstreflexion auf seine Stellung im System der Literatur und 2. in der Selbstreflexion als rezeptive Suggestion in einem Vermittlungsprozess.

Wer einen literarischen Satz schreibt, will eine rezeptive Suggestion verursachen. Im Gegensatz zu einer/einem normalen Sprachbenutzenden, die/der nicht notwendig darüber nachdenkt, dass das, was sie/er gerade sagt oder schreibt, ein Satz ist, der sich selbst als Satz, nämlich in seiner Bauweise und seiner Nachbarschaft zu anderen Sätzen sowie als Vermittlungsinstrument reflektiert. Doch selbstverständlich gibt es da eine fließende Grenze zur Alltagssprache hin. Sprachbewusste Sprecherinnen und Sprecher reflektieren ihre Aussagen nicht weniger als literarische Schreiber. Und doch gibt es einen Unterschied grundsätzlicher Art: Der literarische Satz bezieht sich in seiner Reflexion auf den Alltagssatz, im Bewusstsein, davon pragmatisch suspendiert zu sein. Der alltagssprachliche Satz tut ein Gleiches nicht im Hinblick auf den literarischen, weil er es gar nicht kann. Zu 1. Selbstreflexion im System der Literatur: Ein Satz, der sich in einem Kontinuum von Formen und Sprechakten erkennt, die bereits als literarische begründet und bekannt sind, setzt sich als literarisch. Dabei kann er an bestehende Formen anschließen oder diese attackieren bzw. zerbrechen. Der Satz, der sich auf einen als literarisch bestehenden Horizont bezieht, reflektiert sich selbst jedenfalls immer schon als literarischen Satz. Wenn man etwa einen Satz als Zeile in einem Gedicht schreibt, ist es ein Vers und nicht mehr nur ein gewöhnlicher Satz. Schreibe ich in meinem Gedicht Ich gehe zum Kühlschrank/und hole die Butter heraus, ist das zwar ein Satz, der durchaus unliterarisch erscheint, sich jedoch über seine in der Versgestalt angezeigte Bezugnahme zum literarischen System als literarischer Akt versteht und verstanden wissen will. Damit ist die Pragmatik erster Ordnung, die alltagssprachliche Pragmatik, suspendiert. Strenge ich eine Erzählung an, die so beginnt: Karl ging zum Kühlschrank und holte die Butter heraus, könnte das durchaus ein nichtliterarischer Satz sein. Er beinhaltet aber doch wohl eine Reflexion auf das literarische System und bereitet eine literarische Geste dadurch vor, dass er über das epische Präteritum (ging, holte) eine Erzählung ermöglicht, die sich – eben schon über die Markierung des epischen Präteritums – ins literarische System einschreiben kann.

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Eine Erzählung als literarischer Prozess kann allein daran zu erkennen sein, dass das Präteritum als Zeitform des geschriebenen Satzes erscheint. Der Satz eröffnet damit seine literarische Anschließbarkeit. Im Drama ergibt sich die Selbstreflexion auf das Literatursystem allein schon aus der Handlungsfunktion der gesprochenen Rede. Dieser Modus des Satzes stellt per se eine literarische Formkomponente dar. Jeder Satz im Drama steht im Rahmen eines Handlungsverlaufs als konstitutiv für den Verlauf dieser Handlung und weist demnach eine stark akzentuierte literarische Selbstbezugnahme auf. Das aufgezeichnete Sprechen steht nicht für sich, auch nicht im Sinne einer bloßen Dokumentation oder eines Protokolls der Rede, sondern dient dem Fortgang einer Handlung. So wird ein Satz im Drama bereits durch die Verknüpfung von Rede und handlungsorientiertem Zweck der Rede literarisch markiert. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Übergang vom nichtliterarischen Sprechen in ein literarisches genuin am Grad der Reflexion des Sprechakts auf das Kontinuum und die Formen des literarischen Systems bemessen werden kann. Schwierig wird diese Einschätzung bei einem Phänomen wie dem Essay, der – sofern er sich als literarische Form verstanden wissen will – in den meisten Fällen keine erkennbaren episch-fiktionalen, lyrischen oder dramatischen Rahmungen aufzuweisen hat. Dennoch muss es ein Kriterium geben, einen Satz in einem Essay als literarischen von demselben Satz außerhalb eines Essays als einen nichtliterarischen zu unterscheiden. Die Antwort darauf kann ich hier nur andeuten, sie wäre eine eigene Untersuchung wert: Ein Essay organisiert Wissen anders als die wissenschaftliche Abhandlung, nämlich nicht im Sinne der Information und der vermittelnden Argumentation, sondern im Sinne eines epistemischen Objekts. Der Essay zeigt dieses Objekt, in welchem Wissen zur Kristallisation und zur Reduktion gelangt ist, ohne den Anspruch der gründlichen Information und der stringenten Argumentation, aber mit dem Anspruch des sinnlichen Erscheinens einer sprachlichen Operation, in der Wissen und Sprache wiederum in eine Metareflexion gegenüber ihren ursprünglichen Funktionsmomenten gehoben werden. Zu 2. Selbstreflexion als rezeptive Suggestion: Ein literarischer Satz konstituiert einen Leser. Ein Leser ist in diesem Verständnis eine dem Text inhärente Geste, die im Satzbau zum Vorschein kommt. Inhärente Leser (nach Umberto Eco: Modellleser, 1987), werden auch durch andere Satztypen als literarische konstituiert. Ein philosophischer Satz etwa hat einen literarischen Anteil dadurch, dass auch er einen Modellleser entwirft. Doch besteht sein Kennzeichnungsmoment vor allem in der Fähigkeit des Satzes, autarke Selbstevidenz auszustrahlen. Er gipfelt in einer bestimmten Geste, die man von jedem philosophischen Satz erwarten kann.

Der literarische Satz

Das meint, ein philosophischer Satz muss so gebaut sein, dass die von ihm intendierte Aussage aus ihm ganz allein einsehbar wird. Ein einfaches Beispiel hierfür wäre Heraklits berühmte Sentenz Alles fließt. Man kann diese Behauptung bestreiten, vor allem, da sie aus gewissen Deutungsperspektiven jeder objektiven Beweisbarkeit entbehrt. Als Behauptung ist Alles fließt widerlegbar, indem man eine Gegenbehauptung setzt, etwa: Alles bleibt, wie es ist. Tatsächlich aber müssen beide Behauptungen nicht notwendig aufeinander als Gegensatzpaare bezogen sein. Das bedeutet, die Behauptung Alles fließt muss auf einem philosophischen Niveau von ihrer Gegenbehauptung nicht außer Kraft gesetzt werden. Vielmehr ergibt sich ihr gesamter Gehalt aus der spontanen Einsicht des in dem Satz Gesagten, also in einem besonderen Moment der spekulativen Einsicht gleichsam von selbst und steht fortan erratisch für sich selbst. Was man an philosophischen Sätzen als schwer verständlich bezeichnet, liegt in den Schwierigkeiten, zu einer spontanen Evidenz zu gelangen, die diese Sätze bei allen Anstrengungen, auf Klarheit und Eindeutigkeit aus zu sein, für Leser immer wieder aufweisen. Der philosophische Satz hat einen exklusiven Modellleser, was bedeutet, dass sich das Gegenüber des Textes (jetzt: Leser als psychisches System) um den Satz in der Reflexion seiner Innerlichkeit bemühen muss, will er der spontanen Selbstevidenz teilhaftig werden. Philosophische Rede beruht als literarisches Phänomen ganz auf der Selbstevidenz ihrer Sätze. Damit ist scheinbar nur eine ganz andere Situation als beim literarischen Satz gegeben. Denn gerade die Art und Weise der Erzeugung von Selbstevidenz kann als die genuine literarische Strategie des philosophischen Satzes betrachtet werden. Der Entwurfscharakter des literarischen Satzes erscheint in seinen mannigfaltigen Möglichkeiten gegenüber dem philosophischen Satz noch wesentlich vielschichtiger. Das meint, der literarische Satz besitzt einen hohen Grad flexibler Erscheinungsweisen, von denen die Selbstevidenz spekulativer Aussagen nur eine ist. Wer sich einen literarischen Text vornimmt, weiß nicht, was ihn erwartet, anders gesagt, er weiß vor dem Lesen noch nicht, welcher Modellleser gleich aus ihm werden wird, indem er zum Vollzugsorgan einer bestimmten syntaktisch-semantischen Performanz gemacht wird. Anders erwartet der Leser einer philosophischen Schrift, dass der Text aus ihm einen philosophischen Leser im Horizont spontaner Evidenzen macht. Der literarische Satz hingegen reflektiert in seiner gesamten Potenzialität auf sich selbst als performative und manipulierende Geste gegenüber seinen Lesern. Dieser Leser ist nicht das dem Text gegenübersitzende psychische System. Vielmehr liegt er im Text bereit und ergibt sich allererst aus dem Spiel und der Musik der Sätze, die sodann im psychischen System realisiert werden. Die Leserin als psy-

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chisches System findet Lust am literarischen Satz gerade darin zu erwarten, was für eine Spielart von Modellleser der Text aus ihr machen wird. Dem literarischen Satz ist ein Modellleser inhärent, jedoch nicht allein so wie dem philosophischen Satz in der Geste der Selbstevidenz, sondern in einem spielerischen Sinne der kompletten Offenheit gegenüber allen vorstellbaren (und noch nicht vorstellbaren) Gesten. Daher ist der literarische Satz experimentoffen. Das Experiment aber ist nicht bloß selbstbezüglich auf das Material der Sprache und die Permutation von Motiven und Formen ausgerichtet. Vielmehr bezieht sich das Experiment auf die Modifikationspotenz und den Wirkungsradius des Satzes hinsichtlich eines ihm inhärenten Modelllesers. Man kann nun folgern, dass wir es mit einem literarischen Satz dann zu tun haben, wenn der Selbstbezug des Satzes auf seine Anschlussfähigkeit im literarischen System sowie in der selbstreflexiven Gestaltungskraft eines dem Satz und in der Verkettung der Sätze dann dem Text inhärenten Modelllesers liegen. In diesem dualen Sinne kennzeichnet der literarische Satz eine gestische Intervention in die kulturellen Diskurse. Er bewirkt in seinem Erscheinen vor allem zuerst eine Irritation dieser Diskurslagen. Die Betonung liegt dabei auf gestisch. Damit ist gerade nicht gemeint, dass der literarische Text die Realitätsskripte, Narrative und bestehenden Probleme mimetisch zu bedienen hätte, wie es nicht wenige Kritiker/Kommentatorinnen von der Literatur erwarten. Das Potenzial der Literatur dürfte vielmehr in ihrer anarchischen Kraft gegenüber der Kultur als dem gewachsenen Erfahrungsraum und seiner Sprachspiele liegen, in welcher sie erscheint. Es handelt sich beim literarischen Schreiben wesentlich um den Umgang mit einem Verstörungspotenzial, nicht um ein Bestätigungsverfahren. Das Wiedererkennen des Realen im Text ist keineswegs eine Abbilderfahrung. Vielmehr vollzieht es sich in einer oft überraschenden Verschiebung gegenüber dem zu Erwartenden im Horizont der Sprachspiele.

3 In einem weiteren Schritt wäre darüber zu meditieren, wie diese Verschiebung zustande kommt und was sie für die Kultur einer jeweiligen Gegenwart bedeutet. Zunächst muss dazu eine grundsätzliche Feststellung getroffen werden: Der literarische Satz ist gegenüber der allgemeinen Stellung von Sätzen in Sprechakten von der pragmatischen Funktion suspendiert. Man kann den Satz Ich ging zum Kühlschrank und holte die Butter heraus als einen im Alltag gesprochenen Satz so auffassen, dass er aus dem Kontext heraus verständlich wird. Dieselbe Aussage als literarischer Satz, z.B. am Anfang einer Erzählung, impliziert, dass Hörerinnen und Hörer oder Leserinnen und Leser überhaupt erst

Der literarische Satz

einen Kontext herzustellen hätten, den sie nur aus der literarischen Umgebung des Satzes, nicht aber aus seinem primären pragmatischen Gehalt in einer lebensweltlichen Umgebung ableiten können. Die gegenüber dem normalsprachlichen Satz unterschiedliche Rahmung wird somit offenkundig: Wer sagt diesen Satz in welchem Rahmen und in welcher Absicht? Was, wenn es der erste Satz eines Romans ist? Was müssten Leserinnen und Leser hinzufügen, wenn sie den Satz in einem Roman lesen würden, um ihn in eine Welt einzubetten? Die Rekonstruktion leerstellenabhängiger Kontexte vollzieht sich nur, wenn der Satz so markiert ist, dass er prinzipiell als jeder primären pragmatischen Kontextualisierung enthoben erscheint. Anders ausgedrückt: Ein Satz, den wir als fiktiv erkennen, wird von uns nicht als Sprechakt in der direkten sozialen Interaktion identifiziert. Diese Unterscheidung muss aus dem literarischen Satz selbst hervorgehen. Mit der Suspendierung seiner pragmatischen Funktion in Sprechakten erster Ordnung erscheint der literarische Satz als Sprechakt im Sinne von John Langshaw Austin aufgehoben. Worauf bezieht sich nun aber der Satz, wenn er als Sprechakt suspendiert ist? Er kann sich nur auf eben diese Suspendierung beziehen und bildet damit einen Sprechakt und eine Pragmatik zweiter Ordnung aus, die sich mit der Pragmatik erster Ordnung auseinandersetzt, die sie reflektiert, indem sie von ihr abweicht. Zwar spricht auch der literarische Satz über ›Welt‹, doch ist seine Referenz auf die Welt erst durch den Filter einer Referenz auf seine Abweichung von jeder primären Referenz möglich. Die Pragmatik zweiter Ordnung nimmt direkt auf die Aufhebung der Pragmatik erster Ordnung Bezug und ist zugleich deren Ergebnis. Das Phänomen des Abweichens von einem als primäre Bezugnahme zu begreifenden Referenzrahmen bezeichne ich als Dissidenz des literarischen Satzes. Sie vollzieht eine Abweichung vom pragmatischen Funktionszusammenhang und zeigt zugleich die Reflexion dieser Abweichung. Indem der literarische Satz von der Pragmatik erster Ordnung abweicht, ist ihm das Bewusstsein für diese Abweichung eingeprägt. Er funktioniert als literarisches Phänomen aufgrund dieser reflektierten Abweichung aus den Sprechakten der Normalsprache. Der literarische Impetus ist mithin in einer als Abweichung kalkulierten und sich als solche reflektierenden Abweichung von diskursiven Textstrategien oder ideologischen Systemen zu sehen. Wer fiktiv schreiben will, muss von einem nicht-fiktiven Funktionshorizont der Sprache ausgehen und versuchen, gerade diesen in der Dissidenz gegenüber der pragmatischen Funktion zu reflektieren. Fiktionalität ist daher nicht einfach der Sprung aus der Realität in die Imagination, sondern kann als in sich reflektiertes Abweichen von Sätzen aus dem Funktionskontext normalsprachlicher Referenzen begriffen werden. Die Dialektik der Referenz auf Welt und der Abweichung des

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Satzes aus der primären pragmatischen Funktion der Sprache, stellt den kognitiven Hintergrund dessen dar, was wir Fiktionalität nennen. Literatur illustriert keine die Epoche prägenden Debatten oder folgt machtvollen Narrativen, um sie mit umständlichen Plots, ausschmückender Metaphorik oder materialreicher Ausstaffierung zu illustrieren. Ein vor wenigen Jahrzehnten entdeckter Königsweg der Forschung liegt darin, literarische Texte mit nichtliterarischen als Analysematerial für ganze Epochen und ihre Diskursverhältnisse gleichzusetzen. Das stellt die Literatur jedoch ins Abseits sozialer und politischer Machtstrategien. Es ist dann, als wären Autorinnen und Autoren vor allem Dienstleister am Gesprächsstoff der Geschichte. Wer Literatur unter diesen Gesichtspunkten vermittelt, verkennt ihren Kunstwert, ja ihren Eigenwert überhaupt und marginalisiert die Literatur zu einer Hostess der Sozialwissenschaften. Literarische Sätze hingegen sind dissident auch noch gegenüber den Diskursen, denen sie zugehörig scheinen; sie befinden sich gegenüber diskursiven Ordnungen in einem diese pervertierenden, umstürzenden, außer Kraft setzenden Verhältnis. Denn literarische Sätze sagen nur insofern etwas über die Welt aus, als sie ihre Abweichung vom primären Pragmatismus von Sprechakten reflektieren. Hierin liegt vielleicht ein Ansatz zur Antwort auf die Frage, warum es in allen Kulturen genuin literarische Hervorbringungen gibt, auch in solchen ohne Schrift. Müsste es sie denn geben, wenn sie ohnehin nur das modifiziert, verfremdet oder überspitzt wiedergeben, was die jeweils herrschenden Mächte als Bedeutungsmodelle postulieren und in ihre Subjekte eintrichtern? Literatur als Dissidenz erzeugt ein alternatives Framing, dessen hervorstechende Eigenschaft die vorläufige und möglicherweise konstante Inkommensurabilität ihrer Zeichen ist. Was uns von literarischen Sätzen zurückbleiben soll, ist ja nicht ihr Inhalt, sondern der Eindruck ihrer Form. Dieser Eindruck kommt aber nicht in erster Linie aus der immanenten Stimmigkeit der Struktur zustande. Er ergibt sich aus dem Abweichungsverhältnis gegenüber der Diskurslage und ihren sprachlichen Praktiken. Jede Ordnung erzeugt schon durch ihre Sprechakte die Kräfte, die eine Abweichung von ihr bewirken. Die Abweichung des Sprechens von seinen pragmatischen Rahmungen wird durch die Herstellung einer Pragmatik zweiter Ordnung nicht bloß möglich, sondern notwendig, um die Dynamik von Sprache zu garantieren, die für ihre Funktionen in der sozialen Interaktion notwendig ist. Ein literarischer Satz ist daher keine Ausnahmeerscheinung oder ein diskursives Beiwerk zum allgemeinen Sprechen; er konstituiert durch Abweichung von den gefügten Normen des Sprechens überhaupt erst das Sprachsystem als funktionsfähiges und mithin das kulturelle Bewusstsein. Die Dynamik einer Kultur, so könnte man zugespitzt folgern, ergibt sich aus der Dissidenz ihrer kreativen Entwürfe gegenüber sich selbst.

Der literarische Satz

Das Wissen um eine Pragmatik zweiter Ordnung ist den Benutzerinnen und Benutzern der Pragmatik erster Ordnung – den Akteurinnen und Akteuren von Sprechakten – inhärent. Man weiß, dass es Redeformen der Abweichung gibt, aus denen allererst die Dynamik kultureller Prozesse resultiert. Diese sind prinzipiell nicht kontrollierbar, sondern unterliegen Überraschungsmomenten. Man schreibt literarisch, weil eine Notwendigkeit besteht, über die Redegewalten der eigenen Epoche hinaus zu gelangen, weil es um Unterwanderungen von Sprachregelungen, Denkzwängen, Redegewohnheiten und Sinnestäuschungen geht. Ideologen aller Couleur, Diktatoren und Gewaltherrscher fürchten seit alters her den literarischen Satz. Der literarische Satz ist die stets und überall virulente Außerkraftsetzung jeder bestehenden Ordnung in der Sprache. Man darf sich fragen, ob die Hegemonie des populären Realismus mit seinem kommerziell kalkulierten Universalismus der Weltsicht nicht selbst eine ideologiekonforme, weil sprachlich vereinheitlichte Schreibweise darstellt. Gleichwohl meine ich, dass der universale populäre Realismus jetzt der vorzüglichste Untersuchungsgegenstand für meine Thesen zum literarischen Satz sein müsste. Denn der Konsens über eine bestimmte Form des sekundären Realismus wirft gerade die Frage nach der Rahmung des literarischen Satzes und der Reflexion seines normalsprachlichen Pendants auf. Der literarische Satz ist dadurch gekennzeichnet, dass er schon in seinem Erscheinen als Sprachform von den Vorgaben des Zeitgeistes und der öffentlichen Debatten abweicht, und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil seine Autorinnen und Autoren so überaus freie Geister wären, sondern weil die Setzung des literarischen Satzes per se ein abweichender Akt gegenüber der Pragmatik der Sprechakte darstellt. Was sich in ihm rhetorisch ereignet, kann als Prozess intrinsisch-dialektischer Ironie verstanden werden. Der literarische Satz reflektiert selbst auf diese Ironie, bis hin zum sich Entziehen jeglicher Kontrolle durch eine Pragmatik erster Ordnung. So kann ich den Satz Ich ging zum Kühlschrank und holte die Mutter heraus schon gar nicht mehr guten Gewissens als normalsprachlich kontextualisierbar begreifen. Als Sprachspiel erster Ordnung funktioniert er nicht mehr, außer man versteht ihn unter kriminalistischen Vorzeichen. Gerade darin aber läge der Wunsch, den von seiner pragmatischen Funktion abgelösten Satz wieder in eine solche Sprechaktfunktion erster Ordnung zurückzuzwängen. In den meisten Fällen wird ja Interpretation in diesem Sinne einer sprechaktpolizeilichen Maßnahme betrieben. Tatsächlich rekurriert der zitierte Satz vehement auf die Suspendierung seiner pragmatischen Funktion und setzt eine Pragmatik zweiter Ordnung ins Werk, in der er auf seine Abweichung von einer primären Referenz referiert. Der Impuls dafür liegt etwa hier in der Vertauschung eines einzigen Konsonanten. Das M in Mutter bleibt auf das B in Butter bezogen, weil durch die Auswechslung des Konsonanten per se jegliche Funktionalisierung in einer Pragmatik erster Ordnung

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willentlich aufgehoben scheint, die mit der Variante Butter noch herstellbar wäre. Damit zeigt der Satz mit der Variante Mutter seine Verankerung in einer Pragmatik zweiter Ordnung an, die nur dadurch erkennbar wird, dass die Referenz auf Butter darin reflektiert ist. Mit dieser minimalen phonologischen Differenz werden sofort Versuche der Kontextualisierung jener Abweichung herausgefordert. So kann man den Satz darin festmachen, dass man ihn etwa als neodadaistischen Nonsens identifiziert. Oder man begreift ihn als Bestandteil einer fantastischen Erzählung, in der Mütter in Kühlschränken frisch gehalten werden. Mit beidem hätte man ihn literarisch aufgefasst und eben nicht ideologisch. Ideologische Rediskursivierung beinhaltet übrigens die strikte Zurückweisung intrinsisch-dialektischer Ironie und das Pochen auf die Rückführung des Satzes in eine wie auch immer naheliegende Pragmatik erster Ordnung. Immer wieder haben wir Lust, Sätze zu lesen oder herzustellen, die wir als literarisch bezeichnen können. Sie vermitteln das Gefühl von Freiheit. Ihr literarischer Charakter und ihr genuiner Reiz liegen nicht in erster Linie in der Substanz ihrer Aussage, sondern in der ludischen Iteration eines Folgesatzes. Der literarische Satz ist mithin ein Satz, der einen Folgesatz herausfordert, indem er Lust auf ihn weckt. Etwa: Ich ging zum Kühlschrank und holte die Mutter heraus. Sie war ganz steif gefroren. Oder: Ich ging zum Kühlschrank und holte die Mutter heraus. Es war mir zur Gewohnheit geworden, Werkzeug und Zubehör in dem ausgemusterten Gerät zu lagern. Die Herausforderung des Folgesatzes zwingt weder zu einer logischen noch zu einer grammatischen Konsequenz, sondern folgt einem spezifischen Sprachbegehren. Im literarischen Satz liegt die Überwältigung jeglicher diskursiver Ordnung (und jeder Pragmatik erster Ordnung) durch das im ersten Satz vorbereitete und darin aufscheinende Verlangen nach dem nächsten. Weniges erscheint reizvoller, als diesen plötzlich möglichen Sprung in die Freiheit tatsächlich auszuführen. Es entsteht daraus nichts anderes als der Wille, den nächsten Satz in seiner ganzen sinnlichen Dimension zu erhalten und danach noch einen und so weiter. Das Erlebnis der Kontiguität der selbst gebauten Sätze ist einer der großen Motoren des Schreibens. Und es ist zugleich die stärkste Impulskraft, die das Lesen in Gang hält. Aus dem literarischen Satz wird ein Text, der sich durchaus lesen lassen kann, als gehöre er einer pragmatischen Ordnung erster Klasse an, indem er ständig damit spielt, sich reflexiv auf diese erste Ordnung zurückzuführen. Doch gerade darin wird sein eigentlicher innerer Antrieb, die Abweichung von sich selbst als in der ersten Ordnung aufscheinender Satz erkennbar, d.h. die Herausforderung und die gleichzeitig erfolgende Suspendierung von Interpretationen. Unter diesen Bedingungen kann man einen kurzen Ausblick auf den Text wagen, der dadurch zustande kommt und der dann ein literarischer Text genannt wer-

Der literarische Satz

den kann. Als Kontrastfolie mag ein Zitat von Juri Lotman aus seinem Buch Die Struktur literarischer Texte fungieren: [D]er Text ist ein ganzheitliches Zeichen, und alle einzelnen Zeichen der ihn bildenden natürlichen Sprache sind hier auf dem Niveau von Elementen dieses einen Zeichens reduziert. Insofern wird jeder literarische Text geschaffen als einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen mit besonderem Inhalt. (Lotman 1989: 39-40) Der strukturalistische Ansatz, wie ihn Lotman formuliert, fasst den literarischen Text als ein ›ganzheitliches Zeichen‹ auf. Das deutet auf seine Geschlossenheit, mithin Abgeschlossenheit gegenüber den ihn umgebenden Kontexten hin. Hinter dieser Behauptung steht zweifellos der Wille zur Rettung des Kunstcharakters des literarischen Textes, welcher wesentlich mit der Einheit des Werkes zu begründen wäre. Demgegenüber können, vom literarischen Satz aus gesehen, die wechselseitige Reflexion zwischen literarischen und normalsprachlichen Sätzen und ihrer Verkettung eine permanente, flexible Offenheit der Lektüre angesichts der Lebenswelt gewährleisten und die Satzbaufunktion als kreatives Modell im Blick behalten. Das bedeutet auch, dass man den literarischen Text nicht unmittelbar mit dem Werkkomplex des Kunstwerks und nicht einmal mit der Erwartung ›Kunst‹ konfrontieren muss. Diese Abrüstung des Literarischen gegenüber dem Erwartungsdruck früherer Zeiten entspricht durchaus der Haltung der Leserinnen und Leser heute, wenn sie sich literarischen Texten zuwenden. Kunst (und mithin die Frage nach dem Werk) ist nach wie vor ein Kriterium, aber nicht das primäre, das bei der Beurteilung in Anschlag gebracht wird. Das gilt nicht zuletzt für die Kritik im Feuilleton. Doch gerade hier ist zu beobachten, dass der lebensweltliche Bezug eines literarischen Textes fast ausschließlich über das Modell der Mimesis von Wirklichkeit erfolgt, also gerade jener Sekundärfunktion von Literatur entspricht, die der literarische Satz von seiner genuinen Motivation her zu unterlaufen versucht. Das bedeutet, es gibt ein Vermittlungsproblem. Mit den Kategorien von Kunst und Werk an die Literatur heranzugehen, gehört bis in die Analysemodelle des Strukturalismus hinein einer bürgerlichen Kultur an, die nicht vom Schreiben sondern vom Verstehen aus die Literatur betrachtet hat. Das Schreiben aber lebt von der Iteration des Satzes zum nächsten auf der Grundlage einer Lustquelle, die mit der größten Wahrscheinlichkeit von der reflexiven Ebenendifferenz zwischen pragmatischem und literarischem Sprachgebrauch ihren Ausgang nimmt.      

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Bibliografie Eco, Umberto (1987): Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: DTV. Lotman, Juri (1989): Die Struktur literarischer Texte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Recht gerecht schreiben? Die Ambivalenz der Recht-Schreibung in den Protokollen Albert Drachs Doris Pichler (Graz)

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Einleitung

Es ist die Schrift bzw. Schriftform, die in einem allgemeinsprachlichen und laienhaften Rechtsverständnis als Träger von Objektivität, Rechtssicherheit und damit auch Gerechtigkeit verstanden wird. Dies gilt nicht nur für einschlägig juristische Praktiken und Rechtsgeschäfte, sondern auch für andere, komplexe zwischenmenschliche Zusammentreffen, für die die Schriftform als Sicherheit gewährleistend angenommen und ihr der Vorrang gegenüber der Mündlichkeit gegeben wird. Schrift suggeriert scheinbar Verbindlichkeit. Dass dies bis zu einem gewissen Grad eine unzulängliche und eindimensionale Betrachtungsweise ist, lässt sich anhand der Textsorte ›Protokoll‹ besonders deutlich zeigen. Das Protokoll schlägt eine Brücke zwischen Rede und Schrift, indem es das Gesprochene, das Unmittelbare im Mittelbaren, im Schriftlichen fixiert. Dem ›Protokoll‹ als Textsorte wird daher im juristischen Kontext ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit, Authentizität und damit auch Verbindlichkeit zugeschrieben, aber auch dem schreibenden Subjekt kommt eine eigene, institutionalisierte Rolle und auch eine gewisse Machtposition zu. Dass das der Textsorte ›Protokoll‹ eingeschriebene Verhältnis zwischen Schrift und Mündlichkeit aber weitaus komplexer ist, soll der vorliegende Beitrag erörtern. Dabei wird zum einen allgemein auf die Funktion und den Status von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im modernen Rechtssystem eingegangen. Die effektive Rolle des Protokolls oder allgemeiner des schriftlichen Akts in der Rechtsprechung ist dabei ebenso von Interesse wie die allgemeinsprachlichen und alltäglichen Assoziationen mit der Textsorte ›Protokoll‹. Die besondere Ambivalenz dieser Textsorte wird dann anhand der ›protokollarischen‹ Spielarten in den literarischen Texten Albert Drachs (1902-1995) gezeigt. Der österreichische Autor kann als der ›Erfinder‹ des literarischen Protokollstils gelten. Sind der Großteil seiner Texte nicht nur im Titel bereits als ›Protokolle‹ ausgewiesen, zeichnen sie sich vor allem durch die konsequente Imitation einer protokollarischen Sprache aus. Drach

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analysiert damit zum einen das besondere Verhältnis zwischen schreibendem Subjekt, dem Schreibakt und dem Schreibergebnis sowie dessen Rezeption, kritisiert aber vor allem auch eine Über-Bürokratisierung und Entmenschlichung durch ein allzu starres Festhalten an dem Schriftlichen.

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Textsorte ›Protokoll‹

Das Wort ›Protokoll‹ leitet sich vom mittelgriechischen protókollon bestehend aus proto und kolla (= ›Leim, Kleber‹) ab und bezeichnete ursprünglich eine Art ›Vorsatzblatt‹ oder einen ›Aktendeckel‹, der im antiken Ägypten auf die kaiserlichen Papyrusrollen geklebt war und so die Echtheit der nachfolgenden Unterlagen (vorwiegend amtliches Schriftmaterial) bezeugte (vgl. Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 7). Auch wenn das Protokoll nicht mehr per definitionem Echtheit in Form eines ›Vorsatzblattes‹ garantiert und in diversen Kontexten, Formen und für unterschiedliche Zwecke Verwendung findet, gilt es heute als Textsorte, die ‒ wie der antike Vorläufer ‒ mit den Kriterien der ›Objektivität‹, ›Echtheit‹ und v.a. auch ›Vollständigkeit‹ assoziiert und mit einer ebensolchen Leseerwartung rezipiert wird. Zu unterscheiden sind dabei grundsätzlich die zwei Formen des Verlaufs- und des Gedächtnisprotokolls, die sich durch eine jeweilig andere zeitliche Relation zum Geschehen auszeichnen. Entsteht das Verlaufsprotokoll gleichzeitig und unmittelbar zum Geschehen bzw. zum zu Protokollierenden, ist das Gedächtnisprotokoll (oder auch Ergebnisprotokoll) eine nachträgliche Verschriftlichung, bei der normalweise die Fakten und Inhalte, neben einer möglichst lückenlosen Wiedergabe, noch geordnet, strukturiert und teilweise selektiert werden. Das Verlaufsprotokoll ähnelt somit weniger einem Dokument (wie dies bei dem Ergebnisprotokoll der Fall ist), sondern eher einer Transkription. Wie Michael Niehaus und Hans-Walter Schmidt-Hannisa festhalten, besteht der wesentliche Unterschied zwischen Protokoll und Transkript darin, dass das transkribierende Schreiben auf die Materialität und nicht den Inhalt der Rede fokussiert; eine Transkription lässt sich als »möglichst vollständige, selektionslose Abbildung« (vgl. ebd.: 9) verstehen. Das Verlaufsprotokoll kann dies vielleicht nicht leisten, versucht aber zumindest die Fiktion solch einer lückenlosen Dokumentation zu bieten. So werden Protokolle (egal welcher Art und für welchen Kontext) auch in der Ratgeberliteratur gehandelt. Im Leitfaden Protokolle schreiben. Professionell, strukturiert und auf den Punkt gebracht heißt es: »So sollen Protokolle sein: wahr, vollständig, klar« (Bögner/Kettl-Römer/Natusch 2013: 12).1

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An diesem Grundsatz hat sich über die Jahrhunderte wenig geändert, beschrieb doch bereits der Jurist Ludwig Hugo Franz von Jagemann 1838 in seinem Handbuch der gerichtlichen

Recht gerecht schreiben?

Dieses Verhältnis zwischen Rede und Schrift ist laut Cornelia Vismann paradigmatisch für die Textsorte (besonders im Kontext des Rechts, auf den weiter unten noch detaillierter eingegangen wird). Denn sie verbindet Rede und Schrift, ohne diese in Differenz zueinander zu setzen. Das Protokoll ist, so Vismann weiter, eine Form des action writing, eine Schreibtechnik, die Schreib- und Redezeit synchronisiert: Die »simulierte, erschlichene Präsenz dieser Mit-Schrift übernimmt die Zeugenschaft für mündliches Geschehen« (Vismann 2012: 398). Dies wiederum entspricht dem Traum vom total recall, nämlich einer »handlungsmimetischen Protokollschrift« (ebd.). Der Textsorte ›Protokoll‹ ist eine ganze Reihe von (einander generierenden) Fiktionen eigen. Zum einen lässt sich die Fiktion der (absoluten) Unmittelbarkeit nennen. Sie entsteht vor allem durch eine konventionalisierte Schreibweise, die auf dem sogenannten »direkten Stil« (Niehaus 2005: 695) beruht, d.h. eine Schreibweise, die scheinbar ausschließlich das Gesagte, Getane wiedergibt, ohne zu kommentieren, zu selektieren und zu bewerten. Rhetorische Spielereien, individuelle Stilnoten u.Ä. sind daher beim Schreiben eines Protokolls zu unterlassen. Daran schließt die Fiktion der totalen Mimesis an, nämlich die Fiktion einer allwissenden v.a. all-wahrnehmenden, fast gottähnlichen Perspektive der oder des Protokollierenden. Das führt zur Fiktion der Autorlosigkeit. Die oder der zwar allwissende und allsehende Schreibende darf nicht in einer subjektiven Autorinnenrolle bzw. Autorrolle in den Vordergrund treten, selbst wenn sie oder er namentlich ausgewiesen ist. Beim Protokoll wird der Name jedoch nicht mit einer Reihe subjektiver Merkmale konnotiert (wie z.B. Alter, Beruf, Charakter, Geschlecht etc.), sondern mit einem Amt gleichgesetzt. Die Person, die ein Protokoll führt, hat aufgrund gewisser Eigenschaften ein Amt inne. Aus dieser besonderen Rolle, als distanzierte, aber das Geschehen bestmöglich überblickende Schreibende ergibt sich für die Protokollierenden eine »hohe Kontroll- und Disziplinierungsfunktion« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 12). Das Protokoll ist daher eben weit mehr als eine reine Verschriftlichung von Vorgefallenem und Stattgefundenem, es ist »selbst eine Institution«, es ist eine »institutionelle Verwendungsweise des Mediums Schrift« (Niehaus 2005: 692). Vismann beschreibt in diesem Sinne das Protokollschreiben als »handelndes Schreiben«, als einen »performativen Akt, der zwar misslingen, nicht jedoch in seiner substantiellen Wahrheit angezweifelt werden kann. Was im Protokoll steht, gilt als so und nicht anders geschehen« (Vismann 2012: 399). Das zeigt sich vor allem in der engen Verbindung der Textsorte ›Protokoll‹ zum Recht. Wie Vismann ausführlich zeigt, wurden bereits im römischen Rechtssystem die Senatssitzungen von ›Schnellschreibern‹ im Turnus gründlichst protokolliert (vgl. Vismann 2012: 394-397). Eine eigene, aus Kürzeln bestehende Schrift, Untersuchungskunde das Protokoll als »wahrhaftig, klar und sachgemäß« (zit.n. Becker 2005: 64).

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die Tachygrafie, machte eine fast lückenlose Aufzeichnung lange vor modernen Schreibtechnologien möglich. Vismann hält daher fest: »In der Sphäre des Rechts selbst fällt kein Wort, das nicht durch notierend-notarielle Akte dingfest gemacht wird, angefangen bei den Sitzungen des römischen Senats über die Mitschriften in Gerichtsverhandlungen bis hin zu Handlungen in der Verwaltung« (ebd.: 395). Und sie stellt die Gleichung auf: Je bindender ein Rechtsakt sein sollte, desto detaillierter wird verschriftlicht (vgl. ebd.). Die Schrift hat im Recht also eine »Beweis- und Warnfunktion«, folgt aber meist auf das Mündliche und hat damit eine »das Wort unterstützende Funktion« (Weitzel 1996: 614). Aufgrund ihrer Position zwischen Rede und Schrift wird die Textsorte ›Protokoll‹ im Recht besonders stark mit »unbezweifelbarer Glaubhaftigkeit« (Vismann 2012: 397) assoziiert; sie bürgt für Echtheit, Wahrheit und Vollständigkeit und soll dem Ephemeren der mündlichen Gerichtsverhandlung die Stirn bieten: »Die MitSchrift übernimmt die Zeugenschaft für mündliches Geschehen« (ebd.: 398). Anders als bei Gesetzen, Urkunden und ähnlichen Textsorten fokussiert das Protokoll auf das Vorgängige, das Prozesshafte und schafft somit eine Art Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit. Das Protokoll, so scheint Vismann ferner zu implizieren, ist ein Gegenpol zu einem Hauptcharakteristikum des Rechts, nämlich seiner Nachträglichkeit: »Das gesetzte geschriebene Recht, das konstitutiv nicht gegenwärtig ist, das Vorschriften macht und diese nachträglich anwendet, holt seine Ungleichzeitigkeit dank dieser redesynchronen Aufzeichnungstechnik ein« (ebd.). Besonders in zwei Bereichen des Rechtssystems spielt die Textsorte ›Protokoll‹ eine große Rolle: in Gesetzgebungsprozessen (d.h. im Parlament) und in der Rechtsprechung (d.h. vor Gericht). Dort, wo das »Recht in Aktion« (ebd.: 400) tritt, werden Akten angelegt (vgl. ebd.). Trotz dieser scheinbar zentralen Tätigkeit des Protokollierens und der Wichtigkeit von Akten-Protokollen ist das schriftliche Wort dem mündlichen nicht ›überlegen‹: Denn auch wenn das Protokoll als unabdingbar in juristischen Prozessen aller Art gilt, ist v.a. in Gerichtsverfahren doch letztendlich die mündliche Form die ausschlaggebende. Es ist schließlich nicht die RechtSchreibung, sondern die Rechtsprechung, die Recht zur Anwendung bringt. Das besondere Verhältnis von Rede und Schrift und vor allem deren jeweilige wechselnde Dominanz lässt sich anhand der richterlichen Prozessführung zeigen. Historisch betrachtet gibt es eine Bewegung von einem tendenziell stärker schriftbasierten zu einem tendenziell stärker redebasierten Verfahrenswesen. Im Mittelalter und darüber hinaus kann noch zwischen ›schriftlichen‹ und ›mündlichen‹ Verfahren unterschieden werden. Beim schriftlichen Verfahren wird rein aufgrund der Aktenlage entschieden. Ab der Aufklärung und vor allem in Folge der Umwälzungen der französischen Revolution werden das mündliche Wort und die Öffentlichkeit als die wichtigsten Ideale eines gerechten Gerichtsverfahrens betrachtet. Das Geschriebene tritt in den Hintergrund. So lesen laut Vismann bereits seit der deutschen Strafprozessordnung von 1877 Richter zur Urteilsfindung keine Proto-

Recht gerecht schreiben?

kolle mehr und Geschriebenes kann vor Gericht nur dann Geltung finden, wenn es mündlich vorgelesen wird. In Anlehnung an Carl F. Elsässer benennt sie daher einen »mündlichen Gerichtstermin als rückwärts verhandelte Akten« (vgl. Vismann 2012: 404-405). Die Mündlichkeit soll Unmittelbarkeit garantieren und damit die Rechtsstaatlichkeit sichern (vgl. Weitzel 1996: 617), denn ein rein auf schriftlichen Akten basierender Prozess kommt einem Inquisitionsprozess gleich. Gustav Radbruch beschreibt diese Art von schriftlichen Gerichtsverfahren, wie es ab dem mittelalterlichen Strafverfahren bis ungefähr 1848 die Regel war, folgendermaßen: Sie [die Richter] urteilten auf Grund von Zeugenaussagen, die sie nie mit eigenen Ohren gehört hatten, über einen Beschuldigten, der ihnen nie zu Gesichte gekommen war. Das Gebärdenspiel, das Erröten und Erbleichen des Beschuldigten […], alle Nuancen und Imponderabilien gehen aber in dem einförmigen Kanzleistil des Protokolls verloren; man darf das Paradoxon wagen, daß nur die Dichter die Wahrheit zu sagen wissen, und nicht jedem Urkundsbeamten pflegt solches Charisma zu eignen. (Radbruch 1952: 182-183) Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und der Einführung der öffentlichen und mündlichen Verhandlung erlebt das Protokoll als (juristische) Textsorte seine Hochblüte (vgl. Becker 2005: 50). Es gibt daher im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in der rechtstheoretischen Literatur eine Fülle von Ratgebertexten zur Kunst des Protokollierens, wo neben Hinweisen zur korrekten Selektion des Inhaltes, zu unterschiedlichen Modi des Beobachtens, zu Formen des Gebärdenprotokolls auch sehr technische Hinweise gegeben werden, welches Schreibgerät, welches Papier zu verwenden und v.a. auch welcher Stil vorteilhaft ist (vgl. ebd.). Die unübersichtliche Menge an schriftlichen Akten führt ab Mitte des 18. Jahrhunderts zur Notwendigkeit einer »Reform des Geschäftsstils« im deutschsprachigen Raum, die Teil »eines umfassenden Projektes zur Rationalisierung des Staatsapparates« (ebd.: 50) ist: Publikationen wie die folgende von Joseph Kitka von 1845 zeugen von diesem Unterfangen Ueber den Gerichtsgebrauch und die Mittel, zwecklosen Schreibereien und Verzögerungen in Civil- und Criminalrechtsgeschäften vorzubeugen (vgl. ebd.). Es wird daher schon in Johann Heinrich Gottlob von Justis Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart und allen in den Geschäften und Rechtssachen vorfallenden schriftlichen Ausarbeitungen von 1755 festgehalten, dass das Gerichtsprotokoll sprachlich sehr genau und detailliert sein muss, da es innerhalb eines komplexen Kommunikationsprozesses steht (es vermittelt zwischen Einzelpersonen, unterschiedlichen Behörden etc.), gleichzeitig muss es aber allgemein verständlich sein und sollte daher in einfacher Alltagssprache verfasst sein und wenige Fachtermini aufweisen (vgl. Becker 2005: 64-65). Des Weiteren muss das Protokoll Unmittelbarkeit vermitteln, wie Becker anhand eines Zitats aus Jagemanns Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde (1838) zeigt. Die Sprache des Protokolls soll derart sein, dass, so Jagemann, »[j]eder,

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der das Protokoll später liest, sich lebendig in die Seele und damalige Stimmung des Deponenten zurückversetzen kann« (ebd.: 69). Trotz des Fokus auf das gesprochene Wort und die Unmittelbarkeit kommt es in Gerichtsverfahren nach wie vor zu einem Oszillieren zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: »Eine reine Mündlichkeit kommt im Recht trotz ihrer Installierung als Prinzip nicht vor« (Vismann 2012: 405). Ein kleines Beispiel wäre schon die Tatsache, dass üblicherweise der mündlichen Verhandlung eine Anklageschrift vorausgeht, die, von einer Klägerin oder einem Kläger verfasst, die Richterinnen und Richter (und gegebenenfalls Geschworene sowie Schöffinnen und Schöffen) im Vorfeld zu lesen bekommen und mit diesem textuell geprägten Vorwissen (bei dem die oder der Angeklagte noch nicht zu Wort gekommen ist) in den mündlichen Prozess starten. Schrift und Rede stehen im Recht folglich in einem ambivalenten Verhältnis. Die Textsorte ›Protokoll‹ nimmt eine Vermittlungsposition zwischen den beiden Polen ein, indem sie Mündliches scheinbar unmittelbar abbildet und festhält. Dem Protokoll wird daher nach wie vor (wenn auch nicht mehr mit der gleichen Intensität wie bis ins 18. Jahrhundert) eine Vormachtstellung im allgemeinen Rechtsverständnis gegeben, vor allem was dessen Rechtssicherheit und Objektivität betrifft.

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Drachs Protokolle

Von solch einem Verständnis von Protokoll als ›sicher‹, ›originalgetreu‹, ›wahr‹ (die Liste an Attributen ließe sich noch fortsetzen) geht der österreichische Autor Albert Drach aus, der sich wie kaum ein zweiter der Textsorte ›Protokoll‹ in seinem literarischen Schaffen angenommen hat. Eine Vielzahl seiner Prosatexte ist im Titel oder Untertitel als Protokoll deklariert. Damit nimmt Drach keine Sonderstellung ein, denn die Literatur der Moderne weist »eine Affinität zum Protokoll« auf, wie Niehaus festhält (vgl. Niehaus 2005: 698). Diese proklamierte Affinität mag auf den ersten Blick als Widerspruch wirken, sind doch der protokollarische und literarische Text scheinbar diametral verschieden. Dies gilt nicht nur für den Stil, die Frage der Referentialität und die Rolle der Autorin oder des Autors. Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass das Protokoll »auf den institutionellen Kontext eines Verfahrens« (ebd.: 696) verweist, den der literarische Text üblicherweise nicht hat. Gerade die Literatur der Moderne thematisiert in besonderem Maße ihre eigene Kontingenz und steht damit ebenso in Opposition zur Textsorte ›Protokoll‹. Es ist aber just diese Andersartigkeit, sowohl Funktion als auch Stil betreffend, die das Protokoll für die Literatur interessant macht: »In dem Augenblick, in dem sie [die Literatur] sich mit der eigenen Grundlosigkeit, der Abwesenheit des institutionellen Rückhaltes, einer definierbaren Funktion konfrontiert sieht, kann die Literatur damit beginnen, sich ihres Anderen zu bemächtigen, um damit zu expe-

Recht gerecht schreiben?

rimentieren. Sie kann protokollarisch werden« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 17). Dabei lassen sich zwei Zugänge ausmachen: Zum einen versteht sich die Literatur ›als Protokoll‹, das heißt der literarische Text zeigt sich als protokollführende Instanz von gesellschaftlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten (vgl. ebd.: 17-18). Dies ist unter anderem in Erika Runges Bottroper Protokolle (1968) oder Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne (1977) der Fall. Diese Texte vereinen mit unterschiedlichem Fokus authentische Interviews, Zeugenaussagen etc.; die Erzählerinnen fungieren als Protokollführerinnen und thematisieren auf diese Weise, wie in Guten Morgen, du Schöne, das Leben von Frauen in der DDR der 1970er Jahre oder wie in den Bottroper Protokollen das Leben in einer Bergwerksstadt im Ruhrgebiet in den 1960er Jahren. Der zweite Zugang betrifft die Fiktionalisierung der Textsorte ›Protokoll‹. Ist die erste Variante als Art Dokumentarliteratur zu verstehen, die mithilfe der Folie des Protokolls eine Brücke zwischen dem Literarischen und Dokumentarischen schlägt, werden in der zweiten Variante mithilfe eines fiktionalen Protokolls, im Protokollstil, vor allem die Unnachgiebigkeit der Amtssprache und die Auswirkungen des (Ver-)Schriftlichens thematisiert und meist kritisiert. Der zweiten Variante bedient sich vorwiegend Drach, dem es in erster Linie um die Textsorte ›juristisches Protokoll‹ geht, ein Interesse, das sich aus seinem beruflichen Hintergrund ergibt: Er studierte Rechtswissenschaften, war als Anwalt tätig, hatte das Jus-Studium (nach eigenen Angaben) aber deshalb gewählt, da er hoffte, als Richter noch genügend Zeit zum literarischen Schreiben zur Verfügung zu haben.2 Drachs Protokolle sind Protokolle einer scheinbaren juristischen Verfehlung, Protokolle eines Kriminalfalls und dessen institutioneller Bearbeitung. Sie unterscheiden sich von tatsächlichen Protokollen aber insofern, als (meist) der oder die Protokollierende nicht genannt wird und auch nicht immer ein und dieselbe Person das Protokoll den gesamten Text hindurch zu führen scheint. Gleichzeitig gibt es keinen genannten institutionellen Rahmen; der Zweck und auch der Ort, für den das Protokoll angefertigt wird, werden nicht explizit genannt. Paratextuell fehlen – bis auf den sehr expliziten Hinweis im Buchtitel als ›Protokoll‹ ‒ Imitationen eines Gerichtsprotokolls. Korrekterweise muss man daher bei Drach von einer ›protokollierenden Schreibweise‹ sprechen. Niehaus und Schmidt-Hannisa beschreiben Drachs Vorgangsweise als die »Physiognomie einer unerbittlichen Schreibweise« (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 18). ›Unerbittlich‹ ist der hypotaktische, die Bürokratiesprache imitierende Stil, der zwar das Schicksal von Individuen erzählt, ihre Individualität und Subjektivität wenn nicht sogar Menschlichkeit aber hinter 2

Vgl. in diesem Zusammenhang die Biographie Drachs auf www.albert-drach.at/biographie vom 06.11.2019 und die Ausführungen Alfred J. Nolls über Drach als Juristen, v.a. auch über seine Lust am juristisch geschulten Querulieren (vgl. Noll 2004).

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das ›Amtsdeutsch‹ treten lässt bzw. durch die Sprache auslöscht. Drach führt also einen schriftlich geführten Inquisitionsprozess vor, einen Prozess, der rein auf Akten, auf Geschriebenem und damit – wie man vorschnell annehmen möchte – auf Fakten beruht. Die Drach’schen Protokolle scheinen eine ›Über‹-Exemplifikation des, aus dem römischen Recht stammenden, juristischen Grundsatzes »Quod non est in actis non est in mundo« zu sein; eine (heute vorwiegend in Zivilprozessen) relevante Maxime, die besagt, dass nur das, was von den Parteien vorgetragen und damit auch zu Akten wird, in die richterliche Entscheidung Eingang finden darf. Das Schriftlichkeitsprinzip wird gegenüber dem Mündlichkeitsprinzip privilegiert. Damit schließen Drachs Texte zeitlich an das 19. Jahrhundert (die oben skizzierte Hochblüte des händisch geschriebenen Protokolls) und dessen Protokollkultur an. Sie sind eine Kritik an einer Vorherrschaft der Bürokratie und deren menschlichkeitsferner Sprache. Indem er einen extrem distanzierten, fast entfremdeten Protokoll-Erzähler einsetzt, kritisiert er die wesentlichen Charakteristika einer Herrschaft der Bürokratie, nämlich Rationalisierung, Distanz, Neutralität respektive (Pseudo-)Objektivität, wie sie von Max Weber – wenn auch nicht unbedingt als Kritik intendiert ‒ beschrieben wird. Die Herrschaft der Bürokratie ist: Die Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit: sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft, daher ohne »Liebe« und »Enthusiasmus«, unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe: »ohne Ansehen der Person«, formal gleich für »jedermann«, d.h. jeden in gleicher faktischer Lage befindlichen Interessenten, waltet der ideale Beamte seines Amtes. (Weber 1956: 129) Drach hat, wie erwähnt, dem Großteil seiner literarischen Prosatexte die paratextuelle Beschreibung ›Protokoll‹ hinzugefügt. Auf sein Frühwerk Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum von 1964 folgen 1968 der autobiografische Text »Z.Z.« das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll und 1971 Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. Neben diesen Protokollen in Romanlänge hat er eine beachtliche Zahl sogenannter ›kleinerer Protokolle‹ geschrieben, darunter »UND. Protokoll einen Richter betreffend« (1983) sowie die Kleinen Protokolle (1965)3 , die in »Die ungemütlichen Protokolle«, »Die nichtbeteiligten Protokolle« und »Die wohlwollenden Protokolle« gegliedert sind. Die Protokollform imitieren aber am durchgängigsten die beiden Romane Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum und die Untersuchung an Mädeln – diese beiden Texte sollen daher im Weiteren auch im Zentrum der Überlegungen zur Textsorte und Schreibweise ›Protokoll‹ bei Drach stehen. Die Romane gehen beide von einem Kriminalfall aus. Bei ersterem, dem Protokoll gegen Zwetschkenbaum, geht es um eine Trivialität, nämlich um den vermeintlichen Zwetschkendiebstahl des Juden Schmul Leib Zwetschkenbaum. Für das angebliche Delikt fehlt allerdings 3

Diese entstanden allerdings zwischen 1927 und 1961, vgl. hierzu die Ausführungen auf: https://oe1.orf.at/artikel/339013/Amtshandlung-gegen-einen-Unsterblichen vom 06.11.2019.

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jeglicher Beweis, die einzigen Indizien sind Schmuls Anwesenheit unter besagtem Baum und ein paar ausgespuckte Kerne in der näheren Umgebung. Im Protokollstil wird daher festgehalten: Aus einer Anzahl am Tatort frisch ausgespuckter Kerne ergibt sich, daß hier jüngst unmittelbar ein Zwetschkenessen in nicht unbeträchtlichem Umfange stattgefunden haben müsse. Zwetschkenbaum stellt dennoch den Zwetschkendiebstahl mit vielen, nur zur Hälfte verständlichen Worten und lebhaften Gebärden in Abrede. Der Genannte wurde dem Bezirksgericht wegen Vagabundage- und Diebstahlverdachts überstellt. (Drach 1989: 9) Der naiv-kindliche Zwetschkenbaum ist im Weiteren den Behörden oder vielmehr ihren Akten hilflos ausgeliefert, da er weder sprachlich noch intellektuell in der Lage ist, es mit der Komplexität der Aktensprache aufzunehmen. Als pikaresker Antiheld schlittert er von einem Problem in das nächste, wechselt zwischen Gefängnis, Krankenhäusern, Irrenanstalten, je nachdem, welcher Richter was zu Protokoll gibt, und je nachdem, wie das Geschriebene wiederum vom nächsten Verantwortlichen interpretiert wird. Für die Tragik dieses Einzelschicksals bleibt in der detaillierten Erzählung unterschiedlichster angeblicher Vergehen (angefangen beim Zwetschkendiebstahl) kein Platz. Die Untersuchung an Mädeln hingegen dreht sich um einen vermeintlichen Mordfall. Zwei Autostopperinnen, Stella Blumentrost und Esmaralda Nepalek, wird zur Last gelegt, den Autofahrer Joseph Thugut (ein irreführend sprechender Name), mit dem sie mitgefahren sind und der beide vergewaltigt hat, getötet zu haben. Im protokollarischen Nachweis der Schuld der beiden wird das Vergewaltigungsdelikt des Autofahrers aber kaum als schuldhaftes Verhalten eingestuft, vielmehr wird das im Auge der protokollierenden Stimme allzu freimütige sexuelle Verhalten der beiden Frauen bis ins Detail ergründet und in einer Unzahl von angeblich anrüchigen bzw. nicht sittsamen Episoden belegt. Die scheinbar schon seit frühester Kindheit sexuelle Freizügigkeit der beiden Angeklagten rechtfertigt – so die indirekte Botschaft – den Gewaltakt durch den Stechviehhändler. Aber nicht nur die Logik der Beweisführung ist mehr als fragwürdig. Beim Nachweis der Schuld (die – auch so der implizite Tenor – als gegeben angenommen wird) wird die Tatsache ignoriert, dass die Leiche des Stechviehhändlers nicht auffindbar ist, die beiden Frauen leugnen, ihn getötet zu haben, und somit gar nicht feststeht, ob überhaupt ein Delikt vorliegt. Dies alles hindert den Protokollanten aber nicht daran, das Leben der Angeklagten detailliert aufzuarbeiten und in auch noch so einer marginalen Begebenheit aus der fernsten Vergangenheit einen Beweis für deren prinzipielle Gewaltbereitschaft und kriminellen Charakter zu sehen. Die protokollierende Stimme in der Untersuchung zeichnet sich durch eine sprachliche Detailverliebtheit in der Be-

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schreibung aus, was eine übermäßige fast unnatürliche Distanz zum Geschehen mit sich bringt. Die Vergewaltigungsszene wird über mehrere Seiten lang beschrieben, ohne dass jemals das Vergehen ›Vergewaltigung‹ oder ›sexueller Übergriff‹ durch Joseph Thugut genannt wird: Immerhin verschaffte er sich schließlich insofern Gehör, als es ihm gelang, mit seinem hierzu geeigneten Organ in Stellas Schoß einzudringen, wenn auch nicht, darin die für die Abreaktion nötige Zeit zu verbleiben, denn das Mädel machte sich offenbar die verworrene Körpersituation im Wagen zunutze, um sich des von ihm auf natürlichem Wege hergestellten Zusammenhangs von Person zu Person zu entledigen, und zwar so, daß es wahrscheinlich außerhalb ihrer Intimsphäre seine Befriedigung finden mußte, worauf der Zustand ihrer Wäsche schließen ließ. (Drach 2002: 10-11) Vorgeführt und auch unterminiert wird in beiden Texten jeweils die Vorstellung, dass im Recht die Schrift für Geltung und Rechtssicherheit steht, die Oralität hingegen für größere Nähe zum Geschehen und für Einzelfallgerechtigkeit. Die Textsorte ›Protokoll‹ und die Drach’schen Protokolle im Besonderen vereinen diese beiden Aspekte und spielen sie gekonnt gegeneinander aus. Der Protokollstil suggeriert eine gewisse Nähe und Unmittelbarkeit zum Geschehen, die Fixierung durch die Schrift konterkariert dies wiederum. Das Protokoll ist daher in einem paradoxen Kreislauf zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Unmittelbarkeit und Nachträglichkeit gefangen. Wie ein Rezensent der Frankfurter Rundschau mit einem Chiasmus treffend festgehalten hat, handelt es sich bei Drachs Untersuchung an Mädeln nicht um ein »Protokoll einer Untersuchung«, sondern um eine »Untersuchung dieses Protokolls« (vgl. Wallmann 1992: 310). Die Eigenarten der Textsorte und die Schreibweise ›Protokollieren‹ werden folglich in Drachs Texten zur Disposition gestellt. Drach spielt dabei mit den bereits beschriebenen Fiktionen der (absoluten) Unmittelbarkeit, der totalen Mimesis und der Autorlosigkeit. Der Text suggeriert zunächst ein kommentarloses, unmittelbares Wiedergeben des Vorgefallenen. Wertungen und Interpretationen werden (scheinbar) ausgeklammert. Wie die Zitate gezeigt haben, schafft Drach diesen Eindruck durch den der Textsorte eigenen ›direkten Stil‹. Diese Schreibweise erzeugt die Fiktion einer totalen Mimesis. Alle relevanten Hinweise, Aussagen, Episoden sind protokollarisch, d.h. schriftlich festgehalten und damit, so die Implikation, wahr. Auf der Makroebene findet sich in der Folge – neben einer extremen Detailtreue in Einzelbeschreibungen ‒ eine große Handlungsdichte. Eine Episode führt in die nächste, die Handlung verliert sich – v.a. in Bezug auf das Schicksal Schmul Zwetschkenbaums – vom Hundertsten ins Tausendste. Was außerhalb der Textsorte des juristischen Protokolls als übertriebener Hang zu Digressionen gewertet werden würde, wird hier als jeweils gleichberechtigtes Beweisstück gehandelt. Konterkariert wird die vermeintliche allumfassende

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Falldarstellung unter anderem damit, dass beide Texte insofern unabgeschlossen bleiben, als es keine protokollarische Notiz über die Urteilsfindung und -verkündung gibt. Bei Zwetschkenbaum schließt sich der Text zirkulär, indem er wieder an den Anfang, zum ersten Tatbestand zurückgeht. Die Aufzeichnungen enden mit: »Auch gab er [Zwetschkenbaum] zur Sache einstweilen nichts anderes an, als daß er die Zwetschken nicht gestohlen habe« (Drach 1989: 267). Die Untersuchung an Mädeln schließt mit: »Dann kam das Wort an Stella Blumentrost. Sie erhob sich, sagte ›Ich‹ – und setzte sich wieder« (Drach 2002: 388). Gegen Ende wird in Aussicht gestellt, dass nun die Perspektive der Frauen beleuchtet werden könnte, dass die Frauen als Individuen betrachtet werden. Mehr als ein »Ich« bringt Stella allerdings nicht hervor und der Text schließt damit; die individuelle, persönliche Perspektive wird aus einer protokollarisch geführten Rechtsprechung vollends ausgeklammert. Angesichts dieser Ambivalenzen stellt sich die Frage: »Wer schreibt bzw. führt das Protokoll?«, oder anders formuliert »Wer zeichnet verantwortlich für die wiedergegebenen Inhalte in Drachs Protokollen?«. Eine eindeutige Antwort gibt es auf diese Frage nicht und fällt v.a. auch in Bezug auf die beiden Texte unterschiedlich aus. In der Untersuchung an Mädeln changieren die Rolle und die Perspektive des Protokoll-Erzählers stark, und zwar angefangen bei einem extrem distanzierten, überdetaillierten, fast transkribierenden ›Mitschreiber‹, wie zum Beispiel bei der Darstellung der Gerichtsverhandlung: »Frage des Staatsanwaltes, habe der Fremde sich nicht gewundert, daß sie diesen Wagen fahre? Nein. Habe er sich nicht interessiert, warum sie in der Nacht unterwegs sei? Auch nicht. Habe er auch keine Laterne gehabt? Es sei gar nicht so dunkel gewesen« (ebd.: 300). Daneben existiert der kommentierende und analysierende juristisch geschulte Erzähler ‒ Matthias Settele spricht in seiner Analyse treffend von einem »amtlichen Gutachter«-Erzähler (vgl. Settele 1992: 57): Es ist aber doch wohl anzunehmen, daß sie die Absicht hatten, wenn auch zu Fuß, ihren Weg über diese Linie zu nehmen, wohingegen sie beteuern, nur infolge mangelnder Richtungs- und Ortskenntnisse Stellas so weit von der noch nicht vollendeten und teilweise schon wieder unterbrochenen Autobahn abgekommen zu sein. (Drach 2002: 13) Im Unterschied zum protokollierenden Erzähler zeigt der begutachtende Erzähler eine abwägende Haltung und zieht Wahrscheinlichkeiten und Eventualitäten in Betracht. Über allen steht eine klassisch auktoriale Erzählstimme. Sie erzählt nicht nur aus heterodiegetischer Perspektive mit wechselnder Stimme vom Geschehen, sie beobachtet auch das Protokollieren und berichtet davon:

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Der Vorsitzende protokollierte das Geständnis sofort. Dr. Permsusel kämpfte um den Beisatz, das wolle sie doch wissen. Der Hofrat ordnete nicht an, daß der Beisatz protokolliert werde, mußte aber schließlich das Verlangen Dr. Permsusels trotzdem zu Papier bringen, dadurch kam der Beisatz indirekt vor. (Ebd.: 317) Die Erzählstimme wechselt also zwischen extremer Unmittelbarkeit (wie beim transkribierenden Protokollanten) hin zu einem subjektiv wertenden, kommentierenden und selektierenden Erzähler in Gestalt des Gutachters. Besonders interessant im Zusammenhang mit dem juristischen Schreiben und dem Wert des Schreibens und des Schreibwerkzeuges vor Gericht, ist folgende Schlüsselszene: Im Vorfeld zur Hauptverhandlung vernimmt der Richter die wichtigsten Angeklagten und Zeugen. Dass er dabei voreingenommen und vom Ausgang seiner Vernehmung im Vorhinein schon überzeugt ist, wird im Protokollstil mit Innenperspektive auf den Richter wiedergegeben. Allein die Vernehmung verläuft nicht so, wie vom Richter angedacht, denn die beiden Angeklagten bleiben beim Leugnen der Tat. Dominiert wird die Vernehmung aber von einem scheinbar belanglosen Zwischenfall: Dem Richter fällt der Bleistift aus der Hand, direkt auf den Schoß der – wie er auch zugibt – ausgesprochen anziehenden Esmaralda Nepalek. Der Richter greift sofort danach und kommt, wenn auch nur flüchtig, mit dem Körper Esmaraldas in Berührung. Diese Episode verwirrt den Richter derart, dass er seinem nächsten Zeugen, Harald Puppinger, umso harscher und voreingenommener gegenübertritt, ihn anschreit, ihm einen Sessel verweigert und ihn schließlich auch – ohne nennenswerten Grund – verhaften lässt. Der auf den Schoß der Angeklagten gefallene Bleistift bringt zweierlei Probleme für den Richter: Er wird zum einen zum Phallussymbol und steht damit für eine unerlaubte Vereinigung mit Esmaralda, was dem Richter seine Vormachtstellung, Urteilskraft und v.a. Integrität nimmt: »Er war immer korrekt gewesen, korrekt vor sich selber, notabene vor dem Schriftführer […]« (ebd.: 199). Den Schriftführer, in seiner Funktion des ›bezeugenden Aufschreibers‹, scheint der Richter als eine Art Alter Ego zu begreifen. Er verliert sich also in seiner Wut, seine Gedanken kehren immer wieder zum Bleistift zurück und er wiederholt die Episode ständig im Geist: Da lag nicht nur ein Mord vor, wahrscheinlich ein Raubmord, da lag auch ein Prüffall für ihn selbst vor, Prüffall, wieviel er Wert wäre. Aber er hatte den Bleistift, sprich Stift, sprich Kuli, auf den Schoß, richtiger zwischen die Schenkeln eines mörderischen, ja raubmörderischen Mädels herabfallen lassen und ihn vor den Augen des Schriftführers schnell von dort geholt, bevor das Mädel den Stift selbst nehmen und ihm geben konnte oder dieser herabgefallen wäre. (Ebd.: 199) Zum anderen – etwas lapidarer – benötigt der Richter für seine weitere Vernehmung dringend einen Bleistift, kann aber das Corpus delicti nicht weiter verwenden:

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»[…] und er hatte keinen anderen Stift, mit dem er alles niederschreiben würde, selbst wenn er einen solchen vom Tische des Schriftführers borgen sollte« (ebd.: 204). Schließlich wirft er in seiner Verzweiflung den inkriminierten Bleistift trotzig zu Boden, von wo ihn diesmal ironischerweise niemand aufhebt, und nimmt wenig später einfach den privaten Stift des Schriftführers, dem er stattdessen den am Boden liegenden Stift anbietet (vgl. ebd.: 208). Der Richter scheint daraufhin wieder zu seiner gewohnten Haltung zu finden und kann mit der Vernehmung und ergo mit dem Mitschreiben fortfahren. Mehrfach wird betont, dass er »alles aufschrieb« (ebd.: 212) und die Vernehmung immer eindringlicher wurde, was mit dem Bleistiftsäquivalent folgendermaßen beschrieben wird: »[…] und er kreiste ihn [Harald Puppinger] mit dem Bleistift ein […]« (ebd.: 212). Die despotische Vernehmung, die sogar in der unvermittelten und wenig begründeten Festnahme eines Zeugen gipfelt, endet schließlich doch noch in der Katastrophe, nämlich dem Tod des Richters. Von seinen letzten Stunden und Gedanken zeugen von ihm aufgenommene Tonbandaufzeichnungen sowie Mitschriften, die ein »Verfahren gegen sich selbst« (ebd.: 215) dokumentieren, indem er schließlich ‒ in Ermangelung einer vorhandenen Leiche im Mordfall ‒ sich selbst dafür bereitstellt und quasi opfert. Trotz der seiner Ansicht nach am Ende erfolgreichen Vernehmung kann er an deren Gültigkeit nicht glauben: »Aber was sei das, wenn die Schrift mit diesem Stift nur eine Spinnwebe darstelle und er dagegenrenne« (ebd.: 214)? Aufgerufen wird hier der metaphorische Ursprung des schriftlichen Textes als lat. textura, als Gewebe, in dem er sich nun selbst verfangen hat. Nicht nur das Niedergeschriebene sollte bezeugen, dass die Vernehmung und die Verhaftung nicht gänzlich rechtmäßig waren, auch das Schreibgerät selbst, der Stift, ist Zeuge des richterlichen Vergehens. Diese relativ lange Episode kulminiert schließlich in einer Antiklimax, nämlich dass der Nachfolger des Richters in dessen Aufzeichnungen keine Gründe für eine weitere Haft des Harald Puppinger finden kann und deshalb seine Entlassung veranlasst (vgl. ebd.: 215). Drach beschreibt mit diesem Vorfall hierarchische Machtverhältnisse, die sich zwischen dem Schreibenden, dem Vorgefallenen und den involvierten Personen ergeben: »Was ins Protokoll gehört und wer das Protokoll führt, ist immer auch eine Frage der Macht«, wie Niehaus (2011: 143) treffend meint. In der Stift-Szene kommt es daher nicht nur zu einem Machtspiel zwischen Richter und den zu Vernehmenden, sondern auch zwischen dem Schriftführer und dem Richter. Die Tätigkeit des Schriftführers wird als eine rein mechanische beschrieben, während das Schreiben des Richters inklusive seines Schreibwerkzeugs als maßgeblich bewertet wird. Rechtsprechung und Recht-Schreibung werden in Drachs Protokollen stetig gegeneinander ausgespielt. Ein weiterer Aspekt, der in dieser Schlüsselszene aufscheint und sich wie ein roter Faden durch die Drach’schen Protokolle zieht, ist das Verhältnis von Schreiben und Lesen. Sowohl in der Untersuchung an Mädeln aber vor allem auch im Gro-

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ßen Protokoll gegen Zwetschkenbaum entwickelt sich die Handlung durch eine Spirale zwischen Schreiben und Lesen. Besonders verdichtet zeigt sich diese Bewegung in folgender Episode: Der Richter Dr. Ludwig Schönbein saß bereits beim Grauen des Morgens über dem Brandstiftungsakt samt allem bezüglichem Beiwerk, […]. Indem er den einen Aktenstoß hereinbringenden Kanzleioberoffizial Chotek verschwommen von der Seite ansah, äußerte sich Dr. Schönbein, man mache viel Lärm wegen eines Irren, und schwang gleichzeitig die Feder zu einem Vermerk, vielleicht auf Rücklieferung des Genannten in die von ihm so sehr unbefugt verlassene Anstalt. Aber die Feder ließ sich niemals auf das Blatt nieder, sie schrieb in der Luft und wurde schließlich zurückgelegt, um einer neuerlichen Lektüre Platz zu machen. Und diese Lektüre hinwiederum wurde ebenfalls nicht vollendet; denn nach starkem Pochen an der Türe trat zum andern Male Riegelsam mit dem gegenständlichen Häftling ein […]. (Drach 1989: 80-81) So wie in dieser Szene gibt es im Zwetschkenbaum eine Vielzahl von Episoden, in denen der diensthabende Richter, Arzt oder Gutachter aus unterschiedlichen Gründen nicht konsequent ›bei den Akten bleiben‹ kann. In oben zitierter Szene wird der Richter schlichtweg mehrmals vom Lesen und auch Weiter-Schreiben abgelenkt, das, was zu den Akten kommt, was schriftlich festgehalten wird, wird durch Kontingenzen bestimmt (wie dem beiläufigen Eintreten eines Mitarbeiters). Ebenso häufig kommt es auch vor, dass der Entscheidungsträger (z.B. der Richter) von jemandem anderen vertreten oder ersetzt wird. Der Nachfolger liest dann die Aufzeichnungen des Vorgängers und kommt oft zum gegenteiligen Schluss. Im Falle Zwetschkenbaums bedeutet das z.B., dass er wieder ins Gefängnis verlegt wird oder doch in die Psychiatrie kommt. Das Schicksal Zwetschkenbaums und seine Odyssee durch die Wirren der Bürokratie und Justiz entfalten sich also rein aufgrund der Akten und deren subjektiver und kontingenter Verwendung: Ein Richter, Arzt, Staatsanwalt oder Gendarm verfasst einen Bericht und eine Stellungnahme, die dann abermals von einem anderen Richter, Staatsanwalt etc. gelesen werden und aufgrund der Interpretation des Lesenden, manchmal bedingt durch dessen Beziehung zum Autor des Gelesenen oder andere äußere Einflüsse (wie eine Störung), entwickelt sich das Schicksal Zwetschkenbaums in eine bestimmte, oft genau entgegengesetzte Richtung. Das in den Akten schriftlich Festgehaltene und damit vermeintlich Ver-Objektivierte gewährleistet also keinesfalls Sicherheit für das betroffene Individuum, vielmehr gibt es Raum für subjektive Interpretationen, die aber durch die Verschriftlichung umso unnachgiebiger bleiben: »Zwetschkenbaum tut nichts, ihm wird angetan; und was ihm angetan wird, das wird ihm angelastet« (Sanders 1964: 297) – so formuliert es ein Rezensent der Zeit. Was die Darstellung des Protokollschreibens und -lesens und die Durchgängigkeit des Protokollstils betrifft, sind sich die beiden Roman-Protokolle Drachs

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sehr ähnlich. Was die Erzählerposition betrifft, weisen sie aber einen wesentlichen Unterschied auf: Beim Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum gibt sich nämlich am Ende der Protokollführer zu erkennen: Baron Bampanello […] wies mich an, ein Lehrlings- und Gesellenstück zu machen, den Beschuldigten gehörig zu befragen, alles nach Tunlichkeit zu Protokoll zu nehmen, aufzuklären und zu belichten, und dann, wenn nötig, das Ganze zu überschreiben: »Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum«. Der mir auferlegten Pflicht kam ich nach Kräften nach. Doch schien der völlig teilnahmslose Häftling, der bedauerlicherweise weder von Herrn Grzezinsky noch vom Richter Bampanello Notiz genommen hatte, auch mich keines Blickes zu würdigen. Auch gab er zur Sache einstweilen nichts anderes an, als daß er die Zwetschken nicht gestohlen habe. (Drach 1989: 269) Diese Schlussszene illustriert den »Schreibakt des Protokollierens als einen Fakten produzierenden Akt« (Vismann 2011: 89). Die Taten, die Zwetschkenbaum zur Last gelegt werden, werden erst dadurch amtlich und damit für sein Leben folgenschwer, dass sie protokollarisch festgehalten werden. Genau dies lässt Drach einen Richter in einem anderen Protokoll, im »Und. Protokoll einen Richter betreffend«, sagen: […] das Wichtigste im Prozeß sei das Protokoll, dadurch wären sowohl die Rechtsuchenden als auch die Zeugen und was sonst noch vor Gericht erscheine, gebunden, auch wenn sie nicht das gemeint, was sie zum Ausdruck gebracht hätten. Mitunter könne der Richter auch entsprechend nachhelfen, wenn das, was aus ihm hervorsprudele, für seine Entscheidung nicht reiche […]. (Drach 1992: 53) Drachs Texte lassen sich als eine Kritik an einer einseitigen Rechtsprechung lesen, die sich vor allem gegen Randgruppen richtet. Die Recht-Schreibung wird aber nur als vermeintliche Alternative dargestellt, denn der scheinbar objektiv Schreibende mit seinem scheinbar allumfassenden Blick ist unter seinem Deckmantel der Objektivität und in der Rolle des bloßen Befehlsempfängers noch unnachgiebiger.

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Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken Eine digitale Spurensuche Martina Scholger (Graz) Gedanken reisen, Einfälle kommen an. Josephine von Knorr1

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Künstlernotizen als Ideenspeicher

Handschriftliche Notizen erlauben einen sehr persönlichen Einblick in künstlerische Arbeitsmethoden und Schaffensprozesse, die in ihrer ungeschliffenen Form der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben. Hier wachsen flüchtige Gedanken zu ausgereiften Werkkonzepten heran, Einflüsse aus Literatur, Musik und Kunst geben entscheidende Impulse, die dann im Werk reflektiert und kommentiert werden. Anders als in der literarischen Textproduktion steht hier nicht der finale Text im Fokus, sondern vielmehr das künstlerische Konzept, das sich materiell konkretisieren kann oder im konzeptionellen Stadium verbleibt. Dieser nicht-literarischen Form des Schreibens und des visuellen Ausdrucks gilt es hier auf den Grund zu gehen und das Notizbuch sowohl in seiner Ästhetik als auch auf inhaltlicher Ebene als eigenes Metakunstwerk zu begreifen. Der Beitrag befasst sich zunächst mit den Charakteristika von Notizbüchern und dem Zweck des Notierens als Ideenspeicher für künstlerische Werkkonzepte. Auf dieser Basis werden Überlegungen zur digitalen Repräsentation der spezifischen Quelleneigenschaften dieser besonderen Form nicht-literarischer Textproduktion angestellt und methodische Anleihen aus Editionswissenschaft, Digitaler Geisteswissenschaft und Informationswissenschaft genommen. Als Fallbeispiel dienen dabei die Notizbücher des österreichischen Künstlers Hartmut Skerbisch (1945-2009), die als digitale Edition veröffentlicht wurden, um eine bislang

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Das Zitat stammt von Josephine von Knorr, die mit Marie von Ebner-Eschenbach eine über sechs Jahrzehnte andauernde Brieffreundschaft verband (zit.n. Atze/Kaukoreit 2017: Frontispiz).

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unzugängliche Quelle zu erschließen und für die (wissenschaftliche) Nachnutzung aufzubereiten. Hartmut Skerbisch war ein österreichischer Konzept- und Objektkünstler. Geprägt von seinem Architekturstudium – das er zugunsten der bildenden Kunst aufgab – thematisierte er stets das Verhältnis zwischen Raum, Skulptur und Betrachterin bzw. Betrachter. Raumgenerierende Eigenschaften von sichtbaren und unsichtbaren Medien sowie die Materialität der eingesetzten Werkstoffe selbst stehen bei Skerbisch in Opposition zur ästhetischen Hülle, die er als hinderlich für den Zugang zur eigentlichen Aussage des Kunstwerks betrachtete. Seine Skulpturen, Installationen und Fotografien verstand der Künstler als Kommentar auf fremde Werke aus Literatur, Musik und Kunst. So finden sich beispielsweise wiederholt Zitate von Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie James Joyce, Franz Kafka, Kathy Acker und Musikerinnen und Musikern wie den Rolling Stones, Graham Bond, Ginger Baker, Lady Saw oder Jimi Hendrix unter den Notizbucheinträgen, mit deren Hilfe sich die Konzeption, Entwicklung und Veränderung künstlerischer Ideen bis hin zu ihrer Aus- und Aufführung verfolgen lässt.

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Das Notieren

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bildende Künstlerinnen und Künstler, Komponistinnen und Komponisten, Physikerinnen und Physiker, Biologinnen und Biologen – die Liste ließe sich endlos fortsetzen – verwenden das Notizbuch als materielles Gedächtnis, wie es Michel Foucault beschreibt: Man notierte dort Zitate, Auszüge aus Büchern, Exempel und Taten, die man selbst erlebt oder von denen man gelesen hatte, Reflexionen oder Gedankengänge, von denen man gehört hatte oder die einem in den Sinn gekommen waren. Sie bildeten gleichsam ein materielles Gedächtnis des Gelesenen, Gehörten und Gedachten, einen zur neuerlichen Lektüre und weiteren Reflexion bestimmten Schatz an Wissen und Gedanken. (Foucault 2005: 507) Künstlerinnen und Künstler notieren, um Gedanken, Einfälle und impulsgebende Anregungen festzuhalten, sie weiterzuentwickeln und im Idealfall in Form von künstlerischen Manifestationen zu kommunizieren. Diese unmittelbare Quelle des Experimentierens ist für die Forscherin und den Forscher von besonderem Interesse, weil sie als elementares und oft auch einziges Zeugnis den kreativen Prozess dokumentiert. Notizbücher erlauben – ob von Künstlerinnen und Künstlern oder Privatpersonen – einen sehr persönlichen Blick in die Werkstätte der Verfasserin bzw. des Verfassers (vgl. Grésillon 1999: 11). Sie sind Zeugnis unmittelbarer, ungefilterter und spontaner Gedanken und Inspirationen, die für die spätere Verwendung aufbewahrt werden. Als »storehouse of materials« (Maugham 1949: xiv), »Ideenspei-

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken

cher und transportables Schreiblabor« (Villwock 2009: 105) oder »Alltagsbegleiter« (Appel/Veit 2015: 122) sind sie meist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Private Einträge mengen sich unter werkbezogene, reale Situationen verflechten sich mit fiktiven, die es jeweils sorgfältig zu trennen gilt (vgl. Radecke 2013: 161). Notizen weisen dabei oftmals keinen sequenziellen Schreib- und Leseverlauf auf. Sie enthalten enthierarchisierte Strukturen und verteilte Informationen, die erst durch die Verknüpfung einzelner Fragmente sowie die (relative) Positionierung innerhalb des Werkkomplexes zu einem Sinngeflecht heranwachsen. Karin Krauthausen begreift Notiz und Skizze als äquivalente Techniken, um »mit dem Unvorhersehbaren auf gekonnte Weise umzugehen« (Krauthausen 2010: 18). Die Notiz lässt sich also als generische Form der Gedankenstütze verstehen, die sich sowohl in schriftlicher als auch zeichenhafter Form manifestieren kann. Die Notizbücher von Skerbisch sind ein repräsentatives Beispiel dieser Textgattung: Sie können als ein Metakunstwerk zu seinen ausgeführten Kunstwerken aufgefasst werden, das auf ästhetisch-materieller, konzeptionell-inhaltlicher und dokumentarischer Ebene als eigenständiges Objekt zu betrachten ist. Das Konvolut besteht aus insgesamt 35 Notizbüchern, die der Künstler zwischen 1968 und 2008 mit Einträgen füllte. Es sind 30 unlinierte Schulhefte, drei linierte gebundene Notizbücher, ein karierter Collegeblock mit Spiralbindung und ein linierter Schreibblock mit Klebebindung. Als bevorzugte Schreib- und Zeichenwerkzeuge dienten ihm Füllfeder, Tuschefüller, Fineliner, Bleistift und Kugelschreiber in den Farben Schwarz, Blau und Grün. Ungeklärt bleibt im Zusammenhang mit der Materialität, warum der Künstler ganze Notizbuchseiten mit schwarzer Farbe oder Metallfarbe übermalte und damit die Rekonstruktion der darunterliegenden Einträge erheblich erschwert oder nahezu unmöglich macht. Diese Form der Hervorhebung verwendete der Künstler nicht nur bei den Notizbüchern, sondern auch bei knapp einem Dutzend Büchern aus seiner Bibliothek, deren Einband er ebenfalls mit Gold, Silber oder Bronze übermalte. Notizen transportieren durch ihre formale Gestaltung und inhaltliche Struktur Persönlichkeitsmomente der Verfasserin bzw. des Verfassers: Die Anordnung von Text- und Bildbereichen auf dem Blatt Papier, ein lebhafter oder zurückhaltender Duktus sowie Äußerungen, die auf ein bestimmtes soziales, politisches und kulturelles Verständnis hindeuten, sind Komponenten, die Aufschluss über die Arbeitsweise, die Interessen und die Charaktereigenschaften der Verfasserin bzw. des Verfassers geben. Der Duktus bei Skerbisch ist einmal lebhaft, spontan und ungeordnet, ein anderes Mal akkurat, organisiert und akribisch. Bei eingehender Betrachtung wird offensichtlich, dass Skerbisch sich in intensiven Entwurfsphasen wenig um orthographische Korrektheit – besonders Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung – gekümmert hat. Der Umgang mit dem begrenzten Schreibraum ›Notizbuch‹ als »Ort der materiellen Wissensproduktion« (Wirth 2012: 30) ist vielfältig: fragmentarische Textpassagen, die durch Linien voneinander getrennt sind und als Begren-

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zung zum darauffolgenden Gedankengang fungieren; dicht aneinandergedrängte und im Schreibraum verteilte Textblöcke mit Querverweisen zu anderen Textstellen; lineare Fließtexte; stark durchgestrichene Textpassagen, die kaum mehr lesbar sind; eng gesetzte Kolumnen zur Erfassung von Sachverhalten in Listenform; eingeklebte Zeitungsausschnitte; Ausrisse und gänzlich herausgerissene Blätter. Neben den Notizen in schriftlicher Form werden zahlreiche Skizzen zur Erläuterung eines Sachverhalts eingesetzt: Diese treten als gleichwertiges Ausdrucksmittel mit dem Text in einen Dialog oder werden anstelle des Textes zur Vermittlung genutzt. Das thematische Spektrum reicht von der Diskussion um einen erweiterten Skulpturbegriff über das Offenlegen der Eigenschaften des Bildschirms und das Hinterfragen von Materialität von Werkstoffen bis hin zur Auseinandersetzung mit theoretischer Mathematik und Physik (siehe Abb. 1).

2.1

Warum Künstlerinnen und Künstler notieren?

Neben Funktion, Typ und Eigenschaft von Notizen stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Notiz für die Künstlerin bzw. den Künstler zum einen und für die kunsthistorische Forschung zum anderen. Warum notieren Kunstschaffende eigentlich? Welchen Stellenwert hat das geschriebene Wort im Werk der Künstlerin bzw. des Künstlers? Und, wie können Künstlernotizen in der kunsthistorischen Forschung eingesetzt werden? Notizbücher sind für Bodo Plachta »Ausgangspunkt und Arbeitsinstrument für den kreativen Prozess des Schreibens, Malens und Komponierens« (Plachta 2017: 105). In der kunsthistorischen Forschung nehmen Notizen von Kunstschaffenden eine wichtige Rolle bei der Analyse von Werkschaffensprozessen und der Kontextualisierung von Kunstwerken ein. Gerade die Möglichkeiten des digitalen Mediums, die in Abschnitt 4 näher erörtert werden, sind für die Erschließung der Komplexität und des Umfangs von Notizbüchern besser geeignet als ein gedrucktes Werk, wie zwei Beispiele aus der Moderne belegen. Edvard Munchs künstlerisches Schaffen ist begleitet von einer Reihe von schriftlichen Quellen. Seine literarischen Skizzen, Gedichte und Kommentare dokumentieren und erschließen sein Werk. Die automatisiert eingelesenen und anschließend durch die Editorinnen und Editoren korrigierten Transkripte werden im Rahmen der eMunch Online-Edition mittels Kodierung digital repräsentiert und in der Folge durch editorische Kommentare, digitale Faksimiles, weiterführende Artikel und Sachregister ergänzt. Sie stellen damit eine einzigartige, öffentlich zugängliche Ressource für die Forschung und Lehre dar (Munch Museum 2019). Ein weiteres Beispiel für eine digitale Edition sind die Unterrichtsnotizen zur Bildnerischen Form- und Gestaltungslehre, in denen Paul Klee während seiner Zeit als Dozent am Bauhaus in Weimar und Dessau seine Ausführungen zur Formenlehre festhielt. Eine besondere Herausforderung für die Editorinnen stellte die

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken

Abb. 1: Notizbuchseite mit Textinterventionen (Skerbisch 1971: 5r )

dynamische Natur des Materials dar: Klee stellte seine Notizen je nach Bedarf um, überarbeitete sie und verwendete sie mehrfach wieder (vgl. Eggelhöfer/Keller Tschirren 2012). Bei der Edition von kunsthistorischem Quellenmaterial zeigt sich besonders die Relevanz der Engführung von Text und Bild. Die Beigabe von Faksimiles spielt dort eine noch größere Rolle, wo Text und grafische Darstellung ineinandergreifen. Es zeigt sich auch, dass die Kontextualisierung der edierten Notate mit dem künstlerischen Schaffen und den referenzierten Quellen die Rezeption in hohem Maße fördert.

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Auch für Skerbisch stellte das schriftliche und zeichnerische Konzipieren und Reflektieren ein wichtiges Instrumentarium dar, um sich einem Kunstwerk anzunähern. Neben den Notizbüchern besteht der schriftliche Nachlass von Skerbisch aus einem bislang nicht ausgewerteten Bestand an Karteikarten, Anmerkungen in den Büchern seines Bibliotheksbestandes, Computerdateien auf dem zuletzt benutzen Rechner, Korrespondenzen und Skizzen. Die Quellen der Reflexion und Eindrücke, die er auf diese Weise kommentierte, sind vielfältig: Musik, die er gehört, Texte, die er gelesen, Aufführungen und Filme, die er gesehen, Symposien, an denen er teilgenommen, und Anlässe, die er mit Freunden verbracht hat – alle diese Ereignisse konnten als potenzielle Ideen-Lieferanten fungieren, gespeichert werden, als bloße Notiz in den Heften verbleiben oder in ein umfangreicheres künstlerisches Konzept eingehen. Somit tritt der Künstler in einen Dialog mit dem Geschriebenen durch das Medium ›Schreiben‹ selbst. In seinen aus- und aufgeführten Werken setzte Skerbisch Schrift als (werk-)vermittelndes Medium in Kombination mit Architektur, Skulptur, Video, Fotografie oder Ton ein: als direktes Zitat aus James Joyces’ Finnegans Wake (1939) und Ulysses (1922), das bei den multimedialen Rauminstallationen Räumliche Anordnung: Putting Allspace in a Notshall (1969) und Erde. Our cubehouse still rocks (1976) Teil der Gestaltung ist; als Werkstitel, der dem literarischen Werk einer Schriftstellerin Tribut zollt, wie bei Fenster für Kathy Acker (1991); als indirekter Verweis auf Texte von Marquis de Sade, Blixa Bargeld und Franz Kafka in Die X Stelle (1986), Dachbodenwerk (1988) oder dem Lichtschwert (1992) (vgl. Fenz 1994).

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Zugang zur Quelle

Louis Hay nennt für die Untersuchung von Schreibprozessen drei Voraussetzungen: den Zugang zum Material, um die Textproduktion in den Blick nehmen zu können; den Einsatz technischer Mittel, um Trägermaterial, Schreibstoff und Schrifthabitus zu untersuchen; die Verwendung datenverarbeitender Verfahren (vgl. Hay 2015: 133-135) zur medialen Repräsentation und Aufbereitung von Präsentationsformen. Der Zugang zum Material stellt eine erste Hürde dar, die besonders bei zeitgenössischen Manuskripten aufgrund des Urheberrechts – der Schutz gilt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers bzw. der Urheberin – erschwert ist. Zudem setzt Hay den Zugang zur Werkstatt der Verfasserin bzw. des Verfassers voraus, doch nur sehr selten ist es möglich, an den Ort der »Zeugnisse des Schreibens« (Hay 2015: 133) zu gelangen, der eine ganz eigene private Aura in sich trägt. So bekamen etwa Dirk van Hulle und Mark Nixon 2006 Zugang zur Pariser Wohnung von Samuel Beckett und dessen noch erhaltener Bibliothek mit 700 Exemplaren – Beckett hatte bereits zu Lebzeiten Bücher an Freundinnen bzw. Freunde und Archive verschenkt –, um den Bestand für die Erstellung einer digitalen Bi-

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bliothek (vgl. Nixon/Neyt/Van Hulle 2017) zu katalogisieren und die einzelnen Bücher auf ihre Lesespuren (unterstrichene oder markierte Passagen, Marginalia und Eselsohren) zu untersuchen (vgl. Nixon/Van Hulle 2013). Auch der reiche Nachlass von Skerbisch in seiner letzten Wohnung in Schloss Kalsdorf bei Ilz konnte katalogisiert werden. Besonders aufschlussreich für die Untersuchung der Notizbücher ist dabei die Literatur-, Schallplatten-, CD- und Videosammlung. Wenngleich die Notizbücher, die Ausstellungsbeilagen und die (wenigen) Aussagen des Künstlers zu seinem Werk Rückschlüsse darauf zulassen, mit welchen Themen der Künstler sich beschäftigt hat, wird erst durch die Anzahl der Bücher zu bestimmten Autorinnen und Autoren (Kafka, Joyce, Acker) und Themenbereichen (Mathematik, Physik) sowie Markierungen und Annotationen2 in den Büchern deutlich, welche die vorrangigen Einflüsse und Impulsgeberinnen und Impulsgeber für Skerbischs künstlerische Konzeptionen waren. Während der von Hay angesprochene Einsatz technischer Mittel im Rahmen dieser Betrachtung nicht weiter ausgeführt werden kann, liegt die Verwendung datenverarbeitender Verfahren im Fokus der nachfolgenden Darstellung.

4

Methoden der digitalen Repräsentation

Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Frage, welcher Nutzen und Erkenntnisgewinn durch die Übertragung der Notizen in den digitalen Raum erzielt werden kann, auf Basis welcher methodischen Überlegungen sich die digitale Repräsentation manifestiert, und wie die konkrete technologische Umsetzung erfolgt. Zunächst werden die handschriftlichen Notizen diplomatisch, d.h. vorlagengetreu, transkribiert und in eine maschinenlesbare Form umgewandelt, die eine medial unabhängige Präsentationsform zulässt. Dabei wird die Orthographie des Originals so quellentreu wie möglich wiedergegeben: Schreibfehler, Abkürzungen, Streichungen, Hinzufügungen, Zeilen- und Seitenumbrüche werden so belassen, wie sie im Original vorliegen. Für die digitale Repräsentation wird der XML-Standard der Text Encoding Initiative (TEI) verwendet, der sich in der geisteswissenschaftlichen Forschung für die Kodierung von Texten als Standard etabliert hat (TEI Consortium 2019). Dabei werden Textphänomene durch Kodierung technisch hervorgehoben, expliziert und für die Datenverarbeitung und -analyse aufbereitet. Die primären Eigenschaften der Notizen – sie sind fragmentartig, prozesshaft und verteilt – verlangen nach spezifischen Methoden der digitalen Repräsentation,

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In einigen der Bücher sind Notizzettel – mit und ohne Kommentar – eingelegt, um die Seite zu markieren.

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die sich weitgehend mit jenen decken, die von Peter Robinson3 und Patrick Sahle4 als paradigmatische Leitvorstellungen für digitale Editionen – und als Vorzüge einer digitalen gegenüber einer analogen Edition – benannt werden: Zugänglichkeit, Entgrenzung, Kontextualisierung und Prozesshaftigkeit. Im traditionell-philologischen Verständnis meint eine kritische Edition die Rekonstruktion, Bereitstellung und Erschließung autoritativer Texte in ihrer historischen Gestalt. Daneben existieren andere Editionstypen, die sich vorrangig der Varianz, der Genese, dem Textträger oder dem Informationsgehalt widmen. Nach Sahle folgt die digitale Edition einem digitalen Paradigma und kann nicht ohne wesentliche inhaltliche und funktionelle Verluste gedruckt werden. Die Trennung von Repräsentation (die durch Markup erschlossene und explizierte Datenbasis) und Präsentation (die Publikation der erschlossenen Inhalte in unterschiedlichen medialen Ausgabeformen) ist dabei zentral (vgl. Sahle 2017: 237-241). Im Folgenden gilt es die von Robinson (vgl. Robinson 2002: 51-59) vorbereiteten und von Sahle (vgl. Sahle 2017: 240-241) weiter ausformulierten Kriterien digitaler Editionen auf die vorliegende Quelle unter besonderer Berücksichtigung ihrer primären Eigenschaften anzuwenden. Zunächst wird mit der digitalen Repräsentation der Notizbücher eine Quelle erschlossen und zugänglich gemacht, die sonst für die Öffentlichkeit nicht oder nur sehr schwer verfügbar ist. Darüber hinaus wird durch die Digitalisierung auch der teils fragile Zustand des Materials vor weiteren Abnützungen durch die Einsichtnahme und Verwendung weiterer Leserinnen und Leser bewahrt. Die fragmentartigen, nicht-linearen Notizen können nur als digitale Edition adäquat repräsentiert werden. Allein die Menge von etwa 2100 Seiten wäre in einer gedruckten Edition kaum zu bewältigen und würde durch die Notwendigkeit eine Auswahl zu treffen, einen wesentlichen Informationsverlust mit sich bringen. Aus ökonomischer Sicht weist das digitale Medium hingegen kaum Einschränkungen auf und lässt nahezu unbegrenzte Datenmengen und auch nachträgliche Ergänzungen zu. Die Bereitstellung von Faksimiles ist in einer digitalen Edition inzwischen unerlässlich, um dem Benutzer bzw. der Benutzerin den Eindruck des Originals, insbesondere jedoch die topografische Anordnung der Inhal-

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Robinson nennt in seinem Beitrag What is a Critical Digital Edition sechs Kriterien der digitalen Edition und beschreibt diese in einzelnen Abschnitten: »1. A critical digital edition is anchored in a historical analysis of the materials […] 2. A critical digital edition presents hypotheses about creation and change […] 3. A critical digital edition supplies a record and classification of difference over time, in many dimensions and in appropriate detail […] 4. A critical digital edition may present an edited text among all the texts it offers […] 5. A critical digital edition allows space and tools for readers to develop their own hypotheses and ways of reading […] 6. A critical digital edition must offer all this in a manner which enriches reading« (Robinson 2002: 51-59). Basierend auf den Überlegungen von Robinson präsentiert Sahle erweiterte Kriterien der digitalen Edition (Sahle 2007: 70 und Sahle 2017: 240-241).

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken

te am Dokument sowie die Prozesshaftigkeit der Schreibbewegungen zu vermitteln: Diese Anforderungen verlangen nach einem digitalen Surrogat in Ergänzung zum Transkript. Im analogen Medium wäre eine solche Nebeneinanderstellung aufgrund der Menge nicht leistbar. Eine digitale Edition erlaubt aber nicht nur eine materielle Entgrenzung und mediale Entkoppelung, sondern auch eine Entgrenzung in Bezug auf eine benutzerspezifische Repräsentation und Präsentation: Die Notizen können auf einer Website als Lesetext und als edierter Text, mit oder ohne Faksimile, durch Register ergänzt oder als Druckausgabe publiziert werden. Die Basis dafür bildet jeweils der kodierte Text. Den prozesshaften Charakter der Notizen wiederum adäquat zu adressieren, ist nur mittels einer genetischen Betrachtung möglich, die den Prozess, der vor, zwischen und nach dem Produkt steht, in den Fokus nimmt. Diese Dynamik vollzieht sich auf (zumindest) drei Ebenen: 1) auf Mikroebene durch die Veränderungen des Textes direkt am Dokument, 2) auf Makroebene durch die Veränderung von bestimmten Textbausteinen über das gesamte Textkorpus hinweg und 3) durch die Entwicklung einer Idee, eines künstlerischen Konzeptes, die sich sowohl innerhalb des Notizbuchkorpus vollzieht als auch darüber hinausreicht. Als methodische Basis für die nachfolgenden Beobachtungen dient die critique génétique, die sich in Ergänzung zum strukturalistischen Zugang der nouvelle critique mit Fragen der Textproduktion befasst (Hay 2015: 134). Sie widmet sich der Untersuchung von schriftlichen Werkstattdokumenten und Arbeitsmanuskripten, um die Vorstufen von literarischen Werken zu erforschen: Die Entwicklung einer künstlerischen Idee rückt in den Fokus der Untersuchungen. Nicht das finale Produkt ist demnach ihr Forschungsgegenstand, sondern der Entstehungsprozess (Grésillon 1999: 115-117). In Anlehnung an die Aufsätze von Heinrich von Kleist »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« (Kleist 1878) und Almuth Grésillon »Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben« (Grésillon 2015) kann hier von einer allmählichen Verfertigung einer Idee im Entwurfsprozess gesprochen werden. Geht man nun mit einem genetischen Ansatz an die Notizbücher heran, können die drei genannten Ebenen methodisch erschlossen werden. Die erste Form der Textgenese betrifft die Entwicklung des Textes am Dokument unter Berücksichtigung der Textinterventionen wie Hinzufügungen, Streichungen, Alternativen, Textumstellungen und Metamarkierungen sowie deren Einordnung in eine zeitlich relative Entstehungshistorie. Für die Kodierung von Schreibprozessen in XML/TEI werden zunächst die einzelnen Stufen der Textproduktion verzeichnet. Abbildung 2 zeigt die initial mit Bleistift verfasste Version, im Kodierungsbeispiel als ›E0‹ bezeichnet, sowie drei weitere Überarbeitungsstufen ›E1‹ bis ›E3‹. Die erste Zeile des Beispiels lautet in ihrer ursprünglichen Fassung »Es ist ein urvergangener Gruß« (Skerbisch 1992-1993: 8r). Durch zwei Substitutionen in der zweiten Überarbeitungsstufe mit schwarzer Tinte wird daraus schließlich »Er ist ein urvergange-

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ner Laut« (ebd.). Die Kodierung der Textinterventionen und der Überarbeitungsstufen – wie im nachfolgenden Codebeispiel (siehe Abb. 3) gezeigt – ermöglicht es in weiterer Folge, die einzelnen Textschichten in ihrer relativen Chronologie des Entstehens zu rezipieren, informationstechnisch auszuwerten und für den Benutzer bzw. die Benutzerin über Einblendungen zur Verfügung zu stellen. Abb. 2: Entwicklung des Textes am Dokument (Skerbisch 1992-1993: 8r )

Abb. 3: Dokumentation des Schreibverlaufs

E s r ist ein urvergangener

Gruß

Laut

.....

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken

Die zweite Form der Textgenese ergibt sich aus der Praxis des Wiederholens von Wörtern, Phrasen und Sätzen über das gesamte Notizbuchkorpus hinweg, um den Geist zu schärfen und das künstlerische Konzept zu präzisieren. Die Phrase »sie hat angefangen ihre fortlaufenden Zustände vorzuträumen« (Skerbisch 19761977: 10v) wird schließlich in 20 unterschiedlichen Versionen angeführt, ohne den Status der vorangegangenen oder nachfolgenden Version als Tilgung, Hinzufügung oder Substitution zu kennzeichnen. Die Varianz betrifft dabei Orthografie, Interpunktion und Inhalt. Eine dritte Form der Genese zeichnet sich in der Entwicklung einer Idee ab. Im Fall der untersuchten Notizbücher, einer nicht-literarischen Gattung, spielt die Textkonstitution eine untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr um die Entwicklung einer künstlerischen Idee, eines künstlerischen Konzeptes, das sich auch in einem anderen Medium manifestieren kann und zwischen dem konzipierenden Prozess und dem physischen ›Produkt‹ pendelt. Die Ausführungen zur Textproduktion müssen aber in einer Quelle, die gleichermaßen Text und Skizze als primäre Ausdrucksmittel beinhaltet, zwingend auf grafische Darstellungen ausgeweitet werden.5 Um schließlich eine Kontextualisierung der über das gesamte Korpus verteilten Referenzen zu Literatur, Musik, Kunstwerken und Konzepten herzustellen, werden Methoden des Semantic Web herangezogen. Dabei geht es um die Verknüpfung von Daten und nicht lediglich von Dokumenten. Diese Vorgehensweise kommt dem, den Notizbucheinträgen immanentem, fragmentartigen und verteilten Charakter entgegen. Zur Realisierung der Relationen zwischen individuellen Notizbucheinträgen einerseits sowie Einträgen und externen Daten(-quellen) andererseits ist eine zusätzliche semantische Ebene erforderlich, die über die Kodierung des Textes mit XML/TEI hinausgeht. Dazu werden kontrollierte Vokabularien und Thesauri für eine inhaltsbezogene Anreicherung der Daten eingebunden. Diese werden entweder projektbezogen erstellt oder, wo bestehende Normdatensätze als Datenquellen durch Bibliotheks- und Informationsdienste online verfügbar sind, im Sinne des Linked Open Data (LOD)6 nachgenutzt. Durch die Anwendung

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Ein Vorschlag zur formalen Beschreibung von Skizzen unter Berücksichtigung der grafischen Komponenten, der die Skizzen begleitenden Textfunktionen und der interpretatorischen Ebene sowie deren digitale Repräsentation wird in (Scholger 2020) näher ausgeführt.

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Als Linked Open Data werden frei im Internet verfügbare und nachnutzbare Daten bezeichnet, die über einen Uniform Resource Identifier (URI) eindeutig identifiziert, adressiert und miteinander verknüpft werden können.

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semantischer Technologien entsteht so ein Informationsnetzwerk, das die individuellen Einträge in einen breiteren Kontext einbindet und somit gemeinsame Abfragen, Analysen und Visualisierungen ermöglicht. Die digitale Edition der Notizbücher von Hartmut Skerbisch ist seit Anfang 2018 über das Asset Management System GAMS (Steiner/Stigler 2018) zugänglich und setzt die oben genannten Anforderungen und Überlegungen weitgehend um (Scholger 2018). Abbildung 4 zeigt die synoptische Darstellung von Faksimile und Transkript sowie die Verknüpfung von im Text genannten Entitäten mit anderen Fundstellen im Korpus und Zusatzinformationen aus externen, frei im Internet verfügbaren Datenquellen.

Abb. 4: Synoptische Darstellung von Faksimile und Transkript

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Gedankenexperimente bei Skerbisch digital erschlossen: Genese künstlerischer Ideen

Die Synthese der vorgestellten Methoden erlaubt es nun, die Entwicklung spezifischer Ideen nachzuvollziehen und den Werkschaffensprozessen des Künstlers – über den Weg der schriftlichen Dokumentation – näher zu kommen. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Abbildung des kreativen Prozesses zwischen konzeptioneller Notiz und künstlerischer Manifestation. Als Beispiel dient hier Skerbischs intensive Beschäftigung mit Kafka: Das Werk des Romanautors und dessen Verwendung des Buchstaben ›K‹ für die Benennung

Gedankenexperiment in der Konzeption von Kunstwerken

seiner Hauptakteure inspirierte den Künstler zu eigenen philosophisch-kunstwissenschaftlichen Positionen zum Skulpturbegriff und dem Ich. Davon zeugen nicht nur die Bezugnahme auf den Beginn von Kafkas Roman Der Verschollene in der Umsetzung des Kunstwerks Statue (geläufiger als das Lichtschwert) von 1992, sondern auch die zahlreichen Verweise auf Textstellen aus den Romanfragmenten Der Process (1925), Das Schloss (1926) und Der Verschollene (1927) in den Notizbüchern7 , wie der Eintrag vom 8. Dezember 1992 exemplarisch belegt: Wenn wir nun noch ein Gedankenspiel versuchen und uns vorstellen ob für Franz Kafkas Charaktere Josef K. und K. auch andere Abkürzungen möglich gewesen wären, dann können wir daraufkommen, daß er sie aus eben den schon erwähnten Eigenschaften des K nur K. nennen konnte, weil sie eigentlich die treffendste Bezeichnung für das aktive Ich ist. (Skerbisch 1992-1993: 6r) Abb. 5: K selbst (1992) und Edition K (1993). Fotos: Hartmut Skerbisch

In nur sehr kurzem Zeitraum entstanden drei weitere Kunstwerke, die sich auf Kafka beziehen: K selbst (1992), Edition K (1993) und Mal (1994), jeweils in Bezugnahme auf den Buchstaben K, der über eine richtungsweisende Geste in den Raum vordringt. Die Edition K, eine vierteilige Plakatserie, die fast platzfüllend die Chiffre ›K‹ mit jeweils einem paradigmatischen Leitsatz an der oberen Blattkante zeigt, ist zudem exemplarisch für die Vorgänge im Zwischenraum8 , die sich am Übergang vom konzipierenden Notieren im schriftlichen Medium zur physischen Umsetzung des Werks im Ausstellungsraum ereignen. Gemeint sind damit die vier Leitsätze, die zwar in den Notizbüchern über ihre Wiederholung und Modifikation allmählich heranwachsen, die dort aber nie in ihrer für die in Edition K verwendeten Fassung 7 8

Siehe hier besonders die Notizbücher 19 und 20 in Scholger (2018). Siehe dazu die Ausführungen von Wirth (2012: 30-32) im Abschnitt »Bewegen in epistemischen Zwischenräumen«.

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wiedergegeben werden.9 Dieser Transformationsprozess findet außerhalb des Notizbuches statt. Die Manifestation stellt aber nicht den Endpunkt, sondern nur einen Moment im Schaffensprozess dar: Den ersten Leitsatz »Das Konkrete ist unzugänglich« greift Skerbisch vier Jahre später im Zusammenhang mit seiner Arbeit an den Sphären in Reflexion auf Martin Heideggers Vortrag Was ist Metaphysik? wieder auf. Skerbischs Skulpturbegriff wird von der Beschäftigung mit den Merkmalen des Buchstaben ›K‹ geprägt, den er als raumgreifend und beispielhaft für die Realisierung von Skulpturen erachtet: »Der Manifestationsvorgang der Chiffre K steht in vielfacher Entsprechung zur Manifestation Skulptur« (Fenz 1994: 108-109). Diese rhizomatische Verweisstruktur zwischen Notizen, Kunstwerken und Denkkonzepten lässt sich umfassend fortsetzen: Durch die entsprechende Kodierung von Textabschnitten und deren Weiterverarbeitung lassen sich mit dem Skulpturbegriff in Zusammenhang stehende Konzepte wie Ausstellen oder Werkzeug und Kunstwerke, die sich mit der Skulptur als »Werkzeug des Selbst-Bewußtseins« (Skerbisch 1994-1996: 13r) befassen, extrahieren. Die digitale Erschließung des gesamten Korpus der Notizbücher ermöglicht die gleichrangige Behandlung grafischer und textueller Zeugnisse des Künstlers, die Einbeziehung von in den Notizbüchern genannten externen Referenzen und Quellen und die Kontextualisierung mit seinen ausgeführten Kunstwerken und anderen materiellen Zeugen wie zum Beispiel Skerbischs persönlicher Bibliothek. Erst diese Zusammenführung ermöglicht es, den Werkschaffensprozessen des Künstlers näher zu kommen und die Genese seines künstlerischen Schaffens nachzuzeichnen.

Bibliografie Appel, Bernhard R./Veit, Joachim (2015): »Skizzierungsprozesse im Schaffen Beethovens: Probleme der Erschließung und der Digitalen Edition«, in: Die Tonkunst 9 (2), 122-130. Atze, Marcel/Kaukoreit, Volker (Hg.) (2017): »Gedanken reisen, Einfälle kommen an«. Die Welt der Notiz. Wien: Praesens Verlag.

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Die vier Leitsätze zu Edition K sind: »Das Konkrete ist unzugänglich. Wenn über ein Bewußtsein kommt, daß es dem Konkreten ausgeliefert ist, bereitet K sich zur Ankunft. K kommt an, senkt das Gaumensegel auf den Zungenrücken zum Verschluß, reißt den Verschluß auf, und wird als Lautkörper frei. Während K frei wird, bringt es über sein vollführendes Bewußtsein einen Augenblick lang Bildlosigkeit« (vgl. Fenz 1994: 110-111). In den Notizbüchern finden sich einzelne Fragmente dieser Leitsätze, die mehrfach wiederholt und redigiert werden. Nur eine nummerierte Auflistung im Eintrag vom 15. September 1993 kommt der Version der vier Leitsätze der ausgestellten Edition K am nächsten (vgl. Scholger 2018: 19, 28r).

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Das Schreiben von und über Tanz Schrift-Bewegungs-Relationen in zeitgenössischen Tanztexten Rita Rieger (Graz)

1

Das Schreiben von und über Tanz

Tanzen ist nicht Schreiben – und dennoch stellen Tanzen und Schreiben bestimmende Handlungen von Choreografien dar. Bekanntermaßen ist das Verhältnis zwischen Tanzen und Schreiben beiderseits von gestalterischen und kreativen Widerständen geprägt, da sich weder die physische Bewegung lückenlos in Schrift übertragen, noch eine schriftliche Bewegungssequenz einfach in Tanz umsetzen lässt (vgl. Jeschke 2013: 53). Das Interesse einer philologischen Schreibforschung an Choreografien rührt nun daher, dass in ihnen nicht nur ein Wissen, Schreiben und Erfinden von Bewegung lesbar wird, sondern dass sie das Schreiben selbst als künstlerisch-analytische Handlung veranschaulichen (vgl. Wortelkamp 2002: 605). Abseits des zum Topos erstarrten Diktums, dass es unmöglich sei, die Flüchtigkeit des Tanzes in Texten festzuhalten, sind sich sowohl Schreib- als auch Tanzforschung darüber einig, dass das Schreiben von Tanz Bewegung vermittelt, sogar vervielfacht (vgl. Brandstetter/Hofmann/Maar 2010: 7). Diese Vervielfachung wiederum ist eng an die jeweilige Praktik des Schreibens gebunden. Mit Blick auf die historische Entwicklung von Tanztexten und anhand eines zeitgenössischen Fallbeispiels aus Anne Teresa De Keersmaekers und Bojana Cvejićs Drumming & Rain: A Choreographer’s Score (2014) möchte der vorliegende Beitrag zeigen, dass sich in zeitgenössischen Tanztexten die Qualitäten der Körperlichkeit und Zeichenhaftigkeit im Verhältnis von Tanzen und Schreiben umkehren. Zeitgenössische Tanztexte neigen einerseits zu einer vermehrten Konzeptualisierung von Bewegung, andererseits greifen sie durch ihre Versuche, die Anschaulichkeit der dargestellten Choreografie zu steigern, auf unterschiedliche mediale Formate wie alphabetschriftliche Textpassagen in Kombination mit schematischen Grafiken, Fotoreihen und beigefügtem Videomaterial zurück, die in ihrer Wechselwirkung die Materialität der Schrift, verschiedene Schriftaspekte sowie das sinnliche und operative Merkmal von Schreiben akzentuieren. Für eine philologisch-kulturwis-

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Rita Rieger (Graz)

senschaftliche Charakterisierung choreografischen Schreibens scheint daher eine Differenzierung von Schreiben auf Objekt- und Metaebene hilfreich. Die Begriffe ›Choreografie‹ und ›Notation‹ beziehen sich dabei auf das Schreiben als zentrale Komponente der Objektebene, die mithilfe aktueller philologisch-kulturwissenschaftlicher Mehrkomponentenmodelle wie Roland Barthesʼ Konzept der écriture, Rüdiger Campes ›Schreibszene‹ und Martin Stingelins ›Schreib-Szene‹ im Sinne einer kulturellen Praktik analysiert wird.

1.1

Schreiben: eine sprachlich-gestische Praktik

Fern davon, Schrift lediglich als eine Instanz der Sprache zu sehen, kennzeichnet Roland Barthes in seinen Überlegungen in »Variations sur l’écriture« (1973) die Körperlichkeit, Materialität und den gestischen Charakter der schreibenden Handlung – der scription – als einen Teilbereich der écriture, dessen Komplement ›jenseits des Papiers‹ auf historisch variable, kulturelle Praktiken verweist, die er als Komplex ästhetischer, sprachlicher, sozialer und metaphysischer Werte beschreibt (vgl. Barthes 1994: 1555). Barthesʼ Überlegungen weiterführend, bezeichnet Rüdiger Campe diese »fundamentale sprachlich-gestische Beziehung« (Campe 2012: 270) als ›Schreibszene‹, die oft eine Bewegung meint, durch die eine klare Unterscheidung der Grenzen hin zum Körper oder zur Materialität überschritten wird. Schreibszenen umfassen den Umgang mit Zeichensystemen, Schreibwerkzeugen und Materialien, aber auch die körperliche Technik und die Medialität des Schreibens, um die Komplexität der schreibenden Handlung als spezifische, veränderliche, kulturelle Praktik zu charakterisieren, die, wie Martin Stingelin ausführt, auch Fragen nach dem Rahmen, der Rollenverteilung und der Regieführung dieser Szene aufwirft (vgl. Stingelin 2004: 8). Wird dieses »nicht-stabile Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste« (Campe 2012: 271) in seiner Heterogenität in einer selbstreflexiven Biegung im Text thematisiert, problematisiert oder reflektiert, spricht Stingelin von ›Schreib-Szene‹ mit einem distanzierenden Bindestrich (vgl. Stingelin 2004: 14-15). Der vorliegende Beitrag greift aus diesen mehrere Komponenten umfassenden Modellen die Elemente der Bewegung und der Schrift auf, deren Liaison sich – wie im Folgenden gezeigt wird – spätestens mit dem 18. Jahrhundert als komplexe und asymmetrische Relation etabliert und das Schreiben von Tanztexten formt. Einerseits avanciert im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert Bewegung unter dem Stichwort ›movere‹ zu einem der zentralen Begriffe im Kunstdiskurs, der sich, wie Christina Thurner in Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten (2009) fundiert ausführt, zunächst nicht auf eine äußere Aktion, sondern auf die innere Bewegung oder Seelenregung bezieht, die in Zusammenhang mit Empfindungen, Gefühlen, Affekten oder Leidenschaften im Rahmen künstlerischer Praxis und kunsttheoretischer Reflexionen erörtert

Das Schreiben von und über Tanz

wird (vgl. Thurner 2009: 9). Andererseits erlangt die Bodenwegnotation mit den eigens für sie entwickelten Schriftzeichen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im europäischen Tanz ihre Blüte (vgl. Jeschke 1999: 10). Denn mithilfe dieser Schrift können Tanzbewegungen konziser und praktikabler tradiert werden als durch detaillierte sprachliche Schilderungen, und ihr systematischer Charakter ermöglicht einen überindividuellen Gebrauch, der nicht länger auf die Aufzeichnungsformen einzelner Choreografinnen und Choreografen beschränkt bleibt.

1.2

Choreografieren

Ursprünglich bezeichnete Choreografie1 »die systematische Aufzeichnung höfischer Tanzkunst, wie sie vom königlichen Ballettmeister Pierre Beauchamp (1631-1705) am Hofe Ludwigs XIV. entwickelt worden war« (Hardt/Hartmann 2016: 150) und sich mit Raoul Auger Feuillets Notationsverfahren, das die höfischen Tänze zugleich dokumentierte und normierte, weit verbreitete.2 Bereits der Titel von Feuillets in ganz Europa bekannten Tanzaufzeichnungen Chorégraphie ou l’art de décrire la dance, par caracteres, figures et signes démonstratifs avec lesquels on apprend facilement de soy-même toutes sortes de Dances (1701) verweist auf den Einsatz unterschiedlichster Repräsentationsmodi – von Buchstaben über Abbildungen und Zeichen –, um Bewegung schriftlich zu kommunizieren. In seinem Tanztext (siehe Abb. 1) kombiniert er alphabetschriftliche Passagen – wie den Kurztitel in der Kopfzeile oder den Kommentar zur Folie d’Espagne in der oberen Hälfte rechts am Blatt –, die Tanznotation, welche Dreiviertel des Blattes beansprucht, und die Musiknoten, welche sich im obersten Blattviertel befinden.3 Zahlreiche Tanztexte des 18. Jahrhunderts nehmen Feuillets Tanzschrift auf, adaptieren und verbessern sie teilweise oder greifen auf Zeichnungen von Tanzfiguren zurück wie etwa Pierre Rameau, der im Abbregé de la nouvelle Methode, dans l’art dʼecrire ou de traçer toutes sortes de danses de ville (1725) Feuillets Schrift leicht verändert oder in Le maître a danser (1725) – zur Veranschaulichung – statt der Notation, Zeichnungen der Tänzerinnen und Tänzer heranzieht. Tanzwissenschaftliche Studien über historische Formen von Tanzschriften, wie etwa von Claudia Jeschke (1983; 2010), Gabriele Brandstetter (2010) oder Susan 1

2

3

Unter dem Lemma ›Choreographie‹ führt Das große Tanz Lexikon an, dass die ersten schriftlichen Aufzeichnungen zu Bewegungssequenzen erst in der Renaissance vorliegen, als die Tanzmeister begannen, Tanztraktate zu verfassen (vgl. Hardt/Hartmann 2016: 150). Feuillets Tanzschrift stellt in der Geschichte der Tanzschriften einen Wendepunkt dar, da seine Schrift über einen individuellen Gebrauch hinausreichte und in Europa mehrfach übersetzt und adaptiert wurde, beispielsweise ins Englische erstmals von John Weaver unter dem Titel Orchesography. Or, the art of dancing (1706) (vgl. Foster 2010: 70). Die zitierte Ausgabe von Feuillets Chorégraphie sowie das Digitalisat befinden sich im Derra de Moroda Tanzarchiv der Paris Lodron Universität Salzburg.

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Leigh Foster (2010), verweisen nicht nur auf die Vielfalt unterschiedlicher Notationssysteme seit dem Beginn der systematischen Aufzeichnungen bis heute, sie verdeutlichen auch den Zusammenhang zwischen den kulturell und historisch bedingten Veränderungen der Tanzaufzeichnungen und choreografischen Praktiken. Wie vielfach bemerkt, bedienen sich Choreografinnen und Choreografen häufig hybrider Formate, welche sich aus der spezifischen Zusammenstellung von Alphabetschrift, Musikpartitur, Ziffern, Figurenzeichnungen und bereits etablierten oder eigens entwickelten Notationsschriften ergeben können und sowohl an kulturelle Schreibpraktiken wie an die je individuelle Umsetzung gebunden sind.

Abb. 1: Schriftabbildung aus Raoul Auger Feuillet (1701): Chorégraphie ou l’art de décrire la dance: 102

Trotz der mannigfaltigen Varianten an Tanzaufzeichnungen charakterisiert Nelson Goodman in Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols (1968)

Das Schreiben von und über Tanz

Tanznotationen als Zeichensysteme, die sich durch Disjunktivität und endliche Differenziertheit auszeichnen (vgl. Goodman 1968: 133-135). Dabei weist er darauf hin, dass die Funktion von Notationen nicht darin liege, die Komplexität von Musik- oder Tanzaufführungen zur Gänze wiederzugeben, sondern vielmehr die Wiedererkennbarkeit eines Werkes zu gewährleisten: The function of a score is to specify the essential properties a performance must have to belong to the work; the stipulations are only of certain aspects and only within certain degrees. All other variations are permitted; and the differences among performances of the same work, even in music, are enormous. (Goodman 1968: 212) Die von Goodman vorgeschlagene normierende Funktion von Notationen durch eine enge Verknüpfung von Notation und Werk-Begriff erweist sich jedoch hinsichtlich der Beschreibung des modernen und zeitgenössischen Tanzes, der sich unter anderem durch Improvisation oder das Zusammenspiel mehrerer Akteurinnen und Akteure charakterisieren lässt, aber auch in Bezug auf De Keersmaekers und Cvejićs Publikationsformat als problematisch. Denn er klammert andere potenzielle Funktionen von Notationen aus, die der Erleichterung des Transponierens von physischer Bewegung in Zeichen und vice versa, des Verstehens oder des Komponierens dienen (vgl. Goodman 1968: 128). Doch sind es gerade diese Aspekte, die von zeitgenössischen Choreografinnen und Choreografen reflektiert werden und Gegenstand rezenter tanzwissenschaftlicher Debatten, der Schreibforschung sowie aktueller Schrifttheorien sind. Denn die optische Gestaltung der Linien, die spezifische Positionierung der Zeichen – randständig oder zentral am Papier –, die Schreib- und Lektürerichtung, das verwendete Schreibmaterial und die sich durch das Arrangement ergebenden Bewegungen strukturieren den Schreib- und Lektüreprozess entscheidend. Gestützt auf Goodmans Ansatz schlagen Brandstetter, Franck Hofmann und Kirsten Maar vor, den Notationsbegriff von seinem rein normativen Verständnis zu lösen und ihn für die Beschreibung von Strukturierungsformen künstlerischer Gestaltungsprozesse zu öffnen (vgl. Brandstetter/Hofmann/Maar 2010: 7). Denn die Schrift-Bilder von Choreografien transkribieren nicht zwingend den Vollzug des Tanzens, ebenso wenig wie phonographische Schriften den Akt des Sprechens aufzeichnen (vgl. Brandstetter 2010: 91). Eher fungieren sie als selektiv vorgehendes Speichermedium von Tanzkonzepten, die Raum für die »Reflexion und Theoretisierung des jeweiligen (historischen) Konzepts von Tanz« (Brandstetter 2010: 91) bieten. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Bedeutungswandel des Begriffs ›Choreografie‹, der zunächst lediglich die (Auf-)Zeichnung gesetzter Schritte umfasste, während die moderne Begriffsverwendung die schöpferische Arbeit in der Hervorbringung von Tanz(-Kunst-)Werken oder noch allgemeiner, auf andere künstlerische und soziale Kontexte bezogen, die »Organisation, Gestaltung und Analyse von Bewegung

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in Raum und Zeit« (Hardt/Hartmann 2016: 150) meint (vgl. Brandstetter 2012: 61). Mit der modernen Begriffsbestimmung rücken vermehrt die kreativen, problemlösenden und strukturierenden Funktionen des Schreibens in den Vordergrund, wie sich an einer dynamisierten Schrift-Bewegungs-Relation erkennen lässt.

2

Schrift und Bewegung – ein asymmetrisches Verhältnis

Insbesondere das Interesse der Schreibforschung an der Prozessualität von Schreibpraktiken lenkt den Blick auf die spätestens seit dem 18. Jahrhundert etablierte komplexe und asymmetrische Relation von Schrift und Bewegung. Diese Relation von Schrift und Bewegung wurde bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus vor allem dazu herangezogen, im Notationssystem der Schrift körperliche, psychische und emotionale Bewegung auszudifferenzieren. Wie Stephan Kammer in seinem Aufsatz »Darstellen, Aufzeichnen, Speichern. Zur Beziehungsgeschichte von Schrift und Bewegung« (2010) bemerkt, wurde dabei die der Schrift inhärente Differenzierung von komplexem Bewegungsablauf des Schreibens und Schrift als Medium und Bedingung der schreibenden Handlung sowie als deren Resultat lange Zeit verschwiegen (vgl. Kammer 2010: 131). Dies ändert sich erst mit Ende des 19. Jahrhunderts, wenn die Relation von Schrift und Bewegung – der historischen Studie Kammers zufolge – ein reentry erfährt, da Schrift nun vermehrt als Spur einer individuellen Körperbewegung hervorgebracht und reflektiert wird. So werden in experimentalpsychologischen Studien, wie der Grafologie, Spuren der Schreibbewegung in Handschriften analysiert. Zugleich ermöglicht die Entwicklung neuer technischer Apparate im ausgehenden 19. Jahrhundert – wie jene des Kymografen, Sphygmografen oder Myografen – mittels unterschiedlicher Schreibvorrichtungen und berußter Zylindertrommeln, Puls, Atemfrequenz und -volumen oder die physische Bewegung einzelner Muskeln auf Papierstreifen in Schrift zu transformieren (vgl. Kammer 2010: 146147). Selbst die Schreibgeschwindigkeit wird von den französischen Experimentalpsychologen Alfred Binet und Jules Courtier mithilfe der plume électrique4 gemessen und wissenschaftlich erforscht (ebd.: 142-146). 4

Binet und Courtier untersuchen mithilfe der von Thomas Alva Edison entwickelten plume électrique die Geschwindigkeit von handschriftlichen Schreibakten und veröffentlichen ihre Ergebnisse im Aufsatz »Sur la vitesse des mouvements graphiques«, publiziert in Revue philosophique de la France et de l’étranger 35 (1893), 664-671. Dort beschreiben sie diese aus einer elektrisch betriebenen Nadel bestehende Feder, deren Spitze durch ca. 11.000 Auf- und Ab-Bewegungen im Millimeterbereich pro Minute das Papier, auf dem geschrieben wird, durchlöchert (vgl. Binet/Courtier 1893: 664). Da sich der Abstand zwischen den Perforationen vergrößert, wenn die Hand mit einer größeren Geschwindigkeit geführt wird, lässt sich die Schreibgeschwindigkeit messen, die – wie Binet und Courtier in ihrer Studie herausfan-

Das Schreiben von und über Tanz

Damit tritt das Schriftbild vermehrt ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und verdeutlicht, dass Schriften der »seit Lessings Laokoon in der europäischen Geistesgeschichte [angenommenen] klassischen Disjunktion von Sprache oder Bild« widerstehen, indem sie Eigenschaften des Diskursiven sowie des Ikonischen verkörpern und damit weder eindeutig der »›reinen‹ Sprache« noch dem »›bloßen‹ Bild« zugeordnet werden können (Krämer/Totzke 2012: 14). Während phonographische Schriftkonzepte diese zweifache Bedeutung der Schrift ausblenden, basiert ein »lautsprachenneutrales Schriftkonzept«, das sich als »Hybridisierung von Diskursivem und Ikonischem« versteht, eben auf dieser Doppelrolle »der darstellende[n] und operative[n] Leistungskraft« (Krämer 2006: 76)5 . Wurde die Liaison von Schrift und Bewegung bislang vorwiegend für das 18. Jahrhundert und das ausgehende 19. Jahrhundert untersucht, konzentriert sich dieser Beitrag auf die Gestaltung dieser Beziehung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Beziehung wird durch den vermehrten Einsatz digitaler Medien dahingehend akzentuiert, dass die Aspekte der Körperlichkeit und Zeichenhaftigkeit im Verhältnis von Tanzen und Schreiben dynamisiert werden, wie anhand eines zeitgenössischen Tanztextes exemplarisch veranschaulicht werden soll. Durch die Kombination und Wechselwirkung verschiedener Darstellungsformate und Medien wird in zeitgenössischen Tanztexten nicht nur die Medialität der Schrift, sondern écriture als konstellative Praktik thematisiert und explizit in Schreib-Szenen reflektiert. Die sinnlichen und operativen Qualitäten der Schrift und des Schreibens treten durch die konstellative Handlung hervor und problematisieren gleichermaßen Grenzen und Möglichkeiten des jeweiligen Mediums. Über die Juxtaposition von Körperlichkeit und Zeichenhaftigkeit als Attribute von Schrift und Tanz wird die Schrift-Bewegungs-Relation in zeitgenössischen Tanztexten näher bestimmt. Ersichtlich wird dies in der Tendenz zur Abstraktion, Entkörperlichung und geometrischen Konzeptualisierung auf Seite der verschriftlichten Bewegung, während der Schriftkörper als spezifische Manifestation eines Zeichensystems versinnlicht wird. Konsequenterweise werden das visuelle Moment von Schriften sowie das Schreiben als konstellative Tätigkeit verdeutlicht. Die Notationen selbst sind daher weniger als Zeichen denn als Verweise auf den Prozess der Zeichensetzung bzw. auf eine Transformation von Tanz in Zeichen zu

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den – je nach der absoluten Größe der Buchstaben, ihrer Verbindung sowie der Form und Richtung des Schriftzugs variiert (vgl. Binet/Courtier 1893: 664 u. 669). Weiterführend siehe auch Krämer/Totzke 2012: 15-16; Krämer 2006: 77: Dort nennt Krämer drei Dimensionen lautsprachenneutraler Schriftkonzepte, nämlich die Medialität bzw. den Strukturaspekt der Schrift, die Semiotizität bzw. ihren Referenzaspekt und die Operativität bzw. ihren Performanzaspekt. Auch Gernot Grube und Werner Kogge charakterisieren Schrift vergleichbar anhand der zentralen Merkmale der Referenz, der Operativität und der aisthetischen Präsenz (vgl. Grube/Kogge 2005: 12-16).

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lesen, wie Laurence Louppe in »Les imperfections du papier« (1991), bezogen auf den zeitgenössischen Tanz, allgemein feststellt: »Surgit alors une nouvelle scène où c’est moins le signe qui se dissout que le processus même de signification. Il ne s’agit pas de la naissance d’un nouveau langage. Il s’agit de la transformation de la re-présentation elle-même. Il s’agit du trajet entre le réel et le signe.« (Louppe 1991: 10)6 Für diesen Weg zwischen Wirklichkeit und Zeichen greifen zeitgenössische Choreografinnen und Choreografen auf reine Textformate ebenso zurück wie auf Text-Bild-Konstellationen oder audio-visuelle Formate, deren kontrastierende Zusammenstellung sowohl den sprachlich-ikonischen wie auch den sinnlich-operativen Schriftaspekt akzentuiert. Auf diese Weise wird nicht nur die Darstellung und Analyse von Bewegung weiter ausdifferenziert, sondern auch Schreiben und mit ihm das Lesen als sinnlich beweglicher Akt der Schöpfung von Schrift-Bild-Szenen bestimmt.

3

Sinnlichkeit und Operativität von Schreiben und Schrift in Tanztexten

Wie aktuelle schrifttheoretische Ansätze betonen, korrespondiert die Sinnlichkeit von Schrift mit einer Aufwertung der Schrift gegenüber der Sprache und mit einer verstärkten Beachtung der Tätigkeit des Schreibens anstelle des sprachlichen Produkts (vgl. Krämer/Totzke 2012: 13; vgl. Kogge 2005: 137; siehe auch Krämer 2006). Bezogen auf den Umgang mit Schriftsystemen, kombinieren Tanztexte phonographische, ideografische und diagrammatische Aspekte der Schrift. Hinsichtlich des Arrangements der grafischen Elemente heben sie außerdem die Relevanz der Positionierung der einzelnen Schriftzeichen sowie das Zusammenspiel, die Interferenzen und Konkurrenzen der unterschiedlichen Schriftaspekte oder Darstellungsformen hervor. Die Visualität von Schriftbildern gibt nicht nur einen Überblick über das Geschriebene, vielmehr fungieren die topologischen Relationen von oben und unten, links und rechts, zentral und randständig insbesondere im choreografischen Schreiben als bedeutungstragende Elemente. Darüber hinaus lassen sich choreografische Schreibpraktiken auch über die Relationierung von Schreibenden bzw. Lesenden und Schriftfläche analysieren (vgl. Krämer/Totzke 2012: 17): Neben einer distanzierten Haltung, die der Text etwa durch eine Draufsicht auf die Bodenwege

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»Da taucht eine neue Szene auf, in der sich weniger das Zeichen auflöst, als der Prozess des Bedeutens selbst. Es handelt sich nicht um die Geburt einer neuen Ausdruckweise. Es handelt sich um die Verwandlung der Re-Präsentation selbst. Es handelt sich um den Weg zwischen der Realität und dem Zeichen« (Louppe 1991: 10, übersetzt von R.R.).

Das Schreiben von und über Tanz

nahelegt, kann auch eine aktive Mitsicht gefordert werden, wie etwa in Rudolf von Labans Kinetografie, in der aufeinanderfolgende Bewegungssequenzen ausgehend vom unteren Blattrand vertikal nach oben fortschreitend den Raum einnehmen und synchron stattfindende Bewegungen auf der horizontalen Achse dargestellt werden – dabei bewegt sich sowohl die tänzerische als auch die schreibende oder lesende Handlung vom Leib der Tanzenden, Schreibenden oder Lesenden weg (vgl. Farnell 1996: 873). Im Hinblick auf den jeweiligen Umgang mit und die Funktionalisierung von Lineatur und Punkt – entweder hin zur sprachlichen oder zur ikonischen Seite – präsentieren Tanztexte Schrift-Bild-Szenen, die den phonographischen, ideografischen und diagrammatischen Aspekt der Schrift fruchtbar machen, um Bewegung zu entfalten.7 Diese zwischen Schrift und Bild changierende Präsentation von Bewegungskonzepten ist demgemäß nicht nur eine Darstellungstechnik, sondern auch Resultat einer kreativen Handlung sowie analytisches Werkzeug oder Erkenntnisweg und Analyseergebnis zugleich (vgl. Krämer 2010: 29-30). Schrift-Bild-Szenen geben Auskunft über eine spezifische Perspektivierung der Bewegungsnotation sowie über die jeweilige Wahl des grafischen Darstellungsmediums und inkludieren ästhetische oder kulturelle Bedeutungszuschreibungen. Nicht zuletzt ermöglichen diese Schrift-Bild-Szenen Einblicke in konkrete choreografische Schreibpraktiken.

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Das Schreiben von und über Tanz in Drumming & Rain: A Choreographer’s Score

Anne Teresa De Keersmaekers und Bojana Cvejićs Drumming & Rain: A Choreographer’s Score (2014) ist der dritte Band einer Reihe von nachträglichen Aufzeichnungen, Analysen und Erläuterungen von Anne Teresa De Keersmaekers frühen Choreografien, die in Zusammenarbeit mit der Tanz- und Musikwissenschaftlerin Bojana Cvejić entstanden sind und als transkribierte Interviews in englischer Sprache, in Form einer Buchpublikation mit DVD, veröffentlicht wurden.8 Trotz unterschiedlicher Gestaltung der drei Bände lassen sich als zentrale Merkmale die

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Mit dem Diagrammatischen teilen Bewegungsnotationssysteme die Charakteristika der Flächigkeit, Gerichtetheit, des Graphismus, der Syntaktizität, der Referenzialität, der Strukturbildlichkeit, der Konnektivität, der Medialität, des Schematismus sowie der Operativität (vgl. Krämer 2010: 35). Damit unterlaufen Tanznotationen wie auch Karten, Bauzeichnungen, Tabellen oder andere lautsprachenneutrale Schriftsysteme die Opposition von Sprache und Bild (vgl. Krämer 2010: 35). Zu einer konzisen Einführung in Ähnlichkeiten und Abweichungen im Aufbau der drei Bände siehe Bräuninger 2014.

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Co-Autorschaft, die Kombination wissenschaftlicher und künstlerischer Schreibpraktiken sowie der bewusste Einsatz verschiedener medialer Formate beschreiben, die sowohl im Tanztext als auch im Videomaterial reflektiert werden.

4.1

Künstlerisch-wissenschaftliche Schreib-Szenen

Auf einen ersten Blick scheint das Buch einer wissenschaftlichen Schreib- und Präsentationsweise zu folgen, wohingegen im audiovisuellen Medium die Inszenierung des choreografischen Schreibens hervorsticht. Doch lassen sich die beiden Schreibpraktiken nicht klar voneinander trennen, da der Tanztext aus einem kollaborativen, künstlerisch-wissenschaftlichen Schreibprozess resultiert, dessen Entwurfs-, Schreib- und Korrekturphasen nicht mehr eindeutig einer Autorin zugeordnet werden können.9 Kulisse des gefilmten künstlerischen Schreibprozesses ist ein karger Raum mit einer dunklen mobilen Schultafel vor einer blau getünchten Wand und einem Hocker, wo De Keersmaeker, sitzend, stehend oder einzelne Bewegungen ausführend, in Straßenbekleidung mit roten Schuhen die Fragen beantwortet, die teils von Cvejić aus dem off gestellt, teils durch das Einblenden der Kapitelüberschriften ersetzt werden. Eingeleitet durch die eingespielten Titel des Kapitels »INTRODUCTION« und des Subkapitels »The genealogy of Drumming« beginnt die Choreografin, scheinbar unaufgefordert, die Entstehungsgeschichte des Stückes, das sie zur Musik von Steve Reich entwickelte, zu erzählen und erläutert den choreografischen Schreibprozess, dessen Notationsphasen sie zugleich auf der Schultafel neu inszeniert (siehe Abb. 2). Dieses Setting wird im gedruckten Tanztext nicht beschrieben. Dahingegen verortet ein vorgelagerter Kommentar von Cvejić das gemeinsame künstlerischwissenschaftliche Projekt Drumming & Rain: A Choreographer’s Score im Oeuvre von De Keersmaeker und bezeichnet den Tanztext als erweiterte hybride Publikation, vergleichbar einer kritischen Ausgabe einer Musikpartitur »with numerous additional comments and contextual clarifications in footnotes and a glossary« (De Keersmaeker/Cvejić 2014: 7). Ziel der Publikation sei es, alle Feinheiten einer Choreografie samt dramaturgischer Logik in einer möglichst klaren Sprache zu vermitteln, um Tanzamateurinnen und Tanzamateure ebenso zu erreichen wie Expertinnen und Experten (vgl. De Keersmaeker/Cvejić 2014: 11). Die typografische Gestaltung der mitunter vom gesprochenen Text abweichenden Transkription des Interviews deutet eine dialogische Struktur nur an, da die Namen der Sprecherinnen nicht genannt werden, wenngleich Cvejić im vorgelagerten Paratext erläutert, dass sich Passagen in der ersten Person Singular auf Aus9

Detaillierter erläutert Cvejić den kollektiven Schreibprozess in der Einleitung des ersten Bandes A Choreographer’s Score: Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók (vgl. De Keersmaeker/Cvejić 2012: 10-12).

Das Schreiben von und über Tanz

Abb. 2: Filmstill ›Schreib-Szene‹ aus: Drumming & Rain, DVD 1 Drumming (Rochette/Claes 2014: 00:17:30)

sagen von De Keersmaeker beziehen. Die Fragen der Tanzwissenschaftlerin stehen eingerückt und im Fettdruck über den jeweils unmarkierten Fließtextpassagen, die De Keersmaekers Antworten beinhalten. Strukturiert wird der Text durch fettgedruckte Zwischenüberschriften, deren Schriftgröße sich deutlich abhebt. Durch die Wahl zweier Medien – Buch und DVD – spielen die Autorinnen mit Doppelungs-, Wiederholungs- und Entfremdungseffekten, die, abgesehen von Abweichungen zwischen audiovisuell zugänglichem Gespräch und nachträglich bearbeiteter Transkription, aus dem Zusatzmaterial resultieren. Während das choreografische Schreiben im Buch durch beigelegte Tanzkritiken der internationalen Presse sowie persönliche Notizen und offizielle Schreiben der Choreografin entgrenzt wird, unterbrechen eingespielte Proben- und Demonstrationsvideos sowie computeranimierte Grafiken das gefilmte Interview.

4.2

Drumming: Choreografische Schreib-Szenen der Basisphrase

Befragt zur Entstehungsgeschichte von Drumming (UA 07.08.1998, Wien), schildert De Keersmaeker ihre Erinnerungen: Inspiriert von Trisha Browns choreografischer Praxis, eine lange, nach geometrischen Mustern gestaltete Bewegungsphrase zu schreiben, entwickelte De Keersmaeker selbst eine Phrase, die in Folge als strukturelle Grundlage aller choreografischen Transformationen des Stücks dienen solle (vgl. De Keersmaeker/Cvejić 2014: 19). Die Schreibszene dieser Basisphrase entfaltet sich an einem Rückzugsort: »I also realized I should return to the studio alone,

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lock myself up there for as long as it takes me to write a phrase composed of my own movements« (De Keersmaeker/Cvejić 2014: 19). Das architektonische Prinzip der Bewegungsphrase wird vom Goldenen Schnitt, d.h. von den Proportionen der Fibonacci-Folge abgeleitet und lässt die Bewegungsfolge der Tänzerinnen und Tänzer als eine sich ausdehnende Spirale auf der Bühne erscheinen. Vermittelt wird dieses Konzept im Tanztext durch alphabetsprachliche Textpassagen, die gemeinsam mit Grafiken und Filmstills ein mehrdimensionales Artefakt bilden (siehe Abb. 3). Die Grafiken, die wie oben mittels Computerprogramm oder aber in kalligrafisch anmutender Handschrift gezeichnet werden (vgl. De Keersmaeker/Cvejić Abb. 3: Grafik zu »The geometrical framework in the basic phrase« aus Anne Teresa De Keersmaeker/Bojana Cvejić (2014): Drumming & Rain: A Choreographer’s Score, 20

Das Schreiben von und über Tanz

2014: 30), fungieren dabei nicht als mimetische Abbilder der Bewegung, sondern als Konzeptualisierung von Bewegungsphrasen und choreografischen Strukturen. Über den enthaltenen Pfeil lässt sich in der Basisphrase die Bewegungsrichtung vom Zentrum der Spirale bis ans Ende des größten Rechtecks erkennen. Dass mit dem großen Rechteck der gesamte Bühnenraum gemeint ist, geht aus dem alphabetschriftlichen Kommentar hervor. Insgesamt erfolgt die Schematisierung der zentralen Bewegungsphrase aus einer Draufsicht, die den gesamten Bühnenraum umfasst. Lediglich der Name einer Tänzerin – Cynthia Loemij– weist über das Tanzkonzept hinaus auf eine konkrete Tänzerin und indirekt auf eine bestimmte Choreografie hin. Zudem fungiert dieser alphabetschriftliche Eintrag als Bindeglied zwischen dem Ikonischen und dem Diskursiven des Textes, indem er eine Lektüre der Grafik als Ornament oder ›bloßes Bild‹ verhindert.

4.3

Iterative Effekte der Medienkonstellation

Die im vorherigen Abschnitt beschriebene Grafik ähnelt den Bodenwegmarkierungen aus den Tanzschriften des 16. und 17. Jahrhunderts, da sie Aussagen über Körperhaltung, Blickrichtung, Kopf, Bein- und Armbewegungen nur bedingt enthält. Diese Komponenten der einzelnen Bewegungen werden nach der grafischen Darstellung mithilfe alphabetsprachlicher Textpassagen und Filmstills vermittelt. Die detaillierte Beschreibung einzelner Bewegungen der Phrase, die auch ihren emotionalen Wert umfasst, sowie die Nennung der geometrischen Linien im Raum als bedeutungskonstitutive Elemente der Choreografie werden um eine Fußnote (13) ergänzt, die einerseits die Referenz auf Labans Tanzästhetik verstärkt, andererseits die Bedeutung des Raums in seiner Bewegungstheorie für Fachfremde erläutert. […] Along with the floor patterns, the straight and curved lines shape three-dimensional cubes similar to the Laban cube.13   The vocabulary of the phrase involves parallel movements of arms pointing high, legs kicking high into the air, jumps that make the whole body thrust forward or backward, all done in a high tempo, with turns. The character of the movements is sharp, angular, violently joyful as the limbs slice the air in geometrical volumes. (De Keersmaeker/Cvejić 2014: 21) Die daran anschließende Fotoserie von Anne Van Aerschot verweist auf das DemoVideo Demonstration: spiral trajectory (outward-inward), das auf der DVD in voller Länge zu sehen ist, und wiederholt die zuvor alphabetschriftlich beschriebene Bewegungsphrase in einer von Eadweard Muybridge inspirierten Reihe von Standbildern (siehe Abb. 4 und 5). Die Konstellation aus alphabetschriftlichen Textpassagen, grafischen Schematisierungen des Tanzkonzeptes sowie der Reihe von Fotografien im Tanztext ruft

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Abb. 4 und 5: Anne Van Aerschot: Fotoserie zur Basisphrase in: De Keersmaeker/Cvejić (2014): Drumming & Rain: 22-23.

nicht nur in regelmäßigen Abständen die DVD in Erinnerung, sie führt auch die Notwendigkeit des Zusammenspiels verschiedener medialer Formate vor Augen, da weder die Textpassagen, noch die Grafiken oder Fotos selbsterklärend konzipiert sind. Dies gilt auch für die Bewegungen der Demo-Videos auf der DVD, die von De Keersmaeker kommentiert und analysiert werden, wobei die Choreografin nicht zu sehen ist. Durch den Wechsel medialer Formate und die dadurch erzeugten, verfremdeten Wiederholungen im Tanztext, wird die Schrift-Bewegungs-Relation selbst dynamisiert. Zunächst lässt sich das Schrift-Bewegungs-Verhältnis auf Seite der Bewegung als eine Tendenz zur Konzeptualisierung und Abstraktion von Bewegung beschreiben, die sich im grafischen Schema ebenso zeigt, wie in der Ausformulierung der Bewegungsidee, in den Fotografien und in den Referenzen auf historische Tanzästhetiken von Trisha Brown oder Rudolf von Laban. Gleichzeitig tritt der bewegte Körper immer stärker in den Vordergrund, der – ausgehend von einer abstrakten Schematisierung – im schriftsprachlichen Text immer detaillierter evoziert wird, bis er schließlich durch die Folgen von Fotografien in seiner Bewegung, wenngleich lakunär, doch optisch wahrnehmbar wird.

Das Schreiben von und über Tanz

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Conclusio

Zeitgenössische Tanztexte wie Drumming & Rain: A Choreographer’s Score von Anne Teresa De Keersmaeker und Bojana Cvejić kombinieren – wie bereits jene des 17. oder 18. Jahrhunderts – unterschiedliche Aufzeichnungsformate und Schriftaspekte, um Bewegung zu entwerfen, darzustellen und zu analysieren. Einerseits verweist der wechselnde Einsatz von alphabetsprachlichen Textpassagen, Notationszeichen, Schematisierungen, gezeichneten Figuren oder Fotos dabei auf das bewegungsanalytische und explorative Moment des Schreibens, andererseits wirkt die Konstellation dieser verschiedenen Schriftaspekte auf die Wahrnehmung des gedruckten Materials und damit auf die Sinnlichkeit der Schrift zurück. Die Linearität der Textoberfläche wird gleichsam aufgebrochen und durch die Gestaltung von Schrift-Bild-Szenen dynamisiert. Die Relation von Schrift und Bewegung, die bis ins 18. Jahrhundert im Medium der Schrift Bewegung ausdifferenzierte und ab dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bewegung im Schriftbild fokussierte, lässt sich für zeitgenössische Tanztexte dahingehend beschreiben, dass eine verstärkte Akzentuierung der Schreibbewegung im Text festgestellt werden kann. Dabei oszilliert die Zuschreibung der Attribute ›Körperlichkeit‹ und ›Zeichenhaftigkeit‹ zwischen Tanzbewegung und Schriftzeichen, indem sich zum einen seitens der Bewegungsaufzeichnung eine Tendenz zur Entkörperlichung, zur Konzeptualisierung und Geometrisierung abzeichnet, und zum anderen die Schrift als sinnliches Resultat eines kreativen, erkenntnisproduzierenden Prozesses inszeniert wird. Das Schreiben von und über Tanz von De Keersmaeker und Cvejić veranschaulicht darüber hinaus die Komplexität des Bewegung-Schreibens als kulturelle Praktik und reflektiert Materialien, Körperbewegungen, Schriftformen und Schreibumgebungen in Schreib-Szenen. Diese Schreib-Szenen thematisieren das choreografische Schreiben ebenso wie das künstlerisch-wissenschaftliche Schreiben eines Tanztexts und spielen gezielt mit den Möglichkeiten und Grenzen von Alphabetschrift, Diagrammatik, Ikonizität, der Kombination von Print- und DVD-Material sowie einer kollektiven Autorschaft.

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Filmverzeichnis Drumming & Rain (2014), DVD 1 (Belgien, Rec. & ed. Olivia Rochette/Gerard-Jan Claes)

Autorinnen und Autoren

SABINE DENGSCHERZ ist habilitierte Wissenschaftlerin und Lektorin an der Universität Wien (Zentrum für Translationswissenschaft und Institut für Germanistik: Fachbereich DaF/DaZ). Sie beschäftigt sich interdisziplinär mit den Feldern Schreibwissenschaft, Transkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeit. Im FWF-Projekt PROSIMS (Professionelles Schreiben in mehreren Sprachen, Projektnr. V342) hat sie sich im Rahmen einer Elise Richter-Stelle mit dem individuellen Einsatz von Strategien, Routinen und sprachlichen Ressourcen in Schreibprozessverläufen auseinandergesetzt. DANIEL EHRMANN war 2014-2017 DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, heute lehrt und forscht er am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Promotion zum Thema Kollektivität. Geteilte Autorschaften und kollaborative Praxisformen um 1800. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Literatur des 18. und 19. Jhs.; Materialität und Medialität der Literatur; Autorschaft; Literatur und Kunst. Publikationen: (2016) »Textrevision – Werkrevision. Produktion und Überarbeitung im Wechsel von Autoren, Herausgebern und Schreibern«, in: editio 30, 71-87; (2017) »Stifter und Stiftsschüler. Poesie, Pädagogik und Politik im 19. Jahrhundert«, in: JASILO 24, 85-103; (2018) »Dichter Bund – loses Netz. Multiple Bündnisse als Unruhestifter im Literatursystem«, in: DVjs 92, H. 4, 463-492. ELKE HÖFLER ist Lehrbeauftragte am Institut für Romanistik an der Universität Graz. Von 2010 bis 2017 leitete sie den Fachbereich Mediendidaktik an der Akademie für Neue Medien und Wissenstransfer der Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Fiktionsforschung, der Mediendidaktik, der mediengestützten Fachdidaktik, der Sprachlehrforschung, Social Media, MOOCs und Open Educational Resources. Sie bloggt unter www.digitalanalog.at und ist Gründungsmitglied der Bildungspunks (#EduPnx). Publikationen: (2017) »Mit YouTube-Stars Fremdsprachen lernen. Eine interdisziplinäre Annäherung«, in: A. Corti/J. Wolf (Hg.), Romanistische Fachdidaktik. Grundlagen – Theorien –Methoden, 147-159; (2019) hg. zus. m. J. Wagner, Sprachunterricht 2.0. Neue Praxisbeispiele aus Schule und Hochschu-

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Autorinnen und Autoren

le; (2018) zus. m. M. Raunig »Digitale Methoden? Über begriffliche Wirrungen und vermeintliche Innovationen«, in: Digital Classics Online 4(1), 12-22. CHRISTOPH HOFFMANN ist Professor für Wissenschaftsforschung an der Universität Luzern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Beobachtung der Geistes- und Sozialwissenschaften bei der Arbeit und die Versuchsgeschichte des Tiers im 20. Jahrhundert; Publikationen: (2013) Die Arbeit der Wissenschaften; (2018) Gasthg. zus. m. M. Hagner »Materialgeschichten«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 14; (2018) Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte. ANDREA KARSTEN ist Sprachwissenschaftlerin und koordiniert das Kompetenzzentrum Schreiben an der Universität Paderborn. Sie erforscht individuelle Schreibprozesse in ihren situativen und soziokulturellen Kontexten und interessiert sich dabei besonders für die Rolle eigener und fremder Stimmen beim Schreiben. Publikationen: (2014) Schreiben im Blick. Schriftliche Formen der sprachlichen Tätigkeit aus dialogischer Perspektive; (2017) »Videokonfrontation als Methode für die angewandte Schreibforschung. Zwischen Investigation und Intervention«, in: M. Brinkschulte/D. Kreitz (Hg.), Qualitative Methoden in der Schreibforschung 63-84; (2018) zus. m. M. Bertau, »Reconsidering interiorization: Self moving across language spacetimes«, in: New Ideas in Psychology 49, 7-17. SUSANNE KNALLER ist Professorin für Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie ist Gründerin und Sprecherin des Forschungs- und Lehrbereichs AVL. Seit 2013 fungiert sie als Leiterin des Zentrums für Kulturwissenschaften der Universität Graz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Theorien zu Authentizität, Realitätskonzepte in der Moderne sowie Schreib- und Emotionsforschung. Ausgewählte Publikationen: (2007) Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität; (2015) Die Realität der Kunst. Programme und Theorien zu Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700; (2017) hg. zus. m. I. Jandl, S. Schönfellner, G. Tockner, Writing Emotions. Theoretical Concepts and Selected Case Studies; (2018) hg. zus. m. J. Clare, R. Rieger, R. Stauf, T. Tholen, Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen. HARRO MÜLLER ist Prof. em. der Columbia University New York. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theorie und Geschichte der Moderne, Ästhetiktheorien, Kritische Theorie und Systemtheorie. Publikationen: (2016) Taubenfüße und Adlerkrallen. Essays zu Nietzsche, Adorno, Kluge, Büchner und Grabbe; (2011) hg. zus. m. S. Knaller Realitätskonzepte in der Moderne. Bei-

Autorinnen und Autoren

träge zu Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft; (2009) Gegengifte. Essays zu Theorie und Literatur der Moderne. CORNELIA ORTLIEB ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Zuvor war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Komparatistik an der FAU Erlangen-Nürnberg und Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Ihre Forschungsgebiete und -schwerpunkte sind unter anderem: Europäische Literatur des 18.-21. Jahrhunderts, Schreiben als Kritik und Kommentar, Materialität von Schrift und Schreiben, literaturwissenschaftliche Objektforschung. Neuere Publikationen in Auswahl: (2018) Popmusikliteratur, (2018) hg. zus. m. K. Knebel, G. Püschel, Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren, Sammlung und Beiwerk; (2017) hg. zus. m. T. Fuchs: Schreibekunst und Buchmacherei. Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800; (2010) Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. DORIS PANY-HABSA leitet das Schreibzentrum der Universität Graz. Nach einem Studium der Germanistik und Romanistik in Graz und Bologna promovierte sie im Bereich der romanistischen und allgemeinen Literaturwissenschaft. Nach der Promotion folgten 2011/12 ein Lehrgang zu »Literacy Management und Schreibzentrumsarbeit« an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder und 2013 die Gründung des Schreibzentrums an der Universität Graz. Neben ihrer Tätigkeit als Leiterin des Schreibzentrums forscht und publiziert sie in den Bereichen Hochschul- und Schreibforschung. Zuletzt erschienen: (2019) »Schreibwerkstatt«, in: Kompetenzorientierter Unterricht. Theoretische Grundlagen – erprobte Praxisbeispiele, hg. v. U. Fritz (u.a.); (2018) »Sprache und Literatur. Zwischen Normativität und neuen Formen der Freiheit«, in: Interdisziplinäres Sprachenlernen, hg. v. D. UngerUllmann, C. Hofer; (2016) hg. zus. m. G. Lind, Ambivalenzraum Universität. DORIS PICHLER ist Habilitandin am Zentrum für Kulturwissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz. Von 2013-2019 war sie Hertha-Firnberg Projektleiterin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Metafiktionalität, Interdisziplinarität, Recht, Wirtschaft und Literatur, Textbegriff und italienische Literatur und Film im 19. und 20 Jahrhundert. Publikationen: (2017) hg. zus. m. A. Göschl, Inszenierungen des Fanatischen in der italienischen Literatur. La messa in scena del fanatico nella letteratura italiana. lettere aperte. vol 4; (2015) hg. zus. m. S. Knaller, C. Hiebaum, Recht und Literatur im Zwischenraum. Aktuelle inter- und transdisziplinäre Zugänge Law and Literature In-Between. Contemporary Inter- and Transdisciplinary Approaches; (2011) Das Spiel mit Fiktion. Ästhetische Selbstreflexion in der italienischen Gegenwartsliteratur.

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Autorinnen und Autoren

RITA RIEGER ist Elise-Richter-Stelleninhaberin am Zentrum für Kulturwissenschaften an der Universität Graz. Habilitationsprojekt zu Poetiken der Bewegung. Tanztexte um 1800, 1900, 2000. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Schreibkonzepte in Tanztexten, Emotion und Text, spanische und französische Literatur um 1900 sowie Tango Argentino in Literatur und Film. Publikationen: (2018) hg. zus. m. S. Knaller/J. Clare/R. Stauf/T. Tholen, Schreibprozesse im Zwischenraum. Zur Ästhetik von Textbewegungen; (2018) hg. zus. m. E. Gillhuber, Texts with No Words: The Communication of Speechlessness; (2017) hg. Bewegungsfreiheit. Tanz als kulturelle Manifestation (1900-1950). CHRISTIAN SCHÄRF ist seit 2009 apl. Professor am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim. 2013-2018 übernahm er die Leitung des Instituts. Gastdozenturen an den Universitäten Valencia (1991 und 1999), Dijon (1994 und 1995), Bologna (2002) und Graz (2019/20). Nach seinem Studium der Deutschen und Romanischen Philologie sowie Philosophie in Mainz folgten seine Promotion 1993 und seine Habilitation 1998. Publikationen (Auswahl): (1999, Neuauflage 2016) Geschichte des Essays; (2000) Franz Kafka. Poetischer Text und heilige Schrift; (2001) Der Roman im 20. Jahrhundert; (2006) Gottfried Benn; (2014) Der Wunsch zu schreiben. Zudem erschienen zwei Romane und zahlreiche Essays (inkl. 16 Rundfunkessays). MARTINA SCHOLGER promovierte 2018 in »Digitalen Geisteswissenschaften« und ist Senior Scientist am Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Digitale Edition, Datenmodellierung und Semantic Web-Technologien. Sie ist Vorsitzende des Technical Council der Text Encoding Initiative, Mitglied des Instituts für Dokumentologie und Editorik und der COST Action »Distant Reading for European Literary History«. Kürzlich erschienen: (2019) »Taking Note. Challenges of Dealing with Graphical Content in TEI«; (2019) »Pieces of a bigger puzzle: Tracing the evolution of artworks and conceptual ideas in artists’ notebooks«.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3

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