Schottland: Zwischen Nationalismus, Brexit und Europa [1. ed.] 3170420526, 9783170420526, 9783170420533

Seit dem Unionsvertrag von 1707 ist Schottland Teil des britischen Königreichs. Seit langem wünscht das Land jedoch mehr

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Schottland: Zwischen Nationalismus, Brexit und Europa [1. ed.]
 3170420526, 9783170420526, 9783170420533

Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich
1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter
Ursprünge des schottischen Königreichs
Die Unabhängigkeitskriege im 13. und 14. Jh.
Aufstieg der Stuart-Dynastie
Maria Stuart
1.2 Das Vereinigte Königreich
Union der Kronen
Der Unionsvertrag
Stuart-Rebellionen
Der Sog des Empire
1.3 Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh.
Ein erster Anlauf: Home Rule All Round
Home Rule zum Zweiten
Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg
„It’s Scotland’s Oil“
Das Referendum 1979
1.4 Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent
Das Jahrzehnt der Margaret Thatcher
Die Campaign for a Scottish Assembly
Der Claim of Right
„Free by 93“
1.5 Das neue schottische Parlament, 1999
Ein zweites Referendum
Das Parlament ist zurück
Exkurs 1: Westminster und der britische Einheitsstaat
Parlamentarische Souveränität
Die Krone
Home Rule und Devolution
Devolution in der Praxis
Beispiel Wales
Die politischen Auswirkungen des Wahlrechts
2 Risse in der Union
2.1 Die sozialliberalen Jahre 1999–2007
Die ersten Schritte des Parlaments
Wechsel im Personal
Die Wahl-Überraschung von 2007
2.2 Die SNP startet durch
Stabile Minderheitsregierung
Die Calman Commission
Die Tories sind zurück – in London
Erdrutschsieg für die SNP
2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014
Das Edinburgh Agreement 2012
Die Kampagnen organisieren sich
Die Referendumsdebatte
Yes Scotland
Better Together
Die heiße Phase
Schottland sagt nein …
… doch die SNP legt zu
Nicola Sturgeon übernimmt
Das Wahl-Beben von 2015
2.4 Das Brexit-Referendum 2016
David Cameron: der Spieler
Schottland auf Europakurs
Mai 2016: Die SNP gewinnt erneut in Edinburgh
Brexit: Schottland sagt nein
„Brexit means Brexit“
2.5 Von May zu Johnson, 2017–2020
Unsicherheiten in London
Schottlands Brexit-Position
Konflikte zwischen Edinburgh und London
„Get Brexit done“ – Johnson übernimmt
Brexit, Corona und die Unabhängigkeit
Exkurs 2: Schottland und Europa
Europa als ferner Verbündeter
Schottland und der EG-Beitritt 1973
Die Wiederentdeckung Europas
Schottlands Referendum und die EU
Das Brexit-Referendum und die EU
Blick nach Katalonien und Québec
Wie europäisch ist Schottland?
3 Die schottische Parteienlandschaft
3.1 Scottish National Party
Unabhängigkeit vs. Autonomie
Der Weg zur Mehrheitspartei
Modern, selbstbewusst und international
Wer folgt auf Nicola Sturgeon?
3.2 Scottish Labour Party
Das soziale Gewissen
Zu britisch und zu negativ
3.3 Scottish Conservatives
Thatcher, Devolution und die Union
Die Brexit-Wirren
An Boris gekettet?
3.4 Scottish Green Party
3.5 Scottish Liberal Democrats
Exkurs 3: Die First Minister
Donald Dewar (1937–2000)
Henry McLeish (geb. 1948)
Jack McConnell (geb. 1960)
Alex Salmond (geb. 1954)
Nicola Sturgeon (geb. 1970)
4 Gesellschaft und Identität
4.1 Die gesellschaftlichen Säulen Schottlands in der Union
Church of Scotland
Justiz
Schule und Universitäten
4.2 Träger britischer Identität
Empire und Armee
Staatliche Wirtschaft
Monarchie
4.3 Kultur und Nationalismus
Tradition als Identitätsträgerin
Literatur
Musik
Film
Sport
Der Abschied der Zögernden
4.4 Innerschottische Bruchlinien
Lowlands und Highlands
Orkney und Shetland
Sprache
Religion
4.5 Die Ökonomie der Unabhängigkeit
Empire und Industrialisierung
Das Füllhorn: Öl und Gas
Die Banken-Krise
Neue Boom-Bereiche am Limit: Energie, Whisky, Tourismus
Armes oder reiches Land?
4.6 Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen
Schottisch und britisch
Erosion der britischen Identität
Einwanderung als gesellschaftlicher Faktor
Trumpfkarte Europa?
Exkurs 4: Schottland und die Nordirland-Frage
Geschichte, die nicht vergeht
Die irische Teilung
Nordirland als abschreckendes Beispiel
Brexit und Nordirland
Nordirland vor Zeitenwende?
Auswirkungen auf Schottland
Nachbarn in schwieriger See
5 Schottland – quo vadis?
5.1 Die Schottland-Wahlen 2021
High Noon in Holyrood
Unberechenbarer Wahlkampf
Erneuter SNP-Sieg
Regierungspakt zwischen SNP und Grünen
5.2 Edinburgh und London im Dauerstress
Wacklige Autonomieregelung für Schottland
London auf dem Durchmarsch?
5.3 Wann kommt das nächste Referendum?
Die Kampflinien werden eingenommen
Indyref2 – die Streitpunkte
5.4 Schottland 2030 – ein Ausblick
Anmerkungen
1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich
2 Risse in der Union
3 Die schottische Parteienlandschaft
4 Gesellschaft und Identität
5 Schottland – quo vadis?
Weiterführende Literatur
Schottische Parteien
Schottische und britische Medien
Weiterführende Links
Abbildungsverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Der Autor Matthias Eickhoff ist freier Autor, Reisejournalist und Übersetzer. Seit einem längeren Arbeitsaufenthalt in Schottland zu Anfang der 1990er-Jahre ist er mit dem Land innig verbunden. Regelmäßig veröffentlicht er Reiseführer und politische Analysen zu Schottland. Schon seine Abschlussarbeit im Fach Politikwissenschaft fokussierte sich auf den schottischen Nationalismus.

Matthias Eickhoff

Schottland Zwischen Nationalismus, Brexit und Europa

Verlag W. Kohlhammer

Die Arbeit an diesem Buch wurde unterstützt von:

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Umschlagabbildung: Unabhängigkeitsdemonstration in Glasgow. Foto: Stewart M (via unsplash.com).

1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042052-6 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-042053-3

Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................

7

1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich ....................................................

9

1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter ................................. 10 1.2 Das Vereinigte Königreich ................................................................. 18 1.3 Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh. ...................................... 23 1.4 Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent

30

1.5 Das neue schottische Parlament, 1999 ............................................. 36 Exkurs 1: Westminster und der britische Einheitsstaat ........................ 41

2

Risse in der Union ............................................................. 52

2.1 Die sozialliberalen Jahre 1999–2007 ................................................. 52 2.2 Die SNP startet durch .......................................................................... 55 2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014 ............................................ 59 2.4 Das Brexit-Referendum 2016 ............................................................. 73 2.5 Von May zu Johnson, 2017–2020 ....................................................... 80 Exkurs 2: Schottland und Europa .............................................................. 90

3

Die schottische Parteienlandschaft ................................ 103

3.1 Scottish National Party ....................................................................... 103 3.2 Scottish Labour Party ......................................................................... 112 3.3 Scottish Conservatives ........................................................................ 117 3.4 Scottish Green Party ........................................................................... 121 3.5 Scottish Liberal Democrats ................................................................ 124 Exkurs 3: Die First Minister ........................................................................ 125

6

Inhaltsverzeichnis

4

Gesellschaft und Identität ................................................ 136

4.1 Die gesellschaftlichen Säulen Schottlands in der Union .............. 136 4.2 Träger britischer Identität ................................................................. 141 4.3 Kultur und Nationalismus .................................................................. 146 4.4 Innerschottische Bruchlinien ............................................................ 158 4.5 Die Ökonomie der Unabhängigkeit ................................................... 164 4.6 Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen . 172 Exkurs 4: Schottland und die Nordirland-Frage ..................................... 179

5

Schottland – quo vadis? ................................................... 192

5.1 Die Schottland-Wahlen 2021 ............................................................. 192 5.2 Edinburgh und London im Dauerstress ........................................... 196 5.3 Wann kommt das nächste Referendum? ......................................... 201 5.4 Schottland 2030 – ein Ausblick .......................................................... 206

Anmerkungen ........................................................................... 210 Weiterführende Literatur ....................................................... 228 Abbildungsverzeichnis ............................................................ 232 Personenregister ...................................................................... 233

Einleitung Schottland ist nicht England – mir wurde diese schlichte Binsenweisheit gleich bei meinem allerersten Besuch im hohen Norden der britischen Inseln bewusst gemacht. Aber was bedeutet das konkret? Fast 300 Jahre lang verfügte Schottland im britischen Königreich über keine politische Vertretung. Der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs wurde nicht in Frage gestellt. Doch in den letzten 25 Jahren hat sich die politische Landkarte Schottlands und Großbritanniens enorm verändert: Es gibt seit 1999 wieder ein schottisches Parlament. 2014 votierte eine Mehrheit der Schott:innen in einem Referendum für den Verbleib im britischen Königreich. Zwei Jahre später stimmte eine Mehrheit der Brit:innen in einem weiteren Referendum für den Brexit. In Schottland wollte die Mehrheit der Bevölkerung aber gerne in der EU bleiben. Keine Frage: Die politische Entwicklung Schottlands und eine mögliche staatliche Unabhängigkeit sind zu einem aktuellen und bisweilen brisanten Thema geworden. In Brüssel und in Deutschland wird inzwischen sehr genau registriert, wohin die schottische Regierung das Land steuert und welche Auswirkungen dies auf den Zusammenhalt Großbritanniens und die Zukunft der EU haben könnte. In London hingegen wird zuweilen irritiert festgestellt, dass die Schott:innen ihren Wunsch nach mehr politischer Eigenständigkeit nach 2014 nicht einfach aufgegeben haben. Aktuell wird schon für 2023/24 von der schottischen Regierung ein zweites Unabhängigkeitsreferendum angestrebt – ob und in welchem Rahmen es zustande kommt, ist derzeit genauso offen wie der mögliche Ausgang. 2021 standen sich Unabhängigkeitsbefürworter:innen und -gegner:innen etwa gleich stark gegenüber. Dieses Buch soll aus schottischer Perspektive die politische und gesellschaftliche Entwicklung aufzeigen, die zum Wunsch nach (mehr) staatlicher Eigenständigkeit geführt hat. Welchen Einfluss hat die staatliche Selbstständigkeit im Mittelalter auf die heutige Politik? Wie kam es zur Gründung des Vereinigten Königreichs und Großbritanniens? Aus welchen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Quellen speist sich der heutige Nationalismus? Wie reagierte die britische Politik? Breiten Raum nimmt bei der Analyse die rasante und spannende Entwicklung der letzten 40 Jahre ein. Angefangen mit der rigiden Politik Margaret Thatchers bis zu den großen Wahlerfolgen der Schottischen Nationalpartei in den letzten Jahren gibt das Buch einen Überblick über die schottische Politik. Dabei werden auch die im schottischen Parlament vertretenen Parteien sowie die bisherigen fünf schottischen Regierungschef:innen vorgestellt, um einen besseren

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Einleitung

Einblick in die politische Landschaft im Norden der britischen Inseln zu vermitteln. Ein wichtiges Augenmerk gilt der schottischen Gesellschaft: Welche Institutionen haben bislang den Zusammenhalt des britischen Königreichs garantiert? Wie konnte die schottische Identität 300 Jahre lang ohne politische Vertretung überleben? Welche Rolle spielt die Kulturszene in Literatur, Musik und Film bei der Ausprägung des schottischen Nationalismus? Und wohin steuert die Wirtschaft? In Exkursen wird zudem das vielschichtige Verhältnis Schottlands zu Europa sowie die Bedeutung der Entwicklung im benachbarten Nordirland analysiert. Beide Faktoren sind enorm wichtig für das Verständnis des schottischen Nationalismus heutiger Prägung. Schottland ist ein europäisches Land, das sich eine enge Bindung an die EU wünscht – in diesem Punkt haben sich die Ansichten in Schottland und England stark voneinander getrennt. Aber wird die EU diese Europafreundlichkeit auch erwidern? Beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 stieß Schottland noch eher auf Ablehnung in Brüssel, seit dem Brexit hat sich auch dies gewandelt. Wird Schottland also in einigen Jahren tatsächlich einen zweiten Anlauf zur staatlichen Unabhängigkeit nehmen und wird dieser dann erfolgreich verlaufen? Der Blick in die Vergangenheit und Gegenwart soll dabei helfen, die weitere Entwicklung unserer europäischen Nachbarn in Schottland besser zu verstehen – jenseits der touristischen Klischees von Dudelsack, Kilt, Nessie und Whisky. Schließlich hätte eine politische Loslösung Schottlands von Großbritannien für die EU handfeste Auswirkungen. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinen Freundinnen und Freunden in Schottland bedanken, die über die Jahrzehnte immer wieder ihre Türen öffneten. Ein herzlicher Dank geht an Peter Kritzinger und Julius Alves für die hervorragende Betreuung und Umsetzung im Verlag W. Kohlhammer. Herzlichen Dank auch an Kerstin Wedekämper für die Erstellung der Reprovorlage zu diesem Buch. Besonders bedanken möchte ich mich bei meiner Frau Andrea, die mich immer wieder bestärkt hat, wenn es hakte. Die Entstehung des Buches wurde durch ein Stipendium der VG Wort, des Programms Neustart Kultur sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien freundlicherweise unterstützt – auch dafür herzlichen Dank. Münster, im Dezember 2021

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Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Ein gewichtiger Faktor in der Diskussion um eine mögliche staatliche Unabhängigkeit Schottlands ist die Tatsache, dass das Land im Mittelalter schon über eine jahrhundertelange eigenständige Staatlichkeit verfügte. Diese war tief verwurzelt und definierte sich zudem fortlaufend in Konkurrenz und Rivalität zum südlichen Nachbarn. Damit unterscheidet sich Schottland wesentlich von der keltischen „Schwester“ Wales und natürlich auch von jeder englischen Region, die mehr Eigenständigkeit wünschen sollte. Diese im Mittelalter hart umkämpfte staatliche Unabhängigkeit hat bis heute gesellschaftliche Konsequenzen, die sich auch im Vereinigten Königreich nicht verflüchtigten (► Kap. 4). Durch die Aufgabe der eigenen politischen Vertretung zu Beginn des 18. Jh. war es in Schottland sehr lange üblich, auf geschichtliche Ereignisse bis ins 13. Jh. zurückzugreifen, um im Vereinigten Königreich den Anspruch auf Autonomie zu untermauern. Für diese historische Erzählung spielten immer wieder der Aufstand von „Braveheart“ William Wallace Ende des 13. Jh., die legendäre Schlacht von Bannockburn 1314 sowie der Aufstand des Stuart-Prinzen „Bonnie Prince Charlie“ 1745/46 eine große Rolle.1 Diese geschichtlichen Ereignisse sollen deshalb hier in ihrer Bedeutung herausgearbeitet werden. Wenn diese Aspekte heutzutage kaum noch eine Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion spielen, dann ist dies auch ein Zeichen dafür, dass die zunehmende politische Eigenständigkeit mittlerweile den Rückgriff auf die Vergangenheit ein gutes Stück weit verdrängt hat. Die politische Debatte ist in der Gegenwart angekommen. Die Wiedereröffnung des schottischen Parlaments 1999 trug dazu entscheidend bei. Manche Autor:innen sind sogar der Meinung, dass sich der heutige Nationalismus überhaupt nicht aus der Geschichte speist, sondern im Prinzip erst ein Kind der 1960er- und 1970er-Jahre sei.2 Plausibler ist jedoch eine Mischung aus historischem Bezug und aktuellen politischen Wünschen. Denn im 20. Jh. wäre ohne Rückbezug auf die staatliche Eigenständigkeit im Mittelalter vielleicht gar kein Revival des Nationalismus möglich gewesen. In einem Exkurs wird zudem die Natur des britischen Einheitsstaats beleuchtet – und wie sich die Autonomieregelungen für Schottland, Wales und Nordirland auf die politische Wahrnehmung und Realität in Großbritannien auswirken.

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1.1

1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Die schottische Staatsbildung im Mittelalter

Wer den Hollywood-Klassiker Braveheart mit Mel Gibson gesehen hat, bekommt eine ungefähre Vorstellung davon, dass Schottland und England im Mittelalter nicht die besten Freunde und Nachbarn waren. Der Film war 1995 ein Blockbuster und kurbelte tatsächlich die damalige Debatte um ein neues Parlament für Schottland mit an. Heute wird die Bezeichnung „Bravehearts“ oftmals auch für schottische Sportteams verwendet, wie z. B. die schottische Fußballmannschaft bei der EM 2021. Auch die legendäre schottische Königin Maria Stuart und die fatale Rivalität mit ihrer englischen Cousine Elizabeth I. sind durch die Literatur und zahlreiche Filme weit über die Landesgrenzen bekannt geworden. Zwischen diesen historischen Figuren liegen fast 300 Jahre, die eine eigenständige Staatenbildung markieren, die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat – übrigens auch noch für die jetzige Queen, die letztlich wegen ihrer sehr entfernten Verwandtschaft zu Maria Stuart auf dem britischen Thron sitzt. Schottische und englische Geschichte sind sehr stark miteinander verwoben. Naturgemäß unterscheidet sich der Fokus der Geschichtserzählungen zu diesem Zeitabschnitt in England und Schottland deutlich. Starke englische Könige wie Henry (Heinrich) VIII. und Elizabeth I. spielen bis heute eine große Rolle für das Selbstverständnis Englands – sind aber eben englische Monarch:innen und damit im Bewusstsein Schottlands nicht gleichermaßen stark verankert. Hier spielt die Stuart-Dynastie verständlicherweise eine größere Rolle. Dennoch hat die englische Geschichtsschreibung die britische sehr lange bestimmt. Das hat bis heute Auswirkungen und erklärt manches Nicht-Verständnis für spezifische schottische Sichtweisen. So ist Queen Elizabeth II. in Schottland eigentlich nicht „die Zweite“, weil ihre Vorgängerin allein auf dem englischen Thron saß. Und Henry VIII. Loslösung von der katholischen Kirche war ebenfalls eine rein englische Angelegenheit, da Schottland eine ganz eigene Reformation durchführte. Wie kam es also zu dieser sehr eigenständigen Staatsbildung im mittelalterlichen Schottland?

Ursprünge des schottischen Königreichs Am Übergang zum Mittelalter war von einer englisch-schottischen Rivalität noch nicht viel zu spüren. Bis zum Beginn des 5. Jh. hatten die Römer die britischen Inseln dominiert – allerdings nicht den Norden. Zwar waren die Römer immer wieder weit ins heutige Schottland vorgedrungen und hatten im 2. Jh. sogar den Antoniuswall zwischen den Fjorden Clyde und Forth errichtet – mit Kastellen zwischen Glasgow und Edinburgh. Doch letztlich hatten sich die Römer

1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter

11

in den heutigen Norden Englands zurückgezogen und dort zwischen Carlisle und Newcastle den berühmten Hadrianswall errichtet. Dieser Wall markierte aber keinesfalls die Grenze zwischen zwei Staaten, da der Norden kein geeintes Territorium darstellte. Für eine schottische Mythenbildung kann der Hadrianswall also nicht herhalten. Dennoch ist er als international berühmtes Bollwerk bis heute im Bewusstsein der Brit:innen verankert. In den letzten Jahren taucht die Mauer immer wieder in den schottischen Unabhängigkeitsdebatten auf – als Referenzpunkt oder als abschreckendes Beispiel für starre Grenzziehungen.3 Zurück ins Mittelalter: Nach dem Abzug der Römer im frühen 5. Jh. kämpften auf den britischen Inseln viele kleine Fürstentümer und Stämme jahrhundertelang um die Oberhoheit auf den britischen Inseln. Im heutigen Schottland konkurrierten angelsächsische Stämme im Süden mit piktischen im Norden und keltischen Scotti im Westen – angeheizt wurden die Konflikte durch das Auftauchen der skandinavischen Wikingerflotten. Mitte des 9. Jh. gelang es schließlich dem Anführer der Scotti, Kenneth MacAlpin, die rivalisierenden piktischen Fürsten zu besiegen und ein gemeinsames schottisches Königreich zu errichten. Die Hauptgegner waren für lange Zeit nicht etwa angelsächsische Rivalen im Süden der Insel, sondern eben jene Wikinger, die entlang der West- und Nordküste Schottlands unter der Oberhoheit des norwegischen Königs ein eigenes Herrschaftsgebiet errichteten. Entscheidend für den weiteren Fortgang der Geschichte in Großbritannien waren zwei parallele Entwicklungen im 11. Jh.: Zum einen errichtete im Süden der Normannenfürst Wilhelm „der Eroberer“ nach der militärischen Einnahme Englands 1066 einen starken feudalen Zentralstaat, der schnell zur stärksten Macht auf den britischen Inseln aufstieg und zugleich weiterhin geopolitisch auf dem französischen Festland verankert war. Zum anderen brachte in Schottland die lange Herrschaft von Malcolm Canmore (reg. 1058–1093) und seiner englisch-ungarischen Frau Margaret ebenfalls die Einführung von feudalen Strukturen. Sie festigten damit zur gleichen Zeit wie William das schottische Staatswesen und machten es für damalige Verhältnisse zukunftsfähig. Ihr Sohn David I. wurde am englischen Hof erzogen und übernahm von dort zahlreiche Ideen für die weitere Ausbildung eines eigenständigen zentral gelenkten Staats. Diese setzte er während seiner 30-jährigen Herrschaft bis Mitte des 12. Jh. um. So gehen u. a. viele Kloster-, Stadt- und Hafengründungen auf David zurück, der sich von einer Stärkung von Wirtschaft und Handel zugleich eine größere Eigenständigkeit gegenüber dem englischen Nachbarn versprach. Denn ihm war zwar an einem guten Verhältnis zu dem neuen Normannenreich gelegen, aber seine eigene Krone wollte er natürlich nicht aufgeben. Insbesondere die reichen Abteien im Süden Schottlands galten als wichtiger Garant der Eigenständigkeit gegenüber England. Das gelang erstaunlich gut und so festigte sich das schottische Königreich langsam. Das wird schon dadurch bestätigt, dass der heutige Grenzverlauf zwischen England und Schottland im Wesentlichen schon auf den Vertrag von York von

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

1237 zurückgeht und damit seit fast 800 Jahren Bestand hat. Die letzte größere Änderung brachte die Eroberung von Berwick-upon-Tweed durch englische Truppen 1482 mit sich.

Die Unabhängigkeitskriege im 13. und 14. Jh. Im 13. Jh. schien das Glück zunächst auf schottischer Seite, als König Alexander III. 1263 den norwegischen König Haakon in einer Seeschlacht bei Largs entscheidend besiegen konnte und 1266 die Oberhoheit über die gesamte schottische Westküste erlangte. Nur Orkney und Shetland verblieben bis ins 15. Jh. unter norwegischer Oberhoheit. Doch als Alexander 1286 starb, und vier Jahre später auch seine minderjährige Tochter Margaret, stand der schottische Staat vor dem Aus.4 Mächtige schottische Adelsfamilien wie die Balliols und die Bruce konnten sich auf keinen Nachfolger einigen und luden stattdessen den englischen König Edward I. ein, in der Auseinandersetzung zu vermitteln. Der brauchte keine zweite Aufforderung und verpflichtete den neuen König John Balliol zum Treueeid auf ihn. Als das zu Widerspruch führte, besetzte Edward 1296 kurzerhand mit aller Macht Schottland. Sein rigoroses Vorgehen brachte ihm in Schottland den Spitznamen „Hammer of the Scots“ ein. Er verwüstete Berwick, nahm Balliol gefangen und die schottischen Adligen mussten auf Edward einen Treueschwur ablegen. Der Historiker David Ross sprach angesichts die Eroberung Schottlands durch Edward davon, dass die „Gänse den Fuchs zum Abendessen eingeladen hatten“.5 Auch nahm Edward den schottischen Krönungsstein von Scone mit nach London. In Schottland ist dieser symbolträchtige Stein als „Stone of Destiny“ bekannt, als Schicksalsstein. Edward ließ ihn unter dem Krönungsstuhl in der Westminster Abbey installieren, als Zeichen seiner Oberhoheit über Schottland. Erst 1996 gelangte er in einer vielfach belächelten PR-Aktion der britischen Regierung wieder zurück nach Schottland und ist heute in Edinburgh Castle ausgestellt. Ende des 13. Jh. war Schottland eigentlich dasselbe Schicksal vorbehalten wie Wales, das wenige Jahre zuvor von König Edward endgültig unterworfen worden war und nun zum englischen Fürstentum wurde (► Exkurs 1) – das britische Festland schien unter einer einzigen Krone vereinigt. Und just an diesem Punkt kommt „Braveheart“ William Wallace ins Spiel. Er gilt heute als mythische Größe, von dessen Herkunft aber nur wenig bekannt ist. Der Journalist und Autor Iain Macwhirter verweist darauf, dass viele Geschichten erst Jahrhunderte später der wachsenden Wallace-Legende hinzugefügt wurden. Der Film Braveheart macht da im Prinzip keine Ausnahme mit seiner freien historischen Interpretation.6 Ins Rampenlicht der Geschichte trat Wallace 1296, als er den Sheriff von Lanark ermordete, was zugleich einen Angriff auf die Autorität des englischen Königs darstellte. Nun regte sich auch andernorts Widerstand und so führte

1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter

13

Wallace nur ein Jahr später einen Aufstand gegen die englische Besatzung an und gewann bei Stirling eine wichtige Schlacht. Daraufhin wurde er von den schottischen Adligen zum „Guardian“ von Schottland ernannt. Allerdings verließ Wallace schon bald wieder das Schlachtenglück. Zum einen duldete König Edward keinen Widerstand und zum anderen ließen die führenden schottischen Adligen ihn im Stich. Für sie war Wallace nicht standesgemäß und viele der Adligen, u. a. der spätere König Robert the Bruce, besaßen Ländereien sowohl in Schottland wie auch England. Sie waren also auch dem englischen König als Lehnsherrn verpflichtet. Diese doppelten Verpflichtungen waren ein ernstes Problem und verschafften Edward einen beträchtlichen Vorteil. Wallace hatte ohne Unterstützung der Adligen keine Chance und so wurde er schließlich gefangengenommen und 1305 hingerichtet. Die schottischen Adligen erneuerten ihren Treueeid auf König Edward. Damit war aus englischer Sicht das Ziel der schottischen Unterwerfung zunächst wieder erreicht. Doch der Aufstand von William Wallace stachelte letztlich andere schottische Adlige an, weiter für die schottische Unabhängigkeit zu kämpfen. Robert the Bruce ergriff schon ein Jahr nach dem Tod von Wallace die Initiative und ließ sich bei Perth wagemutig zum König krönen. Bruce gehörte zu dem Kreis von Adligen mit einem unbestreitbaren Thronanspruch. Lange hatte er gezaudert zwischen der Unterstützung für Wallace, der Wahrung seiner eigenen Thronansprüche und einem Nachgeben gegenüber Edward. Am Ende entschied er sich für den riskantesten Weg der offenen Konfrontation mit dem englischen Monarchen.

Abb. 1:

„Braveheart“ William Wallace. Historisierende Darstellung aus dem 17./18. Jh.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Abb. 2:

Robert the Bruce, Statue in Aberdeen.

Das Unternehmen hätte gründlich scheitern können, da Bruce gegen die englische Armee in offener Feldschlacht zunächst nichts ausrichten konnte. Auch musste er fürchten, genau wie Wallace von seinen eigenen Adelskollegen im entscheidenden Moment im Stich gelassen zu werden. So verlegte Bruce sich zunächst auf eine Guerilla-Taktik, wobei ihm zu Hilfe kam, dass Edward I. 1307 verstarb und sein Sohn, Edward II., nicht dieselbe Durchsetzungskraft besaß. Mit seiner Methode hatte Bruce sieben Jahre später bis auf die Festung von Stirling praktisch ganz Schottland unter seine Kontrolle gebracht. In der historischen Schlacht von Bannockburn bei Stirling konnte er dann im Juni 1314 die englischen Truppen entscheidend schlagen und aus dem Land vertreiben. Erst dieser militärische Erfolg verschaffte Schottland die Grundlage, zu einem unabhängigen Königreich zu werden. „Bannockburn“ gilt deshalb als Synonym für die schottische Unabhängigkeit. Das Land hatte sich erfolgreich der Eingliederung in das englische Königreich widersetzt. Nun konnte sich ein unabhängiger Staat entwickeln, der sich in vielerlei Hinsicht vom englischen Nachbarn absetzte. Der Weg dorthin musste aber auch nach Bannockburn noch 14 Jahre lang erkämpft werden. 1320 wurde dazu in Schottland ein Grundlagen-Dokument verfasst, die Declaration of Arbroath, die als Unabhängigkeitserklärung in die Geschichte eingegangen ist. In ihr wenden sich die schottischen Adligen in pathetischem Ton an Papst Johannes XXII., der die schottische Unabhängigkeit anerkennen und die zwischenzeitliche Exkommunikation des Königs aufheben sollte. In der Deklaration heißt es u. a.: „Solange noch 100 von uns am Leben sind, werden wir uns niemals, unter welcher Bedingung auch immer, der englischen Herrschaft beugen. Denn wir kämpfen in Wahrheit nicht für Ruhm, Reichtum oder Ehre, sondern allein für die Freiheit, die kein ehrenhafter Mann aufgibt, solange er lebt.“7

1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter

Abb. 3:

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Diese Abschrift der Declaration of Arbroath befindet sich heute im Schottischen Nationalarchiv. Das Original ging verloren.

Deutlicher kann der Unabhängigkeitsanspruch nicht formuliert werden – und für das spätmittelalterliche Schottland war die Deklaration identitätsstiftend. Der Papst erkannte die schottische Unabhängigkeit schließlich 1328 an, denn auch der neue und noch minderjährige englische König Edward III. war bereit, die Fakten im Norden des Landes vertraglich zu akzeptieren. Damit wurde Schottland endlich mit Brief und Siegel als eigenständiges Königreich anerkannt. Als Robert the Bruce 1329 starb, war der lange Unabhängigkeitskampf in seinem Sinne entschieden – auch wenn es weiterhin regelmäßig kriegerische Auseinandersetzungen zwischen England und Schottland geben sollte.

Aufstieg der Stuart-Dynastie In den folgenden 250 Jahren wurde die politische Selbstständigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen ausdekliniert: Schottland erhielt mit zwei Erzbistümern die kirchliche Unabhängigkeit. Die Gründung der Universitäten von St. Andrews, Glasgow und Aberdeen im 15. Jh. stellte das Land auf eine Stufe mit Cambridge und Oxford in England. Die Auld Alliance mit Frankreich sorgte für eine eigenständige Außenpolitik, die „Rückgewinnung“ von Orkney und Shetland 1468 vergrößerte das Staatsgebiet und die Entmachtung der keltischen „Lords of the Isles“ im Westen des Königreichs stärkte die königliche Zentralmacht.8 Stirling und Edinburgh wurden zu wichtigen politischen Zentren des Landes. Auch ein Parlament entwickelte sich langsam. Es setzte sich aus Vertretern des Adels, des Klerus und der Städte zusammen.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

All dies bedeutete, dass sich Schottland im 15. Jh. als unabhängige Nation mit allen damals üblichen Formen der Staatsbildung komplett etabliert hatte. Wenn sich heutige Unabhängigkeitsbestrebungen auf die Geschichte berufen, dann geht es also nicht um ein fiktives Konstrukt oder um eine romantische Aufwallung des 19. Jh., sondern um diesen real existierenden Vorgänger-Staat. Das ist nicht zu unterschätzen. Seit 1371 stand Schottland dabei unter der Herrschaft der Stuart-Dynastie, als Robert II. den Thron bestieg.9 Seine Mutter Marjorie war die Tochter von König Robert the Bruce gewesen. Sein Vater war Walter Stewart, der nun zum Urahn einer neuen Dynastie wurde. Die Stuarts brachten im 14. und 15. Jh. Schottland eine dynastische Vertiefung der Unabhängigkeit, die ebenfalls zur Stabilisierung des Staates beitrug. Im 16. Jh. begann die Macht der Stuarts jedoch zu wanken. Zum einen verloren sie im Gefolge einer verheerenden Niederlage gegen englische Truppen 1513 bei Flodden zunehmend an militärischem Gewicht gegenüber England. Zum anderen begann die Reformation auch in Schottland ihre Wirkung zu zeigen, jedoch ganz anders als in England. Dort hatte König Henry VIII. bis 1534 die Loslösung von der katholischen Kirche von oben durchgesetzt. Der Papst hatte sich zuvor geweigert, Heinrichs Scheidung von seiner Frau, Katharina von Aragon, anzuerkennen. Daraufhin begründete Heinrich die heutige anglikanische Kirche mit König oder Königin als Oberhaupt. Klöster und Kircheneigentum wurden zugunsten der Krone konfisziert. Die anglikanische Kirche kennt bis heute Bischöfe unter dem geistlichen Vorsitz des Erzbischofs von Canterbury. Ganz anders die Entwicklung in Schottland: Kalvinistische Prediger, darunter vor allem John Knox, führten eine eigenständige, sehr puritanische Reformation „von unten“ herbei. Knox hatte in St. Andrews Theologie und Rechtswissenschaften studiert und war zum katholischen Priester geweiht worden. Dann jedoch schloss er sich dem Reformator George Wishart an und wurde dafür als Galeerensträfling verbannt. Nach seiner Freilassung lernte er in Genf Johannes Calvin kennen und arbeitete sogar einige Jahre als Prediger in Frankfurt am Main. Wieder zurück in Schottland feuerte er mit scharfen Predigten den Widerstand gegen die katholische Kirche an. Im Auftrag des schottischen Parlaments erarbeitete er 1560 u. a. die Confessio Scotica, die als Gründungsdokument der Church of Scotland gilt.10 Damit setzten sich die Reformatoren im Parlament durch und brachen endgültig mit dem Papst und der katholischen Kirche, folgten aber eben nicht dem Beispiel Englands.

Maria Stuart Die Bühne war bereitet für den Auftritt der bekanntesten schottischen Monarchin, deren tragische Verstrickungen, Liebschaften und Gefangenschaften die Weltliteratur bewegt hat. Erst 2018 wurde die dramatische Geschichte der Maria Stuart erneut verfilmt.11

1.1 Die schottische Staatsbildung im Mittelalter

17

Maria wurde 1542 geboren und bereits im Alter von nur sechs Tagen durch den frühen Tod ihres Vaters James (Jakob) V. zur Königin. Die Krönung fand 1543 statt. Zu ihrem Schutz, aber auch aus machtpolitischen Erwägungen wurde sie von ihrer französischen Mutter Marie de Guise nach Frankreich gebracht und dort katholisch erzogen. Das Land wurde in Marias Abwesenheit in Regentschaft, u. a. von ihrer Mutter, verwaltet. Aufgrund ihrer Herkunft hatte Maria auch auf den englischen Thron Anspruch. Maria war die Enkelin von Margaret Tudor, der älteren Schwester von König Heinrich VIII. Der englische König war also ein Großonkel von Maria. Um mögliche dynastische Probleme auszuräumen, versuchte Heinrich deshalb umgehend nach Marias Geburt, eine Eheschließung mit seinem Sohn Edward durchzusetzen. Weil er dazu auch militärisch aufmarschierte, ging sein Vorstoß als „raues Hochzeitswerben“ in die Geschichte ein. Heinrichs Plan scheiterte, als Maria nach Frankreich gebracht wurde. Dort heiratete die schottische Monarchin den französischen Thronfolger Franz II., der aber bereits 1560 direkt nach der Thronbesteigung starb. So kam Maria 1561 aus dem französischen Exil zurück, doch das Land hatte sich u. a. durch die Reformation im Vorjahr dramatisch verändert. Maria konnte und wollte sich mit der Reformation nicht anfreunden – John Knox hatte zudem erhebliche Probleme damit, eine Frau auf dem Thron zu sehen. Dies galt für ihn auch gegenüber den englischen Monarchinnen. So hatte er 1558 das Traktat Der erste Trompetenstoß gegen das monströse Regiment der Frauen veröffentlicht – damals gerichtet gegen Marias Mutter als schottischer Regentin und gegen die englische Königin Mary, die ihrem Vater Heinrich VIII. auf den Thron gefolgt war. Doch Maria Stuart und ihre Cousine Elizabeth I., die 1558 nach dem Tod ihrer Halbschwester den englischen Thron bestieg, konnten und mussten sich ebenso angesprochen fühlen.12 Knox ließ keine Möglichkeit aus, der jungen Monarchin in Schottland das Leben schwer zu machen. Es ist durchaus ironisch, dass just der Moment, in dem sich Schottland auch in puncto Religion gegenüber seinem englischen Nachbarn auf eigene Wege begab, zugleich zu einer derart tiefen Erschütterung der politischen Zentralmacht in Schottland führte, die letztlich den Weg freigab für eine Vereinigung der beiden Königreiche. Für Maria Stuart ging es ab 1565 stetig bergab: Ihr Privatsekretär Rizzio wurde ermordet, ihr eifersüchtiger Ehemann und Cousin mit eigenen Thronansprüchen, Henry Darnley, war darin verwickelt. Schließlich wurde auch er ermordet und Maria heiratete Darnleys Konkurrenten Lord Bothwell. Eine kurze Verschnaufpause brachte die Geburt ihres Sohnes James 1566, doch schon ein Jahr später entmachteten die Adligen Maria, nahmen sie gefangen und krönten ihren einjährigen Sohn als James VI. zum König. Maria hatte es geschafft, sich mit allen und jedem zu überwerfen. Nach ihrer Flucht und einer letzten Schlacht bei Glasgow ging Maria 1568 ins Exil und suchte bei ihrer Cousine in England Schutz und Beistand. Diese ließ

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

sie jedoch gefangen nehmen und 1587 hinrichten. Für Elizabeth war Maria aufgrund ihrer dynastischen Thronansprüche eine gefährliche Rivalin. Maria stellte nämlich implizit sogar die Legitimität von Elizabeth in Frage, da der Papst die Ehe von Heinrich mit Elizabeth’ Mutter Anne Boleyn nicht anerkannte. Diplomatie war definitiv nicht die Stärke der Maria Stuart und ihre Flucht ausgerechnet nach England letztlich ziemlich naiv. Ihr turbulentes Leben bot aber in der Tat reichlich Stoff für Dramaturgen. Unter anderem Stefan Zweig, Friedrich Schiller und Ken Follett widmeten sich dem Leben der Monarchin. Mit Maria starb die letzte schottische Königin, die nicht zugleich auch auf dem englischen Thron saß. Das Zeitalter der staatlichen Eigenständigkeit näherte sich in Schottland rapide dem Ende. Umso erstaunlicher, dass selbst die heutige Queen ihre Thronansprüche weiterhin auch von der Verwandtschaft mit Maria Stuart ableitet. Aber die Vorgänge rund um Maria Stuart, Heinrich VIII. und Elizabeth I. belegen sehr deutlich, wie sehr sich schottische und englische Geschichtsschreibung und die historischen Perspektiven für diesen turbulenten Zeitraum unterscheiden.

1.2

Das Vereinigte Königreich

Der Übergangsprozess von der Rivalität zweier separater Königreiche zum geeinten britischen Königreich dauerte vom Tode Maria Stuarts 1587 mehr als 160 Jahre. Er war nicht nur holprig, sondern wurde von mehreren Kriegen und Aufständen, einem Bürgerkrieg und dem Sturz der Stuart-Dynastie begleitet. Erst nach dem Scheitern des letzten Jakobiten-Aufstands 1746 begann die Konsolidierung des neuen britischen Königreichs, getragen auch vom Aufstieg zum weltweiten Empire. Die Ausgangslage zu Ende des 16. Jh. war für eine Vereinigung eine günstige: Nach der Hinrichtung von Maria Stuart gab es keine Symbolfigur mehr für den katholischen Widerstand in England und Schottland. Schottland war zudem politisch und militärisch inzwischen stark geschwächt. Da die englische Königin Elizabeth kinderlos war, konnte Marias Sohn, James VI., Anspruch auf die englische Krone erheben. Um diesen nicht zu verwirken, tat er alles, um sich auch den englischen Adligen als akzeptabler Monarch zu präsentieren.

Union der Kronen 1603 war es soweit: Nach dem Tod von Elizabeth bestieg der schottische König James VI. als James I. in Personalunion auch den englischen Thron. Seinen Hof verlegte er sofort nach London, nach Schottland kam er nur noch einmal zurück. Schon diese Tatsache verrät, welch unterschiedlichen Wert James den beiden

1.2 Das Vereinigte Königreich

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Kronen zumaß. Er hinterließ aber in Schottland ein funktionierendes Parlament und eine durch die Reformation eigenständige Kirche, sodass die schottischen Institutionen weitgehend unabhängig weiter agieren konnten. Die Stuart-Könige stießen jedoch vor allem in England auf starken Widerspruch: James Sohn, Charles I., wurde nach einem Bürgerkrieg 1649 vom englischen Parlament hingerichtet. Auch in Schottland hatte sich Charles brutal gegen die Gegner seiner religiösen und kirchlichen Vorstellungen, dokumentiert im sogenannten National Covenant von 1638, durchgesetzt. Sein Sohn, Charles II., führte u. a. von Schottland aus einen Aufstand gegen das neue Regime des Oliver Cromwell. Nach dessen Tod kehrte er 1660 als Doppelmonarch zurück und begründete ein eher absolutistisches Regime. Sein Sohn, James II. (in Schottland James VII.), folgte ihm 1685 auf den Thron, verwickelte sich aber sofort in schwere Konflikte. Schließlich wurde er 1688/89 in der Glorious Revolution vom englischen Parlament abgesetzt und vertrieben. Der neue König William war protestantischer Statthalter der Niederlande und stammte aus dem Hause Nassau-Oranien. Er war aber auch ein Nachfahre von Maria Stuart und ihrem Sohn James. In Schottland und Irland genoss der abgesetzte Stuart-Monarch jedoch weiterhin viel Zuspruch. Seine Anhänger:innen wurden nach dem lateinischen Namen für James, Jacobus, als Jakobiten bekannt. Sie sollten im 18. Jh. mehrere Aufstände anzetteln. In diese turbulente Zeit fallen drei für Schottland wichtige Entscheidungen: 1690 wurde die presbyterianisch, kalvinistische Verfassung der Church of Scotland vom Parlament gesetzlich festgelegt. Das war zum einen ein klares Signal der Abkehr von den Stuart-Monarchen und schuf zudem Schnittmengen mit dem neuen Herrscherhaus der Oranier. Es gab aber auch Konflikte mit der episkopalischen Kirchenrichtung in Schottland, die weiterhin an der Institution der Bischöfe festhielt und sich nicht auf das neue Königshaus einlassen wollte. Die Episcopal Church gilt bis heute als schottisches Gegenstück zur anglikanischen Kirche.13 Wenige Jahre danach scheiterte, zweitens, der einzige Versuch des schottischen Parlaments, in Lateinamerika eine eigene Kolonie zu etablieren. Das „Darien-Desaster“ überstieg die finanziellen Möglichkeiten des Landes und schränkte damit auch den weiteren politischen Spielraum enorm ein. Nichtsdestotrotz hatte, drittens, die damit verbundene Gründung der Bank of Scotland 1695 – nur ein Jahr nach Gründung der Bank of England – für das schottische Finanzwesen bis zum Beginn des 21. Jh. erhebliche Auswirkungen.

Der Unionsvertrag Nach dem gescheiterten Kolonialabenteuer strebten große Teile des schottischen Adels, der im kalvinistischen Parlament das Sagen hatte, eine feste Verbindung mit England an. In der Öffnung der Märkte, welche den Zugang zum rasch wachsenden Empire garantieren sollte, sahen sie für sich die besten Zu-

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

kunftsaussichten. Das Oranier-Königshaus schien zudem die beste Schutzgarantie zu sein gegen eine erneute Thronbesteigung einer:s katholischen Monarch:in. Interessant ist an dieser Stelle, dass hier im Prinzip die noch heute bekannten Argumentationsmuster für die unionistische Seite entstanden: Schottland war zu klein und zu arm für die Selbstständigkeit und die Zugehörigkeit zum „großen“ Britannien deshalb der einzige Ausweg. Es ist erstaunlich, wie unverrückbar diese Argumentation auch 300 Jahre später noch wirkt, auch wenn sich die Welt doch enorm verändert hat. Zurück ins 18. Jh.: 1707 kam es nach intensiven Verhandlungen tatsächlich zum Treaty of Union – oder wie es insbesondere in England auch heißt, zum Act of Union. In diesen Begrifflichkeiten tritt schon eine unterschiedliche Sichtweise zutage: „Treaty“ heißt Vertrag und signalisiert eine Einigung auf Augenhöhe. „Act“ ist hingegen ein Gesetz und bezieht sich primär auf den Gesetzgebungsakt im englischen Parlament. Wie dem auch sei: Anfang 1707 tagte das schottische Parlament zum letzten Mal und löste sich dann mit Inkrafttreten des Vereinigungsvertrags mit England selbst auf. Von nun an lag die politische Macht einzig und allein in London, verteilt auf Parlament, Regierung und Krone. Im Gegenzug gewährte die englische Seite Schottland einige Sonderrechte: Die religiöse Freiheit der kalvinistischen Church of Scotland sowie die Unabhängigkeit des schottischen Rechtssystems wurden nicht angetastet, auch wurde ein Schottland-Ministerium eingerichtet und die Zollschranken gegenüber England fielen. Mit diesen Zugeständnissen erkaufte sich die englische Regierung die Zustimmung insbesondere der schottischen Oberklasse. Als Konsequenz daraus wurden insbesondere Kirche und Justiz bis ins 21. Jh. zu wichtigen Trägern schottischer Identität (► Kap. 4). Mit dem Unionsvertrag war 1707 das Königreich von Großbritannien geboren. 1801 entstand dann durch die offizielle Eingliederung von Irland das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland. Seit 1927 heißt es nach der Teilung Irlands offiziell das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland – im Britischen lautet die Abkürzung schlicht UK (United Kingdom).

Stuart-Rebellionen Zu Beginn des 18. Jh. war die Union zunächst in weiten Teilen der schottischen Gesellschaft umstritten. Die Frage der Religion war längst nicht für alle geregelt, auch Steuerfragen spielten eine große Rolle. Die vertriebene Stuart-Dynastie genoss zudem insbesondere in den Highlands und unter vielen Clan-Chefs, aber auch bei Teilen des Adels, weiterhin große Sympathien. Der Historiker Tom Devine spricht deshalb von der „zerbrechlichen Union“.14 Die adligen Befürworter der Union wurden hingegen für ihre Unterstützung reich entlohnt. Neue Adelstitel und Plätze im Londoner Oberhaus verschafften Zugang zur britischen Elite. So wurde z. B. aus dem schottischen Herzog von

1.2 Das Vereinigte Königreich

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Argyll auch der englische Herzog von Greenwich, während der südschottische Graf von Roxburghe zum Herzog befördert wurde. Auch diese „Bestechungen“ verstärkten den Unmut in der Bevölkerung. So kommt es mehrfach zu Aufständen: 1715 war das Aussterben der OranierLinie eine gute Gelegenheit, die Rückkehr der Stuarts zu fordern, um den Übergang auf das Haus Hannover zu verhindern. Ein großes Manko war aber das strikte Festhalten der Stuarts an ihrem Katholizismus, der insbesondere verhinderte, dass sich kalvinistische Anhänger:innen anschlossen, selbst wenn sie mit der Union unzufrieden waren.

Abb. 4:

Statue von Charles Edward Stuart („Bonnie Prince Charlie“) in Derby, Cathedral Green.

Besonders dramatisch war die Rebellion 1745/46, als der Stuart-Prinz Charles Edward – in Schottland romantisch bekannt als „Bonnie Prince Charlie“ („der schöne Prinz Charles“) – aus dem französischen Exil nach Schottland kam und die englische Krone militärisch herausforderte. Zunächst gelang ihm das überraschend gut, obwohl er eigentlich nur über ein eher unorganisiertes Heer von Highlandern verfügte. Diese nahmen jedoch sogar Edinburgh ein und gewannen gegen eine britische Armee. Wichtig für den weiteren Verlauf war jedoch, dass nicht einmal alle Highland-Clans den Stuart-Prinzen unterstützten. Im Gegenteil, der Herzog von Argyll, nominell auch Chef des mächtigen Campbell-Clans, war einer der einflussreichsten Top-Garanten der Union in Schottland. In den Lowlands sah es mit jakobitischer Unterstützung noch magerer aus – von einem „schottischen Aufstand“ kann deshalb nicht die Rede sein. Die Highland-Truppen von Charles eroberten jedoch fast ganz Schottland und drangen bis nach Derby vor, knapp 160 km nördlich von London. Da es in England keinerlei Unterstützung gab, musste Charles den Rückzug antreten und wurde schließlich im

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

April 1746 bei Inverness in der Schlacht von Culloden vernichtend geschlagen. Er floh nach Frankreich, später nach Italien und kehrte nie wieder nach Schottland zurück. In der Folgezeit griff die britische Regierung harsch durch, zerschlug das Clan-System und die Highland-Kultur, das Schottland-Ministerium wurde aufgelöst. Die kämpferischen Highlander integrierte die Regierung jedoch bald erfolgreich in die britische Armee und setzte sie weltweit auf den kolonialen Schlachtfeldern ein. Die Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen in Schottland war vorbei.

Der Sog des Empire Die protestantischen Eliten Schottlands wandten sich nunmehr mit Enthusiasmus den neuen Möglichkeiten des britischen Königreichs und des wachsenden Empire zu. Wie groß der Bedarf an Loyalitätsbekundungen war, zeigt sich bis heute auf manchen Stadtplänen: In Edinburgh entstand ab 1766 die architektonisch mittlerweile zum Unesco-Welterbe gehörende New Town. Die Straßennamen sind eine einzige Würdigung des englischen Königshauses Hannover und von König Georg II.: George Street, Hanover Street, Princes Street, Frederick Street etc. Auch in Glasgow wird der Hauptplatz George Square genannt, eine angrenzende Hauptachse Hanover Street. In Glasgow ist zudem an Straßennamen der damals entstehenden Merchant City der wirtschaftliche Erfolg in den amerikanischen Kolonien abzulesen: Virginia Street, Jamaica Street etc. Dabei profitierten die schottischen Unternehmer auch vom Sklavenhandel in den Kolonien – ein Umstand, der in Schottland lange ausgeblendet wurde.15 In Schottland selbst sorgte der imperiale Aufstieg Großbritanniens ab der zweiten Hälfte des 18. Jh. für einen dynamischen Assimilierungsprozess. Schottische Ingenieure waren bald überall gefragt, James Watt erfand die Dampfmaschine, Glasgow wurde zu einem wichtigen Handelshafen, Edinburgh zur Stadt der Aufklärung. Wer auswandern wollte, fand in den neuen Kolonien z. T. ungeahnte und in der Heimat unmögliche Aufstiegsmöglichkeiten. Erstaunliche Karrieren waren z. B. die des Maurers Alexander Mackenzie aus Perthshire, der 1873 zum Premierminister von Kanada wurde, oder die des orkadischen Lehrers Robert Stout, der 1884 zum Premierminister von Neuseeland gewählt wurde. Das Empire ermöglichte unternehmungslustigen, vornehmlich männlichen Schotten das Durchbrechen sozialer Barrieren.16 In gewissem Sinne lässt sich selbst die politische Karriere des Donald Trump hier einordnen: Sein Großvater kam ja bekanntlich aus Deutschland, aber seine Mutter Mary-Ann MacLeod stammte von der Hebriden-Insel Lewis. Sie verließ die damals sehr arme Insel während der Weltwirtschaftskrise 1930, um sich in den USA anzusiedeln und dort ihr Glück zu versuchen. Damit folgte sie dem Beispiel so vieler schottischer Auswander:innen. Denn das Empire und die USA boten auch für einfache Leute viele Möglichkeiten

1.2 Das Vereinigte Königreich

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des sozialen Aufstiegs: In den Kolonien ließ sich Land erwerben, es gab in den Kolonialverwaltungen viele Posten zu besetzen, Schott:innen beteiligten sich vielerorts an Missionsversuchen – und nicht zuletzt war die Rolle der Armee ein wichtiger Faktor. Schottische Regimenter wurden rund um den Globus eingesetzt. Statt in Gefechten mit Schwert und Schild in den Highlands kämpften und starben schottische Soldaten bald auf vielen Schlachtfeldern des Empire. Andererseits profitierten natürlich auch die Adligen vom Empire. Der Highland„Gentleman“ Lachlan Macquarie von der Insel Ulva an der schottischen Westküste wurde 1809 zum ersten Gouverneur von New South Wales in Australien bestellt, der 2. Marquis von Linlithgow brachte es 1936 zum Vizekönig von Indien. Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie sehr das britische Empire im wahrsten Sinne des Wortes „die Welt“ für Schottland öffnete. Doch es gab eine wesentliche Einschränkung, denn nicht für alle waren die Kolonien des Empire das verheißene Land: Die Highlands, lange Träger des Widerstands gegen die Vereinigung mit England, wurden nach 1746 im Laufe von 150 Jahren systematisch entvölkert. Viele Bewohner:innen wurden von ihren Landlords, aber auch durch Hungersnöte in die Emigration gezwungen. Diese Menschen gingen nicht freiwillig und hinterließen in Schottland im gesellschaftlichen Bewusstsein die Einschätzung, eine erzwungene Auswanderernation geworden zu sein. Große „schottische“ Communities entstanden z. B. in Kanada und Australien. Die Highland Clearances haben sich tief in die Psyche Schottlands eingegraben. Das Ergebnis dieser „Hochland-Vertreibungen“ lässt sich heute zum einen an den vielen ganz oder fast entvölkerten Tälern und Inseln in den Highlands ablesen, zum anderen gibt es in Schottland das Gefühl, dass hier dem Land unwiederbringlich sowohl gesellschaftlich wie identitätsmäßig etwas verlorengegangen ist. Ohne die imperialen Kolonien als potenzielle Aufnahmeländer der Menschen, hätte es die Vertreibungen in dieser Form wohl nicht gegeben. Erst das Empire eröffnete den Landlords die Möglichkeit, die Bewohner:innen ihrer Landgüter billig abschieben zu können. Das Trauma der Vertreibungen ist jedenfalls ein Grund dafür, dass Einwanderung in Schottland heute so positiv gesehen wird. Man freut sich, dass das Land nun (endlich) wieder Menschen anzieht. Fakt ist: Das einst stolze, unabhängige Land löste sich im imperialen Großbritannien weitgehend auf – im 19. Jh. sprach man oft nur noch von „Nordbritannien“. Tom Nairn analysierte in seinem in den 1970er-Jahren bahnbrechenden Buch The Break-Up of Britain, dass Schottland sich noch gerade rechtzeitig vor Beginn der Industriellen Revolution mit England zusammengeschlossen habe, um als Partner – und nicht als Kolonie – vom Empire profitieren zu können. Der Vergleich mit der Entwicklung der Kolonien in den späteren USA im späten 18. Jh. oder auch der Entwicklung in Irland im 19. Jh. zeigt in der Tat, dass Schottland als Ganzes durch die Vereinigung mit England durchaus auf der politischen Sonnenseite des Empire gelandet war.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Im 19. Jh. begann auch die Romantisierung der einst als feindlich und primitiv gesehenen Highlands. Hauptverantwortlich waren dafür der Romancier Walter Scott und Queen Victoria (► Kap. 4). Jetzt, wo es keine politische Rivalität mehr gab, war der Weg frei für ein neues, positives Image für Schottland und die wilde Berglandschaft der Highlands. Diese Entwicklung zu einem beliebten Touristenziel ist bis heute ungebrochen und garantiert im Ausland große Sympathien für das kleine Land im Norden der britischen Inseln.

1.3

Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh.

Ein erster Anlauf: Home Rule All Round Das späte 19. und das 20. Jh. waren gekennzeichnet von einem Wechselspiel zwischen Wandel und Kontinuität. Die ersten Anzeichen, dass das völlige politische „Aufsaugen“ Schottlands im Vereinigten Königreich nicht nach Plan ablief, waren schon gegen Ende des 19. Jh. deutlich sichtbar. Damals kam die Forderung nach Home Rule auf, also einer weitgehenden Selbstverwaltung (► Exkurs 1). Angetrieben wurde die Entwicklung durch die Verschärfung der Proteste in Irland, aber auch durch soziale Proteste der Kleinbauern in den schottischen Highlands. Diese schafften es 1885 über die Crofters Party, den parteipolitischen Arm der Highland Land League, mehrere Sitze im Unterhaus zu gewinnen. Das alarmierte die liberale Regierung unter William Gladstone, die bei der Wahl ihre absolute Mehrheit verloren hatte. Und so stand plötzlich die Idee im Raum, dass neben Irland auch Schottland ein weitgehendes Selbstverwaltungsrecht bekommen sollte – zusammen mit Wales und England war auf einmal von Home Rule All Round die Rede. Ob die Idee, auch Schottland Selbstverwaltung anzubieten, wirklich nur darauf abzielte, Home Rule für Irland als Konzept politisch attraktiver zu machen, mag dahin gestellt bleiben.17 Fakt ist, dass die Entwicklung in Irland zunächst der politische Motor der gesamten Diskussion war (► Exkurs 4). Das erste Home-Rule-Gesetz wurde 1886 tatsächlich für Irland vorgelegt, scheiterte aber und verschwand in der Schublade. In England gab es keinen Bedarf für eine derartige Autonomieregelung. Ein erster Schritt der Regierung Gladstone für Schottland war 1885 die Wiedereinrichtung des Schottland-Ministeriums, das Scottish Office, welches 1746 aufgelöst worden war. Dieser Schritt wurde jedoch auch zwiespältig gesehen, weil er zwar Schottland einen prominenteren Status gab, aber eben auch viele Entscheidungen in London auf das Regierungskabinett konzentrierte. 1886 war ein turbulentes Jahr in Schottland und Großbritannien, weil die liberale Regierung Gladstone in einer zweiten Unterhauswahl die Mehrheit endgültig verlor und die Regierung in konservative Hände überging. In Schottland formierte sich

1.3 Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh.

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nun die Scottish Home Rule Association, die fortan auf schottischer Ebene die Auseinandersetzung um eine eigene Parlamentsvertretung überparteilich voranbringen wollte.18 Große Fortschritte gab es jedoch trotz all der Aktivitäten nicht, weder für Schottland noch für Irland. Christopher Harvie prägte dafür den Begriff der „lautstarken Untätigkeit“.19 In Schottland war die Scottish Home Rule Association jedoch auch ein politisches Sprungbrett für später führende Labour-Politiker wie Ramsay MacDonald und Keir Hardie, aber auch für Robert Cunninghame Graham. Dieser fand nach dem Ersten Weltkrieg den Weg von der Arbeiterpartei Labour zur aufkeimenden Nationalbewegung und er wurde 1934 erster Präsident der neugegründeten Scottish National Party, der SNP.

Home Rule zum Zweiten Nachdem sich die politische Lage in Irland zu Beginn des 20. Jh. weiter verschärfte, kam es 1912–14 zu einem weiteren, zunächst vielversprechenden Anlauf, Home Rule gesetzlich zu verankern. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es jedoch nicht zur Umsetzung der Gesetzespläne. In der Folge brach dann auf der irischen Insel 1916 der Aufstand gegen die britische Herrschaft aus, der zur Teilung Irlands und zur Loslösung der heutigen Republik Irland führte. Die Folgen dieses militärischen Konflikts sind bis heute spürbar (► Exkurs 4). Für Schottland (und Wales) hatte die militärische Auseinandersetzung in Irland zur Folge, dass jede politische Forderung nach Autonomie der Home Nations komplett von der Tagesordnung verschwand, weil sie nach den Erfahrungen in Irland als bestandsgefährdend für das Vereinigte Königreich gesehen wurde. Dass die Home-Rule-Pläne im Falle Schottlands so fruchtlos blieben, lag auch daran, dass das Thema im Gegensatz zu Irland in der schottischen Bevölkerung einfach keinen massenhaften Anklang fand. Die den konservativen Tories nahestehende Oberschicht konnte dem Autonomiekonzept ohnehin nichts abgewinnen, da sie im britischen System ja bestens etabliert war. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte zudem die aufstrebende Labour-Bewegung das große soziale Protestpotenzial politisch und gewerkschaftlich auffangen und nicht etwa eine Nationalpartei. Und die schottischen Labour-Abgeordneten gedachten, britische Politik zu machen. Ein Mitgründer der Labour Party und ihr langjähriger Unterhaus-Fraktionschef war Ramsay MacDonald aus Lossiemouth im Norden Schottlands, der 1924 zum ersten britischen Labour-Premierminister wurde. Typisch für die damalige Zeit war, dass er nicht etwa in Schottland kandidierte, sondern in England und in Wales.20 Ende des 19. Jh. war er noch ein Anhänger der HomeRule-Bewegung gewesen, im Amt unternahm er jedoch keine weiteren Schritte in diese Richtung. Dennoch sah er 1921 weiterhin eine Sonderrolle Schottlands, die sich in der früheren Unabhängigkeit begründete:

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich „Und dann ist da Schottland, mit seinen historischen Grenzen und noch nicht von der Landkarte verschwunden. Schottland bewahrt bis zum heutigen Tag durch separate juristische und kirchliche Institutionen einen Rest der früheren Unabhängigkeit. Geist und Kultur sind deutlich erkennbar – und ihr kompletter Verlust wäre ein Verlust für die Welt. Das politische Wesen Schottlands ist nicht dasselbe wie das Englands. Wenn Schottland sich alleine weiterentwickeln könnte, würde es eine deutlich unterschiedliche Richtung einschlagen.“21

Bemerkenswert ist an diesem Punkt die Aussage, dass Schottland sich nach MacDonalds Einschätzung als eigenständiger Staat ganz anders weiterentwickeln würde als England. Als Premierminister und Labour-Chef sorgte er jedoch dafür, dass es dazu keine Gelegenheit gab. Im Prinzip blieb das Konstrukt des britischen Einheitsstaates bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg unangetastet.

Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg Erste Signale eines politischen und gesellschaftlichen Wandels in Schottland waren dann jedoch schon früh zu erkennen: 1945 gewann Robert McIntyre für die junge Scottish National Party (SNP) erstmals ein Unterhausmandat bei einer Nachwahl (zur SNP-Geschichte ► Kap. 3.1). Und 1949 unterzeichneten rund zwei Millionen Schott:innen auf Initiative von John MacCormick den sogenannten Covenant, eine Protestnote, die von der britischen Regierung mehr Autonomie und ein eigenes Parlament einforderte. Da es sich jedoch um eine recht isolierte Aktion ohne politische Organisationsbasis und auch ohne konkrete Aktionsvorschläge handelte, weigerte sich die damalige britische Labour-Regierung sogar, die Unterschriften überhaupt anzunehmen. Der Covenant verpuffte politisch ohne konkrete Auswirkungen.22 Doch die Uhr war auf lange Sicht nicht mehr zurückzudrehen, auch wenn es weitere 20 Jahre dauerte, bis sich dies in konkreten Wahlergebnissen Bahn brach. Das entscheidende Jahr war 1967, als die SNP-Kandidatin Winnie Ewing eine Unterhaus-Nachwahl in Hamilton südöstlich von Glasgow überraschend gegen den Labour-Favoriten gewinnen konnte. Ewing sollte zu einer der prägenden Figuren der Unabhängigkeitsbewegung werden: Die Juristin verlor ihr Unterhausmandat zwar schon 1970 wieder, doch 1979 gelang ihr der Einzug ins Europaparlament. 1999 eröffnete sie dann als älteste gewählte Abgeordnete in Edinburgh das neue schottische Parlament. Sie war zudem Präsidentin der SNP. Das alles lag 1967 noch in weiter Ferne, doch die politische Konkurrenz war beunruhigt, zumal die SNP bei den folgenden Lokalwahlen 1968 in Schottland mit 34 % den prozentual höchsten Stimmenanteil gewann. Schon 1966 hatte sie beachtliche 18 % erhalten, was aber kaum zur Kenntnis genommen worden war. Hinzu kam, dass sich auch in anderen Landesteilen ähnliche Entwicklungen abzeichneten: 1966 gewann in Wales die nationalistische Plaid Cymru ebenfalls ihr erstes Unterhausmandat. Zugleich entwickelte sich in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung (► Exkurs 4).

1.3 Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh.

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In Schottland wurde die SNP von den etablierten Parteien urplötzlich als eminente Bedrohung gesehen. Sie stellte nicht nur das vorherrschende Zweiparteiensystem aus konservativen Tories und sozialistisch/sozialdemokratischer Labour Party in Frage, sondern zielte mit ihrem Slogan „put Scotland first“ direkt auf den Zusammenhalt des britischen Einheitsstaats. Quasi aus dem Nichts heraus standen Schottland und die Zukunft innerhalb Großbritanniens weit oben auf der politischen Tagesordnung. Bekannt sind die Konsequenzen: Die Labour-Regierung unter Harold Wilson berief 1969 eine Royal Commission unter Lord Crowther (später unter Leitung von Lord Kilbrandon) ein, um die verfassungsrechtliche Zukunft Schottlands zu beleuchten. Die Kommission kam 1973 im sogenannten Kilbrandon-Report mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass Schottland und Wales gewählte Versammlungen mit Gesetzgebungskompetenz erhalten sollten. Dabei ging es aber nicht um Home Rule, sondern um Devolution – eine wesentlich schwächere Form der Autonomie (► Exkurs 1). Für England wurden zudem regionale Gremien mit „koordinierenden und beratenden“ Kompetenzen vorgeschlagen.23 Die Kompetenzen waren für Schottland und Wales unterschiedlich – und im Vergleich zu den heutigen Parlamenten generell deutlich beschränkter. Auch die Tories vollzogen eine Kehrtwende: 1968 stimmten auch sie unter ihrem Parteichef Edward Heath in der Declaration of Perth einer neuen Autonomieregelung für Schottland zu. Die Frage ist: Woher kam der plötzliche Aufstieg der SNP und warum wurde nichts von den Versprechungen der anderen Parteien umgesetzt? Der erste Teil der Frage führt zurück in die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur Entstehung des Vereinigten Königreichs war oben festgestellt worden, dass insbesondere der Zugang zum wachsenden britischen Empire die Union mit England sehr attraktiv machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerbrach jedoch das Empire und damit auch die Aussicht, durch die Zugehörigkeit zum britischen Einheitsstaat auf nationaler wie internationaler Ebene wirtschaftlich und politisch zu profitieren. Noch unmittelbarer wirkten jedoch die Verstaatlichungen der Labour-Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Beschäftigungsintensive Schlüsselindustrien und Wirtschaftszweige wie die Eisenbahn, der Bergbau, die Stahlindustrie, der Energiesektor und der Gesundheitssektor wurden nationalisiert – und damit den politischen Entscheidungen der britischen Zentralregierung in London unterworfen.24 Dadurch öffnete sich Raum für ein Argumentationsmuster, das bis heute von starker Wirkungskraft ist. Anstatt sich mit Industriellen in Schottland selbst auseinandersetzen zu müssen, lag nun die Verantwortung für alle Fehlentwicklungen im Süden der Inseln. „London“ wurde zur Ansprechpartnerin für alle Krisen und Probleme. Bis in die Mitte des 20. Jh. waren die wirtschaftlichen Prozesse weitgehend autonom gelaufen, nun konzentrierte sich gemäß dem Prinzip des britischen Einheitsstaats nicht nur die politische Macht, sondern auch eine große wirtschaftliche Macht in London. Durch das Fehlen von regionalen politischen Gremien gab es unterhalb der Londoner Zentralebene keine

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

politischen Korrekturmöglichkeiten mehr. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Im Gegensatz zu den englischen Industrieregionen, die eine politische Unabhängigkeit von London nie gekannt hatten und deshalb maximal bei den Liberalen als dritter politischer Kraft ihren Protest öffentlich machen konnten, gab es in Schottland die Möglichkeit, auf Grundlage der einstigen eigenständigen Staatlichkeit ein ganz anderes Deutungsmuster anzubieten: Ohne Einmischung aus London würde es für Schottland wesentlich besser laufen – genau darauf zielte die SNP denn auch ab. Aus einer wirtschaftlichen Frage wurde eine politische Frage, die den Bestand des britischen Einheitsstaats gefährdete: Eine Eisenbahnlinie wurde stillgelegt – London vernachlässigt Schottland; eine Werft, eine Zeche oder ein Stahlwerk schließt – London kümmert sich nicht um die Wirtschaft und die Arbeitsplätze in Schottland. Nur die SNP war in der Lage, diese zunächst noch diffuse Stimmung derart aufzugreifen, da nur sie dieses Dilemma aus einer rein schottischen Perspektive bewerten konnte (► Kap. 4.2).

„It’s Scotland’s Oil“ Allerdings verflüchtigten sich die Wahlerfolge der SNP 1970 bei den Unterhauswahlen wieder. Sie errang nur ein Mandat und 11 % der Stimmen. Sowohl Tories als auch Labour ließen daraufhin ihre Autonomieversprechungen wieder in der Schublade verschwinden. Genau dieses Verhaltensmuster sorgte in den folgenden Jahrzehnten dafür, dass langfristig die Zustimmung für schottische Autonomie und dann für Unabhängigkeit steigen sollte. Viele Menschen in Schottland bekamen im Laufe der Zeit das Gefühl, dass ihnen kurz vor einer Wahl oder einem Referendum mehr Autonomie versprochen wird, dies dann aber nicht umgesetzt wird. In diesem Fall führte die Abkehr der neuen Tory-Regierung unter Ted Heath von ihrer Declaration of Perth dazu, dass die SNP bei der nächsten Unterhauswahl im Februar 1974 auf 21 % der Stimmen kam und sieben der 71 schottischen Mandate errang. Das britische Mehrheitswahlrecht sorgte für diese große Lücke zwischen dem Stimmenanteil und der Zahl der errungenen Mandate (► Exkurs 1). Da die neue Labour-Regierung 1974 nur eine Minderheitsregierung zusammenstellen konnte, beraumte sie bereits für den Oktober die nächste Unterhauswahl an. In diese Wahl ging Labour nun mit einem neuen Versprechen. Gemäß dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Kilbrandon-Report sollte nun tatsächlich eine Scottish Assembly als parlamentarische Versammlung eingerichtet werden. Dieses Versprechen war jedoch insbesondere in der schottischen Parteigliederung vom Start weg umstritten.25 Den folgenden Coup der SNP konnte diese Last-Minute-Kehrtwende von Labour nicht mehr verhindern: Mit 30,4 % der Stimmen gewann die SNP elf Mandate für sich und lag nur noch sechs Prozentpunkte hinter der bis dahin dominanten Labour Party. Da die Partei im Londoner Unterhaus nur eine knappe (und

1.3 Die Autonomiedebatten im 19. und 20. Jh.

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bald dahinschmelzende) Stimmenmehrheit von drei Sitzen hatte, war die Regierung in den Folgejahren auf die Unterstützung von Liberalen und SNP angewiesen.26 Großen Anteil am Wahlerfolg der SNP hatte ihr Slogan „It’s Scotland’s Oil“, den sie seit 1972 nutzte. Hintergrund waren die enormen Öl- und Gasfunde in der Nordsee vor der schottischen Küste, die seit Ende der 1960er-Jahre die wirtschaftlichen Aussichten des Landes auf den Kopf stellten. Hatte bis dahin Schottland im Vergleich zu England als vergleichsweise arme Region gegolten, stellte die SNP Schottland nun als potenziell reiches Land dar, das von der „englischen“ Regierung um seinen fairen Anteil am Öl-Reichtum betrogen werde (► Kap. 4.5). Diese Argumentation spielte noch im Unabhängigkeitsreferendum von 2014 eine gewichtige Rolle. Sowohl Labour wie auch die Tories sahen sich argumentativ in der Falle, da „sie die Transferzahlungen von England nach Schottland zum Kernstück ihrer Verteidigung der Union gemacht hatten.“27 Konnte man nun einem ölreichen Schottland eine eigene politische Vertretung noch verwehren? Die Zeiten von „zu arm und zu klein“ schienen argumentativ vorbei zu sein.

Das Referendum 1979 Unter dem enormen Druck der SNP-Erfolge und getrieben von einer tiefen wirtschaftlichen Krise in Großbritannien im Gefolge der Ölkrise von 1973/74, billigte Labour schließlich die Abhaltung eines Referendums zur Einrichtung einer Schottischen Versammlung. Dieses fand am 1. März 1979 statt und endete mit einem knappen Ergebnis von 51,6 % für diese Versammlung, 48,4 % stimmten dagegen. Doch was nach einem Erfolg aussah, wurde zu einem Desaster: Die Labour-Regierung hatte eine Klausel in das Referendumsgesetz eingefügt, dass 40 % aller Wahlberechtigten zustimmen mussten, was eine sehr hohe Wahlbeteiligung voraussetzte. Diese Hürde wurde deutlich verfehlt. Ein ähnliches Referendum in Wales brachte übrigens einen Stimmenanteil von fast 80 % gegen die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung – hier waren keine weiteren Hürden nötig, um ein negatives Ergebnis festzustellen. Ein Grund für das knappe Ergebnis in Schottland war sicherlich, dass die SNP im Vorfeld zerstritten gewesen war, was den Wert der angebotenen begrenzten Autonomie anging. War das angebotene Parlament nur eine „Falle“ oder doch ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit? Ein Kernpunkt des Streits war und ist bis heute das Konzept der Devolution, der Dezentralisierung von Machtbefugnissen (► Exkurs 1). Wieviel Macht würde London tatsächlich abgeben und wie politisch abgesichert wäre eine solche Regelung? Unter diesen Unklarheiten und dem daraus resultierenden politischen Streit litt nicht nur die Labour-Regierung, deren Premier Harold Wilson 1976 durch Jim Callaghan ersetzt wurde, sondern auch die SNP. Nach ihren Wahlerfolgen 1974 fiel die zaudernd auftretende SNP ab 1976 beständig in der Wählergunst zurück. Auch ihren Erfolgsslogan „It’s Scotland’s Oil“ hatte sie aufgegeben, wohl auch deshalb, weil

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

selbst viele SNP-Anhänger:innen der Ansicht waren, dass die Öl-Einnahmen ganz Großbritannien zugutekommen sollten. Zudem war die Labour-Regierung Anfang 1979 bereits politisch sehr angeschlagen und in einer Minderheitsposition im Parlament. Der von Streiks dominierte „Winter der Unzufriedenheit“ 1978/79 hatte erhebliche Spuren hinterlassen und in Schottland waren längst nicht alle Parteimitglieder von dem Autonomievorschlag überzeugt. Die Tories waren strikt gegen jede Art von Autonomie. Zudem gab es außerparlamentarisch kaum Unterstützungsaktionen, z. B. durch Demonstrationen. Als Konsequenz gab es nur dieses knappe Ergebnis, was aufgrund der Klauseln zum Scheitern des Autonomiereferendums führte. Daraufhin entzog die SNP der Labour-Regierung im Parlament ihr Vertrauen – die Folge: Neuwahlen und eine Tory-Regierung unter Margaret Thatcher. Labour-Premier Callaghan verglich die Entscheidung der SNP für Neuwahlen sarkastisch mit „Truthähnen, die für ein frühes Weihnachten stimmen“.28 Aus heutiger Sicht lohnt der Vergleich mit einem anderen knappen Referendum: dem Brexit-Referendum von 2016. 1979 wurde eine Mehrheit von 51,6 % der Stimmen nicht für ausreichend erachtet, um ein Referendum zu gewinnen – 2016 galt eine ähnliche Mehrheit von 51,9 % beim Brexit-Votum sehr wohl für so entscheidend, dass danach keinerlei Rücksicht mehr auf die unterlegene Minderheit genommen wurde (► Kap. 2.4). Das Quorum von 40 % der Wahlberechtigten wurde 2016 übrigens ebenfalls verfehlt. Im Rückblick ist der Vorwurf des Betrugs am Mehrheitsvotum von 1979 also durchaus zu verstehen.

1.4

Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent

Das Jahrzehnt der Margaret Thatcher Das gescheiterte Autonomiereferendum 1979 leitete ein Jahrzehnt ein, in dem die Frage nach einer schottischen politischen Repräsentanz völlig von der Tagesordnung verschwunden schien. Die SNP konnte an ihre Wahlerfolge 1974 nicht mehr anknüpfen, Labour driftete als Oppositionspartei in eine Zeit der völligen Machtlosigkeit – getrieben von der machtbewussten neuen Tory-Premierministerin. In den 1980er-Jahren zerschlug Margaret Thatcher u. a. die bis dahin mächtige Bergarbeiter-Gewerkschaft und leitete eine Welle von Privatisierungen ein, quer durch die gesamte Wirtschaftswelt. Von Schottland hielt sie nicht viel und machte dies auch immer wieder deutlich. Ihr politisches Aus leitete sie schließlich damit ein, als sie die extrem unpopuläre Kopfsteuer, die sogenannte Poll Tax (offiziell Community Charge), die sie

1.4 Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent

31

zunächst 1989 in Schottland eingeführt hatte, 1990 auf ganz Großbritannien ausdehnte. In Schottland mündeten die Proteste bald in einen breiten gesellschaftlichen Boykott der Steuerzahlung. Doch dies wurde in London völlig ignoriert. Als es aber auch in England 1990 zu Massenprotesten kam, war dies selbst Thatchers eingefleischten Unterstützer:innen zu viel – die Premierministerin musste Ende des Jahres ihren Hut nehmen und wurde durch John Major ersetzt. Damals noch weitgehend unbeachtet von der englischen Öffentlichkeit trug Margaret Thatchers oft kompromisslose Politik enorm zum Wiedererstarken der schottischen Autonomiebewegung bei. Viele Schott:innen fühlten sich von der „englischen“ Premierministerin und ihrer Regierung zunehmend missachtet und sogar verachtet. Ein prägnantes Beispiel war die Aussage von Thatchers Schatzkanzler Nigel Lawson, der den Schott:innen eine „Kultur der Abhängigkeit“ und ein Festhalten an einem „Kindermädchen-Staat“ vorhielt.29 Thatcher selbst hielt im Mai 1988 eine „Predigt“ vor der Generalversammlung der Church of Scotland, in der sie ihre Privatisierungen verteidigte und dabei auf den umstrittenen Satz des Apostel Paulus verwies: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“ (2. Thess. 3,10). Das Christentum beziehe sich auf spirituelle Erlösung und nicht auf soziale Reformen. Das kam zu einer Zeit sehr hoher Arbeitslosigkeit nicht nur in Schottland nicht gut an.30

Abb. 5:

Anti-Thatcher-Kampagne der SNP, 1980. Auch ohne den Slogan „It’s Scotland’s Oil“ ist die Idee deutlich sichtbar.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Die Privatisierungen, der Niedergang traditioneller Schwerindustrie, hohe Arbeitslosigkeit sowie massive Einschnitte im Sozialsystem – all das stieß in Schottland auf eine scharfe Ablehnung und wurde als ein klarer Verstoß gegen den gesellschaftlichen Wertekanon des Landes gesehen. Bei der Poll Tax sah man sich als „Versuchskaninchen“, um die Reaktion in England zu testen – Margaret Thatcher wurde in Schottland so zur unpopulärsten Premierministerin aller Zeiten, auch wenn Boris Johnson sich derzeit anschickt, ihr den Platz streitig zu machen (► Kap. 2.5 und 5).31 Johnson machte im Sommer 2021 Schlagzeilen, als er bei einem Schottland-Besuch provokant versuchte, die Zechenschließungen unter Thatcher als „frühen Start“ für den Klimaschutz zu verkaufen. Das brachte ihm viele sarkastische Kommentare ein, weil Thatcher definitiv nicht für ihre Umweltschutzpolitik bekannt geworden ist.32 Aber genau wie Thatcher liebt Johnson eben die gezielte Provokation seiner Gegner:innen – da sind sich beide sehr ähnlich. Das nahm im Falle Thatchers skurrile Formen an: Der frühere schottische Parteichef der Liberalen, Charles Kennedy, soll Margaret Thatcher einst als die „größte aller schottischer Nationalisten“ bezeichnet haben.33 Denn die gesellschaftliche Stimmung kippte in den Thatcher-Jahren in Schottland dramatisch. Am deutlichsten wurde dies am Wahlverhalten. Die Unterhauswahl 1987 ging in der politischen Welt Schottlands als „Tag des Jüngsten Gerichts“34 für die schottischen Tories in die Geschichte ein: Stimmten auf britischer Ebene insgesamt 42 % der Wähler:innen für die Tories und verschafften Margaret Thatcher damit erneut eine haushohe Parlamentsmehrheit, so konnten sie in Schottland nur zehn von 72 Mandaten erringen, 1983 waren es noch 21 gewesen. Von diesem drastischen Einschnitt hat sich die konservative Partei bis heute nicht mehr erholt – ein Ergebnis, wie es bis 1983 möglich war, ist seither völlig außer Reichweite. Im Ergebnis tauchte eine neue Argumentation in Schottland auf: Beklagt wurde nunmehr das „demokratische Defizit“ der Tory-Regierung. Sie habe für Schottland kein Mandat mehr, weil sie fortgesetzt in Schottland keine Mehrheiten erziele, aber mit ihrer absoluten Mehrheit in Westminster Gesetze verabschiede, für die Schottland niemals gestimmt habe.35 Dieser Grundtenor wurde zum bestimmenden Diskussionsfaktor der nächsten zehn Jahre – und ist nach dem Brexit-Referendum 2016 in Bezug auf die May- und Johnson-Regierungen wieder topaktuell. Großer Profiteur von dem Tory-Wahldebakel in Schottland war 1987 Labour mit 50 Mandaten (1983: 41), die SNP konnte hingegen nur drei erzielen (1983: 2). Eine weitere Besonderheit, die sich in den 1980er-Jahren herausbildete, war die Stärke der Liberalen, sodass es zu einem Vier-Parteien-Wettbewerb kam. 1987 erzielte die liberale Allianz neun Mandate (1983: 8).36 Die Unzufriedenheit mit der Thatcher-Regierung kam also Labour und den Liberalen zugute, nicht etwa der SNP. Eine nationalistische Antwort auf Margaret Thatcher war nicht in Sicht.

1.4 Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent

33

Das wurde auch in Prozentzahlen deutlich: 42 % stimmten für Labour, 19 % für die Liberalen und nur 14 % für die SNP. Dennoch fragen sich angesichts solcher Wahlergebnisse erstmals auch schottische Labour-Abgeordnete, welchen Ausweg es aus dieser Zwickmühle gab: In Schottland stellte die Partei regelmäßig mit Abstand die meisten Abgeordneten, doch die englische Unterstützung für Margaret Thatcher sorgte dafür, dass sich diese Wahlerfolge nicht in Regierungsämter ummünzen ließen. Welchen Sinn sollte die Wahl von Labour in Schottland ergeben, wenn sich mit den Mandaten in und für Schottland nur wenig anfangen ließ? Das schottische Wahlverhalten wich nunmehr stark vom englischen Wahlverhalten ab – und an diesem Fakt hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Die bis dahin sehr zurückhaltende Labour Party kam deshalb langsam zu dem Schluss, dass die Antwort auf dieses Dilemma tatsächlich in der Schaffung eines eigenständigen schottischen Parlaments lag.

Die Campaign for a Scottish Assembly Die ernsthafte Suche nach politischen Alternativen begann in den 1980er-Jahren auf gesellschaftlicher Ebene. Das war enorm wichtig, weil dieser Faktor in den 1970er-Jahren noch weitgehend gefehlt hatte. Bereits 1980 gründete sich als direkte Antwort auf das Versagen des parlamentarischen Weges bei der Durchsetzung der schottischen Autonomie die Campaign for a Scottish Assembly (CSA). Einer der Initiatoren war das SNP-Mitglied Jack Brand, später leitete Jim Boyack die CSA. Die Ziele der neuen Kampagne waren zum einen die Entwicklung eines gesellschaftlichen, außerparlamentarischen Ansatzes, zum anderen der Aufbau einer möglichst breiten Parteien-Koalition. Dazu wurde die Gründung einer Scottish Constitutional Convention als politisches Zwischenziel definiert. Dieser Verfassungskonvent sollte erstens das schottische Verlangen nach einem Parlament zum Ausdruck bringen, zweitens die genauen Machtbefugnisse dieses Parlaments klären, drittens mit der britischen Regierung über einen Zeitplan zur Gründung des Parlaments verhandeln und viertens ein neues Referendum dazu organisieren.37 Mitte der 1980er-Jahre hatte die Kampagne breite Wurzeln geschlagen. Ende 1986 gab es 400 000 Unterstützer:innen,38 die Gewerkschaften, die Church of Scotland und andere gesellschaftliche Organisationen hatten sich angeschlossen. Auch die SNP, die Liberalen und die Grünen standen hinter der CSA – nach der Wahl 1987 trat dann auch die schottische Labour-Sektion bei. Damit hatte die CSA innerhalb weniger Jahre ein gesellschaftliches Bündnis geschmiedet, dem alle schottischen Oppositionsparteien angehörten und das im Londoner Unterhaus über 62 der 72 schottischen Mandate verfügte – ein bemerkenswerter Erfolg, der die Grundlage für die Wiedereinrichtung des schottischen Parlaments 1999 bildete.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Der Claim of Right Mit diesem Momentum im Rücken ging die CSA daran, ihr Projekt eines Schottischen Verfassungskonvents in die Tat umzusetzen. Dazu wurde 1988 zunächst ein Claim of Right for Scotland entworfen. Diese „Beanspruchung von Rechten für Schottland“ lehnte sich ausdrücklich an das historische Vorbild von 1689 an, als sich das Parlament gegen die Willkürherrschaft von König James VII. bzw. II. auflehnte. Ein zentraler Satz des Dokuments lautete, dass „die parlamentarische Regierung unter der gegenwärtigen britischen Verfassung in Schottland versagt hat und mehr als parlamentarische Aktion nötig war, um dieses Versagen auszugleichen.“39 Die Desillusionierung mit der Thatcher-Regierung könnte nicht deutlicher ausgedrückt werden. Das Dokument bildete das Fundament für die formelle Einberufung der Scottish Constitutional Convention Anfang 1989. Unter der Leitung des episkopalen Priesters Kenyon Wright40 fand am 30. März 1989 die erste Sitzung statt – der Schottische Verfassungskonvent war im Prinzip ein embryonales Versuchsparlament. 58 von 72 schottischen Parlamentsabgeordneten, 7 der 8 schottischen Europaabgeordneten, 59 von 65 Kommunalvertretungen sowie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen unterschrieben den Claim. Dazu hieß es 1989: „Wir, der versammelte Schottische Verfassungskonvent, erkennen hiermit das souveräne Recht des schottischen Volkes an, selbst die Regierungsform zu wählen, die ihrem Bedürfnis am besten entspricht […]. Wir erklären zudem und verpflichten uns dahingehend, dass unsere Aktivitäten und Beratungen folgenden Zwecken dienen sollen: ein Konzept für eine Versammlung oder ein Parlament für Schottland zu verabschieden; die schottische Öffentlichkeit zu mobilisieren und die Zustimmung des schottischen Volkes für dieses Konzept zu sichern; und das Recht des schottischen Volkes durchzusetzen, dieses Konzept realisieren zu können.“41

Interessant sind an diesem Dokument zum Selbstbestimmungsrecht Schottlands mehrere Punkte: Zum einen fällt der Claim im europäischen Kontext in die Zeit des Zusammenbruchs des Ostblocks. Zur selben Zeit machten sich überall in Osteuropa intellektuelle Eliten und breite Massenbewegungen auf den Weg, das politische Selbstbestimmungsrecht sowie die staatliche Souveränität für ihre jeweiligen Länder zu beanspruchen. Ob diese Parallelen zu den dramatischen Ereignissen in Osteuropa den Verfassern des Claims 1988 bewusst waren, ist nicht überliefert, zumal 1988 der komplette Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion noch als unrealistisch erschienen. Dennoch ist die zeitliche Parallelität dieser ersten Schritte auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung bemerkenswert. Weitere wichtige Punkte waren die Beanspruchung von souveränen Rechten für das schottische Volk. Dies stand in scharfem Widerspruch zum bisherigen Bild eines Einheitsstaats. Implizit wurde damit natürlich auch das Recht

1.4 Der Thatcher-Schock und der Schottische Verfassungskonvent

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beansprucht, gegebenenfalls für die Unabhängigkeit vom britischen Königreich stimmen zu können. So konnte der Claim auch für die SNP akzeptabel werden. Allerdings hatte die SNP Anfang 1989 in einer überraschenden Wendung die gemeinsame Kampagne verlassen und war nicht dem Verfassungskonvent beigetreten. Offensichtlich war man bei der SNP der Meinung, der Claim sei zu weich formuliert, ginge in seinen Ansprüchen nicht weit genug und die Unabhängigkeit Schottlands könne auch direkt durch einen großen Wahlerfolg erreicht werden. Auch fürchtete die SNP ganz offensichtlich die Labour-Dominanz im Verfassungskonvent. Erst die Wahlniederlage 1992 brachte die SNP langfristig dazu, diese Fehlentscheidung zu korrigieren. Dabei war erneut offensichtlich geworden, dass insbesondere Labour und die SNP erhebliche Schwierigkeiten hatten, sich auf eine gemeinsame Zukunftsvision für Schottland zu einigen. Dieser Grundkonflikt ist bis heute ungelöst.

„Free by 93“ Im Rückblick zeichnete sich die Unterhauswahl 1992 vor allem dadurch aus, was nicht passierte:42 Labour konnte die konservative Major-Regierung nicht ablösen, die Konservativen wurden in Schottland nicht weiter dezimiert und der SNP gelang es trotz einer massiven Kampagne nicht, signifikante Fortschritte zu erzielen. Gestartet waren Labour und SNP mit großen Hoffnungen. Labour wollte die Unzufriedenheit mit der 1990 abgelösten Premierministerin Thatcher in einen klaren Wahlerfolg ummünzen. Und in Schottland versprach die SNP vollmundig, Schottland sei „free by 93“. Zudem positionierte sie sich als wahre Gegnerin der konservativen Partei und erstmals auch als klar europafreundlich (► Exkurs 2). Von Labour wurde die SNP hingegen als „Tartan Tories“ gebrandmarkt. Dies war der Versuch, SNP und Tories als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Gemessen an der monatelangen Auseinandersetzung in den Medien war die Wahlnacht eine große Ernüchterung für beide Oppositionsparteien, da John Major mit einer knappen Mehrheit im Amt blieb. Doch die langfristigen Auswirkungen waren enorm: Bei Labour in Schottland setzte sich nun endgültig die Überzeugung durch, dass der Machtlosigkeit gegenüber London durch ein eigenes Parlament in Edinburgh gegengesteuert werden müsse. Eine ähnliche Stimmung machte sich in Wales breit. 13 Jahre der ohnmächtigen Oppositionsarbeit hatten auch dort die Autonomie-Skeptiker bei Labour zermürbt. Nun winkten in Schottland und Wales zwei neue Machtbasen, die es zu gewinnen galt. Bei der SNP führte die Wahlniederlage dazu, dass sie den Verhandlungen zu einem Regionalparlament eine neue Chance gab, ohne jedoch dem Schottischen Verfassungskonvent beizutreten. Sie hatte zudem gelernt, dass es keinen einfachen Ausweg aus dem britischen Königreich gab, auch nicht über die EU – wie 1992 noch gehofft. Die Konservativen hingegen fühlten sich nunmehr sicher, dass sie die aus ihrer Sicht renitenten Schott:innen auf Dauer auf Abstand halten konnten.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Auf dieser Grundlage entwickelte sich rund um den koordinierenden Schottischen Verfassungskonvent bis 1997 ein klares Konzept für die Wiedereinführung eines Parlaments – ein Konzept, das diesmal von einer breiten politischen und gesellschaftlichen Basis jenseits der Tories mitgetragen wurde. Politisch gaben Labour und die Liberalen den Ton an, was für die Umsetzung auf britischer Ebene enorm wichtig war. Diese neue Stimmung wurde 1994 vom damaligen britischen Labour-Chef John Smith in dem berühmten Satz zusammengefasst, die Einrichtung eines eigenen Parlaments sei nunmehr der „feststehende Wille des schottischen Volkes“.43 Und er gab seiner Partei unmissverständlich mit auf den Weg, die Verwirklichung von Home Rule sei „unfinished business“. Der Schottische Verfassungskonvent veröffentlichte 1995 das Papier Scotland’s Parliament – Scotland’s Right. In diesem Papier sind viele der Grundlagen für den späteren Gesetzesentwurf enthalten. Damit hatte der Verfassungskonvent den Boden für die Wiedereinrichtung eines schottischen Parlaments erfolgreich bereitet. Alles wartete nun nur noch auf den Regierungswechsel in London.

1.5

Das neue schottische Parlament, 1999

Ein zweites Referendum Das Ende der Tory-Regierung 1997 war ein Urknall: Labour-Chef Tony Blair gewann am 2. Mai 1997 die größte Unterhausmehrheit, die eine Regierungspartei bis dahin jemals gewonnen hatte. In Schottland lag Labour glasklar vorne mit 56 von 72 Mandaten. Die Konservativen erhielten genau wie in Wales nicht ein einziges Mandat – sie waren schlichtweg implodiert. Bei dieser Zuspitzung war auch für die SNP nicht viel zu holen. Sie gewann aber mit sechs Mandaten leicht hinzu, die Liberalen hingegen gewannen zehn Mandate. Wie wichtig die Arbeit des Schottischen Verfassungskonvents gewesen war, zeigte sich nun an dem vergleichsweise atemberaubenden Tempo, das die neue britische Labour-Regierung nach dem Erdrutsch-Sieg an den Tag legte. Schon am 15. Mai reichte der neue Schottland-Minister Donald Dewar den Gesetzentwurf für ein Referendum zur Einrichtung eines schottischen Parlaments und einer walisischen Versammlung ein. Es war der erste Gesetzentwurf der neuen Regierung überhaupt. Im Juli wurde ein erläuterndes White Paper unter der schlichten Überschrift Scotland’s Parliament veröffentlicht und das Gesetz verabschiedet – und bereits am 11. September wurden das Referendum durchgeführt. Vielleicht um ganz sicher zu gehen, markierte der Referendumstermin just den 700. Jahrestag des historischen Sieges von „Braveheart“ William Wallace über eine englische Armee bei Stirling.44 Der Film Braveheart hatte zwei Jahre zuvor für Furore gesorgt. Vielleicht handelte es sich um ein Zugeständnis an die

1.5 Das neue schottische Parlament, 1999

37

SNP und ihre Wähler:innen. Denn nach all den Jahren der getrennten Auftritte war es von hoher Signifikanz, dass sich die SNP 1997 voll und ganz hinter die Referendumskampagne unter dem parteiübergreifenden Banner „Scotland Forward“ stellte. Der versprochene Übergang von „administrativer zu legislativer Dezentralisierung“ war selbst für SNP-Chef Alex Salmond „von großer Tragweite“.45 Um das SNP-Lager mit an Bord zu haben, ging Labour noch einen Schritt weiter: Nicht nur das Referendumsdatum, sondern auch Sean Connery spielte bei der Kampagne eine Rolle. Der bekennende SNP-Unterstützer traf sich zu einem Fototermin mit dem späteren Premierminister Gordon Brown auf dem Firth of Forth bei Edinburgh.46 Auch trat er gemeinsam mit den drei Parteichefs der Yes-Kampagne auf: Donald Dewar (Labour), Jim Wallace (Liberale) und Alex Salmond (SNP). Auf der anderen Seite versuchte Labour Bedenken zu zerstreuen, dass Devolution letztlich zur Unabhängigkeit führen würde. Schon der spätere Verteidigungsminister und NATO-Generalsekretär George Robertson hatte 1995 kategorisch verkündet: „Devolution wird den Nationalismus vollständig erledigen.“47 Nun kämpften jedoch Labour, Liberale und SNP gemeinsam für ein klares „Yes“. Nach dem Desaster von 1979 war die Lektion deutlich gewesen – nur vereint gab es eine Chance gegen die Autonomie-Skeptiker unter Führung der arg gebeutelten Tories. Diese demonstrative Einigkeit zahlte sich angesichts der jahrelangen Vorarbeit aus: Am 11. September 1997 stimmten 74 % der schottischen Wähler:innen für die Wiedereinrichtung eines schottischen Parlaments. 63 % stimmten zudem dafür, dem Parlament das Recht zu geben, auch den Einkommenssteuersatz begrenzt variieren zu können. Die Wahlbeteiligung lag bei etwas über 60 %.48 Deutlicher konnte der Unterschied gegenüber dem gescheiterten Referendum 1979 nicht ausfallen. Manche Beobachter:innen sprachen gar von einer „demokratischen Revolution“. Die Schott:innen hätten „ruhig, aber entschlossen die britische Verfassung fundamental und unwiderruflich geändert“.49 Fakt ist, dass der britische Einheitsstaat alter Prägung am Ende war, da in der Folgezeit auch in Wales, in Nordirland und in London neue Parlamente und Versammlungen entstanden.50 In Wales fand sich am 18. September 1997, eine Woche nach dem Schottland-Referendum, eine Mehrheit für die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung (Assembly), allerdings nur mit einer sehr knappen Zustimmung von 50,3 %. Vielleicht wäre das Ergebnis sogar negativ ausgefallen, hätte Schottland nicht so deutlich mit Ja gestimmt. In Nordirland ebnete 1998 das Karfreitagsabkommen den Weg zur Wiedereinführung einer nordirischen Versammlung und in London wurde 2000 nach der Wiedereinführung eines Kommunalparlaments erstmals auch ein Oberbürgermeister direkt gewählt. Das Schottland-Referendum entfaltete also durchaus eine gewisse Sogwirkung in anderen Landesteilen.

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

Das Parlament ist zurück Mit dem klaren Votum der schottischen Bevölkerung im Rücken ging der Schottland-Minister Donald Dewar daran, die gesetzlichen Grundlagen und die praktische Einrichtung des Parlaments voranzutreiben. 1998 wurde im Londoner Unterhaus der Scotland Act verabschiedet, der die Rechte, Zuständigkeiten und Pflichten des neuen Parlaments sowie die Größe des Parlaments und das WahlProcedere festlegte. Dabei folgte das Gesetz in vielen Punkten den Entwürfen des Schottischen Verfassungskonvents. Im Großen und Ganzen wurden dem neuen Parlament die Rechte und Zuständigkeiten zugebilligt, die bis dahin auch dem Schottland-Ministerium, dem Scottish Office zustanden. Dies waren und sind insbesondere die Zuständigkeit für Gesundheit, Bildung, Polizei, Justiz, Umwelt, Landwirtschaft, Fischerei und Sport. Eine sehr vorausschauende Entscheidung von Dewar war es, in dem Gesetz nicht diese einzelnen Rechte aufzuführen, sondern explizit nur diejenigen Bereiche, die weiterhin dem britischen Unterhaus und der britischen Regierung vorbehalten bleiben würden: Außen-, Verteidigungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik sowie britische Verfassungsfragen. Durch diesen Kniff öffnete er dem schottischen Parlament mehr zukünftigen Spielraum, weil er den Einfluss der britischen Ebene klar begrenzte – und er ging damit auch über den Entwurf des Schottischen Verfassungskonvents hinaus. Allerdings gibt es auch einige Graubereiche, die vor allem in den letzten Jahren für Schwierigkeiten sorgen: So verblieb in der Energiepolitik die wirtschaftlich enorm wichtige Förderung von Öl und Gas weiterhin im Zuständigkeitsbereich Westminsters. Gerade in Zeiten des Ausstiegs aus den fossilen Energien ergeben sich dadurch aktuell Reibungen zwischen London und Edinburgh. Auch die nukleare Sicherheit und der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke verblieb auf der UK-Ebene – ein weiterer späterer Streitpunkt. Und was damals noch nicht vorherzusehen war: Auf manchen Politikfeldern war 1998 natürlich noch die EU zuständig und damit die künftige Ansprechpartnerin für Edinburgh (z. B. in Fischerei-Fragen). Nach dem Brexit ist nunmehr London alleiniger Verhandlungspartner – eine weitere wichtige Konfliktfläche (► Kap. 4.5 und 5.2). Festgelegt wurde 1998 zudem, dass es in Schottland fortan eine Regierung geben würde, die aber aus unerfindlichen Gründen damals noch nicht so genannt werden sollte. Die „Scottish Executive“ (heute: „Scottish Government“) wird von einem First Minister geleitet, die oder der vom Parlament gewählt wird und dann ein eigenes Regierungsteam bestimmt. Im Prinzip ähnelt diese Konstruktion derjenigen der deutschen Bundesländer. Sehr wichtig für die Zusammensetzung des Parlaments war das Wahlrecht. Die Liberalen hatten im Schottischen Verfassungskonvent Labour erfolgreich dazu gebracht, für das schottische Parlament im Gegensatz zum britischen Parlament nicht das reine Mehrheitswahlrecht anzuwenden. Die schottische Lösung ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht: 73 Mandate

1.5 Das neue schottische Parlament, 1999

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werden nach dem Mehrheitswahlrecht direkt vergeben, 56 nach dem Verhältniswahlrecht über insgesamt acht Regionallisten. Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es nicht, die Zahl der 129 Mandate steht statisch fest. Die Zweitstimme für die Regionallisten ermöglicht auch kleineren Parteien, wie z. B. den schottischen Grünen, eine parlamentarische Vertretung. Das schottische Parlament ist so in seiner Zusammensetzung wesentlich breiter und vielfältiger als das Unterhaus in London zusammengesetzt (► Exkurs 1). Außerdem sollte das Wahlrecht absolute Mehrheiten erschweren. Koalitionen waren also von vornherein vorgesehen. Auch das unterscheidet Schottland von Westminster. Dort gelten Koalitionen als etwas Unerwünschtes. Klare Mehrheiten für eine einzige Partei werden bevorzugt. Dieser Unwillen, sich in Koalitionen zu Kompromissen durchzuringen, kann auch ein Grund sein, warum sich die britischen Regierungen, vor allem auf der konservativen Seite, so schwer mit der EU getan haben. Die Suche nach Kompromissen ist im britischen parlamentarischen System nicht verankert. In Schottland ging man jedenfalls einen anderen Weg. Und so wurde die erste Wahl zum schottischen Parlament am 6. Mai 1999 zu einem Testfall für das Gelingen des Autonomieprojekts. Wie erwartet gewann Labour bei einer Wahlbeteiligung von knapp über 58 % die Wahl, verfehlte aber mit 56 Mandaten (38,8 % der Erststimmen, 33,8 % der Listenstimmen) die absolute Mehrheit. Das war aufgrund des Wahlrechts erwartet worden. An zweiter Stelle kam die SNP mit 35 Mandaten (28,8 % der Erststimmen, 27,5 % der Zweitstimmen). Es folgten die Konservativen mit 18 (15,4 % der Zweitstimmen), die Liberalen mit 17 (12,5 % der Zweitstimmen) und die Grünen mit einem Mandat (3,6 % der Zweitstimmen).51 Labour und Liberale bildeten die erste Koalition, was nach der jahrelangen Zusammenarbeit im Schottischen Verfassungskonvent keine Überraschung war. Erster First Minister wurde Donald Dewar von Labour (► Exkurs 3).52 Die SNP hatte sich natürlich mehr versprochen, freundete sich aber mit der Rolle als größter Oppositionspartei durchaus an. Denn zum einen hatte die SNP endlich ein neues, rein schottisches Aktionsforum gefunden und zum anderen waren die 35 Abgeordneten, die man 1999 erringen konnte, genauso viele Parlamentarier:innen, wie die SNP bis dato in ihrer gesamten Geschichte bei Unterhauswahlen insgesamt gewonnen hatte. Johns und Mitchell verweisen deshalb zu Recht auf „die schiere Größe“ der neuen SNP-Fraktion.53 Der spätere SNPFraktionschef im Unterhaus und heutige Außenminister der schottischen Regierung, Angus Robertson, äußerte sich zudem optimistisch, dass „Oppositionen irgendwann die Wahl gewinnen“.54 Kurios war das Ergebnis für die Konservativen: Sie hatten die Einrichtung des Parlaments vehement bekämpft, hielten Devolution für eine große Gefahr für das britische Königreich und waren auch strikt gegen jede Form des Verhältniswahlrechts. Doch ohne letzteres und ohne schottisches Parlament wäre ihnen nach dem Wahldebakel von 1997 überhaupt kein parlamentarisches Comeback in Schottland möglich gewesen. Nach reinem Mehrheitswahlrecht wäre kein

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1 Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

einziger Konservativer im neuen Parlament vertreten gewesen. Die Tories waren also Gewinnerinnen wider Willen. Unter diesen Vorzeichen eines sich deutlich wandelnden politischen Systems eröffnete die Queen am 1. Juli 1999 persönlich das neue Parlament in Edinburgh. In ihrer Eröffnungsrede sprach die Queen zu Recht von „einem neuen Verfassungszeitalter“.55 First Minister Dewar verwies in einer viel beachteten Rede auf den langen Weg zur Parlamentseröffnung: „‚Es wird ein schottisches Parlament geben.‘ Viele Jahre lang waren diese Worte zunächst eine Hoffnung, dann eine Überzeugung, dann ein Versprechen. Nun sind sie Realität. Dieser Moment ist in unserer Geschichte verankert.“56

Bereits am 12. Mai waren die neuen Parlamentarier:innen vereidigt worden. Als älteste Abgeordnete wurde Winnie Ewing (SNP) als erste vereidigt. Die Wahlsiegerin von 1967 in Hamilton stellte den Bezug zum alten schottischen Parlament her: „Das schottische Parlament, das sich am 25. März 1707 vertagte, ist hiermit wieder zusammengetreten.“57 Noch zehn Jahre zuvor hätte niemand darauf wetten wollen. Doch am Ende war es für politische Verhältnisse rasend schnell gegangen.

Abb. 6:

Queen Elizabeth mit First Minister Donald Dewar (links) bei der offiziellen Eröffnung des neuen schottischen Parlaments 1999.

Exkurs 1: Westminster und der britische Einheitsstaat

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Exkurs 1: Westminster und der britische Einheitsstaat In einem „vereinigten“ Königreich könnte man annehmen, dass die einzelnen Bestandteile – in welcher Weise auch immer – in die gemeinsame Entscheidungsfindung und Regierung mit eingebunden werden. Doch der britische Staat war trotz des offiziellen Titels niemals ein föderaler Staat und auch kein Staat, in dem die „vereinigten“ Königreiche Schottland und Irland58 separate politische Entscheidungsgremien hatten, was ja die Ausgangslage für alle Home-Rule-Forderungen war. Bis zum Ende des 20. Jh. handelte es sich im Gegenteil um einen politisch sehr zentralisierten Einheitsstaat. Das politische Synonym hierfür heißt in Großbritannien schlicht „Westminster“ – Sitz des britischen Unter- und Oberhauses in London. Grundlage für das britische Regierungssystem ist das vor mehr als 300 Jahren in der sogenannten Glorious Revolution von 1688/89 zwischen Krone und Parlament ausgehandelte Machtverhältnis. Danach geschieht politisch alles im Namen der Krone, die eigentliche Macht wird aber vom Parlament ausgeübt – und hier wiederum zunehmend vom Unterhaus, dem House of Commons, und nur noch sehr eingeschränkt vom Oberhaus, dem House of Lords. Eine geschriebene Verfassung, die all das kodifiziert, gibt es nicht. So beruht die Rechtsprechung zum einen auf den parlamentarischen Gesetzen und ansonsten auf Gewohnheitsrecht. Dieses politische Rechtsverständnis hat konkrete Folgen: Zwar setzt die jeweilige Königin oder der König als Staatsoberhaupt die Premierminister:innen ein. Die Regierung firmiert auch offiziell unter dem Namen „H. M. Government“ – die Regierung Ihrer bzw. Seiner Majestät. Die Queen trägt zudem einmal im Jahr im vereinten Unter- und Oberhaus das Regierungsprogramm „ihrer“ Regierung vor. Doch dieses Programm wird ihr von der jeweiligen Premierministerin oder dem Premierminister geschrieben. Die:der Regierungschef:in wird gemäß der Mehrheitsverhältnisse im Parlament vorgeschlagen. Ein Mitspracherecht hat die Queen nicht.

Parlamentarische Souveränität Da es keine geschriebene Verfassung in Großbritannien gibt, kann die jeweils regierende Partei auch weitreichende Entscheidungen mit Grundrechts- und Verfassungscharakter mit einer einfachen Mehrheit im Unterhaus verabschieden. Genauso können auch alle Entscheidungen wieder mit einfacher Mehrheit zurückgenommen werden. Verfassungsändernde Zweidrittelmehrheiten, wie wir sie in Deutschland kennen, sind nicht notwendig. Damit entfällt bei grundlegenden Fragen auch der Zwang zum Kompromiss, um ggf. Oppositionsparteien mit an Bord zu nehmen.

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Dieses Prinzip der unbeschränkten parlamentarischen Souveränität wurde Ende des 19. Jh. vom englischen Verfassungsrechtler Albert Venn Dicey ausbuchstabiert und quasi festgeschrieben: Das Parlament sei das „dominante Merkmal unserer politischen Institutionen“. Es habe nach der „englischen Verfassung“ (sic!) das Recht, jede Art von Gesetz zu verabschieden oder auch wieder zurückzunehmen. „Keine Person oder Institution hat nach englischem Recht die Macht, ein Gesetz des Parlaments aufzuheben oder außer Acht zu lassen.“59 Diese Kernsätze sind zum Verständnis der britischen Verfassungswirklichkeit – und damit auch der gesamten Autonomiediskussion rund um Schottland und Wales, aber auch der Brexit-EU-Debatte – von elementarer Bedeutung. Zum einen wird ganz klar, was Dicey unter dem Vereinigten Königreich versteht – eine Version von England. Dieses regional sehr begrenzte Verständnis Großbritanniens war im beginnenden 20. Jh. vor allem in der Irland-Frage fatal (► Exkurs 4). Es ist aber auch bis heute die Grundlage für die Beschwerden aus Schottland, dass Westminster im Prinzip nur auf England schaue und die keltischen Nationen „am Rande“ der britischen Inseln völlig außer Acht lasse. Denn vom Prinzip her kann das britische Parlament gemäß Dicey z. B. auch den Vereinigungsvertrag zwischen Schottland und England von 1707 in jeder beliebigen Weise neu interpretieren oder durch eine neue Regelung ersetzen. Ohne ein gleichberechtigtes schottisches Parlament als Gegenstück gäbe es nach dem Souveränitätsprinzip keine Möglichkeit, dies zu verhindern. Insbesondere bei Margaret Thatcher und Boris Johnson scheint Dicey mit seiner pro-englischen und pro-zentralistischen Verfassungsauslegung immer wieder durch. Das DiceyDogma der uneingeschränkten parlamentarischen Souveränität für Westminster wird deshalb in den „keltischen“ Landesteilen immer auch als im Wesen durchaus anti-schottisch, anti-irisch oder anti-walisisch gesehen. Zum anderen hält Dicey – ein Kind des imperialen Zeitalters – nichts von Einschränkungen für den Souverän. Und damit ist hier eben nicht die Queen als Staatsoberhaupt gemeint, sondern das Westminster-Parlament. Diese Einschätzung wird bis heute weitgehend akzeptiert in Großbritannien. So heißt es selbst im White Paper Scotland’s Parliament zur Einrichtung des schottischen Parlaments 1997 noch unmissverständlich: „Das britische Parlament ist und wird in allen Fragen souverän bleiben.“60 Auch der schottische Politikwissenschaftler James Mitchell stellte noch 1992 fest: „Eine souveräne Macht kann nicht gleichzeitig ihren souveränen Charakter beibehalten und ihre eigene Machtfülle durch bestimmte Akte begrenzen. ‚Beschränkte Souveränität‘ ist kurz gesagt im Falle eines Parlaments oder eines anderen Souveräns ein begrifflicher Widerspruch.“61

Wer so denkt, wird sicherlich nur höchst ungerne föderale Strukturen aufbauen, unwiderruflich Macht an regionale Parlamente übertragen oder eben Macht und Souveränität mit der EU teilen wollen. Dieses Konzept der uneingeschränkten parlamentarischen Souveränität ist auf dem Kontinent nie wirklich verstanden

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worden, weil es mit den politischen Realitäten in allen parlamentarischen Demokratien in klarem Widerspruch steht. Ungeteilte Souveränität ist ein Wunschbild. Interessanterweise war dies vielen britischen Politiker:innen schon in der ersten Hälfte des 20. Jh. bewusst. Das britische Parlament hatte nach dem Ersten Weltkrieg seine Machtbefugnisse zunächst mit den Kolonien und Dominions wie Kanada und Australien geteilt, aber auch mit dem neu entstandenen Irish Free State. 1931 gab Westminster seine Macht- und Kontrollbefugnisse dann ganz ab. Der britische Lordkanzler Lord Sankey hatte 1935 deshalb darauf hingewiesen, dass Westminster natürlich abstrakt betrachtet diese Machtübertragung wieder zurücknehmen könnte. „Aber das ist reine Theorie und hat keinen Bezug zur Realität.“62 Mit anderen Worten, die uneingeschränkte parlamentarische Souveränität außerhalb des britischen Kernlands war durch die politischen Realitäten deutlich begrenzt worden. Dass Diceys theoretisch strikte Souveränitätsauslegung selbst im 21. Jh. noch immer – oder wieder – stark debattiert wird und letztlich als Grundlage für den ganzen Brexit herangezogen wurde, ist ein erstaunlicher Fakt. „Souveränität“ wurde für die britische Regierung zum Mantra bei den Brexit-Verhandlungen, ungeachtet möglicher negativer Konsequenzen für Großbritannien: „Die Fixiertheit des Vereinigten Königreichs auf die eigene Souveränität dominierte die Verhandlungen, Forderungen und Aktivitäten [der Regierung]. Das beschränkte auf dramatische Weise die Einigungsmöglichkeiten für das Vereinigte Königreich und auch die Angebote, welche die EU machen konnte.“63

Für Schottland geht es bei der Souveränitätsfrage darum, wie weitreichend eigentlich die Rechte des schottischen Parlaments sein können, wenn sie sich doch nur aus der „Souveränität“ des Westminister-Parlaments ableiten und letztlich von gesetzlichen Regelungen in London abhängen.64 Die Gesetze werden natürlich in der Regel von der Regierung eingebracht und nicht vom Parlament. Somit ist die Souveränität des Parlaments eine Illusion, weil eigentlich die Exekutive die Richtlinien vorgibt. Das zeigte sich besonders deutlich an der Empörung der Regierungen May und Johnson, als sich das Unterhaus 2019 bei unklaren Machtverhältnissen im Parlament „erdreistete“, die Tagesordnung für die Brexit-Debatten zum Teil in eigener Verantwortung zu übernehmen und eigene Initiativen zu beraten. Dieses proaktive parlamentarische Vorgehen hätte eigentlich große Begeisterung für Anhänger von Dicey und des Brexit-Slogans „Take back control“ auslösen müssen. Es überrascht jedoch nicht, dass die Regierung nicht begeistert war. An diesem Punkt offenbarte sich ein scharfer Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der parlamentarischen Souveränität. Die jetzige Regierung Johnson lässt dem Parlament deshalb nur wenig Freiraum für eigene Initiativen. Für Schottland bedeutet diese Debatte aktuell, dass nicht nur die SNP und die schottische Regierung immer wieder die Frage aufwerfen, wie fest verankert

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denn das schottische Parlament selbst nach mehr als 20 Jahren eigentlich ist und wer die Grenzziehung zwischen den Kompetenzen des britischen und des schottischen Parlaments festlegt.65 Als warnendes Beispiel wird dabei auf die Auflösung des Greater London Council (Groß-London-Rat) 1986 durch Margaret Thatcher verwiesen. Diese Kommunalbehörde war erst 1965 von Labour durch einen Parlamentsbeschluss eingeführt worden, doch Thatcher sagte der von Labour dominierte Rat nicht zu, also ließ sie ihn durch einen neuen Parlamentsbeschluss einfach wieder abschaffen. Das war auf den ersten Blick Diceys Parlamentssouveränität in Reinform – allerdings versteckte sich dahinter im Prinzip eine Regierungsanordnung, die nur durch einen parlamentarischen Beschluss sanktioniert wurde.

Die Krone Ein interessanter Faktor der britischen Verfassungswirklichkeit ist der Umstand, dass ungeachtet der Vorrangstellung von Parlament und Regierung sich theoretisch noch immer alle Macht von der Krone in Großbritannien ableitet. Diese Macht war sowohl in England wie auch in Schottland schon früh eingegrenzt worden – in England bereits erstmals 1215 durch die Magna Carta. In Schottland spielte das Parlament im 16. und 17. Jh. bei der Durchsetzung der Reformation gegen den entschiedenen Widerstand der damaligen Monarch:innen eine entscheidende Rolle. Seit der Glorious Revolution und der Bill of Rights von 1688/89 ging die Macht in England immer stärker von der Monarchie auf das Parlament über, das ab der Vereinigung mit Schottland 1707 zu einem britischen Parlament wurde. Doch ungeachtet aller realen Einschränkungen bezieht sich die gesamte Regierungsarbeit in London sowie in Schottland, Wales und Nordirland bis zum heutigen Tag offiziell weiterhin auf die Krone. Die:der Monarch:in ist weiterhin das Staatsoberhaupt und so ist die britische Regierung offiziell die „Regierung Ihrer bzw. Seiner Majestät“. Das Kürzel „H. M.“ steht für „Her/His Majesty’s“ und ist allen Regierungsbehörden im Namen vorangestellt. Alle Gesetze in Großbritannien treten erst mit der „royalen Zustimmung“ in Kraft – in Deutschland in etwa vergleichbar mit der Unterschrift des Bundespräsidenten. Die:der Premierminister:in wird offiziell von der:m Monarch:in mit der Regierungsbildung beauftragt. Dazu fährt die:der künftige Premierminister:in nach einer Wahl oder bei einer Amtsübergabe traditionsgemäß in den Buckingham Palace zur:m Monarch:in. An diesem Punkt findet übrigens keine Abstimmung im Parlament statt, von Parlamentssouveränität ist hier gar nicht erst die Rede.66 Die Queen ist zwar gehalten, sich politisch absolut neutral zu verhalten, führt aber mit jeder:m Premierminister:in einmal die Woche ein Gespräch zu den aktuellen Regierungsgeschäften. Es ist eines der bestgehütesten Geheimnisse Londons, was die Queen mit den jeweiligen Regierungschefs in den letzten 60 Jahren besprochen hat und welche Ratschläge oder Wünsche sie ggf. geäußert

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hat – und ob dadurch die Regierungspolitik an dieser oder jener Stelle tatsächlich beeinflusst wurde. Üblicherweise einmal im Jahr liest die Queen vor dem gemeinsam versammelten Unter- und Oberhaus in London in einer Thronrede das Regierungsprogramm für das kommende Jahr vor. Diese Rede wird ihr von der Regierung – also der:m Premierminister:in – geschrieben. Aber mit viel Pomp wird der formale Anschein gewahrt, dass es sich eben um die „Regierung Ihrer Majestät“ handelt. Mit der Eröffnung der Regionalparlamente in Schottland, Wales und Nordirland 1998/99 erhielt die Queen neue zeremonielle Zuständigkeiten, die von Landesteil zu Landesteil variieren. In Schottland werden die First Minister im Gegensatz zum Unterhaus vom Parlament gewählt, dann vereidigt und von der Queen offiziell im Amt bestätigt. Die von Edinburgh recht weite Fahrt in den Buckingham Palace entfällt. Die Parlamentsmitglieder werden aber auf die Krone vereidigt. Die Monarchin bekommt zudem einmal wöchentlich Berichte über das Parlamentsgeschehen in Edinburgh. Sie war sowohl zur Parlamentseröffnung 1999 wie auch zur Eröffnung des jetzigen Parlamentsgebäudes 2004 persönlich anwesend. Ganz nebenbei: Ihre offizielle Residenz in Schottland – der Palast von Holyroodhouse in Edinburgh – liegt direkt gegenüber vom Parlament, sodass sich Monarchin und Parlament quasi gegenseitig auf den Schreibtisch schauen können. Bei der jetzigen Queen ist zudem bekannt, dass sie eine große Vorliebe für Schottland hat und in Edinburgh sowie auf ihrem Landsitz Balmoral in den Highlands regelmäßig ihren Sommerurlaub verbringt. Angesichts ihrer absoluten Neutralitätsverpflichtung kam einer öffentlichen Bemerkung der Queen im unmittelbaren Vorfeld des schottischen Unabhängigkeitsreferendums 2014 große Beachtung zu (► Kap. 2.3). Andererseits wurde die Queen 2019 von einigen Seiten kritisiert, weil sie sich nicht dem Versuch der Johnson-Regierung widersetzte, das Unterhaus zur Verhinderung weiterer Brexit-Debatten in eine deutlich verlängerte Sommerpause zu schicken. Erst die Gerichte erklärten die Johnson-Maßnahme für unrechtmäßig (► Kap. 2.5 und 4.1). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Rolle der Monarchie überwiegend eine zeremonielle ist, die aber als eine verfassungsrechtliche Klammer für das britische Regierungssystem dient. Unbestritten ist die Monarchie ein stabilisierender Faktor für den Erhalt des Vereinigten Königreiches. Inwieweit sich dies nach dem Tod der Queen ändern wird, ist derzeit völlig offen (► Kap. 4.2).

Home Rule und Devolution Wenn es in Großbritannien um Autonomiefragen geht, dann hört man immer wieder zwei Begriffe: Home Rule und Devolution. Home Rule ist ein auf die IrlandFrage im 19. Jh. zurückgehender Begriff und bedeutet eine unumkehrbare Gewaltenteilung zwischen dem Westminister-Parlament und dem Parlament des betreffenden Landesteils. Bei Home Rule verbleiben auf der zentralen britischen

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Ebene im Prinzip nur die Außen- und Verteidigungspolitik sowie die Währungsund Handelspolitik. Alles andere würde an die Landesvertretung weitergereicht. Ein großer Knackpunkt bei der Einführung von Home Rule ist aber die dafür höchstwahrscheinlich notwendige schriftliche Verfassung, die es in Großbritannien wie gesagt nicht gibt.67 Home Rule war für Irland und Schottland vor dem Ersten Weltkrieg im Gespräch, kam aber nicht zur Umsetzung. Etwas Vergleichbares wurde den Schott:innen aber auch in den letzten Tagen vor dem Referendum 2014 versprochen. Devolution hingegen ist ein wesentlich begrenzteres Konzept. Der englische Begriff beschreibt das „Hinunterreichen von bestimmten Machtbefugnissen an eine untergeordnete Versammlung, innerhalb einer ansonsten unveränderten Verfassung.“68 Man könnte also auch von Dezentralisierung sprechen. Devolution lässt die Souveränität des Parlaments von Westminister unangetastet und kann deshalb im Prinzip von Westminster auch jederzeit wieder zurückgenommen werden. Auch der Rechtekatalog für die Regionalvertretungen ist wesentlich eingeschränkter und muss regelmäßig neu verhandelt werden. Genau das passiert in Schottland seit Jahren immer wieder, denn Schottland bekam 1999 eine Devolution-Regelung angeboten und kein Home Rule. In den letzten Jahren kamen neue Begriffe auf den Markt: „Devolution Plus“ oder „Devo Max“ bezeichnen Zwischenlösungen zwischen dem tatsächlichen Zustand in Edinburgh und einer umfassenden, vertraglich und verfassungsrechtlich unangreifbar verankerten Home-Rule-Regelung.69 Allein die Vielzahl der Begrifflichkeiten macht schon deutlich, wie schwierig eine Lösung in Verfassungsfragen ist und wie schwammig manche Konzepte sind. In der Realität führen unklare Zuständigkeiten regelmäßig zu politischen Konflikten. Genau das passiert in Schottland seit dem Brexit-Referendum (► Kap. 2.5 und 5.2). Nicht einfacher wird die Lage durch Forderungen nach einem föderalen Umbau des Vereinigten Königreichs, etwa nach deutschem Vorbild. Für einen derartigen Föderalismus gibt es insbesondere in England keine nachhaltige Unterstützung.

Devolution in der Praxis In der Praxis hat sich gerade in den Blair-Jahren an vielen Stellen eine Regionalisierung der Macht ergeben: In Schottland und Wales geschah dies parallel 1999. Für Nordirland wurde im Rahmen des Karfreitagsabkommens 1998 ebenfalls die Wiedereinführung einer eigenen Regionalversammlung samt eigener Exekutive vereinbart (► Exkurs 4). London erhielt 2000 die neue Greater London Authority mit einem direkt gewählten Oberbürgermeister. Ironischerweise war es genau dieses Amt, das den politischen Aufstieg des jetzigen Premierministers Johnson ermöglichte: Er war von 2008 bis 2016 OB von London.

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Weitere Regionalisierungsversuche für England blieben in Ansätzen stecken. So kam es 2004 zu einem Referendum für regionale Vertretungen im Norden von England, das mit großer Mehrheit negativ ausging. Das überraschte, weil sich der Norden Englands oft – ähnlich wie Schottland oder Wales – von London vernachlässigt fühlt. Eine eigene nordenglische Regionalversammlung hätte wahrscheinlich viele Gemeinsamkeiten mit Schottland und Wales offenbart und so vielleicht zu einer anderen Ausrichtung der politischen Autonomiedebatten geführt. 2017 wurde jedoch erstmals ähnlich zu London ein Oberbürgermeister für Greater Manchester direkt gewählt. Insgesamt scheint der Appetit in England nach eigenen Regionalversammlungen jedoch nicht sehr groß zu sein. Warum sich die englischen Regionen keine eigenen Vertretungen wünschen, bleibt ein Rätsel. Im Ergebnis gibt es dadurch eine große Lücke in der Wahrnehmung von Devolution zwischen England und den anderen Landesteilen. Wird in England stärker auf die Souveränität des Westminster-Parlaments hingewiesen, so wird in den anderen Landesteilen eher auf die Beschränkung dieser hingearbeitet. Das führt perspektivisch zu einer Vertiefung der Spaltung zwischen den Landesteilen. 2016 befasste sich auch das britische Oberhaus mit der schwierigen Devolution-Frage. Es stellte fest, dass die bisherigen Anstrengungen eher Stückwerk seien und nicht einem verlässlichen System von Prinzipien folgen würden.70 Die Lords waren aber z. B. gegen föderalistische Strukturen für das Vereinigte Königreich und auch gegen volle fiskalische Autonomie für einzelne Landesteile. Diese Ablehnung war schlecht für das schottische Autonomiebestreben. Ist also die Existenz des schottischen Parlaments dauerhaft gesichert, unabhängig von den Fragen der konkreten Befugnisse? Das White Paper von 1997 zur Wiedereinführung des schottischen Parlaments war in diesem Punkt optimistisch, aber nicht verbindlich: „Die [britische] Regierung geht jedoch davon aus, dass die Unterstützung der Bevölkerung für das schottische Parlament, wenn es etabliert ist, sicherstellen wird, dass seine Zukunft in der Verfassung des Vereinigten Königreichs gesichert ist.“71

Was diese Hoffnung unter Premierminister Boris Johnson zu bedeuten hat, wird sich noch zeigen müssen. Johnson war, wie oben erläutert, ein politisch Begünstigter der Blair’schen Devolution-Politik. Aber als Premierminister sieht er naturgemäß eher die machtpolitischen Beschränkungen, die ihm die regionalen Autonomierechte auferlegen. Mitte November 2020 löste er einen kleinen Skandal aus: Mehrere Medien berichteten, Johnson habe die Autonomieregelung für Schottland als „Desaster“ bezeichnet (► Kap. 2.5 und 5.2).72 An der Frage, wie sicher die Autonomierechte letztlich politisch verankert sind und wie stark sie von der britischen Regierung respektiert werden, entscheidet sich auch, inwieweit das britische Establishment bereit ist, auf Dauer Abschied zu nehmen von der Idee eines uniformen britischen Staats, der letztlich politisch in allen wichtigen Fragen nur vom Unterhaus regiert wird. Diese

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Frage ist mehr als 20 Jahre nach Einrichtung der Parlamente in Schottland und Wales noch nicht dauerhaft entschieden – auch weil es keine allgemeinverbindlichen verfassungsrechtlichen Garantien gibt.

Beispiel Wales An dieser Stelle soll kurz der zweite „keltische“ Landesteil vorgestellt werden, der von der Devolution-Politik Tony Blairs profitiert hat: Wales. Im Vergleich zu Schottland gibt es sowohl Ähnlichkeiten wie auch größere Unterschiede, die in der Geschichte begründet liegen, sich aber auch aktuell am Wahlverhalten festmachen. Historisch betrachtet, war Wales kein selbstständiges Königreich wie Schottland. Wales wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jh. vom englischen König Edward I. erobert und dem englischen Königreich als Fürstentum eingegliedert. Das bedeutet bis heute konkret, dass viele Gesetze und Bestimmungen sowohl für England und Wales gemeinsam gelten, in Schottland aber anders gehandhabt werden (können). Edward schuf zudem für seinen Sohn und Thronfolger den neuen Titel „Prince of Wales“. Dieser Titel wird bis heute für die jeweiligen britischen Thronfolger verwendet. Insofern kann Wales nur sehr begrenzt auf eine eigene erfolgreiche staatliche Geschichte zurückgreifen. Ganz ähnlich wie in Schottland haben sich jedoch Reste der alten keltischen Kultur erhalten, die sich u. a. im Walisischen ausdrücken. Die Sprache ist jedoch eher mit dem Bretonischen und dem weitestgehend ausgestorbenen Kornischen verwandt als mit dem Irischen oder dem schottischen Gälisch. Politisch wurde Wales lange im Windschatten der Home-Rule-Bewegung für Irland und Schottland mitgezogen. Diese passivere Rolle führte dazu, dass es dann bei den diversen Anläufen zu Autonomieregelungen oftmals für Wales schlechtere politische Angebote gab als für Schottland – und sie stießen nicht immer auf Begeisterung. So gab es 1979 in Wales, wie schon erwähnt, ebenfalls ein Referendum zur Einführung einer parlamentarischen Versammlung. Auch in Wales hatte sich mit Plaid Cymru eine nationalistische Partei gebildet, die in den 1970er-Jahren erste Wahlerfolge erzielen konnte. Allerdings kam Plaid Cymru nicht an den Erfolg der SNP heran. Der erste Parlamentsanlauf wurde zudem mit rund 80 % der abgegebenen Stimmen von der Bevölkerung rundweg abgelehnt. 1997 profitierte Wales dann erneut von der starken Autonomiebewegung in Schottland, indem der Landesteil ebenfalls ein zweites Referendum für eine „Walisische Versammlung“ zugebilligt bekam. Und dieses Mal stimmte eine Mehrheit für den Vorschlag, allerdings mit einer nur hauchdünnen Mehrheit von 50,3 %. Die Versammlung nahm genau wie in Schottland 1999 ihre Arbeit auf, allerdings mit deutlich weniger Machtbefugnissen.73 Doch die Waliser:innen scheinen Gefallen an der Autonomie gefunden zu haben. Bei einem weiteren Referendum 2011 stimmten sie mit über 63 % der Stimmen für eine Ausweitung der

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Befugnisse und damit für mehr politische Eigenständigkeit gegenüber London. Dies wurde dann in mehreren Schritten umgesetzt, zuletzt 2017. Damit näherte sich Wales dem politischen Status von Schottland immer stärker an. 2020 benannte sich die „Nationalversammlung“ selbstbewusst in Senedd Cymru – „walisischer Senat“ – um.74 Die Regierung in der Hauptstadt Cardiff steht seit 1999 fortdauernd unter Labour-Führung. Zuletzt errang Labour im Mai 2021 mit 36,2 % der Zweitstimmen die Hälfte der 60 Senedd-Sitze. Mike Drakeford blieb First Minister. Plaid Cymru kam mit 20,7 % der Zweitstimmen hinter den Konservativen auf Platz drei und errang 13 Sitze.75 Während die Waliser:innen also durchaus mehr Eigenständigkeit von London wünschen, so spielt die Unabhängigkeitsfrage keine nennenswerte Rolle in Wales. Und noch in einem anderen wesentlichen Punkt unterscheidet sich das Wahlverhalten deutlich von dem in Schottland. Beim Brexit-Referendum 2016 stimmten in Wales 52,5 % für den EU-Austritt.76 Von einer „keltischen Einheitsfront“ kann also keine Rede sein. Politisch machen die schottische und walisische Regierung zwar oft gemeinsame Sache – zum Teil auch mit der nordirischen Regierung – gegen umstrittenen Projekte der britischen Regierung, aber auch hier hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Opposition gegen „London“ von walisischer Seite gelegentlich weniger intensiv ist. Die Regierung in Cardiff konnte ja zum Beispiel nicht gegen den Brexit Sturm laufen, wenn die eigene Bevölkerung diesen mehrheitlich wünschte. Insgesamt scheint die Autonomieregelung für Wales jedoch sehr stabil zu sein. Ob das gegen Vereinnahmungsversuche der Johnson-Regierung auf Dauer schützt, muss hier dahingestellt bleiben.

Die politischen Auswirkungen des Wahlrechts Ein entscheidendes Charakteristikum der britischen Politik ist das strikte Mehrheitswahlrecht für alle Unterhauswahlen. Es werden mit einer einzigen Stimme pro Person nur Direktkandidat:innen in ihren jeweiligen Wahlkreisen gewählt. Im Englischen wird dies als „First-Past-The-Post“-System beschrieben. In der Realität bedeutet dies, dass nur die:derjenige Kandidat:in politisch mit einem Unterhausmandat belohnt wird, auf die:den die meisten Stimmen entfallen. Alle anderen Kandidat:innen und Parteien gehen leer aus. Dieses Mehrheitswahlrecht bevorzugt natürlich die beiden großen Parteien der Tories und Labour. Ein ausgeprägtes Mehrparteiensystem ist so im Unterhaus für die britische Politik nie wirklich entstanden, auch wenn die letzten Jahre durch den zeitweiligen Aufschwung der Liberalen und dann der SNP durchaus gewisse Änderungen mit sich gebracht haben. Die vorgezogenen Unterhauswahlen vom 12. Dezember 2019 illustrieren die Auswirkungen des Mehrheitswahlrechts auf die Sitzverteilung sehr deutlich: Auf britischer Ebene gewannen die Tories unter Boris Johnson mit 43,6 % der

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Stimmen 365 der 650 Sitze, die Liberalen mit 11,6 % der Stimmen gewannen hingegen nur 11 Sitze.77 In Schottland bevorzugt das Mehrheitswahlrecht bei Unterhauswahlen mittlerweile die SNP, die mit 45 % der Stimmen 48 der 59 schottischen Sitze errang. Hier kamen die Tories mit 25,1 % der Stimmen nur auf sechs Mandate, Labour mit 18,6 % der Stimmen sogar nur auf ein einziges. Die zum Teil enormen Ungleichgewichte und Verzerrungen sind offensichtlich – aber eine Reform des Wahlrechts ist auf britischer Ebene nicht in Sicht. Als Grund für das Mehrheitswahlrecht wird zumeist der Wunsch nach stabilen Mehrheitsverhältnissen angegeben. Koalitionen – und damit der Zwang zu Kompromissen – werden vom britischen Polit-Establishment eher als lästig gewertet. Allerdings gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder nennenswerte Ausnahmen von der Regel: So konnte Labour bei der ersten Wahl 1974 keine Mehrheit erringen und nach der zweiten Wahl 1974 diese dann nicht über fünf Jahre hinweg behaupten. Die Partei war auf Unterstützung der Liberalen und der SNP angewiesen. Nach 1992 war die konservative Major-Regierung zunehmend auf unionistische Stimmen aus Nordirland angewiesen, genau wie auch die May-Regierung nach 2017. Und 2010–2015 regierte eine konservativliberale Koalition unter David Cameron und Nick Clegg. Andererseits ist gerade in Schottland die Regierungszeit von Margaret Thatcher in düsterer Erinnerung geblieben, die mit ihrer britischen Parlamentsmehrheit – ohne jemals über eine absolute Mehrheit der Wahlstimmen zu verfügen, schon gar nicht in Schottland – grundlegende politische Veränderungen im Lande herbeiführte. Ähnliche Vorwürfe werden nunmehr an Premier Johnson gerichtet. Die elf Thatcher-Jahre führten dazu, dass sich der Schottische Verfassungskonvent in den 1990er-Jahren für das schottische Parlament auf eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht festlegte – so wie es dann auch für die walisische Versammlung beschlossen wurde. Wer im schottischen Parlament eine absolute Sitzmehrheit erringen will, muss diese auch mit einem Mindeststimmenanteil unterlegen, der deutlich näher an 50 % liegt als beim Mehrheitswahlrecht. Dass die SNP 2011 aufgrund ihres außerordentlichen Wahlerfolgs mit 45,4 % der Erststimmen und 44,7 % der Listen-Wahlstimmen, den sogenannten Regionalstimmen, tatsächlich die eingebaute Mehrheitsbarriere durchbrechen würde, war den Architekt:innen des schottischen Parlaments nicht sehr wahrscheinlich erschienen – und war in einem Fünf-Parteien-System auch nicht unbedingt zu erwarten (► Kap. 2.2 und 3.1). Aber die absolute Mehrheit der Sitze verdankte sich der Tatsache, dass das schottische Wahlrecht aufgrund des Übergewichts von 73 Direktmandaten gegenüber 56 Listenmandaten – und ohne jegliche Ausgleichsmandate – solche Parteien leicht bevorzugt, die sehr viele Direktmandate gewinnen. Das war 2011 für die SNP der Fall. Und es ist durchaus erstaunlich, dass niemand diese Möglichkeit im Vorfeld ernsthaft durchgerechnet hatte.

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Wie gut die Barriere gegen absolute Mehrheiten im Parlament aber eigentlich wirkt, zeigte sich 2016 und 2021, als die SNP mit ähnlichen Wahlergebnissen die absolute Mehrheit jeweils knapp verfehlte (► Kap. 2.4 und 5.1). Bei einem reinen Mehrheitswahlrecht wäre Schottland heute parlamentarisch im Prinzip ein SNP-Einparteienstaat mit geringen Resten von Opposition. Selbst überzeugte Anhänger:innen eines reinen Mehrheitswahlrechts können sich solche undemokratischen Zustände nicht wünschen. Am Wahlrecht zeigt sich also ein deutlicher politischer Unterschied zwischen England, Schottland und Wales – in Schottland und Wales werden Mehrparteien-Systeme, Koalitionen und politische Kompromisse nicht per se als unerwünscht abgetan. Diesen Schritt ist man in Westminster bislang nicht mitgegangen – hier gilt weiterhin: The winner takes it all.

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Risse in der Union

Wenn die ersten Jahre der neuen Autonomieregelung für Schottland vergleichsweise ruhig verliefen, so ging es in den letzten Jahren umso turbulenter zu. Die politischen Risse zwischen Schottland und dem restlichen Vereinigten Königreich wurden immer deutlicher. Die heutigen politischen Verhältnisse und Machtkonstellationen erinnern nur noch vage an den Zustand von 1999. Gleich zwei Referenden sorgten für internationale Schlagzeilen und die SNP dominiert seit 2007 die schottische Parteienlandschaft. Wie kam es zu diesen dramatischen Verschiebungen in der schottischen und britischen Politik? Und welche Konsequenzen hatten und haben die beiden Referenden zur schottischen Unabhängigkeit und zum Brexit? Welche politischen Fragen wurden geklärt und welche nicht? In einem Exkurs wird zudem die jahrhundertelange Beziehung zwischen Schottland und Europa beleuchtet, die in Zeiten des Brexits wieder von großer Bedeutung geworden ist – sowohl für Schottland und Großbritannien als auch für die EU.

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Die sozialliberalen Jahre 1999–2007

Die ersten Schritte des Parlaments Während der ersten acht Jahre schien für die Architekt:innen der neuen Devolution-Politik vieles nach Plan zu laufen: Labour und Liberale bildeten in Schottland über zwei Legislaturperioden eine stabile Koalition und begannen damit, dem neuen schottischen Parlament Leben einzuhauchen, auch wenn manchen Kritiker:innen in den Medien diverse Startschwierigkeiten nicht gefielen.1 Aber Donald Dewar, der erste First Minister, sah das Parlament in seiner Eröffnungsrede am 1. Juli 1999 als eine „Stimme für die Zukunft“.2 Dementsprechend wandte sich das Parlament Themen zu, die bislang als vernachlässigt galten. Es gab u. a. mehrere Verkehrs- und Bildungsinitiativen, z. B. die Einrichtung einer Universität für die Highlands. Es wurden Gesetze zur Förderung des Gälischen (► Kap. 4) sowie zur Reform des sehr unpopulären, weil semifeudalen Landrechts verabschiedet. Auch zwei Nationalparks wurden in den Highlands eingerichtet. Ein Meilenstein war die Festschreibung von kostenloser Pflege für ältere, bedürftige Menschen. Große Auswirkungen hatte die Reform des Wahlrechts für die Kommunen, das auf Drängen der Liberalen ebenfalls auf Verhältniswahlrecht umgestellt

2.1 Die sozialliberalen Jahre 1999–2007

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wurde. So veränderte sich die Zusammensetzung der Kommunalparlamente ab 2007 dramatisch, die Zeit der Ein- bis Zwei-Parteien-Dominanz war auch hier vorbei. In der Gesundheitspolitik trat 2006 ein weitgehendes Rauchverbot in öffentlichen Räumlichkeiten in Kraft, wie z. B. Gaststätten, Pubs und Hotels. Bei diesem Verbot zeigte sich auch erstmals, dass das neue schottische Parlament bereit war, von England abweichende Regelungen zu treffen. Auf britischer Ebene gab es zunächst viel Widerspruch, doch schließlich zogen auch England und Wales nach. Auch wurde 2001 für die von Labour 1998 landesweit wieder eingeführten Studiengebühren eine verbesserte Regelung in Schottland gefunden. Die von den Liberalen geforderte komplette Abschaffung wurde jedoch von Labour blockiert, wohl weil man keinen offenen Konflikt mit den Parteifreund:innen in England wünschte.3 Dieser Punkt wurde im Laufe der acht Koalitionsjahre immer bedeutender, je unbeliebter die britische Labour-Regierung unter Tony Blair wurde. Insbesondere die SNP konnte der sozialliberalen Regierung in Edinburgh vorwerfen, zu oft Rücksicht auf London zu nehmen. Schließlich waren die schottischen Parteigliederungen von Labour und Liberalen auch formal nicht selbstständig in den jeweiligen Gesamtparteien. In puncto Studiengebühren spitzte sich diese Situation ausgerechnet im schottischen Wahljahr 2007 zu, weil die Blair-Regierung ein Jahr zuvor die Gebühren in England von 1 000 auf 3 000 Pfund pro Jahr erhöht hatte.

Wechsel im Personal Ein Problem der schottischen Koalition war zudem ihr offensichtlicher Mangel an charismatischen Persönlichkeiten. Der sehr populäre Devolution-Architekt Donald Dewar verstarb überraschend schon 2000. Sein Nachfolger Henry McLeish blieb nur ein Jahr im Amt und wurde dann durch Jack McConnell ersetzt (► Exkurs 3). Für die schottischen Sektionen von Labour und Liberalen kam generell erschwerend hinzu, dass die zentralen Parteifiguren, wie z. B. Gordon Brown bei Labour und Charles Kennedy bei den Liberalen keinerlei Interesse zeigten, sich von London zu verabschieden und sich in die „Niederungen“ der schottischen Parlamentsarbeit hinabzubewegen. Das sandte natürlich auf Dauer ein schlechtes Signal an die Wahlbevölkerung. Auf Seiten der Opposition war die Lage komplizierter: Die Tories hatten im britischen Parlament nur noch schottische Abgeordnete, die in englischen Wahlkreisen gewonnen hatten. Ihre „schottische“ Stimme in London war damit praktisch stumm. Auch die SNP hatte zunächst Probleme, als ihr Parteichef Salmond 2000 zurücktrat und sich ganz auf sein Londoner Unterhausmandat konzentrierte. Das wurde ihm und der Partei als heuchlerisch vorgehalten, weil sie das neue schottische Parlament offensichtlich doch nicht so ernst nahmen, wie sie das von anderen erwarteten. Ohne Salmond zeigte sich die Partei unter dem

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2 Risse in der Union

neuen Chef John Swinney zerstritten, was ihre Wahlaussichten nicht erhöhte. 2003 erzielte die SNP bei der zweiten Schottland-Wahl nur 27 Mandate (– 8), ein deutlicher Rückgang. Aus diesem Grund vollzog Salmond 2004 eine Kehrtwende, um die Partei aus dem Tief rauszuholen und auf Regierungskurs zu bringen: Salmond wurde erneut Parteichef, Nicola Sturgeon wurde zu seiner Vize (► Exkurs 3). Swinney reformierte die Parteistruktur der SNP und trimmte sie auf effektive Wahlkampfstrategien (► Kap. 3.1). Die Wahl 2003 hatte noch weitere Auswirkungen: Auch Labour musste einen Verlust von sechs Mandaten in Kauf nehmen. Große Gewinner waren hingegen die schottischen Grünen mit sieben Mandaten und die Scottish Socialist Party mit sechs. Sogar ein Vertreter einer Senioren-Partei und eine sehr aktive unabhängige Kandidatin zogen ins Parlament ein.4 Das schottische Parlament wurde deutlich bunter, es wurde deshalb als „Regenbogen“-Parlament bezeichnet.5 Im Jahre 2004 konnte das Parlament in Edinburgh das heutige Gebäude gegenüber vom Königspalast von Holyrood am unteren Ende der Royal Mile beziehen. Es war vom katalanischen Architekten Enric Miralles entworfen worden – ein Hinweis auf ein gemeinsames Gefühl der staatlichen Unvollendetheit in Katalonien und Schottland (► Exkurs 2). Zunächst war der Bau durchaus kontrovers. Statt 40 Mio. Pfund kostete er am Ende 400 Mio. Pfund. Doch ähnlich wie vielleicht bei der Hamburger Elbphilharmonie setzte sich das Parlamentsgebäude am Ende beim Publikum durch, da es mit seiner modernen Aufmachung ein ganz anderes Bild von der schottischen Parlamentsarbeit zeichnet als die beengte, sehr antiquiert wirkende Kammer im Londoner Unterhaus. Und nach dem Standort des Gebäudes wird heute allgemein nur von „Holyrood“ gesprochen, wenn das schottische Parlament gemeint ist.

Abb. 7:

Das neue Parlamentsgebäude in Edinburgh.

2.2 Die SNP startet durch

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Auf diese neue, repräsentative Bühne drängte es nun Alex Salmond und Nicola Sturgeon – die Zeiten der politischen Ruhe in Schottland näherten sich rapide dem Ende.

Die Wahl-Überraschung von 2007 2007 war erneut ein Jahr des politischen Umbruchs in Großbritannien. Tony Blair war inzwischen sehr unbeliebt. Seine führende Beteiligung im Irak-Krieg, aber auch innenpolitische Fragen wie die Studiengebühren oder eine Öffnung des Gesundheitsdiensts NHS für den Privatsektor hatten seinen Glanz und den von New Labour verblassen lassen. In Schottland wirkte die sozialliberale Koalition erschöpft. Und so kam es genauso, wie SNP-Mann Robertson 1999 vorhergesagt hatte: Eines Tages kommt die Opposition an die Reihe. Die Art und Weise ist allerdings mehr als kurios und zeigt, dass der Aufstieg der SNP zur dominanten Partei alles andere als unvermeidlich war. Am 3. Mai gewann die SNP bei der dritten Schottland-Wahl überraschend 47 Sitze – einen mehr als Labour. Bei den Zweitstimmen lag die SNP mit 31 % ebenfalls knapp vor Labour mit 29,2 %. Gegenüber 2003 hatte die SNP gut 10 % zugelegt. Dieser Erfolg speiste sich vor allem aus dem fast vollständigen Kollaps der Grünen und dem kompletten Verschwinden der sozialistischen Partei sowie einigen Labour-Verlusten. Liberale und Konservative konnten ihren Sitzanteil mit leichten Verlusten halten.6 Weil Labour und Liberale zusammen keine absolute Mehrheit mehr erhielten, begann die Suche nach einer neuen Regierung. Die SNP ging als stärkste Fraktion auf die Liberalen zu, doch die lehnten sogar Gespräche strikt ab. Sie wollten sich nicht mit der Unabhängigkeitsfrage beschäftigen, obwohl sie inhaltlich in vielen anderen Fragen sehr nahe am SNP-Programm lagen. Diese kategorische Gesprächsverweigerung sollte die Liberalen in Zukunft viel Zuspruch kosten (► Kap. 3.5). Offensichtlich gingen Labour und Liberale davon aus, dass die SNP mit etwas mehr als einem Drittel der Sitze letztlich kläglich scheitern würde. So „schlafwandelten“ sie im Prinzip aus der Regierung. Der Weg für die SNP war frei.

2.2

Die SNP startet durch

Stabile Minderheitsregierung SNP-Chef Salmond erkannte das Machtvakuum und ließ sich bereits am 17. Mai vom Parlament zum Chef einer Minderheitsregierung wählen, Sturgeon wurde Gesundheitsministerin, Swinney Finanzminister. Die Tories hatten sich in einer

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2 Risse in der Union

weiteren überraschenden Wendung bei der Abstimmung enthalten. Und so stellte die SNP auf einmal die Regierung in Schottland – und das in einer eigentlich unmöglichen Konstellation. Parallel war auch auf britischer Ebene das Ende der Blair-Zeit gekommen. Am 27. Juni übernahm der Schotte und langjährige Blair-Weggefährte und -Rivale Gordon Brown die Amtsgeschäfte als Premierminister. Wenn Labour und Liberale gedacht hatten, die Regierung Salmond/Sturgeon würde in Edinburgh ein kurzes Intermezzo werden, dann täuschten sie sich gewaltig. Hier übernahm ein Profi-Team die Regierungsverantwortung, das klare Ziele verfolgte und es über vier Jahre verstand, sich im Parlament für alle wichtigen Fragen – insbesondere die Haushalte – immer wieder wechselnde Mehrheiten zu organisieren. Ihre Minderheitsregierung kam aufgrund der Uneinigkeit der Opposition nicht ein einziges Mal wirklich in Gefahr, abgewählt zu werden. Nach allen Gesichtspunkten parlamentarischer Arbeit kann dies nur als politisches Meisterstück bewertet werden. Gleich am Anfang ersetzten Salmond und Sturgeon die merkwürdige Regierungsbezeichnung Scottish Executive durch Scottish Government – aus der „Exekutive“ wurde nun auch offiziell eine „Regierung“. Das hatte schon First Minister McLeish vorgeschlagen, aber nun demonstrierte die SNP-Führung nach außen ihr enormes Selbstbewusstsein. Auch andere politische Versprechen setzte sie um: Die Studiengebühren wurden komplett abgeschafft, die Rezeptgebühren ebenfalls – ein klarer Bruch gegenüber den Bestimmungen in England. Die Mautstation an der Forth-Autobrücke bei Edinburgh verschwand, was eher Symbolcharakter hatte, aber eben auch sehr populär war. Sehr ambitioniert waren auch die neuen Ziele für den Ausbau von erneuerbaren Energien – eine Politik, die zu einem Markenzeichen der SNP-Regierung werden sollte.7 Ebenfalls enorm wichtig war die Tatsache, dass Finanzminister John Swinney trotz der enormen Turbulenzen im Zuge der globalen Finanzmarktkrise, und insbesondere der Bankenkrise in Schottland selbst, es schaffte, den schottischen Haushalt ausgeglichen zu halten – und immer wieder Geld für eigene Projekte zu finden. Das wurde der SNP am Ende der Wahlperiode sehr positiv zugute geschrieben. Außenpolitisch am meisten Wellen schlug 2009 eine Entscheidung des schottischen Justizministers Kenny MacAskill, der den Libyer Abdelbaset al-Megrahi wegen einer tödlichen Krebserkrankung aus einem schottischen Gefängnis entließ. Dort saß al-Megrahi ein, weil er 2001 von einem schottischen Gericht für seine Beteiligung an dem Bombenanschlag auf ein PanAm-Flugzeug 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Die Maschine war über dem schottischen Ort Lockerbie abgestürzt – 270 Menschen starben. Sowohl die britische Regierung wie auch US-Senator:innen protestierten, zumal al-Megrahi tatsächlich noch drei Jahre weiterlebte. Doch in Schottland kam der SNP-Regierung letztlich zugute, dass sie das schottische Recht konsequent angewandt hatte und sich auch vor der massiven Kritik aus London und Washington nicht versteckt hatte. Am Ende sah eher die britische Regierung schlecht aus, weil sie augenscheinlich

2.2 Die SNP startet durch

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schon 2007 Gespräche mit dem Gaddafi-Regime zu al-Megrahis möglicher Entlassung geführt hatte.8

Die Calman Commission Ein großer Streitpunkt nach 2007 war natürlich das erklärte Hauptziel der SNP, konkrete Schritte Richtung Unabhängigkeit zu unternehmen. In diesem Fall einigten sich die drei Oppositionsparteien ausnahmsweise, und zwar auf die Einrichtung der sogenannten Calman-Kommission, um den SNP-Forderungen die Spitze zu nehmen. Sir Kenneth Calman legte seinen Bericht 2009 vor, just zum zehnjährigen Jubiläum der Parlamentseröffnung.9 Der wichtigste Punkt seiner umfangreichen und vor allem detailreichen Empfehlungen war, dass er erstmals auch fiskalische Zuständigkeiten für das schottische Parlament anvisierte. Wer über so hohe Ausgaben bestimmen könne, sollte auch für die Einnahmenseite zumindest teilweise verantwortlich sein. Wie nicht anders zu erwarten, gab es über den Bericht und seine Folgen jahrelangen Streit, der erst drei Jahre später im neuen Scotland Act (2012) mündete. Dieser sah Ergänzungen und leicht erweiterte Machtbefugnisse für das schottische Parlament vor. Doch zum Zeitpunkt der Verabschiedung war das Gesetz eigentlich schon überholt, weil sich die politischen Verhältnisse dramatisch verändert hatten (s. u.). Auch wenn die Calman Commission im Rückspiegel wenig wirkungsvoll erscheint, so etablierte sie dennoch für die schottische Öffentlichkeit einige wichtige Punkte: Zehn Jahre nach Eröffnung des Parlaments hatten sich alle politischen Parteien mit dessen Existenz angefreundet, inklusive der Tories. Die Parteien forderten zudem – ebenfalls inklusive der Tories – mehr Rechte für das Edinburgher Parlament. Und dieses Prinzip wurde von zwei britischen Regierungen unterschiedlicher Parteifärbung anerkannt. Damit schien zumindest klar, dass die Stellung Schottlands innerhalb des politischen Systems Großbritanniens gestärkt werden müsse. Das war – unabhängig von den Ergebnissen im Einzelnen – eine wichtige Bestätigung der SNP und eine klare Reaktion auf ihre Regierungsübernahme.

Die Tories sind zurück – in London 2010 blickte das politische Establishment jedoch nicht nach Schottland, sondern nach London. Dort gelang es David Cameron nach der Unterhauswahl mithilfe eines überraschenden Koalitions-Paktes mit den Liberalen, als Premierminister in 10 Downing Street einzuziehen. Dies waren dieselben Liberalen, die sich drei Jahre zuvor noch geweigert hatten, mit der SNP in Edinburgh überhaupt Gespräche aufzunehmen. Das schottische Publikum war erstaunt – und wenig amüsiert über den Erfolg der in Schottland so unbeliebten Tories.

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2 Risse in der Union

Wie also reagieren? Lange Zeit schien es so, als würden die schottischen Regionalwahlen 2011 zu einem Regierungswechsel zurück zu Labour führen. Bis wenige Monate vor der Wahl führten sie mit bis zu zehn Prozentpunkten in den Umfragen.10 Auch die Wahlen für das Londoner Unterhaus hatte in Schottland klar Labour gewonnen, die SNP gewann nur sechs Sitze. Doch Anfang 2011 zeigte sich, dass die schottischen Wähler:innen inzwischen sehr genau zwischen britischen und schottischen Wahlen zu unterscheiden wussten. Sahen sie auf britischer Ebene Labour als beste Garantie gegen ein Wiedererstarken der Tories an, so war die Ausgangslage in Schottland ganz anders. In Edinburgh spielten die Konservativen nur eine untergeordnete Rolle und die SNP hatte demonstriert, dass sie mit Regierungsverantwortung umgehen konnte. Schon Donald Dewar hatte 1999 die Parlamentsaufgaben klar beschrieben: „Schottische Lösungen für schottische Probleme.“11 Der Versuch von Labour, die Wahl in eine „britische“ Abstimmung als Botschaft an die Cameron-Regierung umzuwandeln, scheiterte voll und ganz (► Kap. 3.2). Die Wähler:innen interessierte viel mehr, wer zukünftig die Interessen Schottlands in Edinburgh vertreten würde. Die Antwort fiel überraschend eindeutig aus und änderte die politische Landschaft in Schottland dramatisch.

Erdrutschsieg für die SNP Absolute Mehrheiten waren von den Architekt:innen des schottischen Wahlsystems eigentlich ausgeschlossen worden – so dachte man. Doch am Morgen des 6. Mai 2011 wachten die Wähler:innen mit der Nachricht auf, dass die SNP bei den vierten Schottland-Wahlen mit 69 Sitzen genau diese absolute Mehrheit in Holyrood erreicht und dabei erstaunliche 12,5 % der Stimmen hinzugewonnen hatte. Mit 44 % der Zweitstimmen und sogar 45,4 % der Erststimmen erzielte sie das bis dahin beste Wahlergebnis einer Partei im jungen schottischen Parlament. Labour konnte den eigenen Stimmenanteil zwar weitgehend halten, verlor aber neun Sitze. Besonders dramatisch war die Wahlnacht für die Liberalen, deren Fraktion von 16 auf 5 Abgeordnete gedrittelt wurde – dies war offensichtlich die Quittung für die Koalitionsentscheidungen der Partei 2007 und 2010. Die Grünen errangen 2 Sitze, die Konservativen 15.12 Die Konsequenzen dieses Wahlerfolgs waren schnell klar: Die SNP hatte nunmehr ein klares, demokratisches Mandat, in London die Durchführung eines Unabhängigkeits-Referendums einzufordern – und der Wahlerfolg von 2007 konnte nicht mehr als Eintagsfliege abgetan werden. Die Eindämmungsversuche der drei „britischen“ Oppositionsparteien waren offensichtlich gescheitert. In Schottland traten postwendend die Parteichefs von Labour, Liberalen und Tories zurück. Die Karten waren neu gemischt worden und die schottische Frage war wieder auf der britischen politischen Bühne angelangt.

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

2.3

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Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

Die drei Jahre zwischen der Schottland-Wahl 2011 und dem Unabhängigkeitsreferendum am 18. September 2014 waren für Schottland eine langgestreckte Debatte zur Frage, ob Schottland als unabhängiges Land überlebensfähig wäre und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Dominiert wurde die politische Auseinandersetzung von den beiden führenden Kontrahenten: in London war dies der konservative Premierminister David Cameron, in Edinburgh der schottische First Minister Alex Salmond von der SNP. Dass Cameron sich auf ein Unabhängigkeitsreferendum einließ, zeigte deutlich, dass er bereit war, hohe Risiken einzugehen, um politische Fragen durch ein Referendum in seinem Sinne zu entscheiden. In Schottland sollte ihm das knapp gelingen, beim Brexit-Referendum zwei Jahre später nicht. Diese offensichtliche Spielernatur von Cameron, der ohne politisches Sicherungsnetz agierte, hat das Vereinigte Königreich nachhaltig verändert und die Folgen davon sind selbst heute noch nicht abzusehen. In den letzten Jahren konzentriert sich die ganze nationale wie internationale Aufmerksamkeit auf Boris Johnson, der ebenfalls gerne politisch mit riskanten Manövern spielt. Doch die Vorlage dafür lieferte David Cameron.

Das Edinburgh Agreement 2012 Eigentlich hätte das sehr gute Wahlergebnis für die SNP 2011 eine Warnung sein müssen. Wieso erzielte die SNP auf einmal 44 % der Zweitstimmen, wenn die Zustimmung zur Unabhängigkeit doch nur bei ca. 30 % vor sich hindümpelte? Diese Frage wurde niemals untersucht und auch nicht die logische Schlussfolgerung, dass diese 44 % der Wähler:innen womöglich nun auch offen für die gesamte Palette der SNP-Politik sein könnten, inklusive Unabhängigkeit, nachdem sie für die SNP gestimmt hatten (► Kap 3.1). Ein Referendum war aus britischer Sicht eigentlich nicht zwingend erforderlich. So hatte ja gerade erst 2009 die Calman Commission eine Stärkung des schottischen Parlaments empfohlen, was, wie oben ausgeführt, im Scotland Act von 2012 umgesetzt wurde. In normalen Zeiten hätte sich alles um die Details dieses Gesetzes gedreht, doch die Lage änderte sich rasant: Es ging nicht mehr nur um zusätzliche Rechte für das Parlament in Edinburgh, sondern gleich um den ganzen Kuchen. In einem Versuch, die SNP frontal bei ihrem Hauptthema zu attackieren, bot Cameron Anfang 2012 an, dass die britische Regierung der SNP-Regierung in Schottland die Durchführung eines Unabhängigkeits-Referendums erlauben würde. In der BBC sagte Cameron: „Wir schulden der schottischen Öffentlichkeit etwas, das fair, legal und entscheidend ist. […] Die Unsicherheit rund um dieses Thema schadet Schottland und der schottischen Wirtschaft.“13

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Abb. 8:

2 Risse in der Union

Treffen der Regierungen Großbritanniens und Schottlands zur Unterzeichnung des Edinburgh Agreements, in dem Schottland ein Unabhängigkeitsreferendum zugesagt wurde. Von links: David Cameron, Michael Moore (britischer Minister für Schottland), Alex Salmond und Nicola Sturgeon.

Dieses politische Angebot kam nicht ganz unerwartet. Es leitete nun aber direkte Verhandlungen zwischen Edinburgh und London ein, die am 15. Oktober 2012 in einer schriftlichen Vereinbarung zwischen Cameron und Salmond, dem achtseitigen Edinburgh Agreement14 gipfelten. Darin wurde dem schottischen Parlament das Recht zugebilligt, bis Ende 2014 ein Referendum über die staatliche Zukunft des Landes durchzuführen. Warum tat Cameron sich das an? Offensichtlich glaubte er, dass in einer direkten Wahl die schottische Bevölkerung mehrheitlich klar dem Vereinigten Königreich ihre Stimme geben würde. Er wollte die politische Initiative behalten und nicht der SNP das Feld überlassen. Und drittens sah er so die Möglichkeit, die beiden anderen unionistischen Parteien, Labour und seinen liberalen Koalitionspartner, in ein Bündnis zu zwingen und so zu neutralisieren. Insbesondere für die Labour-Anhängerschaft war ein De-Facto-Bündnis mit den Tories eine Zumutung. Sollte dies dazu führen, dass Labour zukünftig Parlamentssitze verlieren würde, wäre die Stellung der Tories im britischen Unterhaus womöglich dauerhaft gestärkt. In einem direkten politischen Duell zwischen Tories und SNP glaubte Cameron als „wahrer Verteidiger“ der Union für seine Partei langfristige Vorteile erzielen zu können – schon auf den ersten Blick wirkt dies wie ein riskantes Spiel, weil ein positives Referendumsergebnis für die Union einfach vorausgesetzt wurde. An diesem Punkt trafen sich aber die Interessen von Cameron und der SNP. Auch die SNP hatte ein großes Interesse daran, die bisherige Labour-Dominanz

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

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in Schottland endgültig zu brechen. Ein direktes Duell mit den Tories in London machte die SNP definitiv zur führenden Herausforderin des Status quo und etablierte die Partei als Beschützerin schottischer Interessen. Das hatte man schon 1992 versucht, war damals aber noch kläglich gescheitert. 20 Jahre später war die Ausgangslage viel günstiger. Für Labour war in diesem Spiel nichts zu gewinnen, da die Partei gefangen war in ihrer doppelten Oppositionsrolle in London und Edinburgh. Die Partei schaffte es nicht, eine eigenständige Position aufzubauen und z. B. konsequent für Devolution Plus oder Home Rule zu argumentieren. So wurde Labour zwangsläufig tatsächlich an die Seite der Tories gedrängt und verlor jeden politischen Spielraum (► Kap. 3.2). Zunächst schien es aber für Cameron und Labour sehr gut zu laufen. In Umfragen hatten generell eigentlich nie mehr als 30–35 % der Schott:innen eine Präferenz für die staatliche Unabhängigkeit zu erkennen gegeben. Die 44 % SNPStimmen bei der Holyrood-Wahl 2011 wurden, wie gesagt, als Ausreißer gesehen – und nicht als Alarmsignal. Das schien sich zunächst zu bewahrheiten: Bei den Lokalwahlen im Mai 2012 errang die SNP zwar knapp den ersten Platz, konnte aber Labour z. B. nicht in Glasgow verdrängen. Der Höhepunkt der SNP schien Mitte 2012 schon überschritten.15 Was Cameron – und auch Labour – komplett ausblendete, war jedoch, dass die zwei Jahre bis zum Referendum ein sehr langer Zeitraum waren, der viele politische Veränderungen mit sich bringen konnte. Cameron hatte mit seinem Angebot hoch gepokert, nun musste sich zeigen, ob er nur geblufft hatte. Für die SNP war das Edinburgh Agreement jedenfalls ein Traum. Sie hatte das unwiderrufliche Recht auf ein Referendum erhalten. Nun musste auch die SNP zeigen, ob sie die schottische Bevölkerung überzeugen konnte.

Die Kampagnen organisieren sich Das Abkommen von Edinburgh machte der schottischen Regierung und dem Parlament zwei wichtige Zugeständnisse: Diese konnten das Referendumsdatum und auch die Referendumsfrage bestimmen. Als Datum wurde der 18. September 2014 festgesetzt, was viele Beobachter:innen angesichts des langen Vorlaufs aufstöhnen ließ. Doch die Kalkulation der schottischen Regierung war sehr nachvollziehbar, da sie einen großen Vorsprung der Unionsbefürworter:innen durch viel Überzeugungsarbeit aufholen musste. Trickreicher war die Referendumsfrage: Die schottische Regierung hätte gerne zwei Fragen zur Abstimmung gestellt, eine zur Unabhängigkeit und eine zur sogenannten „Devo Max“. Letztere hätte quasi analog zu Home Rule maximale innenpolitische Autonomie bedeutet – nur Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik wären auf britischer Ebene verblieben. Diese Option war sehr populär laut Umfragen, doch David Cameron bestand auf einer klaren Wahl zwischen Unabhängigkeit und einem leicht modifizierten Status quo – eine einzige

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2 Risse in der Union

Frage, die klar mit Ja oder Nein zu beantworten war. Aus seiner Sicht war das sinnvoll, da die Tories eigentlich gegen weitere Zugeständnisse an die schottische Regierung waren. Die 2011 frisch gewählte Tory-Chefin in Schottland, Ruth Davidson, hatte in ihrer Bewerbungskampagne knallhart verkündet, es sei an der Zeit, in Sachen Autonomierechte „eine Linie im Sand zu ziehen“.16 Damit wollte sie insbesondere die schottische Labour-Partei unter Druck setzen – was ihr auch gelang. All das führte zu der skurrilen Situation, dass die laut Umfragen populärste Frage letztlich nicht auf dem Wahlzettel stand. Und so zwangen David Cameron und die britische Regierung die Anhänger:innen von mehr Autonomie zu einer Entscheidung: Wechselten sie ins Unabhängigkeitslager oder blieben sie im unionistischen Lager? Dieser grundlegende Entscheidungszwang war der Auslöser für das folgende Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung. Denn Cameron hatte einfach vermutet, dass niemand den Schritt von „Devo Max“ zu Unabhängigkeit machen würde – und da sollte er sich grundlegend verspekulieren, wie nicht nur die Referendumskampagne, sondern auch die langfristigen Auswirkungen dieser Kampagne bewiesen. Anfang 2013 lag das noch in der Zukunft. Die schottische Regierung legte sich nunmehr auf eine sehr schlichte Frage fest: Should Scotland be an independent country? – „Soll Schottland ein unabhängiges Land sein?“ Demgemäß bildeten sich eine Yes- und eine No-Kampagne. Auf der Yes-Seite war naturgemäß eine starke Anlehnung an die SNP gegeben, auch wenn sich die Kampagne auf viele gesellschaftliche Bereiche ausdehnte. Für die schottische Regierung legte Parteiund Regierungschef Salmond die Verantwortung in die Hände seiner Stellvertreterin Nicola Sturgeon, die dafür im Herbst 2012 ihren Posten als Gesundheitsministerin aufgab. Ihre neue Funktion machte sie zur „Yes-Ministerin“.17 Im Bereich Gesundheit hatte sie sich einen Ruf als effiziente Organisatorin und als Beschützerin des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS erworben. Nun übernahm sie die Verantwortung für die wichtigste Kampagne in der Geschichte der SNP. Auf der No-Seite lagen die Dinge komplizierter. David Cameron hatte mit seinem Referendumspoker die drei sehr unterschiedlichen unionistischen Parteien in ein fragiles Bündnis gezwungen. In Schottland übernahm der ehemalige Labour-Schatzkanzler Alistair Darling die Führung der „Better Together“-Kampagne, aber in London hatten Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne das Sagen. Und während Labour auf britischer Ebene ständig die konservativliberale Koalition in London kritisierte, musste sie doch in der Referendumskampagne in vielem den Tories zustimmen. Das bot der SNP reichlich Angriffsfläche beim Versuch, die bisherigen Labour-Wähler:innen in Schottland anzusprechen. Für die Liberalen war die Sache noch vertrackter: Sie saßen in London in der Regierung, wo sie all dem zustimmten, was sie in Schottland ablehnten oder bislang abgelehnt hatten. Dafür hatte das Wahlvolk sie schon 2011 abgestraft und davon haben sie sich bis heute politisch nicht erholt.

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

Abb. 9:

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Wahlplakat der Yes-Kampagne.

Die Grünen hingegen schlossen sich der Yes-Kampagne an, was dann doch ein leichtes Gefühl der Überparteilichkeit herstellte – und für die Partei zugleich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer engeren Kooperation mit der SNP war.

Die Referendumsdebatte Zwei Jahre lang debattierte Schottland intensiv, was es wirklich bedeuten würde, staatlich unabhängig zu werden. Viele Menschen stellten sich diese Frage nun zum ersten Mal. Dass diese Debatte nicht nur in engen politischen Zirkeln geführt wurde, sondern in der gesamten Gesellschaft, bewies am Referendumstag die Wahlbeteiligung von knapp 85 %. Allein diese sehr hohe Beteiligung und die bis auf wenige Ausnahmen sehr demokratisch-zivile Auseinandersetzung waren trotz des harten Schlagabtausches ein großer Erfolg,18 der nicht als selbstverständlich gewertet werden kann. Diskutiert wurden nahezu alle Bereiche der Wirtschaft, Politik und des Sozialstaats. Dabei prallten die Vorstellungen und Konzepte inhaltlich zum Teil unversöhnlich aufeinander. Im Kern gab es zwei Denkschulen: Die Yes-Kampagne malte die Zukunft für Schottland positiv aus, orientiert am Vorbild der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und als ein respektiertes Mitglied der EU. Die NoKampagne hingegen zeichnete im Prinzip das Bild eines hochverschuldeten, im

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2 Risse in der Union

politischen Nirwana gestrandeten Kleinstaates, der mit sich selbst und der Welt nicht klarkommen würde. Diese konträren Visionen äußerten sich in unterschiedlichen KampagnenZielrichtungen: Die Unabhängigkeits-Kampagne „Yes Scotland“ war bestrebt, die Unabhängigkeitshürden für die Wähler:innen so niedrig wie möglich zu halten, die pro-britische Kampagne „Better Together“ fuhr einen Kurs, der als „Project Fear“ – Projekt Angst – beschrieben wurde.

Yes Scotland Auf organisatorischer Ebene hatte es Yes Scotland unter ihrem Chef Blair Jenkins, einem ehemaligen BBC-Verantwortlichen, schwer, sich als unabhängige Organisation von der schottischen Regierung und der SNP abzusetzen. Doch im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass es darauf wohl gar nicht so sehr ankam, denn das wirklich Erstaunliche war, dass sich über die zwei Jahre auf GraswurzelEbene mehr als 300 lokale Gruppen bildeten, die mit Tausenden von Freiwilligen an Türen klopften und die Botschaft im wahrsten Sinne unters Volk brachten.19 Der Journalist Iain Macwhirter sprach davon, dass sich erstmals in der schottischen Geschichte eine tatsächliche Unabhängigkeitsbewegung bildete, die jenseits der Parteien ein dynamisches Eigenleben entwickelte und u. a. für die außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung verantwortlich war.20 Auch im Wirtschafts- und vor allem im Kulturbereich (► Kap. 4.3) entstanden Yes-Gruppen – die Dynamik war deutlich spürbar. Dieses Graswurzel-Phänomen war auf der Gegenseite nicht zu beobachten und hat viel zur Transformation der schottischen Politik nach dem Referendum beigetragen. Die politischen Grundsätze wurden jedoch vor allem von der SNP bestimmt. Und da ging es darum, zögernde Wähler:innen für die Ja-Seite zu gewinnen. So sollte die Queen Staatsoberhaupt und das britische Pfund Gemeinschaftswährung bleiben. Die Bank of England sollte weiter eine zentrale fiskalische Rolle spielen. Auch gab die SNP ihre Opposition gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft auf, bestand aber auf dem Abzug der britischen Atom-U-Boote vom Clyde bei Glasgow. Das war politisch einer der brisantesten Punkte, weil die Forderung die Zukunft Großbritanniens als Atommacht in Frage stellte.21 Zudem versprach die SNP mit dem Öl-Geld im Rücken, die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit in Schottland zu bewahren, positionierte sich also als die wahre sozialdemokratische Hüterin des Labour-Erbes. All das fasste die schottische Regierung im November 2013 auf insgesamt 670 Seiten in ihrem White Paper Scotland’s Future zusammen. Der „Leitfaden für ein unabhängiges Schottland“ sollte alle möglichen Fragen zur Unabhängigkeit beantworten – von den Finanzen über Gesundheit, Energie, Verkehr, Soziales, Kultur, Bildung etc. bis zu den internationalen Beziehungen. Das White Paper enthielt auch konkrete soziale Versprechungen wie z. B. zur Kleinkinderbetreuung. Das klang nach Angeboten insbesondere für die Labour-Klientel.22 Dazu kam

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

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ein großer Frage-Antwort-Bereich für ganz konkrete Fragen, wie z. B. „Kann Schottland sich die Unabhängigkeit leisten?“, „Wie kann Schottland unabhängig sein, wenn wir das Pfund behalten“ oder aber schlicht „Wird es noch grenzüberschreitenden Bahnverkehr geben?“ Auch wenn manche Vorhersagen, wie zum damals noch vermuteten ÖlReichtum, sich als viel zu optimistisch erwiesen, die schottische Regierung unternahm immerhin einen ernsthaften Versuch, auf die Sorgen und Bedenken der Bevölkerung einzugehen und eine Zukunftsvision zu entwickeln. Für einige Enthusiast:innen wirkte dies jedoch wie „Unabhängigkeit light“ – es entstand der Eindruck, dass das Vereinigte Königreich eigentlich doch nicht aufgelöst werden würde, sondern nur der Einfluss der Tories und von New Labour in London beendet. Macwhirter brachte dafür den Begriff „Unabhängigkeit im Vereinigten Königreich“ ins Spiel.23

Better Together Demgegenüber griff die No-Kampagne unter dem ehemaligen Labour-Schatzkanzler Alistair Darling alle zentralen Punkte der Gegenseite und des White Paper massiv an. Das „Projekt Angst“ malte ein sehr düsteres Bild von der Zukunft eines unabhängigen Schottlands. Die Schott:innen müssten die britischen Staatsschulden teilweise übernehmen, was sie sofort Bankrott machen würde. Deshalb würden auch die Steuern massiv steigen. Zudem würden viele Unternehmen aus einem unabhängigen Schottland abziehen. Auch Grenzkontrollen zwischen Schottland und England wurden ins Spiel gebracht. Das Killer-Argument legte Schatzkanzler Osborne am 13. Februar 2014 in einer Rede in Edinburgh vor: Er behauptete, dass Schottland im Falle der Unabhängigkeit nicht das britische Pfund als Währung behalten könne.24 Die britische Regierung erklärte damit das Pfund im Prinzip zu einer englischen Währung, über die im Falle einer Trennung nur London entscheiden könne. Von einer partnerschaftlichen Gemeinschaftswährung war hier nicht mehr die Rede. Im Prinzip schloss Osborne damit schon vorab eine gütliche Einigung mit der schottischen Regierung nach dem Referendum aus – dies war eine glasklare politische Drohung. Die schottischen und britischen Medien bestanden in der Folge darauf, dass First Minister Salmond und die SNP einen „Plan B“ in Sachen Währung vorzulegen hätten. Salmond weigerte sich jedoch und beharrte darauf, dass eine gemeinsame Währung weiter im beiderseitigen Interesse liegen würde.25 Falls Osborne geglaubt hatte, seine Drohung könnte die schottischen Wähler:innen einschüchtern, hatte er sich getäuscht, denn die Zustimmung zur Unabhängigkeit stieg in den folgenden Wochen sogar leicht an.26 Viele Schott:innen hielten den Vorstoß des britischen Schatzkanzlers für einen Bluff. Für andere wiederum war die Attacke der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.27 Offensichtlich kam hier gerade im Labour-Lager das Erbe der Thatcher-Jahre zum Tragen und die tiefe Abneigung gegen „arrogante englische“

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2 Risse in der Union

Tories, die den „dummen“ Schott:innen erzählen wollen, wie sie sich zu verhalten hätten. Der tatsächliche Einfluss auf das Referendum war jedoch nur schwer zu messen. Nicht weniger heiß umkämpft war die europäische Frage: Die SNP und die schottische Regierung waren EU-freundlich und wollten, dass Schottland EUMitglied bleibe. Doch die No-Kampagne behauptete, dass mit der Unabhängigkeit auch die EU-Mitgliedschaft enden werde und nur ein Verbleib im Vereinigten Königreich eine dauerhafte EU-Mitgliedschaft sichern könne. Nicht erst mit der realen Erfahrung des Brexits im Rücken klingt diese Behauptung absolut unrealistisch. Schon 2013 hatte David Cameron angekündigt, nach den nächsten Unterhauswahlen ein Brexit-Referendum anstreben zu wollen. Die SNP wies also schon während des Unabhängigkeitsreferendums darauf hin, was später dann tatsächlich eintrat: Die eigentliche Gefahr für den Austritt aus der EU kam durch den Verbleib im Vereinigten Königreich.28 Bei „Better Together“ waren die geringen Basis-Aktivitäten vor Ort sehr auffallend. Die wichtigste Ausnahme war vielleicht die ungewöhnliche pro-unionistische Straßen-Wahlkampftour „100 towns, 100 days“ des Labour-UnterhausAbgeordneten und ehemaligen Schottland-Ministers Jim Murphy, die sehr viel Aufmerksamkeit erzielte – auch weil bei einer Veranstaltung ein Ei auf ihn flog. Das blieb aber die absolute Ausnahme während der überaus zivilen und friedlichen Referendumskampagne.

Die heiße Phase Während die politischen Kontrahenten ihre Argumente mit voller Wucht austauschten, schienen die Umfragen lange Zeit keine ernsthafte Yes-Stimmung zu registrieren. Aber im Frühjahr 2014 erreichten die Werte immerhin öfters die 40 %-Marke – ein erster Erfolg für die Yes-Kampagne. Alex Salmond und Nicola Sturgeon waren zudem immer sehr optimistisch, dass sich die eigentliche Bewegung erst kurz vor der Wahl einstellen würde, wenn sich die Wähler:innen mit dem Kleingedruckten des anstehenden Referendums beschäftigen würden. Salmond erinnerte dabei an den überwältigenden SNP-Wahlsieg 2011, als die Partei in den Umfragen auch lange hoffnungslos hinten gelegen hatte. Doch selbst Anfang August lag die Yes-Kampagne in einer YouGov-Umfrage für die Sun noch 22 % zurück. Was viele Umfragen jedoch unterschätzten, war der Umfang der Basismobilisierung der Yes-Kampagne. Die lokalen Gruppen eröffneten Büros, organisierten Infostände, Diskussionsrunden und Demos – und sie gingen von Tür zu Tür. Und tatsächlich: Der Informationsbedarf und die Diskussionsbereitschaft der Bevölkerung war enorm hoch. Schottland erlebte einen politischen Sommer.29 Und diese von den Wahlforscher:innen und Unionist:innen lange vernachlässigten Graswurzel-Aktivitäten begannen sich im August dann doch auf die Umfragen auszuwirken – die Yes-Kampagne bekam plötzlich Momentum.

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

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Zwei Daten, an denen sich das festmachen lässt, waren die beiden Fernsehdebatten zwischen Ministerpräsident Alex Salmond und dem Chef der BetterTogether-Kampagne Alistair Darling am 5. und 25. August. Während die erste Debatte eher an Darling ging, der auf dem „Plan B“ zur Währungsfrage bestand, gewann Salmond die zweite ganz klar.30 Und in der Woche nach der zweiten Debatte begannen die Umfragewerte bei mehreren Wahlforschungsinstituten schlagartig zu steigen für Yes. Ein richtiger Schock-Moment war die YouGov-Umfrage für die Sunday Times am 6. September 2014: Innerhalb nur eines Monats hatte sich der 22-prozentige Rückstand von Yes in einen Vorsprung von zwei Prozent verwandelt! Erstmals sah eine Umfrage die Yes-Kampagne vorne – und das nur zwölf Tage vor dem Referendum!31 Die Umfrage schlug im politischen London wie eine Bombe ein – hatte man bis dahin das schottische Referendum als eine eher lästige Pflichtübung abgetan, so brach nun hektische Betriebsamkeit aus. Erstmals wurde auch die internationale Presse richtig auf das Referendum und die möglichen Folgen für Großbritannien und die EU aufmerksam. Die Alarm-Stimmung verschärfte sich, als eine ICM-Umfrage für den Sunday Telegraph eine Woche später sogar einen Yes-Vorsprung von 7 % feststellte. Würden Salmond und Sturgeon mit ihren optimistischen Prognosen Recht behalten? Hatte David Cameron die politische Stimmung in Schottland sträflich unterschätzt? Und wie würde sich Labour nun verhalten? Für lange Analysen blieb keine Zeit mehr. Die No-Kampagne griff nun auf den ehemaligen schottischen Premierminister Gordon Brown zurück, um das Referendum für die Unionsparteien zu retten. Brown hatte quasi seine eigene Kampagne gestartet, weil er mit dem negativen Ansatz von „Better Together“ nicht zufrieden war. Er heckte nun einen Last-Minute-Plan aus: In einem dramatischen „Gelübde“ (engl. vow) drei Tage vor der Wahl versprachen die Parteichefs der Tories (Cameron), der Liberalen (Clegg) und von Labour (Miliband) dem schottischen Publikum „erhebliche zusätzliche Rechte“, wenn sie für das britische Königreich stimmen würden. Sie versprachen, dass ein No-Kreuzchen für einen „schnelleren, sichereren und besseren Wandel“ sorgen werde als ein Votum für die Unabhängigkeit.32 Brown versprach eine „moderne Form von schottischem Home Rule“.33 Was das konkret bedeuten sollte, stand in dem „Gelübde“ nicht, aber die Botschaft war klar: Wer die Union fortsetzen möchte, bekommt schon am Tag nach dem Referendum ein Angebot für mehr Autonomie. Die Zeiten der „Linie im Sand“ waren rhetorisch vorbei – in London herrschte Panik.34 Die Yes-Kampagne hatte wenigstens in diesen letzten beiden Wochen das Gefühl, die Sache für sich entscheiden zu können. Das „Gelübde“ taten sie als Last-Minute-Bestechungsversuch ab. Die Stimmung war aber angespannt, denn klare Vorhersagen schienen nicht mehr möglich. Nur eine Gruppe legte sich fest: Die in Großbritannien so beliebten Buchmacher sahen am Tag vor der Wahl eine Wahrscheinlichkeit von 80 : 20 für einen Sieg der No-Kampagne.35

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2 Risse in der Union

Schottland sagt nein … Der 18. September 2014 war ein außergewöhnlicher Tag. Niemals zuvor beteiligten sich bei einer Wahl im Vereinigten Königreich 84,6 % der Wahlberechtigten an einer Abstimmung – ein bis heute einsamer Rekord. Zum Vergleich: Bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 stimmten „nur“ 67 % der Wahlberechtigten ab und auch beim Brexit-Referendum 2016 waren es mit 72 % deutlich weniger. Das Ergebnis stand in der Nacht schnell fest: Die Mehrheit der Schott:innen stimmte für einen Verbleib im Vereinigten Königreich. Das Ergebnis fiel mit 55,3 % zu 44,7 % recht deutlich aus, vor allem angesichts der hektischen Lage in den zwei Wochen vor dem Referendum.36 In Edinburgh hatte die nationale und internationale Presse vor dem Holyrood-Parlament ihre Sendestationen aufgebaut. Vor allem bei den britischen Journalist:innen war ein kollektives Aufatmen zu spüren. Interessant war jedoch, dass vor dem Parlament vor allem Unabhängigkeitsanhänger:innen versammelt waren, auch katalanische Fahnen waren zu sehen. Partys von Unionsanhänger:innen waren nirgends zu sehen. Was war also passiert und wie lässt sich das Ergebnis erklären? Die allermeisten Kommentator:innen waren sich einig, dass letztlich die „schweigende Mehrheit“ das Referendum für das Vereinigte Königreich entschieden hat. Vor allem ältere Menschen waren mehrheitlich pro-unionistisch eingestellt. Auch die Mittelklasse ließ sich nicht so leicht von der Unabhängigkeit überzeugen. Im Umkehrschluss stimmten traditionelle Arbeiterviertel eher für die Unabhängigkeit, genau wie die Mehrzahl der jüngeren Schott:innen. Mit Letzterem hatte die

Abb. 10: Auszählung des Unabhängigkeitsreferendums in Ingliston.

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

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schottische Regierung gerechnet und erfolgreich darauf bestanden, dass auch 16- und 17-jährige das Wahlrecht bekamen. Die ungleiche Verteilung der Wahlpräferenzen lässt sich regional gut zeigen: Während das eher wohlhabende Edinburgh deutlich mit Nein stimmte, landeten die wirtschaftlich eher kämpfenden Städte Glasgow und Dundee auf der Yes-Seite. Insbesondere Glasgow war bedeutend, weil die Stadt eigentlich immer eine Labour-Hochburg gewesen war; doch die Labour-Wähler:innen wollten im Gegensatz zur Parteiführung keine Fortsetzung der alten Union. Und wie sich bald herausstellte, war der Schwenk zur Unabhängigkeit auch ein Schwenk zur SNP, der das Referendum überdauern sollte. Noch am Tage nach dem Referendum kündigte der schottische First Minister Alex Salmond seinen Rücktritt an. Damit ersparte er sich und seiner Partei lange Debatten und ermöglichte einen unmittelbaren Neustart. Und der sollte alle Beobachter:innen in seiner Wucht überraschen. Denn schon bald zeichnete sich ab, dass das Referendum zwar an die No-Kampagne gegangen war, doch die Stimmung sich schnell zugunsten der SNP drehte.

… doch die SNP legt zu Die erstaunlichen Ereignisse im Gefolge des Referendums fasste Iain Macwhirter in seinem Buch Disunited Kingdom im Untertitel sehr gut zusammen: „Wie Westminster ein Referendum gewann, aber Schottland verlor.“37 Was war geschehen? Eigentlich hätte man davon ausgehen müssen, dass ein zehnprozentiger Vorsprung in einem Referendum die zu entscheidende Frage dauerhaft klären würde. Doch das Gegenteil passierte: Innerhalb weniger Monate vervierfachte sich z. B. die Mitgliedschaft der SNP von 24 000 auf über 100 000 Mitglieder. Über Nacht wurde die SNP gemäß der Mitgliederzahl zur drittgrößten Partei Großbritanniens.38 Auch die schottischen Grünen, die ebenfalls für die Unabhängigkeit geworben hatten, konnten ihre Mitgliedschaft explosionsartig ausbauen (► Kap. 3.4). Im Nachgang zum Referendum gab es zudem mehrfach Pro-Unabhängigkeitsdemos in Edinburgh und Glasgow. Die designierte neue SNP-Chefin Nicola Sturgeon ging auf eine geradezu triumphale Bewerbungstour, bei der sie im Stile eines Rock-Stars Hallen mit über 10 000 Menschen füllte.39 Auch etablierte sich in Zeiten eines schrumpfenden Zeitungsmarktes eine neue, explizit für die Unabhängigkeit eintretende Zeitung, The National. Mit anderen Worten: Die Verlierer des Referendums weigerten sich schlicht, einfach nach Hause zu gehen. Die vielen Aktivist:innen, die den ganzen Sommer über Wahlkampf betrieben hatten, strömten nun in die beiden Unabhängigkeitsparteien, um für ihre politischen Überzeugungen weiter aktiv zu bleiben. Aus einer Graswurzel-Kampagne wurde eine Partei-Kampagne. Ein ähnliches Massenphänomen hatte es in Schottland seit dem Aufstieg der Labour Party nicht mehr gegeben. Auf der Suche nach den Gründen des Ergebnisses stößt man auf zwei gewichtige Argumente: Zum einen waren auch die 44,7 % Yes-Stimmen im Grunde

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2 Risse in der Union

eine Sensation. Denn bis zum Beginn der Referendumskampagne hatte es, wie dargelegt, dauerhaft nie mehr als ca. 30–35 % Unabhängigkeitsbefürworter:innen gegeben. Und die Details einer möglichen Loslösung vom Vereinigten Königreich waren eigentlich niemals richtig ausbuchstabiert worden. Das hatte sich nun geändert – und mit der Kampagne hatte sich die Basis der Unabhängigkeitsbewegung einerseits vertieft und andererseits um eben diese 10–15 % Wählerstimmen erweitert. Das euphorisierte durchaus viele Beteiligte. Zum anderen zeigte sich schon direkt nach dem Referendum, dass die unionistischen Parteien es mit ihrem „Gelübde“ nicht ganz so ernst gemeint hatten. Von „Föderalismus“ und „erheblichen neuen Rechten“ für das schottische Parlament war schon bald nicht mehr die Rede. Stattdessen traten die „normalen“ Differenzen zwischen Konservativen, Labour und Liberalen sofort wieder zutage. Am weitesten ging dabei Premierminister David Cameron, der schon am Tag nach dem Referendum mehr Autonomie für Schottland mit dem Prinzip „English votes for English laws“ verknüpfte. Das bedeutete, dass in Zukunft nur noch englische Unterhaus-Abgeordnete über Gesetze abstimmen sollten, die allein England betrafen.40 Im Klartext: Das britische Unterhaus sollte also manchmal weiterhin ein britisches Parlament bleiben, hin und wieder aber auch ein rein englisches unter Ausschluss der schottischen, walisischen und nordirischen Abgeordneten sein. Dieser vom Start weg sehr kontroverse Plan hatte mit Föderalismus nichts zu tun. Oder wie Macwhirter feststellte: „England muss noch davon überzeugt werden, dass es eine neue Verfassung benötigt oder überhaupt irgendein kodifiziertes Dokument, das explizit Souveränität aufteilt.“41 Zwar einigten sich die drei Parteien zusammen mit der schottischen Regierung auf die Einrichtung der Smith Commission (s. u.), um weitere Machtbefugnisse von London an Edinburgh zu übertragen, aber eine substanzielle Änderung des Verfassungsgefüges für das gesamte Vereinigte Königreich war nicht mal im Ansatz zu erkennen. Das wiederum spielte der SNP in die Karten und erklärte ihren explosionsartigen Zuwachs. Schon in seiner Rücktrittsansprache am 19. September hatte Alex Salmond davon gesprochen, dass die Situation nach dem Referendum für die SNP voller neuer Möglichkeiten sei und man in Westminster die unionistischen Parteien auf ihre Versprechen festnageln werde. Viele Kommentator:innen hatten dies zunächst als unrealistisch abgetan, weil sie eine tiefe Frustphase für die SNP vorhersahen oder sich eine solche wünschten. Doch die neuen euphorischen Mitgliedermassen der SNP bewiesen bald das Gegenteil: Ihr neues Ziel war ein überwältigender Wahlsieg der SNP bei den Unterhauswahlen im Mai 2015. Und hier arbeitete das Mehrheitswahlrecht für die SNP. Denn während sie mit 45 % der Stimmen stabil vorne lag, verteilten sich die 55 % des unionistischen Lagers wieder auf drei Parteien. Das sollte für die unionistischen Parteien zur Katastrophe führen – und genau das gab dem Yes-Lager ein neues, mobilisierendes Ziel.

2.3 Das Unabhängigkeitsreferendum 2014

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Nicola Sturgeon übernimmt Inmitten der turbulenten Nachreferendumszeit vollzog sich bei der SNP eine absolut geräuschlose Machtübergabe: Der politische Übervater der Partei, Alex Salmond, hatte ja bereits am Tag nach dem Referendum seinen Rückzug angekündigt. Andere Parteien hätte dies in einen monatelangen internen Machtkampf stürzen können. Nicht so bei der SNP. Dort war die Machtübergabe an seine Nachfolgerin seit Jahren strategisch vorbereitet worden. Bereits 2004 hatte Alex Salmond bei der Rückkehr an die Parteispitze die damals 34-jährige Juristin und Parteiaktivistin Nicola Sturgeon zu seiner Stellvertreterin erkoren. 2007 stieg sie im ersten SNP-Kabinett zur Gesundheitsministerin und zur stellvertretenden Ministerpräsidentin auf. 2012 übernahm sie dann für die schottische Regierung die zentrale Aufgabe, die Referendums-Kampagne zu steuern. Sturgeon war also bestens vorbereitet.42 Innerhalb der SNP war das Tandem Salmond/Sturgeon völlig unangefochten und niemand in der Partei sprach Sturgeon das Recht ab, Anspruch auf die Partei- und Regierungsspitze erheben zu können, sollte Alex Salmond abtreten. Diese Situation war nun eingetreten. In den zwei Monaten bis zu ihrer Wahl ging sie auf Vorstellungs-Tournee in Schottland. Der Enthusiasmus, der ihr entgegenschlug, war außergewöhnlich. Immerhin hätte sie als Koordinatorin der SNP-Referendums-Kampagne auch viele kritische Nachfragen bekommen können, was denn nun schiefgelaufen sei und warum am Ende die letzten fünf Prozent zum Sieg fehlten. Doch nichts dergleichen geschah. Mit Nicola Sturgeon verband die Mitgliedschaft der SNP offensichtlich die Hoffnung, dass es die Chance auf ein baldiges zweites Referendum geben könnte – und die Hoffnung auf einen historischen Wahlsieg bei den Unterhauswahlen im Mai 2015. Sturgeon war auch die erste SNP-Politikerin seit einer Generation, die keinerlei Ambitionen auf eine Karriere im Londoner Unterhaus hegte, sondern sich allein auf Schottland konzentrierte. Zudem waren viele der Meinung, dass es gut sei, wenn der oft arrogant wirkende Salmond durch die eher geschäftsmäßig kompetent wirkende Sturgeon abgelöst würde. Da es keine Gegenkandidaten gab, gelangte Sturgeon Mitte November reibungslos an die Parteispitze und wurde am 19. November 2014 zur ersten Frau an der Spitze der schottischen Regierung gewählt. Sie stand einer Partei mit nunmehr über 100 000 Mitgliedern vor, die zwar ein Referendum verloren hatte, aber voller Enthusiasmus auf das „Rückspiel“ hoffte. Ein neues politisches Zeitalter hatte in Schottland begonnen.

Das Wahl-Beben von 2015 Sturgeon stand bei ihrem Amtsantritt vor drei großen Aufgaben, zwei davon waren kurzfristig, die dritte war mittelfristig der Gewinn der nächsten Regionalwahlen 2016. Kurzfristig galt es zum einen, der britischen Regierung bei der

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schon erwähnten Smith Commission so viele Zugeständnisse wie irgend möglich abzuringen, damit das schottische Parlament ungeachtet aller Unabhängigkeitsdebatten einen realen Machtzuwachs erfahren konnte. Das gelang auch in einem gewissen Umfang: Die politischen Vorschläge der Kommission wurden Ende November 2014 veröffentlicht und mündeten in den Scotland Act von 2016. So billigte die britische Regierung z. B. erstmals die Übergabe von bestimmten fiskalischen und sozialpolitischen Kompetenzen. Auch sollte die permanente Rolle des schottischen Parlamentes festgeschrieben werden.43 Das war natürlich deutlich weniger als im „Gelübde“ versprochen – und es war ganz sicher nicht die „moderne Form von schottischem Home Rule“, die Gordon Brown versprochen hatte. Und das konnte Sturgeon für ihr zweites kurzfristiges Ziel politisch bestens ausnutzen, indem sie den Tories und Labour – durchaus berechtigt – Wortbruch vorwarf. Das zielte insbesondere auf die vielen Labour-Wähler:innen, die überlegten, ob sie zu Labour zurückkehren oder doch den langfristigen Schritt zur SNP wagen sollten. Denn Sturgeon wollte auch bei den anstehenden Unterhauswahlen Labour von Platz 1 in Schottland verdrängen und die SNP endgültig zur dominierenden Kraft machen. Ihr Vorhaben wurde dadurch unterstützt, dass sich die schottische LabourSektion im Herbst 2014 in einen heftigen internen Machtkampf verstrickte, aus dem schließlich Jim Murphy als Gewinner hervorging. Hängen blieb jedoch, dass Murphys Vorgängerin die Partei als zu „London-hörig“ dargestellt hatte.44 Wenig hilfreich war zudem, dass Parteigrößen wie Gordon Brown definitiv ausschlossen, sich selbst für das schottische Parlament aufstellen zu lassen. Das nährte den Verdacht, dass Labour nicht allzu sehr an der Wahrung der schottischen Interessen gelegen war. Während also die Verlierer:innen des Referendums nur so vor Kraft strotzten, waren die Gewinnerseite parteiintern und auch parteiübergreifend zerstritten. Von den vielen neuen Machtbefugnissen des „Gelübdes“ war kaum etwas übrig geblieben. Diese gegenläufigen Entwicklungen sollten die politische Landkarte Schottlands innerhalb weniger Monate erneut dramatisch ändern. Große Teile der schottischen Bevölkerung waren offensichtlich der Meinung, dass ungeachtet des Nein-Votums eine starke schottische Interessenvertretung gegenüber der konservativ-liberalen Londoner Regierung nötig war. Und das garantierte nach Lage der Dinge nicht mehr Labour, sondern die SNP. Kurz vor der Wahl sah es auf britischer Ebene nach einem Kopf-an-KopfRennen zwischen den Tories und Labour unter Ed Miliband aus. Spekulationen über die Stützung einer Labour-Minderheitsregierung durch die SNP machten bereits die Runde.45 Für die SNP wurde ein großer Wahlsieg in Schottland vorausgesagt. Die schottischen Nationalist:innen konnten tatsächlich am 7. Mai 2015 ihren bislang größten Wahlsieg feiern: Sie gewannen mit 50 % der schottischen Stimmen aufgrund des Mehrheitswahlrechts nicht weniger als 56 von 59 schottischen Unterhausmandaten. Die SNP konnte gegenüber 2010 eine Vergrößerung des Stimmenanteils von sage und schreibe 30,1 % der Stimmen erzielen

2.4 Das Brexit-Referendum 2016

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– in „normalen“ Wahlen ein Ding der Unmöglichkeit. Aber die Zeiten waren offensichtlich nicht mehr normal. Auf Labour, Liberale und Tories entfiel deshalb nur noch jeweils ein einziges Mandat – 2010 hatte Labour noch 41 Mandate gewonnen. Dieses heftige Wahlbeben färbte die schottische Landkarte nun fast durchgehend gelb (die Parteifarbe der SNP). Dass dieses Erdbeben im Norden der britischen Insel nicht größere Auswirkungen hatte, lag einzig und allein daran, dass der konservative Premierminister Cameron zeitgleich in England selbst völlig unerwartet einen großen Wahlsieg einfuhr und so im Unterhaus sogar die absolute Mehrheit erzielte. Das bedeutete, dass er keine Koalition mehr mit den stark reduzierten Liberalen benötigte – er hatte nun freie Hand.

2.4

Das Brexit-Referendum 2016

David Cameron: der Spieler Nach seinem Überraschungssieg im Mai 2015 hätte sich David Cameron eigentlich entspannt zurücklehnen können. Sein politisches Spiel in Zusammenhang mit dem Schottland-Referendum war in weiten Teilen aufgegangen: Die Tories regierten in London wieder allein, der liberale Koalitionspartner war als politische Konkurrenz auf absehbare Zeit ausgeschaltet und die Labour Party war durch die massiven Verluste in Schottland angesichts des Aufstiegs der SNP dauerhaft geschwächt. Zugleich war die „schottische Frage“ aus Sicht der englischen Politik für eine ganze Generation entschieden. Hätte David Cameron es dabei belassen, er würde heute wahrscheinlich als einer der erfolgreichsten und durchsetzungsstärksten Tory-Premierminister der Nachkriegsgeschichte gelten – womöglich noch vor Margaret Thatcher.46 Doch Cameron entschied sich schon unmittelbar nach der Wahl, für Juni 2016 ein Referendum zum Verbleib in der EU anzukündigen. Dies hatte er 2013 in seiner sogenannten „Bloomberg-Rede“47 seinem EU-feindlichen Parteiflügel versprochen und dies auch ins Wahlprogramm aufgenommen. Zudem sah sich die Parteiführung einer zunehmenden Konkurrenz durch die explizit EU-feindliche UK Independence Party (UKIP) unter dem populistisch agierenden englischen EUAbgeordneten Nigel Farage ausgesetzt. Bereits 2009 hatte UKIP bei den EuropaWahlen 16 % der Stimmen erzielt. 2014 hingegen wurde UKIP mit 26,6 % der Stimmen und 24 von 73 Sitzen landesweit sogar stärkste Kraft bei den EuropaWahlen und drängte die Konservativen auf den dritten Platz ab.48 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass UKIP in Schottland keine vergleichbaren Erfolge erzielen konnte und 2009 nur auf 5,2 % der Stimmen sowie in 2014 auf 10,5 % kam.49 In beiden Wahlen lag die SNP in Schottland mit jeweils

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2 Risse in der Union

29 % vorne.50 Auch dies belegt die klar unterschiedlichen Wahleinstellungen in Schottland im Vergleich zum restlichen Vereinigten Königreich, insbesondere hier natürlich England. Im Nachhinein ist es unerheblich, ob Premier Cameron sich mehr vor den eigenen EU-Skeptiker:innen oder der UKIP fürchtete. Er vergab ohne erkennbare Not seinen persönlichen Wahlsieg, indem er bereits wenige Wochen nach der Unterhauswahl ein neues Referendumsgesetz auf den Weg brachte. Es ist offensichtlich, dass er nicht an die möglichen Folgen eines Scheiterns dachte – weder für Großbritannien noch für die EU, und vielleicht nicht mal für sich selbst. Auch die Frage, welche Auswirkungen das Referendum auf den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs haben könnte, scheint er sich nicht gestellt zu haben. Zudem hatte er bereits wieder verdrängt, wie schwer umkämpft der Erfolg beim Schottland-Referendum gewesen war – stattdessen offenbarte sich hier erneut eine ausgeprägte Spieler-Natur, die alles auf eine Karte setzt. Dass er das Referendum bis heute nicht bereut hat und weiterhin für „notwendig“ und „letztlich unausweichlich“ hält, wie seine 2019 erschienenen Memoiren For The Record belegen, hat ihm viel Kritik und Häme eingetragen.51 Fakt ist, dass durch seine hastige Entscheidung nach der Wahl 2015 das folgende Jahr bis zum Juni 2016 auf britischer Ebene politisch nur noch vom BrexitReferendum bestimmt wurde. Cameron verband damit seine zweite Amtszeit einzig und allein mit der Brexit-Frage. Das erlaubte zugleich der SNP, ihren eigenen historischen Wahlerfolg in Ruhe und ohne viele Gegenattacken zu sichern – und sich so gelassen auf die schottischen Regionalwahlen im Mai 2016 vorzubereiten. In London maß man dieser Wahl nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum keine große Bedeutung mehr bei – das nahende Brexit-Referendum zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Schottland auf Europakurs Hier soll nicht die hektische, z. T. skurrile und auch sehr populistische BrexitKampagne im Detail nachvollzogen werden, es geht vielmehr um die schottischen Besonderheiten. Schon im vorigen Absatz wurde klar, dass eine Schlüsselfigur der Brexit-Kampagne in Schottland auf wesentlich geringeren Anklang stieß als in England und Wales. UKIP-Chef Nigel Farage entwickelte sich zu einer Art persona non grata in Schottland. Schon 2013 hatte der umstrittene Farage einen Wahlkampfauftritt in Edinburgh abbrechen müssen, nachdem Gegendemonstrant:innen ihn in einen Pub abgedrängt hatten und ihn die Polizei schließlich evakuieren musste.52 Für viele Schott:innen war und ist Farage geradezu das Sinnbild eines arroganten und überheblichen Engländers. Das machte ihn und seine Partei in Schottland nach den Erfahrungen mit Margaret Thatcher in weiten Teilen unwählbar. Es ist deshalb festzuhalten, dass der Anspruch von Farages Partei, UK – also das gesamte Vereinigte Königreich – zu vertreten, so nicht zutraf.

2.4 Das Brexit-Referendum 2016

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Auch ansonsten unterschieden sich die schottischen Kampagnen zum Brexit-Referendum radikal von denen in England oder Wales. In Schottland übernahm die SNP-Regierung unter Nicola Sturgeon sehr aktiv die Führung der Pro-Europa-Kampagne. In London argumentierte David Cameron eher halbherzig für die weitere EU-Mitgliedschaft und verlangte von den anderen EU-Partnern weitreichende Zugeständnisse, um eine Fortsetzung der Mitgliedschaft zu ermöglichen. Zudem stellte sich der damalige Londoner Oberbürgermeister Boris Johnson in seinen letzten Amtswochen gegen die EU-Mitgliedschaft, was die Tories in der EU-Frage öffentlich spaltete. Johnson griff während der Kampagne auch zu harten Vergleichen, so verglich er z. B. die EU-Politik mit den Eroberungskriegen von Hitler und Napoleon.53 Auch bei Labour waren nicht alle Parteifunktionäre positiv gegenüber der EU eingestellt, darunter der neue Parteivorsitzende Jeremy Corbyn sowie führende Gewerkschaftsfunktionäre und auch einige Parlamentsabgeordnete. Die Partei zeigte sich in dieser wichtigen Frage gespalten. Das erklärt auch, warum Labour in den Post-Referendumsjahren trotz entsprechender politischer Möglichkeiten im Unterhaus niemals einen praktikablen Gegenkurs zum harten Brexit formulieren und durchsetzen konnte (► Kap. 2.5). Die Liberalen waren zwar pro-europäisch aufgestellt, durch ihre fünfjährige Koalition mit den Tories jedoch auf einem Tiefpunkt ihrer Beliebtheit angelangt. Dagegen konnte die SNP in Schottland auf ihre seit langem bekannte proeuropäische Einstellung verweisen. Schon in die Unterhauswahl 2015 war die SNP mit dem Versprechen gegangen, sich gegen ein Brexit-Referendum zu stellen, den Austritt aus der EU abzulehnen, insbesondere falls er gegen den Willen einer Mehrheit der schottischen Wähler:innen vollstreckt werden sollte.54 Die SNP nahm für den pro-europäischen Kurs sogar in Kauf, dass Teile ihrer eigenen Wählerschaft sich womöglich von der SNP abwenden würden – vor allem in den ländlichen Regionen im Süden und Nordosten, wo Fischerei und Landwirtschaft noch eine große Rolle spielen. Dieser Negativeffekt trat für die SNP bei den Regionalwahlen 2016 und den vorgezogenen Unterhauswahlen 2017 dann auch tatsächlich ein.55 Das konsequent pro-europäische Verhalten der SNP war also aus rein wahltaktischer Perspektive durchaus ungewöhnlich, weil es das genaue Gegenteil des ständig nachgebenden Verhaltens von David Cameron gegenüber den EU-Skeptiker:innen in seiner Partei darstellte. Dazu kam, dass in Schottland auch alle anderen Mainstream-Parteien – von den Tories über Labour und den Liberalen bis zu den Grünen – für den Verbleib in der EU argumentierten. Sowohl die Tories wie auch Labour stellten sich in Schottland wesentlich eindeutiger auf die Pro-EU-Seite als in London, was dazu führte, dass die Brexit-Debatte recht schnell auch eine englisch-schottische Dimension bekam. Das Unabhängigkeitsreferendum lag schließlich gerade erst wenige Monate zurück. Wer die immer hektischeren Debatten in England im Vorfeld des Brexit-Referendums am 23. Juni 2016 mitverfolgte, konnte eine ähnliche Aufladung der

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2 Risse in der Union

politischen Szene in Schottland nicht feststellen. Populistische Auftritte von Nigel Farage oder Boris Johnson waren in England großes Thema, nicht aber in Schottland. Wurden in England immer stärker die Nachteile der EU hervorgehoben, so fokussierte sich die Debatte in Schottland auf die Vorteile der EU-Mitgliedschaft. Wichtigste Ausnahmen waren, wie gesagt, die Fischerei und auch Teile der Landwirtschaft – aber nicht z. B. die Export-Industrien wie Whisky. Man konnte im Vorlauf zum Brexit-Referendum durchaus den Eindruck gewinnen, als wären Schottland und England in diesem Punkt tatsächlich zwei verschiedene Welten. Der politische Brexit-Druck kam eindeutig aus England. Auch aus der irischen Nachbarschafts-Perspektive sah der Historiker Fintan O’Toole in der Brexit-Kampagne deshalb eher den Ausdruck eines englisch geprägten Nationalismus als ein gesamtbritisches Projekt.56

Mai 2016: Die SNP gewinnt erneut in Edinburgh Wie groß die politischen Unterschiede zwischen England und Schottland waren, wurde wenige Wochen vor dem Referendum auch bei den fünften Regionalwahlen für das schottische Parlament deutlich. Klare Gewinnerin am 5. Mai 2016 war die SNP. Sie errang erneut einen überzeugenden Wahlerfolg. Die SNP verlor zwar knapp ihre absolute Mehrheit an Sitzen, steigerte aber ihren Erst-Stimmenanteil auf 46,5 % (Zweitstimmen 41,7 %). Auf Platz 2 landeten überraschend die Konservativen mit 22 % der Erststimmen (Zweitstimmen 22,9 %) und 31 Sitzen – praktisch eine Verdopplung des Sitzanteils. Dieser Erfolg wurde vor allem ihrer offensiv auftretenden Parteichefin Ruth Davidson zugeschrieben, die zu diesem Zeitpunkt auch gegenüber der Londoner Zentrale durchaus Eigenständigkeit demonstrierte. Labour lag mit 22,6 % der Erststimmen noch vor den Konservativen, doch die mageren 19,1 % der Zweitstimmen reichten nur noch für 24 Sitze. Die Grünen verdreifachten ihren Sitzanteil auf sechs Mandate, die Liberalen blieben abgeschlagen bei fünf Sitzen.57 Im Ergebnis war dieser dritte Wahlsieg in Folge eine Bestätigung für die SNP. Nicola Sturgeon konnte sogar ohne Koalitionspartner weiter im Amt bleiben und erneut eine SNP-Alleinregierung bilden. In vielen wichtigen Fragen sollte sich in den kommenden Jahren immer wieder eine Übereinkunft mit den Grünen erzielen lassen, die ja auch für die Unabhängigkeit warben und pro-europäisch eingestellt waren. Bei Fragen zum Brexit waren immer auch Allianzen mit Labour und den Liberalen möglich. Auch diese Offenheit, sich zumindest punktuell in wichtigen Fragen zu einigen, belegt, wie andersartig Politik in Schottland manchmal im Vergleich zu Westminster funktioniert. Obwohl erneut in der Minderheit war die Regierung von Nicola Sturgeon deshalb zu keinem Zeitpunkt gefährdet – und im Gegensatz zu London, wo es im selben Zeitraum zwei vorgezogene Neuwahlen geben sollte, war das Parlament in Edinburgh jederzeit arbeitsfähig.

2.4 Das Brexit-Referendum 2016

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Für die Zukunft bedeutend waren zwei Versprechen im SNP-Wahlmanifest 2016: Zum einen setzte sich die Partei klar für den Verbleib in der EU ein, zum anderen reklamierte die SNP für sich das Recht, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anpeilen zu können, sollte sich eine „signifikante und materielle“ Änderung der politischen Umstände ergeben. Das wurde explizit darauf bezogen, dass Schottland beim Brexit-Referendum wenige Wochen später „gegen unseren Willen“ aus der EU hinausgezwungen würde.58 Damit verknüpfte die SNP den Brexit mit der schottischen Unabhängigkeitsfrage – und bekam dies an der Wahlurne bestätigt.

Brexit: Schottland sagt nein Während im Ausland die Meinung vorherrschte, dass die britische Regierung das Brexit-Referendum genau wie das schottische Unabhängigkeitsreferendum schon irgendwie gewinnen werde, zeigte sich schon beim flüchtigen Blick in die britischen TV-Diskussionen und in manche Umfragen, dass sich insbesondere in England (außerhalb von London) sowie in Wales eine immer EU-kritischere Stimmung breitmachte. Angeheizt wurde dies durch wohlklingende Versprechen, die sich im Nachhinein oft als falsch erwiesen. So wurden beim EU-Austritt wöchentlich mindestens 350 Mio. Pfund zusätzlich für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS versprochen. Für Schottland relevant war das Versprechen, dass die Fischer wieder volle Kontrolle über die britischen Seegewässer erhalten würden. Die Zuwanderung aus der EU sollte gestoppt werden. Auch wurden ohne konkrete Angaben fantastische neue Handelsverträge nach dem Brexit versprochen. Der Slogan des späteren Johnson-Beraters Dominic Cummings „Take Back Control“59 suggerierte, dass Großbritannien die Kontrolle über das eigene Land an die EU verloren habe. „Brüssel“ wurde zum Synonym für eine z. T. sehr nostalgisch geführte Debatte. In Schottland wurde diese Debatte oft nur kopfschüttelnd verfolgt. Mit immer größerem Unverständnis verfolgte man, dass z. T. dieselben Politiker:innen, die 2014 noch vor einem EU-Rausschmiss Schottlands im Falle der Unabhängigkeit gewarnt hatten, nun selbst den EU-Austritt forderten. War schon das „Gelübde“ im Nachhinein als politisch leeres Versprechen kritisiert worden, so brach nun eine zweite zentrale Planke der Kampagne gegen die schottische Unabhängigkeit in sich zusammen. Genau deshalb hatte sich die SNP im Mai 2016 mit der Aussage wählen lassen, dass ein EU-Austritt gegen den Willen Schottlands eine derart materielle Änderung der Umstände sein würde, dass die schottische Regierung berechtigt sei, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum (kurz „Indyref2“) durchzuführen. Die Drohung war klar: Kommt es zum Brexit, dann wird auch Schottland einen zweiten Anlauf zur Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich nehmen. Die Wähler:innen in England und Wales beeindruckte dies nicht. Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 % der britischen Wähler:innen für den Brexit, bei einer

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Wahlbeteiligung von 72,2 %.60 Regional gab es allerdings sehr große Unterschiede. Während London mit 60 % für die EU stimmte, gab es im restlichen England und in Wales klare Mehrheiten für den Brexit. In Nordirland sprachen sich hingegen 55,8 % gegen den Brexit aus, was sich der besonderen Situation auf der irischen Insel verdankte (► Exkurs 4). Am größten war die Ablehnung des Brexits jedoch in Schottland: Hier stimmten 62 % gegen den EU-Austritt, nur 38 % waren dafür. Dafür lag die Wahlbeteiligung nur bei vergleichsweise mageren 67,2 %. Diese unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung zeigte sich auch in den beiden anderen Pro-EU-Regionen London (69,7 %) und Nordirland (62,7 %). Aber die politische Botschaft war eindeutig: England und Wales hatten sich mehrheitlich gegen die EU gestellt, Schottland, Nordirland und London waren mehrheitlich für die EU-Mitgliedschaft. Damit offenbarte das Referendumsergebnis regional klar unterschiedliche Präferenzen. Das Worst-Case-Szenario der SNP war jedenfalls eingetreten: Schottland würde nun gegen den eigenen Mehrheitswillen aus der EU austreten müssen. In England kümmerte das am Tag nach dem Referendum niemand, dort stand alles im Zeichen des Rücktritts von Premierminister David Cameron, während Boris Johnson und Nigel Farage triumphierten.

„Brexit means Brexit“ Bei der EU und den EU-Regierungen herrschte am Tag nach dem Referendum ungläubiges Staunen – ein Eckpfeiler der EU hatte sich mit knapper Mehrheit entschieden, den europäischen Staatenverbund zu verlassen. Der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte später, es sei ein Fehler gewesen, sich derart stark auf die Zusagen von Premier Cameron verlassen zu haben und sich auf sein Anraten hin im Prinzip aus dem Referendumswahlkampf herausgehalten zu haben.61 Fakt ist, die EU hatte vielen der verzerrten Anti-EU-Storys nicht widersprochen. So war vielen Brit:innen nicht klar, in welchen Bereichen die EU z. B. mit Subventionen strukturell benachteiligte Regionen oder aber auch die Landwirtschaft und Fischerei unterstützte. Cameron war der Meinung gewesen, dass eine direkte Intervention der EU nur die Gegenseite stützen würde. Nun ging Cameron jedoch und als Erstes wurde die Suche nach einer Nachfolgerin bzw. einem Nachfolger als Premierminister notwendig. In diesem Rennen setzte sich schnell die bisherige Innenministerin Theresa May durch, die schon am 13. Juli 2016 im Unterhaus gewählt wurde. May war u. a. durch ihre harte Linie in Migrationsfragen aufgefallen. Als Konzession an die Hardliner holte sie den Brexit-Befürworter Boris Johnson als Außenminister ins Kabinett. May prägte als zentralen Leitsatz ihrer drei Amtsjahre den Slogan „Brexit means Brexit“ und führte dazu erklärend aus:

2.4 Das Brexit-Referendum 2016

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„Es wird keine Versuche geben, in der EU zu bleiben oder dieser durch die Hintertür wieder beizutreten – und es wird auch kein zweites Referendum geben. Das Land hat dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen. Und als Premierministerin werde ich sicherstellen, dass wir die Europäische Union verlassen.“62

Doch was sollte dies konkret bedeuten? Würde Großbritannien dennoch im EUBinnenmarkt bleiben oder in der Zollunion? Würde es für unterschiedliche Landesteile unterschiedliche Lösungen geben, z. B. um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland offenzuhalten? Darauf gab es zunächst nur eine einzige gebetsmühlenartig wiederholte Antwort aus dem Regierungssitz in der Downing Street: „Brexit bedeutet Brexit“. So verbarg der auf den ersten Blick klare Slogan eine vollkommene Ratlosigkeit bei der neuen Regierung, wie mit dem Referendumsergebnis umzugehen sei. O’Toole vergleicht dies mit jemandem, der die Tischdecke wegzieht und sich dann wundert, dass alles auf dem Tisch runterfällt und zerbricht.63 May verschlimmerte das Chaos Anfang 2017 noch durch eine weitere Ansage: „No deal is better than a bad deal“ – also: „gar kein Deal ist besser als ein schlechter“.64 Damit ermunterte sie die Hardliner in ihrer Partei, offensiv den härtestmöglichen Austritt aus der EU zu fordern und so das Pendel der öffentlichen Debatte immer weiter zu verschieben. In der Situation musste am Ende jeder Kompromiss mit der EU wie ein schlechter Deal aussehen. May hatte sich damit in eine politische Ecke manövriert, aus der sie während ihrer Amtszeit nicht mehr herauskam. Aus schottischer Perspektive war das Brexit-Referendum eine Katastrophe. Mays harte Rhetorik stieß auf Entsetzen. Die Fragen nach einem Verbleib im EUBinnenmarkt oder einer schottischen Sonderlösung, waren für Schottland von mehr als nur akademischem Interesse. Für den weiteren Verlauf der Debatte war enorm wichtig, dass sich die schottische Regierung unter Nicola Sturgeon umgehend auf das europäische Parkett begab, um die schottische Position eigenständig auf dem Kontinent vorzutragen. Seit dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 war dort allgemein bekannt, dass die Dinge in Schottland offensichtlich anders liefen und London nicht unbedingt die Meinung im Norden der Insel wiedergab. Bereits am 29. Juni, also nur sechs Tage nach dem Referendum, fuhr Sturgeon nach Brüssel, um sich mit Kommissionspräsident Juncker und dem Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, zu treffen.65 Sie hatte sich dazu am Tag zuvor mit den Stimmen von SNP, Labour, Liberalen und Grünen ein parteiübergreifendes Mandat vom schottischen Parlament geben lassen. Nicht einmal die Konservativen wehrten sich gegen diese Gespräche und enthielten sich.66 Deutlicher konnte das politische Unbehagen über das negative Brexit-Referendum in Schottland – auch gegenüber den eigenen Partei-Establishments in London – nicht ausgedrückt werden.

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2 Risse in der Union

Im Gegensatz zu den Versuchen der Kontaktaufnahme im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums 2014 war Nicola Sturgeon in Brüssel nun ein freundlicher Empfang sicher, der international große Beachtung fand. So berichteten sogar US-Medien wie CNN über Sturgeons Visite. Politischer Dissens nach dem Referendums-Desaster hatte jetzt Nachrichtenwert und die schottische Ministerpräsidentin war prompt zur Stelle, um diesen sehr deutlich zu machen. Sie stellte damit sicher, dass Schottland international als EU-freundlicher Teil von Großbritannien wahrgenommen wurde, was die zukünftige britische Premierministerin May schon vor Amtsantritt unter Druck setzte. Langfristig führte das auch dazu, dass bis heute bei Artikeln über den Brexit in der internationalen Presse immer wieder darauf verwiesen wird, dass Schottland in EU-Fragen eine radikal abweichende Meinung von der britischen Regierung vertritt. Sturgeon und das schottische Parlament untermauerten damit den Anspruch auf eine eigenständige außenpolitische Vertretung Schottlands und setzten für den Zuständigkeitsbereich der schottischen Regierung und des Parlaments in Edinburgh durchaus einen neuen Maßstab. Im Prinzip hat das Brexit-Referendum Schottland den Weg auf die internationale politische Bühne neu geöffnet – ein erstes Indiz dafür, dass es mit dem Brexit nicht so einfach werden würde. Nicola Sturgeon war jedenfalls nicht gewillt, sich in Edinburgh zu verstecken, sondern ging in die Offensive.

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Von May zu Johnson, 2017–2020

Die vier Jahre nach dem Brexit-Referendum sind in Großbritannien im Rückspiegel politisch als eine primär selbstbezogene und von Verunsicherung geprägte Zeit in einer Art politischem Vakuum zu werten. Die britische Politik kreiste um die Frage des EU-Austritts, ohne jedoch entscheidende Fragen beantworten zu können oder zu wollen. Bis Ende 2019 gab es gleich zwei vorgezogene Neuwahlen in London und Premierministerin May scheiterte letztlich am Brexit genauso wie David Cameron. Am Ende zog Mitte 2019 Boris Johnson in den Amtssitz 10 Downing Street ein und vollzog das, was er mit der Referendumskampagne angestoßen hatte. Bevor es hier einen kurzen Überblick der Ereignisse gibt, sei darauf verwiesen, wie groß der Kontrast zwischen London und Edinburgh war: Während in London zwischen 2016 und 2019 politisch oft Stillstand herrschte und es im Unterhaus zu bislang ungekannten „Revolten“ gegen Regierungsvorlagen in Bezug auf den Brexit kam, erarbeitete die schottische Regierung eine konsistente Linie in Bezug auf die Brexit-Verhandlungen, für die es in Edinburgh oft parteiübergreifende Zustimmung gab. Die Ablehnung des Brexit-Prozesses sorgte in Edinburgh damit eher für eine Stabilisierung der ohnehin starken Regierung.

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Wie groß die Brexit-Probleme wirklich waren, dokumentierte sich vor allem an der Nordirland-Frage, die zu einem zentralen Problem bei den Brexit-Verhandlungen wurde und immer auch für Schottland direkte und indirekte Auswirkungen hatte und hat (► Exkurs 4).

Unsicherheiten in London Im Rückblick betrachtet offenbaren die Vorgänge in London zwischen 2016 und 2020, wie unvorbereitet die britische Politik auf die Ergebnisse des Brexit-Referendums war. David Cameron hatte mit dem Referendum alle kalt erwischt, es gab demnach keine Vorlagen, was im Falle eines Falles zu tun sei. Auf keine der schon oben skizzierten Fragen zum Binnenmarkt, zur Zollunion oder zu Nordirland gab es eine Antwort. Ja, man hatte den Eindruck, als würden einige Politiker:innen erst jetzt merken, was die EU-Mitgliedschaft eigentlich bedeutete für Großbritannien. Es ist wahrscheinlich aus diesem Unwillen, sich mit der realen EU zu beschäftigen, heraus zu verstehen, dass die einfachen Slogans der Anti-EU-Hardliner so griffig wirkten. Anstatt über die Vor- und Nachteile des Binnenmarktes oder der Zollunion im Detail nachzudenken, war es einfacher zu sagen, dann treten wir eben aus dem Binnenmarkt aus. Anstatt sich mit den Ansprüchen der Home Nations Schottland, Nordirland und Wales zu beschäftigen, war es einfacher, diese zu ignorieren. Jetzt zeigte sich, dass Großbritannien schon länger massive Probleme gehabt hatte, sich auf Verhandlungen mit den europäischen Partnern einzulassen und dabei auch Kompromisse zu schließen. Das beharrliche Pochen der Hardline-Brexiteers auf die absolute Souveränität Großbritanniens lag wie ein riesiger Felsbrocken vor jeder möglichen Verhandlungsposition. Schon die schlichte Frage, wann eigentlich Artikel 50 der EU-Verträge angewendet werden sollte, der den Austritt mit einer zweijährigen Kündigungsfrist regelt, überforderte die Regierung May. Durch Klagen vor den Gerichten war zudem dem Unterhaus ein Mitspracherecht beim Einreichen der Kündigung zugebilligt worden.67 Auch wenn es vielleicht nicht von allen so gesehen wurde: Damit war dem Parlament tatsächlich ein Stückchen mehr Souveränität gegenüber der Regierung zugebilligt worden. Auf der Straße gab es in London zudem mehrere proeuropäische Großdemonstrationen mit bis zu 1 Mio. Menschen. Auch aus Schottland gab es Druck: First Minister Nicola Sturgeon hatte sich im März 2017 vom schottischen Parlament das Recht zubilligen lassen, bei der britischen Regierung ein neues Unabhängigkeitsreferendum zu beantragen, weil der Brexit die Geschäftsgrundlage des Vereinigten Königreichs entscheidend verändert habe. May lehnte dies kühl ab: „Now is not the time“ – nun sei nicht die Zeit.68 Schließlich versuchte es Theresa May mit einem Befreiungsschlag: Am 29. März 2017 reichte sie die Kündigung der britischen EU-Mitgliedschaft ein und rief dann für den 7. Juni zu Neuwahlen des Unterhauses auf. Ihr Plan: Sie

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2 Risse in der Union

wollte sich eine größere Unterhausmehrheit sichern, um unabhängiger von den eigenen Hardlinern, aber auch gegenüber der EU verhandeln zu können. Doch der Plan scheiterte spektakulär, denn im Ergebnis verlor sie trotz prozentualen Stimmengewinnen die absolute Mehrheit und musste sich fortan auf die Stimmen der nordirischen Protestant:innen der Democratic Unionist Party (DUP) stützen. Grund für die Wahlniederlage war ein überraschendes Erstarken der Labour Party unter Jeremy Corbyn, der die Wahl eher auf soziale Fragen lenken konnte, weg vom anstehenden Brexit. Beide britische Parteien profitierten dabei von Gewinnen in Schottland auf Kosten der SNP, wo die Tories mit 13 Sitzen das beste Wahlergebnis seit 1983 einfuhren. Labour gewann wieder sieben Mandate, die SNP verlor 21 Sitze, belegte aber mit 35 Mandaten erneut komfortabel den ersten Platz.69 Vielfach wurde der Rückschlag für die SNP dem Vorstoß für ein neues Unabhängigkeitsreferendum zugeschrieben, der durch die Neuwahlen völlig ins Leere gelaufen war. Das Wahlergebnis führte in London zu einem Stillstand. Die Verhandlungen von May in Brüssel kamen lange nicht voran, ihre Abhängigkeit von den nordirischen Unionist:innen machte auch Kompromisse in der Irlandfrage extrem schwer. Als es konkreter wurde, traten 2018 u. a. der Brexit-Minister David Davies sowie Außenminister Johnson zurück – kein gutes Omen für Theresa May. Als das sogenannte Withdrawal Agreement zur Regelung des EU-Austritts dann im November 2018 vorlag, sah die Vereinbarung einen Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion vor, jedoch keine Sonderwege für Schottland oder Wales. Dafür wurde aber ein Sonderstatus für Nordirland anvisiert, der im Ernstfall – also ohne Verhandlungslösung für einen Handelsvertrag – ganz Großbritannien auf längere Zeit in der Zollunion mit der EU gehalten hätte.70 Diese sogenannte „Backstop“-Regelung war den Tory-Hardlinern und der DUP nicht zu vermitteln. Sie fürchteten, auf Dauer viel zu eng an die EU und die Zollunion gebunden zu sein. EU-freundlichen Abgeordneten wiederum ging der BrexitDeal viel zu weit. Prompt stimmte das Unterhaus gegen Mays Austrittsvertrag – und das gleich mehrfach, weil Theresa May den Vertrag unbeirrt immer wieder neu einreichte.71 Zugleich gab es im Unterhaus aber auch keine Mehrheiten für alternative Vorlagen, obwohl sich das Unterhaus mehrfach das Recht für eigene Vorschläge und Abstimmungen sicherte. Bei diesen Unterhaus-Abstimmungen im März 2019 standen z. B. die weitere Mitgliedschaft in der Zollunion oder im Binnenmarkt zur Wahl.72 Umstritten war aber schon der Vorgang an sich: Durfte das Unterhaus die Tagesordnung an sich ziehen? Der Vorwurf klingt kurios, denn bei einer Debatte, die sich offiziell um die Wiedergewinnung der Souveränität für das britische Parlament drehte, hätte dieser Vorgang eigentlich selbstverständlich sein sollen. Es zeigte sich jedoch, dass der berühmte Referendumsslogan „Take Back Control“ wohl eher auf die britische Regierung zugeschnitten war als auf das Parlament.

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Davon ungeachtet wurde das Unterhaus bei diesem Abstimmungsverhalten zu einem Parlament, das regelmäßig Nein sagte, sich aber auf keine Form des Ja einigen konnte. Das war angesichts der z. T. diametral entgegengesetzten Zielvorstellungen der May-Gegner:innen auch nicht zu erwarten. So verstrich die letzte Möglichkeit, einen relativ weichen Brexit zu vereinbaren. Außerdem musste die Austrittsfrist im März 2019 erstmals für sieben Monate bis Ende Oktober verlängert werden.

Schottlands Brexit-Position In Schottland lief die Diskussion naturgemäß ganz anders. Wie schon oben ausgeführt, begann die schottische Regierung unter Nicola Sturgeon schon wenige Tage nach dem EU-Referendum im Juni 2016 mit einer proeuropäischen Kampagne in Brüssel und band dazu das schottische Parlament vom ersten Tag an mit ein. Nach diesem – außerhalb von England – weitgehend positiv aufgenommenen Start in die Post-Referendumsphase begann Sturgeon die Verhandlungen zum Brexit systematisch zu organisieren. Im Sommer 2016 ernannte sie Mike Russell zum Brexit-Minister.73 Russell hatte schon mehrere Ministerposten innegehabt und galt daher als erfahren. Nach der Sommerpause begann das schottische Parlament die Auswirkungen des Brexits zu debattieren und eigene Positionen für die Verhandlungen festzulegen.74 Dies mündete darin, dass die schottische Regierung bereits am 20. Dezember 2016 als erste Regionalvertretung ein eigenes Grundsatzpapier zum Brexit vorlegte: Scotland’s Place in Europe setzte die Eckmarken für eine eigenständige Verhandlungsposition gegenüber der britischen Regierung. Schon im Vorwort gab Ministerpräsidentin Sturgeon die Richtung vor: „Auch wenn die Bedenken derjenigen, die für den EU-Austritt gestimmt haben, gehört und beantwortet werden müssen, gibt es in Schottland ganz offensichtlich das starke Verlangen, ein volles und aktives Mitglied der europäischen Nationenfamilie zu sein. Die schottische Regierung teilt dieses Verlangen.“75

Von Brexit-Gegner:innen wurde nach dem Referendum immer wieder – zumeist vergeblich – angemahnt, dass auch die 48,1 % der Bevölkerung, die sich für die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen hatten, eine Stimme haben müssten und auch ihre Belange berücksichtigt werden müssten. Umso stärker vertraten Sturgeon und die schottische Regierung dieses Anliegen, da sie 62 % der schottischen Wähler:innen hinter sich wussten. Dementsprechend setzte sich der Report klar für die weitere Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion ein: „Zentraler Aspekt der Vorschläge in diesem Dokument und für alle Verhandlungen mit der EU ist unser Willen, Schottlands gegenwärtige Position im Europäischen Binnenmarkt zu bewahren. Die schottische Bevölkerung stimmte nicht für den Brexit. Ein ‚harter Brexit‘ würde Schottlands wirtschaftliche, soziale und kulturelle Interessen stark beschädigen. Er würde Jobs

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2 Risse in der Union kosten und den Lebensstandard treffen – nachhaltig und permanent. Deshalb sind wir so entschlossen, dies abzuwenden. […] Wir schlagen vor, dass das Vereinigte Königreich als Ganzes im Europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion verbleiben sollte – mittels des Europäischen Wirtschaftsraums.“76

Dazu gehörte für Sturgeon auch die klare Zusicherung an die EU-Bürger:innen in Schottland, dass sie weiter herzlich willkommen seien, sowie das Bestehen auf einen Platz am Verhandlungstisch zusammen mit den Regionalregierungen in Wales und Nordirland. Aber selbst im Vorwort zu diesem Grundsatzpapier kam schon das zweite Grundthema der kommenden Jahre zum Vorschein: Sturgeon sah im Brexit-Referendum und dem nun erzwungenen EU-Austritt gegen die Wünsche einer klaren Mehrheit in Schottland genau die „bedeutende und materielle Änderung der Umstände“, die zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum in Schottland führen müssten – mit dem Ziel, EU-Mitglied zu bleiben, bzw. wieder zu werden: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Schottlands Platz im Europäischen Binnenmarkt bewahrt werden kann. Eine Option – und meiner Meinung nach die beste Option – ist die volle EU-Mitgliedschaft als ein unabhängiger Staat. Die Unabhängigkeit würde die Gründe beseitigen, die Schottland in die jetzige Lage gebracht haben: Westminster-Regierungen, für die Schottland nicht gestimmt hat und die dann eine Politik verfolgen, die von einer Mehrheit in Schottland nicht unterstützt wird. […] Es steht deshalb außer Frage, dass das schottische Parlament und die Menschen in Schottland unter diesen Umständen legitimerweise die Frage der Unabhängigkeit stellen.“77

Sturgeon machte deutlich, dass sie für Schottland im Prinzip denselben Status wie die Republik Irland wünschte, um sowohl gegenüber England und Wales, aber auch gegenüber Irland und der EU offene Grenzen mit Freizügigkeit und einem gemeinsamen Binnenmarkt zu garantieren: „Es ist auch wichtig zu betonen, dass diese Vorschläge nicht den Europäischen Binnenmarkt gegenüber der Freizügigkeit für Personen und dem freien Handel innerhalb des Vereinigten Königreichs bevorzugen. Wir gehen davon aus, dass die Freizügigkeit und der Freihandel innerhalb des Vereinigten Königreichs erhalten bleiben, wenn Schottland unabhängig wird. Denn die britische Regierung geht auch davon aus, dass z. B. die Freizügigkeit und der freie Handel mit der Republik Irland nach dem Brexit erhalten bleiben werden. Unsere Vorschläge versuchen, die Vorteile des Europäischen Binnenmarkts für Schottland zu bewahren, und zwar zusätzlich – und nicht anstelle – des freien Handels innerhalb des Vereinigten Königreichs.“78

Damit hatte die schottische Regierung weit vor der britischen eine klare Vorstellung, wohin die Brexit-Verhandlungen führen sollten und wo die roten Linien liegen würden. Diese Grundposition hat die schottische Regierung im Prinzip bis zum Ende durchgehalten, auch wenn es in den Zwischenjahren immer auch zurückhaltendere Töne gab. Zudem unterstützte die SNP-Regierung 2018 die letztlich gescheiterte Forderung nach einem People’s Vote, also nach einem zweiten Brexit-Referendum.79

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Wenn Ministerpräsidentin Sturgeon zum Jahreswechsel 2020/21 ankündigte, man strebe nunmehr nach dem kompletten Vollzug des Austritts aus der EU die Unabhängigkeit und die Rückkehr in die EU an, dann geht dies auf die Grundsätze zurück, die in Scotland’s Place in Europe Ende 2016 bereits festgelegt worden waren.

Konflikte zwischen Edinburgh und London Angesichts der unklaren Verhandlungslage in London und der klaren Vorstellungen aus Edinburgh war offensichtlich, dass die Brexit-Verhandlungen innerhalb Großbritanniens zahlreiche Konflikte heraufbeschwören würden. Und so kam es dann auch. An der Oberfläche gab es regelmäßige Treffen von Sturgeon mit den Regierungschefs aus Wales und Nordirland – auch gab es Treffen zwischen Sturgeon und May, um über den Brexit zu sprechen. Aber diese waren nicht sehr fruchtbar – Sturgeon nannte sie später „seelenzerstörend“.80 Sie spielte darauf an, dass May als sehr strikt galt. Sie habe in den Gesprächen immer nur von einem vorgefertigten Skript abgelesen. Ein Tiefpunkt der Beziehung kam im Sommer 2017, als ein Minister von Theresa May in der Presse ankündigte, die Premierministerin wolle sich gar nicht mehr mit Sturgeon treffen. Sturgeon solle sich nur noch mit jemand auf „ihrem Level“ treffen, in diesem Fall dem britischen Schottland-Minister David Mundell.81 Auch wenn es später wieder zu persönlichen Treffen zwischen May und Sturgeon kam, war offensichtlich, dass es zwischen London und Edinburgh keine wirkliche Gesprächsgrundlage gab. Auch inhaltlich war man sich uneins, da es zum Verbleib im EU-Binnenmarkt und in der EU-Zollunion konträre Ansätze gab. May lehnte strikt jede Sonderregelung für Schottland ab. Das wiederum erzürnte die schottische Regierung, weil genau so eine Sonderregelung für Nordirland (► Exkurs 4) und später dann auch für Gibraltar verhandelt wurde.82 Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt war die Frage, was eigentlich mit den an die EU abgetretenen Rechten und Zuständigkeiten passieren würde, wenn sie denn nach dem Brexit wieder in die britische Zuständigkeit fallen würden. Würden diese Zuständigkeiten im Rahmen der Devolution-Regelung direkt ans schottische Parlament weitergereicht werden oder würde London sich einen Teil der neuen Befugnisse selbst vorbehalten? Diese Frage wurde heiß debattiert, weil sie natürlich das zukünftige Machtverhältnis zwischen London und Edinburgh beeinflussen würde. Jeder Kompromiss berührte direkt das Grundverständnis der Autonomieregelungen für Schottland (aber auch für Wales und Nordirland) – eine sehr komplexe Gemengelage, die die gesamte Autonomieregelung für Schottland und Wales auf den Prüfstand stellte.83 Die britische Regierung betonte immer wieder, wie viele neue Zuständigkeiten das schottische Parlament erhalten werde, die schottische Regierung hingegen warnte davor, dass London die „Macht durch die Hintertür an sich reißen“ wolle.84 Bis zum Ende der

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Amtszeit von Theresa May 2019 gab es zu diesem politisch und verfassungsrechtlich brisanten Streitpunkt keine Lösung, weil ja auch der Brexit insgesamt nicht gelöst war. Der Konflikt wurde an Boris Johnson weitergereicht (► Kap. 5.2).

„Get Brexit done“ – Johnson übernimmt Am Ende gab Theresa May frustriert auf. Ihr waren im Laufe der drei Amtsjahre u. a. zahlreiche Kabinettsmitglieder über die Brexit-Probleme abhandengekommen, die nun z. T. innerhalb der eigenen Fraktion gegen sie opponierten. Bestes Beispiel hierfür war Boris Johnson. Ihr Abkommen mit der EU kam nicht durchs Parlament, ihr Mantra, „No deal is better than a bad deal“, hatte nur die Hardline-Fraktion in ihrer Partei ermutigt. Das Brexit-Abkommen drohte, die Konservativen zu zerreißen. May kündigte am 24. Mai 2019 ihren Rücktritt an und machte den Weg für Alexander Boris de Pfeffel Johnson frei, der zwei Monate später in die Downing Street einzog. Johnson ist eine der schillerndsten Figuren der britischen Politik der letzten 30 Jahre. Skurril am heutigen Europa-Gegner ist z. B. die Tatsache, dass er als Kind u. a. in Brüssel auf die „Europäische Schule“ ging, weil sein Vater Stanley zunächst für die EU-Kommission arbeitete und dann EU-Abgeordneter der Tories war.85 Bekannt wurde Johnson als EU-Korrespondent des Daily Telegraph in Brüssel, weil er immer wieder polemische Artikel über die EU schrieb, die zum negativen Image von „Europa“ beitrugen.86 2001 stieg Johnson in die Politik ein, als er sich für die Tories ins Unterhaus wählen ließ. 2008 gewann er dann die Wahl zum Oberbürgermeister von London, was ihn landesweit bekanntmachte. Schon damals galt er auch als flapsig, provokant und populistisch. 2012 gelang ihm die Wiederwahl. Interessant an seinem politischen Karrieresprung ist die Tatsache, dass das Amt des direkt wählbaren Londoner Oberbürgermeisters unter Tony Blair eingeführt worden war – als ein weiterer Markstein auf dem Weg zu mehr regionaler Autonomie in Großbritannien. Im Prinzip profitierte Johnson also von der erfolgreichen Wiedereinführung des schottischen Parlaments, das diesen Weg bereitet hatte – ein Umstand, den er heute gelegentlich zu vergessen scheint (s. u.). Als Oberbürgermeister erreichte er eine so große Bekanntheit, dass er sich 2015 für die Tories erneut ins Unterhaus wählen ließ. Das legte den Grundstein dafür, dass er in der Regierung May 2016 als führender Brexiteer zum Außenminister aufsteigen konnte – allerdings trat er nach zwei Jahren aus Protest zurück, wie so viele seiner Kolleg:innen im May-Kabinett. Sein vorübergehender Rückzug verhinderte nicht, dass er 2019 den ganz großen Sprung in die Downing Street schaffte. Doch Johnsons Amtszeit begann aufgrund der unklaren Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus mit mehreren Niederlagen: Gegen Ende des Sommers wollte er das Unterhaus in einen verlängerten Zwangsurlaub – auf Englisch Prorogation – schicken, was ihm zunächst ein schottisches, dann das höchste bri-

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Abb. 11: Boris Johnson trifft Nicola Sturgeon in Edinburgh, um für die Union zu werben, 29. Juli 2019.

tische Gericht untersagte (► Kap. 4.1). Dann musste Johnson der weiteren Verlängerung der EU-Austrittsfrist bis Ende Januar 2020 zustimmen, obwohl er gesagt hatte, er wolle lieber „tot in einem Graben“ enden, als die EU erneut um eine Verlängerung zu bitten.87 Den ganzen Sommer sah es so aus, als käme Johnson nicht aus den Startlöchern. Doch im Oktober 2019 gelang es ihm, ein neues Austrittsabkommen mit der EU zu verhandeln, das insbesondere eine neue Regelung für Nordirland vorsah (► Exkurs 4). Und in der Folge überzeugte er Labour davon, dass eine vorgezogene Neuwahl der einzige Ausweg aus der politischen Patt-Situation im Unterhaus sei. Labour-Chef Corbyn hatte sich schon in der EU-Frage mehr als zurückhaltend und ähnlich kompromissunfähig wie May erwiesen. Innerparteilich stand er zudem wegen anhaltenden Antisemitismusvorwürfen stark unter Druck. Nun warfen ihm seine Kritiker:innen vor, er verhalte sich wie ein Truthahn, der für ein frühes Weihnachten votiert. Diese Anspielung zitiert ausgerechnet eine Bemerkung des Labour-Premierministers Jim Callaghan, der 1979 damit die Entscheidung der SNP für vorgezogene Neuwahlen abgekanzelt hatte (► Kap. 1.3). Der folgende Wahlkampf wurde vom nächsten Slogan bestimmt: Nach „Take Back Control“ und „Brexit means Brexit“ zog Johnson nun mit „Get Brexit done“ durch die Lande. Dabei spielte er auf die Erschöpfung vieler Leute an, die das Thema einfach nur noch vom Tisch haben wollten, egal wie. „Den Brexit vollziehen“ versprach eine sehr einfache Lösung für ein komplexes Problem – doch genau damit punktete „Boris“, wie der Premierminister oft kumpelhaft genannt wird. Die Wahl am 12. Dezember gewann Johnson aufgrund der Ergebnisse in

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England haushoch: Die Konservativen erzielten eine Mehrheit von 80 Unterhausmandaten, die plan- und ideenlose Labour Party sank auf ein historisches Tief ab und auch die Liberalen konnten nicht von ihrer pro-europäischen Haltung profitieren. In Schottland legte hingegen die SNP angesichts ihrer klaren Anti-Brexit-Haltung und ihrer starken Opposition gegenüber der britischen Regierung wieder deutlich zu und konnte nun 48 von 59 Mandaten gewinnen. Die Konservativen verloren hier sieben ihrer 13 Sitze, Labour musste gleich sechs von sieben Sitzen abgeben.88 Nunmehr war für Johnson der Weg frei, alle anstehenden Verträge mit der EU nach seinem eigenen Gusto abschließen zu können. Genau das tat er – und so trat Großbritannien am 31. Januar 2020 tatsächlich aus der EU aus, mit einer Übergangsfrist bis zum Ende des Jahres. Die massiven Einwände aus Schottland und Nordirland interessierten ihn nicht. Das Wiederstarken der SNP war aus seiner Sicht irritierend, aber nicht wirklich wichtig. Für seine schottischen Parteifreund:innen war die Wahl 2019 aber ein Desaster, weil sie den Aufschwung der Tories in Schottland vorerst beendete. Und Labour musste sich nach der Wahl in Schottland ernsthaft Gedanken machen, wie die Zukunft der Partei überhaupt aussehen könnte. Innerhalb von nur 12 Jahren war Labour in Schottland nach Mandaten von Platz 1 auf Platz 4 abgerutscht – ein uneingeschränktes Fiasko (► auch Kap. 3).

Brexit, Corona und die Unabhängigkeit 2020 sollte aus Sicht von Boris Johnson das Jahr werden, in dem er sein zentrales Wahlversprechen einlösen würde – und sich dann dafür feiern zu lassen. Der Brexit-Applaus vor allem in England sollte so stark sein, dass lästige „Nebengeräusche“ aus Schottland und Nordirland leicht zu überhören wären. Doch die Corona-Pandemie machte dieser Strategie einen Strich durch die Rechnung – auch mit Blick auf Schottland. Das lag natürlich wie immer an mehreren Faktoren, doch im Kern trat hier mit voller Wucht ein Politikbereich in den öffentlichen Fokus, der als Teil der bestehenden Autonomieregelungen in weiten Bereichen politisch in schottischer Eigenregie gehandhabt werden konnte. Es gibt eine englische und eine schottische Gesundheitspolitik, was wiederum dazu führte, dass die Corona-Strategien und -Maßnahmen in London und Schottland durchaus unterschiedlich sein konnten. Während in England Boris Johnson vor den Kameras stand, war dies in Edinburgh Nicola Sturgeon. Und so konnten die Menschen unvermutet über einen längeren Zeitraum erstmals beide Spitzenpolitiker:innen und beide Regierungen direkt miteinander vergleichen. Und dieser Vergleich fiel in Schottland eindeutig zugunsten von Nicola Sturgeon aus: Sie erarbeitete sich das Image einer ernsthaften, überlegten und zurückhaltenden Covid-Managerin, der zugestanden wurde, auch Fehler machen zu können. Johnson hingegen verhielt sich mehrfach zaudernd, sprunghaft

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und galt als wenig überlegt. Im Herbst 2021 urteilte ein überparteilicher Parlamentsbericht in London mit Blick auf England, die zögerliche Reaktion der britischen Regierung zu Beginn der Corona-Pandemie habe zu vielen Tausend unnötigen Todesfällen geführt und stelle ein immenses Versagen im Gesundheitsbereich dar.89 Eine ähnliche Untersuchung zur schottischen Gesundheitspolitik wurde jedoch nicht erstellt, sodass die schottische Regierung weitgehend von Kritik verschont blieb. Sie hatte z. B. im März 2020 mit dem Lockdown genauso lange gewartet wie die britische Regierung. An manchen Tagen gab die schottische Regierung aber 2020 mit ihren Maßnahmen den Ton an, der dann in England nachvollzogen wurde. Dazu kam Johnsons eigene Corona-Erkrankung, dann ein klarer Verstoß seines damaligen Chef-Beraters Cummings gegen die Corona-Reiseregeln – Johnsons Ansehen lag in Schottland in Umfragen grundsätzlich um Längen hinter Nicola Sturgeon. Sie galt als positive Figur, Johnson als unpopulär. In Schottland war der strahlende „Brexit-Held“ eine klare Wahlbelastung für seine Partei.90 Vor diesem Hintergrund bewegten sich 2020 erstmals auch die Umfragewerte in Schottland deutlich in Richtung Unabhängigkeit. Von April 2020 bis Februar 2021 ergaben sich in 22 aufeinanderfolgenden Umfragen Mehrheiten für den Schritt in die staatliche Unabhängigkeit – eine Konstanz, die sich bis dahin niemals zuvor ergeben hatte und die langsam ins öffentliche Bewusstsein einsickerte.91 Dazu kamen typische Johnson-Statements, die seine Denkweise offenbarten und die dem englischen Publikum sicher gefielen, aber nördlich der Grenze auf einhellige Ablehnung stoßen mussten. So nannte Johnson im November 2020 vor nordenglischen Parteifreund:innen die Devolution-Regelung für Schottland ein „Desaster“. Die Einrichtung des schottischen Parlaments sei Tony Blairs „größter Fehler“ gewesen (► Exkurs 1 und Kap. 5.2).92 Damit bestätigte er die Vorwürfe der SNP, dass Johnson es mit der Wahrung der Autonomierechte nicht so genau nehme. Johnson bestätigte diese Vermutung erneut, als Anfang 2021 bekannt wurde, dass er im Nachhinein die Bewältigung der Corona-Pandemie lieber auf der britischen Ebene zentralisiert hätte – unter Ausschaltung der schottischen (und walisischen) Regierung.93 Oder hatte Johnson angesichts der schlechten Umfragewerte in Schottland inzwischen doch Angst bekommen, dass das Vereinigte Königreich in seiner Regierungszeit auseinanderfallen könnte? Johnsons schottische Parteifreund:innen hatten jedenfalls alle Hände voll zu tun, diese „Ausrutscher“ zu überspielen und ein tatsächliches Desaster für die Tories zu vermeiden. Anfang 2021 musste Johnson öffentlich eingestehen, dass seine Bemerkungen ein Fehler gewesen waren. Er selbst sei ja auch ein Nutznießer der Autonomieregelungen gewesen.94 Ende 2020 schaute ganz Großbritannien auf das Drama um den endgültigen EU-Austrittsvertrag. Doch in Schottland hatte sich im Laufe des Jahres die Überzeugung festgesetzt, dass nunmehr eine Mehrheit für die Unabhängigkeit sei, u. a. weil sich die schottische Regierung in der Corona-Pandemie in der öffentlichen Wahrnehmung als effizienter und sachbezogener erwiesen hatte. Der

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Brexit war in Schottland ohnehin unbeliebt. Das gab der SNP neues Selbstvertrauen und verhieß für die Schottland-Wahlen im Mai 2021 nichts Gutes für die unionistischen Parteien. Am endgültigen Austritt aus der EU änderte das alles nichts – der Übergangsvertrag lief am 31. Dezember 2020 aus. Ministerpräsidentin Sturgeon twitterte frustriert, aber trotzig, die EU möge bitte „ein Licht anlassen“, denn Schottland werde bald als eigenständiges Mitglied zurück sein. Das hatte Sturgeon dem deutschen Publikum auch schon kurz zuvor in einem Zeitungsinterview mitgeteilt – und im Gegensatz zur Zeit vor 2014 wurde das nicht mehr als leere Phrase abgetan, sondern als durchaus realistische Möglichkeit gesehen.95

Exkurs 2: Schottland und Europa An kaum einem Punkt werden die politisch unterschiedlichen Einstellungen zwischen Schottland und England so deutlich wie in der Europa-Frage. Das liegt schon an der unterschiedlichen geographischen Lage und der geschichtlichen Entwicklung, die lange völlig anders verlaufen war.

Europa als ferner Verbündeter Die Differenzen zwischen den beiden Ländern gehen auf das Mittelalter zurück (► Kap. 1.1). Damals war England ein starkes Königreich, das jahrhundertelang territoriale Ambitionen auf dem Kontinent hegte und somit oftmals in Konflikt mit den europäischen Großmächten wie Frankreich und Spanien stand, aber auch mit dem Papst. Schottland hingegen war der kleine Nachbar im Norden, der in Zeiten der Not dringend auf Unterstützung vom europäischen Kontinent angewiesen war – und dabei oftmals dem Grundsatz folgte, dass der Feind des Feindes ein guter Freund sei. Zwei prägnante Beispiele seien hier erneut aufgegriffen: 1320 wandten sich die schottischen Adligen mit der Declaration of Arbroath an Papst Johannes XXII., um für ihren exkommunizierten König Robert the Bruce die nötige internationale Anerkennung zu finden. Diese kam letztlich 1328 auch, aber erst nachdem der englische König Edward III. seinen Frieden mit Robert the Bruce geschlossen hatte. Ohne Plazet vom englischen König wagte sich der Papst in dieser äußerst heiklen Angelegenheit nicht vor. Dieser Ablauf der Ereignisse ist deshalb so interessant, weil fast 700 Jahre später die SNP gelegentlich die Hoffnung nährte, die EU könne über die Köpfe der britischen Regierung hinweg Schottland auf dem Weg in die Unabhängigkeit unterstützen. Auch im 20. und 21. Jh. wartet das heutige Europa jedoch zunächst ab, wie die Würfel in London fallen, bevor man sich direkt in politische Konflikte auf den britischen Inseln einlässt.

Exkurs 2: Schottland und Europa

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Beispiel 2: Sehr große Aufmerksamkeit erhielt über die Jahrhunderte die sogenannte Auld Alliance zwischen Schottland und Frankreich. Sie ging auf die schottischen Unabhängigkeitskriege an der Wende zum 14. Jh. zurück, als sich schottische Adlige erstmals Hilfe aus Frankreich gegen den englischen König versprachen.96 Da England und Frankreich im Mittelalter regelmäßig Kriege um die englischen Besitzungen in Frankreich ausfochten, suchte auch Frankreich Verbündete gegen den Dauerfeind. Diese Allianzversuche waren jedoch immer brüchig, insbesondere wenn sich eine Seite mit der englischen Krone gerade auf einen frischen Frieden oder Waffenstillstand geeinigt hatte und die englischen Monarchen dann die Zeit und Macht hatten, sich dem anderen der beiden Nachbarn zuzuwenden. Im 16. Jh. gab es jedoch eine wichtige Konkretisierung der „Allianz“: Der schottische König James V. heiratete die tatkräftige Marie de Guise aus Frankreich. Sie regierte nach James’ frühem Tod als Regentin, brachte ihre Tochter Maria Stuart nach Frankreich und sorgte für ihre Heirat mit dem dortigen Thronnachfolger. Kurzzeitig wurde Maria sogar zur französischen Königin. Doch ihr Mann, Franz II., starb bereits 1560 unmittelbar nach der Thronbesteigung, sodass sich die dynastische Verflechtung nicht vertiefte. Nichtsdestotrotz setzten diverse Stuart-Monarchen und -Prinzen in den kommenden 200 Jahren weiterhin auf Hilfe aus Frankreich, um eigene Thronansprüche gegenüber dem englischen Nachbarn durchsetzen zu können. Die protestantische Seite in Schottland suchte dagegen Hilfe in England. Frankreich entsandte hin und wieder auch tatsächlich Truppen oder Schiffe, aber immer nur in kleiner Anzahl, sodass sich die Auld Alliance eher als Fata Morgana denn als tatsächliche Allianz erwies. Hier ist zu bedenken, dass Frankreich die Existenz eines renitenten Schottland oder aufständischer Stuart-Abkömmlinge im Norden der britischen Inseln politisch natürlich sehr zugute kam. So wurden englische Truppen gebunden. Aber so richtig ernst nahm man Schottland als Verbündeten wohl nie. Es bleibt festzuhalten, dass Schottland sich schon seit dem 14. Jh. immer wieder konkrete Unterstützung von kontinental-europäischen Mächten wie Frankreich und dem Papst erhofft hatte, diese aber eher sporadisch blieb und immer nur mit einem wachen Auge auf den englischen Nachbarn gewährt wurde. Man kann also durchaus sagen, dass Europa für Schottland damals so eine Art Lebensversicherung gegenüber England darstellte. Diese losen Allianzen konnten letztlich aber nicht verhindern, dass sich Schottland und England zu Beginn des 18. Jh. zum Vereinigten Königreich zusammenschlossen. Das europäische Interesse an einem unabhängigen Schottland war einfach nicht groß genug. Schottland war zu weit von den zentralen Schlachtfeldern auf dem Kontinent entfernt. Bis zum Ende des 20. Jh. ging Schottland dann ganz im Vereinigten Königreich auf (► Kap. 1). Eine eigenständige politische Repräsentation fand nicht mehr statt.

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Schottland und der EG-Beitritt 1973 Erst das Erstarken der Schottischen Nationalpartei (SNP) und der Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Gemeinschaft (EG) 1973 brachte den Europagedanken zurück auf die politische Landkarte Schottlands.97 Dabei sah es zunächst so aus, als wäre insbesondere die SNP eine natürliche Gegnerin der damaligen EG. Beim ersten Europa-Referendum 1975 machte die SNP noch Werbung gegen den Verbleib in der EG. Das führte zu einem aus heutiger Sicht sehr kuriosen Ergebnis: Schottland war der britische Landesteil mit der geringsten Zustimmung zur EG – nur 58 % gegenüber einem britischen Durchschnitt von 65 %. Die größte Ablehnung ergab sich unter SNP-Wähler:innen, die größte Zustimmung hingegen unter konservativen Wähler:innen. Anscheinend empfanden die Konservativen die EG Mitte der 1970er-Jahre noch nicht als Bedrohung der nationalen Souveränität, während in nationalistischen Kreisen schon der Gedanke an supranationale Institutionen tabu war.98 Entsprechend kühl wertete man in Brüssel schottische Wünsche nach mehr Eigenständigkeit. In einem Bericht der EG-Kommission von 1984 hieß es: „Schottland ist eine Nation in einer Nation – ein integraler Bestandteil des Vereinigten Königreichs, aber mit seiner eigenen Geschichte und Kultur. […] Die offensichtliche Animosität gegenüber der EG ist bis zu einem gewissen Grad eine Verlängerung der 275 Jahre alten Fehde mit den ‚fernen‘ Londoner Regierungen.“99

Interessant ist auch, dass die SNP bei den für sie erfolgreichen Unterhauswahlen 1974 vor allem in den Gebieten Schottlands gewann, die zuvor konservativ gewählt hatten. Es liegt also die Vermutung nahe, dass die EG-Gegnerschaft der SNP damals durchaus Stimmen einbrachte. Insgesamt blieb die Europa-Frage in Schottland zunächst aber eher ein Randthema.

Die Wiederentdeckung Europas Erst als die SNP 1988 spektakulär ihre EG-Gegnerschaft aufgab, schob sich das Europa-Thema wieder stärker in den Vordergrund.100 Was war geschehen? Ausgerechnet die Konservativen hatten unter ihrer Premierministerin Margaret Thatcher einen radikalen Schwenk von europa-freundlich zu europa-skeptisch vollzogen. Thatchers berühmt-berüchtigte Brügge-Rede im September 1988 markierte den vorläufigen Höhepunkt dieser Wende.101 Interessant ist dabei, dass sich die Rede aus heutiger Sicht gar nicht so EG-feindlich liest, wie sie damals aufgefasst wurde. In Brügge strich Thatcher zunächst die vielen europäisch-britischen Verbindungen heraus und stellte dann fest, dass das britische „Schicksal“ in Europa liege, als Teil der Europäischen Gemeinschaft. Aber sie wandte sich vehement gegen eine politische Vertiefung der Union im Gefolge der damals auch von ihr vorbereiteten Binnenmarkt-Pläne. Der europäische Binnenmarkt erschien ihr

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als verheißungsvolles Projekt für einen neoliberalen Freihandel. Aber politische Vertiefung der EG? Nein, danke. Nicht weniger berühmt wurde im Herbst 1990 kurz vor ihrem Rücktritt ihr „no, no, no“ im britischen Unterhaus zu einer Vertiefung der politischen Union.102 Aus heutiger Sicht fällt auf, dass sie keinesfalls den Austritt aus der EG forderte. Was damals durchaus als scharfe Zurückweisung an die Adresse von Brüssel wirkte, wäre mit dem klaren Bekenntnis zur EG und zum Binnenmarkt in der heutigen konservativen Partei eine krasse Außenseiterposition – eine erstaunliche Tatsache, die heutzutage oftmals vergessen wird. Dennoch war Brügge der Beginn der ständigen Kritik in Großbritannien an der EG/EU und damit letztlich auch der erste Schritt auf dem Weg zum Brexit. Und noch etwas bewirkte Thatchers Kursschwenk in Sachen Europa: Wer sich seit der Mitte der 1980er-Jahre in Großbritannien von ihr und den Tories politisch absetzen wollte, konnte mit einer EG-Gegnerschaft nicht mehr punkten. Für die SNP stellte sich zudem angesichts der empfundenen politischen Ohnmacht gegenüber der strikt durchregierenden Thatcher wiederholt die Frage nach neuen Verbündeten. Beide Punkte lenkten für die SNP den Blick nach Brüssel. War es nicht dringend an der Zeit, anstelle der „alten“ eine New Alliance aufzubauen? Würde die EG nicht positiv reagieren, wenn sich in Großbritannien neue, pro-europäische Kräfte zeigten, die zugleich in Opposition zu der Eisernen Lady standen? Konnte die EG nicht sogar London einfach übertrumpfen, um Schottland den Weg in die Unabhängigkeit zu ebnen? Innerhalb der SNP hatte sich mit Vize-Parteichef Jim Sillars zu jener Zeit ein bekennender Europafan an die Spitze vorgekämpft. Sillars war ursprünglich Labour-Mitglied gewesen. Für ihn war die damalige EG ein idealer Ort für Schottland, primär weil jedes Mitglied mit einem Vetorecht ausgestattet war – und er überzeugte seine neue Partei.103 Der neue Slogan der SNP hieß nun „Unabhängigkeit in Europa“. Innerhalb von 15 Jahren hatten sich so die Standpunkte von Konservativen und SNP in der Europa-Politik gegenseitig vertauscht – ein Kurswechsel, der sich verselbstständigte und so seit mehr als 30 Jahren Bestand hat.104 Historisch interessant ist das Timing dieser pro-europäischen Wende: 1989/ 90 vollzog sich bekanntlich der Zusammenbruch des Ostblocks. Im Gefolge kam es zur Wiederentstehung bzw. Neuentstehung von zahlreichen unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der sich auflösenden Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien sowie der ebenfalls zerfallenden Tschechoslowakei. In diesem Kontext hätte eine staatliche Neuordnung in Großbritannien sicherlich dem Zeitgeist entsprochen. Dass es nicht dazu gekommen ist, zeigt, dass es zum damaligen Zeitpunkt eben keine wie auch immer gearteten Mehrheiten für eine schottische Unabhängigkeit gab, egal mit welchem Slogan für sie geworben wurde.

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Schottlands Referendum und die EU Real wirkte sich der pro-europäische Kurswechsel der SNP für Schottland zunächst nicht aus, weil die Partei in den 1990er-Jahren nicht in eine Position kam, ihre Ideen politisch auch umzusetzen. Dann konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Einrichtung des schottischen Parlaments 1999 und auf die erfolgreiche Etablierung des neuen Devolution-Systems. Die schottische Politik war vollauf damit beschäftigt, die neuen Machtbefugnisse zu absorbieren, zumal weder die Blair- noch die Brown-Regierung die EU-skeptische Linie der Tories fortsetzte. Immerhin war es schon in den frühen 1990er-Jahren in Brüssel zur Gründung einer schottischen Vertretung gekommen. 1992 wurde von der Tory-Regierung das Scotland Europa Centre eröffnet, welches 1999 unter Labour und unter Mitwirkung der neuen schottischen Regierung zum Scotland House aufgewertet wurde.104 Dies ist bis heute die offizielle schottische Vertretung in Brüssel, der viele Organisationen (darunter Wirtschaft, Tourismus und Universitäten) angehören und die den Brexit überdauert hat. Eine ganz neue Dynamik ergab sich 2007 mit der Regierungsübernahme der SNP in Edinburgh und der Ankündigung, dass es 2014 ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum geben würde. Nun wurde in Schottland die Frage zentral, „Wie hältst du es mit der EU?“ Die SNP konnte zum damaligen Zeitpunkt bereits auf 25 Jahre pro-europäische Politik verweisen, doch die EU hatte sich im Gegenzug eigentlich seit den 1980er-Jahren nicht wesentlich intensiver mit Schottland beschäftigt. Würden Schottland und die EU nun gute Freunde werden? Die Antwort lautete 2014: nein. Aufseiten der EU gab es zwei klare Gründe dafür. Zum einen sorgte 2013 das Versprechen des britischen Premierministers David Cameron an seine Partei, im Falle des nächsten Wahlsiegs ein EU-Referendum durchzuführen, dafür, dass die EU fortan jeden Eindruck vermeiden wollte, man irgendwie anti-britisch oder wolle politische Konflikte im Vereinigten Königreich befürworten oder gar verschärfen. Zum anderen sah vor allem die spanische Regierung in dem Vorhaben der SNP eine gefährliche Vorlage für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, die damals ebenfalls ein Referendum anstrebte.105 Würde die EU jetzt der SNP positive Signale entgegensenden, konnte dies als Aufmunterung für andere separatistische Bewegungen innerhalb der EU gewertet werden, wie z. B. in Katalonien, im Baskenland, in Belgien oder in Norditalien.106 Also ging der portugiesische EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Anfang 2014 auf maximale Distanz zum Anliegen der SNP: Ein unabhängiges Schottland werde sich neu um die EU-Mitgliedschaft bewerben müssen. Unter Umständen sei der Wiederbeitritt sogar „unmöglich“.107 Die SNP-Spitze bezweifelte damals die Haltbarkeit dieser strikten Ablehnung. Ministerpräsident Salmond verwies darauf, dass bei einem positiven Referendum die EU natürlich Schottland willkommen heißen werde, schon aufgrund der geostrategischen Lage des Landes am Rande des Nordatlantiks, aber auch aufgrund der langen EU-

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Mitgliedschaft seit 1973. Barrosos harte öffentliche Haltung unterhöhlte jedoch den Optimismus der schottischen Regierung.108 Im Nachhinein wirkt die sehr einseitige Parteinahme der EU-Spitze für die britische Regierung natürlich recht kurzsichtig. Zwar konnte ein Domino-Effekt für andere Staaten abgewendet werden, aber den Verbleib Großbritanniens in der EU konnte die Unterstützung aus Brüssel nicht sichern. Eigentlich hätte sich die britische Regierung bei der EU nach dem Schottland-Referendum 2014 für den freundlichen Beistand ausdrücklich bedanken müssen. Das tat David Cameron selbstredend nicht.

Das Brexit-Referendum und die EU Das Brexit-Referendum 2016 änderte die Geschäftsgrundlage für die Beziehungen zwischen Schottland und der EU fundamental. Nun war in Brüssel klar, dass sich die Rücksichtnahme auf die britische Regierung nicht ausgezahlt hatte. Premierminister Cameron hatte nicht liefern können und der EU standen nun jahrelange intensive und oft nervenaufreibende Brexit-Verhandlungen bevor. Da kam die Tatsache gerade Recht, dass drei britische Regionen deutlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatten: Schottland, Nordirland und London. Zum einen rettete dies gegenüber der EU und auch gegenüber der europäischen Öffentlichkeit ein wenig das europäische Ansehen Großbritanniens, da es sich bei diesen regionalen Unterschieden verbot, von einer gesamtbritischen Entscheidung zu sprechen. Zum anderen eröffnete dies gerade der Regionalregierung in Schottland neue europäische Spielräume. Schon im Vorfeld des Brexit-Referendums hatte es im Juni 2015 einen ersten offiziellen Meinungsaustausch zwischen Jean-Claude Juncker und der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon gegeben.109 Der 2014 ins Amt gekommene EU-Kommissionspräsident empfing Sturgeon auch am 29. Juni 2016 unmittelbar nach dem Brexit-Referendum. Von der abweisenden Haltung Barrosos zwei Jahre zuvor war keine Rede mehr, Europas Türen standen im Angesicht der Brexit-Krise plötzlich offen. Das führte zwar nicht dazu, dass die EU bei den Brexit-Verhandlungen nun besondere Rücksicht auf schottische Positionen genommen hätte – dies kam allein Nordirland zu, aufgrund der Verbindungen zur Republik Irland und aufgrund der internationalen Verpflichtungen, die durch das Karfreitagsabkommen von 1998 entstanden waren (► Exkurs 4). Aber Schottland bekam eine bislang nicht dagewesene internationale Aufmerksamkeit durch die pro-europäische Haltung der eigenen Regierung. Von nun an berichteten internationale Medien regelmäßig über die Entwicklungen in Schottland und preisten die kritische Haltung Edinburghs gegenüber den wechselnden Regierungen in London in ihre Berichterstattung mit ein. Das hatte es so zuvor nicht gegeben.

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Abb. 12: Nicola Sturgeon trifft EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel, 29. Juni 2016.

Und es blieb auch nicht bei diesem Blitzbesuch von Nicola Sturgeon in Brüssel. Sie kam nun regelmäßig in den folgenden Jahren. Dabei kam es u. a. zu Gesprächen mit dem EU-Chefunterhändler Michel Barnier und erneut zu großer Medienöffentlichkeit.110 Angesichts dieser deutlichen Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung schottischer Anliegen ist Schottland in Zukunft ein offenerer und warmherzigerer Empfang in Brüssel sicher, sollte sich das Land doch für die Unabhängigkeit entscheiden. Einen deutlichen Hinweis darauf gab im Februar 2020 der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, der 2019 zum Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei wurde. Er habe „keinen Zweifel, dass alle in Brüssel und auch allgemein in Europa enthusiastisch“ wären, wenn eine schottische Regierung in der Zukunft den Wiederbeitritt zur EU beantragen sollte. Das hatte sich 2014 in Brüssel niemand getraut, öffentlich zu sagen – kein Wunder also, dass der britische Außenminister Dominic Raab die Äußerung von Tusk sofort scharf als „uneuropäisch“ und „separatistisch“ brandmarkte.111 Allerdings sollte sich Schottland weiterhin keine aktive Hilfe von Brüssel erwarten. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, der deutsch-schottische Abgeordnete David McAllister, stellte im September 2021 nochmal klar: „Die Frage über die Zukunft Schottlands im Vereinigten Königreich ist eine interne Angelegenheit.“112 Mit anderen Worten: Schottland muss seine Zukunft selbst entscheiden und mit London alles Notwendige regeln. Bemerkenswert an der Brexit-Debatte ist bei einem vergleichenden Blick auf die britische und die schottische Regierung ein weiterer Aspekt: Auf der einen

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Seite sieht sich die schottische Regierung sehr wohl in der Lage, als unabhängiges Land innerhalb der EU wie Irland oder Dänemark die eigenen Interessen eines Tages gut vertreten zu können. Die Schottische Nationalpartei vertritt deshalb einen offenen und selbstbewusst international ausgerichteten Politikansatz, der dem eigenen Parteinamen klar widerspricht. Die britische Regierung hingegen sah sich trotz ihrer Parole eines Global Britain nicht in der Lage, in einer Union aus gleichberechtigten Staaten ihre Interessen angemessen durchzusetzen oder einzubringen. In der Konsequenz zog sich die Tory Party zurück auf eine enge nationale Politikplattform. Ungeachtet aller offensiver Rhetorik ist das eher ein Zeichen von Schwäche und Resignation als ein Zeichen von Selbstbewusstsein und Verhandlungsstärke.

Blick nach Katalonien und Québec Wenn es um internationale Aspekte des schottischen Nationalismus geht, rücken zwei Regionen schnell in den Fokus: Schon seit den 1970er-Jahren wird in Schottland die Entwicklung der franko-kanadischen Provinz Québec genau beobachtet, später kam Katalonien hinzu. Diese Betrachtung ist übrigens nicht einseitig, denn auch diese Regionen schauen intensiv auf die Erfolge und Misserfolge der Unabhängigkeitsbewegung in Schottland. So bekannte z. B. der 2017 abgesetzte katalanische Regierungschef Carles Puigdemont Anfang 2021: „Schottland inspiriert uns sehr.“113 Und zu wichtigen politischen Ereignissen, wie Wahlen oder Referenden, werden auch gerne Vergleiche zwischen den drei Regionen gezogen.114 Zunächst also der Blick nach Québec: Mit Kanada ist Schottland seit Beginn der europäischen Einwanderung dort engstens verbunden. Eine Provinz heißt sogar Nova Scotia – Neuschottland. Ein Schotte wurde schon im 19. Jh. zum Premierminister der immer eigenständigeren ehemaligen britischen Kolonie. Inmitten Kanadas lebte und lebt aber auch durch die französische Kolonialisierung eine große französisch-sprechende Minderheit in der Provinz Québec. Diese forderte in den 1970er-Jahren erstmals entschieden die staatliche Unabhängigkeit von Kanada, ganz parallel zum Aufstieg der SNP in Schottland. Doch Québec hatte schon eine eigene Provinzregierung mit einem eigenen Parlament, war also in Autonomiefragen Schottland deutlich voraus. Aber genau wie in Schottland, wo 1979 das erste Autonomiereferendum letztlich scheiterte, verloren in Québec 1980 die Unabhängigkeitsbefürworter:innen, und zwar mit rund 40 % gegen 60 %.115 Diese Niederlagen wurden in beiden Ländern jedoch sehr unterschiedlich verdaut. Während in Schottland die Befürworter:innen eines eigenen Parlaments wieder ganz von vorne anfangen mussten, blieb in Québec der Druck Richtung staatlicher Unabhängigkeit hoch und führte bereits 1995 zu einem zweiten Referendum. Dieses erbrachte nur eine hauchdünne Mehrheit von 50,58 % der Stimmen für den Verbleib in Kanada. Obwohl die Unabhängigkeitsbewegung ihr

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Ziel fast erreicht hatte, flaute die Begeisterung auf nationalistischer Seite über die Jahre langsam ab. Die Parti Québecois verlor 2003 die Regierungsverantwortung in Québec und versank bei der letzten Provinzwahl 2018 fast in der Bedeutungslosigkeit. Dafür stieg die Coalition Avenir Québec kometenhaft auf, die unter Führung von François Legault die Regierung stellt. Die Partei fordert nicht die volle Loslösung von Kanada, sondern weiterreichende Autonomierechte. Das scheint in Québec in den letzten Jahren besser anzukommen. Angesichts der Forderungen in Schottland nach einem zweiten Referendum gibt es aktuell nun selbst in der britischen Tory Party Stimmen, die mit Verweis auf Québec sagen, dass es wahrscheinlich wirklich ein zweites Referendum braucht, um die Diskussion für alle Zeiten beizulegen – angesichts des extrem knappen Wahlausgangs 1995 eine sehr riskante Strategie.116 Aber Québec zeigt eindeutig, dass ein zweites Referendum innerhalb von nur 15 Jahren ganz legal möglich ist – und das wiederum ist Futter für die SNP. Aber was würde jedoch eine zweite Niederlage für die SNP bedeuten? Der Niedergang der Parti Québecois wirkt bestimmt nicht sehr ermutigend. Ebenso zweideutig fallen die Vergleiche mit Katalonien aus. Die historische Provinz hatte ihre Selbstständigkeit innerhalb des spanischen Königreichs genau wie Schottland innerhalb des britischen Königreichs zu Beginn des 18. Jh. verloren. Unter General Franco war dann jede Form der Autonomie brutal unterdrückt worden. Erst mit der Rückkehr der Demokratie Ende der 1970er-Jahre stellten sich erneut Fragen nach der Zukunft Kataloniens. Katalonien bekam ein Regionalparlament, Katalanisch wurde als Amtssprache anerkannt und mehrere Parteien forderten letztlich eine staatliche Unabhängigkeit.117 Dazu sollte es im Herbst 2014 – praktisch parallel zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum – eine Volksbefragung in Katalonien geben. Das wiederum inspirierte manche in Schottland, die sich nunmehr als Teil einer internationalen Bewegung für mehr staatliche Autonomie sahen. Dort endeten aber auch die Ähnlichkeiten. Während die schottische Regierung von Anfang an auf einem ausdrücklich von der britischen Regierung anerkannten Votum bestand, versuchte die katalanische Regierung unter Artur Mas sich an dieser Zustimmung vorbeizuschlängeln. Das brachte ihm später den Verlust seines Regierungsamtes und ein zweijähriges Verbot zur Bekleidung von öffentlichen Ämtern ein. Die spanische Regierung setzte im Herbst 2014 auf null Toleranz. Bei dieser Strategie blieb sie auch 2017 beim zweiten Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien. Trotz ausdrücklichen Verbots führte die katalanische Regierung unter Carles Puigdemont im Oktober ein Quasi-Referendum durch, an dem 43 % der Bevölkerung teilnahmen, von denen wiederum 92 % für die Unabhängigkeit stimmten. Nun griff die spanische Regierung hart durch: Puigdemont musste fliehen, andere führende Unabhängigkeitsbefürworter:innen wurden zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt – und erst im Sommer 2021 begnadigt.118 Puigdemont wurde im Herbst 2021 auf Sardinien kurzfristig festgenommen. An der Stimmungslage in Katalonien ändert all dies nichts:

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Bei den Regionalwahlen im Februar 2021 erzielten die Unabhängigkeitsparteien erneut mit 74 von 135 Sitzen die absolute Mehrheit.119 Der neue katalanische Regierungschef Pere Aragonès sieht Schottland nunmehr als Vorbild bei der Durchführung eines legalen Referendums.120 Was auffällt, ist die Tatsache, dass Katalonien und Schottland in ähnlicher Weise in der Unabhängigkeitsfrage quer durch die Mitte der Gesellschaft gespalten sind. Und es ist wahrscheinlich, dass die Johnson-Regierung die harte Haltung der spanischen Regierung bewundert. Andererseits will niemand ähnlich chaotische Szenen mit gewaltsamen Zusammenstößen wie in Barcelona im Herbst 2017 erleben.121 An diesem Punkt setzt in England und Schottland in allen politischen Lagern umgehend die tiefgehende Angst vor einem zweiten Nordirland ein (► Exkurs 4). Nicola Sturgeon hat bislang ein einseitig durchgeführtes Referendum für Schottland immer ausgeschlossen. Ein schottischer Parlamentsbeschluss für ein zweites Referendum würde mit Sicherheit ein Fall für die Gerichte werden – Ausgang absolut offen (► Kap. 5). Vergleiche zwischen Schottland, Katalonien und Québec fördern also durchaus einige Ähnlichkeiten zutage und können für jede Seite wichtige Argumentationshilfen liefern. Aber festzuhalten bleibt, dass keine der drei Regionen in den letzten 50 Jahren das Ziel einer staatlichen Unabhängigkeit erreicht hat. Die größten Fortschritte haben eindeutig Schottland und Katalonien erzielt, weil sie weitreichende politische Autonomierechte erworben haben. Allerdings verfügte Québec schon über eine funktionierende Selbstverwaltung und hatte einen klaren Startvorteil. Nur in Katalonien und Schottland scheint derzeit der politische Appetit nach Unabhängigkeit noch gegeben. Letztlich wird aber jedes Land seinen Weg selbst gehen müssen. Auch das ist eine Lektion der Ereignisse. Erfolgversprechende Allianzen gibt es nicht.

Wie europäisch ist Schottland? Diese Frage bewegt Wissenschaft und Medien seit Jahren gleichermaßen, denn sie entscheidet auch über den künftigen Kurs, den ein unabhängiges Schottland einschlagen würde. Ist es so, dass die Schott:innen über die Jahrzehnte in der Tat europafreundlicher geworden sind, oder steckt hinter den Wahlergebnissen für die SNP und beim Brexit-Referendum auch eine gute Portion Taktik – primär, um sich von der „englischen“ Regierung in London abzusetzen und sich politisch gegen diese durchzusetzen? Und was ist ein besserer Gradmesser für „Europafreundlichkeit“: Allgemeine Wahlergebnisse oder Meinungsumfragen zu einzelnen Themen? Und inwieweit lässt sich das mit anderen britischen Regionen und europäischen Staaten vergleichen? Dazu gibt es eine Reihe von interessanten Untersuchungen, die rund um das Schottland-Referendum 2014 und das Brexit-Referendum 2016 veröffentlicht wurden. Pauline Schnapper dokumentierte 2015 langfristige Untersuchungsergebnisse des Umfrage- und Analyseprojekts „What Scotland Thinks“. Geleitet

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wird das Projekt vom derzeit profiliertesten und bekanntesten Meinungsforscher in Schottland und Großbritannien, Prof. John Curtice von der StrathclydeUniversität in Glasgow.122 Die seit 1999 erhobenen Daten zeigten, dass Anfang 2014 nur 23 % der schottischen Befragten mit der EU im damaligen Zustand zufrieden waren, 1999 waren es aber auch nur 21 % gewesen. In dieser Kategorie hatte es also wenig Bewegung gegeben. Doch 1999 hatten noch 23 % der Befragten der EU mehr Kompetenzen übertragen wollen – diese Zahl war Anfang 2014 auf magere 10 % zurückgegangen. Demgegenüber wollten 41 % (1999: 36 %) zwar in der EU bleiben, aber deren Kompetenzen beschneiden. Und 17 % (1999: 10 %) wollten die EU gleich ganz verlassen. Diese Zahlen verdeutlichen klar, dass die Schott:innen mehrheitlich zwar in der EU bleiben wollten, aber nicht um jeden Preis und auch nicht, weil sie enthusiastische Anhänger:innen einer tieferen EUIntegration waren. Schnapper schloss daraus, dass die pro-europäische Einstellung in Schottland durchaus mit Einschränkungen zu versehen sei. Diese Einschätzung wurde 2017 durch eine weitere Untersuchung von Prof. Curtice unterstützt. Er fand heraus, dass die Schott:innen mit ihren englischen Nachbar:innen weitgehend einer Meinung waren, wenn es um die Beschränkung der Zuwanderung aus der EU geht. 61 % der Befragten waren aber der Meinung, dass man die Bewegungsfreiheit für EU-Bürger:innen im Austausch gegen die Fortführung eines freien Handelsverkehrs erlauben solle, auf britischer Ebene waren dies nur 54 % – aber immerhin auch eine Mehrheit. 51 % der schottischen Befragten waren zudem der Meinung, dass Schottland als Nation nicht gegen den Mehrheitswillen in Schottland zum Austritt aus der EU gezwungen werden dürfe, 47 % waren sehr wohl dieser Meinung. Curtice verweist darauf, dass das Verhältnis erstaunlich knapp sei, wenn man bedenkt, dass beim Brexit-Referendum 62 % für den Verbleib in der EU gestimmt hatten.123 David Torrance wertete diese Umfrageergebnisse so: „Es war schon immer so, dass der schottische Mainstream weniger euroskeptisch war als England, aber nicht überzeugt europhil.“124

Auch der ehemalige Guardian-Reporter David Gow sah die schottische Politik generell als eher „provinziell“ und nicht als wirklich europäisch.125 Diese eher negativen Einschätzungen mögen in dieser Schärfe überzogen sein und bei näherem Hinsehen vielleicht auch für andere britische Regionen sowie manch andere EU-Länder gelten. Dazu kommt, dass die schottische Politik aufgrund der geltenden Autonomiebestimmungen keinerlei Kompetenzen in der Außenpolitik oder der Außenwirtschaftspolitik besitzt. Das verleitet natürlich nicht dazu, außenpolitische Debatten en detail zu führen. Und es ist klar, dass bei einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum die Frage nach einem erneuten EU-Beitritt sicher ein zentraler Aspekt sein wird. Diese Debatte kommt in dem Fall unvermeidbar auf Schottland zu, so wie sie in jedem bisherigen Beitrittsland geführt wurde.

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Die relative Zurückhaltung vieler Schott:innen in Bezug auf eine intensive Europäisierung der schottischen Politik wird aber durch Umfrageergebnisse des ScotCen Social Research von 2020 gestützt: Im März 2020 lagen die Zahlen in Schottland bei 34 % für den Status quo, 9 % für mehr EU-Kompetenzen, 34 % für weniger EU-Kompetenzen und 19 % für den EU-Austritt.126 Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis des Brexit-Referendums 2016, dann sind insbesondere die 34 % interessant, die weniger EU-Kompetenzen wünschten. Vor eine harte In-/Out-Entscheidung gestellt, votierten von dieser großen Gruppe letztlich rund die Hälfte für den Verbleib in der EU, die andere Hälfte für den Austritt. Unter dem Strich konnte also das Brexit-Lager selbst in Schottland zahlreiche Stimmen von Menschen gewinnen, die zuvor nicht wirklich gegen die EU gewesen waren. Aber auch die 62 %, die 2016 im Referendum für die EU gestimmt haben, sind durchaus differenziert zu sehen, weil sich hier nicht nur EU-Enthusiast:innen wiederfinden. Dennoch bleibt der Fakt, dass die schottischen Wähler:innen bei konkreten Abstimmungen seit Jahren konsistent pro-europäisch wählen und für pro-europäische Parteien stimmen. Für die SNP bedeuten die Umfrageergebnisse konkret, dass sich der von der Partei jahrelang propagierte Verbleib im EU-Binnenmarkt definitiv einer hohen Zustimmung erfreut. Aber nun – da der Brexit vollzogen ist – bleibt noch unklar, ob die von Ministerpräsidentin Sturgeon offensiv vertretene Rückkehr in der EU wirklich die nötige öffentliche Unterstützung genießt. In Umfragen erfreut sich die EU weiterhin großer Zustimmung in Schottland.127 Aber wie sähe das aus, wenn klar würde, dass eine erneute EU-Mitgliedschaft zu zusätzlichen Barrieren zwischen Schottland und England führen würde? Diese Frage wurde im Wahlkampf 2021 immerhin debattiert. Hier ist erkennbar noch viel Überzeugungsarbeit und politische Feinarbeit nötig, falls eine Rückkehr in die EU gewünscht wird. Dennoch scheinen Sturgeon und die SNP entschlossen, diesen Weg zu gehen. Nachdem man 2017/18 auch mit Modellen in die Öffentlichkeit ging, die nicht unbedingt eine EU-Mitgliedschaft erforderten, sondern nur die Mitgliedschaft im Binnenmarkt,128 stand Anfang 2021 wieder die EU-Mitgliedschaft im Fokus. Die hier vorgestellten differenzierten Umfrageergebnisse zu den schottischen Einstellungen gegenüber der EU mögen jedoch auch ein Grund dafür gewesen sein, dass das Brexit-Referendum lange Zeit kaum messbare Auswirkungen auf die Zustimmung oder Ablehnung einer schottischen Unabhängigkeit zeigte. Dies änderte sich erstmals 2020 nach der Amtsübernahme durch Boris Johnson, dem konkreten Austritt aus der EU und der deutlich unterschiedlichen Handhabung der Corona-Pandemie in Schottland und England. Es ist auf Grundlage der aufgeführten Zahlen zu vermuten, dass bei der wachsenden Zustimmung zur Unabhängigkeit eher die Corona-Politik eine Rolle spielte als der Brexit.

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Unter dem Strich bleibt hier aber auch festzuhalten, dass die Frage einer EUMitgliedschaft in Schottland weiter offen diskutiert wird, während sie in England und Wales völlig vom Tisch ist. Schon allein dadurch hält sich die schottische Politik eine europäische Perspektive offen. Diese wird auch dadurch befördert, dass insbesondere die SNP Schottland gerne mit den wirtschaftlich erfolgreichen und politisch selbstbewussten skandinavischen Ländern vergleicht, während sich die derzeitige britische Regierung eher in einer globalen Führungsrolle jenseits von Europa verortet. Wohin die europapolitische Debatte im Laufe des nächsten Jahrzehnts auch führen sollte, ihr Ausgang wird womöglich über die Zukunft des Vereinigten Königreichs entscheiden.

3

Die schottische Parteienlandschaft

In diesem Kapitel werden die fünf im schottischen Parlament vertretenen Parteien vorgestellt, die seit 1999 die Politik entscheidend mitbestimmt haben. Dabei liegt das Hauptaugenmerk natürlich auf der Schottischen Nationalpartei (SNP), die seit 2007 an der Regierung ist und die im Mai 2021 zum dritten Mal im Amt bestätigt wurde. Wichtigste Kontrahenten sind die britischen Großparteien Labour und die konservativen Tories, gefolgt von den beiden kleineren Parteien der Grünen und der Liberaldemokraten. In einem Exkurs werden die fünf bisherigen Regierungschef:innen in Edinburgh vorgestellt, die sogenannten First Minister. Ein auffälliges Element der schottischen Parteienlandschaft der letzten Jahre ist, dass die britische, rechtspopulistische Brexit-Partei UK Independence Party (UKIP) oder eine ähnliche Partei in Schottland niemals wirklich Fuß fassen konnte. Diese Bühne wurde und wird im schottischen Parlament nicht bespielt.

3.1

Scottish National Party

Die Scottish National Party (SNP) wurde 1934 gegründet. Sie ging dabei aus zwei Vorgängerparteien hervor, der National Party of Scotland und der Scottish Party. Diese Vorgängerparteien waren noch sehr jung. Die National Party war 1928 aus Frust über die gescheiterten Labour-Pläne für Home Rule in Schottland entstanden. Dementsprechend gehörten ihr eher links-orientierte Mitglieder an. Die 1932 gegründete Scottish Party hingegen war eine eher konservative Partei mit Verbindungen bis ins höchste Establishment. Bekanntestes Mitglied war der Herzog von Montrose.1 Dieses Spannungsfeld zwischen linkem und konservativem Gedankengut wurde lange zu einem Markenzeichen der SNP, die sich damit von dem KlassenSchema der britischen Politik absetzte und quer zum Konflikt zwischen Labour und Konservativen lag. Die Schwierigkeit, die SNP auf einem vereinfachten Links-/Rechts-Schema zu verorten, blieb bis in jüngere Zeit durchaus relevant. Mittlerweile ist allgemein akzeptiert, dass die SNP eine moderate Mitte-LinksPartei geworden ist, die sich in vielen Fragen eher sozialdemokratisch mit grünen Elementen positioniert. Ungeachtet dieser Besonderheit fiel es der SNP sehr lange sehr schwer, sich politisch bemerkbar zu machen. Der erste Nachwahl-Erfolg 1945 blieb lange eine Ausnahme. Dennoch widerstand die SNP der „Verlockung“ sich zu radikalisieren, was Schottland ähnliche Zustände wie in Nordirland erspart hat. Erst der

104

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Nachwahl-Erfolg in Hamilton 1967 führte nach mehr als drei Jahrzehnten Existenz zu einem spürbaren Anstieg der Erfolgsaussichten. Das gipfelte 1974 in einem ersten politischen Durchbruch, der bei den Unterhauswahlen im Oktober mit ca. 30 % der Stimmen 11 Abgeordnete einbrachte (► Kap. 1.4). Von diesem ersten Gipfel aus sollten aber nochmal weitere 33 Jahre vergehen, bis die SNP in Edinburgh erstmals Regierungsverantwortung übernehmen konnte – und erst im letzten Jahrzehnt gelang es der SNP, die schottische Politik nahezu vollständig zu dominieren. Dieser lange Weg soll hier nicht in allen Details, sondern an drei auch über die SNP hinaus relevanten Kernfragen exemplarisch nachvollzogen werden: 1. Wie positionierte sich die SNP zwischen Unabhängigkeit und innerbritischer Autonomie? 2. Wie gelang es der SNP, die öffentliche Meinung von ihrer Relevanz zu überzeugen? 3. Wie präsentiert sich die SNP als erfolgreiche politische Kraft?

Unabhängigkeit vs. Autonomie Lange Zeit war eine der beherrschenden Fragen innerhalb der SNP, ob die Partei fundamentalistisch allein auf die Durchsetzung der staatlichen Unabhängigkeit setzen sollte oder ob es auf dem Weg dorthin auch realpolitische Kompromisse in Form einer Autonomieregelung geben könnte, z. B. durch die Gründung eines schottischen Parlaments. Beim ersten Anlauf für eine Parlamentsgründung im Vorfeld des Referendums 1979 einigte sich die SNP zwar auf die Unterstützung des Referendums, angesichts der durch Labour eingebauten Fallstricke und Beschränkungen war die SNP aber definitiv nicht glücklich (► Kap. 1.4). Kein Wunder, dass die frustrierte Partei im Nachgang die Labour-Regierung zu Fall brachte, was durch den Regierungswechsel zu Margaret Thatcher innerparteilich zu einer Phase der tiefen Zerrissenheit führte. Die tiefe Abneigung gegen Labour wirkte sich noch Ende der 1980er-Jahre dahingehend aus, dass die SNP die Mitarbeit im Schottischen Verfassungskonvent verweigerte, obwohl man die Einrichtung ursprünglich selbst gefordert hatte. Beim zweiten Anlauf im Vorfeld des Referendums 1997 war es jedoch SNPChef Alex Salmond, der die Partei klar auf ein Ja-Votum festlegte und eine Zusammenarbeit mit Labour und Liberalen einfädelte. Ihm war es wichtiger, erstmal ein Parlament in Edinburgh zu bekommen, als immer nur auf das flüchtige Fernziel hinzuarbeiten. Dieser realpolitische Schwenk zahlte sich aus: Die SNP erhielt 1999 erstmals eine wirkliche Parlamentsfraktion und war nun die größte Oppositionspartei in Edinburgh – damit war der Weg vom oft missachteten Rand der Politik in den Mainstream geschafft.

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Doch die Frage nach der Unabhängigkeit tauchte mit der Regierungsübernahme 2007 natürlich wieder auf. Partei- und Regierungschef Salmond konnte den Punkt geschickt vertagen, weil er ja nur einer Minderheitsregierung vorstand. Doch 2011 war klar, dass der große Wahlerfolg der SNP nun zu einem Unabhängigkeitsreferendum führen würde. Aber auch hier konnte man den Eindruck gewinnen, als wenn Salmond und seine Stellvertreterin Sturgeon durchaus auch mit einer Version von Home Rule zufrieden wären. Die „Unabhängigkeit light“, die beide vorschlugen (► Kap. 2.4), und der ursprüngliche Vorschlag, Home Rule sogar als dritte Option auf den Stimmzettel zu bringen, deuteten in diese Richtung. Zudem hatte die Partei nach der Regierungsübernahme in Edinburgh 2007 nunmehr real etwas zu verlieren, wenn sie an der Unabhängigkeitsfrage scheitern sollte und danach die Regierungsmacht verlieren würde. Auch nach 2014 legte sich Salmonds Nachfolgerin Sturgeon nicht verbindlich auf einen Zeitplan für ein von der Basis gewünschtes zeitnahes zweites Referendum fest. Sie vertagte die Frage mehrfach bis jenseits des Brexit-Vollzugs und der Schottland-Wahl 2021 – schließlich bis zum Abflauen der Corona-Pandemie.

Der Weg zur Mehrheitspartei Praktisch alle Umfragen bis 2012 ergaben in Schottland nur eine Zustimmung von ca. 30 % für eine staatliche Unabhängigkeit. Wie gelang es also einer Partei, die genau dies forderte, eine Mehrheit im schottischen Parlament mit rund 45 % der Stimmen zu erlangen? Sehr interessante Antworten liefern dabei die Untersuchungen, die 2016 von Johns und Mitchell vorgestellt wurden und auch von den Autoren David Torrance und Iain Macwhirter in ihren jeweiligen Büchern im Kern bestätigt werden.2 Die SNP unter Alex Salmond vertagte, wie gesagt, im Vorfeld und auch im Gefolge der Wahlen 2007 die Unabhängigkeitsfrage. Sie setzte stattdessen auf eine gute Regierungsarbeit „für Schottland“, auf eine inhaltliche Absetzung von der in London regierenden New Labour-Regierung unter Tony Blair und dann Gordon Brown sowie auf die Popularität von Alex Salmond. Der Kernvorwurf an die sozialliberale Koalition in Edinburgh unter Jack McConnell war bis 2007 gewesen, dass sich die schottische Regierung nicht genug für Schottland einsetze und sich zu viel von London vorschreiben ließe. Der Vorwurf, „London Labour“ steuere alles, zielte genau darauf ab und traf gemäß entsprechender Umfragen einen Nerv in der schottischen Bevölkerung. Die SNP wurde zunehmend als wichtigste Vertreterin eines Mitte-LinksMainstreams in Schottland wahrgenommen: gegen die Beteiligung am IrakKrieg, gegen Studiengebühren, für kostenlose Rezepte, für die Bewahrung eines staatlichen Gesundheitsdiensts und gegen weitere Privatisierungen. Damit entstand vor der Wahl 2007 eine deutlich wahrnehmbare Kluft gegenüber New Labour. Durch das Versprechen, vor jeder Unabhängigkeitserklärung zunächst ein

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Referendum abzuhalten, konnte sich die SNP unter Salmond voll und ganz darauf konzentrieren, das sozialdemokratische Stimmenpotenzial einzusammeln von Menschen, denen die Vertretung schottischer „Werte“ wichtiger war als die Loyalität zu einer einzigen Partei (also Labour in diesem Fall). Die schottische Unabhängigkeit stand nicht auf dem Wahlzettel. Dennoch hing die Regierungsübernahme 2007 an einem seidenen Faden. Die SNP gewann mit 31 % der Zweitstimmen nur einen Sitz mehr als Labour und mögliche Koalitionspartner blieben aus (► Kap. 2.1). Dass Alex Salmond und Nicola Sturgeon es schafften, die gesamten vier Jahre in einem sehr herausfordernden Umfeld aus ihrer Minderheitsposition heraus erfolgreich zu regieren, wurde ihnen vom Wahlpublikum positiv angerechnet. Auch die Tatsache, dass sie nicht auf ein Referendum geschielt hatten, sondern erstmal mit Sachpolitik überzeugt und viele Wahlversprechen umgesetzt hatten, kam der SNP zugute. So fanden sich 2011 noch breitere Schichten bereit, zur SNP zu wechseln. Mit 44 % der Zweitstimmen (45,4 % der Erststimmen) legte die SNP um über 12 % zu – ein dramatischer Erdrutschsieg. Das Problem für die SNP war nun aber, dass große Teile dieser 44–45 % die Partei wegen ihrer Regierungsarbeit gewählt hatten und nicht, weil sie Unabhängigkeitsbefürworter:innen waren. Die Aufgabe lag nun darin, bis zum Referendum 2014 die Zustimmung zur Unabhängigkeit auf denselben Wert zu heben wie die Parteizustimmung – und dann nochmal ein großes Stückchen darüber hinaus zu kommen. Wie groß der Zuwachs an realen Stimmen zwischen 2011 und 2014 für das Unabhängigkeitslager tatsächlich war, zeigt ein Blick auf die Wahlergebnisse. 2011 hatten SNP und Grüne, die ebenfalls die Unabhängigkeit befürworteten (► Kap. 3.4), auf den Regionallisten zusammen rund 960 000 Stimmen erhalten, 2014 stimmten jedoch rund 1,6 Mio. Wähler:innen für die Unabhängigkeit. Der Blick auf die sehr ähnlich aussehenden Prozentzahlen allein verschleiert den enormen Mobilisierungserfolg beim Schottland-Referendum. Diese neu dazugewonnenen Befürworter:innen stellten für die SNP und die Grünen ein bedeutendes zukünftiges Stimmenpotenzial dar. Johns und Mitchell untermauerten mit entsprechenden Untersuchungen, wie der SNP dieses politische Kunststück gelang (s. u.). Sie stellten aber auch fest, dass die SNP neben dem realen Stimmenzuwachs auch einen teilweisen Austausch der Gefolgschaft erlebte. Während eher konservative SNP-Wähler:innen 2014 mit Nein gegen die Unabhängigkeit stimmten, kamen insbesondere aus dem Labour-Lager neue Wähler:innengruppen hinzu. Dies führte in der Folge des Referendums zu einer stärkeren Neupositionierung der SNP als Mitte-LinksPartei.3 Anderen Parteien hätte eine derartige Verschiebung der Anhängerschaft womöglich das Genick gebrochen, doch die SNP schaffte 2014/15 unter Nicola Sturgeon das Kunststück, die neuen Anhänger:innen, die über das Unabhängigkeitsreferendum zur SNP gestoßen waren, auch tatsächlich längerfristig an die Partei zu binden. Die 50 % Zustimmung bei den Unterhauswahlen 2015

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sind ein Wert, der seit den 49,8 % für Labour 1966 in Schottland von keiner einzigen Partei mehr erreicht worden war. Gegenüber der Unterhauswahl von 2010 stellten die 50 % einen prozentualen Zuwachs von unfassbaren 30 % dar. Die SNP hatte die schottische Parteienlandschaft innerhalb weniger Jahre geradezu umgepflügt. Dazu trug bei, dass die von der Gegenseite mobilisierten zusätzlichen Unionsbefürworter:innen sich in der Folge wieder auf drei Parteien aufteilten, was der SNP bei Wahlen mit Mehrheitswahlrecht einen uneinholbaren Startvorteil verschaffte. Das Unabhängigkeitsreferendum hatte für die SNP also eine enorme Mobilisierungswirkung, die aber nur erreicht werden konnte, weil die Partei schon sieben Jahre als dominante politische Kraft an der Regierung war und dort überwiegend positiv beurteilt wurde. Wie dies der SNP inhaltlich und stilistisch gelang, wird im nächsten Abschnitt beleuchtet. Und es sieht auch sechs Jahre später, 2021, danach aus, als habe die SNP diese neue, deutlich erweiterte Wählerbasis fest an sich binden können. Die ehemaligen Labour-Anhänger:innen sind nicht zurückgewandert, die 2014 überzeugten Unabhängigkeitsbefürworter:innen sind weiterhin der SNP zugeneigt, Nicola Sturgeon ist mit Abstand die beliebteste Politikerin in Schottland und die Unzufriedenheit mit der britischen Regierungspolitik beim Brexit und der CoronaPandemie ist so verbreitet, dass die SNP als Partei derzeit augenscheinlich keine Konkurrenz fürchten muss – es sei denn, ihr selbst unterlaufen gravierende Fehler. Zudem hat der dramatische Mitglieder-Zulauf nach dem Referendum 2014 die Partei in eine Massenorganisation verwandelt, was einen sehr positiven Einfluss auch auf die Parteifinanzen hat. Welche Partei die SNP aus dieser dominierenden Position in Schottland in absehbarer Zeit verdrängen könnte, ist derzeit nicht erkennbar.

Modern, selbstbewusst und international Mit Schottland verbinden viele Menschen im Ausland Bilder von farbenfrohen Kilts und dröhnender Dudelsackmusik – kurzum ein sehr traditionalistisches und romantisches Bild. Doch wer sich die SNP anschaut, trifft auf eine vollständig moderne Partei, die mit dem touristischen Hochland-Romantizismus nichts gemein hat. Kilts und Dudelsäcke sind bei Parteitagen der SNP allenfalls eine Randerscheinung. Lange Zeit gab es ideell zwar durchaus einen Bezug zu wichtigen Ereignissen der schottischen Geschichte aus nationalistischer Sicht, also den Unabhängigkeitskriegen an der Wende zum 14. Jh. sowie den letzten Jakobiten-Aufständen Ende des 17. und Mitte des 18. Jh., verbunden mit der Auflösung des schottischen Parlaments 1707 im Zuge des Zusammenschlusses mit England zum britischen Königreich. Beim langjährigen Parteivorsitzenden Alex Salmond traf zumindest dies auf eine gewisse Sympathie, weil er selbst in St. Andrews neben Wirtschaft

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auch mittelalterliche Geschichte studiert hatte. So konnte die Partei lange sowohl die „kulturellen Traditionsnationalist:innen“ ansprechen wie auch große Teile der modernen Gesellschaft, die sich von den „englischen“ Regierungen zunehmend ungerecht und negativ behandelt fühlen. Bei Salmonds Nachfolgerin Nicola Sturgeon fällt der Traditionsaspekt kaum noch ins Gewicht. Sie konzentriert sich sehr stark auf das Hier und Jetzt und bezieht viele ihrer politischen Grundideen aus ihrer Sozialisation in der Thatcher-Zeit in den 1980er-Jahren.4 Das Gleichgewicht hat sich in den letzten 25 Jahren deutlich in Richtung der modernen Auslegung verschoben: 1995 erzeugte der patriotische HollywoodBlockbuster Braveheart noch große Emotionen und das erfolgreiche Parlamentsreferendum 1997 fand genau am 700. Jahrestag einer siegreichen Schlacht von „Braveheart“ William Wallace gegen eine englische Armee statt (► Kap. 1). Im Juni 2014 stand dann der 700. Jahrestag des historischen Siegs von König Robert the Bruce über den englischen König Edward II. bei Bannockburn in der Nähe von Stirling ins Haus. Dies hätte drei Monate vor dem Schottland-Referendum sicherlich zu einem großen Show-Termin von traditionalistischen Nationalist:innen werden können – wurde es aber nicht. Die schottische Gesellschaft insgesamt hat sich weit von diesem Rückbezug auf die Vergangenheit entfernt und befasst sich stattdessen intensiv mit Gegenwart und Zukunft. Dass dies so eingetreten ist, ist auch dem sehr modernen Auftritt der SNP zu verdanken, die nicht ständig eine glorreiche Vergangenheit beschwört, sondern lieber eine positive Zukunft. Und das ist der zweite wichtige Aspekt der politischen Präsentation der SNP: Langjährige Beobachter der politischen Szene wie die Autoren David Torrance und Iain Macwhirter oder die Professoren James Mitchell und Rob Johns verweisen übereinstimmend auf die positive Ausrichtung der SNP-Wahlkampagnen.5 Der SNP gelang es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, ein positives Bild von Schottland zu entwerfen, das in großen Teilen sozialdemokratisch und im Energiebereich eher grün geprägt ist (► Kap. 3.4 und 5.1). Damit stärkte sie das Selbstbewusstsein der Schott:innen, denen noch von der Thatcher-Regierung vorgehalten worden war, in einer „Kultur der Abhängigkeit“ zu leben (► Kap. 1.4). Vielleicht lässt sich das als polit-psychologischer Balsam für die Seele abtun, aber dieser positive Politikansatz setzt primär auf die Vision einer „achieving society“, einer Gesellschaft, die etwas erreichen kann, wie es Christopher Harvie für das unionistische Schottland bis 1945 skizziert hatte.6 Aus diesem Blickwinkel heraus ist es kein Wunder, dass die SNP zunächst immer dann gut abschnitt, wenn sich eine positive Zukunft am Horizont abzeichnete, z. B. 1974 nach den Ölfunden in der Nordsee oder aber 1999 durch die Einführung des schottischen Parlaments. Der Punkt ist, dass die schottische Gesellschaft insgesamt in den letzten 30 Jahren wesentlich selbstbewusster geworden zu sein scheint (► Kap. 4) und sich daran gewöhnt hat, dass Schottland als Land in der Lage ist, eine positive Zukunft nach den eigenen Wertvorstellungen zu gestalten. Viele Menschen sind es

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offensichtlich leid, sich einzureden zu lassen, Schottland könne nicht auf eigenen Beinen stehen. Davon profitiert die SNP als Regierungspartei seit 2007 – und zugleich treibt sie dieses selbstbewusste Weltbild durch das eigene selbstbewusste Auftreten auf der politischen Bühne weiter an. Einem großen Teil der schottischen Bevölkerung gefallen die positiven Zielbilder der SNP, auch über Parteigrenzen hinweg. So gaben nach dem Referendum 2014 in einer Umfrage 63 % der Befragten an, die Kampagne von Yes Scotland sei positiv gewesen und 59 % stimmten der Aussage zu, dass es der Kampagne gelungen sei, „ein klares Bild von dem erwünschten Schottland zu zeichnen“.7 Mit anderen Worten: Auch ein größerer Teil des unionistischen Publikums war beeindruckt von der positiven Darstellungskraft der SNP – ein Wert, der den unionistischen Parteien bis heute starke Kopfschmerzen bereitet. Ein Teil des selbstbewussten, positiven Auftritts ergibt sich aus der klar europafreundlichen Politik der SNP. Während sich in England ein Trend zur stärkeren Abkapselung und Isolation gegenüber den europäischen Nachbarn breitmachte, reklamiert die SNP seit Jahren selbstbewusst einen eigenständigen Platz unter den nordeuropäischen kleinen Nationen. Auch das gefällt vielen Wähler:innen, die sich nicht länger als nördliche Außenstelle des Vereinigten Königreichs sehen wollen, sondern als Mitglied einer erfolgreichen Staatengemeinschaft. Nicht alle Wunschträume haben sich dabei erfüllt. So sprach Alex Salmond 2006 mit Blick auf die damals wirtschaftlich sehr erfolgreichen kleinen Nachbarstaaten von Irland und Island bis Dänemark und Norwegen von einem „arc of prosperity“, einem „Bogen des Wohlstands“,8 dem ein unabhängiges Schottland beitreten werde. Diese Blase zerplatzte 2008 in der Finanzkrise (► Kap. 4.5) und Kritiker:innen spöttelten nun mit Blick auf Irland und Island von einem „Bogen der Insolvenzen“.9 Aber die SNP blieb bei ihrem internationalen Stil und setzte 2014 und 2016 ganz auf die Mitgliedschaft in der EU. Auch das kam wiederum in der Bevölkerung gut an, die sich offensichtlich davor fürchtete, von England durch den Brexit von der „Außenwelt“ abgeschnitten zu werden. Dementsprechend große Wellen schlug z. B. Anfang 2021 der von der britischen Regierung vollzogene Ausstieg aus dem europäischen Erasmus+-Programm, das den Austausch zwischen Studierenden und Universitäten in der EU unterstützt. Sowohl Schottland wie auch Wales wollten mithilfe zahlreicher Europa-Abgeordneter weiter im Erasmus+-Programm bleiben – ein Wunsch, der letztlich von der EU-Kommission abgelehnt wurde.10 Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des EUParlaments, David McAllister, bezeichnete den Erasmus-Ausstieg der britischen Regierung als „vollkommen unverständlich“.11 Die schottische Regierung schuf im Herbst 2021 deshalb ein eigenes Stipendienprogramm für EU-Studierende.12 Zur internationalen Ausrichtung gehört für die SNP im Gegensatz zu den konservativen britischen Regierungen der letzten Jahre eine offene Immigrationspolitik sowie die positive Ansprache der Einwander:innen und ihrer Nachfahren. So gelang es der SNP, die Nachfahren der katholischen Einwander:innen

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aus Irland von Labour mehrheitlich hinüber zur SNP zu bewegen, was wiederum ein mögliches Konfliktpotenzial wie in Irland entschärfte (► Exkurs 4). Auch in der asiatisch-stämmigen Community und unter den EU-Einwander:innen konnte die SNP mit ihrer Politik punkten. Hier ist es wichtig zu verstehen, dass die SNP zwar eine „nationale“ Partei, aber keine „nationalistische“ ist.13 Laut SNP-Credo haben alle Menschen, die in Schottland leben, Anspruch darauf, am gesellschaftlichen und politischen Geschehen voll zu partizipieren. Auch das ist im heutigen Europa nicht selbstverständlich. Für ein Land, das seit Mitte des 18. Jh. – abgesehen von der Einwanderung aus Irland im 19. Jh. – zu einem Auswandererland geworden war und so immer wieder große Bevölkerungsteile verloren hat, ist es eine sehr positive Erfahrung, dass durch die Einwanderung vor allem aus den EU-Ländern die Bevölkerungszahl in den letzten zwei Jahrzehnten wieder gewachsen ist. Dementsprechend forderte die schottische Regierung in den letzten Jahren für Schottland immer wieder eine „offene und flexible“ Einwanderungspolitik, die ihr aber nicht erst im Zuge des Brexits von der britischen Regierung verwehrt wird.14 In Europa ist es sehr selten geworden, dass eine Regierungschefin sich dezidiert für mehr Einwanderung ausspricht. Die Frage ist also, ob der Name Scottish National Party wirklich treffend ist, denn die Partei ist deutlich internationaler als die Mainstream-Politik in England, die sich nach dem Brexit-Votum zunehmend in einer nationalen Ecke einigelte. Wichtig ist hier der Hinweis, dass für die SNP die Vertretung der schottischen Interessen nicht zu engstirnigem nationalistischem Verhalten führt. Was die Europafreundlichkeit und die Befürwortung von Immigration angeht, ist die SNP deutlich liberaler und offener als viele andere Parteien in diversen EU-Ländern. Natürlich ist es nicht so, dass die SNP immer nur positive Äußerungen tätigt, sondern im beinharten politischen Alltag auch selbst ordentlich austeilt. Der ehemalige Parteichef Salmond schüttete z. B. nach seinem Wahlsieg 2011 viel Häme über Labour aus: „Ich denke, dass es [Labour] so wie dem amerikanischen Bison geht. Wir werden hier und da noch ein, zwei sehen, aber die Zeiten der großen Labour-Herden sind endgültig vorbei.“15 Und der Fraktionschef im Unterhaus, Ian Blackford, griff Anfang 2021 die Tory-Regierung an, die sich mit Gordon Brown für eine neue Unionskampagne besprochen hatte: Die Brexit-Befürworter:innen würden nun „mit dem Schwanz des unionistischen Hundes wackeln.“16 Man darf sich die schottische Politik also nicht zu idyllisch vorstellen. Knallhart war auch die erbitterte juristische Auseinandersetzung zwischen Ex-Parteichef Salmond und der schottischen Regierung zwischen 2018 und 2021, die fast zum Sturz der Ministerpräsidentin sowie de facto zur Gründung einer neuen Splitterpartei führte (► Exkurs 3 sowie Kap. 5.1). Zusammenfassend lässt sich dennoch sagen, dass sich die SNP in den vergangenen Jahren überwiegend als modern, weltoffen, selbstbewusst, positiv und

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zukunftsorientiert dargestellt hat. Diese klare Positionierung macht offensichtlich einen guten Teil ihrer andauernden Attraktivität für die schottischen Wähler:innen aus, die dafür sogar bereit sind, über manche konkrete Regierungsprobleme hinwegzusehen. Im politischen System Schottlands und sogar auf britischer Ebene hat die SNP damit eine fast einzigartige Stellung eingenommen – und es ist sehr ungewöhnlich, dass die Partei über so viele Jahre hinweg ihre Botschaft konstant halten konnte. Ob die SNP damit auch nach dem neuerlichen Wahlerfolg vom Mai 2021 ihr langfristiges Ziel einer staatlichen Unabhängigkeit erreichen kann, wird sich nun zeigen müssen. Eine wichtige strategische Entscheidung war der Abschluss eines koalitionsähnlichen Regierungspaktes mit den Grünen, um sich eine stabile Parlamentsmehrheit zu sichern (► Kap. 3.4 und 5.1).

Wer folgt auf Nicola Sturgeon? Diese Frage scheint angesichts der jahrelangen Dominanz der schottischen Ministerpräsidentin in ihrer eigenen Partei, aber auch in der gesamten schottischen Politikszene, nicht unbedingt aktuell. Anzeichen von Amtsmüdigkeit scheint Sturgeon nach ihrer erneuten Wiederwahl 2021 nicht zu haben. Aber die eben erwähnte, öffentlich ausgetragene Schlammschlacht mit ihrem Vorgänger Salmond im Frühjahr 2021 hat gezeigt, dass auch Sturgeon politisch verwundbar ist. Nach mehr als sieben Jahren an der Regierungsspitze kann es gut sein, dass sie den Zenit ihrer politischen Macht bereits überschritten hat – auch wenn sie selbst und ihre Partei natürlich das genaue Gegenteil vermitteln wollen. So stand sie rund um den Weltklimagipfel in Glasgow im Herbst 2021 intensiv im internationalen Scheinwerferlicht und konnte erneut punkten.16 Wie sieht also die Zukunft der SNP-Spitze aus? Durch die Krise im Frühjahr 2021 wurde eine Schwachstelle der SNP ganz deutlich: Im Gegensatz zur Salmond-Ära gibt es keine offensichtliche Nachfolgeregelung für Sturgeon. Sie galt immer als die Nachfolgerin für Salmond – hinter ihr selbst gibt es hingegen niemand in direkter Wartestellung. Die große Politik ist seit Jahren ganz auf sie zugeschnitten. Wohl auch aus diesem Grund brachte Sturgeon in einem Interview im März 2021 erstmals selbst zwei mögliche Nachfolger:innen ins Gespräch: Finanzministerin Kate Forbes (geb. 1990) sowie den damaligen Justiz- und heutigen Gesundheitsminister Humza Yousaf (geb. 1985). Forbes sei ein „absolutes Powerhouse“ und Yousaf „unglaublich talentiert“.17 Forbes hat eine beachtliche Blitzkarriere hingelegt: Mit nur 26 Jahren gelangte sie 2016 ins schottische Parlament und wurde bereits 2018 Staatssekretärin für öffentliche Finanzen. 2020 stieg sie dann zur Finanzministerin auf und bekleidet damit eines der wichtigsten Regierungsämter in Edinburgh. Die studierte Historikerin aus den Highlands gilt unbestritten als einer der aufstrebenden Stars im Kabinett von Sturgeon. Forbes war bislang zudem eine von ganz

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wenigen Abgeordneten, die im Parlament eine ganze Rede auf Gälisch gehalten hat.18 Humza Yousaf zog 2011 in Glasgow ebenfalls mit 26 Jahren ins schottische Parlament ein. Sein Vater stammte aus Pakistan, seine Mutter aus einer asiatisch-stämmigen Familie in Kenia – für Glasgow durchaus typische Migrationsgeschichten. Der Politikwissenschaftler wurde bereits 2012 zum Staatssekretär für Europa und Internationale Entwicklung, bevor Sturgeon ihn 2018 zum Justizminister beförderte. Nach der Wahl 2021 bekam er das während der CovidPandemie stark im Fokus stehende Gesundheitsministerium übertragen – das einst auch das Sprungbrett für Sturgeons Karriere gewesen war. Mit diesen beiden Personalien hat Sturgeon eine jüngere Generation in die erste Reihe der Politik geholt. Andererseits kam 2021 auch ein SNP-Veteran ins Parlament von Edinburgh: Angus Robertson (geb. 1969) war zehn Jahre lang Fraktionschef der SNP im Unterhaus gewesen, bevor er 2017 sein Mandat verlor – ausgerechnet gegen den jetzigen schottischen Tory-Chef Douglas Ross. 2021 gewann er jedoch den Sitz der ausscheidenden Tory-Fraktionschefin Ruth Davidson in Edinburgh und wurde von Sturgeon sofort als Minister für Verfassung, Auswärtige Angelegenheiten und Kultur ins Kabinett geholt. In diesen Funktionen wird Robertson sicherlich oft im Rampenlicht stehen. Robertsons Mutter ist Deutsche, sodass er auf familiärer Ebene weiterhin mit einem Bein in der EU steht. Vor seiner Politikerzeit war Robertson u. a. als Journalist längere Zeit für den Österreichischen Rundfunk tätig. Ebenfalls in herausgehobener Funktion für die SNP tätig sind John Swinney (geb. 1964) als stellvertretender First Minister, Keith Brown (geb. 1961) als stellvertretender Parteichef und Justizminister sowie Ian Blackford (geb. 1961) als Fraktionschef im Londoner Unterhaus. Es gibt also ein breites Feld an möglichen Kandidat:innen, sollte die Nachfolgefrage für Sturgeon akut werden. Zwar hat sie selbst angekündigt, die volle Legislaturperiode bis 2026 Regierungschefin bleiben zu wollen, aber das wird sich erst noch erweisen müssen. Das größte Problem für die SNP ist eher, dass Sturgeon womöglich deutlich mehr als bisher ihr Führungsteam in den Vordergrund stellen muss, um die SNP nicht auf Dauer als Eine-Frau-Show wirken zu lassen.

3.2

Scottish Labour Party

Die Scottish Labour Party ist sehr traditionsreich, mit stolzen Wurzeln in der Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. Jh. Den jetzigen Namen erhielt die Partei 1994. Labour war in Schottland immer auch mit Forderungen nach Autonomie für die britischen Home Nations verbunden (► Kap. 1.3).19 Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg Labour dann langsam zur beherrschenden politischen Kraft in

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Schottland auf: Zwischen 1964 und 2007 lag die Partei in Schottland bei jeder einzelnen Wahl an erster Stelle. Sie galt deshalb lange als natürliche Führungspartei des Landes – quasi als die politische Stimme des Landes. Seit 2011 hat sie diese Spitzenposition allerdings kein einziges Mal mehr erreichen können und sackte bei den Wahlen mehrfach sogar auf Platz 3 ab, zuletzt wieder im Mai 2021 (► Kap. 5.1). Ohne auch hier in eine vollständige Parteigeschichte einzusteigen, sollen zwei für die heutige Situation wichtige Fragen näher beleuchtet werden: 1.

Was machte Labour für mehr als 40 Jahre zur dominanten Kraft in Schottland? 2. Was führte zum drastischen Niedergang der Partei?

Das soziale Gewissen Labour galt aufgrund der Verwurzelung in der Arbeiterbewegung für viele Jahrzehnte als die natürliche Vertretung von linksgerichteten, eher sozialdemokratischen Stimmen. Dabei nahm sie auch einen Großteil der Stimmen der katholischen Bevölkerung im Westen Schottlands auf, die auf irische Vorfahr:innen zurückblickt. In einer lange noch sehr klassenbewussten Gesellschaft wurde das Labour-treue Wahlverhalten zum Teil in den Familien und Betrieben „vererbt“, was bis in die 2000er-Jahre eine unverbrüchliche Wählerbasis garantierte. Schon zwischen den Weltkriegen hatte Labour einige Wahlen gewonnen, auch nach 1945 lag sie zunächst vorne, konnte sich aber nicht konstant gegen die Tories durchsetzen. Erst Mitte der 1960er-Jahre übernahm sie in Schottland auf Dauer die Führung. Mit einer Stimme für Labour war für viele Wähler:innen der Schutz vor dem Niedergang der arbeitsintensiven Bergbau-, Schwer- und Werftindustrie verbunden, aber auch der Schutz vor Privatisierungen z. B. bei der Bahn oder der Post – und natürlich beim Nationalen Gesundheitsdienst NHS. Ein wichtiger Verbindungsarm waren die Gewerkschaften, die erheblichen Einfluss auf die Labour Party in ganz Großbritannien ausübten. Eine nicht-klassenspezifische und nicht-gewerkschaftsorientierte Partei wie die SNP konnte bei dieser Ausgangslage nur schlecht punkten. Das Gesellschaftsmodell funktionierte für Labour solange sehr gut, bis Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren bewusst an die Zerschlagung der alten Industriezweige und der damit verbundenen Gewerkschaften ging. Damit zerbrach letztlich auch die klassenorientierte Gesellschaftsbasis für Labour. In den 1990er-Jahren konnte die Partei das noch kaschieren, weil Schottland sich nicht so schnell von alten sozialdemokratischen Gesellschaftswerten verabschieden wollte wie Teile von England. Margaret Thatcher und die Tories waren in Schottland gesellschaftlich nahezu geächtet. Das ermöglichte Scottish Labour, sich länger als die einzig wahre und die einzig effektive Opposition darzustellen. Aufgrund der großen Wahlerfolge in Schottland im Vergleich zu England war

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3 Die schottische Parteienlandschaft

auch die britische Unterhaus-Fraktion ziemlich schottisch geprägt, was sich dann in der großen Anzahl der prominenten Köpfe auf britischer Ebene widerspiegelte (Gordon Brown, Donald Dewar, John Smith, Robin Cook, George Robertson, …). Tony Blairs Vater war ebenfalls Schotte und er selbst war auf dem Fettes College in Edinburgh zur Schule gegangen. Die Zusage nach dem Erdrutschsieg von Tony Blair 1997, ein neues schottisches Parlament zu schaffen, brachte Labour zusätzlichen Schwung. Die Maßnahme war populär und brachte die Partei sogleich als führende Kraft in die neue schottische Regierung – zusammen mit dem Juniorpartner von den Liberaldemokraten. Alles sah danach aus, als habe sich Labour mit den neuen Parlamenten in Schottland und Wales auf Dauer zwei neue, uneinnehmbare Machtbasen im Vereinigten Königreich geschaffen.

Zu britisch und zu negativ Warum konnte sich Labour also „nur“ acht Jahre an der Regierung in Edinburgh halten und ist seitdem von der einstigen Führungsstärke meilenweit entfernt? Zusammengefasst werfen die Kritiker:innen der Partei vor, sich zu britisch – oder auch schlicht zu englisch – zu verhalten, zu wenig Ideen in Verfassungsfragen zu haben und insbesondere beim Unabhängigkeitsreferendum und in den Verfassungsfragen zu negativ aufzutreten.20 Das ist für eine stolze Partei, deren Wurzeln in Schottland liegen, natürlich ein harter Brocken. Aber man könnte auch sagen, dass Labour in Schottland den Zug der Zeit verpasst hat und bislang keinen neuen Bahnhof gefunden hat, um wieder einzusteigen. Wie schon bei der SNP erläutert, ist dem schottischen Wahlvolk die Vertretung schottischer Interessen im Laufe der letzten 30 Jahre immer wichtiger geworden. Genau dafür war ja das Holyrood-Parlament in Edinburgh eingerichtet worden. Das war für Scottish Labour zunächst auch kein Problem, weil Tony Blair im ganzen Königreich populär war und New Labour mit solidem Wirtschaftswachstum auch in Schottland für sprudelnde Steuereinnahmen und neue Arbeitsplätze sorgte. Mit zunehmender Dauer traten aber die Schattenseiten von Tony Blair und New Labour immer stärker hervor. Blairs starres Festhalten am Irak-Krieg mit seinen schweren Menschenrechtsverletzungen, die angekündigte Stationierung von neuen Atom-U-Booten am Clyde bei Glasgow, die Einführung von Studiengebühren und die drohende Teil-Privatisierung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS schreckten in Schottland auch die Labour-Anhänger:innen ab. Doch anstatt sich von der britischen Regierung klar abzusetzen, hielt sich Labour-First-Minister McConnell zurück, während die SNP kostenloses Studium, den Schutz des öffentlichen NHS und kostenlose Rezepte versprach. Gegen den Irak-Krieg war die SNP schon von Beginn an gewesen, McConnell schwieg jedoch. In dieser Situation wagten viele Schott:innen einen politischen Sprung ins Ungewisse und entzogen Labour 2007 das Vertrauen – zunächst nur ganz knapp,

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dann aber 2011 in Scharen.21 Die Partei vertrat in Schottland nicht mehr den Wertekanon der eigenen Wähler:innen und wurde auch nicht mehr als allein mögliche Trägerin politischer schottischer Identität gesehen. Labour hatte den Gezeitenwechsel in der schottischen Politik schlicht verschlafen. Man schaute tatenlos zu, wie die SNP 2007 die Regierung übernahm, und beschäftigte sich mehr mit dem innerparteilichen Wachwechsel von Blair zu Brown. Die Aufmerksamkeit lag auch in der Folge oft mehr auf London als auf Schottland. So fing das Labour-Wahlmanifest für die Schottland-Wahl 2011 mit den Worten an: „Now that the Tories are back …“.22 Doch in Edinburgh regierte die SNP und nicht David Cameron – Labour hatte nicht beachtet, dass es bei den Regionalwahlen nicht um London, sondern um Schottland ging. Derlei Schnitzer wurden und werden vom schottischen Wahlvolk nicht mehr gutgeheißen. Labour vermittelte den Eindruck, als sei Edinburgh nur eine Schachfigur im Kampf um Westminster. Im Oktober 2014 brachte dies die scheidende schottische Labour-Chefin Johann Lamont auf den Punkt, als sie der britischen Parteiführung vorwarf, die schottische Partei wie eine reine „Filiale“ zu behandeln.23 Die schottische Parteisektion hinterließ in den vergangenen Jahren in der Tat nicht den Eindruck einer eigenständigen Partei. Nur Gordon Brown setzte 2014 im Referendum eigene Akzente für mehr Autonomierechte und initiierte das berühmte „Gelübde“ der unionistischen Parteichefs (► Kap. 2.3). Das rettete wahrscheinlich der unionistischen Seite das Ergebnis. Aber dann weigerte sich auch Brown, für die nächsten Holyrood-Wahlen in Edinburgh anzutreten. Und das zeigte erneut, dass für die schottischen Labour-Größen aus Browns Generation Edinburgh nur eine zweitrangige Bühne war und ist – für sie zählt allein Westminster. Eine neue Generation ist bislang nur in Ansätzen sichtbar, sodass Scottish Labour auch personell in einer Zwickmühle ist. Dazu kommt der Vorwurf, dass Labour in Schottland seit Jahren zu negativ auftritt. Während sich die SNP zukunftsfreudig, optimistisch und als Yes-Partei darstellt, wurde und wird Labour insbesondere die strikt negative Haltung im Unabhängigkeitsreferendum 2014 vorgehalten. Viele Anhänger:innen hatten sicherlich erwartet, dass sich die Partei nicht in eine gemeinsame Kampagne mit den Tories begeben würde und vielleicht auch einen eigenen Plan für mehr schottische Autonomie vorlegen würde – eine positive Vision von einem Schottland in 10 oder 20 Jahren. Doch dieser Plan fehlt bis heute, was es Labour so schwer macht, sich gegenüber der SNP ernsthaft zu behaupten. Diese anhaltende Ideenlosigkeit in einer der zentralen politischen Fragen der schottischen Politik schlug sich auch im raschen Wechsel des Führungspersonals nieder: Ende Februar 2021 gelangte mit Anas Sarwar bereits der siebte Parteichef seit dem Machtverlust 2007 ins Amt. Der Parteivorsitz ist zu einem nervenaufreibenden Schleudersitz geworden. Statt eine positive Vision eines Verbleibs in der Union zu entwerfen, griff die No-Kampagne 2014 zum negativen Wahlkampf unter dem angeblich ironisch gemeinten Schlagwort „Project Fear“.24 Dieses „Projekt Angst“ rettete vielleicht

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3 Die schottische Parteienlandschaft

das Referendum über die Ziellinie, vertrieb aber viele Labour-Anhänge:innen, die nicht verängstigt werden wollten, sondern den Entwurf eines besseren – in ihren Augen sozialdemokratischen – Schottlands erwarteten. Dass sich Labour in London unter Parteichef Ed Miliband 2015 im Vorfeld der Unterhauswahlen jeder Koalitionsoption mit der SNP verweigerte, mag ihm in England geholfen haben, in Schottland besiegelte diese Weigerung den Abstieg der Partei. Und auch Milibands von der englischen Basis gefeierter Nachfolger Jeremy Corbyn konnte in Schottland aufgrund seiner sehr unklaren Haltung zur EU und zum Brexit keine Wahlen gewinnen. Der Brexit war an der eigenen Basis unpopulär, doch auch jetzt setzte sich die schottische Parteiführung nicht von der britischen ab.25 Scottish Labour versäumte es, eigene, in Schottland mehrheitsfähige Politikansätze zu entwickeln. Die Desaster bei den Schottland-Wahlen 2016, wo Labour auf den dritten Platz absackte, und dann bei den Unterhauswahlen 2017 und 2019 waren die Folge. Wenn Labour in Schottland in absehbarer Zeit aus diesem Tief wieder herauskommen möchte, wäre wahrscheinlich ein radikaler Schnitt notwendig mit einer wirklichen Abkopplung von der britischen Labour Party und einer neuen eigenständigen Autonomiepolitik. Dazu war die schottische Sektion bislang nicht bereit. Vielleicht führt die erneute Wahlniederlage im Mai 2021 mittelfristig zu einem Umdenken (► Kap. 5.1). Der neue schottische Parteichef Sarwar machte jedenfalls zunächst einen dynamischen Eindruck. Interessant war jedoch, dass er im Wahlkampf das Unabhängigkeitsthema ganz ausblenden wollte. Ob das eine erfolgreiche Strategie ist, muss nach den bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden. Seine Beliebtheitswerte begannen nach der Wahl auch bereits wieder zu sinken. Wenig hilfreich war sicherlich auch, dass der neue britische Labour-Chef Keir Starmer im September 2021 auf dem Labour-Parteitag wieder die Keule der „Tartan Tories“ der 1990er-Jahre herausholte. Er vertrat nämlich die These, die SNP und die Tories würden „Hand in Hand“ daran arbeiten, Großbritannien zu schwächen.26 Mit dieser „englischen“ Sichtweise lassen sich in Schottland längst keine Wahlen mehr gewinnen. Es spiegelt eigentlich eher das englische Unverständnis des Erfolgs der SNP wider. Unter dem Strich behielt Tony Blair recht, der rückblickend zur Regierungsübernahme 2007 durch die SNP unter Alex Salmond prophezeite: „Ich wusste, dass Alex Salmond, wenn er erstmal die Füße unter den Tisch bekommen würde, gegen die Regierung in Westminster opponieren und sich etablieren konnte. Es würde viel schwerer werden, ihn zu stürzen als ihn gleich von der Regierung fernzuhalten.“27

An dieser Aufgabe arbeitet Labour noch immer.

3.3 Scottish Conservatives

3.3

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Scottish Conservatives

Während allgemein nur von den Konservativen oder den Tories gesprochen wird, firmiert die schottische Parteigliederung seit 1965 offiziell unter dem Namen Scottish Conservative & Unionist Party. Dieser Parteiname gibt auch schon die politische Richtung in Verfassungsfragen vor. Ein zentrales Thema der Konservativen in Schottland ist der Erhalt der Union mit dem Vereinigten Königreich. Diese klare Ausrichtung der Partei ist zugleich Fluch und Segen für die Partei: Fluch, weil es sie auf ein politisch klar begrenztes Spektrum festlegt, Segen, weil es den Konservativen in Schottland bei aller sonstigen Unbeliebtheit ein festes Stimmenreservoir sichert. Geführt wird die Partei in Schottland seit 2020 vom Unterhaus-Abgeordneten Douglas Ross, der seit der Wahl im Mai 2021 zugleich auch schottischer Abgeordneter in Edinburgh und zudem dortiger Fraktionschef ist. Der Posten eines schottischen Parteichefs war überhaupt erst 2011 geschaffen worden, um den Konservativen in Schottland einen autonomeren Auftritt jenseits der britischen Parteizentrale in London zu ermöglichen. Diese Aufwertung der schottischen Untergliederung kam der Akzeptanz gleich, dass Schottland durch die Existenz des schottischen Parlaments eine wesentlich eigenständigere Repräsentanz benötigte.28 Hier sollen vor allem zwei Fragen untersucht werden: 1. Wie sind die schottischen Konservativen in Edinburgh mit ihrer Unbeliebtheit umgegangen? 2. Welche Auswirkungen hat der Brexit auf die Zukunft der Konservativen?

Thatcher, Devolution und die Union Die konservative und unionistische Partei hat in Schottland eine sehr lange Tradition. Noch 1959 konnten die beiden damals nominell selbstständigen Vorläufer der heutigen Partei gemeinsam den landesweit größten Stimmenanteil bei den Unterhauswahlen erzielen. Von diesem Höhepunkt jedoch setzte ein langer Abschwung ein, der sich mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher 1979 radikal beschleunigte. Die in England noch heute populäre Premierministerin brachte viele Menschen in Schottland mit ihrer als „anti-schottisch“ und unsozial empfundenen Politik gegen sich auf. 1987 kam deshalb der erste „Tag des Jüngsten Gerichts“, der die Tories auf zehn Unterhausmandate reduzierte (► Kap. 1.4). 1997 kam dann der tatsächliche Knockout: Die Tories gewannen kein einziges Unterhausmandat in Schottland (► Kap. 1.5). Die Partei hatte das seltene „Kunststück“ vollbracht, sich in weniger als 40 Jahren von einer Mehrheitspartei zu einer außerparlamentarischen Opposition herabzuwirtschaften. Daran war natürlich

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3 Die schottische Parteienlandschaft

auch das Mehrheitswahlrecht mit Schuld, denn die Tories erhielten selbst 1997 noch 17,5 % der Stimmen. Zudem war die Niederlage auch durch taktisches Wahlverhalten breiter Bevölkerungsschichten vervollständigt worden. Von diesem elementaren Misstrauen in der schottischen Bevölkerung hat sich die Partei im Kern bis heute nur in Teilen erholt. Insofern war es kein Wunder, dass die Ablehnung der Tories in Bezug auf das neue schottische Parlament keine große Wirkung zeigte. Dennoch war es genau dieses Parlament, das die Konservativen 1999 vor dem Untergang in Schottland rettete. Durch das gemischte Mehrheits- und Verhältniswahlrecht konnte die Partei mit 15,4 % der Zweitstimmen immerhin 18 von 129 Sitzen für sich reklamieren. In einer reinen Direktwahl wären sie erneut leer ausgegangen. So verdanken die Konservativen ihren Verbleib im parlamentarischen Betrieb in Fraktionsstärke just der Devolution-Politik, die so vehement ablehnten und die laut Boris Johnson 2020 ein „Desaster“ für Schottland war (► Kap. 2.5). Das ist durchaus eine Ironie der Geschichte. Auch wenn sich die Tories langsam mit den Vorteilen des Holyrood-Parlaments anfreundeten, waren sie von nun an oft strikt gegen jede Erweiterung der Kompetenzen. Die 2011 gewählte erste schottische Parteichefin Ruth Davidson zog gleich zu Anfang „eine Linie im Sand“ (► Kap. 2.3). Davidson bestimmte im letzten Jahrzehnt die konservative Politik in Schottland. Die gerne robust auftretende Politikerin war bis 2019 schottische Parteiund Fraktionschefin. Von 2020 bis zur Wahl im Mai 2021 war sie nochmals Fraktionschefin. Dann schied sie aus dem schottischen Parlament aus, um einen Ruf ins britische Oberhaus erhalten zu können. Davidson verlieh der konservativen Sache in Schottland erstmals seit langem wieder eine deutlich hörbare Stimme. Zusammen mit David Cameron legte sie auch die Strategie für das Unabhängigkeitsreferendum 2014 und die darauf folgenden Jahre fest: Durch eine klare, pro-unionistische Linie hoffte die Partei, der SNP in den eher konservativen Wahlkreisen im Süden und Nordosten des Landes Wahlstimmen abjagen zu können. Ziel war es mittelfristig, die Tories an Labour vorbei zumindest zur zweitstärksten Kraft in Schottland zu machen, perspektivisch dann aber auch die SNP an der Regierung abzulösen. Teil 1 der Strategie ging teilweise auf: Das Unabhängigkeitsreferendum brachte den Tories in der Tat neue Stimmen, die sich bei der SNP oder auch den Liberalen nicht mehr zu Hause fühlten, weil für sie die Bewahrung der Union mit England zum alles entscheidenden Kriterium geworden war. Das zeigte sich noch deutlicher bei der Schottland-Wahl 2016, als die Tories mit 22,9 % der Zweitstimmen (ein Plus von mehr als 10 %) insgesamt 31 Sitze gewannen und damit zur zweitstärksten Fraktion in Holyrood wurden. Damit hatte sich Davidson zur direkten Herausforderin von Nicola Sturgeon vorgearbeitet. Davidson hatte sich nun so viel politische Beinfreiheit geschaffen, dass sie auch beim Brexit-Referendum 2016 eine pro-europäische Position einnahm. Hö-

3.3 Scottish Conservatives

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hepunkt dieser innerparteilichen „Unabhängigkeit“ war eine TV-Debatte wenige Tage vor dem Referendum an der Seite des damals neuen Labour-OB von London, Sadiq Khan, gegen den heutigen konservativen Premierminister Boris Johnson und einen Gewerkschaftsboss.29 Aus heutiger Sicht wäre ein solcher „Anti-Boris“-Auftritt völlig undenkbar. Übrigens hatte Davidson zu jenem Zeitpunkt auch schon ihre Linie im Sand überschritten, als sie den neuen Machtbefugnissen für das schottische Parlament im Zuge des Referendums-„Gelübdes“ zugestimmt hatte. Diese Flexibilität und augenscheinliche Eigenständigkeit zahlten sich für Davidson und ihre Partei auch bei den Unterhauswahlen 2017 aus. Mit 28,6 % der Stimmen (+ 13,7 %) konnten die Konservativen mit 13 der schottischen Sitze ihr bestes Ergebnis seit 1983 erzielen. Davidson versprach angesichts der unklaren Machtverhältnisse in London, die „schottischen“ Mandate im Sinne eines weichen Brexits einzusetzen.30 Sie galt nunmehr als der kommende Star der Tories. Dazu kam, dass Davidson als offen in einer lesbischen Beziehung lebende Frau nicht mehr dem traditionellen Bild männlicher konservativer Politiker entsprach. Das öffnete auch einem eher städtischen Publikum neue Wege in die Partei.

Die Brexit-Wirren Warum fielen die Tories seit 2017 dennoch wieder zurück in Schottland? Die Antwort liegt erneut in der Kopplung von Brexit und Unabhängigkeitsfrage – und auch in der Person von Ruth Davidson. Ihren großen Ankündigungen 2016/17 folgte nämlich nicht viel in Bezug auf eine Einflussnahme auf die Brexit-Politik ihrer Partei. Dass die schottischen Abgeordneten zu irgendeinem Zeitpunkt geschlossen für eine Position stimmen würden, die Schottland einem weichen Brexit oder einem zweiten Referendum nähergebracht hätte, blieb ein Wunschtraum. Der politische Takt wurde vom britischen Schottland-Minister David Mundell im Sinne von Theresa May vorgegeben. Das schadete dem Ruf von Davidson als unerschrockener und innerparteilich eigenständigen Macherin enorm. Hatte sie 2014 ihren Widerstand gegen neue Befugnisse für Edinburgh aufgegeben, konzentrierte sie sich nach 2017 wieder zunehmend auf eine Ablehnung eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums. So interpretierte sie unmittelbar nach der Unterhauswahl 2017 ihren Wahlerfolg als Absage an ein solches „Indyref2“.31 Man konnte den Eindruck gewinnen, als sei die erneute Konzentration auf die unionistische Karte auch ein Mittel, um von möglicherweise unbequemen innerparteilichen Streitigkeiten in der Brexit-Frage abzulenken. So wirft der Politologe Alan Convery den Konservativen vor, dass ihnen ein eigenes Profil fehle. Man frage sich, was denn die Tories bei einer Regierungsübernahme in Schottland konkret machen wollten.32 Im August 2019 trat Davidson dann nach dem Amtsantritt von Boris Johnson als schottische Parteichefin zurück. Ergebnis der unklaren Positionierung der

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3 Die schottische Parteienlandschaft

schottischen Konservativen, bzw. der „Unterwerfung“ unter die neue Parteiführung von Johnson, war eine schwere Niederlage bei den Unterhauswahlen Ende 2019. Von den 13 Mandaten gingen 7 wieder verloren. Und noch in einem anderen Punkt hatte sich Davidson zusammen mit Cameron spektakulär verschätzt. Durch die Zuspitzung des Unabhängigkeitsreferendums 2014 auf eine reine Ja-/Nein-Frage in Sachen Unabhängigkeit zwangen die Tories auch all diejenigen Schott:innen zu einer Entscheidung, die eigentlich für mehr Autonomierechte gestimmt hätten – wenn dies denn auf dem Stimmzettel gestanden hätte. Womit die Tories ganz offensichtlich nicht gerechnet hatten, war die große Anzahl derjenigen, die sich in dieser Situation eben für die Unabhängigkeit entschieden – und dann im Gefolge dieser einmal getroffenen Entscheidung gleich weiter zur SNP wanderten.34 Ohne die berühmte „Linie im Sand“ wäre mit mehr Flexibilität ein ganz anderer Ausgang möglich gewesen. So wurden die Tories mit ihrer harten Linie und ihrer Fixierung auf Labour unwillentlich zu echten Wahlhelfern für die SNP.

An Boris gekettet? Das größte Problem der Partei war 2020/21, dass sie in Schottland als an einen der unbeliebtesten Premierminister aller Zeiten gekettet schien, der aus seiner Geringschätzung für schottische Autonomie bislang keinen großen Hehl gemacht hat (► Kap. 2.5). Anfang 2021 überwarf sich Johnson im Zuge seiner Brexit-Vereinbarungen auch noch mit den schottischen Fischern, einer eigentlich sehr konservativen Wählergruppe, die Pro-Brexit gestimmt hatte. So schmolz die Basis der Partei in Schottland noch weiter. Erst Ende 2021, im Zuge der Debatte um die Corona-Affären der Johnson-Regierung, schien sich wieder Distanz zwischen der schottischen und britischen Parteiführung aufzutun (► Kap. 5.3). Für einen kurzen Moment schien die Partei im Februar und März 2021 sogar die Möglichkeit zu haben, Nicola Sturgeon im Gefolge der Salmond-Affäre stürzen zu können (► Exkurs 3 und Kap. 5.1). Doch die Tories beantragten in Edinburgh schon ein Misstrauensvotum gegen die Ministerpräsidentin, bevor diese überhaupt vor dem Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Salmond-Affären ausgesagt hatte. Das untergrub ihre Glaubwürdigkeit und es gelang ihnen nicht, die anderen Oppositionsparteien für das Misstrauensvotum zu gewinnen. Nicht einmal Boris Johnson gab aus London sein Plazet.35 Kritiker:innen warfen den schottischen Tories in den Medien daraufhin „Unfähigkeit“ vor.36 Die Partei scheint sich nunmehr ganz darauf zu konzentrieren, sich als führende Kraft einer neuen Kampagne gegen „Indyref2“ politisch über Wasser zu halten. Diese Strategie ist einerseits riskant, weil sich die politische Bühne seit 2014 deutlich verschoben hat und die „Nische“ für diesen negativen Politikansatz keine Mehrheiten verspricht. Eine positive, eigenständige Vision für ein wie auch immer geartetes eigenständigeres Schottland lässt sich aber nicht erken-

3.4 Scottish Green Party

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nen. Das ist ein Rückfall in alte Denkmuster. Andererseits rettete dieser Politikansatz den Konservativen wahrscheinlich den zweiten Platz bei der Schottland-Wahl im Mai 2021 (► Kap. 5.1) – und damit scheint die Partei in Edinburgh mehr als zufrieden zu sein. Selbst der Verlust von zwei Direktmandaten an die SNP störte die Partei nicht. Ob der neue Parteichef Ross die nötige Kraft aufbringt, um für die Konservativen in Schottland nicht nur als Wortführer der Unionisten, sondern auch als Regierungsalternative zur SNP zu gelten, wird sich noch zeigen müssen. Aus seiner persönlichen Sicht lässt sich der Job als schottischer Abgeordneter und Fraktionschef sehr gut mit seinem Unterhausmandat in London vereinbaren, was ebenfalls einen Rückfall in alte Zeiten bedeutet. Die Botschaft: Schottland lässt sich anscheinend auch in führender Position noch gut in Teilzeit bewältigen. Die SNP hat an dieser Stelle übrigens die Regeln geändert: Wer für die SNP ins schottische Parlament einzieht, muss ein etwaiges Unterhausmandat aufgeben.36

3.4

Scottish Green Party

Die schottischen Grünen gingen aus den Holyrood-Wahlen 2021 mit 8,1 % der Zweitstimmen und acht Mandaten deutlich gestärkt als viertstärkste Kraft hervor (► Kap. 5.1). 2016 hatte die Partei mit 6,6 % der Zweitstimmen sechs Mandate errungen. Die Partei ist vergleichsweise jung. Sie trennte sich 1990 als komplett unabhängige schottische Formation von den britischen Grünen ab. Ihre politische Repräsentanz verdankt sie allein der Schaffung des schottischen Parlaments 1999. Bei Unterhauswahlen gelang ihr durch das Mehrheitswahlrecht bislang kein Erfolg, auch bei Europa-Wahlen ging sie leer aus. Auf lokaler Ebene verfügen die Grünen landesweit nur über 19 Mandate, konnten aber 2017 erstmals weit außerhalb ihrer Zentren in Glasgow und Edinburgh auch Sitze in den Highland- und Orkney-Vertretungen erringen. 2021 brachte eine enorme Änderung für die Grünen mit sich: Sie gingen im Spätsommer nach den Regionalwahlen erstmals eine Koalition mit der SNP ein und übernahmen Regierungsverantwortung. Zudem wurde ihre Abgeordnete Alison Johnstone nach der Holyrood-Wahl zur neuen Parlamentspräsidentin in Edinburgh gewählt. Angeführt wird die Partei von zwei gleichberechtigten Ko-Vorsitzenden. Seit 2019 sind dies Lorna Slater sowie Patrick Harvie, der schon seit 2008 in dieser Funktion tätig ist. Harvie ist damit in Schottland derzeit der am längsten amtierende Parteichef.37 Sowohl Slater wie Harvie traten als Teil der Koalitionsvereinbarung als Staatssekretäre in die neue Regierung ein. Slater ist nunmehr zuständig für Grüne Fertigkeiten, Kreislaufwirtschaft und Biodiversität, Harvie für Mieterrechte, Aktiven Verkehr und CO2-freies Bauen.38

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3 Die schottische Parteienlandschaft

Abb. 13: Nicola Sturgeon mit den neuen Regierungsmitgliedern der Grünen, Patrick Harvie und Lorna Slater, 30. August 2021.

Als kleine Partei haben es die schottischen Grünen lange Zeit eher schwer gehabt, sich bemerkbar zu machen. Dazu kommen die schon erwähnten Probleme, sich landesweit auf kommunaler Ebene zu etablieren, obwohl die Mitgliederzahl nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 steil von 1 200 auf über 9 000 nach oben schnellte. Die Grünen-Mitgliedschaft schrumpfte zwar bis 2019 wieder auf 6 400, stieg bis 2021 aber wieder auf 7 500 an, sodass sich die Grünen auf einem für sie hohen Niveau stabilisieren konnten.39 Auch inhaltlich hatte es die Partei lange schwer, weil sie mit ihren grünen Kernthemen in klarer Konkurrenz zur SNP und deshalb oft in deren Windschatten stand. Der drastische Ausbau der Erneuerbaren Energien, die Ablehnung der Atomkraft und der britischen Atom-U-Boote am Clyde bei Glasgow – all dies war und ist SNP-Regierungspolitik in Edinburgh, auch wenn manche Akzente unterschiedlich ausfallen. Zudem fallen die Abschaltung der AKW und der Abzug der Atom-U-Boote nicht in den politischen Zuständigkeitsbereich von Edinburgh. Im Vorfeld der Weltklimakonferenz in Glasgow im November 2021 spitzte sich jedoch die Diskussion um den schnelleren Abschied von den fossilen Energien zu, weil die Ölindustrie mit Zustimmung der britischen Regierung weitere Ölfelder in der Nordsee anzapfen möchte. Im Sommer übten die Grünen und Umweltschutzorganisationen wachsenden Druck auf die SNP-Regierung aus, sodass

3.4 Scottish Green Party

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Nicola Sturgeon einen entsprechenden Brief an Boris Johnson schrieb.40 Hier konnten die Grünen also ihren Einfluss beweisen. In der jetzigen Regierungsverantwortung werden die Grünen genau in diesen Bereichen Erfolge vorzeigen müssen, um den Sinn der SNP-Grünen-Koalition für die eigene Wählerschaft belegen zu können. Die unerwartet deutliche Kritik von Greta Thunberg an der schottischen Klimapolitik im Vorfeld von Glasgow zeigte schon, dass es für die Partei in der Regierung nicht leicht werden wird (► Kap. 4.5). Zudem stand in Glasgow natürlich Ministerpräsidentin Sturgeon im Fokus und nicht etwa die Grünen. Sehr populär ist die grüne Unterstützung der Unabhängigkeit, die zu dem Mitgliederschub 2014 führte. Als Signal der Eigenständigkeit befürworten die Grünen aber die Einführung einer eigenen schottischen Währung, also weder die Beibehaltung des britischen Pfunds noch die Einführung des Euro. 2016 stellte man sich auf die pro-europäische Seite beim Brexit-Referendum – auch dort gab es keine Möglichkeit, sich ernsthaft von der SNP abzusetzen. Nunmehr ist klar, dass Grüne und SNP gemeinsam das nächste Unabhängigkeitsreferendum vorantreiben werden. Schon von 2007 bis 2011 sowie nach 2016 unterstützten die Grünen die SNPMinderheitsregierungen in vielen Fragen im Parlament. Sie verhalfen der SNP in kritischen Situationen oft zu den nötigen Stimmen, insbesondere beim Haushalt, bei Brexit-Abstimmungen sowie bei allen Fragen rund um die Unabhängigkeitsproblematik. Zu einer formalen Koalition kam es 2016 nicht. Anscheinend kamen die Grünen damals auch ohne eine formale Regierungsbeteiligung gut zurecht. Zudem setzten die Grünen in den Haushaltsverhandlungen regelmäßig eigene Wünsche durch. Doch die Grünen werden nun in vielen Politikfeldern – nicht zuletzt bei einem erneuten Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum – aufgrund der Zahlenverhältnisse und der Koalitionsvereinbarung im Holyrood-Parlament bis 2026 eine zentrale Rolle einnehmen.41 Die Frage ist nur, inwieweit die Grünen in der Koalition mit der SNP ihre Eigenständigkeit wahren können. Sie verzichteten z. B. auf ein eigenes Ministerium und begnügten sich mit den zwei Staatssekretär-Posten. Das sieht auf den ersten Blick nach einem mageren Deal aus. Und als Parlamentspräsidentin muss Alison Johnstone parteiunabhängig auch in den eigenen Reihen unpopuläre Entscheidungen verkünden, z. B. in Sachen Demonstrationsrecht am Parlament.42 Es bleibt also abzuwarten, ob die Grünen ihren Stimmen- und Machtzuwachs klug eingesetzt haben. Ganz sicher brachten die Wahlen 2021 den Grünen einen erheblichen Zuwachs an medialer Aufmerksamkeit. Die beiden Ko-Vorsitzenden konnten schon im Vorfeld der Wahl ihre Positionen zu einem grünen Aufschwung und möglichen Koalitionen ausführlich erläutern.43 Hier ist der SNP nicht nur Unterstützung, sondern auch selbstbewusste Konkurrenz erwachsen. Vielleicht erklärt sich auch daraus der Wunsch nach einer Koalition, um die Grünen stärker einzubinden.

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3 Die schottische Parteienlandschaft

Die schottischen Grünen sehen sich bei alledem immer noch als basisnäher als z. B. die deutschen Grünen. Sie setzen sich in Kampagnen für Flüchtlinge, für die Ausrufung des Klima-Notstands, gegen die schädlichen Auswirkungen der Ölindustrie, für einen schnellen Ausstieg aus der Ölförderung und für den Ausbau insbesondere der Bahn-Infrastruktur ein. Ein wichtiges Thema ist auch die Gender-Frage. Ko-Vorsitzender Patrick Harvie fungierte z. B. zusammen mit der schottischen Regierungschefin Sturgeon Ende 2014 als Trauzeuge für die erste gleichgeschlechtliche Hochzeit in Schottland (► Exkurs 3).

3.5

Scottish Liberal Democrats

Die schottischen Liberaldemokraten entstanden offiziell erst 1988 aus einem Zusammenschluss der Scottish Liberal Party und der Social Democratic Party. Über die Liberalen können sich die „LibDems“ jedoch bis ins 19. Jh. zurückverfolgen, als die Partei in Großbritannien mehrmals die Regierung stellte. In Schottland errang die Partei bis 1910 regelmäßig eine große Mehrheit der Sitze. Unter dem liberalen Premierminister William Gladstone gab es in den 1880er-Jahren die ersten Anstrengungen für Home Rule (► Kap. 1.3). Ungeachtet dieser stolzen Frühgeschichte verloren die Liberalen nach dem Ersten Weltkrieg ihre führende Position und wurden von Labour als wichtigstem Gegenspieler der konservativen Tories ersetzt. In Schottland wurde 1945 nicht ein einziger Liberaler mehr ins Unterhaus gewählt. Danach ergab sich nur noch eine kleine Vertretung von ein bis fünf Mandaten. Die Wahl-Aussichten verbesserten sich erst wieder, als sich in den 1980er-Jahren die Social Democratic Party gründete, die sich dann 1988 mit den Liberalen vereinigte. Fortan konnten die Liberaldemokraten in Schottland rund zehn Unterhausmandate erringen und damit nach Sitzen zur drittstärksten Kraft in Schottland aufsteigen – vor der SNP. Die LibDems beteiligten sich auch intensiv am Schottischen Verfassungskonvent in den 1980er- und 1990er-Jahren und rangen Labour dabei das Zugeständnis ab, für das neue schottische Parlament eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht einzuführen. Das zahlte sich 1999 für die LibDems politisch aus: Mit 12 % der Zweitstimmen und 17 Sitzen wurden sie zwar nur viertstärkste Kraft, konnten aber mit Labour eine Koalitionsregierung bilden. Stellvertretender First Minister wurde Parteichef Jim Wallace.44 Das brachte der Partei zwar viel zusätzliche Aufmerksamkeit und auch reale Verantwortung, doch wurde das an den Wahlurnen nicht durch größere Wahlerfolge honoriert. In der Folge unterliefen der Partei zwei schwere politische Fehler, von denen sie sich in Schottland bis heute nicht erholt hat: Zum einen weigerten sich die Liberalen 2007 strikt, mit der SNP Verhandlungen über eine Koalition oder

Exkurs 3: Die First Minister

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eine Tolerierung aufzunehmen. Streitpunkt war die Ablehnung eines Unabhängigkeitsreferendums. Das war natürlich völlig legitim, doch in der Öffentlichkeit verstand man nicht, warum die Liberalen nicht mal versuchten, mit der SNP ins Gespräch zu kommen und entsprechende Kompromisse zu erzielen (► Kap. 2.2). So glitten die Liberalen unversehens aus der schottischen Regierung.45 Drei Jahre später sorgte die Regierungsbeteiligung der Liberalen auf britischer Ebene unter Nick Clegg zusammen mit den Konservativen unter David Cameron für enormen Unmut. Clegg hatte sich vor den Unterhauswahlen mit vielen Vorschlägen deutlich links von den Tories positioniert, gab diese Positionen aber in den Koalitionsverhandlungen unvermutet rasch auf. In Schottland stieß dieser Kontrast gegenüber dem Verhalten von 2007 auf großes Unverständnis an der Basis und beim Wahlvolk. Das Ergebnis war 2011 ein Absturz bei den Holyrood-Wahlen von 11 % der Zweitstimmen auf 5,2 %, was 11 der 16 Sitze kostete. 2016 war das Ergebnis nicht besser, 2021 sank man mit vier Sitzen auf ein historisches Tief. Angesichts dieses enormen Popularitätsverlusts spielte es auch keine große Rolle mehr, dass sich die britischen und schottischen Liberalen gegen den Brexit positionierten. Bei den Unterhauswahlen 2019 konnten sie damit unter der (schottischen) Parteichefin Jo Swinson keine nennenswerten Erfolge mehr erzielen. Innerparteilich sind die schottischen Liberalen zwar recht stabil, aber nach der erneuten Wahlniederlage 2021 löst Alex Cole-Hamilton den langjährigen Parteichef Willie Rennie ab. Inhaltlich haben sich die LibDems gegen eine schottische Unabhängigkeit positioniert, verschwinden aber als Dritter im Bunde völlig hinter der Kampagnen-Stärke von Tories und Labour. Damit sind die Liberalen heute in puncto Wahlerfolge im Prinzip wieder auf den Stand vor der Vereinigung mit den Sozialdemokraten zurückgefallen – ohne konkrete Aussichten, aus diesem politischen Tal wieder herauszukommen. David Torrance stellte deshalb zum 20. Geburtstag des schottischen Parlaments durchaus passend fest, dass die Partei an den politischen Seitenrand abgedrängt sei.46 Das zeigte sich auch bei den Holyrood-Wahlen im Mai 2021. Die schottischen Liberaldemokraten erzielten dabei nur 5,1 % der Zweitstimmen und nur noch vier (Direkt-)Mandate, was sie den Fraktionsstatus kostete. Die Zukunft der Partei in Schottland ist mehr als ungewiss.

Exkurs 3: Die First Minister Seit der Etablierung des schottischen Parlaments 1999 wurde die schottische Regierung von insgesamt fünf Ministerpräsident:innen angeführt. Drei dieser First Minister kamen von Labour, zwei von der SNP. Um die Entwicklung der schottischen Parteienlandschaft in den letzten 25 Jahren besser zu verstehen, ist ein Blick auf diese fünf Persönlichkeiten sehr hilfreich.

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3 Die schottische Parteienlandschaft

Donald Dewar (1937–2000) Der in Glasgow geborene Dewar ist zweifelsohne eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten Schottlands in der zweiten Hälfte des 20. Jh. Er war einer der Hauptarchitekten des neuen Parlaments in Edinburgh, denn er legte mit dem Schottland-Gesetz von 1998 die rechtlichen Grundlagen für das Parlament und die gesamte Devolution-Regelung. Als erster First Minister übernahm er auch vom Start weg die Verantwortung für die Umsetzung der neuen Autonomie-Regelung. Dewar erwarb Uni-Abschlüsse in Geschichte und Jura. Schon während seiner Studienzeit trat er der Labour-Partei bei und kam 1966 für vier Jahre als Abgeordneter für Aberdeen-Süd ins Unterhaus. Nachdem er sein Mandat 1970 wieder verlor, brauchte er bis 1978, um wieder ins Unterhaus zurückzukommen, diesmal als Abgeordneter für Glasgow Garscadden – und nur nach einem scharfen Wettbewerb mit der SNP. 1979 warb er beim Autonomiereferendum für ein „Ja“, da er schon frühzeitig für Devolution eingetreten war.47 In den 1980er-Jahren war er für die Labour-Fraktion in London der Sprecher für schottische Fragen. Er galt in der Partei als gemäßigt, eher zurückhaltend und unprätentiös. Die für Labour harten Jahre unter Margaret Thatcher und die Entstehung des Schottischen Verfassungskonvents brachten ihn zu der Überzeugung, dass es für die Schaffung eines schottischen Parlaments eines zweiten Anlaufs bedürfe. In dieser Zeit entstanden auch gute Verbindungen zu den schottischen Liberalen. Im Mai 1997 war es soweit: Unter Tony Blair wurde Dewar zum SchottlandMinister ernannt. Ihm fiel es nun zu, zunächst ein Referendum zu organisieren und dann die gesetzlichen Grundlagen für die neue Autonomieregelung zu schaffen. Beides gelang Dewar mit großer Bravour und unter Einbeziehung von Liberalen und der zunächst zögerlichen SNP: Im September 1997 brachte „sein“ Referendum 74 % Zustimmung für das neue Parlament und bereits ein Jahr später war der Scotland Act in Westminster erfolgreich verabschiedet – der Anlauf zu den ersten Schottland-Wahlen konnte beginnen. Am 6. Mai 1999 wurde Labour unter Dewars Führung zur stärksten Fraktion gewählt und er selbst wurde elf Tage später von der Queen feierlich zum First Minister ernannt, der eine sozialliberale Koalition anführte. Vielen blieb Dewar auch durch seine bewegende Rede bei der offiziellen Eröffnung des Parlaments am 1. Juli 1999 in Erinnerung (► Kap. 1.5). Dewars Arbeit zwischen 1997 und 1999 als Schottland-Minister unter Blair kann im Rückspiegel nur als Meisterstück betrachtet werden. In nur zwei Jahren vollzog er einen der dramatischsten verfassungsrechtlichen und politischen Wandlungsprozesse der britischen Nachkriegsgeschichte – und trieb dabei ganz „nebenbei“ auch noch die politische Selbstverwaltung für Wales voran, weil sich von seiner bahnbrechenden Arbeit viel übernehmen ließ. Dewar war ganz offensichtlich der richtige Mann an der richtigen Stelle, als sich im Zuge des

Exkurs 3: Die First Minister

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Blair’schen Erdrutschsieges 1997 ein historisches Zeitfenster öffnete, um für Schottland und Wales parlamentarische Vertretungen neu zu schaffen. Von nahezu allen Seiten wird insbesondere seine weitsichtige Entscheidung gelobt, dass dem schottischen Parlament alle Rechte zufallen sollten, die ihm nicht ausdrücklich vorenthalten wurden. So legte das Schottland-Gesetz nur eine vergleichsweise knappe Liste von Befugnissen vor, die auf britischer Ebene verbleiben sollten (vor allem Außenpolitik, Verteidigung, Grenzsicherheit, Arbeitsrecht, soziale Sicherheit, makroökonomische und fiskalische Politik) – und natürlich die Unverletzbarkeit des EU-Rechts. Alles andere sollte automatisch in die Zuständigkeit von Edinburgh fallen, ob es nun im Gesetz konkret aufgeführt war oder nicht. Diese elegante und „atmungsaktive“ Lösung brachte dem schottischen Parlament für die ersten zehn Jahre mehr oder wenige konfliktlose Zeiten. Dewar konnte sicherlich nicht voraussehen, dass die Autonomieregelungen durch die fortschreitende Übertragung von weiteren Rechten in den GesetzesNovellen von 2012 und 2016 sowie durch die notwendige Aufteilung der EU-Zuständigkeiten zwischen London und Edinburgh nach dem Brexit unter erheblichen Stress geraten würden.48 Donald Dewar hat all das nicht mehr erlebt und deshalb auch nicht mitgestalten können. Auch die Eröffnung des von ihm vorangetriebenen Parlamentsneubaus am Fuße der Royal Mile von Edinburgh erlebte er nicht mehr. Er verstarb 2000 bereits ein Jahr nach der Wiedereröffnung des schottischen Parlaments, nachdem sich seine Gesundheit im Laufe des Jahres fortlaufend verschlechtert hatte.

Henry McLeish (geb. 1948) Dewars Nachfolger war im Oktober 2000 der in Methil (Fife) geborene LabourPolitiker Henry McLeish. Seine Amtszeit zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie nur 13 Monate währte. McLeish hatte für Labour den richtigen „Stallgeruch“, weil er aus einer Bergarbeiterfamilie stammte. Seinen Uni-Abschluss erwarb er im Fach Stadtplanung. Lange Jahre galt er als rechte Hand von Donald Dewar, so ernannte dieser ihn 1997 zum Staatssekretär in seinem SchottlandMinisterium. 1999 wurde McLeish im Kabinett Dewar zum schottischen Minister für „Unternehmen und Lebenslanges Lernen“. Während seiner Amtszeit als First Minister brachte er dann ab Ende 2000 insbesondere die kostenlose Hilfe bei der Altenpflege durchs Parlament. Schon im November 2001 stürzte McLeish jedoch über eine Affäre unter dem knackigen Namen „Officegate“, bei der es um die nicht deklarierte Untervermietung von Teilen seines Parlamentsbüros ging. Manche Kommentator:innen meinten, dass er deswegen nicht hätte gehen müssen, McLeish tat es aber. Interessant ist seine spätere Entwicklung in Bezug auf die schottische Unabhängigkeitsfrage. Schon 2014 nährte er Spekulationen, dass er womöglich mit „Ja“ beim Referendum stimmen würde. 2016 erklärte er dann im Vorfeld des

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Brexit-Referendums offen seine Unterstützung für ein unabhängiges Schottland, wenn das Land gegen den eigenen Willen aus der EU herausgedrängt werde.49

Jack McConnell (geb. 1960) Labour musste 2001 innerhalb von nur zwei Jahren nach dem dritten Regierungschef suchen. Jack McConnell war schon ein Jahr zuvor gegen McLeish angetreten und folgte diesem nun nach. Er sollte sechs Jahre im Amt bleiben und ist damit der bislang längste Amtsinhaber für Labour. Geboren wurde er genau wie Nicola Sturgeon in Irvine (Ayrshire) im Südwesten von Schottland. Er wuchs aber auf der vorgelagerten Insel Arran auf. Beruflich startete er als Mathelehrer, bevor er 1992 zum Generalsekretär der schottischen Labour-Sektion wurde. McConnell war ein überzeugter Anhänger der Devolution-Pläne und wurde im Kabinett von Donald Dewar erster schottischer Finanzminister. Nach seiner Wahl zum First Minister brachte McConnell der sozialliberalen Koalition eine neue personelle Stabilität, die zum Wahlsieg 2003 führte. Internationale Aufmerksamkeit erzielte McConnell 2005, als Schottland in Gleneagles Gastgeber des G8-Gipfels war – allerdings waren viele Labour-Anhänger:innen zeitgleich auf den Straßen, um gegen die mangelnde globale Armutsbekämpfung der acht mächtigen Staatschefs zu demonstrieren. McConnell hatte zudem Schwierigkeiten im Verhältnis zur Labour-Regierung in London, der mit Schatzkanzler Gordon Brown und Gesundheitsminister John Reid zwei hochkarätige Schotten angehörten. Mit Brown gab es Streit über die Polizeikosten für den G8-Gipfel, mit Reid 2005 über die Einführung des Rauchverbots an öffentlichen Orten. Auch einen Neubau von Atomkraftwerken lehnte McConnell ab. In allen drei Fällen setzte er sich durch.50 In weiteren Politikbereichen hielt er sich mit Kritik zurück, z. B. beim Irak-Krieg, was ihn womöglich seinen Job kostete, weil der Krieg enorm unpopulär war. 2007 unterlag er knapp der SNP und schien sich auch nicht wirklich gegen seine Abwahl zu stemmen (► Kap. 2.2). Stattdessen wurde er später zum Lord auf Lebenszeit im Oberhaus erhoben. Interessant ist, dass McConnell im Gegensatz zu seinem Vorgänger McLeish ein überzeugter Gegner der schottischen Unabhängigkeit geblieben ist. Anfang 2021 sagte er in der BBC auf eine Frage zu einem möglichen neuen Unabhängigkeitsreferendum: „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Leute in Schottland an ihrem Frühstück verschlucken werden, wenn Sie zum jetzigen Zeitpunkt ein neues Referendum erwähnen sollten.“51

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Alex Salmond (geb. 1954) 2007 übernahm mit Alex Salmond erstmals ein SNP-Politiker die Regierungsgeschäfte in Edinburgh. Seine siebenjährige Amtszeit kann ohne Übertreibung als stürmisch bezeichnet werden, weil sie für die britische Politik zahlreiche Änderungen mit sich brachte. Salmond ist zudem der mit Abstand schillerndste und zugleich der umstrittenste Politiker in Schottland, dessen spektakulärer Aufstieg und dramatischer Fall ein eigenes Kapitel füllen könnte. Unstrittig ist jedoch, dass Salmond die SNP in die Machtposition gebracht hat, in der sie heute ist – auch wenn er mittlerweile von der Parteispitze als persona non grata gesehen wird. Geboren wurde Salmond 1954 in Linlithgow westlich von Edinburgh. Sein Studium in St. Andrews schloss er in Wirtschaft und mittelalterlicher Geschichte ab, bevor er u. a. für das Schottland-Ministerium und dann für die Royal Bank of Scotland arbeitete. Seit 1981 ist er mit seiner Frau Mhoira verheiratet. Der SNP trat er schon während des Studiums bei, wurde aber 1982 wegen seiner Mitgliedschaft in der sozialistisch-republikanischen „79 Group“ zusammen mit anderen später führenden SNP-Politiker:innen kurzfristig ausgeschlossen. Seinem Aufstieg tat dieses Intermezzo keinen Abbruch und als er 1987 im Nordosten von Schottland eines von nur drei Unterhausmandaten für die SNP gewinnen konnte, stieg er schnell zum kommenden Mann in der Partei auf. Da Salmond sehr wortgewandt war und einem Rededuell selten auswich, konnte er in Westminster schnell Aufmerksamkeit erzielen. Zusammen mit dem ehemaligen Labour-Politiker Jim Sillars setzte er 1988 auch die Europa-Wende bei der SNP durch.52 1990 wurde er dann zum Parteichef gewählt – er sollte die SNP für die kommenden 25 Jahre maßgeblich von der Spitze her beeinflussen. Die 1990er-Jahre waren aber für Salmond zunächst eher Jahre der Konsolidierung der Partei, als dass sich nennenswerte Erfolge erzielen ließen. Dem Schottischen Verfassungskonvent war die SNP ferngeblieben, große Wahlerfolge gab es nicht. So verwunderte es nicht, dass Salmond sich 1997 entschloss, nun doch gemeinsam mit Labour und Liberalen für das Parlamentsreferendum zu werben – mit Erfolg (► Kap. 1.5). 1999 landete die SNP dann auf Platz 2 in Holyrood – mit immerhin 27,3 % der Listenstimmen und 35 Mandaten. Salmond war aber offensichtlich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden und wollte zum damaligen Zeitpunkt wohl auch nicht auf den Oppositionsbänken in Edinburgh „versauern“. Er trat deshalb 2000 als Parteichef zurück und ging 2001 wieder ganz zurück nach Westminster als Fraktionsvorsitzender. Nach dem Tod von Donald Dewar verlor das schottische Parlament so das zweite politische Schwergewicht – was nicht als gutes Omen für die Durchsetzungskraft der schottischen Politik gewertet wurde. Zu diesem Ergebnis kam dann nach langem Zögern wohl auch Salmond selbst, der 2004 zunächst als Parteichef zurückkam und sich 2007 erneut erfolgreich für ein Mandat in Holyrood bewarb. Sein neuer Anlauf war auch dadurch

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geprägt, dass er ganz offensiv mit Nicola Sturgeon als Stellvertreterin antrat. Die beiden wurden für die nächsten zehn Jahre eines der effektivsten und erfolgreichsten Polit-Tandems in der britischen Nachkriegsgeschichte. Salmond bespielte dabei die große Bühne, Sturgeon organisierte die Partei – zusammen mit ihrem späteren Mann, dem SNP-Hauptgeschäftsführer Peter Murrell – und hielt in Holyrood die Geschäfte am Laufen. 2007 wurde die neue Strategie mit dem Wahlsieg belohnt und Salmond wurde Ministerpräsident einer SNP-Minderheitsregierung (► Kap. 2.2). Wer gedacht hatte, der oft arrogant auftretende Salmond werde nun im Klein-Klein der ständigen Mehrheitssuche untergehen, hatte den Machtinstinkt des neuen Regierungschefs und seiner Stellvertreterin völlig falsch eingeschätzt. Beide organisierten eine derart geräuschlose und effektive Regierungspolitik, dass sie 2011 mit der absoluten Mehrheit belohnt wurden. Salmond wurde von der Öffentlichkeit mit Abstand als der kompetenteste schottische Politiker eingestuft, der zudem am klarsten für schottische Interessen eintrat. Ihm schadete auch nicht sein langes Eintreten für die Royal Bank of Scotland, die 2008 in der Finanzkrise fast unterging und vom britischen Staat gerettet werden musste. Auch seine oft über-optimistischen Prognosen, was Schottlands zukünftigen Ölreichtum angingen, konnten seiner Popularität nichts anhaben. Dafür stieß er einen massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien an und schaffte es, die Arbeit der schottischen Regierung auf Politikfeldern wie Gesundheit und Universitäten als kompetente Team-Arbeit zu vermitteln. Man merkte ihm deutlich an, dass er eine gestaltungswillige Regierung leitete und nicht nur eine Verwaltung. Zudem war Salmond eindeutig der kommunikationsstärkste Politiker in Schottland und er war lange der mit Abstand populärste Politiker in Edinburgh. Am Ende seiner Amtszeit 2014 wurde er in dieser positiven Einschätzung nur von einer einzigen Politikerin übertrumpft – und das war seine Nachfolgerin Nicola Sturgeon.53 Eigentlich stand Salmond schon 2011 auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hatte seine Partei in die Regierung geführt und nun war ihm ein machtpolitischer Erdrutschsieg gelungen, der als unmöglich für das Holyrood-Parlament in Edinburgh gegolten hatte. Doch Salmond war klar, dass er nun in Sachen Unabhängigkeitsreferendum liefern musste. Die Art und Weise, wie er David Cameron 2012 dazu bewegte, sich im Edinburgh Agreement auf genau dieses Referendum einzulassen, zeugt ebenfalls von seiner Durchsetzungsfähigkeit. Inwieweit er selbst davon ausging, dass so ein Referendum zu gewinnen sei, muss offen bleiben. Aber an der Positionierung der SNP und der schottischen Regierung im White Paper von 2013 zeigt sich, dass ihm klar war, dass er die Hürden für die schottischen Wähler:innen soweit wie möglich senken musste – also: Beibehaltung der Monarchie, des Pfunds und der Bank of England als Zentralbank. Es reichte am Ende bekanntlich nicht ganz (► Kap. 2.3), doch die fast 45 % Ja-Stimmen waren eine deutliche Verbesserung für das Unabhängigkeitslager

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und eine Ermunterung, weiterzumachen. Salmond überraschte jetzt jedoch alle, indem er am Tag nach dem Referendum überraschend schnell zurücktrat und die Bühne frei für seine Stellvertreterin Sturgeon machte. Offensichtlich war er erneut an einem Punkt, der ihm keine vielversprechenden Zukunftsoptionen verhieß. Dennoch kam Salmond noch einmal spektakulär zurück, indem er 2015 zur Unterhauswahl antrat und zusammen mit 55 weiteren SNP-Kandidat:innen ein Mandat gewann. Er wurde zum außenpolitischen Sprecher der Fraktion in London gewählt und bekämpfte in dieser Funktion den drohenden Brexit. Außenpolitisch hatte er sich schon früher oft betätigt, als er als einer der wenigen schottischen und britischen Politiker den Kriegseinsatz in Jugoslawien 1999 verurteilte. Auch war er einer der profiliertesten Gegner des Irak-Kriegs gewesen, der gerade für Tony Blair aufgrund seiner Pro-Kriegs-Haltung zu einem wachsenden Problem in seiner Regierungszeit geworden war. 2017 begann dann jedoch der dramatische Absturz des Alex Salmond: Bei der vorgezogenen Unterhauswahl verlor er überraschend sein Mandat, was ihn kalt erwischte. In seiner 30-jährigen Parlamentskarriere war dies die allererste Wahlniederlage in einer Direktwahl für Salmond überhaupt. Anstatt sich nun ein neues Betätigungsfeld für die SNP zu suchen, gründete er ausgerechnet beim russischen Propagandasender Russia Today eine eigene Talkshow. Salmond war schon früher öfters aufgefallen mit Putin-freundlichen Bemerkungen. Während einige Parteifreund:innen ihn bei diesem merkwürdigen Schritt unterstützten, setzte sich seine Nachfolgerin Nicola Sturgeon von Salmond ab.54 Salmond hatte generell ein Faible für „starke“ Männer: So war er Jahre zuvor auch freundlich auf den Medienmogul Rupert Murdoch zugegangen, was ihm die Unterstützung der Murdoch-Zeitung The Sun einbrachte.55 Auch Donald Trump wurde zunächst freundlich empfangen, als dieser sich – noch in seiner Zeit als Geschäftsmann – mit aggressivem Verhalten beim Neubau eines Golfplatzes nördlich von Aberdeen in der schottischen Öffentlichkeit sehr unbeliebt machte. Später beschimpften sich Salmond und Trump jedoch ausführlich.56 Noch schädigender waren jedoch die Beschwerden von mehreren Frauen in puncto sexuelle Nötigung und Belästigung während seiner Amtszeit, die parallel zum Aufkommen der MeToo-Bewegung öffentlich wurden. Diese Vorwürfe mündeten 2018 in Salmonds Parteiaustritt und 2019/20 in einem öffentlichen Verfahren vor dem High Court in Edinburgh, das mit Freisprüchen endete.57 Zudem gab es einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss (► Kap. 5.1). Salmond brachte sich gegen die SNP-Spitze in Stellung und startete nach dem Scheitern seines Vorstoßes Ende März 2021 einen der spektakulärsten politischen Comeback-Versuche der letzten Jahre: Mit der neuen Alba Party trat er zu den Holyrood-Wahlen im Mai an. Aber auch damit scheiterte Salmond kläglich, weil seine Popularitätswerte in Schottland inzwischen auf einem absoluten Tief angekommen waren (► Kap. 5.1). Ob es auch in Zukunft weitere überraschende Wendungen in der politischen Karriere des Alex Salmond geben wird, ist nicht vorherzusagen. Seine frühere

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Zugkraft in der schottischen Öffentlichkeit scheint vollkommen verflogen zu sein. Er gilt mittlerweile als der unpopulärste Politiker Schottlands58 – dramatischer kann ein politischer Abstieg kaum sein. Über seinen genauen Platz in den schottischen Geschichtsbüchern wird erst die Zukunft entscheiden.

Nicola Sturgeon (geb. 1970) Als die am 19. Juli 1970 in Irvine (Ayrshire) geborene Nicola Sturgeon am 20. November 2014 vom schottischen Parlament zur Ministerpräsidentin gewählt wurde, war sie die erste Frau in diesem Amt. Sie hatte aber schon seit zehn Jahren als Stellvertreterin ihres Vorgängers Alex Salmond stark im öffentlichen Rampenlicht gestanden und war von daher keine Unbekannte auf der politischen Bühne. Sturgeon übernahm die Regierungsverantwortung zwei Monate nach dem Schottland-Referendum und damit in einer Zeit, wo die Verfassungsund Autonomiefragen trotz der Niederlage beim Referendum hoch auf der politischen Tagesordnung standen. Als erste SNP-Politikerin übernahm sie das Amt zu einer Zeit, in der die SNP als Regierungspartei die unangefochtene Nr. 1 in Schottland war. Der Erwartungsdruck an sie war dementsprechend hoch.59 Sturgeon hat sich in ihrer Karriere immer auf die schottische Bühne konzentriert. Sie studierte Jura in Glasgow und arbeitete dort auch, bis sie 1999 zunächst über die Parteiliste, seit 2007 dann als Direktkandidatin für Glasgow Govan – heute Glasgow Southside – ins schottische Parlament einzog. Der SNP war sie schon mit 16 Jahren beigetreten, auf dem Höhepunkt der Thatcher-Jahre, die für sie bis heute ein wichtiger Bezugspunkt sind. In einem Interview sagte sie 2015: „Thatcher war die Motivation für meine gesamte politische Karriere. Ich hasste alles, wofür sie stand.“60 Es ist wohl auch ihrer eigenen Biographie zuzuschreiben, dass sie sich vehement und erfolgreich für die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre ein-gesetzt hat. Die politische Sozialisierung in den Thatcher-Jahren brachte zudem eine starke Fokussierung auf soziale Fragen sowie auf Abrüstungsfragen mit sich, insbesondere die Opposition gegen die Stationierung von britischen Atom-U-Booten am Clyde westlich von Glasgow. In der SNP stieg Sturgeon schnell auf und galt aufgrund ihrer Eloquenz, ihrer inhaltlichen Arbeit und auch ihrer intensiven Parteiarbeit bereits 2004 als eine mögliche Kandidatin für den Parteivorsitz. Damals verzichtete sie zugunsten von Alex Salmond, der ihr im Gegenzug den Stellvertreterposten in einem offiziellen Tandem anbot. Ganz anders als ein ähnliches Tandem – Tony Blair und Gordon Brown – funktionierte diese Vereinbarung 13 Jahre lang nahezu geräuschlos. Sturgeon organisierte im Holyrood-Parlament die Arbeit im Vorfeld der erfolgreichen Wahl 2007. In der ersten SNP-Regierung wurde sie dann Gesundheitsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin. Als Ministerin schaffte sie es, in ihrem Ressort relative Stabilität herzustellen und den staatlichen Gesundheitsdienst NHS zu „verteidigen“. Zum Beispiel gelang es ihr, die

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Rezeptgebühren abzuschaffen. Damit setzte sie sich deutlich von der Labour-Regierung in London ab. Ihre Professionalität wurde allgemein anerkannt. So schuf sie eine der Grundlagen für den großen Wahlerfolg der SNP 2011. Privat ist sie seit 2010 mit dem Hauptgeschäftsführer der SNP, Peter Murrell, verheiratet. Murrell hatte seine Parteikarriere u. a. als Büroleiter von Alex Salmond in seinem Wahlkreis im Nordosten Schottlands begonnen. Diese persönliche Verbindung zwischen zwei der führenden SNP-Köpfe führt immer wieder zu innerparteilichen Bedenken, die aber bislang niemals zu ernsthafter Kritik geworden sind. Es war deshalb keine Überraschung, dass Salmond Sturgeon 2012 mit der Vorbereitung des Schottland-Referendums beauftragte. Ihre Funktion als „YesMinisterin“61 brachte ihr viel öffentliche Aufmerksamkeit und zugleich zusätzliche Erfahrung bei den notwendigen Verhandlungen mit der britischen Regierung. Das Referendum 2014 war für Sturgeon ein zentraler Wendepunkt: Zwar ging das Referendum insgesamt verloren, aber ihre Heimatstadt Glasgow stimmte mehrheitlich „Yes“. Glasgow galt lange als uneinnehmbare Labour-Festung, nun stand die SNP dort vor einem großen Durchbruch. Und persönlich bedeutete der Rückzug von Salmond für sie natürlich auch den Zugriff auf die Parteiführung sowie das höchste politische Amt in Schottland – ein Amt, auf das sie jahrelang zielstrebig hingearbeitet hatte. Sturgeon nahm die neue Aufgabe mit der ihr eigenen Effizienz und Professionalität an, als habe sie schon immer im Regierungssitz Bute House in Edinburgh gewohnt. Sie schaffte es, im Angesicht der Referendumsniederlage der Parteibasis ein Gefühl von Aufbruch und neuer Stärke zu vermitteln. Das wurde ihr dadurch leicht gemacht, dass sich innerhalb weniger Monate nach dem Referendum die Parteibasis von gut 24 000 Mitgliedern auf deutlich über 100 000 vervierfacht hatte. Politisch setzte Sturgeon weiterhin auf eine solide Gesundheitspolitik, auf einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien zur Erreichung der ehrgeizigen schottischen Klimaziele sowie auf die Umsetzung der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren. Ende 2014 fungierte sie dabei zusammen mit dem Ko-Vorsitzenden der Grünen, Patrick Harvie, demonstrativ als Trauzeugin für das erste offiziell verheiratete lesbische Paar in Schottland.62 Der überragende Wahlerfolg bei den Unterhauswahlen im Mai 2015 (► Kap. 2.3) verlieh Sturgeon früh eine unangreifbare Legitimation, die durch den Sieg bei der Schottland-Wahl 2016 (► Kap. 2.4) noch verstärkt wurde. Angesichts einer auf britischer Ebene schwachen Labour Party stieg sie auch in den landesweiten Medien zur viel beachteten Gegenspielerin der konservativ-liberalen Westminster-Koalition unter David Cameron auf. Sie war zudem eine der deutlichsten Pro-Europa-Stimmen beim Brexit-Referendum im Juni 2016. An all diesen Punkten lässt sich gut ablesen, dass Sturgeon es immer wieder verstanden hat, mit den Herausforderungen des Tages blitzschnell und konstruktiv fertig zu werden. Während sich alle anderen Oppositionsparteien nach dem Brexit-Referendum noch in Schockstarre befanden, hatte sich Sturgeon

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schon ein Mandat des schottischen Parlaments geben lassen und war nach Brüssel geflogen, um dort die schottische EU-Position persönlich vorzutragen (► Kap. 2.4). Dennoch geriet Sturgeon angesichts des Brexits kurzzeitig in die Defensive: Zum einen, weil sich der unglaubliche Erfolg von 2015 natürlich kaum wiederholen lassen würde, zum anderen, weil auch eine beachtliche Anzahl von schottischen Wähler:innen der Meinung war, die Sache mit dem Brexit sei nun erledigt. So verlor die SNP bei den Unterhauswahlen 2017 immerhin 21 Mandate (► Kap. 2.5). Aber Sturgeon ließ sich nicht beirren. Die folgenden Grabenkämpfe der Tories um einen harten oder weichen Brexit, die daraus resultierende Lähmung der May-Regierung und die Unfähigkeit von Labour, eine plausible und vorausschauende Europa-Politik zu präsentieren, brachte sie wieder in die Position zurück, dass sie in Schottland als wichtigste Garantin einer stabilen Regierung und eines klaren Kurses zur Wahrung einer europafreundlichen Position für Schottland gesehen wurde. Das brachte Sturgeon und der SNP 2019 einen erneut überwältigenden Wahlerfolg nach dem Mehrheitswahlrecht in Westminster. Sehr positiv wurde Sturgeons eher ruhige und erklärende Politik auch in der Corona-Krise 2020/21 bewertet, weil sie ganz anders wirkte, als die oftmals als Zick-Zack wahrgenommene Corona-Politik von Premier Johnson. In allen Umfragen erhielt sie deshalb persönliche Zustimmungswerte, die deutlich über den ihrer Konkurrenten lagen (► Kap. 2.5). In Europa gilt sie inzwischen als bekanntes Gesicht Schottlands. Der Weltklimagipfel in Glasgow hat dies noch verstärkt. Im Vorfeld der Schottland-Wahl im Mai 2021 gab es für sie nur ein einziges ernstzunehmendes Problem: das Verhalten ihres Vorgängers Alex Salmond nach dem Bruch zwischen den beiden 2018. Salmond brachte sie mit seinen Aussagen rund um das juristische Verfahren gegen ihn mehrfach in Bedrängnis. Der Vorwurf der Falschaussage ließ Sturgeon für einen Moment im März 2021 plötzlich politisch verwundbar erscheinen, weil ein Verstoß gegen den Verhaltenskodex für Minister:innen im Raum stand. Ein solcher Verstoß hätte zwangsläufig zum Rücktritt führen müssen. Doch am Ende wurde sie persönlich entlastet (► Kap. 5.1).63 Der neuerliche Wahlsieg im Mai 2021 war deshalb für Sturgeon sicherlich in vielerlei Hinsicht einer ihrer wichtigsten Erfolge – und eine persönliche Bestätigung für ihre Politik der letzten Jahre. Sie war und ist weiterhin mit Abstand die beliebteste Politikerin in Schottland. Doch nach mehr als sieben Jahren an der Spitze von Partei und Regierung stellt sich erstmals auch die Frage nach einer möglichen Nachfolge für sie (► Kap. 3.1). Ein Punkt lässt sich noch festhalten: Mit der Beförderung der jungen Highland-Abgeordneten Kate Forbes zur Finanzministerin Anfang 2020 unterstrich Sturgeon erneut ihr erklärtes Ziel, dass mehr Frauen in Führungspositionen aufsteigen sollten. Ihr aktuelles Kabinett besteht je zur Hälfte aus Frauen und Män-

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nern. Sturgeon selbst thematisiert immer wieder ihren Willen, die „gläserne Decke“ für Frauen im Berufsleben zu durchbrechen. Ihre Regierungsübernahme 2014 war dazu in der bis dato eher männlich dominierten schottischen Politik ein großer Beitrag.64 Der Historiker Tom Devine hatte z. B. darauf hingewiesen, dass sich noch 25 Jahre zuvor ein Teil der Thatcher-Opposition allein aus der Tatsache ableitete, dass ihr als Frau von männlichen Wählern besonders viel Widerwillen entgegengebracht wurde.65 Das politische Aus des Alex Salmond im Frühjahr 2021 zeigt vielleicht, dass sich die schottische Gesellschaft von bulligen, männlichen Auftritten in der Politik nicht mehr beeindrucken lässt. Sturgeon ging als klare Siegerin aus der Auseinandersetzung mit ihrem Vorgänger hervor – und gewann auch stets den Vergleich mit Boris Johnson. Im Frühjahr 2022 wird Sturgeon länger im Amt sein als Salmond mit seinen siebeneinhalb Regierungsjahren. Damit würde sie einen neuen Rekord als schottische Regierungschefin aufstellen. Und es ist davon auszugehen, dass die Durchführung eines zweiten und diesmal erfolgreichen Referendums ihr großes politisches Ziel ist. Inwieweit sie diesen Traum verwirklichen kann, wird am Ende auch darüber entscheiden, welchen Platz sie in den schottischen Geschichtsbüchern einnehmen wird.

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Gesellschaft und Identität

Wenn über die politischen Entwicklungen in Schottland gesprochen wird, dürfen die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese standen lange Zeit mangels politischer Dynamik im Vordergrund. Deshalb sollen hier mehrere Fragen in den Fokus gerückt werden: Welche Faktoren begünstigten das Überdauern einer schottischen Identität innerhalb der Gesellschaft? Was waren und sind die gesellschaftlich tragenden Elemente einer britischen Identität? Welche Rolle spielen Religion, Monarchie und Einwanderung? Welche Wechselwirkung gibt es zwischen der schottischen Kulturszene und der Unabhängigkeitsbewegung? Und welche gesellschaftlichen Bruchlinien gibt es innerhalb von Schottland selbst? Dazu stellt sich die wichtige Frage nach der Tragfähigkeit der schottischen Wirtschaft im Falle einer Unabhängigkeit. Abschließend wird in einem Exkurs ein Blick über die Irische See nach Nordirland geworfen, denn die Entwicklung der Nordirland-Frage hatte immer auch große Auswirkungen auf Schottland. Gerade durch den Brexit sind die möglichen Bruchlinien hier nochmal verstärkt worden.

4.1

Die gesellschaftlichen Säulen Schottlands in der Union

Als sich Schottland und England 1707 zum britischen Königreich zusammenschlossen, gewährten die übermächtigen englischen Verhandlungspartner der schottischen Seite einige wichtige Konzessionen: Sie garantierten die Unabhängigkeit der kalvinistischen Church of Scotland, des schottischen Justizsystems sowie der Universitäten – und in Verlängerung dessen später auch des gesamten Bildungssystems. Die Konzessionen waren wichtig, um in Schottland den Zuspruch der gesellschaftlichen Eliten zur Union zu gewinnen. Die Kirche, die Justiz und die Universitäten waren zentrale Institutionen, die diesen Zuspruch in weite Teile der Gesellschaft weitertragen konnten. Ihnen kam also besonderes Augenmerk zu. Wichtigste Voraussetzung für die englische Regierung war dabei, dass alle gesellschaftlichen Institutionen in Schottland die Souveränität der britischen Krone und des neuen britischen Parlaments politisch anerkannten. Für den Alltag war man in London damit zufrieden, dass Schottland unterhalb der politischen Ebene einen Zustand der „Semi-Unabhängigkeit“1 wahren konnte. Auf

4.1 Die gesellschaftlichen Säulen Schottlands in der Union

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diese Weise konnten wichtige Aspekte schottischer Identität selbst im britischen Einheitsstaat nahezu unangetastet für 300 Jahre bewahrt werden.

Church of Scotland Die Rolle der protestantisch-kalvinistischen Kirche darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Glaubensfragen führten in Schottland von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jh. zu ständigen Konflikten, die auch bewaffnet ausgetragen wurden und schließlich zum Sturz der Stuart-Dynastie führten. Dass dieser Konflikt nicht wie im benachbarten Nordirland bis in die heutigen Tage ein politischer Dauerbrenner geblieben ist, ist letztlich einer der Erfolge des Unionsvertrags von 1707. Im Kampf gegen die Ansprüche der katholischen Stuart-Monarchen suchte das englisch-anglikanische Establishment in Schottland Verbündete. Auch wenn die Festlegung der kalvinistischen Grundordnung der Church of Scotland durch das schottische Parlament 1690 die Differenzen zum anglikanischen Glauben festschrieb, so vereinte beide Kirchen doch eine gemeinsame Angst vor einer möglichen Gegenreformation, wie sie andere Teile Europas erlebten. Vor diesem Hintergrund schien die Bestätigung der kirchlichen Selbstständigkeit der Church of Scotland im Unionsvertrag 1707 ein akzeptabler Preis für die englische Regierung und die anglikanische Kirche.2 Die Geschichte der schottischen Kirche verlief zwar über die Jahrhunderte sehr turbulent, mit einem großen Schisma im 19. Jh. Aber dennoch war sie durch ihre schiere Existenz eine Garantin dafür, dass für alle sichtbar im Alltag ein Element schottischer Eigenständigkeit erhalten blieb. Jeden Sonntag werden die Gläubigen allein durch den Namen der Kirche daran erinnert, dass Schottland eben nicht England ist. Zudem ist die Queen in Schottland – im Gegensatz zu England – nicht das offizielle Oberhaupt der Kirche. Die Church of Scotland ist selbstverwaltet. Die Queen ernennt für die Generalversammlung der schottischen Kirche allerdings einen „Lord High Commissioner“ als persönliche:n Vertreter:in.3 2021 war dies wohl als politisches Signal des Königshauses Prinz William.4 Aber auch Prinz Charles und „Her Royal Highness“ Prinzessin Anne füllten schon diese eher zeremonielle Rolle aus. Ungeachtet dieses im Vergleich zu England eher dünnen Fadens zum Königshaus galt die Church of Scotland im Gegenzug für den Erhalt ihrer Eigenständigkeit lange als eine verlässliche Unterstützerin der Union. Im 20. Jh. bedeutete dies z. B. bis in die 1960er-Jahre hinein, dass die Kirchenmitglieder eher den unionistischen Tories zugewandt waren. Noch 1986 gaben 45 % der Kirchenmitglieder an, die konservative Partei zu wählen.5 Doch die Zeiten hatten sich dramatisch geändert. Die schottische Gesellschaft bewertete die Tories unter Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren zunehmend als Bedrohung für den Erhalt schottischer Werte. Eine allzu enge Verbindung zwischen Kirche und den Konservativen konnte deshalb auf Dauer

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4 Gesellschaft und Identität

keine Zukunft haben. Und so kam es schon 1988 zu einem Zerwürfnis, als Thatcher ihre berühmte „Predigt“ auf einer Kirchenversammlung in Edinburgh hielt (► Kap. 1.4) und sich dabei in sozialen Fragen als ziemlich kaltherzig darstellte. Die Kirchenoberen überreichten ihr daraufhin mehrere Berichte, in denen sie soziale Reformen in den Bereichen Armut, Wohnverhältnisse und Arbeitslosigkeit forderten.6 Aber auch die Kirche selbst steht vor großen Herausforderungen, da sich ihre jahrhundertelange Verankerung in der schottischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten dramatisch gelöst hat. So sahen sich 2001 noch 42 % der schottischen Bevölkerung als kalvinistisch, 2017 hingegen nur noch 18 %. Der Anteil der Konfessionslosen stieg im selben Zeitraum von 27 % auf 56 %. Der Anteil der katholischen Gläubigen sank von 16 auf 12 %.7 Die Zeiten, wo sich die Church of Scotland als automatische Ansprechpartnerin gesehen hatte, wenn es um sozial-gesellschaftliche Fragen ging, sind endgültig vorbei. Es wäre sicherlich interessant herauszufinden, in welchem Umfang der Niedergang der schottischen Tories sowie die Wiedereinführung des schottischen Parlaments zum Abstieg der Church of Scotland beigetragen haben. Denn wenn es um schottische Politik geht, gibt es heute ja eine direkte Ansprech-Adresse – nämlich das Parlament und die Regierung in Edinburgh. Das hat die Church of Scotland in ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle als Hüterin der schottischen Identität weitgehend überflüssig gemacht. Ein wichtiger Punkt sollte hier nicht unerwähnt bleiben: Die Einwanderung von überwiegend katholischen Irinnen und Iren im 19. und 20. Jh. hat viele Jahrzehnte eher der Labour Party genützt (► Kap. 3.2 und 4.4). Diese integrierte die Einwander:innen, indem sie ihnen im politischen System eine feste Vertretung gab. Interessanterweise ist die Mehrheit der katholischen Stimmen inzwischen selbst in Unabhängigkeitsfragen jedoch bei der SNP gelandet, was darauf hindeutet, dass es der SNP gelungen ist, ein überkonfessionelles Angebot zu machen – und somit die in Irland so bedeutende Religionsfrage in Schottland zu entschärfen.8 Insgesamt bleibt aber festzustellen, dass der religiöse und kirchliche Faktor im heutigen Schottland eine stetig abnehmende Rolle spielt.

Justiz Ein für Außenstehende überraschender Unterschied zwischen Schottland und England liegt in dem unterschiedlichen Rechtssystem beider Länder. Der Fortbestand des schottischen Rechtssystems war im Vorfeld der Union 1707 ein so wichtiger Punkt für die gehobenen Schichten Schottlands, dass sie im Unionsvertrag die Garantie durchsetzten, dass das eigene Rechtssystem unangetastet bleibe. Ungeachtet der tatsächlichen Differenzen9 bedeutete diese Vertragsklausel z. B., dass politische Entscheidungen in Westminister bis auf den heutigen

4.1 Die gesellschaftlichen Säulen Schottlands in der Union

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Tag immer auch in schottisches Recht übertragen werden müssen. Dieser Aspekt verhinderte eine Uniformisierung des Rechtswesens in Großbritannien. Der Fortbestand einer eigenen Justiz mit einer eigenen Richter- und Anwaltschaft war enorm wichtig, um die schottische Identität zu wahren. Selbst spektakuläre Prozesse wurden und werden in Edinburgh verhandelt und nicht in London. Damit verblieb neben der Kirche ein weiterer zentraler Pfeiler der gesellschaftlichen Elite in Schottland. Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren. So stand der 2001 wegen seiner Beteiligung am Lockerbie-Anschlag auf das PanAM-Flugzeug 1988 verurteilte Libyer al-Megrahi vor einem schottischen Gericht – und er wurde 2009 vom schottischen Justizminister aufgrund seiner Krebserkrankung begnadigt (► Kap. 2.2). Das schottische Rechtssystem lehnt sich historisch stärker an kontinentales Recht an als das englische Recht. In der Realität hat sich jedoch durch den politischen Einheitsstaat ab dem 19. Jh. in vielen Feldern eine Angleichung ergeben. Insbesondere die Umsetzung von EU-Recht hat seit den 1970er-Jahren zu einer Vereinheitlichung beigetragen. Andererseits hat die Wiedereinführung des schottischen Parlaments eine neue Quelle für unterschiedliche Rechtsnormen hervorgebracht und die schottischen Gerichte sind stolz auf ihre Unabhängigkeit. Wie groß der Einfluss der schottischen Gerichte für das gesamte britische Rechtssystem sein kann, zeigte sich sehr deutlich 2019: Premierminister Boris Johnson hatte nach seinem Amtsantritt das Londoner Parlament in eine Art verlängerten Zwangsurlaub geschickt, um sich angesichts fehlender Mehrheiten unliebsame Brexit-Debatten zu ersparen. Diese Prorogation wurde von zahlreichen Parlamentarier:innen juristisch angefochten – doch zunächst bekam die Regierung vor dem High Court in London Recht. Am 11. September 2019 urteilte jedoch das höchste Zivilgericht in Schottland, dass die Maßnahme unrechtmäßig gewesen sei. Daraufhin schloss sich auch der übergeordnete britische Supreme Court zwei Wochen später der schottischen Rechtsauffassung an.10 Die britische Regierung habe die Queen in die Irre geführt, als sie ihr die Beurlaubung des Westminster-Parlaments vorgelegt hatte.11 Das Parlament durfte umgehend wieder an die Arbeit gehen. Welche Auswirkungen der EU-Austritt auf die Eigenständigkeit des schottischen Rechtssystems haben wird, muss derzeit noch offen bleiben. Es ist aber davon auszugehen, dass die britische Regierung eine weitere Vereinheitlichung befürwortet und die schottische Regierung die Eigenständigkeit des schottischen Rechtssystems stärker betonen möchte. Auch passt Johnson ganz offensichtlich die Eigenständigkeit des britischen Supreme Court nicht, wie er gleich in der ersten Thronrede nach seinem Wahlerfolg im Dezember 2019 durchblicken ließ.12 In der Thronrede vom Mai 2021 war die Passage enthalten, dass Johnson die „Machtbalance zwischen Exekutive, Legislative und Gerichten wiederherstellen“ wolle.13 Da alle Änderungen beim Zuständigkeitsbereich des Supreme Court auch auf das schottische Rechtssystem

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4 Gesellschaft und Identität

Auswirkungen haben, ist zu erwarten, dass die Zukunft des Justizsystems zu einem weiteren Streitfeld zwischen London und Edinburgh wird (► Kap. 5.2). Die Existenz des UK Supreme Court ist übrigens eine recht neue Entwicklung. 2009 war die Einrichtung des nunmehr höchsten britischen Zivilgerichtes eine gravierende Änderung der jahrhundertealten Ordnung gewesen. Erstmals kann dieser Gerichtshof in London in Zivilverfahren in letzter Instanz sowohl Fälle aus England und Wales wie auch aus Schottland verhandeln. Ihm gehören deshalb zwei schottische Richter:innen an. In Strafverfahren verblieb die letzte Instanz aber in Edinburgh.14 Zwei auffällige Eigenheiten des schottischen Strafrechts sind zum einen der Urteilsspruch „not proven“ („nicht bewiesen“) – ähnlich einem Freispruch aus Mangeln an Beweisen – sowie zum anderen die Notwendigkeit, immer eine zweite unabhängige Beweisquelle vorbringen zu müssen. Im Englischen nennt sich dies „Corroboration“. Seit Jahren wird über die Abschaffung dieser juristischen Eigenheiten diskutiert und auch im Wahlkampf 2021 gab es mehrfach Forderungen, „not proven“ abzuschaffen.15

Schule und Universitäten Die Universitäten verblieben nach der Union 1707 unter schottischer Aufsicht, zusammen mit dem gesamten Bildungsbereich, der damals natürlich erst in rudimentären Grundzügen vorhanden war. Schon John Knox legte großen Wert auf Bildung und das schottische Parlament erließ bereits 1696 einen „School Act“ zur Einrichtung von Schulen.16 Die traditionsreichen Universitäten in Glasgow, St. Andrews, Edinburgh und Aberdeen, die zum Teil bereits auf das 15. Jh. zurückgingen, hatten großen Einfluss, weil sie zum einen die schottischen Richter ausbildeten und darüber hinaus natürlich die gesamte akademische Elite des Landes. In Zeiten, in denen Schottland als Nordbritannien gesehen wurde, spielte das jedoch lange keine große politische Rolle, weil sich die Studierenden ohnehin eher als britisch definierten. Im Gefolge der Universitäten blieb auf lange Sicht auch das Schulsystem in Schottland vollkommen eigenständig – ein Umstand, auf den man in Schottland sehr stolz ist. So gibt es in Schottland im Vergleich zu England wesentlich weniger Privatschulen und das System ist wesentlich durchgängiger auf Gesamtschulen ausgerichtet. Das wiederum untermauert die schottische Selbsteinschätzung einer Gesellschaft, die nach skandinavischem Vorbild egalitärer aufgebaut sein möchte als die englische. Im schottischen Parlament sitzen im Vergleich zum britischen Unterhaus zudem deutlich weniger Abgeordnete, die auf die britischen Elite-Unis in Cambridge oder Oxford gegangen sind. Ein schottischer Schul- und Uniabschluss ist hier eher der Standard. Spätestens mit der Wiedereinrichtung des schottischen Parlaments 1999 wurden die Unterschiede im Bildungswesen politisch deutlich spürbar. Als in

4.2 Träger britischer Identität

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England unter New Labour wieder Studiengebühren eingeführt wurden, ging Schottland diesen Weg nicht mit. Die SNP machte die Abschaffung der Studiengebühren zu einem Eckpfeiler ihrer Politik. Inwieweit aber das eigene Schul- und Universitäts-System auch eine schottische Identität befördert hat, ist nicht abschließend zu beurteilen. Der Historiker Tom Devine beklagt z. B., dass bis in die 1960er-Jahre schottische Geschichte kaum unterrichtet wurde, sondern alles im Kontext der britisch-englischen Geschichte präsentiert wurde.17 Insofern kann vielleicht das wiedererwachende (akademische) Interesse an schottischer Geschichte eher in Zusammenhang mit dem politischen Erstarken der SNP seit den 1960er-Jahren gesehen werden.

4.2

Träger britischer Identität

Vier Institutionen haben in den letzten 250 Jahren ganz besonders zum Erhalt der Union beigetragen. Davon existiert eine nicht mehr, zwei wurden stark reduziert und die Zukunft der vierten scheint eher ungeklärt: Es handelt sich um das britische Empire, die britische Armee, die nationalisierte Wirtschaft und die britische Monarchie.

Empire und Armee Zum Empire wurde schon einiges gesagt (► Kap. 1.2). Es bot den auswandernden Schotten (zumeist wirklich den Männern) zahlreiche Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten. Die britische Kolonialverwaltung war nicht aufgeteilt in englisch oder schottisch, stärkte also die Union, indem sie Teilhabe an den reichen Gewinnen der imperialen Eroberungen garantierte. Diese Säule des britischen Königreichs brach jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von nur 20 Jahren weg, weil die Kolonien unabhängig wurden. Mit der Auflösung des Empire einher ging auch die drastische Reduzierung der britischen Streitkräfte. 1957 gab es noch elf schottische Regimenter, heute nur noch eines.18 Vielfach gab es in Schottland intensive Kampagnen, um die Auflösung der traditionsreichen Regimenter zu verhindern, doch zumeist hatten diese keinen bleibenden Erfolg. Damit ist eine der wichtigsten und früher sichtbarsten britischen Institutionen in Schottland im Prinzip nicht mehr präsent.

Staatliche Wirtschaft Als sich das Empire nach dem Zweiten Weltkrieg auflöste und damit als identitätsstiftende Klammer wegfiel, hatte die Labour-Regierung zeitgleich eine Reihe

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4 Gesellschaft und Identität

neuer britischer Institutionen geschaffen, die nunmehr für einige Jahrzehnte den Zusammenhalt des Königreichs symbolisierten: Durch Verstaatlichungen entstanden innerhalb weniger Jahre u. a. der öffentliche Gesundheitsdienst NHS, eine staatlich gelenkte Bahn und Stromversorgung sowie eine staatliche Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie (► Kap. 1.3). In den 1960er-Jahren kamen noch weitere Firmen hinzu, wie British Steel oder British Leyland. Oft waren schon diese Firmennamen sehr unionistisch. Sie schlossen an Bezeichnungen an wie British Telecom oder Royal Mail. Für Beschäftigte dieser Unternehmen bedeutete all dies, dass sie erkennbar vom britischen Staat mit Arbeit und Lohn versorgt wurden. Dies führte natürlich auch zu einer gewissen Identifikation, die Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit diametral entgegen stand. Warum sollten diese Angestellten gegen ihren eigenen Arbeitgeber und damit womöglich für den Verlust ihrer Arbeitsplätze stimmen? Der Nachteil der Verstaatlichungspolitik war jedoch, dass von nun an für Probleme am Arbeitsplatz oder auch für Entlassungen und Werksschließungen nicht mehr konkret bekannte Industrielle verantwortlich gemacht werden konnten, sondern nur noch der britische Staat, primär vertreten durch die Regierung in London. Solange es wirtschaftlich gut lief, war dies kein Problem, doch die Strukturkrisen der 1960er- und 1970er-Jahre führten eben zu genau diesen Entlassungen und Werksschließungen. Die scharfe Privatisierungspolitik von Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren, verbunden mit dem endgültigen Niedergang der schottischen Kohle- und Stahlindustrie, war für viele Schott:innen ein Schock, der die ideelle Bindung an den britischen Staat nachhaltig lockerte. Hier verschwanden explizit „britische“ Arbeitsplätze und Arbeitgeber. Von den oben aufgeführten Unternehmen ist nur noch der NHS in staatlicher Verwaltung – alle anderen sind privatisiert oder ganz aufgelöst worden. Insofern ist es heute wesentlich schwerer, im Berufsleben die Zugehörigkeit zum britischen Königreich zu spüren. Die enorme Wirkung auf die Gesellschaft ist nicht zu unterschätzen, weil dieser zentrale Pfeiler britischer Identität innerhalb kurzer Zeit verschwand. Viele Autor:innen weisen darauf hin, dass Kohle, Stahl und Werften in Schottland auch ohne Margaret Thatcher unter großem Druck standen – übrigens auch in England und Wales.19 Doch die Eiserne Lady war eben die verantwortliche Politikerin, die salopp gesagt den Stecker noch schneller zog – und das gepaart mit einer oft demonstrativen Gleichgültigkeit gegenüber der wirtschaftlichen Not, die ihre Regierungspolitik bei vielen Menschen auslöste. Dass Margaret Thatcher ihr englisches Image bewusst pflegte, verschärfte die Identitätskrise zusätzlich. So wurde der Niedergang der alten arbeitsintensiven Kernindustrien in Schottland auch zum Symbol für eine Abwendung von der Idee eines gemeinsamen britischen Staats – eine fatale Entwicklung für das Vereinigte Königreich. Auf dieser symbolischen Ebene ist es wahrscheinlich durchaus politisch zu sehen, dass 2021 die neue britische Bahngesellschaft für Infrastruktur und Service

4.2 Träger britischer Identität

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in Zukunft nicht mehr schlicht Network Rail, sondern Great British Railways heißen sollte.20 Aus Londoner Sicht soll „britisch“ wieder als sichtbare Marke auch in der Wirtschaft gefördert werden. Dazu passt, dass die in der Bankenkrise 2008 kurz vor dem Kollaps stehenden schottischen Großbanken Royal Bank of Scotland und Bank of Scotland zu großen Teilen in staatlichen Besitz überführt und damit auch ihrer schottischen Kernidentität beraubt wurden (► Kap. 4.5). Letzteres wurde in Schottland nicht sehr positiv aufgenommen.

Monarchie Damit bleibt unter dem Strich die Monarchie als weithin sichtbarer gesellschaftlicher Träger britischer Identität. Hier ist zunächst ein Rückblick auf das 18. und 19. Jh. hilfreich. Ein Großteil des Widerstands gegen das neue britische Königreich leitete sich damals aus der Ablehnung der Oranier-Dynastie und dann des Hauses Hannover ab. Diese Ablehnung beruhte auf Gegenseitigkeit, so wurde die Nationalhymne God save the King/Queen im Angesicht des schottischen Vormarsches auf London 1745 populär. Eine heute nicht mehr gebräuchliche Strophe enthält den Aufruf, die „rebellischen Schotten zu zerschmettern“.21 In dieser Grundstimmung war nicht zu erwarten, dass die Monarchie zu einem Stützpfeiler der Union werden würde. Das änderte sich erst im 19. Jh. So gelang es dem schottischen Romancier Sir Walter Scott 1822 zum ersten Mal, einen britischen König nach dem Abschluss des Unionsvertrags 1707 zu einem Besuch in Edinburgh zu bewegen. George IV. wurde groß gefeiert, zumal der geschichtsbewusste Scott ihn in einen Kilt gesteckt hatte. Als kleines Geschenk erlaubte George seinen schottischen Untertanen, fortan Whisky auch legal zu brennen. Noch größer war der Einfluss von Queen Victoria. Sie und ihr Mann Albert verliebten sich in den 1840er-Jahren in die schottischen Highlands. Sie kauften im Dee-Tal westlich von Aberdeen ein Landgut und errichteten dort ihren Sommersitz Balmoral. Auf einmal erhielt die Monarchie eine schottische Ausprägung. Der nördliche Teil der britischen Inseln war nun mit königlichem Siegel nicht mehr Feindesland, sondern romantische Urlaubsregion. Das trug dazu bei, dass sich viele Schott:innen im 19. und 20. Jh. im britischen Königreich als akzeptiert sahen. Es gab zudem im Laufe der Zeit auch persönliche Verbindungen zum schottischen Adel. So war die Mutter der jetzigen Queen eine Schottin, die auf Glamis Castle nördlich von Dundee geboren wurde. Die Schwester der Queen wurde dort ebenfalls geboren und auch Elizabeth II. selbst verbrachte Teile ihrer Kindheit auf Glamis. Die Queen hat bis heute eine ausgesprochene Affinität zu Schottland und verbringt einen Sommermonat in Balmoral. In diesem Zeitraum ist auch ihre königliche Familie vielerorts in Schottland präsent, z. B. zur Eröffnung von Schulen, Krankenhäusern, Hafenanlagen etc. Das sichert bis in die heutige Zeit

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4 Gesellschaft und Identität

Abb. 14: Schloss Balmoral, der Sommersitz der Queen Victorias. Noch heute verbringt Queen Elizabeth II. hier regelmäßig ihren Sommerurlaub.

die physische Sichtbarkeit der britischen Krone als letzter wirklich übergreifender britischer Institution jenseits der Regierung in London. Auch Thronfolger Charles ist Schottland sehr zugetan, mit einem eigenen Landsitz unweit von Balmoral und vielen Projekten im ganzen Land. Der Thronfolger wird in Schottland übrigens nicht wie in England primär als „Prince of Wales“ bezeichnet, sondern nach seinem höchsten schottischen Titel „Herzog von Rothesay“. Im späten Mittelalter nutzten einige schottische Könige diesen Herzogstitel für ihre Nachfolger – analog zum englischen „Prince of Wales“. Im Vereinigten Königreich wurde der schottische Titel dann dem britischen Thronfolger zugeschlagen. Unter dessen Titeln befindet sich sogar noch der keltische Herrschaftstitel „Lord of the Isles“. Dieser war zunächst 1493 vom schottischen König James IV. für sich selbst der Krone zugeschlagen worden, um seinen Sieg über die gälischen MacDonald-Fürsten zu dokumentieren (► Kap. 4.4). Durch die Vereinigung mit England fiel der Titel dann an die britischen Monarch:innen, die damit in Schottland ihre jeweiligen Thronfolger aufwerten wollten. Monarchien jeder Couleur waren sehr gut darin, sich wichtige Titel anzueignen, um ihren Machtanspruch zu untermauern. Für Charles ältesten Sohn William führte die systematische Vorbereitung auf seine zukünftige Thronbesteigung in alle Landesteile des Königreiches. Um seine britischen Meriten deutlich zu machen, ging er nicht nur zum Militär, sondern studierte im schottischen St. Andrews und arbeitete dann als Pilot eines Rettungshubschraubers der Royal Air Force in Wales. In St. Andrews lernte er auch seine Frau Kate Middleton kennen. Beide zusammen haben mittlerweile die

4.2 Träger britischer Identität

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Titel Herzog und Herzogin von Cambridge verliehen bekommen. In Schottland führen William und Kate aber den Adelstitel Graf und Gräfin von Strathearn. An wohlklingenden Titeln mangelte es nie. Ob aber Charles und William dieselbe Integrationskraft wie die jetzige Queen besitzen, ist fraglich. Die königliche Familie hat in den letzten Jahrzehnten durch ihre öffentlichen Skandale viel von ihrem früheren Ansehen verloren. Wahrscheinlich aus diesem Grund reiste Prinz William im Auftrag der Queen Ende Mai 2021 für eine Woche nach Schottland, um politische Gespräche mit Ministerpräsidentin Sturgeon und Ex-Premier Gordon Brown zu führen. Brown führt eine Kampagne zum Erhalt der Union – der Gesprächstermin also ein klares Zeichen der Wertschätzung durch das Königshaus. Zudem sprach William als „Lord High Commissioner“ der Queen bei der Generalversammlung der Church of Scotland. Das Königshaus kündigte darüber hinaus an, William und Kate würden nun öfter nach Schottland reisen, zum Beispiel zu ihrer alten Uni St. Andrews und zum königlichen Sommersitz Balmoral. Beginnt hier eine königliche Charme-Offensive für den Erhalt des Vereinigten Königreichs?22 Und welchen Anteil hatte die britische Regierung an diesem Plan? Fakt ist jedenfalls, dass die Queen viele Menschen in Großbritannien aufgrund ihrer langen Regentschaft seit 1952 auch persönlich an die „guten alten Zeiten“ des Empire erinnert. Selbst von denen, die eigentlich gerne die Monarchie abschaffen würden, wird sie als Person respektiert. Das wurde deutlich, als die SNP 2014 vorschlug, die Queen als Staatsoberhaupt auch in einem unabhängigen Schottland beizubehalten. Im unmittelbaren Vorfeld des Referendums wurde viel diskutiert, dass die Queen mit einer kleinen Bemerkung in die Debatte eingriffen hatte. Normalerweise gilt für die Monarchin strikte Zurückhaltung, wenn es um aktuelle politische Fragen geht. Die Queen darf die Regierung nicht öffentlich kritisieren, sondern sie nur hinter den verschlossenen Türen von Buckingham Palace beraten.23 Umso überraschender kam ihr öffentlicher Kommentar in Schottland vier Tage vor dem Referendum im September 2014, dass die Schottinnen und Schotten „sehr sorgfältig über die Zukunft nachdenken werden.“24 Dies wurde allgemein als indirekte Warnung an die Wahlbevölkerung gewertet, es sich mit dem Unabhängigkeitswunsch noch einmal gründlich zu überlegen. Die große mediale Aufmerksamkeit dieser äußerst seltenen öffentlichen Intervention führte dazu, dass der Buckingham Palace noch am selben Tag eine Erklärung hinterherschicken musste, dass die Queen natürlich nicht das Referendum beeinflussen wolle. Dies sei allein eine Angelegenheit der schottischen Bevölkerung.25 Dass dies höchstwahrscheinlich nur die halbe Wahrheit war, zeigte sich fünf Jahre später. 2019 enthüllte Ex-Premierminister David Cameron, dass er sehr wohl das Königshaus gedrängt habe, sich für den Erhalt des Vereinigten Königreichs einzusetzen. „Wir dachten, es würde schon helfen, wenn die Queen ihre Augenbrauen vielleicht nur um einen halben Zentimeter hochziehen würde.“26

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4 Gesellschaft und Identität

Generell scheinen aber auch die Zustimmungswerte der Queen Umfragen zufolge in Schottland niedriger zu sein als in England.27 Was das für ihre Nachfolger bedeutet, muss hier offen bleiben. Nach dem Tod von Elizabeth’ Gatten Prinz Philip im April 2021 rückt die Nachfolgefrage auf dem britischen Thron jedoch immer näher. Im Herbst 2021 musste die inzwischen 95-jährige Queen mehrfach Termine absagen, z. B. in Nordirland und beim Weltklimagipfel. Von daher ergab die rasche Aufwertung von Prinz Williams Status in Schottland durchaus Sinn. Die Aufgabe, eine Bindeklammer der britischen Gesellschaft zu sein, dürfte der Krone aber schwerer fallen als unter Elizabeth II.

4.3

Kultur und Nationalismus

In Schottland äußert sich auf vielen Gebieten eine gegenüber England eigenständige Ausprägung kultureller Identität: Sprache, Literatur, Musik, Sport und der Rückgriff auf eigenständige Traditionen sind einige der relevanten Faktoren. Oft sind die Grenzen zur Politik recht fließend und gerade die Unabhängigkeitsdebatten der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, wie sehr die Kulturszene die Fragen von Identität und politischer Positionsbestimmung beeinflusst. Gleichzeitig verlaufen aber auch quer durch die schottische Gesellschaft kulturelle Bruchlinien, die sich auf historische und geographische Gegebenheiten stützen. Diese sollen im nächsten Unterkapitel vorgestellt werden. Schottland ist kein politisch und gesellschaftlich monolithischer Block. Hier geht es zunächst darum, die Bereiche vorzustellen, die Schottland ganz offensichtlich von England abgrenzen und die deshalb auch als Träger einer wie auch immer gearteten kulturell eigenständigen Identität geeignet sind. Und auf diesem Sektor hat Schottland viel zu bieten, sodass hier oft von einem „Nationalismus mit einem kleinen ‚n‘“28 gesprochen wird. Ein zentrales, grundlegendes Element ist die Feststellung, dass Schottland als kleines Land am nördlichen Rande der britischen Inseln sich sehr lange darin geübt hat, in der Wahrnehmung nicht hinter dem großen Nachbarland im Süden unterzugehen. So fällt selbst Erst-Besucher:innen schnell auf, dass man in Schottland großen Wert darauf legt, nicht mit England verwechselt zu werden. Zu dieser Befürchtung gibt es durchaus Anlass, wenn man z. B. bedenkt, wie schnell auch im journalistischen Alltagsgeschäft im Ausland vom „englischen“ Premierminister oder von der „englischen“ Regierung gesprochen wird – wo doch eigentlich das Adjektiv „britisch“ korrekt wäre. Schottische Filmfans zucken mit den Augenbrauen, wenn z. B. in Bond-Filmen Textzeilen vorkommen wie „For England, James“ oder „Country? – England.“ – diese Nachlässigkeiten werden in England zumeist gar nicht wahrgenommen, sondern die Gleichsetzung von England mit Großbritannien wird als selbstverständlich erachtet. In

4.3 Kultur und Nationalismus

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Schottland gelten sie als Beweis für englische Überheblichkeit und Missachtung gegenüber dem nördlichen Nachbarn. Eine wichtige Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Schottland ist das gewachsene Selbstbewusstsein der Gesellschaft, was sich seit den 1970er-Jahren auf vielen Gebieten zeigt. Breite Teile der Gesellschaft sind stolz darauf, dass Schottland eine vielseitige, aktuelle und aussagekräftige Kultur zu bieten hat, die auch internationale Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Hierbei spielt sicherlich eine Rolle, dass durch das schottische Parlament auch wieder eine eigenständige politische Vertretung vorhanden ist. Andererseits wäre das Parlament womöglich nicht zurückgekommen, wenn es nicht zuvor schon zu einem spürbaren kulturellen Revival gekommen wäre. An der Entwicklung von Literatur, Musik und Film lässt sich gut zeigen, wie vielfältig die schottische Gesellschaft ist und wo die historischen und aktuellen Bruchlinien verlaufen. Die Unabhängigkeitsdebatten der vergangenen Jahre haben hier deutliche Spuren hinterlassen, weil sich auch viele bekannte Autor:innen, Musiker:innen und Schauspieler:innen in der Debatte positioniert haben.

Tradition als Identitätsträgerin In einem Punkt brauchen sich Schott:innen keine Gedanken zu machen: Wenn es um die sichtbaren Kennzeichen von Traditionen geht, ist eine Verwechslung mit England kaum möglich. Kilt und Dudelsack sind zwei allseits bekannte „schottische“ Traditionssymbole. Wer in Edinburgh durch die Innenstadt geht, wird schnell auf Kilt tragende Dudelsackspieler treffen, die auch das Bild der schottischen Regimenter geprägt haben und in den Highlands ganz zivil jeden Sommer bei den Hochland-Spielen anzutreffen sind. Wer nach Schottland fährt, hat definitiv Bilder im Kopf, die dem Land ein ganz eigenes, unverwechselbares „Markengefühl“ verleihen. Hier wird es aber schon spannend, weil Kilt, Dudelsack und Hochland-Spiele historisch gesehen nicht Schottland als Ganzes vertreten, sondern die keltischgälisch geprägte Hochlandkultur, die bis ins 18. Jh. vom Clan-System durchdrungen war (► Kap. 4.4). Diese Hochland-Kultur wurde von den Eliten der Lowlands zunehmend als rückwärtsgewandt verachtet und als Gefahr für das politische Establishment gesehen. Schließlich kam es im Gefolge der Jakobiten-Aufstände im 18. Jh. zur vollständigen Unterdrückung dieser Hochland-Kultur (► Kap. 1.2). Wie also konnten Symbole der untergegangenen keltischen Clan-Gesellschaft zu einem derart mächtigen Sinnbild für das gesamte Land werden? Die Antwort liegt im Romantizismus des 19. Jh. begründet. Zwei Persönlichkeiten haben entscheidenden Anteil an der Entstehung dieser neuen „Nationalkultur“: Sir Walter Scott und Queen Victoria. Scott (1771–1832) war Romancier und begründete quasi die Gattung der Historienromane.29 Seine Werke spielten zum Teil in den Highlands und er besiedelte diese mit romantisch aufgeladenen Fantasiegestalten. Auch reale Personen

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Abb. 15: Dudelsackspieler in Edinburgh. Ursprünglich Insignien der Hochlandkultur, stehen Kilt und Dudelsack heute für viele stellvertretend für ganz Schottland.

wurden umgedichtet: So wurde z. B. aus dem legendären Viehdieb Rob Roy eine Art schottischer Robin Hood. Das kam beim Publikum an: Schon bald wollten begeisterte Leser:innen aus der Mittel- und Oberschicht die Schauplätze von Scotts Romanen persönlich besuchen. Das machte Scott auch zum Begründer des Tourismus in Schottland. Seine romantischen Romane machten aus den wilden, ungezügelten „Barbaren“ des Hochlands gefeierte Helden der Literatur. Jetzt, da keine Aufstände mehr zu befürchten waren, war diese Neuinterpretation problemlos möglich – auch für die Menschen in den Lowlands, die bis dato so wenig mit den rauen Highlands anfangen konnten. Als der „englische“ König George IV. 1822 zu seinem Besuch nach Edinburgh aufbrach, wurde Scott zum Zeremonienmeister berufen. Er setzte strikt auf schottisches Feeling und zwängte sogar den König in einen Kilt. Damit gab er dem Monarchen eine sichtbare „schottische“ Note – und verhalf dem Kilt zum Durchbruch auf dem Modemarkt. Scott hatte es geschafft, Schottland unverwechselbare Markenzeichen an die Hand zu geben, die eine neue gemeinsame Identität stifteten.30 Diese Romantisierung der Highlands und der dazugehörigen keltischen Hochland-Kultur bereitete auch Queen Victoria und ihrem Mann Albert 20 Jahre später den Weg. Sie verliebten sich förmlich in die Highlands und ließen im Dee-

4.3 Kultur und Nationalismus

149

Tal westlich von Aberdeen ihre Sommerresidenz Balmoral errichten. So bekamen die Highlands und die damit verbundene Kultur royale Patronage. Das wirkt bis heute nach, durch die vielen offiziellen „königlichen Lieferanten“ im Dee-Tal oder wenn Prinz Charles bei offiziellen Anlässen Kilt trägt. Das heißt aber natürlich nicht, dass alle schottischen Männer tagein, tagaus Kilt tragen würden. Im Gegenteil: Das Tragen eines Kilts war bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg im Alltag verpönt. Es galt als konservativ und deshalb für viele Männer als uncool. So sagte der frühere schottische Ministerpräsident Alex Salmond einmal, dass er für das Tragen eines Kilts in der Schule verprügelt worden wäre.31 Und auf Parteitagen der SNP ist das Tragen eines Kilts de facto tabu. Schottland ist eben eine moderne Gesellschaft. Dennoch hat sich in den letzten 30 Jahren etwas Erstaunliches entwickelt: Heute ist es vor allem bei Hochzeiten oder anderen wichtigen Feierlichkeiten durchaus üblich, dass „mann“ im Kilt erscheint. Tartan ist modisch „in“ und junge Männer haben kein Problem mehr damit, zu besonderen Anlässen zu dem schottischen Modeartikel par excellence zu greifen. Auch die Fußballfans der „Tartan Army“ tragen aus Spaß gerne Pseudokilts. Diese Entwicklung hängt sicherlich mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein der schottischen Gesellschaft zusammen, die sich nicht mehr scheut, sich ganz demonstrativ von ihren englischen Nachbarn auch durch das Outfit abzusetzen. So hat sich die schottische Gesellschaft den Symbolen einer Kultur bemächtigt, die einst offensiv verdrängt und längst untergegangen ist – aber heute bildlich das Image des Landes prägt.

Literatur Die bedeutende Rolle von Sir Walter Scott bei der Entstehung eines romantischen, positiv besetzten Schottland-Bildes im 19. Jh. wurde schon beschrieben. Die Literatur spielt bis heute zusammen mit der Musik- und Filmszene eine wichtige Rolle bei der Ausformung der kulturellen Identität in Schottland. Das ist zunächst mal auch nicht überraschend, da in der Abwesenheit eines eigenen Parlaments bis zum Ende des letzten Jahrhunderts, die Kultur genau wie die Kirche oft als Ersatz für die fehlende politische Bühne fungierte. Auch in anderen Ländern wurden historisch gesehen oftmals Literat:innen zu gesellschaftlichen Sprachrohren der Opposition, wie z. B. Václav Havel in der früheren Tschechoslowakei. Mindestens genauso wichtig im gesellschaftlichen Bewusstsein Schottlands wie Scott ist Robert Burns (1759–1796), der als Nationaldichter gilt.32 Er führte das Lowland Scots in die Literatur ein und machte die bis dahin als Sprache der Bauern von der intellektuellen Elite verachtete schottische Alltagssprache gesellschaftsfähig. Er lieferte mit Balladen wie My heart is not here, my heart is in the Highlands emotional aufgeladene Texte für Generationen von schottischen Auswander:innen. Und sein For Auld Lang Syne ist in der angelsächsisch beeinflussten

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Welt bis heute ein traditionelles Lied zum Jahreswechsel. Es bildet quasi eine musikalische Brücke in die „Neue“ Welt. Burns war der erste Literat, der innerhalb des neuen britischen Königreichs des 18. Jh. die schottische Identität behauptete. Bis heute wird er bei politischen Veranstaltungen immer wieder gerne zitiert. Im 19. Jh. kämpften bekannte Autoren aber auch damit, einen Markt für ihre Bücher zu finden – und zeigten damit letztlich, wie klein manchem das eigene Land vorkam. So verschaffte der in Edinburgh geborene Sir Arthur Conan Doyle seinem weltberühmten Detektiv Sherlock Holmes ein Apartment in der Londoner Baker Street und nicht etwa in Edinburgh. Das würde heute bekannten KrimiAutor:innen wie Ian Rankin nicht mehr passieren. Sein Inspector Rebus ermittelt natürlich in Edinburgh. Robert Louis Stevenson ist im Ausland wohl eher für seine Schatzinsel bekannt. In Schottland selbst sind vor allem sein Historienroman Kidnapped („Die Abenteuer des David Balfour“) oder natürlich Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde bekannt, der das doppelte Seelenleben der angesehenen Bürgerschicht im kalvinistischen Edinburgh beleuchtet. Schottland wurde im Laufe der Zeit aber auch für viele Autor:innen zu einem attraktiven Wohnort, zumindest als zweiter Wohnsitz oder Urlaubsort für das kreative Schaffen. So kam Bram Stoker die Grundidee für seinen Dracula in Cruden Bay nördlich von Aberdeen, George Orwell schrieb 1984 auf der HebridenInsel Jura und die Familie von Bond-Erfinder Ian Fleming besaß ein Landgut im Glen Etive in den schottischen Highlands. Die in England geborene J. K. Rowling zog in den 1990er-Jahren nach Edinburgh und erschuf hier den berühmten Zauberlehrling Harry Potter. An dieser Stelle ergeben sich Überschneidungen zur politischen Unabhängigkeitsdebatte. Orwell war kein Freund von Nationalismus, den er 1945 in seinem Essay Über Nationalismus rundherum ablehnte: „Der Nationalismus […] ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden.“33 Diese negative Einstellung bezog er auch auf den schottischen, irischen und walisischen Nationalismus. Dieser „keltischen“ Variante sei eine „anti-englische Stoßrichtung“ gemein. „Seine treibende Kraft ist der Glaube an die vergangene und zukünftige Größe der keltischen Völker, und er besitzt eine stark rassistische Färbung.“34 Inwieweit er seine Analyse insbesondere in puncto „rassistisch“ heute aufrecht erhalten würde, sei dahingestellt. Angesichts der Brexit-Debatten sähe er sich aber wahrscheinlich in seiner Beschreibung des „Neo-Toryismus“ bestätigt: „Die eigentliche Antriebskraft des Neo-Toryismus […] ist der Wunsch, nicht anzuerkennen, dass britische Macht und britischer Einfluss geschwunden sind.“35

70 Jahre nach Orwell wurde J. K. Rowling im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums 2014 zu einer öffentlichen Unterstützerin der Union mit England und spendete der Better-Together-Kampagne eine Million Pfund. Das brachte ihr viele auch unschöne Kommentare ein, doch Rowling scheut vor kontroversen

4.3 Kultur und Nationalismus

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Debatten nicht zurück.36 Die Intervention von Rowling macht zudem sehr deutlich, wie schwierig es ist, englische, schottische und britische Identität im Zweifelsfall voneinander zu trennen. Rowling gilt mit ihren Potter-Romanen und den größtenteils in den Highlands gedrehten Filmen unbestritten als eine jener Persönlichkeiten, die Schottland über ihren kulturellen Beitrag ein sehr positives Image verliehen und zugleich ungezählte zusätzliche Tourist:innen ins Land gelockt haben. In der Altstadt von Edinburgh sind die Potter-Touren nicht zu übersehen und in den Highlands sind die Potter-Drehorte zu touristischen Highlights geworden. Politisch und kulturell definiert sie sich aber klar als Britin. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass die schottische Regierung von Anfang an darauf bestanden hat, dass für das Referendum 2014 der Wohnsitz entscheidend ist und nicht der Geburtsort. Erst dadurch wurde die Stimme von Einwander:innen wie Rowling überhaupt erst zu einer „Wahlstimme“. Dieses Gefühl einer erwünschten Partizipation von Zuwander:innen macht einen großen Unterschied zu anderen Formen eines z. B. ethnisch definierten engen Nationalismus aus. Interessant ist, dass sich manche Autor:innen lieber gar nicht äußern wollten, wie z. B. Ian Rankin oder Alexander McCall Smith. Sie fürchteten vielleicht bei Teilen ihres Publikums eine negative Reaktion.

Musik Das kulturelle Revival der 1960er- und 1970er-Jahre ist in Schottland sehr stark mit einer Neuinterpretation der Folkmusik verbunden, die später dann auch die Rock- und Pop-Musik erreichte. In einer ersten Welle griffen Folk-Gruppen wie The Corries vor allem historische Themen auf, die über einen nationalistischen Bezug verfügten. Sie sprachen so ganz direkt ein eher national gesinntes Publikum an. Mit Erfolg: Denn ihr 1967 geschriebener Song Flower of Scotland ist heute die inoffizielle Nationalhymne Schottlands, die inbrünstig von der „Tartan Army“ vor Fußball- und Rugby-Spielen gesungen wird – so auch im Juni 2021 bei der Fußball-EM ausgerechnet in London gegen England. Der Ohrwurm führt zurück in die Zeit der Unabhängigkeitskriege gegen den englischen König Edward II. zu Beginn des 14. Jh. Sehr reißerisch ist der Kernsatz: „But we can still rise now and be the nation again“.37 Klarer kann die politische Ansage nicht sein. Doch warnen die Corries im selben Lied auch davor, in der Vergangenheit hängen zu bleiben, denn es heißt, dass „diese Tage vorbei sind und in der Vergangenheit verbleiben müssen“.38 Das ändert nichts daran, dass die Kernzeile politisch immer wieder ausgeschlachtet wurde, als z. B. die schottische Sun 1992 die SNP mit der reißerischen Schlagzeile unterstützte „Schotten, erhebt euch und werdet wieder eine Nation.“39 Weniger dramatisch, aber dennoch sehr einprägsam und wirkungsvoll war der Song Caledonia des Folkmusikers Dougie MacLean aus den 1970er-Jahren. In

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dem wehmütigen Lied singt MacLean voller Sehnsucht von seiner Heimat – Caledonia ist der alte römische Name für das heutige Schottland: „Caledonia you are calling me and now I’m going home“.40 Das klingt eindeutig nach Burns’ My heart is in the Highlands und wurde zu einem der erfolgreichsten schottischen Songs der Gegenwart. Selbst die international bekannte schottische Liedermacherin und Popsängerin Amy Macdonald coverte das Lied schon. Zugleich überwand Caledonia mühelos die Grenze zwischen Musik, Werbung, gesellschaftlicher Selbstbestätigung und Politik. So zeigte im Vorfeld der Unterhauswahl 1992 eine große schottische Brauerei einen Werbespot, in dem zu den Klängen von Caledonia ein frustrierter schottischer Angestellter in London die Büro-Brocken hinschmeißt, um lieber im Wollpulli mit seinen Kumpels in Edinburgh gemütlich ein Bierchen im Pub zu trinken. Dieser Spot traf den Nerv der Zeit, weil er die Ablehnung eines als kalt empfundenen englischen Yuppie-Lebensstils zeigte und dagegen ein deutlich „wärmeres“ Schottland-Gefühl stellte. Die damalige Cover-Version gelangte prompt auf Platz 1 der schottischen Charts. An diesen beiden Beispielen zeigt sich sehr gut, wie es der Folkmusik in den vergangenen Jahrzehnten gelang, eine offensichtlich vorhandene Identitätslücke innerhalb der schottischen Gesellschaft zu schließen. Gerade Caledonia sprach eine neue Generation an, für die Emigration nicht mehr die Lösung aller Probleme war, sondern die in Schottland selbst etwas auf die Beine stellen wollten. MacLean ist das beste Beispiel dafür, da er u. a. in seiner Heimatregion das Kulturfestival „Perthshire Amber“ aus der Taufe hob und immer wieder kreative Projekte anstößt. Eine Barriere überwand Ende der 1980er-Jahre auch die Gruppe Capercaillie von den Hebriden, die es schaffte, mit gälischen Texten in die Charts zu kommen – ein bis dahin völlig undenkbarer Vorgang. Der Erfolg von Capercaillie wäre vielleicht ohne den Erfolg der Folk-Rock-Band Runrig nicht möglich geworden. Auch die Runrig-Musiker kamen von den Hebriden. Ihre Musik und ihre Texte waren z. T. ebenfalls gälisch, aber sie strömten durch die Rock-Rhythmen eine derart positive Kraft aus, dass sie mühelos die junge Generation erreichten. Dabei geht Runrigs berühmtestes Lied Loch Lomond ebenfalls auf die Jakobiten-Kriege von 1745/46 zurück. Genau wie Caledonia und zuvor schon Burns führen auch in diesem Lied alle Wege zurück in die Highlands, hier zum „wunderschönen Ufer des Loch Lomond“.41 Mit diesem Song rockte Runrig die Bühnen in Schottland, aber auch auf dem Kontinent, z. B. in Deutschland. Und auch bei Runrig verschwimmt die Grenze zwischen Musik und Politik: So gelangte der zeitweilige Keyboarder der Band, Pete Wishart, für die SNP 2001 als Abgeordneter ins britische Unterhaus und ist damit derzeit der am längsten aktive Unterhaus-Abgeordnete der SNP. Bei dieser Ausrichtung der Folkmusik verwundert es nicht, dass beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 besonders viele Musiker:innen für die Yes-Kampagne warben, u. a. Amy Macdonald und Dougie MacLean, aber auch das bekannte Pop-Duo The Proclaimers. International bekannte Band- und Musikernamen auf

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der Yes-Seite waren zudem Franz Ferdinand und Justin Currie (Del Amitri). Sharleen Spitteri (Texas) votierte hingegen für den Erhalt des Vereinigten Königreichs. Annie Lennox (Eurythmics) schlug sich öffentlich auf keine Seite.

Film Selbstredend ist die Filmbranche bei der Ausprägung einer kulturellen Identität ebenfalls ein relevanter Faktor. Dies gilt gerade im Falle Schottlands für die Wahrnehmung aus dem Ausland: Bekannte Filme aus den 1980er-Jahren wie Highlander oder Local Hero haben genauso zu einem Tourismus-Schub geführt, wie in den 2000er-Jahren die Harry-Potter-Saga oder in jüngeren Jahren die Verfilmung der Outlander-Reihe von Diana Gabaldon. In all diesen Filmen wird Schottland sehr positiv dargestellt, mit einer faszinierenden und unverwechselbaren Landschaft. Eine ganz andere Richtung schlug 1996 der Kult-Film Trainspotting ein, der nach dem Buch von Irvine Welsh in die Drogenszene von Edinburgh führte. Hier wurde ein ganz anderes, völlig untouristisches Bild des modernen Schottlands gezeigt. Der sehr gesellschaftskritische Film begründete u. a. die Karrieren von Ewan McGregor und Robert Carlyle. Filme über schottische Themen haben gelegentlich auch politische Noten. Besonders heraussticht natürlich der 1995 gedrehte Klassiker Braveheart mit Mel Gibson und Sophie Marceau. Hier wurde der Freiheitskampf von „Braveheart“ William Wallace an der Wende zum 14. Jh. in Hollywood-typischer Manier sehr reißerisch auf die Leinwand gebracht. Zu einer Zeit, als die Unzufriedenheit mit der britischen Tory-Regierung sehr groß war und sich die damaligen Oppositionsparteien auf die Einrichtung eines neuen Parlaments vorbereiteten, stachelte dieser Film die öffentliche Meinung weiter an. Besonders heiß diskutiert wurde eine Szene, in der schottische Soldaten der englischen Armee ihren nackten Hintern als Ausdruck der Verachtung zeigten. Wer sich noch nicht ganz sicher war, ob Schottland und England wirklich unterschiedlich seien, bekam hier aus Hollywood pointierten „Nachhilfeunterricht“. Mal abgesehen von der Frage, wie geschichtlich korrekt dieser Blockbuster ist, ist es eine Tatsache, dass das folgende Parlamentsreferendum am 11. September 1997 just am 700. Jahrestag der erfolgreichen Schlacht des William Wallace an der Stirling Bridge stattfand. Die Braveheart-Welle reichte bis in die Politik. Etwas kurios ist der „Fall Bond“: Just in Skyfall, dem 007-Film vor dem Unabhängigkeits-Referendum, wurden auf einmal Bonds schottische Familienwurzeln ausführlich thematisiert. Wer bis dahin gedacht hatte, James Bond sei ungeachtet der Verkörperung durch Sean Connery der Urtyp eines Engländers, wurde 2012 in Skyfall mit seiner schottischen Vergangenheit in den Highlands überrascht. Zugleich antwortet Bond in Skyfall jedoch auf die Frage „Country?“ mit einem klaren „England“. Allzu schottisch sollte er dann wohl doch nicht wirken.

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Genau wie alle anderen Kulturbereiche galt es auch für Filmschaffende, sich im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums 2014 zu entscheiden. Ein lebenslanger Anhänger und Unterstützer der SNP war der erste Bond-Darsteller Sean Connery, der aber schon lange im Ausland lebte. Aktueller war die Zustimmung von Brian Cox (u. a. Braveheart, Bourne-Trilogie sowie Churchill), der inzwischen ein zweites Referendum fordert.42 Weitere Filmstars, wie Gerard Butler (Lara Croft, Olympus has Fallen) oder Robbie Coltrane (Bond, Harry Potter) stellten sich auf die Seite der Unabhängigkeitsbefürworter:innen.43 Andere Schauspieler:innen wie Robert Carlyle (Trainspotting, Bond, Ganz oder gar nicht) haben sich öffentlich nicht festgelegt. Carlyle lebt inzwischen in Kanada. Er teilte aber der Obdachlosenzeitung The Big Issue in einem Interview 2020 mit, wie sehr er das Ausmaß bedauere, in dem der Brexit Großbritannien zerreiße.44 Eine sehr interessante Entwicklung hat Ewan McGregor (Trainspotting, Star Wars) hingelegt. Der weltweit bekannte Superstar war 2014 noch gegen die Unabhängigkeit, schlug sich aber 2020 auf die Yes-Seite und twitterte „it’s time“. Er begründete seinen Sinneswandel explizit mit dem Brexit.45 McGregor lebt inzwischen in den USA. Seine Filmkollegin Emma Thompson (Was vom Tage übrig blieb, Sinn und Sinnlichkeit, Harry Potter), deren Mutter aus Schottland stammt, attestierte, dass sie eine staatliche Unabhängigkeit Schottlands inzwischen für „unvermeidbar“ halte, ohne das jedoch positiv oder negativ zu bewerten.46 2014 hatte Thompson sich noch sehr kritisch mit der Frage einer neuen Grenze zwischen England und Schottland auseinandergesetzt.47 Diese Grenzen sind durch den EU-Austritt Großbritanniens nun ohnehin an anderer Stelle Realität geworden. Gerade solche Meinungsänderungen von bekannten Persönlichkeiten sind für die unionistische Seite schlechte Nachrichten, weil sie in Verbindung mit der in Umfragen 2020 registrierten wachsenden Zustimmung zur schottischen Unabhängigkeit den Eindruck vermitteln, als bewegten sich weitere Teile der schottischen Gesellschaft in Richtung Loslösung von Großbritannien.

Sport Eine durchaus eigenständige Rolle bei der Entwicklung der kulturellen Identität in Schottland spielt der Sport. Hier kam es Ende des 19. Jh. zu einer wichtigen Abweichung von der Idee des britischen Einheitsstaats, die sich bis heute gehalten hat. Im Fußball und Rugby verfügen nämlich die vier Home Nations – also England, Schottland, Wales und Nordirland – über eigene Nationalteams. Eine britische Fußballmannschaft gibt es nicht, auch kein britisches Rugby-Team. Großbritannien ist das einzige Land, das an den Qualifikationen zur Fußball-EM und -WM gleich mit vier Mannschaften antreten darf. Das hatte und hat Konsequenzen. Wie war es zu dieser merkwürdigen Anomalie gekommen? Ausgerechnet in der politisch besonders turbulenten Home-Rule-Phase um 1886 kam es zwischen

4.3 Kultur und Nationalismus

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den noch jungen Fußballverbänden in England und Schottland zu einem ernsten Streit über die Professionalisierung des Sports. Im Ergebnis zog sich die Scottish Football Association 1887 aus dem britischen Wettbewerb zurück. Christopher Harvie spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Unabhängigkeitserklärung“. Die Fußballfrage sei wichtiger gewesen als die politischen Home-Rule-Debatten in Westminster – eine sehr harte und vielleicht auch enttäuschte Einschätzung.48 Anstatt eine politische Home-Rule-Regelung durchzusetzen (► Kap. 1.3), bildete sich also im schottischen Gesellschaftssystem eine neue Säule nationaler Eigenständigkeit innerhalb der Union. Der schottische Politologe James Kellas konnte z. B. noch an der Wende zu den 1990er-Jahren feststellen, dass „sich der Nationalismus der Arbeiterklasse im Allgemeinen auf Kultur und Fußball bezieht, aber nicht auf Politik.“49 An anderer Stelle sagte Kellas, dass sich die schottische Identität der Arbeiterklasse in organisierter Form durch den Fußball und den Schottischen Gewerkschaftsverband STUC äußere.50 Die Rivalität zwischen England und Schottland wurde auf dem Fußballplatz ausgelebt oder im RugbyStadion. Hier gab es keinerlei britische Einigkeit, sondern es war ganz klar, dass zwei rivalisierende Länder gegeneinander antraten. Berühmt wurde der frustrierte Vorwurf des nach der Unterhauswahl 1992 zurückgetretenen SNPVize Jim Sillars, die Schott:innen seien reine „90-Minuten-Patrioten“, deren nationalistischer Eifer sich nur bei großen Sportereignissen zeige.51

Abb. 16: Schottland gegen England beim Six Nations Rugby Championship, 2013. Die Gewinner:innen des Turniers, an dem auch Teams aus Frankreich, Italien, Irland und Wales teilnehmen, gelten als inoffizielle Europameister:innen.

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Doch schon damals waren die Aussagen von Kellas und Sillars nicht mehr wirklich zutreffend. Zum einen löste sich das gesellschaftliche Milieu der Arbeiterklasse durch den Niedergang der Schwerindustrie und die Reformen unter Margaret Thatcher rapide auf. Das wurde insbesondere für die Labour Party zu einem großen Problem (► Kap. 3.2). Die Zusammensetzung des Publikums in den Stadien ist heute gesellschaftlich viel breiter und längst keine Arbeiterdomäne mehr. Zum anderen gelangte langsam auch die Politik in die Stadien. So ersetzte in den 1990er-Jahren der patriotische Folk-Song Flower of Scotland bei Fußballund Rugby-Spielen die britische Nationalhymne God save the Queen. Das führt wiederum zu regelmäßigen Beschwerden, weil die englische Nationalmannschaft weiterhin die britische Hymne benutzt, anstatt einen eigenen Song zu singen. Bei Spielen zwischen Schottland und England – wie zuletzt am 18. Juni 2021 im Wembley-Stadion – wirkt es sehr merkwürdig, wenn das englische Team die britische Hymne singt, weil es in diesem Kontext so wirkt, als handele es sich um eine ausschließlich englische Hymne. Das wiederum verstärkt den bei schottischen Nationalist:innen verbreiteten Eindruck, dass viele Engländer:innen Großbritannien im Prinzip als ihr alleiniges „Eigentum“ sehen. Fußball und Rugby bleiben also im wahrsten Sinne des Wortes kontroverse „Spielfelder“ im Verhältnis zwischen Schottland und England. Und noch ein anderer Punkt hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert: Wenn die Analyse stimmt, dass früher der Fußball der Arbeiterklasse eine Ausdrucksmöglichkeit für ihren Nationalismus gab, der sich dann politisch nicht weiter äußerte, so hat sich das politische Wahlverhalten der einstigen LabourAnhängerschaft, wie in Kap. 2 und 3 dargelegt, dramatisch geändert. Es ist durchaus davon auszugehen, dass viele Fußballfans, die ursprünglich auf Labour-Seite standen, auch aufgrund ihrer im Fußball ausgelebten „patriotischen“ Überzeugungen 2007 und 2011 erstmals politisch zur SNP gewechselt sind und dann 2014 für die Unabhängigkeit gestimmt haben. Die anhaltende Schwäche von Labour ist ein Beleg, dass dies kein Ausrutscher ist. Insofern dürfte auch der Ausspruch von Jim Sillars nicht mehr zutreffen, weil sich anscheinend inzwischen eine größere Deckungsgleichheit zwischen dem Sport-Nationalismus und dem politischen Wahlverhalten ergeben hat. Im Ausland wurde über die Jahre die „Tartan Army“ bekannt, die als Fans zu Spielen der schottischen Mannschaften reisen. Sie legen großen Wert darauf, nicht mit englischen Hooligans verwechselt zu werden, was Schottland wiederum zu einem positiveren Image verhilft. Die etwas reißerischen Begrifflichkeiten erfreuten sich beim EM-Match zwischen England und Schottland im Juni 2021 (wieder) großer medialer Beliebtheit. Neben „Tartan Army“ war vom schottischen Team als den „Bravehearts“ die Rede, die gegen ihren „Auld Enemy“ England anträten – also ihren „alten Feind“. Klischeehafter ging es eigentlich nicht, doch die Verknüpfung zwischen Sport und Politik ist heute oft sehr direkt.

4.3 Kultur und Nationalismus

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Während Fußball und Rugby eine ständige Quelle von patriotischen Aufwallungen bleiben, zeigt sich auf anderer Ebene ein britischer Team-Geist: Bei Olympia tritt „Team GB“ an. Hier ist die Rivalität zwischen Schottland, Wales und England aufgehoben. Das führt u. a. dazu, dass sich eine große Anzahl von führenden Sportler:innen vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 eher für einen Verbleib im Vereinigten Königreich aussprach. Auch Fußball-Legenden wie Alex Ferguson und Ally McCoist äußerten sich probritisch. Eine sehr interessante Persönlichkeit in diesem Zusammenhang ist der Tennisspieler Andy Murray. Der eher zurückhaltende Sportler trat bei den Olympiaden 2012 und 2016 für Team GB an. Während der Unabhängigkeitskampagne 2014 hielt er sich sehr lange zurück, bekannte dann aber am Tag der Abstimmung, dass er für die schottische Unabhängigkeit stimmen werde, weil ihm die unionistische Kampagne zu negativ sei.52

Der Abschied der Zögernden Andy Murray, genau wie Ewan McGregor, der Journalist Iain Macwhirter oder der Historiker Tom Devine stehen symbolisch für jene große Gruppe in der Mitte der schottischen Gesellschaft, die nicht von Natur aus für die Unabhängigkeit stimmen würden. Ob dieses „middle Scotland“, wie von Ex-Premier Gordon Brown behauptet, wirklich 40 % der Bevölkerung ausmacht oder nicht, ist hier irrelevant53 – aber seine Analyse, dass in dieser offenen und unentschiedenen Bevölkerungsgruppe letztlich über die Frage Unabhängigkeit oder Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden wird, ist absolut plausibel. Die oben angeführten Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen sind erst durch die intensiven Debatten und oft auch durch die Fehler des unionistischen Lagers in Fragen wie britisches Pfund, negativer Auftritt oder Brexit zu Befürwortern einer staatlichen Unabhängigkeit geworden. Dies ist ein Prozess, der durch alle Gesellschaftsschichten geht, und der so vor 20 Jahren noch nicht absehbar war. Hier verabschieden sich mental die gesellschaftlichen Pfeiler der britischen Gesellschaft in Schottland vom Konzept eines Vereinigten Königreichs, obwohl sie eigentlich sehr lange dafür offen waren und es vielleicht sogar noch sind. Aber Fakt ist, dass sich in allen Kultur- und Sportbereichen die Frage nach der schottischen Identität und ihrer politischen Bedeutung stellt – und unverkennbar ist, dass der Zuspruch zur Union auch hier sinkt. Inwieweit sich dies in eine neue politische Bewegung für ein zweites Referendum umsetzt, wird sich in den kommenden Jahren zeigen. Der Kulturbereich wird dabei erneut eine wichtige Rolle spielen.

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4.4

4 Gesellschaft und Identität

Innerschottische Bruchlinien

Natürlich darf Schottland nicht als monolithischer Block betrachtet werden kann – weder gesellschaftlich noch kulturell oder politisch. Welche Bruchlinien existieren also in Schottland, die letztlich auch in der politischen Debatte eine Rolle spielen?

Lowlands und Highlands Zunächst ist die offensichtliche historische Bruchlinie zwischen Lowlands und Highlands zu erwähnen. Hier trafen über Jahrhunderte zwei völlig unterschiedliche Kulturkreise aufeinander: Der Süden war eher angelsächsisch geprägt. Sprachlich äußerte sich das im Lowland Scots, kirchlich in der Übernahme des Kalvinismus im 16. Jh. und 17. Jh. Die Highlands waren eher keltisch geprägt und in Clan-Verbänden organisiert. Sprachlich dominierte das Gälische (s. u.), politisch der einflussreiche MacDonald-Clan. Nach dem Ende der norwegischen Dominanz 1266 herrschten im 14. und 15. Jh. die MacDonalds als „Lords of the Isles“ von ihrem Machtzentrum Finlaggan auf der Hebriden-Insel Islay über praktisch die gesamte Inselwelt im Westen und zudem zeitweise auch über beträchtliche Teile der Highlands, wie zum Beispiel die Grafschaft Ross. Die schottische Krone hatte nur wenig Einfluss. Erst 1493 konnte James IV. die Hebriden-Lords entmachten und die Westküste der Zentralregierung unterwerfen.54 Dies war der erste entscheidende Sieg der angelsächsischen Lowland-Gesellschaft über die keltisch-gälische Highland-Gesellschaft. Der Konflikt verschärfte sich im 17. und 18. Jh., weil zahlreiche Highland-Clans – aber längst nicht alle – Anhänger der mehrmals vertriebenen Stuart-Könige blieben. Auch diesen Konflikt gewannen die Lowlands nach der Niederlage des Stuart-Prinzen Charles Edward 1746 bei Culloden im Zusammenspiel mit der nunmehr britischen Krone und Regierung ohne Wenn und Aber. Nun mussten die Highlander für den Machtpoker der Stuarts büßen: Selbst die entferntesten Täler und Inseln wurden der Zentralregierung im fernen London unterworfen, bzw. der Rechtsprechung im ebenso fernen Edinburgh. Die Highland-Kultur ging unter – und stand erst im romantisierenden 19. Jh. als touristisch angehauchte Fassade mit Kilt, Tartan und Dudelsack wieder auf. Durch die fortgesetzte Auswanderung aus den Highlands und den Zuzug in die neuen Industriegebiete in den zentralen Lowlands verschoben sich auch die Bevölkerungsgewichte dramatisch. Anstatt einer Parität noch zu Ende des 18. Jh. leben heute in den Highlands und auf den Inseln nur noch deutlich weniger als 10 % der schottischen Bevölkerung.55 Das bedeutet natürlich auch, dass die politische Vertretung wesentlich geringer ausfällt verglichen mit anderen schottischen Regionen.

4.4 Innerschottische Bruchlinien

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Geblieben ist in den Highlands ein Misstrauen gegenüber jeder Form von übermäßiger Zentralisierung. Das gilt nicht nur gegenüber London, sondern auch gegenüber Edinburgh. Die z. T. sehr abgeschiedene Lage bringt viele Herausforderungen mit sich. Schon 1989 stellte James G. Kellas fest: „Die Highlander sind in vielfacher Weise abhängig vom Rest des Landes. Das ist ein Teil des Preises für ein Leben in der Peripherie, mit seinen Problemen der Abgeschiedenheit und der Unterentwicklung. Aber in ihrer Politik zeigen sie eine beharrliche Unabhängigkeit und Nichtbereitschaft, sich schottischen (geschweige denn britischen) Normen anzupassen.“56

Auf einer praktischen Ebene äußert sich diese „Abgeschiedenheit und Unterentwicklung“ immer noch darin, dass in Teilen der Highlands die Bevölkerungszahl weiterhin zurückgeht. Das ist ein großes Problem, weil es die Überlebensfähigkeit mancher Inselgemeinschaft ernsthaft in Frage stellt. Andererseits hat sich in den letzten 30 Jahren vielfach ein erkennbarer Aufschwung in den Highlands gezeigt, der ein deutlich größeres Selbstbewusstsein mit sich brachte. Deutlich wird dies u. a. daran, dass die Bevölkerungszahlen im Allgemeinen erstmals wieder steigen. Allerdings betrifft dies eher die größeren Orte und Inseln, wie z. B. Inverness und Skye. Der Bevölkerungstrend ist also recht unterschiedlich innerhalb der Highlands. In Inverness gibt es nun erstmals eine Universität für die Highlands, was ganz wichtig ist, um junge Leute in der Region zu halten oder gar anzulocken. Auch konnten sich an der Westküste und auf den vorgelagerten Inseln in mehreren spektakulären Fällen die Einheimischen vom Großgrundbesitz freikaufen und mehrere Inseln (wie z. B. Eigg, Gigha oder Ulva) in eine Selbstverwaltung überführen.57 Dazu erhielten sie vom schottischen Parlament gesetzgeberische Unterstützung, die schottische Regierung sprang 2018 im Falle der Insel Ulva auch finanziell ein, weil auf dem Eiland nur noch fünf Personen permanent lebten.58 Die Zeiten ändern sich auch in den Highlands dramatisch und die frühere Abgeschiedenheit ist nicht mehr unbedingt ein politischer Nachteil. Gerade hier kann man deutlich sehen, dass das schottische Parlament durchaus einen Unterschied machen kann. Politisch äußerte sich das schon von Kellas erwähnte eher unabhängige politische Verhalten z. B. darin, dass die Äußeren Hebriden 1970 den allerersten SNP-Abgeordneten bei einer regulären Unterhauswahl nach London schickten. Zeitgleich konnten auch die Liberalen in den Highlands und auf den Inseln lange Zeit immer gute Ergebnisse erzielen, die im britischen Vergleich eher überdurchschnittlich waren. Selbst nach 2010, als die Liberalen durch ihre Koalition mit den Tories in London dramatische Stimmenverluste erlitten, konnten sie sowohl in Westminster wie auch in Holyrood zumindest ihre Mandate für Orkney und Shetland bewahren. Auf lokaler Ebene werden viele Mandate von parteiunabhängigen Kandidat:innen gewonnen.

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4 Gesellschaft und Identität

Orkney und Shetland Ein Sonderfall sind die Orkney-Inseln und Shetland: Diese beiden Inselgruppen im Nordatlantik gehörten noch bis 1468 zum norwegischen Königreich und wurden dann für 500 Jahre als Mitgift an das schottische Königreich „ausgeliehen“. Auf beiden Inselgruppen, insbesondere auf Shetland, bewahrten sich noch lange skandinavische Traditionen. Geographisch liegt Shetlands Inselhauptstadt Lerwick näher an Bergen in Norwegen als an Edinburgh. Und so sieht sich die Inselbevölkerung bis heute nicht unbedingt als Teil Schottlands. Im 20. Jh. hat sich die abgeschiedene Lage der Inseln jedoch rapide verringert, zum einen, weil die Orkney-Inseln im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Marine-Basis für die britische Flotte waren und die örtliche Bevölkerung vorübergehend zur Minderheit wurde. Zum anderen haben die Öl- und Gasfunde in der Nordsee seit den 1970er-Jahren beiden Inselgruppen viele Arbeitsplätze und große Einnahmen gebracht. Sie wurden voll in die Lieferketten der internationalen Ölindustrie integriert. Was bedeutet dies für Orkney und Shetland? Zum einen fühlen sich beide Inselgruppen nicht mehr als arme Bittsteller mitten im Nordatlantik. Das Selbstbewusstsein auf beiden Inselgruppen ist vergleichsweise groß – sowohl gegenüber London wie auch gegenüber Edinburgh. 1986 wandten sich z. B. orkadische Umweltschützer:innen an die norwegische und dänische Regierung mit der Bitte, doch die Souveränität über die Inseln wieder zu übernehmen, weil man mit der Atompolitik der britischen Regierung sehr unzufrieden war. Nur wenige Seemeilen von Orkney befindet sich an der schottischen Nordküste das inzwischen stillgelegte Atomforschungszentrum Dounreay. Natürlich verlief die Petition im Sande, erinnerte jedoch an die skandinavische Ausrichtung der Inseln.59 1975 stimmten Shetland und die Äußeren Hebriden als einzige Regionen in Schottland gegen den EU-Beitritt, 1979 stimmten Orkney und Shetland gegen die Einrichtung eines schottischen Parlaments und 2014 gab es hier besonders große Mehrheiten gegen eine schottische Unabhängigkeit. Nicht wenige Insulaner:innen befürchten, dass Edinburgh ihnen womöglich weniger Autonomierechte zugestehen könnte als bislang London. Aus diesem Grund versprach die SNP-Regierung 2013 im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums den Inselgruppen in der sogenannten Lerwick Declaration mehr Autonomierechte. Das mündete u. a. 2018 in den Islands (Scotland) Act.60 Auch erhielten Orkney und Shetland im schottischen Parlament jeweils einen eigenen Sitz, während sie im britischen Unterhaus nur über einen gemeinsamen verfügen. In vielen anderen Punkten haben sich Orkney und Shetland inzwischen jedoch dem schottischen Mainstream angepasst: So stimmten auch diese beiden Inselgruppen 2016 gegen den Brexit.

4.4 Innerschottische Bruchlinien

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Sprache Die Sprachvielfalt in Schottland ist auf mehreren Ebenen ein wichtiger Punkt für die Sicherung der eigenen Identität gegenüber England, aber auch eine Bruchlinie innerhalb Schottlands, die vor allem historisch von großer Relevanz war. Allgemeine Umgangssprache ist heutzutage natürlich Englisch. Es gibt aber daneben durchaus ausgeprägte Formen des Lowland Scots (oder auch: Lallan Scots), das für Außenstehende kaum zu verstehen ist. Ursprünglich galt Lowland Scots eher als Sprache der Bauern und damit nicht als gesellschaftsfähig. Doch der Nationaldichter Robert Burns führte im 18. Jh. den schottischen Dialekt des Englischen erfolgreich in die Literatur ein. Seine Kilmarnock-Gedichtsausgabe von 1786 „vor allem im schottischen Dialekt“ galt literarisch als revolutionär.61 Und bis heute gehört es bei politischen Debatten z. B. im schottischen Parlament zum guten Ton, dieses oder jenes Bonmot von Burns zu zitieren. Sprachlich hat Schottland aber noch mehr zu bieten. So wird im Nordosten des Landes noch das eher altertümliche Doric als schottischer Dialekt gesprochen. Durch die Öffnung des Landesteils in den letzten 50 Jahren ist dieser Dialekt jedoch stark auf dem Rückzug, auch wenn versucht wird, soviel zu retten wie möglich. Dorisch wird auch von anderen Schott:innen nicht wirklich verstanden.62 Im Ausland wesentlich bekannter ist das Gälische, das auf die keltischen Wurzeln der Highlands zurückgeht. Einst sprach die Hälfte der schottischen Bevölkerung Gälisch. Diese keltische Sprache gilt als die „erste Sprache Schottlands“.63 Die Kommunikation am Hofe der „Lords of the Isles“ auf den Hebriden fand im 14. und 15. Jh. selbstverständlich auf Gälisch statt, genau wie das reiche kulturelle Leben. Selbst der schottische König James IV. sprach Ende des 15. Jh. auch Gälisch. Doch mit dem politischen Niedergang der Clan-Gesellschaft begann auch der Niedergang der gälischen Sprache. An der Wende zum 20. Jh. gab es noch Menschen in den Highlands, die nur Gälisch sprachen. Heute beherrschen nur noch rund 60 000 Menschen die Sprache. Diese leben vor allem auf den Äußeren und Inneren Hebriden. Aber auch in Glasgow und Edinburgh gibt es größere Communities von Zugezogenen, die neben Englisch auch Gälisch sprechen können. Das Gälische war und ist historisch gesehen enorm wichtig, um Teile der Highland-Kultur über die Generationen weiterzureichen. So basiert ein bedeutender Teil der Folkmusik auf diesen gälisch-keltischen Wurzeln (► Kap. 4.3). In den letzten 50 Jahren wurde verstärkt versucht, in den Highlands das Gälische wieder zu fördern. Es gibt einen gälischen BBC-Sender (BBC Alba), auf Skye ein Gälisch-College sowie eine wachsende Anzahl von Schulen, die primär auf Gälisch unterrichten. So entsteht die teilweise skurrile Situation, dass die Kinder von Zugezogenen in der Schule nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Gälisch unterrichtet werden – die Eltern verstehen hingegen kein Wort. Das derzeitige

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Abb. 17: Straßenschild auf der Isle of Skye mit gälischen und englischen Bezeichnungen.

Ziel des schottischen Parlaments ist es, wieder auf rund 100 000 Gälisch-sprechende Personen zu kommen.64

Religion Die wesentliche Bruchlinie in religiöser Hinsicht verlief in Schottland lange zwischen der protestantischen Church of Scotland, ihren kalvinistischen Ablegern, der episkopalischen sowie der römisch-katholischen Kirche. Nach der gesetzlichen Festschreibung 1690 war Schottland lange ein rein protestantisch-kalvinistisches Land gewesen. Daneben existierte nur ein Ableger der anglikanischen Kirche – die episkopalische Kirche. Diese Kirche verfügt z. B. über Bischöfe. Im 19. Jh. gab es innerhalb der Church of Scotland schwere Zerwürfnisse, die insbesondere in den Highlands zur Gründung von noch strengeren Freikirchen führte. So galten insbesondere auf den Äußeren Hebriden bis vor wenigen Jahren noch äußerst strikte „Sabbat“-Regeln, sprich ein nahezu vollständiges Verbot für alle öffentlichen Aktivitäten an einem Sonntag. Diese Regeln beginnen sich jedoch zu lockern. So gibt es mittlerweile Sonntagsfähren, Tankstellen haben geöffnet und auch manches Restaurant. Hier findet eine Angleichung der kulturellen Gewohnheiten statt, die von traditionalistisch gesinnten Insulaner:innen sehr skeptisch und ablehnend bewertet wird. Die zahlenmäßig größte nicht-protestantische Religionsgemeinschaft ist heute mit Abstand die katholische Kirche. Ihr Wiedererstarken in Schottland verdankt sie der massenhaften Einwanderung aus Irland im 19. und 20. Jh. Die

4.4 Innerschottische Bruchlinien

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katholische Bevölkerung konzentriert sich demgemäß auf die westlichen Lowlands rund um Glasgow, wo die entsprechenden Industrie-Arbeitsplätze eine Einwanderungswelle ausgelöst hatten. Lange galten die katholischen Einwander:innen als gesellschaftlich benachteiligt. So gründeten sie eigene Vereinsstrukturen. Bekannt ist im Sport der Fußballverein Celtic Glasgow, der den protestantischen Rangers gegenübersteht. In Edinburgh gibt es eine ähnliche Paarung mit Hibernian und Heart of Midlothian. Bei Celtic und den „Hibs“ erinnert die grün-weiße Trikotfarbe an die irisch-katholischen Wurzeln. Generell gab es immer die Befürchtung, dass über die katholische Einwanderung womöglich der Irland-Konflikt nach Schottland herüberschwappen könnte (► Exkurs 4). Aber über die Jahrzehnte hat sich gezeigt, dass diese Sorge unbegründet war. Gesellschaftlich haben sich viele Einwander:innen über ihre Arbeitsplätze in der Industrie in die Labour-Bewegung integriert. Sowohl die Tories wie auch die SNP waren lange tabu, weil sie als zu protestantisch galten. Gerade die SNP hat jedoch in den letzten 20 Jahren intensiv um die katholischen Stimmen geworben und sich z. B. für Anti-Diskriminierung in den Fußballstadien stark gemacht. Das Resultat war, dass viele Nachfahr:innen der katholischen Einwander:innen heute SNP wählen und sogar für die schottische Unabhängigkeit stimmen. Das ist eine sehr erstaunliche Entwicklung, die von einer starken Assimilation in die schottische Gesellschaft zeugt.65 In jüngerer Zeit wurde die katholische Community durch die Einwanderung aus Polen erheblich verstärkt. Der Zustrom aus Polen dürfte durch den EU-Austritt jedoch erstmal zusammenbrechen. Zur religiösen Diversität hat zudem in erheblichem Umfang die Einwanderung aus Indien und Pakistan nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen, sodass sich insbesondere in und um Glasgow und Edinburgh Moscheen sowie Sikh- und Hindu-Tempel finden. Auf politischer Ebene dauerte es lange, bis sich diese Diversität widerzuspiegeln begann: Erst 2007 wurde der erste muslimische Abgeordnete ins schottische Parlament gewählt.66 Im Februar 2021 übernahm mit Anas Sarwar erstmals ein muslimischer Abgeordneter die Führung einer schottischen Partei, in diesem Fall von Labour. Sein Vater war 1997 der erste muslimische Unterhaus-Abgeordnete in London gewesen.67 Bei einer Nachwahl zum Unterhaus im Mai 2021 gewann für die SNP Anum Qaisar-Javed und wurde damit zur zweiten weiblichen, muslimischen Unterhaus-Abgeordneten Schottlands (► Kap. 4.6). Die jüdische Gemeinde in Schottland war traditionell nie sehr groß.68 Einer der bekanntesten jüdischen Politiker war der konservative Malcolm Rifkind, der unter Margaret Thatcher und John Major u. a. Schottland- und Verteidigungsminister war.69 Auch in Schottland kommt es leider immer wieder zu antisemitischen und antimuslimischen Vorkommnissen. So wurden ein SNP- und ein Labour-Kandidat 2019 im Vorfeld der Unterhauswahlen von ihren Parteien für antisemitische Äußerungen gemaßregelt. Ein Kandidat der Konservativen wurde von seiner Partei für antimuslimische Kommentare fallengelassen. Der SNP-Kandidat und heutige Unterhaus-Abgeordnete James Neale Hanvey wurde

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4 Gesellschaft und Identität

nach einer „bedingungslosen“ Entschuldigung später wieder in die Partei aufgenommen.70 Im März 2021 trat er aber zur neugegründeten Alba Party über. Die SNP schien darüber nicht unfroh zu sein. Die größte Herausforderung für die meisten Kirchen und Glaubensgemeinschaften ist allerdings, wie in Kap. 4.1 beschrieben, die stark zunehmende Säkularisierung. Die größte Bevölkerungsgruppe in Schottland fühlt sich heute keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft mehr zugehörig.

4.5

Die Ökonomie der Unabhängigkeit

Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Stärke Schottlands in Bezug auf die Unabhängigkeitsdebatte geht es im Kern immer um die Frage, ob Schottland ein reiches oder ein armes Land ist. Anhänger:innen der Unabhängigkeitsbewegung neigen selbstverständlich zur ersten These, Befürworter:innen der Union mit dem Vereinigten Königreich zu zweiter These. Geschichtlich gesehen hat das Pendel zwischen beiden Extremen öfters hin- und hergeschlagen. Das gilt insbesondere für die letzten fünf Jahrzehnte, sodass eine abschließende Beurteilung nur eingeschränkt möglich ist.

Empire und Industrialisierung Zunächst lohnt ein Blick zurück in die Geschichte: In Kap. 1.2 wurde gezeigt, dass die Vereinigung mit England 1707 auch aufgrund der misslichen wirtschaftlichen Lage Schottlands erfolgte. Das koloniale Darien-Abenteuer war gescheitert, die wachsenden „imperialen“ Märkte Englands hingegen waren verschlossen. In dieser Situation schien eine Vereinigung mit England auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll. Das Empire brachte Schottland dann im Zuge der Industrialisierung einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung. Aus dem kleinen Glasgow wurde zunächst die Stadt der Tabakbarone, später die Metropole der Reeder und Schiffsbauer. Kohle und Stahl brachten Arbeitsplätze und führten sogar zu einer Einwanderungswelle aus Irland. Doch der Niedergang des Empire und der sich zeitgleich ankündigende Niedergang der Werft- und Schwerindustrie brachten seit den 1960er-Jahren einen langanhaltenden wirtschaftlichen Abschwung mit sich. Und spätestens hier beginnen sich die Erzählungen der beiden politischen Lager voneinander zu trennen. Unionist:innen, darunter schon Margaret Thatcher, verwiesen immer wieder darauf, dass Schottland aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche eigentlich am Tropf der britischen Steuerzahler:innen hinge. Nationalist:innen hingegen schoben die Schuld für diesen Abschwung dem britischen Staat zu. Ohne dessen Versagen beim Erhalt der industriellen Arbeitsplätze wäre Schottland gar nicht

4.5 Die Ökonomie der Unabhängigkeit

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erst in diese Situation gekommen. So wie die sozialen Errungenschaften des britischen Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg London positiv zugerechnet worden waren, wurde jetzt auch die wirtschaftliche Talfahrt in den nationalisierten Industrien der britischen Regierung angelastet.71

Das Füllhorn: Öl und Gas Dieses Wechselspiel machte und macht die jeweilige wirtschaftliche Lage sofort zu einem Politikum. Angefeuert wurde die Debatte durch die Ölfunde seit 1969 vor der schottischen Nordseeküste. Aus dem armen Land war unbestreitbar ein potenziell reiches Land geworden. Die SNP nutzte diese unverhoffte Wendung der Dinge sofort politisch aus, indem sie 1974 mit dem Slogan „It’s Scotland’s Oil“ in den Wahlkampf zog – sehr erfolgreich, wie sich an den Wahlergebnissen zeigte.72 Unbestritten rettete das Nordseeöl den britischen Staat aus einer zu jenem Zeitpunkt schwierigen Finanzlage. Die Labour-Regierung musste 1976 sogar beim Internationalen Währungsfond (IWF) um finanzielle Hilfe nachsuchen.73 Das Öl war in dieser Situation quasi ein „Geschenk Gottes“ für die britische Regierung.74 Der Einfluss auf Schottland ist dagegen schwerer zu beurteilen. Unbestritten brachten die Öl- und Gasfunde insbesondere Aberdeen, aber auch Orkney und Shetland einen spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung. Aberdeen wurde zur Öl-Hauptstadt der Europäischen Gemeinschaft/Union mit bis zu 400 internationalen Firmen, die sich hier ansiedelten.75 Aber die Steuereinnahmen flossen eben zunächst in den britischen Haushalt und wurden von dort dann verteilt. Das führte zu der nächsten Beschwerde, dass der britische Staat Schottland künstlich arm halte. Aber die Mehrheit der schottischen Bevölkerung war Umfragen zufolge der Meinung, dass das Öl nicht nur Schottland, sondern ganz Großbritannien zugutekommen solle.76 So verlief letztlich die erst so erfolgreiche Ölkampagne der SNP wieder im Sande – erstaunlicherweise just zu dem Zeitpunkt, als die Einnahmen für den Staat so richtig zu sprudeln begannen. Hier erwiesen sich die Schott:innen als recht altruistisch – oder einfach auch nur als loyal britisch gesinnt.77 Das Öl blieb weiterhin ein wichtiges Thema und kam zuletzt 2013/14 beim Unabhängigkeitsreferendum wieder auf die Tagesordnung. Im White Paper Scotland’s Future, das die schottische Regierung im Vorfeld veröffentlichte, schätzte diese, die noch förderbaren Öl- und Gasvorkommen auf 24 Mrd. Barrel. Außerdem schlug sie die Einrichtung eines Öl-Fonds vor, so wie dies auch Norwegen getan hatte. Allerdings klang hier schon reichlich Nostalgie durch, weil explizit vorgerechnet wurde, dass Schottland bis 2012 bereits zwischen 82 und 112 Mrd. Pfund auf der hohen Kante hätte liegen haben können, wenn 1980 ein solcher Fonds für Schottland eingerichtet worden wäre. Das verweist klar darauf, dass die Hochphase der Ölförderung bereits vorbei ist und deshalb auch für die Zu-

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4 Gesellschaft und Identität

Abb. 18: Vorübergehend geparkte Bohrinseln nördlich von Inverness, bei Invergordon, 5. Juni 2018.

kunft nicht mehr als sichere Bank zur Finanzierung des Staatshaushalts genommen werden kann. Kein Wunder also, dass selbst die SNP schon 2013 bekannte, dass Schottland eigentlich gar nicht (mehr) vom Öl abhängig sei, weil die Wirtschaft ohnehin breiter aufgestellt sei als die norwegische.78 Die Steuereinkünfte aus der Öl- und Gasförderung sind seither weiter gesunken,79 sodass sich die Frage stellt, ob das Thema Öl für Schottland in der Zukunft noch eine große Rolle spielen wird. Dazu kommt die Selbstverpflichtung der schottischen Regierung, die CO2-Emissionen bis 2030 um 75 % gegenüber 1990 zu reduzieren und bis 2045 netto die Klimaneutralität zu erreichen.80 Eine weitere umfassende Förderung von fossilem Erdöl und Gas steht dem Erreichen dieser Klimaziele im Wege. Aus diesem Grund gibt es in Schottland von Umweltverbänden und Grünen großen Widerstand gegen neue Ölfelder in der Nordsee, wie z. B. das Cambo-Projekt. Der Protest brachte die schottische Ministerpräsidentin Sturgeon dazu, dem britischen Regierungschef Johnson im Sommer 2021 nahezulegen, keine neuen Ölfelder mehr zu genehmigen (► Kap. 3.4 und 5.1). Im Vorfeld der Weltklimakonferenz im November 2021 in Glasgow wollten sich die SNP und Sturgeon keine Blöße geben. Das gelang nur teilweise, weil die Umweltaktivistin Greta Thunberg die schottische Regierung für ihre Klimapolitik überraschend deutlich kritisierte und auf den Teppich zurückholte: Schottland sei nicht führend in der Welt beim Kampf gegen die Klimakrise. Einige Länder täten zwar „ein bisschen mehr als andere“, aber kein Land unternehme

4.5 Die Ökonomie der Unabhängigkeit

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bislang genug.81 Und wie zur Bestätigung der Kritik äußerte der zuständige SNPMinister Matheson, Schottland werde auch nach der Unabhängigkeit noch Öl und Gas fördern und vielleicht sogar noch neue Felder erschließen – während die Ministerpräsidentin letzteres in Glasgow eigentlich ausschloss und damit ihre eigene Haltung deutlich verschärfte.82 Wer bestimmte also die SNP-Politik zu Öl und Gas? Sturgeon traf sich in Glasgow mit Thunberg und der ugandischen Klimaaktivistin Vanessa Nakate, da sie im Gegensatz zu anderen Politiker:innen der Diskussion nicht auswich, und bekräftigte ihre Kritik am Cambo-Projekt. Das zeigte offensichtlich Wirkung, denn einen Monat später verkündete der Ölkonzern Shell seinen Ausstieg aus dem Projekt. Unter Klimagesichtspunkten ist das Ende von Öl- und Gasförderung dringend geboten. Schottland muss seine Wirtschaft also definitiv neu ausrichten – und zugleich anscheinend auch auf diesem Feld in einen scharfen Konflikt mit der weitgehend zuständigen britischen Regierung einsteigen (► Kap. 5.2). Eine klare Festlegung auf einen Ausstiegsfahrplan für Öl und Gas gab es von der schottischen Regierung jedoch nicht. Ein solcher fehlte auch im Koalitionsvertrag von SNP und Grünen. Im Gegenteil: Öl und Gas wurden noch im Oktober 2021 als „Schlüsselkomponente“ und „integraler Bestandteil“ der Wirtschaft gewertet.83 Es dürfte deshalb angesichts dieser fehlenden Eindeutigkeit spannend werden, wie sich die Klimapolitik der schottischen Regierung in Bezug auf Öl und Gas konkret weiterentwickelt – und wie die Regierung die Energiepolitik im Vorfeld eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums neu aufstellt.

Die Banken-Krise Ein weiteres für viele Jahre heiß debattiertes Thema waren die beiden schottischen Großbanken Royal Bank of Scotland und Bank of Scotland. Vielen SchottlandBesucher:innen sind sie schon allein deshalb bekannt, weil die beiden Banken zusammen mit der Clydesdale Bank bis heute das Recht haben, in Schottland eigene Geldscheine zu drucken. In England ist dieses Recht nur der Bank of England vorbehalten, in Schottland dürfen diese drei Banken aber nach Maßgabe der englischen Zentralbank eigene Noten in Umlauf bringen. Die Royal Bank geht bereits auf das Jahr 1727 zurück, die Bank of Scotland wurde sogar schon 1695 gegründet, nur ein Jahr nach der Bank of England. An der Wende zum 21. Jh. wuchs insbesondere die Royal Bank of Scotland (RBS) zu einer internationalen Großbank. Der ehemalige SNP-Ministerpräsident Alex Salmond hatte eine Zeitlang für die Bank gearbeitet. Kein Wunder also, dass allein die Existenz von großen schottischen Geldhäusern dazu verleitete, auch auf diesem Sektor für Schottland eine verheißungsvolle Zukunft vorherzusehen. Edinburgh galt und gilt als bedeutender britischer Finanzplatz. Die Nähe Salmonds zum Finanzsektor beschrieb Macwhirter als „keltischen Neoliberalismus“.84 Dieser indirekte Hinweis auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik von Margaret Thatcher beschreibt einen klaren Gegensatz zu sozialdemokratischen

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4 Gesellschaft und Identität

Ansätzen, die in Schottland von einer gesellschaftlichen Mehrheit gewünscht werden. Doch die Großmacht-Träume der Banken zerstoben wie eine Luftblase in der großen Bankenkrise, die ab 2007 die Weltmärkte erschütterte. Die Royal Bank verzockte sich in dem Jahr trotz der ersten deutlichen Warnzeichen spektakulär, als sie für 71 Mrd. Euro die niederländische Bank ABN Amro übernehmen wollte.85 Das öffentlich heftig kritisierte Gesicht zum Niedergang der RBS wurde ihr Vorstandsvorsitzender Frank Goodwin, der den Deal uneinsichtig durchzog. Im Ergebnis musste RBS 2008 vom britischen Staat mit 45 Mrd. Pfund Steuergeld vor dem Kollaps gerettet werden.86 Im Gegenzug übernahm der Staat 82 % der Geschäftsanteile – die Bank wurde also de facto verstaatlicht. Ende 2021 lag der Staatsanteil noch bei knapp 53 %.87 2020 wurde die Bank zudem dem Label der englischen NatWest untergeordnet. Ursprünglich hatte die RBS in den 1990erJahren die NatWest übernommen. Nun verdrehten sich die Rollen: RBS soll nach dem Willen der britischen Regierung als Marke primär nur noch in Schottland sichtbar sein.88 Das ist durchaus eine politische Entscheidung. Nicht ganz so dramatisch, aber in der Konsequenz ganz ähnlich erging es der zweiten schottischen Großbank, der Bank of Scotland. Diese hatte sich 2001 mit der englischen Halifax zur Halifax Bank of Scotland (HBOS) zusammengeschlossen, das Hauptquartier verblieb aber in Edinburgh. 2008 erwischte es auch die HBOS – sie wurde mitten in der Krise von der Lloyds TSB Bank übernommen und mit ihr zusammen vom Staat mit rund 20 Mrd. Pfund Steuergeld gerettet. Dafür übernahm der Staat auch hier 43 % der Geschäftsanteile.89 Das Ergebnis des dramatischen Banken-Crashs war, dass Schottland keinen eigenständigen Bankensektor mehr hat. Ein Eckpfeiler des von Alex Salmond gepriesenen „Bogens des Wohlstands“ war weggebrochen. Die Folgen davon waren für alle während des Unabhängigkeitsreferendums deutlich sichtbar: Die SNP schlug vor, das britische Pfund als Währung und die Bank of England als Zentralbank für Schottland zu behalten. Das stellte sich dann als einer der Hauptangriffspunkte der britischen Regierung während der Referendumsdebatte heraus, indem sie den Zugang zur britischen Gemeinschaftswährung versperren wollte (► Kap. 2.3). An diesem Punkt ist Schottland durch die Banken-Krise und den Versuch der beiden Großbanken, oberhalb ihrer Preisklasse zu spielen, radikal auf den harten Boden der Realität zurückgeholt worden. Es ist verständlich, dass die britische Regierung immer wieder darauf hinweist, dass in einer ähnlichen Krise eine unabhängige schottische Regierung womöglich gar nicht die Finanzreserven gehabt hätte, diese Bankenrettung durchzuführen. Andererseits hat die Deregulierung des Bankensektors der vorangegangenen Jahrzehnte sicherlich viel dazu beigetragen, dass Banken wie RBS oder HBOS überhaupt erst Geschäfte anpeilen konnten, die zu solchen massiven Verlusten führten.

4.5 Die Ökonomie der Unabhängigkeit

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Neue Boom-Bereiche am Limit: Energie, Whisky, Tourismus Wenn es also darum geht, die tatsächliche Wirtschaftsleistung des Landes zu beurteilen, lohnt ein Blick auf die derzeitigen Job-Motoren. Gerade Edinburgh ist immer noch vom Finanz- und Versicherungssektor stark geprägt, genau wie Aberdeen weiterhin eine Offshore-Stadt ist. Aber hier macht sich ein Wandel bemerkbar. Angetrieben von den ehrgeizigen Klimazielen der schottischen Regierung hat sich zu Lande wie zu Wasser ein Boom beim Ausbau Erneuerbarer Energien entwickelt. 2020 konnte Schottland bereits 97 % des eigenen Stromverbrauchs aus erneuerbaren Quellen speisen.90 Die installierte Leistung der erneuerbaren Energieträger hat sich seit 2009 verdreifacht. Einen Großteil macht hier die Onshore-Windenergie aus, aber auch offshore tut sich immer mehr. Das ist gerade für Hafenstädte von großer Bedeutung, um Kapazitäten von Öl und Gas auf den Bau und die Unterhaltung von Projekten im ErneuerbarenEnergien-Sektor umzulenken. Dieser Boom wirkt sich auf die Arbeitsplätze aus. So gab es 2017 rund 17 700 Jobs, die direkt mit der Erneuerbaren-Energien-Industrie verbunden waren. Ein zweiter nicht zu unterschätzender Wirtschaftsbereich in Schottland ist der Whisky. Die letzten Jahre lag der Wert der Whisky-Exporte bei rund 4 Mrd. Pfund, 40 000 Jobs hängen an der Industrie.91 Es ist also kein Wunder, dass die Whisky-Industrie besonders allergisch auf den Brexit reagierte, weil der Export

Abb. 19: Whisky-Fässer einer Destillerie auf der Insel Arran.

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in die EU rund ein Drittel des Umsatzes ausmacht. Die Erleichterung, dass es Ende 2020 doch noch ein Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien gab, war dementsprechend groß.92 Nichtsdestotrotz erlebte die Branche nach Jahren des ungebremsten Booms in jüngerer Zeit einige Rückschläge. 2020 fielen die Exporte um 23 %. Gründe dafür waren der Brexit, aber auch Strafzölle im Handel mit den USA sowie die weltweiten Reisebeschränkungen durch Corona.93 Das warf die Whisky-Industrie auf den Stand von 2010 zurück. Und gerade an der Scottish Whisky Association, welche die Industrie nach außen vertritt, werden die engen – und zugleich widersprüchlichen – Beziehungen mit der Politik deutlich. Von 2014 bis 2016 leitete den Whisky-Verband niemand anderes als der Brexit-Hardliner Lord David Frost. 2019 machte Johnson den ExDiplomaten zum Chefunterhändler mit der EU und 2021 zum Staatsminister für EU-Angelegenheiten. Während Frost politisch eine weitestmögliche Abkopplung vom EU-Binnenmarkt verhandelte, setzt der Whisky-Verband ganz im Gegenteil aus schierem Eigeninteresse auf möglichst reibungslosen und offenen Handel für die exportabhängige Industrie – ein klarer Interessenkonflikt und Widerspruch, der aber durchaus typisch für das heutige Großbritannien zu sein scheint. Ein letzter Sektor, der hier erwähnt werden soll, ist der Tourismus: Schottland erfreute sich in den letzten Jahren eines echten Aufschwungs, was zu einer Ausweitung des Angebots und damit zu mehr Arbeitsplätzen gerade im Hotelund Gastronomiebereich führte. Dieser Arbeitskräftebedarf wurde oft durch kurzfristige Einwanderung aus anderen EU-Ländern gedeckt. Gerade in Edinburgh fand man nur selten noch Hotels und Restaurants, die nicht zumindest teilweise auf ausländische Arbeitskräfte zurückgegriffen hätten. Über den gesamten Sektor verteilt schätzte die schottische Regierung den Anteil an EU-Arbeitskräften 2018 auf 11,5 %, manche Firmen beschäftigten aber sogar mehr als 50 % EU-Arbeitskräfte.94 Zugleich sorgte das für den Zuzug von jungen, dynamischen Menschen, die Schottland einen echten Bevölkerungszuwachs bescherten. Das wiederum begrüßte die schottische Regierung explizit, weil es der Gesamtwirtschaft einen deutlichen Schub gab.95 2020 brach auch diese Entwicklung vorerst ab: Zum einen führte die CoronaPandemie zu einem erheblichen Einbruch im Tourismussektor. Der Arbeitskräftebedarf sank rapide. 2021 kam es zwar wie in vielen Ländern zu einem starken Anstieg des inländischen Tourismus, aber gleichzeitig endete nun die Freizügigkeit für EU-Bürger:innen. In der Nach-Corona-Zeit dürfte es für die Tourismusbranche deutlich schwerer werden, freie Stellen zu füllen. Schon Ende 2019 – also noch vor Corona – fürchtete ein Drittel aller Unternehmen, die mit dem Tourismusbereich verbunden sind, dass die Folgen des Brexits womöglich zu ihrem Aus führten könnten. Diese Zahlen sind durch Corona und Brexit nicht besser geworden, wie sich im Herbst 2021 auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene durch die Versorgungs-

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engpässe an Tankstellen und in Supermärkten zeigte – hier ausgelöst durch einen eklatanten Mangel an LKW-Fahrern. Dazu kommt die Wiedereinführung der Reisepasspflicht im Oktober 2021 für EU-Bürger:innen. Es zeigt sich also, dass auch der Tourismusbereich als langjährige Wachstumsbranche unter enormem Druck steht. Hier wird verständlich, warum Schottland als unabhängiges Land innerhalb der EU die Einwanderung wieder erleichtern möchte. So ließe sich zum Beispiel der Tourismussektor wieder fördern. Kurz- und mittelfristig wird der Bereich aber wohl weiterhin unter den Folgen von Corona und Brexit leiden müssen.

Armes oder reiches Land? Die Analyse, ob Schottland nun ein armes oder reiches Land ist – und ob sich das Land außerhalb des Vereinigten Königreichs besser oder schlechter stellen würde, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer zu beantworten. Fakt ist, dass das Land tatsächlich über erhebliche wirtschaftliche Ressourcen verfügt, dass sich aber in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, wie schnell sich auch der Wind drehen kann. Industrien kamen und gingen, manch großer Traum ist zerplatzt. Zu dieser Unsicherheit kommt noch ein weiterer Faktor: Sollte Schottland unabhängig werden und wieder der EU beitreten, so hätte das Land keine direkte Land- oder Seegrenze mit der EU (es sei denn Nordirland würde sich eines Tages mit der Republik Irland vereinigen). Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nicht mal eine direkte Fährverbindung zwischen Schottland und dem europäischen Kontinent. Der zollfreie Im- und Export von Waren aus und in die EU bzw. den Binnenmarkt wäre also sehr komplex, weil der Transit durch England durch die neuen Brexit-Regeln erheblich komplizierter würde. Die schottischen Fischer z. B. beschweren sich schon jetzt über die Zollbarrieren zwischen Dover und Calais. Im Falle eines schottischen EU-Beitritts entstünde südlich von Edinburgh zumindest eine Zollgrenze, wahrscheinlich aber eine komplette, „harte“ EUAußengrenze. Diese schwierigen Grenzfragen wurden im Vorlauf zur Wahl 2021 erstmals intensiver in Schottland diskutiert.96 Wie gravierend die Auswirkungen des Brexits allein für den freien Warenhandel auf den britischen Inseln sind, zeigte 2021 das Beispiel Nordirlands (► Exkurs 4). Auch die Versorgungskrise im Herbst 2021 an den Tankstellen und in den Supermärkten war gravierend. So stellte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister, im September 2021 nochmals fest: „Es bleibt dabei: Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union gibt es einen Vertrag mit einem Drittstaat, der Hindernisse und Barrieren schafft und keine abbaut. Das betrifft Schottland genauso wie das gesamte Vereinigte Königreich.“97

Ein zentraler Faktor in der Diskussion „arm oder reich“ ist in Schottland die Tatsache, dass England mit Abstand der größte Handels- und Wirtschaftspartner für

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4 Gesellschaft und Identität

Schottland ist. Eine neue Grenze würde mit Sicherheit zunächst wirtschaftlichen Schaden anrichten, genau wie jetzt beim Brexit. Und so gingen Anfang 2021 Umfragen zufolge 42 % der Schott:innen davon aus, dass sie im Falle der Unabhängigkeit finanziell schlechter dastehen werden, nur 36 % denken, dass es ihnen besser gehen werde.98 Andererseits hat sich Irland in einer ähnlichen Situation auch auf eigene wirtschaftliche Beine gestellt. So verweist der irische Historiker O’Toole darauf, dass noch 1972 – dem Jahr vor dem gemeinsamen Beitritt Irlands und Großbritanniens zur EG – 61 % aller irischen Exporte nach Großbritannien gingen. 2018 waren es nur noch 18 % der Exporte im Dienstleistungs-Sektor und nur 14 % der Güter.99 Irland hat sich also durch den Beitritt zur EG/EU im Handelsbereich weitgehend von Großbritannien abgekoppelt. Aber der Prozess hat sich über mehrere Jahrzehnte hingezogen. Die schottische Finanzministerin Kate Forbes sieht Irland dennoch aufgrund der langfristigen Effekte als Vorbild für Schottland.100 Ob sich hier – wenn nicht kurzfristig, dann doch mittelfristig – eine praktikable Lösung zwischen Schottland und England finden ließe, muss derzeit unbeantwortet bleiben. Angesichts des strikten Johnson-Kurses ist eine gehörige Portion Skepsis angebracht. Sicher ist, dass Schottland seine direkten Verkehrsverbindungen in die EU drastisch ausbauen müsste. Ob das wirtschaftlich ist, muss hier dahingestellt bleiben. Andererseits ist zu bedenken, dass der EU-Binnenmarkt durch das spezielle Nordirland-Protokoll de facto weiterhin via Nordirland bis an die schottische Seegrenze im Südwesten reicht. Dadurch ist der Binnenmarkt definitiv in Sichtweite, was die Bedeutung Nordirlands und der Republik Irland für ein unabhängiges Schottland politisch wie wirtschaftlich deutlich erhöhen würde. Zusammengefasst bleibt letztlich festzuhalten, dass sich von der wirtschaftlichen Analyse im Vorfeld des Schottland-Referendums 2014 kaum noch ein Aspekt auf die heutigen Post-Brexit-Verhältnisse übertragen lässt. Anfang 2021 veröffentlichte z. B. die London School of Economics einen Report, der der schottischen Wirtschaft schwere wirtschaftliche Verluste im Falle der Unabhängigkeit vorhersagte.101 Aber wie so oft, sehen sich die Unionist:innen von derartigen Studien bestätigt, während die schottische Regierung auf die Wachstumschancen innerhalb der EU verweist.

4.6

Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen

Angesichts der z. T. sehr aufgewühlten Debatten um die staatliche Zukunft Schottlands innerhalb oder außerhalb Großbritanniens sowie innerhalb oder

4.6 Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen

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außerhalb der EU kommt der Frage nach der Selbsteinschätzung der schottischen Bevölkerung eine durchaus politische Relevanz zu. Allerdings ist die Aussagekraft vieler Umfragen an diesem Punkt oft recht beschränkt, weil sich nicht ableiten lässt, welche Schlussfolgerungen die Befragten bei der nächsten Wahl aus ihren Identitätsbekundungen ziehen werden. Rob Johns und James Mitchell sehen heute mehr die politischen Prozesse als die Identitätsfragen als entscheidend. Das erfolgreiche kulturelle Revival in Schottland in den 1970er- und 1980er-Jahren sowie der Thatcherismus hätten zu einer Verlagerung der Auseinandersetzungen in die politische Arena geführt. Die beiden Autoren sehen „einen Triumph der Politik über die Identität im schottischen Nationalismus“.102

Schottisch und britisch Die Frage nach einer Dualität zwischen schottischer und britischer Identität treibt politische Analyst:innen und Politiker:innen seit langem um. So stellten 1991 Midwinter, Mitchell und Keating Folgendes fest in Bezug auf eine schottische bzw. britische Identität: „[D]ie meisten kommen sehr gut aus mit einer dualen Identität, die auch die Gebiete der Kultur, Gesellschaft und Politik abdeckt.“103 Anfang 2014 schlug der damalige schottische First Minister Alex Salmond in einer Diskussion im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums einen ähnlichen Ton an: „Ich habe eine schottische Identität und eine britische Identität, ich besitze mehrere Identitätsschichten.“104 Beide Aussagen scheinen nahezu identisch zu sein und doch liegen in ihrer Zielsetzung und ihrer zeitlichen Zuordnung Welten. Während Midwinter et al. mit ihrem Statement noch begründen wollten, warum sich in Schottland keine reale politische Bewegung für ein schottisches Parlament entwickelte, wollte Salmond mit seiner Aussage vor allem solche Wähler:innen für die schottische Unabhängigkeit gewinnen, die fürchteten, ihre britische Identität in einem unabhängigen Schottland zu verlieren. Und damit wird schon vieles deutlich: Heute hat es schon Nachrichtenwert, wenn sich jemand von der SNP-Spitze auch zu einer „britischen“ Identität bekennt, während früher den Identitätszuschreibungen praktisch keine politischen Auswirkungen zugesprochen wurden. Dabei ließen schon in den 1970er-Jahren Umfragen erkennen, dass sich eine Mehrheit der Schott:innen eher als „schottisch“ denn als „britisch“ sieht. 1979 gaben z. B. 53 % der Befragten in einer Wahlstudie zu Protokoll, sie sähen sich eher als „schottisch“, und nur 35 % sahen sich eher als „britisch“.105 Aber diese Selbstzuschreibungen setzten sich eben nicht in entsprechende Wahlergebnisse für die SNP um. Zu jener Zeit gab es keine klare Wechselbeziehung zwischen einer „schottischen“ Identität und einer Stimmabgabe für die SNP. Das ist interessant, weil zu jener Zeit offensichtlich die Labour Party durchaus noch in der Lage war, sich als kompetente Interessenvertreterin für Schottland darzustellen. Wer

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seine schottische Identitätszuschreibung politisch ausleben wollte, musste also nicht gleich ins nationalistische Lager wechseln. Diese Lage blieb im Jahrzehnt der Thatcher-Regierung und der dann folgenden Major-Regierung im Wesentlichen unangetastet. Gewiss, eine Mehrheit der Schott:innen fühlte sich durchaus schon damals mehr schottisch als britisch. Gerade deshalb traf sie die neoliberale Politik der Thatcher-Regierung doppelt hart. Zum einen war der Verlust der industriellen Arbeitsplätze wirtschaftlich wie persönlich ein einschneidendes Erlebnis für viele Haushalte. Zum anderen werteten viele Schott:innen Thatchers Neoliberalismus als klaren Verstoß gegen die eher sozialdemokratisch ausgeprägten schottischen Gesellschaftswerte – Thatchers Politik galt damit im Kern als anti-schottisch. Thatcher und Major wurde angelastet, eine Regierung zu führen, die über kein „schottisches Mandat“ verfügt. Dies war für Nationalist:innen ein argumentatives Geschenk.106 Diese schottische Sichtweise unterscheidet sich von dem Effekt, den die Thatcher-Regierung zum Beispiel auf Nordengland hatte, wo die Deindustrialisierung in den 1980er-Jahren nicht weniger brutal war. Damals wählten beide Regionen mehrheitlich Labour. Doch 2019 wurde in Nordengland erstmals in großem Umfang Thatchers Tory Party unter der Führung von Boris Johnson gewählt. In Schottland steht seit 2007 hingegen die SNP an der Spitze. Hieran lässt sich erkennen, dass die unterschiedlichen Identitätszuschreibungen in den verschiedenen britischen Regionen in den letzten 40 Jahren langfristig eben doch zu sehr unterschiedlichen politischen Ergebnissen geführt haben. Nichtsdestotrotz gibt es in Schottland noch immer in weiten Teilen der Bevölkerung ein britisches Lebensgefühl. Eine Studie der Uni Edinburgh ergab 2014/15: „‚Britannien‘ bleibt ein herausragender und bedeutungsvoller Bezugsrahmen, obwohl mehr und mehr Menschen in England und Schottland ihre eigene Identität nicht mehr hauptsächlich als britisch definieren.“107

Insofern ergab der Versuch von Alex Salmond, auch „britisch“ fühlende Wähler:innen offensiv für die schottische Unabhängigkeit zu gewinnen, durchaus Sinn. Das galt auch für den Versuch von Gordon Brown im Frühjahr 2021, die von ihm als „middle Scotland“ verortete große Gruppe der Unentschiedenen (wieder) für die Union zu gewinnen. Für Brown gehören 40 % der Bevölkerung zu diesem nicht präzise festgelegten „middle Scotland“. Brown kritisierte dabei zugleich scharf Premier Johnson, weil der die große Mittelgruppe zu einer Entscheidung zwischen „britisch“ und „schottisch“ zwinge. Das zerstöre das Fundament der Union. Johnson dürfe als „Minister für die Union“ nicht zum alleinigen „Minister für die Unionisten“ werden.108 Er warf sowohl Johnson wie auch Sturgeon vor, die Schott:innen vor eine vereinfachende binäre Wahl stellen zu wollen:

4.6 Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen

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„Indem die Beiden versuchen, die Schott:innen zu einer Wahl zwischen Schottland und Großbritannien zu zwingen, arbeiten sie gemeinsam daran, die komplexe dreidimensionale Realität Schottlands in einen zweipoligen, zweidimensionalen Wettbewerb zu verwandeln.“109

Diese Analyse erinnert stark an ähnliche Analysen vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2014. Wie steht es also konkret um die britische Identität in Schottland?

Erosion der britischen Identität Wie schon in Kap. 4.2 ausgeführt, gibt es viele Gründe, warum das Gefühl, vorwiegend britisch zu sein, in Schottland in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen hat. Wichtige Identitätsträger, wie die verstaatliche „britische“ Industrie oder die Armee, haben rapide an Bedeutung verloren. Auch die Kirche hat stark an Einfluss verloren. Zudem brachte Margaret Thatcher mit ihrer als unsozial eingestuften Politik selbst eher konservative Kirchenleute in Schottland gegen sich auf. Es gibt also immer weniger Möglichkeiten, die britische Union als positiv zu erleben. Eine der letzten Säulen ist tatsächlich die Monarchie. Angefangen mit Margaret Thatcher und fortgesetzt durch David Cameron, seinen Schatzkanzler Osborne sowie Brexiteers wie Nigel Farage und natürlich auch durch den heutigen Premierminister Boris Johnson, lassen sich entscheidende Vertreter:innen des britischen Polit-Establishments heute leichter als „englisch“ denn als „britisch“ charakterisieren. So wird auch der Brexit als vorwiegend „englisches“ Projekt wahrgenommen.110 Das macht es vielleicht noch zögernden Menschen in Schottland leichter, sich im Gegenzug eher als „schottisch“ zu sehen. Der Einfluss schottischer Politiker:innen in Westminster ist in den letzten zehn Jahren spürbar zurückgegangen. Da die Tories kaum noch eine Machtbasis in Schottland haben, fehlt ihnen in Westminster der entsprechende Zulauf. Auch bei Labour macht sich dies bemerkbar. Die letzte landesweit noch bekannte Stimme ist Ex-Premier Gordon Brown. Es kam wohl nicht von ungefähr, dass er es als schottischer Politiker in den entscheidenden letzten zwei Wochen vor dem Referendum 2014 schaffte, mit seinem Versprechen nach deutlich mehr Autonomie in der schottischen Öffentlichkeit durchzudringen (► Kap. 2.3). Nunmehr ist Brown aber außerparlamentarisch aktiv. In allen gesellschaftlich relevanten Fragen der letzten 20 Jahre – vom IrakKrieg über die Studiengebühren bis zum Brexit – schaffte es die schottische Labour-Sektion nicht, dem eigenen Wahlvolk spezifisch schottische Antworten anzubieten, oder aber zumindest gegenüber der Parteispitze in London auch mal auf klaren Konfrontationskurs zu gehen. Was könnte es für die schottische, eher sozialdemokratisch gesinnte Wählerschaft heute bedeuten, britisch zu sein? Diese Frage blieb und bleibt offen im Raum stehen. Genau daran versuchte Gordon Brown Anfang 2021 anzuknüpfen (s. o. und ► Kap. 5). Da sich die eigene Ba-

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sis nicht mehr so britisch fühlt wie vielleicht noch vor 60 Jahren, führte der unselbstständige Kurs von Scottish Labour die letzten Jahre ins politische Abseits. Mit Labours Abstieg verliert die Union mit England in Schottland aber eine wichtige politische Stimme. Besonders ausgeprägt ist die Erosion der britischen Identität natürlich bei SNP-Anhänger:innen. So sahen sich 2015 77 % dieser Personengruppe als schottisch und nicht als britisch, 2010 waren es nur 36 % gewesen.111 Hier zeigt sich mit Sicherheit der Effekt der langen Referendumskampagne für die schottische Unabhängigkeit. Dennoch sollte man auch hieraus keine voreiligen Schlüsse ziehen, dass britische Identität in Schottland ein Auslaufmodell ist, wenn sich selbst jemand wie Alex Salmond offensiv dazu bekennt. Auch Tennis-Star Andy Murray hatte überhaupt kein Problem damit, 2014 für die schottische Unabhängigkeit zu stimmen, 2012 und 2016 aber mit „Team GB“ bei Olympia anzutreten. Von daher hatte die Universität in Edinburgh in ihrer oben angeführten Untersuchung sicher recht, dass eine „britische“ Identität weiter von Bedeutung bleibe. Dennoch lässt sich unbestritten festhalten, dass die Identitätsfrage in Schottland politisch heute anders beantwortet wird als vor 30 Jahren. Nicht mehr Labour gilt als wichtigster politischer Vertreter für die Wahrung von schottischen Interessen, sondern seit 2007 eben die SNP – und wer die SNP wählt, ist sich bewusst, dass damit auch die politische Forderung nach mehr politischer Eigenständigkeit, ja sogar nach Unabhängigkeit verbunden ist. 2020 haben sich zudem erstmals konsistente Umfrage-Mehrheiten für eine schottische Unabhängigkeit ergeben. Es ist also durchaus so, dass die sich wandelnde Selbsteinschätzung als schottisch oder britisch inzwischen auch politische Konsequenzen hat. Wie dauerhaft diese Bewegung in den Umfragen ist, ist natürlich immer eine ganz andere Frage. 2021 pendelte sich das Verhältnis zwischen Unabhängigkeitsbefürworter:innen und Pro-Unionist:innen bei ca. 50 : 50 ein. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass selbst die Schottische Nationalpartei sich nicht als „anti-englisch“ versteht. Auch deshalb war das Statement von Salmond 2014 so bedeutend, weil er verhindern wollte, dass die Referendumskampagne in einen schottisch-englischen Konflikt mündete. Die Betonung der vielen Gemeinsamkeiten ist ein nicht zu unterschätzender beruhigender Einfluss auf die schottische Gesellschaft – der sicherlich auch dem Nordirland-Konflikt geschuldet ist.

Einwanderung als gesellschaftlicher Faktor Die schottische Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten deutlich vielfältiger geworden. Nennenswerte Einwanderung aus Indien, Pakistan, Bangladesch und China sowie aus der EU haben neben der Zuwanderung aus England, Wales und

4.6 Schottisch, britisch oder europäisch: Identitätsbestimmungen

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Irland dazu beigetragen, dass das Land spürbar multikultureller geworden ist. Das hat auch Auswirkungen auf die Identitätsbestimmung der Bevölkerung. Dass es überhaupt nennenswerte Einwanderung nach Schottland gibt, ist in sich schon fast ein Politikum. Seit Mitte des 18. Jh. hatte das Land primär als Auswanderungsland gegolten. Insbesondere die Highlands leiden noch heute gesellschaftspsychologisch unter der massiven Entvölkerung. Eine erste Gegenbewegung war ab Mitte des 19. Jh. die Arbeitsmigration aus Irland in die Industriezentren rund um Glasgow. Das führte dazu, dass es in Schottland wieder eine nennenswerte katholische Community gab. Doch die Auswanderung lief parallel dazu weiter. Noch zwischen 1950 und 1970 hatten rund 300 000 Menschen Schottland verlassen.112 In einem Land mit nur rund 5 Mio. Einwohner:innen sind das dramatische Zahlen. In den letzten 20 Jahren drehte sich jedoch der Trend: Die Bevölkerungszahl stieg nunmehr kontinuierlich auf mehr als 5,4 Mio. Menschen – Schottland ist damit de facto zu einem Einwanderungsland geworden – eine Tatsache, auf die die schottische Regierung sehr stolz ist, weil sie aus ihrer Sicht die Attraktivität des Landes belegt.113 Die Einwanderung speiste sich aus drei Richtungen: Zum einen nahm die „interne“ Migration aus anderen Teilen des Vereinigten Königreichs zu. Seit 2000 brachte dies einen Netto-Zuwachs von fast 150 000 Personen. Zum zweiten führte die Freizügigkeit innerhalb der sich erweiternden EU zu einem deutlichen Anstieg an EU-Bürger:innen in Schottland. Allein zwischen 2004 und 2018 wuchs ihre Anzahl von 52 000 auf 220 000 Personen. Aber auch die Anzahl der Nicht-EU-Bürger:innen stieg von 74 000 auf 131 000 Personen.114 Alles zusammen machen die neuen Einwander:innen gut 8 % der Bevölkerung aus und es zeigt sich, wie wichtig die Einwanderung für Schottland geworden ist. Dazu kommen die vielen Migrant:innen, die im Laufe der Jahrzehnte die britische Staatsbürgerschaft angenommen haben und statistisch deshalb nicht mehr gesondert erfasst werden.115 In Bezug auf die Identitätsfragen ist die Einwanderung deshalb wichtig, weil von unterschiedlichen Communities unterschiedliche politische Zielrichtungen verfolgt werden. So ist von „internen“ Zuwander:innen aus dem restlichen Vereinigten Königreich ein stärkerer Wunsch zu erwarten, dass Schottland britisch bleibt. Eine typische und sehr prominente Vertreterin dieser Gruppe ist die Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling (► Kap. 2.3). EU-Bürger:innen setzen hingegen verständlicherweise verstärkt auf die fortgesetzte Freizügigkeit im Reisealltag und beruflichen Fragen mit ihren Heimatländern. Für diese deutlich gewachsene Gruppe stehen „britische“ Werte nicht im Vordergrund – ihr Hauptbezugspunkt ist tatsächlich Schottland. Für die Einwander:innen aus Südasien und ihre Nachfahren hingegen lässt sich auf den ersten Blick keine direkte Festlegung erkennen. Gerade die letzten Jahre – und insbesondere die Wahlen in 2021 – haben gezeigt, dass die Zuwander:innen und ihre in Schottland geborenen

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Kinder und Kindeskinder immer stärker im gesellschaftlichen Mainstream verankert sind. Sowohl die SNP, Labour wie auch die Tories verfügen in ihren Fraktionen über prominente Vertreter:innen mit asiatischen Familienwurzeln. Wie fließend hier die Parteigrenzen (noch) sind, zeigt sich an den beiden ersten weiblichen muslimischen Unterhaus-Abgeordneten aus Schottland. 2015 zog Tasmina Ahmed-Sheikh für die SNP ins Unterhaus ein. Sie war ursprünglich Mitglied der Tories gewesen, verließ diese aber wegen der harten Einwanderungspolitik. Nach ihrer Abwahl 2017 begann sie, die höchstumstrittene Talkshow von Alex Salmond für den russischen Propagandasender Russia Today zu produzieren. Sie folgte 2021 Salmond in dessen Alba Party. 2021 gewann bei einer Nachwahl mit Anum Qaisar die zweite Muslimin in Schottland für die SNP einen Unterhaussitz. Die 1992 in Schottland geborene Abgeordnete war bis 2014 Labour-Mitglied und verließ die Partei, weil diese gegen die Unabhängigkeit aufgetreten war. Insofern verkörpert Qaisar auch das Dilemma von Labour, große Teile ihrer eigenen Wählerschaft in der Unabhängigkeitsfrage nicht halten zu können. Vor diesem Hintergrund war die Wahl von Anas Sarwar zum LabourChef im Februar 2021 vielleicht auch ein Signal an die Community, Labour nicht ganz abzuschreiben. Die erhebliche Zuwanderung macht die schottische Gesellschaft jedenfalls in vielerlei Hinsicht vielfältiger – und sie bricht das bisherige binäre Denkschemata „schottisch oder britisch“ bis zu einem gewissen Punkt auf. In Bezug auf die Unabhängigkeitsfrage scheinen sich die Effekte jedoch in etwa die Waage zu halten, weil unterschiedliche Einwander:innengruppen zum Teil gegensätzliche Vorstellungen mit sich bringen. Generell wirkt der positive Einwanderungstrend dem Alterungstrend in der schottischen Gesellschaft entgegen – aber der EU-Austritt bedroht diese Entwicklung aktuell massiv. Da die schottische Regierung keinen Einfluss auf die landesweite Migrationspolitik hat, ist dies einer der wichtigsten Konfliktpunkte zwischen Edinburgh und London.

Trumpfkarte Europa? Eine dritte Ebene der Identitätsbestimmung ist die europäische. Das Brexit-Referendum 2016 hatte die Frage in den Vordergrund geschoben: „Wie hältst du es mit der EU?“ Schottland hat diese Frage mehrheitlich pro-europäisch beantwortet. Aber ganz so leicht ist die Sache nicht (► Exkurs 2). David Torrance sprach davon, dass Schottland vielleicht nur weniger euroskeptisch sei, aber nicht genuin europhil. Der ehemalige Journalist David Gow sieht die schottische Politik überhaupt nicht als europäisch ausgerichtet, sondern eher als „provinziell“. Die Frage ist also, wieviel Reibung mit dem englischen Nachbarn würde Schottland wirklich auf sich nehmen, um wieder der EU beizutreten?

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Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon ließ jedenfalls keinen Zweifel an der pro-europäischen Einstellung ihrer Regierung: In einem Interview Ende 2020 verwies sie darauf, dass Schottland eigentlich ihr ganzes Leben lang Mitglied der EG/EU gewesen sei.116 Und zum Auslaufen des Übergangsvertrags mit der EU twitterte sie kurz danach, Europa solle „ein Licht anlassen“, denn Schottland werde „bald zurück“ sein.117 Dazu passend verkündete die schottische Regierung im Februar 2021, in Zukunft an Regierungsgebäuden nur noch die schottische und die EU-Fahne zu hissen, nicht aber mehr die britische.118 Im Gegenzug kündigte die britische Regierung an, dass an „britischen“ Gebäuden auch die britische Fahne hängen soll. Das ist natürlich zunächst einmal reine Symbolpolitik und hat jenseits von ein paar Medienschlagzeilen keine konkreten Auswirkungen. Die Frage bleibt dennoch: Möchten die Schott:innen lieber ein Teil der politisch und wirtschaftlich in der EU organisierten europäischen Familie sein und dafür den Bruch mit ihren englischen Nachbarinnen und Nachbarn riskieren oder schreckt die Mehrheit letztlich vor diesem ultimativen Schritt und einer echten Landgrenze – einem neuen Hadrianswall – zwischen England und Schottland zurück? In einem sehr beweglichen politischen und gesellschaftlichen Umfeld, das durch die beiden großen Referenden 2014 und 2016, durch die folgenden Regierungswechsel in London, durch den nunmehr vollzogenen Brexit und durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie ständig neuen Herausforderungen und intensiven Debatten ausgesetzt ist, ist es sehr schwer, aktuell verlässliche – und vor allem über einen längeren Zeitraum verlässliche – Daten zu erhalten. Die Identitätszuschreibungen werden weiterhin in Bewegung bleiben – und wahrscheinlich wird das Pendel weiterhin stärker in Richtung „schottisch“ ausschlagen. Für die Zukunft des Vereinigten Königreichs entscheidend wird die Frage sein, was Großbritannien den Menschen in Schottland anbietet, damit sie sich auch in fünf, zehn oder zwanzig Jahren noch positiv als „britisch“ fühlen können. Die Antwort darauf dürften derzeit nur wenige Menschen kennen.

Exkurs 4: Schottland und die Nordirland-Frage Schottland und Irland verbindet eine jahrhundertelange Geschichte. Politisch und geographisch sind Schottland und insbesondere Nordirland bis in die heutige Zeit eng miteinander verbunden – manchmal sogar enger, als die meisten Akteure es wahrhaben wollen. Der Bürgerkrieg in Nordirland und der Brexit haben dies nur allzu deutlich gemacht.

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Geschichte, die nicht vergeht Im frühen Mittelalter war die See zwischen Irland und Schottland keine Grenze, sondern eine offene Verbindung. So kam der wichtigste christliche Missionar der Highlands, der hl. Columba, aus Irland. Er siedelte sich im 6. Jh. auf der Hebriden-Insel Iona an, die wiederum zu einem wichtigen spirituellen Zentrum Schottlands wurde. Mehrere Könige wurden hier begraben. Irland und die schottische Westküste verband eine gemeinsame keltisch-gälische Kultur. Die schottische und englische Reformation im 16. Jh. und der Aufstieg der Stuarts zu englisch-schottischen Doppel-Königen 1603 änderten die Geschäftsgrundlage dramatisch. Der neue britische König James I. (bzw. in Schottland James VI.) wollte den irischen Aufständen gegen die englische Herrschaft mit einem neuen Mittel beikommen: Er lud vor allem schottische, aber auch englische Siedler:innen in den Norden Irlands ein. Ländereien von katholischen Stammesfürsten wurden eingezogen. Diese 100 Jahre andauernde, staatlich durchgesetzte Einwanderung in den Norden Irlands wurde als Ulster Plantation bekannt und stellte eine Form der Kolonisierung dar. Sie führte dazu, dass im Norden Irlands eine nennenswerte schottisch-kalvinistische und englisch-anglikanische Gemeinde entstand, die letztlich die Grundlage für die religiöse Spaltung der Insel legte. Insofern ist Schottland historisch an diesem unrühmlichen Versuch, Irland ganz der britischen Krone zu unterwerfen, aktiv beteiligt gewesen. Die Geschichte wurde im 19. Jh. aber noch komplexer, als die aufstrebenden Industrien vor allem im Westen Schottlands in großer Anzahl Arbeitskräfte aus dem damaligen Armenhaus Irland anzogen. So erhielt die bis dahin rein protestantische Gesellschaft in Schottland auf einmal wieder eine große katholische Community. Viele Ir:innen waren zudem durchaus neidisch darauf, dass Schottland vom britischen Empire so stark profitierte, Irland jedoch nicht. Die allgemeine Benachteiligung und fehlende politische Autonomie führten in Irland ab Mitte des 19. Jh. zu einem immer größeren Unmut über die britische Herrschaft auf der Insel. Die halbherzigen Versuche, Irland (und Schottland) eine Form von politischer Autonomie anzubieten, scheiterten bis zum Ersten Weltkrieg (► Kap. 1.3). Die wachsende politische Unruhe auf der „grünen Insel“ hatte Auswirkungen bis in die irischstämmigen Gemeinden Schottlands. So fand sich auch hier Unterstützung für die irischen Aufstände zu Beginn des 20. Jh. Einer der Anführer des Dubliner Oster-Aufstands 1916 gegen die britische Herrschaft war James Connolly – und dieser wurde 1868 in Edinburgh geboren. Connolly wurde im Mai 1916 hingerichtet.119 Er gilt in der Republik als wichtiger Freiheitskämpfer und ein Bahnhof in Dublin wurde nach ihm benannt.

Die irische Teilung Das 20. Jh. war in Irland vom Freiheitskampf, der daraus resultierenden Teilung der Insel und dem später aufflammenden Bürgerkrieg in Nordirland geprägt.

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Diese zum Teil sehr blutigen Entwicklungen in Irland hatten auf alle politischen Akteure in Schottland einen mäßigenden Einfluss. Niemand wollte Schottland einer ähnlichen Zerreißprobe unterziehen, wie sie in Irland zu beobachten war. Vielleicht war auch deshalb der Appetit der schottischen Bevölkerung nach mehr politischer Autonomie lange so unterentwickelt. Die Entwicklungen in Irland demonstrieren in vielen Punkten, wie eine Trennung vom britischen Königreich nicht verlaufen sollte. 1918 hatte die republikanische Partei Sinn Féin eine Mehrheit der irischen Sitze im britischen Unterhaus erzielt und strebte nun die Loslösung vom Vereinigten Königreich an. Das führte zu drei Jahren blutigem Bürgerkrieg und 1921 zur Teilung der Insel auf britische Initiative hin.120 Dabei zeigte sich die rücksichtslose Haltung der britischen Regierung, die lieber die irische Insel in zwei Teile spaltete, als einer gesamtirischen Lösung zuzustimmen. So behielt London wenigstens seinen direkten Einfluss über den Nordteil der Insel. Genau genommen hoffte man, dass auch der Süden Irlands unter britischem Einfluss verbliebe. Um die Insel-Teilung politisch umsetzbar zu machen, wurden für das neue politische Gebilde „Nordirland“ nur die sechs Grafschaften der historischen Provinz Ulster ausgewählt, die zusammengenommen weiterhin eine deutliche protestantische Mehrheit garantierten. Es entstand ein „protestantischer Staat“ mit eigenem Regionalparlament und eigener Regierung.121 Anders ausgedrückt: Zu jenem Zeitpunkt bekam also selbst Nordirland, was Schottland so vehement verwehrt wurde. In Großbritannien war man der „irischen Frage“ allerdings bald mehr als überdrüssig. So stellte Anfang 1922 der damalige britische Kolonialminister (sic!) Winston Churchill im Unterhaus fest, dass nun in Irland wieder genau „die trostlosen Kirchtürme von Fermanagh und Tyrone“ aus der „Sintflut“ des Ersten Weltkrieges aufgetaucht seien, über die man schon zuvor gestritten habe.122 Fermanagh und Tyrone liegen in den besonders umstrittenen Teilen der Provinz Ulster, wo die Grenzziehung bis heute ein Politikum ist. Im Übrigen war Churchill strikt gegen eine irische Republik im Süden der Insel. Die Rede Churchills ist vor allem interessant, wenn man sich die historische Entwicklung Irlands nach 1922 anschaut. Denn zum einen entstand 1948 genau diese irische Republik, die Churchill verhindern wollte. Es war zwar ein langer Weg vom 1922 geschaffenen Irish Free State, der nominell immer noch dem britischen Empire unter der britischen Krone angehörte, bis zur endgültigen Unabhängigkeit. Aber die Ir:innen im Süden der Insel waren nicht aufzuhalten. Zum anderen aber kann es nur als bittere historische Ironie gewertet werden, dass sich die britische Regierung immer wieder in den letzten 100 Jahren mit den „trostlosen Kirchtürmen von Fermanagh und Tyrone“ beschäftigen musste, weil sich die Probleme als zu tiefgehend erwiesen hatten: So wurden die härtesten Auseinandersetzungen beim Brexit um die Frage der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland ausgefochten. Zuvor hatte die britische Regierung 30 Jahre lang ziemlich planlos vor dem nordirischen Bürgerkrieg gestanden – heftig involviert, aber ohne Lösungsstrategie.

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So bewahrheitete sich Churchills Prophezeiung von 1922, dass der Einfluss Irlands auf die britische Politik größer sei, als vermutet: „Das sagt eine Menge aus über den Einfluss, den sowohl das nationalistische wie das protestantische Irland auf die wichtigsten Lebensadern des britischen Lebens und der britischen Politik ausüben. Sie können Jahr für Jahr, Generation für Generation, die Politik unseres mächtigen Landes in Atem halten, dominieren und erschüttern.“123

Aus diesen Zeilen drang im Rückblick auf die bitteren Jahre des ersten irischen Bürgerkriegs das Eingeständnis durch, dass es für Irland keine einfachen Lösungen gibt. Diese ernüchternde, aber realistische Erkenntnis ging über die Jahrzehnte allerdings wieder verloren. Ansonsten hätte sich die britische Regierung wahrscheinlich nicht so leichtsinnig militärisch in den sich verschärfenden Nordirlandkonflikt Ende der 1960er-Jahre eingemischt.

Nordirland als abschreckendes Beispiel Was außerhalb von Irland als Bürgerkrieg zwischen protestantischen und katholischen paramilitärischen Einheiten und der britischen Armee bezeichnet wird, hieß vor Ort seit Ausbruch der Gewalt Ende der 1960er-Jahre verharmlosend immer nur „The Troubles“ – „die Unruhen“. Mehr als 3 500 Menschen bezahlten die drei blutigen Jahrzehnte mit ihrem Leben. Die Selbstverwaltung brach zusammen, London übernahm die direkte politische Kontrolle. Im Kern ging es darum, dass die protestantische Mehrheit Nordirlands unter keinen Umständen mit der katholischen Minderheit einen politischen Kompromiss eingehen wollte und selbst einen partiellen Machtverzicht oder gar eine Machtteilung kategorisch ablehnte. Stattdessen setzte man ganz auf die Hilfe und Unterstützung der britischen Regierung und Armee. Teile der katholischen Minderheit sahen sich dadurch ermutigt, den Konflikt über die paramilitärische IRA bewaffnet zu führen, auch auf protestantischer Seite entstanden paramilitärische Verbände – ein Teufelskreis, der lange ohne erkennbaren Ausweg schien. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass der Bürgerkrieg aus einer friedlichen Bürgerrechtsbewegung entstand, so wie sie in den 1960er-Jahren vielerorts in Europa und den USA existierte. Im neuen Bürgerkrieg zementierte sich eine anscheinend unverbrüchliche Zusammenarbeit der nordirischen Unionist:innen und der britischen Tories. Margaret Thatcher bekannte 1981, dass Nordirland genauso ein integraler Bestandteil Großbritanniens sei wie ihr Wahlkreis London-Finchley.124 Doch der Bürgerkrieg, das Karfreitagsabkommen von 1998 und der Brexit haben eines ganz klar gemacht: Nordirland ist mitnichten eine britische Region wie jede andere. Der Bürgerkrieg in Nordirland von 1968 bis 1998 strahlte auf alle Teile Großbritanniens aus. Anschläge der IRA gab es auch in England, sogar auf einen Tory-Parteitag und die Downing Street. Selbst in Deutschland gab es Anschläge

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auf Einrichtungen der britischen Armee. Einsätze der Armee in Nordirland waren Kampfeinsätze.125 Unter dem Druck der blutigen Anschläge vereinbarte Thatcher mit der irischen Regierung 1985 das sogenannte Anglo-Irische-Abkommen als Grundlagenvertrag für die zukünftige Zusammenarbeit.126 Das war ein Gezeitenwechsel, weil bereits dieser Vertrag den Sonderstatus von Nordirland herausarbeitete – und er eine irische Beteiligung am weiteren Vorgehen festschrieb. Damit war schon damals klar, dass es für Nordirland keine rein „britische“ Zukunft mehr geben würde. Eine Lehre, die 25 Jahre später beim Brexit anscheinend wieder vergessen worden war. Thatchers Nachfolger John Major begann in den 1990erJahren, einen politischen Ausweg aus dem nordirischen Bürgerkrieg zu suchen. Dies führte zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit der irischen Regierung, der EU und den USA. Und es war diese Internationalisierung des Konflikts, die 1998 das berühmte Karfreitagsabkommen (Good Friday Agreement) ermöglichte, auch als Belfaster Abkommen bekannt.127 Es beendete den Bürgerkrieg, obwohl die heute in Belfast regierende Democratic Unionist Party (DUP) gegen das Abkommen war.128 Der irische Historiker O’Toole analysierte einige der Schlüsselelemente des Abkommens: Neben der Wiedereinführung eines neuen Regionalparlaments mit einer eigenen Regierung, die aus unionistischen wie nationalistischen Parteien zusammengesetzt sein muss, ist für ihn vor allem die vorausschauende Zuschreibung der Identitätsfrage von enormer Wichtigkeit. Das Abkommen bietet allen Nordir:innen das unveräußerliche Recht auf eine britische wie irische Staatsangehörigkeit an – oder auch auf beide gemeinsam. Damit wurde Nordirland de facto zu einem Sondergebiet mit einem echten Sonderstatus. Dieser Faktor wurde für den Brexit besonders relevant. Wichtig war auch, dass die Republik Irland in einer Verfassungsänderung ihren eigenen territorialen Besitzanspruch auf Nordirland aufgab. Nunmehr heißt es in der irischen Verfassung, alle Bewohner:innen der irischen Insel sollten geeint „in Harmonie und Freundschaft“ leben, „in aller Vielfalt ihrer Identitäten und Traditionen“. Nach Jahren unversöhnlicher Rhetorik und Gewalt waren dies echte Fortschritte. Wichtig ist, dass in Nordirland heute niemand wieder zurück will in die Zeiten des Bürgerkriegs. Die allermeisten Menschen dort sind verständlicherweise heilfroh, aus dieser dunklen, schrecklichen und tödlichen Zeit herausgekommen zu sein. Insofern wurden die Unruhen zu Ostern 2021 im Gefolge des Brexits allgemein als beängstigendes Omen gewertet.129 Allein die Erwähnung, dass irgendeine Maßnahme wieder zu einer Rückkehr der Paramilitärs führen könnte, lässt die Menschen erschaudern, aber auch die Regierungen in Dublin und London – und indirekt auch die Menschen in Schottland. Denn der Nordirland-Konflikt lässt sich in seinen Ausläufern auch in Schottland erleben. So finden vor allem im Westen Schottlands die sogenannten Orange-Märsche statt. Orange ist die Farbe der Protestant:innen in Nordirland,

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die auf den protestantischen Oranier-König William zurückgeht, der in der Glorious Revolution 1688/89 die katholischen Stuart-Könige abgelöst hatte. Diese Märsche sind ein Symbol geworden für die Bekräftigung der unionistischen Grundhaltung unter den radikaleren Protestant:innen in Nordirland. Zu Zeiten des Bürgerkriegs endeten die Märsche in Nordirland oftmals in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den „Orange Men“ und radikalen Nationalist:innen, die sich provoziert fühlten, sowie der Polizei und der Armee. Dass diese Märsche auch in Schottland stattfinden, war schon immer eine Quelle der Angst, dass plötzlich gewaltsame Konflikte mit Bezug auf Nordirland auf den Straßen Schottlands ausgetragen werden könnten. Wie virulent und aktuell das Thema ist, zeigte sich noch 2020, als die Stadt Glasgow einen Mediationsprozess startete, um die Spannungen rund um die Orange-Märsche in der Stadt zu verringern (s. u.).130 Andersherum waren die republikanischen Gedenkdemos zum Geburtstag von James Connolly, dem Anführer des Oster-Aufstands in Dublin, in Edinburgh mehrfach Attacken von radikalen Unionist:innen ausgesetzt. Als die Gedenkdemos 2007 ausgesetzt wurden, war die Erleichterung groß, genauso wie 2012 allein schon die Ankündigung, sie könnten wieder aufgenommen werden, für Ängste sorgte.131 Und natürlich bestand immer die Befürchtung, dass die konfessionell und schottisch-irisch angehauchten Fußball-Duelle zwischen Glasgow Rangers (protestantisch) und Celtic Glasgow (katholisch) eines Tages in ernsthafte Gewalt münden könnten.

Abb. 20: Oraniermarsch in Glasgow, 2006.

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Aber es zeigt sich, dass alle Beteiligten kein Interesse an einer Übertragung der Konflikte auf Schottland hatten und haben. Absolut niemand will Zustände wie in Belfast zu Zeiten des Bürgerkriegs in den Straßen und Wohnvierteln von Glasgow erleben. Der Blick nach Nordirland hatte immer einen mäßigenden Einfluss auf alle politisch Aktiven in Schottland. Doch Nordirland liegt zu nahe an Schottland, um das Konfliktpotenzial einfach zu ignorieren.

Brexit und Nordirland Nach dem Karfreitagsabkommen 1998 schien das „Nordirland-Problem“ im Großen und Ganzen erstmal gelöst. Die Autonomieregelung zwischen den unionistischen Parteien und Sinn Féin, dem politischen Arm der katholisch-republikanischen IRA, wackelte zwar beständig, doch das Leben in Nordirland normalisierte sich langsam. 2005 erklärte die IRA das endgültige Ende ihres bewaffneten Kampfes und ihre vollständige Entwaffnung, nachdem sie schon 1997 einen dauerhaften Waffenstillstand als Voraussetzung für das Karfreitagsabkommen verkündet hatte. 2007 kam es dann zu einer großen Überraschung, als sich ausgerechnet die bislang unnachgiebig auftretende DUP bereit erklärte, mit Sinn Féin eine gemeinsame Regierung in Belfast zu bilden. Bis dahin hatte sie sich der Regierungsbildung verweigert. Hintergrund dieses Streit war das Konstrukt im Karfreitagsabkommen, das eine partei- und lagerübergreifende Regierungsbildung unter Führung der jeweils größten Partei explizit vorschreibt – also Kompromisse und Kooperation zur Regierungsbildung geradezu erzwingt. So sollten einseitige, konfrontative Regierungsbildungen verhindert und alle Parteien im Belfaster Parlament miteinbezogen werden. Alternativ dazu ist nur die Direktverwaltung aus London vorgesehen. Im Vorfeld der neuen historischen Zusammenarbeit hatte es u. a. in Schottland Gespräche gegeben. Nun saßen 2007 mit dem wortgewaltigen ehemaligen Prediger Ian Paisley (DUP) und dem Ex-IRA-Mann Martin McGuinness (Sinn Féin) plötzlich zwei erklärte Feinde friedlich auf einer Regierungsbank – ein klares Zeichen der Versöhnung in der unruhigen Provinz. Auch die Queen machte 2011 einen vielbeachteten Besuch in Irland, der zur Aussöhnung beitrug. Die einst vom britischen Militär schwer befestigte und patrouillierte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland wurde zu einer grünen Wiese auf der grünen Insel. Nach Jahrzehnten des Konflikts schien eine Formel für ein friedliches und gedeihliches Auskommen gefunden zu sein, auch wenn natürlich längst nicht alle Probleme gelöst waren. Aber allein die Tatsache, dass man miteinander redete und gemeinsam an Lösungen arbeitete, war ein enormer Fortschritt. Wirtschaftlich profitierte Nordirland enorm vom Frieden und den Investitionen, die nun ins Land flossen. In genau diese eigentlich hoffnungsvolle Situation platzte der Brexit. Nordirland stimmte zu 56 % gegen den Brexit, weil der Mehrheit der Bevölkerung klar

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war, dass der Brexit zu neuem Ärger führen würde. Nur die DUP unter Parteichefin Arlene Foster warb erstaunlicherweise für einen Brexit, obwohl auch sie offene Grenzen auf der irischen Insel unterstützte. Das große Debakel wurde offensichtlich, als klar wurde, dass die meisten Brexiteers in England vollkommen vergessen hatten, dass Großbritannien eine 500 km lange Landgrenze mit der EU teilt – nämlich auf der irischen Insel. Die öffentliche Debatte vor dem Referendum drehte sich in England eigentlich immer nur um die Grenze zwischen Dover und Calais. Und es schien so, als hätten die Brexiteers auch vergessen, dass die Republik Irland ein unabhängiges Land ist, das solidarisch von der EU unterstützt wurde. Das Karfreitagsabkommen konnte man nicht einfach über Bord werfen, wollte man nicht einen neuen Bürgerkrieg und internationale Konflikte mit der EU und den USA provozieren.132 Die Bewahrung des Nordirland-Abkommens wurde deshalb bald zu einem von allen Seiten beschworenen Mantra. Churchills „trostlose Kirchtürme von Fermanagh und Tyrone“ waren mit voller Wucht auf die Tagesordnung der britischen Regierung zurückgekehrt. Ohne hier auf die Details der Auseinandersetzung einzugehen, war von vornherein klar, dass es für Nordirland eine Sonderlösung geben musste.133 Wenn Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion austreten wollte, gab und gibt es nur drei Lösungen, wo die dann nötige Zollgrenze zur EU verlaufen kann: 1. Irland tritt ebenfalls aus dem EU-Binnenmarkt aus und die Zollgrenze verläuft im Atlantik zwischen Irland und Frankreich. 2. Es gibt eine echte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. 3. Die Zollgrenze verläuft in der Meerenge zwischen Nordirland und Schottland. Die DUP stemmte sich in London mit allen Mitteln politisch gegen die dritte Variante. Dabei half ihr, dass die Partei zwischen 2017 und 2019 über die entscheidenden Unterhausmandate verfügte, um Theresa May vor dem Sturz durch die Opposition zu bewahren (► Kap. 2.5). Diese Macht setzte die DUP dafür ein, jede Art von Abkommen mit der EU zu torpedieren, das Nordirland innerhalb des Vereinigten Königreichs einen Sonderstatus zugesprochen hätte. Diese starre Haltung der DUP war einer der wichtigsten Gründe, warum die Brexit-Verhandlungen jahrelang in einer Sackgasse steckten und Theresa May letztlich über ihre parteiinternen Gegner:innen stürzte. DUP-Chefin Foster und ihre Partei waren also ein Wegbereiter für Boris Johnson. Doch kaum in der Downing Street angekommen, wählte Johnson dann knallhart die dritte Lösung. Das war auch zu erwarten, denn für die englischen BrexitFans ist Nordirland unter dem Strich nur ein irritierender Neben-Schauplatz, der sie daran hinderte, den klaren Bruch mit der EU durchzuführen, von dem sie die ganze Zeit geträumt hatten. Die DUP hatte ihren tatsächlichen Einfluss in London maßlos überschätzt. Jetzt zeigte sich ganz real, was es bedeutet, dass sich

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das britische Königreich offiziell als „Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland“ definiert – also klar zwei Teile benennt. Und genauso handelte Johnson: Für ihn hatte ein möglichst klarer Brexit für das britische Festland oberste Priorität. Für Nordirland verzichtete er hingegen auf einen Teil der viel beschworenen britischen Souveränität.134 Die einzigen, die davon überrascht wurden, waren die nordirischen Unionist:innen: Als Johnson im Oktober 2019 mit der irischen Regierung und dann mit der EU das „Nordirland-Protokoll“ zum Austrittsvertrag vereinbarte, kam dies für die DUP und die Unionist:innen in Nordirland einem Verrat gleich – auch wenn sich dieser seit 2016 immer wieder angekündigt hatte.135 Für Johnson war vorteilhaft, dass die Regeln erst zum 1. Januar 2021 in Kraft treten sollten. Das verschaffte ihm ein Jahr Pause, zumal er seit seinem Wahlsieg im Dezember 2019 nicht mehr auf DUP-Stimmen im Unterhaus angewiesen war. Die Macht der DUP war wie eine Seifenblase zerplatzt. Anfang 2021 wurde schnell klar, dass zwischen Schottland und Nordirland eine neue, echte Handelsgrenze entstanden war – mit Zustimmung der britischen Regierung und gegen den erbitterten Widerstand ihrer bisherigen Verbündeten in Nordirland.136 Doch damit begannen gleich die nächsten Probleme. 2020 wollte die britische Regierung das Nordirland-Protokoll bereits im Alleingang abändern, im April 2021 forderte Premier Johnson nach den Osterunruhen in Nordirland die Abschaffung der „lächerlichen“ Zollkontrollen in der Irischen See.137 Völlig unerwähnt ließ er, dass es um die von ihm selbst vereinbarten Regeln geht. Im Herbst 2021 eskalierte dann die britische Regierung den Streit mit der EU weiter. Der ehemalige britische Brexit-Chefunterhändler Lord Frost, der mittlerweile zum Staatsminister für EU-Angelegenheit befördert worden war, forderte im Prinzip die Abschaffung des Nordirland-Protokolls. Er beklagte, die EU erwarte, dass Großbritannien eine Zollgrenze quer durch das eigene Land akzeptiere. Und er warf der EU vor, mit dieser Vereinbarung den Friedensprozess in Nordirland zu unterhöhlen.138 Das war natürlich starker Tobak, denn auch Lord Frost negierte, dass die britische Regierung das Nordirland-Protokoll selbst ausgehandelt hatte. Vor diesem Hintergrund erscheinen jedoch Anmerkungen des DUP-Politikers Ian Paisley Jr. sowie von Boris Johnsons umstrittenem Ex-Berater Cummings durchaus glaubwürdig, dass Johnson niemals vorgehabt habe, das Protokoll umzusetzen und die neue Zollgrenze mit der EU in der Irischen See auf Dauer zu akzeptieren.139 Was das für die Glaubwürdigkeit der britischen Regierung in zukünftigen Vertragsverhandlungen mit der EU (oder anderen Staaten) bedeutet, sei dahingestellt. Der stellvertretende irische Premierminister Varadkar zweifelte die Glaubwürdigkeit jedenfalls sofort an. In einer inhaltlichen Reaktion versprach die EU eine Reform des NordirlandProtokolls mit bis zu 80 % weniger Zollkontrollen in der Irischen See.140 Ob das die Gemüter beruhigt, bleibt abzuwarten. Eine einseitige Kündigung oder „Suspendierung“ des Nordirland-Protokolls seitens der britischen Regierung er-

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schien im Herbst 2021 jedoch als realistische Perspektive. Der Brexit ist in Nordirland noch lange nicht geregelt. Interessant aber ist, dass laut einer Umfrage von Oktober 2021 inzwischen die Mehrheit der Menschen in Nordirland das umstrittene Nordirland-Protokoll – und damit auch die Zollkontrollen in der Irischen See und den Verbleib im EU-Binnenmarkt – positiv bewertet.141

Nordirland vor Zeitenwende? Für Nordirland hat das Brexit-Debakel der DUP noch eine weitere Auswirkung: Bei der vorgezogenen Unterhauswahl im Dezember 2019 verlor die unionistische Seite erstmals in der nordirischen Geschichte ihre Sitze-Mehrheit. Der durch parteiübergreifende Bündnisse erzielte Zuwachs der nicht-konfessionellen Social Democratic & Labour Party sowie der Alliance Party kostete die DUP zwei entscheidende Sitze.142 Der Brexit und der Verlust der sicher geglaubten Mehrheit setzten die DUP politisch so unter Druck, dass sie der Wiedereinsetzung der nordirischen Gemeinschafts-Regierung Anfang 2020 mit Sinn Féin zustimmte.143 Diese war 2017 durch den Auszug von Sinn Féin zusammengebrochen, weil Foster in einen Finanzskandal verwickelt war.144 Nun wurde die DUP-Chefin in Belfast wieder First Minister und Michelle O’Neill von Sinn Féin stellvertretende Regierungschefin. Offensichtlich war es der DUP nun wichtig, die Machthebel in Nordirland nicht ganz aus den Händen zu geben. Da schien eine gemeinsame Regionalregierung mit Sinn Féin immer noch vorteilhafter als die Fortsetzung der direkten Verwaltung aus London – eine interessante, wenn auch sehr wacklige Entwicklung. Sollte sich die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung bei den nächsten Regionalwahlen im Frühjahr 2022 wirklich von den unionistischen Parteien abwenden und Sinn Féin zur größten nordirischen Partei aufsteigen, dann steht der Gemeinschaftsregierung ein neues Tauziehen um die Machtverteilung bevor. Wird die DUP ggf. eine Regierungschefin von Sinn Féin akzeptieren? Für Nordirland käme das einer Revolution gleich. Ansonsten drohen neue intensive Konflikte. Bei der DUP warfen diese Schreckensszenarien schon im Frühjahr 2021 ihre Schatten voraus: Partei- und Regierungschefin Foster kündigte ihren Rücktritt und Parteiaustritt an, der Hardliner Edwin Poots übernahm inmitten parteiinterner Kontroversen.145 Er hielt sich allerdings nur wenige Wochen an der Parteispitze. Seit Ende Juni 2021 leitet Jeffrey Donaldson die Partei.146 Ob er das Ruder für die DUP herumreißen kann, ist mehr als unklar. Zunächst gab es im Sommer 2021 unter dem DUP-Politiker Paul Givan wieder eine nordirische Regierung zusammen mit Sinn Féin.147 Doch im September drohte Donaldson ganz offen mit dem Kollaps der nordirischen Regierung und sogar einem Ende der Kooperation mit Dublin, falls es nicht zu einer Änderung des Nordirland-Protokolls und der damit verbundenen Zollkontrollen in der Irischen See komme.148 Hier greifen nordirische Innenpolitik, Brexit und EU-Politik

Exkurs 4: Schottland und die Nordirland-Frage

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direkt ineinander. Diese deutliche Verschärfung der Rhetorik kann innerhalb von Nordirland in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Neuwahlen in Nordirland nicht zu einer Regierungsbildung führen und London wieder die direkte Verwaltung der Provinz übernehmen muss. Das wäre ein schwerer Rückschlag für Nordirland. Zugleich verschlechterten sich die Beziehungen auf der irischen Insel und der Druck der DUP auf Boris Johnson stieg, sich gegenüber der EU in Sachen Nordirland-Protokoll vertragsbrüchig zu verhalten. Das stieß natürlich auf vehemente Proteste seitens der irischen Regierung und der EU. Aber auch US-Präsident Biden und die Chefin des US-Repräsentantenhauses, Pelosi, richteten klare Worte an die Adresse Londons.149 Es ist also noch lange nicht sicher, ob der Brexit-Deal für Nordirland auf Dauer hält und ob das historische Karfreitagsabkommen nicht doch noch brüchig werden könnte. Unklar ist, was dies für Irland insgesamt, für das Vereinigte Königreich, aber auch für das Verhältnis zur EU und den USA bedeutet. Sollte die DUP wieder zurückfallen in überwunden geglaubte kompromisslose Zeiten, dann wäre das sicherlich kein gutes Zeichen für die Zukunft Irlands. Interessant ist, dass sich eine knappe Mehrheit der Nordir:innen inzwischen innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Referendum über eine mögliche Wiedervereinigung mit der Republik Irland wünscht. Der britische Wahlforscher Prof. Curtice stellte jedoch erstaunt fest, dass in den gleichen Umfragen eine knappe Mehrheit für den Verbleib im Vereinigten Königreich stimmte.150

Auswirkungen auf Schottland Wenn man die Beachtung vergleicht, die Irland, Nordirland und Schottland jeweils beim Brexit erhielten, wird der Unterschied sofort klar. Die schottische Regierung kann nur mit Neid darauf schauen, wieviel Einfluss die irischen Premierminister bei den Brexit-Verhandlungen ausüben konnten. De facto hatte die irische Regierung ein Veto-Recht über jede Vereinbarung der EU mit Großbritannien, sollten die Bedingungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen der Republik und dem Norden der Insel nicht stimmen. Diese Verhandlungsstärke setzte die irische Regierung konsequent ein. Schottlands Bedenken gegenüber der britischen Regierung wurden jedoch von dieser regelmäßig vom Tisch gewischt. Und die EU verhandelte bei allem guten Willen nur mit der britischen Regierung, nicht mit Schottland. Der Unterschied zwischen einer souveränen und unabhängigen Staatsregierung und der autonomen, aber eben nicht souveränen schottischen Regierung wurde beim Brexit für alle Beteiligten mehr als deutlich. Ebenso neidisch war die schottische (und in Teilen auch die walisische) Regierung darauf, mit welcher Selbstverständlichkeit die Johnson-Regierung am Ende einer Sonderregelung für Nordirland zustimmte, diese aber für Schottland und Wales kategorisch ablehnte. Die Vereinbarung, die Zollgrenze zur EU nun in

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4 Gesellschaft und Identität

die Meerenge zwischen Nordirland und Schottland zu verlegen, zeigte eindeutig, dass die Integrität des Vereinigten Königreichs in diesem Punkt aufgegeben wurde. Schottlands Wunsch, ebenfalls im EU-Binnenmarkt zu bleiben, wurde hingegen ignoriert. Ferner konnte Nordirland z. B. im universitären Erasmus+Programm der EU bleiben, Schottland und Wales hingegen nicht – obwohl auch hier beide Landesregierungen dies gewünscht hatten. In diesem Fall sagte die EU nein.151 Selbst die schwache und von internen Konflikten geschüttelte nordirische Regierung hat anscheinend noch immer mehr Einfluss auf die britische, irische und europäische Politik, als die Regierung in Edinburgh – schlicht und einfach, weil niemand die Bedürfnisse Nordirlands missachten möchte. Die neue Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien bedeutet, dass der südschottische Hafen Cairnryan zum Grenzhafen geworden ist. Das wurmt die Entscheidungsträger:innen der SNP, weil damit die EU direkt vor der Haustür sichtbar bleibt – und doch so unnahbar fern ist. Andererseits: Ein Wiederbeitritt Schottlands zu EU hätte aufgrund der geographischen Fakten zwangsläufig zur Folge, dass der kürzeste Weg Schottlands in den EU-Binnenmarkt via Nordirland verlaufen würde. Es würde dann keine EU-Zollgrenze mehr zwischen den beiden Ländern notwendig sein, weil sich diese an die schottischenglische Grenze verschieben würde. Nordirland ist ggf. also Schottlands Tür in die EU. Von daher ist die weitere Entwicklung auf der irischen Insel für die schottische Regierung zukünftig noch wichtiger. Allerdings kann auch eine Unabhängigkeit Schottlands direkte Auswirkungen auf die weitere Entwicklung in Nordirland haben. Die Region wäre dann ganz von EU-Nachbarn umgeben. Die direkte Fährverbindung von Nordirland führt nicht nach England, sondern eben ins schottische Cairnryan. Das würde den Druck in Nordirland sicherlich stark erhöhen, eine weitere Annäherung an die Republik im Süden zu suchen, z. B. in Form einer Konföderation, weil das restliche Großbritannien auf einmal sehr weit weg liegen würde. Wie groß der Wunsch eines mit Wales allein agierenden Englands wäre, sich überhaupt noch mit Nordirland zu beschäftigen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Sollte sich bei Beibehaltung des jetzigen Status quo eines Tages eine Mehrheit der nordirischen und der südirischen Bevölkerung für eine Wiedervereinigung der grünen Insel aussprechen, hätte dies ebenfalls Konsequenzen für Schottland. Dann wäre der Hafen von Cairnryan auch offiziell eine Grenzstation zur EU und Schottland hätte wieder einen direkten Zugang zur EU – unter Umgehung Englands. Eine weitere Ebene in dieser komplexen Gemengelage ist die Haltung der oben schon erwähnten protestantischen Oranier-Orden in Schottland. Während die katholische Einwander-Community mittlerweile der SNP durchaus offen gegenübersteht, lehnt der Orange Order die schottische Unabhängigkeit strikt ab. 2014 ging man dafür in Edinburgh kurz vor dem Unabhängigkeitsreferendum auch massiv auf die Straße.152 Der Brexit schafft hier einen neuen Stressfaktor. Viele Oranier:innen stimmten in Schottland gegen den Brexit, weil sie von den

Exkurs 4: Schottland und die Nordirland-Frage

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offenen Grenzen profitierten. Innenpolitisch unterstützen sie aber in Schottland pro-unionistische Parteien, die z. T. kompromisslos Pro-Brexit waren. Dieser Widerspruch wurde nie aufgelöst. Der Großmeister des Ordens, Jim McHarg, befürwortete Ende 2020 auch taktisches Wahlverhalten für Tories bzw. Labour und gegen die SNP.153

Nachbarn in schwieriger See Die Verbindungen zwischen Schottland und Nordirland sind, wie gezeigt, sehr vielfältig. Die Auswirkungen des Brexits, der innenpolitischen Spannungen in Nordirland und der Unabhängigkeitsdebatte in Schottland führen immer wieder zu neuen politischen Wendungen – ein Ende ist nicht abzusehen. Was in Belfast passiert, muss auch Edinburgh interessieren – und umgekehrt. Und all dies hat dann Auswirkungen bis nach London, Dublin und Brüssel und sogar bis Washington als einer entscheidenden Garantiemacht des Karfreitagsabkommens. Gerade die Biden-Regierung mahnt seit Amtsantritt die britische Regierung wie ausgeführt immer wieder zu konziliantem Verhalten gegenüber der EU in der Nordirland-Frage. Unter dem Strich zeigen die Erfahrungen aus Irland für Schottland eindrucksvoll, wie beschwerlich der Unabhängigkeitsprozess sein kann, wenn sich die Zentralregierung diesem entschlossen entgegenstellt. Ob Boris Johnson mehr Appetit hat, sich mit den aus seiner Sicht „trostlosen Kirchtürmen von Edinburgh und Glasgow“ zu beschäftigen, als sein Idol Winston Churchill vor ihm mit der Irland-Frage, darf nach den bisherigen Erfahrungen getrost in Zweifel gezogen werden.154 Doch welche Schlussfolgerungen wird Johnson für sich ziehen – jenseits seines oft flapsigen und jovialen Auftretens? Die Verschiebung der EU-Zollgrenzen in die Irische See zwischen Nordirland und Schottland dürfte mit Sicherheit langfristig noch für manche Schlagzeile und Diskussion sorgen – auch und gerade in Schottland. Wenn Nordirland für Schottland eine Lektion bereithält, dann ist es die Erkenntnis, dass es wahrscheinlich mehr Probleme auf dem Weg in die Unabhängigkeit geben wird, als bislang angenommen – es sei denn, die britische Regierung stimmt verbindlich einem gemeinsamen Vorgehen zu.

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Schottland – quo vadis?

5.1

Die Schottland-Wahlen 2021

Zur Jahreswende 2020/21 schien die politische Ausgangslage in Schottland so klar wie nie zuvor: Seit dem Frühjahr 2020 lag die SNP in allen Umfragen deutlich vorne und peilte für die Wahlen im Mai 2021 eine absolute Mehrheit an. Noch bedeutender war jedoch die Tatsache, dass erstmals in der Geschichte in Umfrage auf Umfrage eine Mehrheit für die Loslösung vom britischen Königreich gemessen wurde. Bis zum Februar 2021 fielen nicht weniger als 22 aufeinanderfolgende Umfragen positiv für das Unabhängigkeitslager aus. Das hatte es so noch nicht gegeben und wurde mittlerweile auch von den britischen Medien erkannt.1 Die unterschiedliche Handhabung der Corona-Pandemie in Schottland und England sowie der zum Jahreswechsel 2020/21 endgültig vollzogene Brexit hatten offensichtlich ihre Spuren bei der schottischen Bevölkerung hinterlassen (► Kap. 2.5). Doch Ende Februar wurde es auf der politischen Szene Schottlands auf einmal turbulent – und die stabilen Umfrageergebnisse gerieten ins Rutschen. Grund dafür war weder ein Erstarken der Opposition noch eine verbesserte Wahrnehmung der Johnson-Regierung in London, sondern eine Schlammschlacht im SNP-Lager von bisher unbekannten Ausmaßen.

High Noon in Holyrood Schon seit 2018 schwelte die Auseinandersetzung um die Vorwürfe sexueller Belästigung gegen den früheren First Minister und SNP-Parteichef Alex Salmond (► Exkurs 3). Doch nun erreichte die Auseinandersetzung die breite Öffentlichkeit, weil Salmond Ende Februar 2021 vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Edinburgh aussagen musste – und kurz danach ein Auftritt von Regierungschefin Sturgeon angesetzt war. Nicht Salmonds Verhalten wurde nun primär diskutiert, sondern ob Sturgeon das Parlament über ein Treffen mit Salmond 2018 belogen hatte. Es ging darum, ob sie schon einige Tage früher von bestimmten Verfahrensschritten gewusst hatte, als sie zunächst öffentlich eingestanden hatte. Das mag auf den ersten Blick wie eine Kleinigkeit wirken, wäre aber ein Verstoß gegen den Verhaltenskodex für Minister:innen gewesen und deshalb auch ein Grund für einen Rücktritt. Aus diesem Grund hatte Sturgeon selbst einen Sonderermittler mit der Klärung der Frage beauftragt. Schon 2019 hatte die Regierung Salmond über 500 000 Pfund Schadensersatz für gravierende

5.1 Die Schottland-Wahlen 2021

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Fehler beim Umgang mit den Beschwerden der betroffenen Frauen zahlen müssen. Salmond, der inzwischen aus der SNP ausgetreten war, legte am 26. Februar vor dem Ausschuss nochmal nach – er witterte eine Art Verschwörung von Teilen der SNP-Spitze gegen ihn. Bei den betroffenen Frauen entschuldigte er sich für nichts. Dabei hatte selbst sein Anwalt in den Gerichtsverfahren gesagt, Salmond hätte ein „besserer Mann“ sein können. Salmond verwies nun allein auf seine gerichtlichen Erfolge.2 Die brisanten Aussagen Salmonds hatten spürbare Folgen: Nur zwei Tage später ergab erstmals seit fast einem Jahr eine Umfrage wieder eine pro-unionistische Mehrheit in Schottland, was sich in weiteren Umfragen dann bestätigte.3 Die Tories kündigten im Edinburgher Parlament sowohl Misstrauensvoten gegen Nicola Sturgeon wie auch gegen ihren Stellvertreter John Swinney an. Urplötzlich stand sogar der Sturz von Sturgeon auf der Tagesordnung – so viel Drama hatte das Parlament in Holyrood in seinen 22 Jahren noch nicht erlebt.4 Doch die Revolution blieb aus: Sturgeon verteidigte sich und ihre Regierung am 2. März vehement vor dem Untersuchungsausschuss.5 Zwar wurde sie später im Abschlussbericht kritisiert, doch am 22. März entlastete der Sonderermittler James Hamilton sie vom zentralen Vorwurf, bewusst gegen den Verhaltenskodex für Minister:innen verstoßen zu haben.6 Einen Tag später überstand sie daraufhin problemlos das Misstrauensvotum der Tories – die schafften es nicht einmal, die anderen Oppositionsparteien auf ihre Seite zu bringen. Angesichts der dramatischen Wochen zuvor ein ernüchterndes Ergebnis für die Tories und ein persönlicher Sieg für Nicola Sturgeon.7 Schon wenige Tage später löste sich das Parlament auf, um in den Wahlkampf einzusteigen. Sturgeon hatte die größte Krise ihrer Amtszeit überstanden, auch wenn sie später bekannte, dass sie kurz vor dem Rücktritt gestanden hatte.8

Unberechenbarer Wahlkampf Nun begann ein außergewöhnlicher sechswöchiger Wahlkampf, an dessen Start sich alle Beteiligten unsicher über die tatsächliche Ausgangslage waren: Würde die SNP in den Wahlumfragen weiter abrutschen? Würde sie die absolute Mehrheit verfehlen? Und wie würden die Grünen abschneiden, die ja ebenfalls für die Unabhängigkeit eintreten? Könnte Labour eventuell an den Tories wieder vorbeiziehen? Der Wahlkampf begann mit einem Paukenschlag, den niemand so erwartet hatte: Nur wenige Tage nach dem Ende der parlamentarischen Debatten rund um Salmonds und Sturgeons Verhalten ging Salmond bereits wieder in die Offensive: Er kündigte seine Beteiligung an den Wahlen im Mai an, und zwar für die neugegründete Alba Party – sein Ziel: der SNP so viele Zweitstimmen abzunehmen wie möglich, um damit eine „Supermehrheit“ für eine staatliche Unabhängigkeit im schottischen Parlament zu erzielen. Der Hintergrund: Durch das

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5 Schottland – quo vadis?

gemischte Direkt- und Verhältniswahlrecht in Schottland gewann die SNP zumeist nur Direktmandate. Zweitstimmen für die Parteien ließen sich in den Wahlen 2011 und 2016 kaum noch in zusätzliche Listenmandate umsetzen. Das wollte Salmond ausnutzen.9 Diese Kampfansage machte den Wahlkampf noch unberechenbarer, als er ohnehin schon geworden war. Nicola Sturgeon musste sich weiter mit ihrem Vorgänger beschäftigen, die Grünen mussten um die Zweitstimmen der SNP fürchten, die sie eigentlich selbst gewinnen wollten und auch Labour, Tories und Liberale sahen sich in der ungemütlichen Situation, dass es womöglich nur um die Frage gehen könnte, wer am besten eine möglichst große Mehrheit an Unabhängigkeitsbefürworter:innen ins Parlament befördern könne. Erste Umfragen sagten der Alba Party durchaus Chancen auf einige Mandate voraus. Es gelang der Partei, ein buntes Sammelsurium von frustrierten SNP-Mitgliedern, zwei Unterhaus-Abgeordneten und einigen umstrittenen Randfiguren der schottischen Politik, wie der ehemalige Anti-Poll-Tax-Campaigner Tommy Sheridan, anzuwerben – ein heftiger Sog Richtung Alba entstand jedoch nicht. Denn nun zeigte sich, dass die gesamte Affäre um die Belästigungsvorwürfe Alex Salmonds öffentlichem Ansehen mehr zugesetzt hatte, als sich in der Medienberichterstattung der Wochen zuvor hätte ablesen lassen. Viele Medien hatten die Affäre vor allem aus dem Blickwinkel berichtet, inwieweit Regierungschefin Sturgeon darüber stürzen könnte. Mit Sympathien für Salmond war das nicht zu verwechseln. In der Bevölkerung hatte er es seit dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 geschafft, vom beliebtesten zum unbeliebtesten Politiker abzurutschen.10 Auch schloss Sturgeon kategorisch jede Art von Kooperation mit Alba aus. Aber für eine sehr lange Schrecksekunde hatte der Auftritt der Alba Party in jedem Fall gesorgt. Im Laufe des Aprils flachten die hitzigen Debatten ab und der Wahlkampf erreichte nach den Wochen parteipolitischer Hyper-Aufregung eine Art von Ruhephase. Es wurde deutlich, dass die gesamte Salmond-Affäre der SNP nicht über Gebühr schaden würde, dass Nicola Sturgeon weiterhin die beliebteste Politikerin in Schottland war und dass weder Tories noch Labour ernsthaft in das Rennen um den Wahlsieg eingreifen konnten. Die Grünen steuerten hingegen auf ihren bisher größten Wahlerfolg zu. Am Ende gewann man den Eindruck, dass alle Parteien mit diesem Stand der Dinge zufrieden waren.

Erneuter SNP-Sieg Am 6. Mai kam es dann so, wie die Wahlforscher:innen vorhergesagt hatten: Die SNP gewann die Wahlen mit 47,7 % der Erststimmen und 40,3 % der Zweitstimmen erneut haushoch, verfehlte aber mit 64 Sitzen die absolute Mehrheit um nur ein einziges Mandat. Dennoch ist dieses Ergebnis nach 14 Regierungsjahren ein erstaunlich positives Resultat. Offensichtlich genießt die SNP weiterhin das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten. Alle Unkenrufe, die einen Verschleiß

5.1 Die Schottland-Wahlen 2021

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der Partei vorhersagten, erwiesen sich als ungerechtfertigt. Nicola Sturgeon feierte den vierten SNP-Wahlsieg in Folge deshalb durchaus berechtigt als „historisch und außergewöhnlich“.11 An zweiter Stelle konnten die Tories mit 21,9 % der Erst- und 23,5 % der Zweitstimmen ihre 31 Mandate halten. Dies war kein wirklicher Erfolg, hatten sie sich noch Wochen zuvor Chancen ausgerechnet, die SNP-Regierung zu stürzen. Aber es war auch keine Niederlage, weil die Partei Labour deutlich auf Abstand halten konnte. Für Labour war der Wahltag hingegen ein erneutes Desaster: Mit 21,6 % der Erst- und 17,9 % der Zweistimmen konnte die Partei nur noch 22 Mandate (minus 2) erringen. Der jung-dynamisch wirkende neue Parteichef Anas Sarwar hatte die Wahlaussichten nicht verbessern können. Ob dies auch daran lag, dass auch er sich bislang weigert, seine Partei in Sachen Unabhängigkeit bzw. mehr Autonomie neu zu positionieren, muss dahingestellt bleiben. Für die Grünen erfüllten sich die Hoffnungen teilweise: Die 8,1 % der Zweitstimmen reichten für acht Mandate, die größte Anzahl, die die Partei jemals erzielt hatte. Das war ein deutlicher Erfolg, der der Partei neues Selbstbewusstsein und mehr Einfluss im Edinburgher Parlament sichert. Die durchaus mögliche zweistellige Anzahl von Mandaten verfehlten die Grünen jedoch knapp, sodass der Partei der ganz große Durchbruch verwehrt blieb. Mit nur 5,1 % der Zweitstimmen fielen die Liberaldemokraten noch weiter zurück. Sie konnten zwar vier Direktmandate erringen, verloren aber einen wichtigen Sitz, der zur vollen Fraktionsstärke gereicht hätte. Ohne ihre Direktmandate müsste die Partei inzwischen um ihre weitere Existenz in Schottland bangen. Ein Desaster war die Wahl auch für Salmonds Alba Party, die mit 1,7 % der Zweitstimmen komplett leer ausging. Die Wahlbeteiligung lag bei 63 % und erreichte damit das bislang höchste Niveau für eine schottische Regionalwahl. Auch der Frauenanteil im Parlament liegt nun mit rund 45 % deutlich höher als früher.

Regierungspakt zwischen SNP und Grünen In anderen Ländern würden beim Verfehlen einer absoluten Mehrheit höchstwahrscheinlich sofort Koalitionsverhandlungen beginnen, um eine Minderheitsregierung zu vermeiden. Nicht so in Schottland. Die SNP konnte 2007 und 2016 mit einer Minderheitsregierung gut allein regieren. 2016 zeigten die Grünen zudem kein übergroßes Interesse an einer festen Regierungsbeteiligung. Auch nach der Wahl 2021 wurde Nicola Sturgeon schon am 18. Mai in ihrem Amt bestätigt.12 Sie setzte erneut eine reine SNP-Regierung ein. Doch Ende Mai begannen die SNP und die Grünen ungeachtet der bisherigen Regierungsbildung doch noch formale Verhandlungen über eine Kooperation, die im August zu konkreten Ergebnissen führte: Die Grünen traten nunmehr mit zwei Staatssekretär:innen der SNP-Regierung bei – einen Ministerposten im Kabinett gab es nicht

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5 Schottland – quo vadis?

(► Kap. 3.4). Zugleich behalten sich die Grünen das Recht auf Dissens in verschiedenen Politikfeldern vor. Diese neue Koalition sendet mehrere Signale aus. Das Wichtigste davon ist wohl, dass die SNP eingesehen hat, dass zum reinen Durchregieren zwar auch eine Minderheitsregierung in Edinburgh reicht. Wenn aber ein zweites Unabhängigkeitsreferendum gegen den erklärten Widerwillen Londons durchgesetzt werden soll, dann ist eine Mehrheitsposition im schottischen Parlament letztlich unerlässlich. Diese ist nunmehr gegeben. Zudem wollte die SNP im Vorfeld der Glasgower Weltklimakonferenz im November 2021 ihre eigene Glaubwürdigkeit als Vorreiterin bei der Energiewende untermauern (► Kap. 4.5). Für die Grünen ist das Abkommen in jedem Fall historisch, da es in Großbritannien die erste grüne Regierungsbeteiligung bewirkt. Schottland beschreitet auch hier wieder neue Wege – weit jenseits der politischen Realität in Westminster. Unter dem Strich gibt es nun für SNP und Grüne mit 72 von 129 Abgeordneten eine stabile und gewachsene Mehrheit in Edinburgh,13 die für die staatliche Unabhängigkeit und ein zweites Referendum eintritt. Andererseits stimmten „nur“ ziemlich genau 50 % der Wähler:innen für Parteien, die dies befürworten. Eine klare Mehrheit in der Bevölkerung für die Loslösung vom oder den Verbleib im Vereinigten Königreich war an den Wahlurnen nicht zu erkennen. Diese Spaltung des schottischen Wahlvolks in zwei praktisch genau gleichgroße Lager dürfte sowohl der SNP wie auch der britischen Regierung viele Kopfschmerzen bereiten, da sich bei dieser Ausgangslage keine Partei eines Referendumssieges sicher sein kann – wenn ein solches Referendum denn kommt (► Kap. 5.3). Im Allgemeinen bevorzugt ein Patt natürlich den Status quo.

5.2

Edinburgh und London im Dauerstress

Durch das Wahlergebnis im Mai 2021 und die bislang allgemein eher unnachgiebige Haltung der Johnson-Regierung gegenüber der schottischen Regierung ist ein politischer Dauerstreit in den kommenden Jahren vorprogrammiert. Alles läuft auf eine Fortsetzung des aufgeladenen Duells zwischen Nicola Sturgeon und Boris Johnson hinaus. Dabei geht es um mehrere zentrale Fragen: 1. Stimmt London einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum in Schottland zu? 2. Wie verteilen sich die zurückgeführten EU-Rechte zwischen London und Edinburgh? 3. Respektiert Westminster die Autonomierechte der schottischen Regierung oder versucht die britische Regierung, in den Zuständigkeitsbereich Edinburghs hineinzuregieren?

5.2 Edinburgh und London im Dauerstress

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Hier soll es zunächst um die beiden letzten Fragen gehen, Frage 1 wird dann in Kap. 5.3 behandelt.

Wacklige Autonomieregelung für Schottland Schon zum 20-jährigen Bestehen des schottischen Parlaments 2019 hatte die Juristin Christine O’Neill festgestellt, dass die Zeiten vorbei seien, in denen die politische Rollenverteilung zwischen London und Edinburgh klar geregelt war.14 Durch die Schottland-Gesetze 2012 und 2016 waren neue, zum Teil komplizierte Regelungen in Kraft getreten, die für reichlich Diskussionsbedarf zwischen Edinburgh und London sorgten (► Kap. 2.5). Der Brexit hat diese Tendenz erheblich verschärft, weil nun viele Zuständigkeiten aus der EU wieder nach Großbritannien „zurückgeführt“ wurden. Die Frage war nun: nach Edinburgh oder nach London oder in eine Art gemischte Verwaltung – und wer hat dabei gegebenenfalls das letzte Wort? Diese Frage ist deshalb so brisant, weil auf zahlreichen Politikfeldern bislang London keinerlei Zuständigkeiten hatte und deshalb auch keine Konflikte zwischen Edinburgh und London entstehen konnten. Der Wegfall des EU-Überbaus sorgt nun auf allen Feldern für direkte Auseinandersetzungen. Schnell wurde aus Sicht der schottischen – und zum Teil auch der walisischen – Regierung klar, dass London diese einstigen EU-Zuständigkeiten als Druckmittel gegenüber den Regionalregierungen nutzen würde. London wolle „die Macht an sich reißen“, hieß es in Edinburgh (► Kap. 2.5). Die langjährige Diskussion kulminierte im Dezember 2020 mit der Verabschiedung des UK Internal Market Act in Westminster, also eines britischen Binnenmarktgesetzes. Nun liegt die Gretchenfrage offen auf dem Tisch: In welchem Umfang kann die britische Regierung in Zukunft den Regionalverwaltungen in Schottland und Wales in deren Kompetenzbereiche hineinregieren? Zur Beantwortung dieser zentralen Frage muss man mehrere Ebenen betrachten: Zum einen ist die Wahrung eines offenen, „internen“ britischen Binnenmarktes natürlich ein legitimes Ziel der britischen Regierung. Das betonte sie auch in ihren eigenen Veröffentlichungen zur Verabschiedung des Gesetzes.15 Was aber in Schottland und Wales sofort auf Protest stieß, ist die Tatsache, dass die britische Regierung sich das Recht vorbehält, im Zweifelsfall Kontroversen auch im Alleingang, ohne Zustimmung der schottischen und walisischen Regierung, entscheiden zu können.16 Das sieht man in Edinburgh und Cardiff als klaren Bruch des 1998 vereinbarten Kooperationsgebots zwischen Westminster und den regionalen Ebenen. Schottlands Vize-Ministerpräsident John Swinney sprach z. B. von einer „Aushöhlung der Autonomierechte“, welche die „demokratischen Wünsche Schottlands missachte“.17 Was das in der Praxis bedeuten könnte, machte die BBC am Beispiel „Chlorhühnchen aus den USA“ deutlich: Falls nach einem Handelsvertrag mit den USA der Import dieser Hühnchen nach England erlaubt sei, könnten sich Schottland

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5 Schottland – quo vadis?

und Wales im britischen Binnenmarkt nicht mehr effektiv dagegen sperren.18 Das Institute for Government bringt zudem das konkrete Beispiel eines Verbots von Einweg-Plastik: Die walisische Regierung sieht hier wesentlich striktere Regeln vor als England (erlassen durch die britische Regierung). Wales könnte nun nur noch walisischen Produzenten die eigenen Regeln auferlegen, nicht mehr englischen, die in Wales operieren.19 Das beschränke klar die bisherigen Kompetenzen in den Regionen, so das Institut. Es könnte die Parlamente und Regierungen in Edinburgh und Cardiff in Zukunft davon abhalten, überhaupt noch Gesetze und Verordnungen in diesen Bereichen zu erlassen, da deren Effektivität von englischer Seite – also von Westminister – vollkommen unterlaufen werden könnte. Auch das Centre on Constitutional Change sieht eine Schwächung der Autonomieregelungen.20 Edinburgh und Cardiff fordern deshalb gemeinsame Absprachen, ohne alleiniges Durchgriffsrecht für die britische Regierung. An diesem Punkt sind sie bisher aber auf Granit gestoßen, sodass in Zukunft immer wieder politische Konflikte zu erwarten sind, die sich aus dem neuen britischen Binnenmarktgesetz ergeben. Dazu kommt, dass die britische Regierung zukünftig auch stärker in Bereichen investieren will, die bislang ebenfalls allein der schottischen und walisischen Regierung vorbehalten waren. Dazu zählen z. B. Verkehrsprojekte, die nunmehr nicht von Brüssel, sondern von London offiziell unterstützt werden. Auf diese Weise will London vor allem in Schottland wieder stärker sichtbar werden. Die freiwerdenden EU-Geldmittel werden zum Spielball in einem politischen Machtpoker, bei dem die britische Regierung anscheinend bislang am längeren Hebel sitzt. Angesichts dieser Entwicklung kam ein Ausschuss des Oberhauses in London im März 2021 zu dem Ergebnis, das britische Binnenmarktgesetz habe „die Beziehungen mit den Regionalregierungen beschädigt“.21 Wichtig seien gemeinsam vereinbarte Rahmenbedingungen für Bereiche wie Lebensmittelsicherheit, Landwirtschaft und Umwelt. Das jetzige Gesetz stelle eine ernsthafte Gefahr für ein solches gemeinsames Rahmenwerk dar. Da das Oberhaus nur eine beratende politische Funktion hat, prallte auch diese Kritik an der Johnson-Regierung ab. Wenn man hingegen die schottische Wahl vom Mai 2021 als Gradmesser nimmt, dann genießt die SNP-Regierung in Edinburgh mit ihrer Ablehnung des Londoner Vorgehens weiterhin das Vertrauen von großen Teilen der schottischen Bevölkerung. Klar ist, dass die gesetzgeberischen Zuständigkeiten durch den Brexit so miteinander verschränkt wurden und sich die politischen Gewichte dabei Richtung London geneigt haben, dass es über kurz oder lang zwischen Edinburgh und Cardiff auf der einen Seite und der britischen Regierung auf der anderen Seite zu einer schweren Verfassungskrise kommen kann. Wahrscheinlich werden sich also Gerichte mit den Kompetenzfragen beschäftigen müssen, weil die schottische Regierung Kompetenzbeschränkungen nicht hinnehmen möchte und die

5.2 Edinburgh und London im Dauerstress

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britische Regierung eine – aus ihrer Sicht – Überschreitung der regionalen Kompetenzen unbedingt verhindern will. Einen ersten Vorgeschmack auf die möglichen juristischen Auseinandersetzungen gab es im Herbst 2021, als der Supreme Court zwei Entscheidungen des schottischen Parlaments zur Übernahme einer UN-Konvention und einer europäischen Charta zurück nach Edinburgh zu erneuten Beratungen verwies. Der Grund: Das schottische Parlament habe seine Kompetenzen überschritten.22 Die britische Regierung fühlte sich natürlich in ihrer Haltung gegenüber Edinburgh bestärkt. Interessant war, dass die beanstandeten Parlamentsentscheidungen in Edinburgh sogar einstimmig über alle Parteigrenzen gefällt worden waren. In diesem Zusammenhang gewinnt die Bemerkung des Premierministers vom Herbst 2020 an Bedeutung, die Autonomieregelung für Schottland sei ein „Desaster“ und „Tony Blairs größter Fehler“ gewesen (► Exkurs 1 und Kap. 2.5). Trotz aller Versuche, diese Aussage später zu relativieren, verfestigte sich der Eindruck, dass Boris Johnson am liebsten die Autonomierechte für Edinburgh und Cardiff so weit wie möglich beschränken möchte. Das setzt ihn auf klaren Kollisionskurs mit der SNP-Regierung in Schottland.

London auf dem Durchmarsch? Bei der Frage, wie sich die Autonomieregelungen in Zukunft zwischen London und Schottland neu austarieren werden, sind mehrere Punkte zu bedenken: Zum einen ist die politische Zielrichtung der Brexiteers in der Tory Party und im Kabinett Johnson offen erkennbar. Der EU-Austritt wurde ja damit begründet, dass dem Parlament und der Regierung in London zukünftig keine „Fesseln“ durch Entscheidungen aus Brüssel mehr auferlegt werden sollten. Dieser Wunsch, eine unbeschränkte Souveränität „zurück“ zu erlangen, duldet natürlich auch keine wie auch immer gearteten Beschränkungen, die durch Entscheidungen der Regionalregierungen entstehen können (► Exkurs 1). Wer absolute Souveränität für Westminster fordert, kann sich nicht mit der offensichtlichen Machtfülle einer schottischen Regierung in Edinburgh anfreunden – zumal, wenn dadurch wie in der Corona-Pandemie der Eindruck entsteht, dass die bessere Politik nicht in London gemacht wird. An diesem Punkt kommt auch die fehlende Föderalisierung Großbritanniens wieder ins Spiel. In einem föderalen System müssten sich Zentralregierung und Regionalregierungen in Streitfragen über ein festgelegtes politisches Verfahren auf Kompromisse einigen. In Deutschland wäre das zum Beispiel der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und der Länderkammer Bundesrat – oder während der Corona-Zeit die regelmäßig tagende Ministerpräsident:innenRunde. In Großbritannien gibt es einen solchen Mechanismus nicht. Es gibt kein Gremium, das föderale Fragen in einem geregelten Prozess beraten und ggf. Kompromisse erzielen könnte. Hier offenbart sich das größte Manko der Auto-

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nomiepolitik der Blair-Regierung: Es wurde versäumt, auch für England außerhalb von Westminster ein eigenes Parlament zu schaffen. England wird so politisch von Teilen der britischen Elite, insbesondere der konservativen, noch immer weitgehend als identisch mit Großbritannien behandelt – und die britische Regierung fungiert de facto in einer Doppelfunktion auch als englische Regierung. Da es in Großbritannien keine geschriebene Verfassung gibt, bleibt zur politischen Konfliktlösung zwischen der Zentralregierung und den Regionalregierungen am Ende nur der Gang vor die Gerichte. Und in diesem Zusammenhang ist es natürlich von großer Bedeutung, dass die britische Regierung angekündigt hat, die Zuständigkeit des obersten britischen Zivilgerichts, des UK Supreme Court, zu beschneiden (► Kap. 4.1). Auch hier gilt: Für die eingefleischten Brexiteers, die zusammen mit Boris Johnson das Kabinett dominieren, ist es wahrscheinlich unerträglich, von Gerichten in der eigenen politischen Handlungsfreiheit beschnitten zu werden. Der Europäische Gerichtshof war schon immer ein rotes Tuch für die Brexiteers, der UK Supreme Court soll der Regierung in diesem Weltbild ebenfalls nicht im Wege stehen. Das führt zu der Frage: Möchte Boris Johnson seine Macht durch irgendeine Instanz beschneiden oder kontrollieren lassen? Nach allem, was bisher bekannt ist, dürfte die Antwort wohl eher nein lauten. Der EU-Austritt hat all jenen Kräften enormen Auftrieb gegeben, die Großbritannien wieder in den alten Einheitsstaat mit nur einem zentralen Parlament und einer weitgehend ungebundenen Regierung zurückverwandeln wollen. Johnson möchte anscheinend gerne die Machtfülle von Margaret Thatcher für sich in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund sind die Regionalregierungen in Edinburgh, Cardiff und Belfast für die britische Regierung lästig und eine politisch friedliche Koexistenz ist auf Dauer nicht zu erwarten. Johnson betont zwar gerne die angeblich tolle Zusammenarbeit, aber als er z. B. im August 2021 nach Schottland kam, lehnte er ein Gespräch mit Sturgeon rundweg ab.23 Andererseits sind die Wahlerfolge der SNP in Schottland und von Labour in Wales nicht einfach wegzudiskutieren. Auch die fragile nordirische Gemeinschaftsregierung muss beachtet werden, um neue Unruhen zu vermeiden. Und so muss Boris Johnson wohl oder übel hin und wieder mit seinen Kontrahent:innen reden. Deutlich wurde dies z. B. auf dem Weltklimagipfel im Herbst 2021 in Glasgow. Ohne Kooperation mit der schottischen Regierung war das Management der Mega-Konferenz nicht vorstellbar.24 Auch konnte Johnson nicht die starke internationale Aufmerksamkeit für Nicola Sturgeon verhindern.25 Die reale Welt erlaubt durch die Existenz der Autonomieregelungen nur ein begrenztes „Durchregieren“. Auch Corona zwingt zur Kooperation: So lud Boris Johnson die Regierungschef:innen aus Schottland, Wales und Nordirland am 3. Juni 2021 zu einem „Gipfel“ ein. Zunächst war zwar von einem „Unionsgipfel“ die Rede, doch real ging es mehr um die Bewältigung der Corona-Pandemie – und von schottischer und walisischer Seite auch darum, als eigenständige und gleichwertige politische

5.3 Wann kommt das nächste Referendum?

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Vertretung anerkannt zu werden. Insofern war allein die Durchführung des virtuellen Treffens ein Punktsieg im Kampf gegen einen befürchteten Durchmarsch der Londoner Regierung. Nicola Sturgeon sagte nach dem Treffen: „Für vertrauensvolle Diskussionen über eine Zusammenarbeit in den Bereichen, wo es möglich ist, ist es nicht hilfreich, wenn die britische Regierung die Macht an sich reißt und versucht, die regionalen Investitionen an sich zu ziehen.“26

Die Regierungen in Schottland, Wales und Nordirland versuchen mit aller politischer Kraft, sich gegen die Aushöhlung ihrer politischen Rechte und Zuständigkeiten zu wehren. Insbesondere in Schottland gelten die politischen Begrenzungsversuche Londons zudem als ein weiteres gewichtiges Argument für einen zweiten Anlauf zur staatlichen Unabhängigkeit.

5.3

Wann kommt das nächste Referendum?

Bleibt die Frage der Fragen: Wann kommt ein neues Unabhängigkeitsreferendum oder kann die britische Regierung ein solches Referendum verhindern? Der Showdown in diesem Punkt ist nicht zu vermeiden und alle Seiten versuchen, sich im Vorfeld in eine gute Position zu bringen.

Abb. 21: Die All Under One Banner Bewegung veranstaltet „Märsche für die Unabhängigkeit“, um für ein „Indyref2“ zu werben.

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5 Schottland – quo vadis?

Die Kampflinien werden eingenommen Die grundlegende politische Gemengelage ist nach den Schottland-Wahlen 2021 und dem komplett vollzogenen Brexit klar: Die SNP verfügt zusammen mit den Grünen im schottischen Parlament über eine ausreichende Mehrheit, um den ersten Schritt für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum beschließen zu können. Im Wahlmanifest der SNP und der Grünen stand deutlich, dass beide Parteien ein solches Referendum anstreben – sie werten ihren gemeinsamen Wahlsieg nun als Bestätigung durch die Wähler:innen. Ihr Regierungspakt unterstreicht diesen politischen Willen. Auf der anderen Seite weigerte sich die Johnson-Regierung strikt, noch einmal wie 2012 in einer Vereinbarung der schottischen Regierung das Recht auf ein solches Referendum einzuräumen. Das politische Risiko wäre für London enorm: Die meisten Umfragen taxierten das Verhältnis von Unabhängigkeitsbefürworter:innen und Unionist:innen 2021 auf ziemlich genau 50 : 50.27 Das heißt, weder die schottische Regierung noch die britische Regierung kann sich sicher sein, ein Referendum zu gewinnen. Für beide Seiten ist das sogenannte „Indyref2“ ein echtes Wagnis. In der Konsequenz bedeutet dies wohl eine lange Phase des politischen Taktierens. Die schottische Regierung hat sich zwar festgelegt, in der jetzigen Legislaturperiode bis Ende 2023 ein Referendum herbeizuführen, aber eben erst, wenn die Corona-Pandemie abgeklungen ist. Genau darauf pochen auch die Tories, sodass sich an diesem Punkt eine erstaunliche Übereinstimmung ergibt – erstmal abwarten und Tee trinken. Die wahrscheinlichsten Szenarien lassen es aus heutiger Sicht eher zweifelhaft erscheinen, ob es vor der nächsten Schottland-Wahl 2026 tatsächlich zu einem „Indyref2“ kommen wird. Woran liegt das? Hier hilft ein Blick auf die wichtigsten Eckdaten bis 2026: Die schottische Regierung möchte zwar, wie gesagt, Ende 2023 ein Referendum abhalten, aber zugleich muss bis Ende 2024 ein neues Unterhaus in London gewählt werden. Und aus Sicht der konservativen britischen Regierung darf nichts dazwischenkommen, was einen Wahlsieg mit englischen Stimmen gefährden könnte. Ein Schottland-Referendum – das womöglich noch erfolgreich verlaufen würde – wäre aus dieser Sicht eine Katastrophe. Dazu kommt, dass die Johnson-Regierung im Herbst 2021 erstmals auch bei der englischen Basis in ernsthafte Schwierigkeiten geriet. Grund waren Korruptionsvorwürfe gegen hochrangige Mitglieder der Tory Party, die viel Widerspruch auslösten.28 Es folgten schwere Vorwürfe, in der Downing Street habe es Ende 2020 trotz des Corona-Lockdowns mehrfach Partys gegeben und Johnson habe dazu das Parlament angelogen. Auf einmal schien Johnsons Stuhl zu wackeln – es gab Rücktrittsforderungen sowie Kritik auch aus den eigenen Reihen.29 Ungeachtet eines wackelnden oder gar stürzenden Premierministers muss auch die schottische Regierung daheim in Edinburgh „liefern“. Es sei unmöglich, bis 2026 nicht wenigstens einen ernsthaften Versuch zur Durchführung eines

5.3 Wann kommt das nächste Referendum?

203

Referendums zu starten. Ein solches Stillhalten würden die SNP-Wähler:innen nicht akzeptieren, so der Meinungsforscher Prof. Curtice.30 Damit ist eines wohl klar: Das schottische Parlament wird im Laufe des Jahres 2022 oder Anfang 2023 per Abstimmung mit der Mehrheit von SNP und Grünen ein neues Referendum verlangen. Danach kann und wird die schottische Regierung diesen Beschluss der britischen Regierung vortragen – wer immer sie dann führen mag. Doch es ist nicht zu erwarten, dass die Tories in London vor der nächsten Unterhauswahl einem Schottland-Referendum zustimmen werden. Sollte die schottische Regierung also auf dem Referendum bestehen, müsste sie ohne Zustimmung aus London ein Datum festsetzen, um den politischen Druck zu erhöhen. Dann kämen schnell die Gerichte ins Spiel – insbesondere der britische Supreme Court. Die Tory-Regierung schätzt dieses Gericht aufgrund seiner Unabhängigkeit zwar nicht besonders (► Kap. 4.1), aber wie es entscheiden würde, ist völlig offen (s. u.). Ein Referendumstermin 2023 oder 2024 vor der Unterhauswahl erscheint aber aufgrund der langen Verfahrenswege recht unrealistisch. An dieser Stelle tut sich für die schottische Regierung ein weiteres Problem auf: Nach der Unterhauswahl 2024 bleibt nur noch wenig Zeit bis zur nächsten Schottlandwahl im Mai 2026. Eine neue britische Regierung in London könnte natürlich offener für die Wünsche aus Edinburgh sein – wenn es denn zu einem Regierungswechsel kommen sollte. Die Optionen für die schottische Regierung sind jedenfalls ohne Zustimmung Londons ziemlich eingeschränkt. Dennoch schien die Johnson-Regierung zu fürchten, dass es bis 2024 auch ohne ihre Zustimmung zu einem legalen Referendum kommen könnte. So fing sie 2021 an, die politischen Hürden für ein solches deutlich hochzuschrauben. Auf einmal sollte nicht mehr die Sitze-Mehrheit im schottischen Parlament ausreichend sein, ein entsprechendes Votum anzuberaumen. Der konservative Schottland-Minister Alister Jack setzte einen neuen Maßstab: Nunmehr sollen in Umfragen über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten konstant mindestens 60 % der Bevölkerung ein Referendum wünschen, bevor es dazu kommen könne.31 Mit einer solchen Regel wäre es z. B. niemals zum Brexit-Referendum gekommen. Und damit nicht genug: Kurz darauf schloss Jack ein zweites Referendum für weitere 25 Jahre kategorisch aus.32 Mit dieser Einstellung scheint ein weiterer Streit, der dann vor dem Supreme Court landet, geradezu vorprogrammiert. Bei Nicola Sturgeon hat man allerdings bislang nicht denselben Referendumsappetit festgestellt wie bei ihrem Vorgänger Salmond. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass die Demoskopie übereinstimmend seit Jahren feststellt, dass jeder neue Jahrgang an Erstwähler:innen mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmen würde, während vor allem ältere Wähler:innen eher pro-britisch gesinnt sind.33 Die Kalkulation geht also womöglich in die Richtung, dass das Unabhängigkeitslager an Kraft gewinnt – je länger sich der Prozess hinzieht. Doch Sturgeon steht durch die Koalition von SNP und Grünen unter starkem Druck,

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5 Schottland – quo vadis?

ein Referendum ernsthaft und glaubwürdig anzustreben. Zaudern kann auch gegen sie ausgelegt werden – im Herbst 2021 wurde sie z. B. dafür kritisiert, im „zweiten Gang hängengeblieben zu sein“.34 So bietet der Wahlkampf für das nächste Unterhaus 2024 sicher einen willkommenen Rahmen, um die britische Regierung öffentlich mit den Referendumsplänen unter Druck zu setzen. In der Konsequenz bedeutet all dies, dass London und Edinburgh 2022 und 2023 vor allem dazu nutzen werden, die Umfragewerte in die jeweilige Richtung zu verschieben, durch Parlamentsbeschlüsse Fakten zu schaffen oder auch neue Hürden aufzubauen. Boris Johnson hat sich zum Beispiel selbst zum „Unionsminister“ gemacht, der persönlich für den Zusammenhalt des britischen Königreichs einstehe.35 Allerdings trat er als Unionsminister im schottischen Wahlkampf 2021 nicht ein einziges Mal auf – ein klares Zeichen, dass Johnson seine in allen Umfragen bestätigte Unbeliebtheit in Schottland sehr gut einzuschätzen weiß. Deshalb veröffentlichte die britische Regierung im Vorfeld der schottischen Wahlen lieber wohlklingende Pläne, Regierungsbehörden und Teile von Ministerien nach Schottland und Nordengland zu verlegen.36 Wenige Tage vor den Wahlen wurden Pläne für milliardenschwere Investitionen in Straßen- und Bahnprojekte bekannt. Auch sollen schottische NHS-Patient:innen die Möglichkeit erhalten, in England behandelt zu werden – und als Ersatz für den europaweiten Erasmus-Studienaustausch soll nun ein Austauschprogramm innerhalb Großbritanniens folgen. Die SNP bezeichnete diese Ankündigungen als einen Bestechungsversuch.37 Gleichzeitig sollen die diplomatischen Vertretungen Großbritanniens im Ausland aktiv gegen eine schottische Unabhängigkeit Position beziehen. Die schottische Regierung wertet zudem jeden politischen Patzer und Zentralisierungsversuch der britischen Regierung als Beleg dafür, dass es ohne Unabhängigkeit einfach nicht geht. Nur ein unabhängiges Schottland könne im Nach-Corona-Zeitalter die notwendigen Entscheidungen für einen erfolgreichen Neustart treffen – inklusive eines Wiederbeitritts in die EU. Im Herbst 2021 legte Ministerpräsidentin Sturgeon die Grundlagen ihrer zukünftigen Referendumsargumentation fest: „Viele Menschen verstehen mittlerweile, dass ein Verharren im Ist-Zustand massive Risiken mit sich bringt. Denn die Lage des Vereinigten Königreichs ist viel schwächer und fragiler, als sie noch 2014 erschien. Wir sind aus der EU ausgetreten, das Vereinigte Königreich wird Jahr für Jahr ärmer werden, der Handel mit Europa wird sich verringern und das Ende der Freizügigkeit macht es für uns schwerer, die Bevölkerung wachsen zu lassen. […] Deshalb denke ich, dass die Debatte viel ausgewogener sein wird als 2014. Es gibt keinen Status quo. Das Vereinigte Königreich, in dem die Menschen 2014 verbleiben wollten, existiert im Prinzip nicht mehr.“38

Dennoch werden die SNP und die schottische Regierung in Zukunft sicherlich viele Fragen nach der wirtschaftlichen Tragfähigkeit eines unabhängigen Schottlands beantworten müssen: Welche Währung würde das Land haben? Wie „hart“ würde die Grenze zwischen England und Schottland? Welche Einschnitte müsste

5.3 Wann kommt das nächste Referendum?

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die schottische Bevölkerung ggf. über welchen Zeitraum hinnehmen, bevor der erneute Beitritt zur EU und zum EU-Binnenmarkt seine Vorteile zeitigt? Wenn man all diese Punkte zusammennimmt, erscheint es tatsächlich zweifelhaft, ob es noch vor der nächsten Schottland-Wahl 2026 zu einem neuen Referendum kommt. Aber die britische und schottische Politik der letzten 15 Jahre hat gezeigt, dass überraschende und unberechenbare Entwicklungen hinter fast jeder Straßenecke lauern können, inklusive eines Sturzes von Premierminister Johnson und/oder erneut vorgezogenen Neuwahlen in Westminster. Von daher ist z. B. ein „Blitz-Referendum“ unter einer möglichen neuen britischen Regierung 2025 nicht auszuschließen.

Indyref2 – die Streitpunkte Sowohl die Sturgeon-Regierung wie auch die Tory-Regierung stehen unter erheblichem Druck. Wer wird sich in der Referendumsfrage durchsetzen? Werden sich die Umfragewerte nochmal wie 2020 deutlich in Richtung Unabhängigkeit bewegen? Oder bleibt es bei 50 : 50? Oder sinkt am Ende der Zuspruch für die SNP? Machtpolitisch ist die britische Regierung eigentlich in einer bequemen Situation. Das schottische Parlament kann zwar einen Beschluss für ein Referendum fassen, doch die britische Regierung muss die Durchführung absegnen. Dafür gibt es Paragraph 30 des Schottland-Gesetzes von 1998, in dem die Rechte des schottischen Parlaments festgelegt wurden. 2012 gab die britische Regierung diesem Ersuchen „nach Paragraph 30“ aus Schottland nach und erlaubte das erste Unabhängigkeitsreferendum. Die britische Regierung könnte ihre Zustimmung natürlich aber auch rundum verweigern. Dann stünde die schottische Regierung vor einer ähnlichen Situation wie die katalanische (► Exkurs 2). Sie könnte das Referendum auch ohne Zustimmung Londons anstoßen und es auf eine Klage der britischen Regierung ankommen lassen oder aber selbst vor Gericht eine Zustimmung einzuklagen versuchen. Eines hat die schottische Regierung aufgrund der Erfahrungen in Katalonien bislang immer ausgeschlossen, nämlich ein Referendum abzuhalten, das sowohl von der britischen Regierung wie auch von den Gerichten verboten wurde. In dem Fall stünde die schottische Regierung vor einer politischen Wand. Die britische Regierung erscheint unterdessen entschlossen, ein Referendum zu verhindern. Deshalb baute sie im Sommer und Herbst 2021 immer neue Hürden auf (s. o.). Doch rund um die Schottland-Wahl 2021 gab es im Tory-Lager durchaus Stimmen, die davon abrieten, dem schottischen Parlament die Durchführung eines Referendums vor den Gerichten streitig zu machen.39 Manche Tories waren sogar der Meinung, dass es ohne ein zweites Referendum vielleicht nie Ruhe in Schottland geben werde. Sie verwiesen dabei auf ähnliche Erfahrungen in Québec (► Exkurs 2).

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5 Schottland – quo vadis?

Insofern scheint es so, als wenn sich die Regierungen in Edinburgh und London nunmehr gegenseitig belauern, wie sich der unvermeidliche Showdown zu ihren Gunsten wenden lässt. Ein gangbarer Weg könnte sein, dass das schottische Parlament mit den Stimmen von SNP und Grünen den Beschluss zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum fasst. Die britische Regierung könnte die Entscheidung dann dem britischen Supreme Court zur Klärung vorlegen und so eine eigene Positionierung vermeiden. Wie vor Gericht eine Entscheidung ausfallen könnte, scheint nicht so klar, wie anfangs vermutet wurde. Im Mai 2021 überraschte der ehemalige schottische Tory-Abgeordnete und Verfassungsexperte Adam Tomkins mit der Einschätzung, dass auch ein Referendum ohne vorherige Zustimmung der britischen Regierung nicht von vornherein verfassungswidrig sei. Seiner Ansicht nach könnte das höchste britische Gericht ein solches Referendum erlauben, wenn es keine direkte gesetzgeberische Entscheidung treffe, sondern „nur“ die Meinung der schottischen Bevölkerung einhole – die politischen Entscheidungen müssten dann wiederum in den Parlamenten getroffen werden.40 Ob es also für die Johnson-Regierung ratsam ist, den zu erwartenden positiven Referendumsbeschluss des schottischen Parlaments entweder zu ignorieren oder gleich ganz abzulehnen, wird sich noch zeigen müssen. In jedem Fall handelt es sich aufgrund der gegensätzlichen Standpunkte um keinen schnellen Prozess. An diesem Punkt dürfte auch entscheidend sein, ob z. B. Labour in Schottland zumindest den Wunsch nach einem Referendum mittragen würde oder ob sich die Partei einem solchen Ansinnen komplett widersetzen wird. Eine Unterstützung von Labour an dieser Stelle würde es der britischen Regierung noch schwerer machen, den „demokratischen Willen“ des schottischen Parlaments zu ignorieren. Aber da der neue Parteichef Anas Sarwar die Unabhängigkeitsfrage im Wahlkampf im Prinzip umschifft hat, ist die Parteiführung wohl noch unentschlossen. Der britische Parteichef Starmer scheint kein Referendumsfreund zu sein. Nur Ex-Premierminister Gordon Brown scheint sich schon jetzt im Kampagnenmodus zu befinden, um die Union zu bewahren.41 Schon bei den Unterhauswahlen 2015 und 2017 wurde die Möglichkeit diskutiert, dass eine etwaige Labour-Minderheitsregierung sich die Stimmen der SNP für die Regierungsbildung durch die Zusage eines zweiten Referendums erkaufen könnte. Damals kam es nicht dazu, weil Labour gar nicht erst in diese Position kam. Doch 2024 könnte dieses Szenario erneut eine reale Option sein, sollten die Tories ihre absolute Mehrheit in Westminster verlieren. Es läuft also wohl darauf hinaus, dass entweder die Gerichte oder die nächsten Unterhauswahlen darüber entscheiden werden, ob und wenn ja, wann ein neues Schottland-Referendum stattfinden wird. Vor den Schottland-Wahlen 2026 dürfte es dann aber sehr knapp werden für einen Referendumstermin. Ein weiterer Punkt ist noch gar nicht besprochen werden: Umfragen zufolge ist in England längst eine Art Schulterzucken eingetreten, was die Zukunft Schottlands im Vereinigten Königreich angeht. Einer YouGov-Studie vom

5.4 Schottland 2030 – ein Ausblick

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Herbst 2020 zufolge wünschten nur 46 % der Befragten in England ein Verbleiben Schottlands im Vereinigten Königreich, 34 % hatten keine Meinung und 13 % wären mit einer Loslösung einverstanden.42 Eine weitere Studie im Mai 2021 ergab, dass nur 32 % gegen die Loslösung Schottlands wären, aber 25 % einverstanden wären – 30 % äußerten keine Meinung.43 Unterdessen gibt es auch bereits Umfragen zu einer möglichen „englischen Unabhängigkeit“. Eine solche fand im Sommer 2020 immerhin 49 % Zustimmung unter englischen Wähler:innen.44 Umfragen sind natürlich immer nur Momentaufnahmen, aber man konnte schon 2014 den Eindruck gewinnen, dass viele Menschen in England eine schottische Unabhängigkeit als rein schottisches Problem sehen. Diese politische Apathie gegenüber Schottland, wie es ein Umfrageinstitut ausdrückte, kann langfristig für die Union zum Problem werden, wenn es schließlich auch in England an einer ausreichend großen Menge an überzeugten Unionsbefürworter:innen fehlen sollte.

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Schottland 2030 – ein Ausblick

Herbst 2030: Die schottische Premierministerin und frühere Finanzministerin Kate Forbes begrüßt die Regierungschef:innen der EU zum europäischen Gipfel in Edinburgh unter erstmaligem Vorsitz Schottlands. Nachdem ein lange heftig umstrittenes zweites Unabhängigkeitsreferendum 2025 letztlich doch stattfinden konnte und sich 54 % der Schott:innen für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten, war Schottland Anfang 2026 aus dem Vereinigten Königreich ausgetreten und hatte den Antrag zur Wiederaufnahme in die EU gestellt. Die Verhandlungen mit der EU, Großbritannien und Irland waren schwierig, führten aber Ende 2027 zu einem EU-Beitrittsvertrag, der zum 1. Januar 2028 vollzogen wurde. Nicola Sturgeon trat kurz darauf als Regierungschefin zurück, um im unabhängigen Schottland den Weg für die nächste Generation freizumachen, wie sie sich ausdrückte. Sie ging nun als erste schottische EU-Kommisarin nach Brüssel … … so oder so ähnlich mögen sich viele schottische SNP-Politiker:innen die Zukunft vorstellen. Doch ist das Szenario wirklich so unrealistisch? Noch immer ist die Gesellschaft ziemlich genau in der Mitte gespalten – der Würfel kann in beide Richtungen fallen. Aber ein Blick zurück in die letzten 50 Jahre schottischer Geschichte belegt eines ganz klar: Es hat zwar immer wieder Rückschläge gegeben, doch letzten Endes war der Drang nach mehr Autonomie nicht aufzuhalten. Noch Anfang der 1990er-Jahre galt ein schottisches Parlament weitgehend als Fantasie. Dann galt eine SNP-Regierung als nahezu ausgeschlossen und ein Unabhängigkeitsreferendum als völlig undenkbar.

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5 Schottland – quo vadis?

Doch all diese Punkte sind längst Realität geworden. Besonders bedenkenswert ist die Tatsache, dass es auf britischer Ebene mehrfach heftigen und jahrelangen Widerstand gegen weitere Konzessionen an Schottland gab. Die LabourRegierung der 1970er-Jahre stürzte über ihre Versuche, das Referendum von 1979 so zu organisieren, dass selbst ein Sieg zu einer Niederlage wurde. Margaret Thatcher und John Major weigerten sich 18 Jahre lang, das Thema auch nur anzufassen. Doch diese Verweigerungshaltung brachte am Ende 1999 im zweiten Anlauf ein Parlament hervor, das viel mehr Rechte hatte, als 1979 versprochen worden waren. Zudem wurde das Parlament nun von praktisch allen Teilen der schottischen Gesellschaft akzeptiert. Insofern scheint es für Johnson und die Tories zwar auf den ersten Blick naheliegend, Margaret Thatcher nachzueifern und Richtung Edinburgh ein entschlossenes „no, no, no“ zu rufen, wenn es um ein zweites Unabhängigkeitsreferendum geht. Doch das Ergebnis kann sehr wohl genau dasselbe sein, wie nach den langen Jahren der Thatcher-/Major-Regierungen, nämlich in diesem Fall eine glasklare Mehrheit für die Unabhängigkeit. Es scheint so, als bräuchten die Schott:innen in wichtigen politischen Fragen der Eigenständigkeit und Selbstbestimmung viel Zeit zum Nachdenken und definitiv einen zweiten Anlauf – aber am Ende hat sie in den letzten Jahrzehnten die ablehnende Haltung der jeweiligen britischen Regierung stets zur Forderung nach zusätzlicher Autonomie getrieben. Bislang gibt es keinerlei Anzeichen, dass die Mehrheit der Schott:innen die Einrichtung des Parlaments in irgendeiner Weise bereut. Es gibt auch keine Anzeichen, dass die Popularität der Schottischen Nationalpartei nach 14 Jahren in der Regierung nachlässt. Und von daher gibt es auch keine Anzeichen, dass der Wunsch nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum auf absehbare Zeit verschwinden wird. Im Gegenteil: Aus knapp 45 % Befürworter:innen einer Unabhängigkeit im Jahre 2014 sind nunmehr laut Umfragen und Wahlergebnissen rund 50 % geworden. Das reicht noch nicht für die Unabhängigkeit, aber die Zahlen scheinen den langfristigen Trend in Schottland zu bestätigen. In den Köpfen vieler Menschen ist eine staatliche Unabhängigkeit keine Träumerei mehr, sondern eine reale Möglichkeit. Selbst wirtschaftliche Hemmnisse und politische Reibereien scheinen eine stabile Hälfte der Wahlbevölkerung nicht mehr zu schrecken. Vielleicht nach dem Motto: Mit der Regierung in London streiten wir uns doch sowieso jeden Tag, dann können wir uns auch um den Abschied streiten. Letztlich geht es um die Frage, wie sich das Land zukünftig sehen will: Als kleiner Anhang des Vereinigten Königreichs im kalten Norden der britischen Inseln oder als gleichberechtigten Partner in der Europäischen Union – auf gleicher Stufe mit den seit langem bewunderten skandinavischen Nachbarn und der Republik Irland. Es ist die Stärke der SNP gewesen, in ihren Regierungsjahren ein derart positives Bild von Schottland zu zeichnen, dass man das gestiegene Selbstbewusstsein im Land deutlich spüren kann. 2014 hatte Iain Macwhirter

5.4 Schottland 2030 – ein Ausblick

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nochmal die alte negative Sichtweise aufgegriffen: „zu klein, zu arm, zu dumm.“45 Im heutigen Schottland hat sich ein großer Teil der Bevölkerung von dieser Einschätzung verabschiedet. Dennoch ist eine Loslösung Schottlands vom britischen Königreich kein Selbstläufer. Wirtschaftliche und politische Realitäten müssen bedacht werden. In gewisser Weise wäre der Schritt in die Unabhängigkeit 2014 leichter gewesen. Durch die damalige Mitgliedschaft in der EU stand keine harte Grenze zwischen England und Schottland auf dem Programm. Genau die würde aber jetzt drohen. Das hätte auf die Wirtschaft und den Handel Schottlands wahrscheinlich für mehrere Jahre erheblichen Einfluss, der auch bei allen positiven Zukunftsvisionen nicht ignoriert werden kann. Wie würde die britische Regierung reagieren? Wieder mit „Projekt Angst“, wie 2014? Oder mit einem konstruktiven Ansatz, wie ihn Gordon Brown einfordert? Kann das Unionslager in Schottland sich noch einmal über die Parteigrenzen hinweg so zusammenreißen wie 2014 oder liegt das Momentum längst bei der SNP? Politischen Wirbel würde die schottische Unabhängigkeit auch in Nordirland auslösen, denn der Region würde dann erstmals eine gemeinsame Grenze mit dem restlichen Vereinigten Königreich fehlen. Welche Auswirkungen dies auf die politische Landkarte in Nordirland haben würde, lässt sich überhaupt nicht vorhersagen. Leicht dürfte es nicht werden, wenn man die bisherige irische und nordirische Geschichte zum Maßstab nimmt. Schon die irische Frage macht deutlich, dass die EU bei alldem nicht abseits stehen kann. Auch die EU wird eine Antwort finden müssen, wie sie mit einem unabhängigen Schottland umgehen würde. Eine derart schroffe Ablehnung wie 2014 sollte es nicht mehr geben – von der EU ist hier mehr Differenzierung zu erwarten. Käme Schottland also irgendwo an das Ende der Beitritts-Warteschlange oder in eine Schnellspur für ehemalige Mitglieder? Denn Schottland ist kein Neuling in der EU. Nicola Sturgeon sagte Ende 2020 in einem Interview zu Recht, sie habe praktisch ihr ganzes bisheriges Leben innerhalb der EG und dann der EU verbracht. Ob Schottland im Jahre 2030 also als unabhängiger Staat und wiederaufgenommenes EU-Mitglied seinen politischen Kurs selbst bestimmt oder ob der Trend der letzten 50 Jahre hin zu mehr Autonomie letztlich doch bricht – nicht einmal die britischen Buchmacher würden sich dazu festlegen wollen. Die nächsten Jahre werden politisch sehr intensiv – aber sie werden dann wohl eine definitive Antwort auf die Frage nach der Unabhängigkeit oder dem Verbleib im Vereinigten Königreich geben. Schottland steht an einer entscheidenden Wegkreuzung – die Schott:innen machen es sich nicht leicht. Europa darf auf das Ergebnis des langen Abwägungsprozesses gespannt sein und sollte die Debatte aktiv begleiten, denn diese findet mitten in Europa statt – und sie wird spürbare Auswirkungen auf die EU haben.

Anmerkungen Hinweis: Alle hier und im Literaturverzeichnis aufgeführten Links wurden am 26./27. November 2021 nochmals abgerufen.

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Zwischen Eigenständigkeit und Vereinigtem Königreich

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Als der Autor in den 1990er-Jahren nach Schottland kam, bekam er sehr häufig ungefragt von unterschiedlichsten Menschen Geschichtsexkurse in die schottische Vergangenheit geboten. Vielen Menschen war es offensichtlich ein großes Bedürfnis zu zeigen, dass Schottland nicht England ist und früher selbstständig war. Vgl. Jackson 2020, S. 2. Vgl. z. B. The Conversation, 15.7.2014 (theconversation.com/scottish-referendum-causes-asurge-of-interest-in-hadrians-wall-but-its-misplaced-27047); Express, 28.7.2016 (www.expr ess.co.uk/news/politics/694335/Sturgeon-Scottish-independence-Hadrians-Wall); The National, 14.12.2020 (www.thenational.scot/news/18943989.kevin-foster-says-snp-want-reb uild-hadrians-wall-make-england-pay). Vgl. zu diesem Abschnitt Rogge 2021, S. 13 ff.; Oliver 2010, S. 80 ff.; Ross 2002, S. 74 ff. Vgl. Ross 2002, S. 77. Macwhirter 2014a, S. 48. Zit. nach Ross 2002, S. 97. Vgl. Oliver 2010, S. 164 ff. Zum Aufstieg der Stuarts im 14. und 15. Jh. vgl. Rogge 2021, S. 38–45. Vgl. Barbara Schneider, 24.11.2016: www.evangelisch.de/inhalte/138810/24-11-2016/diewichtigsten-reformatoren-vor-neben-und-nach-martin-luther-john-knox-1514-1572. Der Film mit Saoirse Ronan und Margot Robbie in den Hauptrollen fällt allerdings genau wie Braveheart durch historische und filmische Ungenauigkeiten auf. Historische Fakten zu Maria Stuart vgl. auch Oliver 2010, S. 206 ff. Vgl. zu Knox auch Eickhoff 2020, S. 122. Zur Vorgeschichte und zum Umfeld des Unionsvertrags vgl. Devine 2016, S. 9 ff.; Oliver 2010, S. 288 ff.; Harvie 1994, S. 10 ff. sowie Macwhirter 2014a, S. 86 ff. Devine 2016, S. 28 ff. Vgl. Oliver 2010, S. 370 ff. Vgl. Harvie 1994, S. 64. Vgl. Thomson 2020, S. 36. Zur Home-Rule-Debatte zwischen 1885 und 1914 vgl. Thomson 2020, S. 31 ff.; sowie Harvie 1994, S. 15 ff. Harvie 1994, S. 20 f. Winston Churchill hingegen war lange Zeit Parlamentsabgeordneter für das schottische Dundee. Überhaupt war es Anfang des 20. Jh. üblich, dass die Parlamentssitze nicht unbedingt von Einheimischen besetzt wurden. 1906 stammte z. B. mehr als die Hälfte der „schottischen“ Abgeordneten aus England (vgl. Harvie 1994, S. 18). Vgl. MacDonald 1921, S. 249. Vgl. Thomson 2020, S. 37 ff.; Devine 2016, S. 116 f.; Macwhirter 2014a, S. 148 f.; Hanham 1969, S. 171 f. Zit. nach House of Lords 2016, Annex A.

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Vgl. u. a. Devine 2020, S. 118 ff. Vgl. Harvie 1994, S. 187 ff. Auch in Wales erzielte die nationalistische Plaid Cymru mit 10,8 % der Stimmen und drei von 36 walisischen Abgeordneten ihr bislang bestes Ergebnis. Midwinter/Mitchell/Keating 1991, S. 207. Zit. nach Macwhirter 2014a, S. 200. The Scotsman, 24.11.1987; Aberdeen Evening Express, 23.11.1987; vgl. auch: api.parliament.uk /historic-hansard/commons/1987/nov/23/future-government-of-scotland. The Scotsman, 9.4.2013 (www.scotsman.com/news/uk-news/margaret-thatchers-sermonmound-1580740). Wie umstritten Thatcher geblieben ist, zeigte u. a. die kontroverse Diskussion um das Buch von David Torrance, We in Scotland: Thatcherism in a cold climate (2009). Vgl. dazu Hassan 2009. The Scotsman, 6.8.2021 (www.scotsman.com/news/politics/boris-johnson-branded-crassfor-praising-thatcher-coal-mine-closures-as-helping-the-climate-3336175). Zit. nach Devine 2016, S. 167. Vgl. zum „Doomsday Scenario“ Devine 2016, S. 174 sowie Macwhirter 2014a, S. 220 f. Vgl. Devine 2016, S. 174. Eine Auflistung der Wahlergebnisse in Schottland findet sich unter: en.wikipedia.org/ wiki/Elections_in_Scotland. Vgl. A Claim of Right for Scotland, hg. von Dudley Edwards 1989, S. 11–53. The Guardian, 24.11.2020 (www.theguardian.com/politics/2020/nov/24/archive-1986-the -drive-for-devolution-in-scotland). Zit. nach der Ausgabe des Claim von Dudley Edwards 1989, S. 13. Zu Kenyon Wright vgl. Thomson 2020, S. 46 f. Zit. nach Torrance 2018; vgl. auch A Claim of Right for Scotland, hg. von Dudley Edwards 1989, S. 11–53. Zur Wahl 1992 siehe u. a. Eickhoff 1994, S. 111 ff. Zit. Torrance 2020b, S. 4. Das Referendum und die interessante Datierung wurden sogar in den USA aufmerksam verfolgt, z. B. in der New York Times, 25.7.1997 (www.nytimes.com/1997/07/25/world/lon don-offers-scotland-its-own-parliament-with-wide-powers.html). Alex Salmond, Hugo Young Lecture, zit. nach: The Guardian, 25.1.2012 (www.theguardian. com/politics/2012/jan/25/alex-salmond-hugo-young-lecture). Vgl. auch Torrance 2011, S. 232 ff. Connery 2009, S. 460 ff. Zit. u. a. nach Shaw 2019. Dieses Zitat hängt Labour immer wieder wie ein Mühlstein um den Hals, insbesondere zu Zeiten des Unabhängigkeitsreferendums 2014. Vgl. The Guardian, 12.9.1997 (www.theguardian.com/politics/1997/sep/12/scotland.devo lution). Vgl. auch Torrance 2020, S. 14. Macwhirter 2014a, S. 243. Vgl. u. a. Eickhoff 1999, S. 919–923. Vgl. Morgan 1999. In Wales hatte Labour ebenfalls die Wahl gewonnen und die nationalistische Plaid Cymru war an zweiter Stelle gelandet (► Exkurs 1). Johns/Mitchell 2016, S. 68. Zit. nach taz, 14.5.1999. Zit. nach The Scotsman, 2.7.1999. Zit. nach www.parliament.scot/-/media/files/history/donalddewarsspeech1july1999.pdf. Zit. nach Torrance 2020b, S. 16.

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Anmerkungen zu Kap. 1–2 Wales dagegen war kein Königreich gewesen und gilt als Fürstentum. Zit. nach Elliott 2004, S. 545 f. Scottish Office 1997, S. 12. Mitchell 1992, S. 100. Zit. nach Elliott 2004, S. 546. Laffan 2021, S. 12. Vgl. u. a. Charles Robert: Some Questions on Sovereignty and Free Speech. In: Johnston/ Mitchell 2019, S. 137 ff. Vgl. Christine O’Neill: The Role of Law. In: Johnston/Mitchell 2019, S. 161 ff. (► auch Kap. 2.5 und 5.2). Zu den politischen Rechten und Pflichten der Queen vgl. die offizielle Website der Monarchin: www.royal.uk/queen-and-government. Vgl. Thomson 2020, S. 77 ff. Midwinter/Mitchell/Keating 1991, S. 216. Vgl. auch Thomson 2020, S. 57 f.; Macwhirter 2014a, S. 290 f. House of Lords 2016, Ziffer 154 ff. Scottish Office 1997, S. 12. BBC, 17.11.2020 (www.bbc.com/news/uk-politics-54965585). Vgl. Eickhoff 1999, S. 922. Vgl. Eickhoff 2021, S. 20. BBC, 8.5.2021 (www.bbc.com/news/topics/cqwn14k92zwt/welsh-parliament-election-2021). Vgl. www.bbc.com/news/politics/eu_referendum/results. Vgl. www.bbc.com/news/election/2019/results.

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Risse in der Union

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Vgl. Macwhirter 2014a, S. 245 ff. Zit. nach www.parliament.scot/-/media/files/history/donalddewarsspeech1july1999.pdf. Zu den Studiengebühren in Schottland vgl. auch scvo.org.uk/policy/campaigns/20-years -delivering-change/abolition-of-tuition-fees. Zum Wahlergebnis 2003 vgl. The Guardian, 2.5.2003 (www.theguardian.com/politics/2003 /may/02/elections2003.uk2). Macwhirter 2014a, S. 264 ff. Zum Wahlergebnis 2007 und den Auswirkungen vgl. Macwhirter 2014a, S. 282 ff.; Torrance 2011, S. 329 ff.; Torrance 2015, S. 130 ff.; Johns/Mitchell 2016, S. 119 ff. sowie news. bbc.co.uk/2/shared/vote2007/scottish_parliment/html/scoreboard_99999.stm. Macwhirter 2014a, S. 284 f.; Torrance 2011, S. 352 f. (► auch Kap. 3.4 und 5.2). Zur al-Megrahi-Entlassung vgl. u. a. Macwhirter 2014a, S. 310; Torrance 2011, S. 336 f. und 355 ff.; Johns/Mitchell 2016, S. 134 f. Zum Bericht der Calman-Kommission: BBC, 15.6.2009 (news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scot land/8100215.stm); Holden 2010. Macwhirter 2014a, S. 294 f. Zit. nach BBC, 27.9.1999 (news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/459041.stm). Zu den Wahlergebnissen 2011: archive2021.parliament.scot/msps/29398.aspx. Zu den parteipolitischen Gründen für den SNP-Erfolg ► Kap. 3.1. Zit. nach BBC, 8.1.2012 (www.bbc.co.uk/news/av/uk-politics-16462539).

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Zum Edinburgh Agreement vgl. Scottish Government 2012. Zur Auslegung der Vereinbarung vgl. McGrath 2013 (archive2021.parliament.scot/researchbriefingsandfactsheets/SB _13-57.pdf). Zu den Lokalwahlen vgl. Eickhoff 2012. BBC, 8.9.2011 (www.bbc.com/news/uk-scotland-14839780); The Telegraph, 9.9.2011 (www.te legraph.co.uk/news/uknews/scotland/8753684/Ruth-Davidson-promises-no-more-devol ution-if-she-wins-Scottish-Tory-leadership.html). Torrance 2015, S. 161 ff. Vor allem Internet-Trolle in beiden Lagern sorgten für z. T. sehr hässliche Töne. Vgl. Macwhirter 2014b, S. 11. Vgl. Macwhirter 2014b, S. 23 f. Vgl. Eickhoff 2014, S. 26. Vgl. Macwhirter 2014a, S. 396. Macwhirter 2014a, S. 375. BBC, 13.2.2014 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-26166794); vgl. auch Macwhirter 2014b, S. 34 ff. Macwhirter 2014a, S. 388. Vgl. What Scotland thinks, 11.5.2014 (whatscotlandthinks.org/2014/05/progressive-big-swi ng-to-yes-but-yes-still-far-behind); Macwhirter 2014b, S. 42 f. Für Macwhirter war dies nach eigenen Angaben der Grund, warum er sich dem Unabhängigkeitslager anschloss: Macwhirter 2014b, S. 42 ff. (► auch Kap. 4.6). Macwhirter 2014a, S. 357 ff.; Eickhoff 2014, S. 28 (► auch Exkurs 2 sowie Kap. 2.4). Der Autor dieses Buches war z. B. Anfang September 2014 auf einer Yes-Veranstaltung mit dem damaligen SNP-Bildungsminister Mike Russell in Ullapool. Der kleine Westküstenort hat nur 1 000 Einwohner:innen, doch es kamen an einem Mittag mitten in der Woche 65 Leute zu der Diskussionsveranstaltung. Macwhirter 2014b, S. 30 ff und 45 ff. YouGov, 6.9.2014 (yougov.co.uk/topics/politics/articles-reports/2014/09/06/latest-scotti sh-referendum-poll-yes-lead). Zit. nach Daily Record, 15.9.2014 (www.dailyrecord.co.uk/news/politics/david-cameron-e d-miliband-nick-4265992). Interessant ist, dass auf derselben Titelseite Kenyon Wright, der Vorsitzende des Schottischen Verfassungskonvents in den 1990er-Jahren, dazu aufforderte, für die Unabhängigkeit zu stimmen. Macwhirter 2014b, S. 124. Ruth Davidson hatte ihre „Linie im Sand“ im Übrigen schon 2013 aufgegeben, als sie sich plötzlich selbst für mehr Parlamentsrechte in Edinburgh einsetzte (► Kap. 3.3). Vgl. www.cityam.com/scottish-independence-bookies-change-their-odds. Referendumsergebnisse s. BBC, 19.9.2014 (www.bbc.co.uk/news/events/scotland-decides /results). Macwhirter 2014b. Vgl. Eickhoff 2015, S. 19. Dieser Anstieg war auch kein Kurzzeit-Phänomen. Im Gegenteil: 2019 hatte die SNP sogar 125 000 Mitglieder. Macwhirter 2014b, S. 144; Torrance 2015, S. 197. Eickhoff 2015, S. 17; Macwhirter 2014b, S. 115 f. Macwhirter 2014b, S. 116. Erst im Juni 2021 verabschiedete sich die britische Regierung offiziell von diesen Plänen: The Scotsman, 16.6.2021 (www.scotsman.com/news/politics/ scottish-mps-could-be-given-right-to-vote-down-english-legislation-under-reforms-aim ed-at-boosting-union-3274972). Zu Sturgeons Lebenslauf und politischen Karriere bis 2014 siehe Torrance 2015. Für mehr Details ► Exkurs 3.

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Anmerkungen zu Kap. 2 Der komplette Bericht der Kommission: archive2021.parliament.scot/researchbriefings andfactsheets/S4/SB_15-03_The_Smith_Commission_Report-Overview.pdf; sowie der Gesetzestext: www.legislation.gov.uk/ukpga/2016/11/contents/enacted. Eine Zusammenfassung des Kommissionsberichts lieferte die BBC, 27.11.2014 (www.bbc.com/news/uk-sc otland-30215512). Macwhirter 2014b, S. 147 f. Eickhoff 2015, S. 19 f. 2018 bewertete die University of Leeds die britischen Nachkriegs-Premierminister. David Cameron landete hier abgeschlagen auf Platz 11 von 13. Angeführt wird das Ranking von Clemens Attlee, Margaret Thatcher und Tony Blair. Vgl. Deutsche Welle, 20.10.2018 (www.d w.com/de/was-macht-eigentlich-david-cameron/a-45951916). Der Text dieser Rede findet sich hier: The Guardian, 23.1.2013 (www.theguardian.com/ politics/2013/jan/23/david-cameron-eu-speech-referendum). Vgl. zu den Wahlergebnissen: www.europarl.europa.eu/election-results-2019/en/natio nal-results/united-kingdom/2014-2019/constitutive-session. Der Stimmenanteil 2014 reichte aber für einen von sechs schottischen Sitzen im EUParlament, was Nigel Farage als kleinen Achtungserfolg verbuchen konnte. Vgl. zu den Wahlergebnissen in Schottland die Zahlen des Parlaments (www.holyroodparliament.scot/FinancialScrutiny/Euro_2014.pdf) und der BBC (news.bbc.co.uk/2/share d/bsp/hi/elections/euro/09/html/ukregion_10.stm). Auch ► Exkurs 2 sowie Kap. 3. Vgl. The Guardian, 22.9.2019 (www.theguardian.com/books/2019/sep/22/for-the-recorddavid-cameron-review). The Scotsman, 17.5.2013 (www.scotsman.com/news/nigel-farage-forced-flee-edinburghsroyal-mile-1574977); auch spätere Wahlkampfauftritte von Farage in Schottland waren immer wieder von Protesten begleitet, zuletzt vor der Europawahl 2019. FAZ, 5.6.2016 (www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/boris-johnson-mist er-brexit-14245732.html). BBC, 20.4.2015 (www.bbc.com/news/election-2015-scotland-32380783); ► auch Exkurs 2 sowie Kap. 3.1. Vgl. u. a. The Scotsman, 15.11.2019 (www.scotsman.com/news/politics/why-brexit-electi on-such-good-news-snp-1402343). O’Toole 2020, S. 5 ff. Zum Wahlergebnis vgl. BBC (www.bbc.co.uk/news/election/2016/scotland/results). BBC, 20.4.2016 (www.bbc.com/news/election-2016-scotland-36093405); Thomson 2020, S. 72. Die erstaunliche Cummings-Story beim Brexit-Referendum wurde 2019 in dem Film Brexit von Toby Haynes mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle sogar auf die Leinwand gebracht. Alle Referendumsergebnisse: www.electoralcommission.org.uk/who-we-are-and-what-we -do/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/results-a nd-turnout-eu-referendum. Reuters, 7.5.2019 (www.reuters.com/article/us-britain-eu-juncker-mistake-idUSKCN1SD1 BI); Express, 16.7.2019 (www.express.co.uk/news/politics/1153973/brexit-news-jean-clau de-junker-brexit-vote-2016-referendum-eu-news). BBC, 14.7.2016 (www.bbc.com/news/uk-politics-36782922). O’Toole 2020, S. 15 ff. The Telegraph, 17.1.2017 (www.telegraph.co.uk/news/2017/01/17/brexit-theresa-may-tel ls-eu-no-deal-better-bad-deal-britain). The Guardian, 29.6.2016 (www.theguardian.com/politics/2016/jun/29/nicola-sturgeon-br ussels-keeping-scotland-in-eu-juncker).

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Scottish Parliament, 28.6.2016 (beta.parliament.scot/chamber-and-committees/what-wa s-said-and-official-reports/official-reports/meeting-of-parliament-28-06-2016?meeting= 10480&iob=96534). BBC, 24.1.2017 (www.bbc.com/news/amp/uk-politics-38720320). Vgl. Thomson 2020, S. 72. Für die Wahlergebnisse vgl. www.bbc.co.uk/news/election/2017/results. The Guardian, 15.11.2018 (www.theguardian.com/politics/2018/nov/14/theresa-mays-br exit-deal-everything-you-need-to-know). Vgl. u. a. The Independent, 20.1.2019 (www.independent.co.uk/news/uk/politics/brexit-deal -latest-theresa-may-eu-bypass-ireland-parliament-commons-control-a8737306.html); Süddeutsche Zeitung, 31.1.2020 (www.sueddeutsche.de/politik/brexit-chronologie-grossbrita nnien-1.4774617). The Guardian, 27.3.2019 (www.theguardian.com/politics/live/2019/mar/27/brexit-latestnews-live-debate-indicative-votes--to-vote-on-alternative-votes-as-speculation-mounts -may-could-announce-plans-to-quit-live-news); UK Parliament, 27.3.2019 (www.parliame nt.uk/business/news/2019/march/whats-next-for-brexit-house-of-commons-holds-ind icative-votes). BBC, 25.8.2016 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-business-37187854). Für alle parlamentarischen Initiativen in Edinburgh zum Brexit zwischen Referendum und Oktober 2019 vgl. Scottish Parliament, 28.10.2019 (digitalpublications.parliament.sc ot/ResearchBriefings/Report/2019/10/28/Brexit-events-timeline--Scottish-Parliamentengagement-and-scrutiny#2016-EU-Referendum---General-Election) Scottish Government 2016. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Kirsty Hughes: Britain’s Brexit Blues. In: Hassan 2019, S. 201 ff. The Herald, 5.8.2019 (www.heraldscotland.com/news/17817611.nicola-sturgeon-conversa tions-theresa-may-soul-destroying). In demselben Interview sagte Sturgeon über ihr erstes Treffen mit dem damals neuen Premierminister Johnson: „Das Gespräch mit Boris ähnelte wenigstens einer Konversation, wenn auch einer etwas verrückten.“ The Scotsman, 21.7.2017 (www.scotsman.com/news/politics/theresa-may-will-no-longermeet-nicola-sturgeon-one-one-1444617). Zu Gibraltar vgl. u. a. Eickhoff 2017 sowie Die Welt, 3.1.2021 (www.welt.de/politik/ausland /article223631958/Brexit-Deal-Wie-europaeisch-bleibt-Gibraltar.html). Die Enklave Gibraltar hatte mit 96 % gegen den Brexit gestimmt. Vgl. auch Politico, 12.1.2021 (www.politico. eu/article/what-the-post-brexit-gibraltar-deal-means-uk-spain); BBC, 16.1.2021 (www.bb c.com/news/world-europe-55674148). Vgl. O’Neill, in: Johnston/Mitchell 2019, S. 161 ff. Vgl. z. B. The Scotsman, 25.10.2016 (www.scotsman.com/news/uk-news/david-mundell-de volution-settlements-will-be-changed-brexit-647914); UK Government 21.2.2019 (www.go v.uk/government/news/david-mundell-speech-20-years-of-scottish-devolution); Press and Journal, 10.1.2018 (www.pressandjournal.co.uk/fp/news/politics/1389078/promise-to-a mend-brexit-deal-on-devolution-broken); The Scotsman, 13.6.2018 (www.scotsman.com/n ews/politics/snp-david-mundell-should-quit-after-brexit-power-grab-backdoor-1428591). Johnsons Vater blieb auch weiterhin überzeugter Europäer: Daily Telegraph, 17.6.2016 (www.telegraph.co.uk/travel/destinations/europe/belgium/brussels/articles/stanley-joh nson-why-i-remain-a-fan-of-brussels). Zum Werdegang vgl. u. a. FAZ, 23.7.2019 (www.faz.net/aktuell/politik/ausland/boris-joh nson-wollte-schon-als-kind-koenig-der-welt-sein-16298442.html).

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Anmerkungen zu Kap. 2 BBC, 5.9.2019 (www.bbc.com/news/av/uk-politics-49601128). BBC (www.bbc.co.uk/news/election/2019/results/scotland). BBC, 12.10.2021 (www.bbc.com/news/health-58876089). Vgl. z. B. The Scotsman, 15.10.2020 (www.scotsman.com/news/politics/analysis-why-nico la-sturgeon-boris-johnson-comparison-helping-independence-3004235). Vgl. z. B. The Scotsman, 9.12.2020 (www.scotsman.com/news/politics/scottish-independenc e-polls-how-opinion-has-changed-2014-referendum-and-impact-brexit-and-covid-3062408). BBC, 17.11.2020 (www.bbc.com/news/uk-politics-54965585); The Guardian, 16.11.2020 (ww w.theguardian.com/uk-news/2020/nov/16/scotland-devolution-a-disaster-north-of-the -border-says-boris-johnson). Vgl. Nation Cymru, 22.3.2021 (https://nation.cymru/news/boris-johnson-regrets-allowi ng-devolved-nations-to-wield-covid-19-powers/). S. o. sowie Daily Record, 17.2.2021 (www.dailyrecord.co.uk/news/politics/boris-johnsonforced-admit-scottish-23516864). Vgl. Die Welt, 18.12.2020 sowie The Scotsman, 1.1.2021 (www.scotsman.com/news/politics/ nicola-sturgeon-tells-europe-keep-light-scotland-post-brexit-3083123). Oliver 2010, S. 100 ff. Erst mit den Maastricht-Verträgen wurde 1993 dann aus der EG die Europäische Union. Zum Europa-Referendum 1975 und den dazugehörigen Wahlanalysen vgl. Eickhoff 1994, S. 89 f. sowie Kidd 2018. Zit. nach Eickhoff 1994, S. 88 f. Zu den folgenden Ausführungen vgl. ebd., S. 90 ff. Der Redetext vom 20.9.1988: www.margaretthatcher.org/document/107332. BBC, 30.10.1990 (www.bbc.com/news/av/uk-politics-27053536). Jackson 2020, S. 149–154. Zu den parteipolitischen Auswirkungen der pro-europäischen Wende der SNP ► Kap. 3.1. Vgl. www.scotlandeuropa.com. Vgl. z. B. Zelik 2014, S. 21 ff. Zu Katalonien s. u. Eickhoff 2014, S. 28. The Scotsman, 17.2.2014. Zu dieser Diskussion vgl. u. a. Schnapper 2015, S. 5 f. BBC, 2.6.2015 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-32961729). BBC, 28.5.2018 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-44278439); The Scotsman, 10.2.2020 (www.scotsman.com/news/politics/brexit/nicola-sturgeon-visits-brussels-dis cuss-future-scotland-eu-relationship-1555464). The Scotsman, 2.2.2020 (www.scotsman.com/news/scottish-news/independent-scotlandwould-get-enthusiastic-welcome-eu-says-donald-tusk-1382720). Zitat aus einem Interview des Autors mit David McAllister vom 8.9.2021. McAllister war von 2010 bis 2013 niedersächsischer Ministerpräsident für die CDU und sitzt seit 2014 im EU-Parlament für die konservative EVP. Sein Vater ist Schotte, seine Mutter Deutsche. Euronews, 13.3.2021 (www.euronews.com/2021/03/13/trials-troubles-and-tribulations-sc ots-and-catalans-look-to-each-other-to-ease-independenc). Vgl. z. B. Canadian Broadcasting Corporation (CBC), 8.5.2021 (www.cbc.ca/news/politics/gr enier-scotland-quebec-1.6018202); The Guardian, 8.9.2014 (www.theguardian.com/politics /2014/sep/08/playing-dirty-win-scotland-learn-quebec-independence-debate); El Pais, 20.10.2017 (english.elpais.com/elpais/2017/10/20/inenglish/1508501589_108247.html); Foreign Policy, 30.12.2019 (foreignpolicy.com/2019/12/30/catalonia-scotland-spain-uk-in dependence-how-to-succeed-at-seceding); vgl. auch Vaczi/Bairner/Wigham 2020. Zur Geschichte des Separatismus in Québec vgl. u. a. Encyclopedia Britannica (www. britannica.com/place/Canada/Quebec-separatism).

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Sky News, 8.5.2021 (news.sky.com/story/conservatives-and-snp-agree-on-one-thing-indy ref2-wont-happen-any-time-soon-12300228). Zur Geschichte des katalanischen Separatismus vgl. u. a. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2020 (www.lpb-bw.de/katalonien). Süddeutsche Zeitung, 22.6.2021 (www.sueddeutsche.de/politik/begnadigung-spanien-pre mier-sanchez-liebeserklaerung-katalonien-1.5329907). taz, 15.2.2021 (taz.de/Wahl-in-Katalonien/!5751965). taz, 21.5.2021 (taz.de/Neue-Regierung-in-Katalonien/!5773921). Vgl. Sky News, 8.5.2021 (news.sky.com/story/conservatives-and-snp-agree-on-one-thingindyref2-wont-happen-any-time-soon-12300228). Vgl. Schnapper 2015, S. 4. Prof. Curtice arbeitet auch für ScotCen Social Research, ein unabhängiges Zentrum für Sozialforschung in Schottland. ScotCen Social Research ist Teil des britischen NatCen Social Research. Vgl. whatukthinks.org/eu/what-do-voters-in-scotland-want-from-brexit, vgl. auch Eickhoff 2017, S. 12. The Herald, 3.4.2017 (www.heraldscotland.com/opinion/15198802.david-torrance-wheredoes-the-snp-really-stand-on-the-eu). David Gow: Europe. In: Hassan 2019, S. 211 ff. Vgl. whatscotlandthinks.org/questions/what-should-be-britains-long-term-policy-on-theeuropean-union. BBC, 26.1.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-55803103). Hughes, in: Hassan 2019, S. 201 ff.

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Die schottische Parteienlandschaft

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Zur frühen Geschichte der SNP vgl. u. a. Eickhoff 1994, S. 64 ff.; Johns/Mitchell 2016, S. 28 ff. sowie Harvie 1994, S. 25 ff. Zur weiteren Geschichte der SNP vgl. zudem Mitchell et al. 2012, Torrance 2011 und 2015, Macwhirter 2014a/b; Lynch 2002 sowie Craig McAngus: SNP. Devolution Winners. In: Hassan 2019, S. 135 ff. Vgl. für diesen Abschnitt Johns/Mitchell 2016; Torrance 2011; Macwhirter 2014a. Johns/Mitchell 2016, S. 221 ff. Johns/Mitchell 2016, S. 33 f. Vgl. zu diesem Abschnitt Macwhirter 2014a/b; Torrance 2011 und 2015 sowie Johns/Mitchell 2016. Vgl. Harvie 1994, S. 34 ff. Johns/Mitchell 2016, S. 201. The Scotsman, 12.8.2006 (www.scotsman.com/news/salmond-sees-scots-arc-prosperity-2 470157). Macwhirter 2014a, S. 332 ff. The New European, 22.1.2021 (www.theneweuropean.co.uk/brexit-news/westminster-new s/erasmus-programme-scotland-wales-brexit-6923272); The Herald, 16.2.2021 (www.heral dscotland.com/news/19093359.brexit-eu-chief-closes-door-separate-scottish-participati on-erasmus). Zit. nach Interview des Autors mit David McAllister vom 8.9.2021. Vgl. Scottish Government, 30.9.2021 (www.gov.scot/news/supporting-eu-students). Ex-Parteichef Salmond sah sich dementsprechend als „Post-Nationalist“. Vgl. Torrance 2011, S. 244.

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Anmerkungen zu Kap. 3 The Guardian, 27.1.2020 (www.theguardian.com/uk-news/2020/jan/27/nicola-sturgeoncalls-for-scotland-own-immigration-powers-brexit). Torrance 2011, S. 29. The Scotsman, 25.1.2021 (www.scotsman.com/news/politics/indyref2-battle-intensifies-a mid-fresh-uk-government-drive-save-union-3111204). Vgl. www.vogue.co.uk/arts-and-lifestyle/article/nicola-sturgeon-interview; www.bbc.com /news/uk-scotland-scotland-politics-59206425. The Scotsman, 28.3.2021 (www.scotsman.com/news/politics/i-will-speak-with-my-ownvoice-nicola-sturgeon-on-party-divisions-alex-salmond-and-succession-plans-3181211). The Scotsman, 29.3.2018 (www.scotsman.com/arts-and-culture/snp-msp-delivers-entireholyrood-speech-gaelic-1431211). Zur Entwicklung der Scottish Labour Party vgl. u. a. Gerry Hassan: The Fall of the House of Scottish Labour. In: Hassan 2019, S. 145–158; Hassan 2004; Hassan/Shaw 2012 sowie Devine 2016, Macwhirter 2014a und Torrance 2011 und Drost-Hüttl 1995. Zu Labours Abstieg vgl. u. a. Johns/Mitchell 2016, Macwhirter 2014a/b, Torrance 2011 und 2015 sowie Hassan/Shaw 2012. Macwhirter vertritt die Meinung, dass eine klare Haltung gegen den Irak-Krieg Labour in Schottland 2007 wahrscheinlich den Wahlsieg gebracht hätte, vgl. Macwhirter 2014a, S. 280 f. Zit. nach: worldofstuart.excellentcontent.com/repository/ScottishLabourManifesto2011.pdf Devine 2016, S. 217. Johns/Mitchell 2016, S. 201. Hassan. In: Hassan 2019, S. 145 ff. Vgl. taz, 30.9.2021. Torrance 2011, S. 336. Zur Entwicklung der Tories vgl. insbesondere Johns/Mitchell 2016; Macwhirter 2014a/b; Alan Convery: The Scottish Conservative Party. Wilderness to Recovery. In: Hassan 2019, S. 159 ff.; sowie auch Torrance 2011 und 2015. Zum „versteckten Nationalismus“ bei den Konservativen (aber auch bei Labour und Liberalen) vgl. Torrance 2020a. The Guardian, 19.6.2016 (www.theguardian.com/politics/2016/jun/19/boris-johnson-rut h-davidson-eu-referendum-debate-bbc). The Telegraph, 19.4.2017 (www.telegraph.co.uk/news/2017/04/19/ruth-davidson-suggest s-big-election-win-will-stop-brexiteer); BBC, 11.9.2017 (www.bbc.com/news/uk-scotland -scotland-politics-41230610). BBC, 9.6.2017 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-40210331). Convery, in: Hassan 2019, S. 159 ff. Der Historiker Tom Devine beschreibt diesen Vorgang anhand seiner persönlichen Entscheidungsfindung: Devine 2016, S. xii. The Herald, 23.3.2021 (www.heraldscotland.com/news/19180833.pm-refuses-weigh-scotti sh-tories-vote-sturgeon). The Scotsman, 28.3.2021 (www.scotsman.com/news/opinion/columnists/scottish-electio n-2021-how-conservative-ineptitude-is-a-major-factor-in-divided-snps-continued-domi nance-kirsty-strickland-3180233). Deshalb gab es im Mai 2021 eine Unterhaus-Nachwahl in Airdrie, die ebenfalls von der SNP gewonnen wurde. Zu den Grünen vgl. u. a. Lynn Bennie: Greens. Radical and Relevant? In: Hassan 2019, S. 179–188. The Scotsman, 30.8.2021 (www.scotsman.com/news/politics/green-party-ministers-appo inted-as-scottish-government-accused-of-economic-vandalism-3364629).

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The National, 4.8.2019 (www.thenational.scot/news/17815062.scottish-green-party-loses30-members-since-2014-indyref); The Guardian, 11.8.2021 (www.theguardian.com/uk-ne ws/2021/aug/11/deal-between-scottish-greens-and-snp-delayed-as-deadline-looms). Vgl. The Scotsman, 12.8.2021 (www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturgeon-accused -of-deferring-to-boris-johnson-after-call-to-reassess-existing-oil-and-gas-licences-amidcambo-field-backlash-3343694). The Scotsman, 12.5.2021 (www.scotsman.com/news/opinion/holyrood-power-balance-may -force-snp-into-answering-indyref-currency-questions-martyn-mclaughlin-3232491). The Herald, 13.9.2021 (www.heraldscotland.com/politics/19577081.scottish-greens-dema nd-end-draconian-protest-curb-holyrood). Lorna Slater in: The Scotsman, 3.4.2021 (www.scotsman.com/news/opinion/columnists/ renewables-can-power-economy-of-an-independent-scotland-lorna-slater-3187549); Patrick Harvie in: The Scotsman, 30.4.2021 (www.scotsman.com/news/politics/coalition-with -the-snp-would-require-very-difficult-conversations-says-patrick-harvie-3216400). Zur Entwicklung der Partei seit 1999 vgl. David Torrance: The Liberald Democrats. From Coalition to the Margins. In: Hassan 2019, S. 169–178. Zu diesem kritischen Punkt der Parteigeschichte vgl. u. a. Macwhirter 2014a, S. 282 ff. sowie Torrance 2011, S. 331 ff. Torrance, In: Hassan 2019, S. 169 ff. Zu Dewars Lebenslauf und Wirken vgl. Devine 2016, S. 201 ff. sowie Macwhirter 2014a; Johns/Mitchell 2016; Hassan 2004; Torrance 2011. Vgl. O’Neill, in: Johnston/Mitchell 2019, S. 161 ff. The Herald, 10.1.2016 (www.heraldscotland.com/news/14194315.henry-mcleish-i-will-ba ck-scottish-independence-if-uk-leave-eu-against-scotlands-wishes). Für weitere Informationen zu McLeish vgl. u. a. Macwhirter 2014a, Torrance 2011 sowie Johns/Mitchell 2016. Vgl. Macwhirter 2014a, S. 268 ff. Für weitere Infos zum Lebenslauf von McConnell vgl. auch Torrance 2011; Johns/Mitchell 2016. Express, 17.1.2021 (www.express.co.uk/news/politics/1385144/SNP-Nicola-Sturgeon-BBC -Scotland-Politics-Jack-McConnell-Scottish-Labour-latest-news-vn). Zum politischen Werdegang von Salmond siehe vor allem die Biographie Salmond – against the odds von David Torrance (2011) sowie auch das ausführliche Buch Road to Referendum von Iain Macwhirter (2014a). Johns/Mitchell 2016, S. 95 ff. Politics Home, 10.11.2017 (www.politicshome.com/news/article/nicola-sturgeon-slaps-do wn-alex-salmond-over-russia-today-chat-show). Torrance 2011, S. 22. The Guardian, 20.12.2015 (www.theguardian.com/commentisfree/2015/dec/20/alex-sal mond-donald-trump-scotland); zum Hintergrund: Gegen den Bau des Trump-Golfplatzes nördlich von Aberdeen gab es großen öffentlichen Protest und auch einige Gerichtsverfahren. U. a. aufgrund seines sehr abschätzigen Verhaltens gegenüber einem Anwohner des neuen Golfplatzes, der sich den Plänen widersetzte, sank Trumps Popularität in Schottland erheblich. Spätere Besuche von Trump in Schottland wurden regelmäßig von Protesten begleitet. Im Südwesten von Schottland hatte er auch den Turnberry-Golfplatz erworben. Nicola Sturgeon weigerte sich als Ministerpräsidentin, Trump als US-Präsidenten zu treffen. The Guardian, 23.3.2020 (www.theguardian.com/politics/2020/mar/23/alex-salmond-acq uitted-of-all-charges-in-sexual-assault-trial). Press and Journal, 5.5.2021 (www.pressandjournal.co.uk/fp/news/politics/scottish-politi cs/3111256/alex-salmond-popularity).

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Zum Lebenslauf von Nicola Sturgeon vgl. inbesondere die Sturgeon-Biographie A political life von David Torrance (2015). Weitere Infos zudem bei Macwhirter 2014a/b. Zit. nach Devine 2016, S. 167. Torrance 2015, S. 161 ff. BBC, 31.12.2014 (www.bbc.com/news/uk-scotland-30637608). Vgl. The Herald, 22.3.2021 (www.heraldscotland.com/news/19177609.nicola-sturgeon-cle ared-breaking-ministerial-code-alex-salmond-affair); The Guardian, 22.3.2021 (www.theg uardian.com/politics/2021/mar/22/nicola-sturgeon-cleared-of-knowingly-breaching-mi nisterial-code); The Scotsman, 23.3.2021 (www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturge on-survives-vote-of-no-confidence-3175893). Vgl. u. a. BBC, 29.11.2014 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-30252007); The Courier, 29.4.2016 (www.thecourier.co.uk/fp/news/politics/scottish-politics/164129/ sturgeon-vows-to-break-glass-ceiling-for-women); Sunday Times, 9.11.2014 (www.thetim es.co.uk/article/sturgeon-ill-smash-gender-glass-ceiling-hqwnvlw9wrl). Devine 2016, S. 168. Bei den Tories hatten sich noch 2016 zwei ehemalige Minister über Theresa May als „bloody difficult woman“ mokiert, vgl. The Guardian, 5.7.2016 (www.the guardian.com/politics/2016/jul/05/ken-clarke-caught-camera-ridiculing-tory-leadershi p-candidates-theresa-may-michael-gove).

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Gesellschaft und Identität

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Harvie 1994, S. 39. Devine 2016, S. 21 ff. Vgl. Royal Household: www.royal.uk/lord-high-commissioner-general-assembly-churchscotland. The Scotsman, 6.6.2021 (www.scotsman.com/news/politics/prince-william-and-kate-to-s pend-more-time-in-scotland-under-plans-to-boost-support-for-the-union-3262676). Devine 2016, S. 148. Macwhirter 2014a, S. 222; Devine 2016, S. 185. Eickhoff 2020, S. 82; s. auch Macwhirter 2014a, S. 165 ff. Devine 2016, S. 224 f.; Johns/Mitchell 2016, S. 34 ff. Vgl. dazu z. B. www.ltscotland.org.uk/the-differences-between-the-english-and-scottish -law. BBC, 11.9.2019 (www.bbc.com/news/uk-scotland-49661855 und www.bbc.com/news/ukscotland-49650729); Deutsche Welle, 24.9.2019 (www.dw.com/en/uk-supreme-court-proro gation-of-parliament-was-unlawful/a-50559894). Da es sich offiziell um die Regierung „Ihrer Majestät“ handelt, werden auch die Gesetze und Anordnungen immer im Namen der Monarchin (bzw. des Monarchen) erlassen. The Independent, 19.12.2019 (www.independent.co.uk/news/uk/politics/boris-johnsonqueens-speech-constitution-democracy-justice-system-a9253251.html). The Mirror, 21.5.2021 (www.mirror.co.uk/news/politics/breaking-queens-speech-2021-fu ll-24083305). Zum Aufbau der schottischen Strafjustiz vgl. The Scottish Centre for Crime and Justice Research 2015 (www.sccjr.ac.uk/wp-content/uploads/2015/10/SCCJR-Scottish-criminaljustice-system.pdf). BBC, 4.4.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-56630482); Press and Journal, 8.4.2021 (www.pressandjournal.co.uk/fp/opinion/3038407/tony-lenehan-not-prove n-debate).

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Oliver 2010, S. 288 f. Devine 2016, S. 189. Devine 2016, S. 186. Macwhirter 2014a, S. 202 ff.; Devine 2016, S. 156 ff. BBC, 20.5.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-57187472). Für den Text der Hymne vgl. musikguru.de/nationalhymne/songtext-england-god-savethe-queen-king-146786.html; de.wikipedia.org/wiki/God_Save_the_Queen. The Scotsman, 6.6.2021 (www.scotsman.com/news/politics/prince-william-and-kate-tospend-more-time-in-scotland-under-plans-to-boost-support-for-the-union-3262676). Vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung, 20.2.2021. BBC, 14.9.2014 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-29200359). Vgl. ebd. Financial Times, 19.9.2019 (www.ft.com/content/84f43d30-da08-11e9-8f9b-77216ebe1f17). Devine 2016, S. 186. Vgl. z. B. Devine 2016, S. 190. Eickhoff 2020, S. 102 f. Oliver 2010, S. 379 ff. Eickhoff 2020, S. 102. Eickhoff 2020, S. 228 f. Orwell 2020, S. 8. Ebd., S. 27. Ebd., S. 26. Macwhirter 2014b, S. 57 f. Eickhoff 2020, S. 107; vgl. auch Macwhirter 2014a, S. 178 ff. Zum Liedtext vgl. archive.md/20120731055905/http://www.chivalry.com/cantaria/lyrics/ flower-of-scotland.html. Zit. nach Eickhoff 1994, S. 112. Zu MacLean und dem Song s. Eickhoff 2020, S. 326 f. Zum Liedtext vgl. Eickhoff 2020, S. 277. The Scotsman, 7.2.2020 (www.scotsman.com/news/politics/scottish-independence/briancox-scottish-independence-case-when-not-if-1394918). Vgl. National Collective, 26.1.2014 (www.nationalcollective.com/2014/01/26/100-artistsand-creatives-who-support-scottish-independence). The Big Issue, 17.1.2020 (www.bigissue.com/latest/robert-carlyle-is-glad-to-be-away-from -the-uks-political-climate). The Herald, 13.9.2020 (www.heraldscotland.com/news/18717119.ewan-mcgregor-givesbacking-scottish-independence). The Herald, 3.6.2021 (www.heraldscotland.com/news/19348868.emma-thompson-says-sc ottish-independence-inevitable). BBC, 4.7.2014 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-26275521). Harvie 1994, S. 19 f. Zit. nach ebd. Kellas 1989, S. 191. The Herald, 24.4.1992. Zit. nach Jarvie 2006, S. 115. Vgl. auch Eickhoff 1994, S. 113. The Guardian, 18.9.2014 (www.theguardian.com/politics/2014/sep/18/andy-murray-onscottish-independence-vote-lets-do-this). Vgl. The Scotsman, 10.5.2021 (www.scotsman.com/news/politics/gordon-brown-kickstartsfight-for-union-as-nicola-sturgeon-says-referendum-is-matter-of-when-not-if-3230165). Oliver 2010, S. 164 ff.

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Anmerkungen zu Kap. 4 Daten gemäß: www.nrscotland.gov.uk/statistics-and-data/statistics/statistics-by-theme /population/population-estimates/mid-year-population-estimates/population-estimate s-time-series-data. Zit. nach Eickhoff 1994, S. 62. Vgl. Eickhoff 2020, S. 464. Press and Journal, 2.2.2018 (www.pressandjournal.co.uk/fp/news/islands/1405589/ulvabuyout-plan-approved-by-scottish-government); The Guardian, 19.3.2018 (www.theguardi an.com/uk-news/2018/mar/19/mull-campaigners-secure-4m-of-public-funds-to-buy-is le-of-ulva). Vgl. Eickhoff 1994, S. 60. Vgl. www.gov.scot/policies/community-empowerment. Eickhoff 2020, S. 228 f. An der Schule im Nordosten Schottlands, wo der Autor in den 1990er-Jahren unterrichtet hat, empfanden manche Kinder Englisch als ihre erste Fremdsprache. Dorisch war für sie (noch) die Umgangssprache. Oliver 2010, S. 164 ff. Vgl. Eickhoff 2020, S. 490. Vgl. auch Johns/Mitchell 2016, S. 34 ff.; Devine 2016, S. 211 f.; Torrance 2011, S. 215. BBC, 4.5.2007 (news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/glasgow_and_west/6622915.stm). The Guardian, 27.2.2021 (www.theguardian.com/politics/2021/feb/27/anas-sarwar-beco mes-uks-first-muslim-to-lead-a-political-party). Zur jüdischen Gemeinde und zur religiösen Komponente der Einwanderung in Schottland nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Devine/McCarthy (Hg.) 2018. Zu Rifkinds politischer Laufbahn vgl. u. a. The Jewish Chronicle, 21.7.2016 (www.thejc.com/ culture/books/mrs-thatcher-asked-if-i-was-jewish-1.61106). BBC, 28.11.2019 (www.bbc.com/news/election-2019-50586995) und 4.3.2020 (www.bbc.com /news/uk-scotland-scotland-politics-51723096). Vgl. Macwhirter 2014a, S. 150 ff. sowie S. 183 ff.; Devine 2016, S. 156 ff. Devine 2016, S. 150 ff.; Harvie 1994, S. 183 ff.; Eickhoff 1994, S. 42 ff. Vgl. u. a. BBC, 29.12.2006 (news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/6212557.stm). Devine 2016, S. 150. Eickhoff 2018, S. 360. Eickhoff 1994, S. 44. In einer Umfrage unter SNP-Mitgliedern 2007 rangierte der Punkt „Nicht-Beteiligung an den Einnahmen aus dem Nordsee-Öl“ jedoch weiterhin ganz oben auf der Beschwerdeliste. Vgl. Johns/Mitchell 2016, S. 55. Zur unterschiedlichen Verwendung der Öleinnahmen in Norwegen und Großbritannien siehe Zusammenfassung in The Herald, 14.11.2021 (www.heraldscotland.com/politics/ 19716393.actually-happened-scotlands-trillions-north-sea-oil-boom). Vgl. UK Government, Juli 2020 (assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/ system/uploads/attachment_data/file/902799/Table_11.11__July_2020_.pdf) sowie www. statista.com/statistics/350890/united-kingdom-uk-north-sea-revenue. www.gov.scot/policies/climate-change. BBC, 31.8.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-58387017). The Scotsman, 3.11.2021 (www.scotsman.com/news/politics/scottish-independence-indepe ndent-scotland-would-not-stop-drilling-for-oil-and-gas-says-net-zero-secretary-3442558); vgl. auch BBC, 9.11.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-59206425). Vgl. www.gov.scot/policies/oil-and-gas. Macwhirter 2014a, S. 336 ff.

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Anmerkungen zu Kap. 4 RND, 20.2.2021 (www.rnd.de/politik/schottland-lasst-auf-regierungsgebauden-eu-fahnewehen-aber-nicht-den-union-jack-XCTODOCDPXUG6ZOW5HEPGJ5MIA.html). BBC, 28.3.2016 (www.bbc.com/news/uk-scotland-35813875). BBC, 23.12.2020 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-55411018). Vgl. Schulze-Marmeling 2021, S. 33 ff. Churchills Unterhaus-Rede vom 16.2.1922 im Wortlaut: www.ukpol.co.uk/winston-chur chill-1922-speech-on-the-ireland-situation. Ebd. O’Toole 2020, S. 91. Einige Buchtipps für eine intensivere Beschäftigung mit dem nordirischen Bürgerkrieg lieferte der Guardian am 30.1.2019 (www.theguardian.com/books/2019/jan/30/top-10-bo oks-about-the-troubles-northern-ireland-david-keenan). Für den Vertragstext siehe: www.dfa.ie/media/dfa/alldfawebsitemedia/ourrolesandpoli cies/northernireland/Anglo-Irish-Agreement-1985.pdf. Für den Vertragstext siehe: www.gov.uk/government/publications/the-belfast-agreement. Zu den langwierigen Verhandlungen vgl. auch Eickhoff 1997, S. 1434 ff. Zur DUP-Geschichte vgl. BBC, 14.5.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-56951136). Vgl. BBC, 6.4.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-56646392); taz, 9.4.2021 (taz. de/Unruhen-in-Nordirland/!5759274); schon zuvor hatte es erste Proteste gegeben, vgl. The Guardian, 18.2.2021 (www.theguardian.com/uk-news/2021/feb/18/irish-sea-borderprotest-posters-reflect-loyalist-anxiety-in-northern-ireland). BBC, 3.7.2020 (www.bbc.com/news/uk-scotland-53268646). The Scotsman, 19.4.2012 (www.scotsman.com/news/bid-revive-republican-march-sparksunrest-fears-1632572). Vgl. zur irischen Brexit-Perspektive ausführlich O’Toole 2020. Vgl. auch Laffan 2021, S. 6 ff. Laffan 2021, S. 14. O’Toole 2020, S. 384 ff. BBC, 8.11.2021 (https://www.bbc.com/news/explainers-53724381). The Guardian, 20.4.2021 (www.theguardian.com/uk-news/2021/apr/20/boris-johnson-uk -trying-to-cut-ludicrous-northern-ireland-checks). UK Government, 12.10.2021 (www.gov.uk/government/speeches/lord-frost-speech-obse rvations-on-the-present-state-of-the-nation-12-october-2021). Vgl. BBC, 14.10.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-58910220 sowie www.bbc. com/news/uk-politics-58898117). BBC, 13.10.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-58871221). Queen’s University Belfast, 28.10.2021 (www.qub.ac.uk/News/Allnews/OpinionPanelpoll findsmajoritynowviewtheProtocolaspositiveforNorthernIreland.html). BBC, 13.12.2019 (www.bbc.com/news/election-2019–50766004). Colin Harvey, in: VerfassungsBlog, 20.1.2020 (verfassungsblog.de/the-return-of-power-sh aring-in-northern-ireland). Vgl. u. a. BBC, 21.6.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-56951136). Vgl. Schulze-Marmeling 2021; vgl. auch BBC, 14.5.2021 (www.bbc.com/news/uk-northernireland-57115975); taz, 16.5.2021 (taz.de/Neuer-Parteichef-der-nordirischen-DUP/!5767438). BBC, 22.6.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-57560163). Irish Times, 6.7.2021 (www.irishnews.com/news/northernirelandnews/2021/07/06/news/ paul-givan-expected-expected-stay-on-as-first-minister-until-later-this-year--2377681). BBC, 9.9.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-58494209). Vgl. u. a. BBC, 22.9.2021 (www.bbc.com/news/uk-northern-ireland-58648729) sowie Independent, 17.9.2021 (www.independent.co.uk/news/uk/politics/nancy-pelosi-european-uni

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on-northern-ireland-boris-johnson-brexit-london-b1922049.html) sowie Süddeutsche Zeitung, 3.12.2021. BBC, 26.1.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-55803103). The Herald, 16.2.2021 (www.heraldscotland.com/news/19093359.brexit-eu-chief-closesdoor-separate-scottish-participation-erasmus). The Guardian, 13.9.2014 (www.theguardian.com/politics/2014/sep/13/orange-order-mar ch-edinburgh-scottish-independence-vote). Irish Times, 7.12.2020 (www.irishtimes.com/news/ireland/irish-news/scottish-and-oran ge-in-scotland-there-s-a-hatred-of-anything-unionist-1.4429142). Johnson schrieb 2014 die Churchill-Biographie The Churchill Factor (dt. „Der ChurchillFaktor“, Stuttgart 2015).

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Schottland – quo vadis?

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Anmerkungen zu Kap. 5 The Scotsman, 28.11.2021 (www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturgeon-needs-to-mo ve-on-referendum-as-veteran-nationalists-attack-john-swinneys-snp-conference-address3474148). BBC, 22.12.2020 (www.bbc.com/news/uk-scotland-54065391). Sargeant/Stojanovic 2021, S. 18. Dougan/Hayward et al. 2020. The Scotsman, 31.3.2021 (www.scotsman.com/news/politics/uk-internal-market-act-dama ged-relations-between-westminster-and-devolved-administrations-report-finds-3184206). BBC, 6.10.2021 (www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-scotland-politics-58794698). The Scotsman, 4.8.2021 (www.scotsman.com/news/politics/boris-johnson-insists-he-wor ks-together-with-nicola-sturgeon-after-declining-invite-to-meet-3334619). BBC, 9.5.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-57046408). BBC, 9.11.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-59206425). The Scotsman, 3.6.2021 (www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturgeon-says-covid-su mmit-produced-nothing-substantial-yet-after-talks-with-boris-johnson-3260659). Ende 2021 taxierte eine Umfrage aber erstmals seit Monaten wieder die Zustimmung zur Unabhängigkeit bei 55 %: The Scotsman, 1.12.2021 (www.scotsman.com/news/politics/sco ttish-independence-polling-pro-independence-surge-with-clear-yes-lead-in-new-indyre f2-poll-3478234). Vgl. u. a. ntv, 9.11.2021 (www.n-tv.de/politik/Johnsons-Tories-entfesseln-Wirbelsturm-ar ticle22918833.html) sowie BBC, 11.11.2021 (www.bbc.com/news/uk-politics-59242252). Vgl. u. a. Süddeutsche Zeitung, 9. und 10.12.2021; Die Welt, 11.12.2021; BBC, 8. und 12.12.2021 sowie The Scotsman, 12.12.2021. The Scotsman, 28.11.2021 (www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturgeon-needs-tomove-on-referendum-as-veteran-nationalists-attack-john-swinneys-snp-conference-ad dress-3474148). The Herald, 30.8.2021 (www.heraldscotland.com/politics/19545351.mark-smith-even-sup port-independence-must-accept-60-per-cent-rule). The Scotsman, 6.10.2021 (www.scotsman.com/news/politics/alister-jack-rules-out-second -independence-referendum-for-another-25-years-3409166). Eine Umfrage Ende 2021 ergab, dass die entscheidende Altersgrenze pro und contra Unabhängigkeit bei ca. 55 Jahren liegt: The Scotsman, 1.12.2021 (www.scotsman.com/news/ politics/scottish-independence-polling-pro-independence-surge-with-clear-yes-lead-innew-indyref2-poll-3478234). The Scotsman, 25.11.2021 (https://www.scotsman.com/news/politics/nicola-sturgeonsapproval-ratings-plummet-ahead-of-snp-conference-3472081). UK Government: www.gov.uk/government/ministers/minister-for-the-union. Eickhoff 2021, S. 18. The Scotsman, 2.5.2021 (www.scotsman.com/news/politics/scottish-election-2021-borisjohnson-to-unveil-sweeteners-for-scottish-voters-ahead-of-election-3222234). Vogue, 29.10.2021 (www.vogue.co.uk/arts-and-lifestyle/article/nicola-sturgeon-interview). BBC, 9.5.2021 (www.bbc.com/news/uk-scotland-scotland-politics-57046408). The Scotsman, 21.5.2021 (www.scotsman.com/news/politics/former-tory-msp-says-wildc at-scottish-independence-referendum-could-be-legal-3245499). The Herald, 10.5.2021 (www.heraldscotland.com/news/19290981.gordon-brown-launchpro-union-campaign-aimed-middle-scotland). YouGov, 7.9.2020 (yougov.co.uk/topics/politics/articles-reports/2020/09/07/how-do-eng lish-and-welsh-people-feel-about-scotlan). The National, 29.5.2021 (www.thenational.scot/news/19337786.scottish-independence-ju st-fifth-english-voters-oppose-ending-union).

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Weiterführende Literatur

Schulze-Marmeling, Dietrich (2021): Nordirland: Der protestantische Staat vor dem Aus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Juni 2021, S. 33–36. Scotland Act (2016): www.legislation.gov.uk/ukpga/2016/11/contents/enacted Scotland Act (2012): www.legislation.gov.uk/ukpga/2012/11/contents/enacted Scotland Act (1998): www.legislation.gov.uk/ukpga/1998/46/contents Scottish Constitutional Convention (1995): Scotland’s Parliament – Scotland’s Right. Edinburgh. Scottish Government (2021a): A Scotland for the future: opportunities and challenges of Scotland’s changing population. Edinburgh 15.3.2021. Scottish Government (2021b): After Brexit: The UK Internal Market Act & Devolution. Edinburgh 8.3.2021. Scottish Government (2016): Scotland’s Place in Europe. Edinburgh, 20.12.2016. www.gov.scot/ publications/scotlands-place-europe Scottish Government (2013): Scotland’s Future (White Paper). Edinburgh, 26.11.2013. www.web archive.org.uk/wayback/archive/20170701185948/http://www.gov.scot/Publications/2 013/11/9348/0 Scottish Government (2012): Edinburgh Agreement. Edinburgh 15.10.2012. www.webarchive. org.uk/wayback/archive/3000/https://www.gov.scot/Resource/0040/00404789.pdf Scottish Office (1997): Scotland’s Parliament. London/Edinburgh. Scottish Parliament (2019): Brexit Events Timeline: Scottish Parliament Engagement and Scrutiny, Edinburgh 28.10.2019. Scottish Parliament (2015): Smith Commission Report – Overview. Edinburgh. Shaw, Eric (2019): The Labour Party since Devolution. Centre on Constitutional Change, Edinburgh, 29.10.2019. www.centreonconstitutionalchange.ac.uk/news-and-opinion/labourparty-devolution Thomson, Ben (2020): Scottish Home Rule. The answer to Scotland’s Constitutional Question. Edinburgh. Torrance, David (2020a): Standing Up for Scotland: Nationalist Unionism and Scottish Party Politics, 1884–2014. Edinburgh. Torrance, David (2020b): „The settled will“? Devolution in Scotland, 1998–2020. House of Commons Library, London. https://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CBP-84 41/CBP-8441.pdf. Torrance, David (2018): Claim of Right for Scotland. House of Commons Library, London, 3.7.2018. https://commonslibrary.parliament.uk/research-briefings/cdp-2018-0171 Torrance, David (2015): Nicola Sturgeon. A political life. Edinburgh. Torrance, David (2011): Salmond – against the odds. Edinburgh. Torrance, David (2009): We in Scotland: Thatcherism in a cold climate. Edinburgh. Vaczi, Mariann/Bairner, Alan/Whigham, Stuart (2020): Where extremes meet: Sport, nationalism and extremism in Catalonia and Scotland. In: Nations and Nationalism 26 (4), S. 943– 959. Zelik, Raul (2014): Kataloniens Unabhängigkeit, Spaniens Ende? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2014, S. 21–24.

 

Weiterführende Literatur

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Schottische Parteien Scottish National Party Scottish Labour Party Scottish Conservative Party Scottish Green Party Scottish Liberal Democrats Alba Party

www.snp.org scottishlabour.org.uk www.scottishconservatives.com greens.scot www.scotlibdems.org.uk www.albaparty.org

Schottische und britische Medien BBC The Herald The Scotsman The National The Guardian The Times The Telegraph The Independent Sky News Daily/Sunday Express The Scottish Sun

www.bbc.com www.heraldscotland.com www.scotsman.com www.thenational.scot www.theguardian.com www.thetimes.com www.telegraph.co.uk www.independent.co.uk news.sky.com www.express.co.uk www.thescottishsun.co.uk

Weiterführende Links Scottish Government UK Government Welsh Government Northern Ireland Executive Centre on Constitutional Change Institute for Government What Scotland Thinks Scottish Political Archive

www.gov.scot www.gov.uk gov.wales www.northernireland.gov.uk www.centreonconstitutionalchange.ac.uk www.instituteforgovernment.org.uk whatscotlandthinks.org www.scottishpoliticalarchive.org.uk

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21:

Kupferstich: unbekannt, ca. 17./18. Jh. (gemeinfrei). Foto: Matthias Eickhoff. Foto: Scottish Government (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Chris Harris via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0). https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de Foto: Scottish Political Archive, University of Stirling. Foto: Scottish Parliament (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Matthias Eickhoff. Foto: Scottish Government (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Matthias Eickhoff. Foto: Scottish Government (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: British Government (OGL v.3). Foto: Scottish Government (OGL v.1). Foto: Scottish Government (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Matthias Eickhoff. Foto: Matthias Eickhoff. Foto: Steve via flickr.com (CC BY 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Matthias Eickhoff. Foto: joiseyshowaa via flickr.com (CC BY-SA 2.0). https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de Foto: Matthias Eickhoff. Foto: M. Hanselmann via Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.5). https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.de Foto: Adam Wilson via unsplash.com.

Personenregister Hinweis: Die beiden am häufigsten im Text erwähnten schottischen Politikernamen, Nicola Sturgeon und Alex Salmond, werden hier nicht aufgeführt. Zu ihnen vgl. primär Exkurs 3. Alexander III. 12 Barnier, Michel 96 Barroso, José Manuel 94 f. Blackford, Ian 110, 112 Blair, Tony 36, 48, 53, 55, 86, 89, 105, 114– 116, 126, 131 f., 199 Bond, James 146, 150, 153 „Braveheart“ siehe Wallace, William Brown, Gordon 37, 53, 56, 67, 72, 94, 105, 110, 114 f., 128, 132, 145, 157, 174 f., 206, 209 Brown, Keith 112 Bruce, Robert (the) 12–16, 90, 108 Burns, Robert 149 f., 152, 161 Butler, Gerard 154 Callaghan, Jim 29 f., 87 Cameron, David 94 f., 115, 118, 120, 125, 130, 133, 145, 175 Canmore, Malcolm 11 Capercaillie 152 Carlyle, Robert 153 f. Charles (Karl) I. 19 Charles (Karl) II. 19 Charles, Prince of Wales 137, 144 f., 149 Churchill, Winston 154, 181 f., 186, 191 Clegg, Nick 50, 67, 125 Cole-Hamilton, Alex 125 Coltrane, Robbie 154 Connery, Sean 37, 153 f. Corbyn, Jeremy 75, 82, 87, 116 Corries, The 151 Cox, Brian 151 Cromwell, Oliver 19 Cummings, Dominic 77, 89, 187 Darling, Alistair 62, 65, 67 David I. 11 Davidson, Ruth 62, 76, 112, 118–120 de Guise, Marie 17, 91

Dewar, Donald 36–40, 52 f., 58, 114, 126– 129 Donaldson, Jeffrey 188 Doyle, Arthur Conan 150 Edward I. 12, 14, 48 Edward II. 14, 108, 151 Edward III. 15, 90 Elizabeth I. 10, 17 f. Elizabeth II. 10, 143 f., 146 Ewing, Winnie 26, 40 Farage, Nigel 73 f., 76, 78, 175 Ferguson, Alex 157 Forbes, Kate 111, 134, 172, 207 Foster, Arlene 186, 188 Frost, David 170, 187 George (Georg) II. 22 George (Georg) IV. 143, 148 Gladstone, William 24, 124 Hardie, Keir 25 Harvie, Patrick 121 f., 124, 133 Heath, Ted 27 f. Henry (Heinrich) VIII. 10, 16–18 Jack, Alister 203 James (Jakob) V. 91 James (Jakob) VI./I. 17 f., 180 James (Jakob) VII./II. 19, 34 Johnson, Boris 32, 42 f., 46 f., 49 f., 59, 75 f., 78, 80, 82, 86–89, 101, 118–120, 123, 134 f., 139, 166, 170, 174 f., 186 f., 189, 191, 196, 198–200, 202–206, 208 Juncker, Jean-Claude 78 f., 95 f. Knox, John 16 f., 140 Lamont, Johann 115

234 MacAlpin, Kenneth 11 MacCormick, John 26 Macdonald, Amy 152 MacDonald, Ramsay 25 f. MacLean, Dougie 151 f. Major, John 31, 35, 163, 174, 183, 208 May, Theresa 78–82, 85–87, 119, 186 McAllister, David 96, 109, 171 McCall Smith, Alexander 151 McConnell, Jack 53, 105, 114, 128 McGregor, Ewan 153 f., 157 McGuinness, Martin 185 McLeish, Henry 53, 56, 127 f. Mundell, David 85, 119 Murphy, Jim 66, 72 Murray, Andy 157, 176 O’Neill, Michelle 188, 197 Orwell, George 150 Osborne, George 62, 65, 175 Paisley, Ian (sen.) 185 Paisley, Ian (jun.) 187 Puigdemont, Carles 97 f. Rankin, Ian 150 f. Rennie, Willie 125 Rifkind, Malcolm 163 Robert II. 16 Robertson, Angus 39, 55, 112 Robertson, George 37, 114 Ross, Douglas 112, 117, 121 Rowling, Joanne K. 150 f., 177 Runrig 152 Russell, Mike 83

 

Personenregister Sarwar, Anas 115 f., 163, 178, 195, 206 Scott, Walter 24, 143, 147, 149 Sillars, Jim 93, 129, 155 f. Slater, Lorna 121 f. Smith, John 36, 114 Starmer, Keir 116, 206 Stevenson, Robert Louis 150 Stoker, Bram 150 Stuart, Charles Edward („Bonnie Prince Charlie“) 9, 21, 158 Stuart, Maria 10, 16–19, 91 Swinney, John 54–56, 112, 193, 197 Thatcher, Margaret 7, 30–33, 35, 42, 44, 50, 65, 73 f., 92 f., 104, 113, 117, 126, 132, 137 f., 142, 156, 163 f., 167, 174 f., 182 f. Thompson, Emma 154 Trump, Donald 22, 131 Tusk, Donald 96 Victoria 24, 143 f., 147 f. Wallace, Jim 37, 124 Wallace, William („Braveheart“) 9 f., 12– 14, 36, 108, 153 William of Orange (König) 19, 184 William (Prinz) 137, 144–146 Wilson, Harold 27, 29 Yousaf, Humza 111 f.